Religion als Werterlebnis: Die praktische Begründung der Dogmatik bei Wilhelm Herrmann 9783666562181, 3525562187, 9783525562185


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German Pages [216] Year 2002

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Religion als Werterlebnis: Die praktische Begründung der Dogmatik bei Wilhelm Herrmann
 9783666562181, 3525562187, 9783525562185

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V&R

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Reinhard Slenczka und Gunther Wenz

Band 99

Vandenhoeck & Ruprecht

Eeva Martikainen

Religion als Werterlebnis Die praktische Begründung der Dogmatik bei Wilhelm Herrmann

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < h t t p : / / d n b . d d b . d e > abrufbar. ISBN 3-525-56218-7

Gedruckt mit Unterstützung der Akademie von Finnland.

© 2002, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Internet: http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Vorwort Das Interesse an den philosophischen Wurzeln der modernen Dogmatik ist aus meinen früheren Arbeiten über den Lehrbegriff Barths, Luthers und des Neuluthertums erwachsen. Es schien mir wichtig zu erforschen, wie die transzendental-philosophische Methode der neuprotestantischen Theologie den Lehrbegriff und überhaupt die Begründung der Dogmatik beeinflußt hat. Die Methode der neuprotestantischen Theologie ist stark von der sogenannten kopernikanischen Wende, die im philosophischen Denken Immanuel Kants vorliegt, beeinflußt worden. Im Zuge der klassischen Metaphysikkritik, die sich daraus ergab, wurde auch in der Theologie angenommen, das klassische Dogma sei eng mit der klassischen Metaphysik verbunden. Die Metaphysikkritik nahm ein solches Gewicht an, daß zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts sogar gefragt wurde, ob es überhaupt noch eine Möglichkeit gebe, über Dogmatik zu sprechen. Ohne diese Wende wäre die heutige protestantische Theologie jedenfalls nicht verstehbar. Die Studie über die philosophische Begründung der neuprotestantischen Theologie Wilhelm Herrmanns, des führenden Systematikers dieser Schule, erwies sich als außerordentlich schwierig. Ich möchte hier allen, die mir geholfen haben, meine Untersuchung in der jetzt vorliegenden Form zu präsentieren, sehr herzlich danken. H e r r Professor Dr. Theodor Mahlmann, der führende Herrmannforscher, hat das Manuskript durchgelesen und mir viele hilfreiche Hinweise gegeben. Herrn Professor Dr. Gunther Wenz und Herrn Professor Dr. Reinhardt Slenczka danke ich für die Aufnahme in die Reihe Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie. Herr Klaus-Jürgen Trabant hat für die deutsche Sprache gesorgt und Herr Dr. Rainer Vinke hat das Manuskript sowohl sprachlich als auch sachlich sorgfältig korrigiert. Herr Mag. theol. Lassi Larjo hat als Forschungsassistent besonders beim Quellen- und Literaturverzeichnis geholfen. Helsinki, den 27. März 2001

Eeva

Martikainen

Inhalt 1. Einleitung

9

1.1. Das Paradigma der modernen Dogmatik 1.2. Wilhelm Herrmann als Repräsentant der modernen Dogmatik 1.3. Die frühere Herrmann-Forschung 1.4. Die Problemstellung dieser Forschung 1.5. Die Aufgabe dieser Untersuchung 1.6. Die Quellen und der Verlauf der Untersuchung 2. Die praktische Metaphysik als Unterscheidungsmerkmal Religion und Metaphysik

9 12 16 22 25 28

von 33

2.1. Das Grundproblem der Theorie Herrmanns: die Kritik der Einheit der Vernunft - die wahre Einheit der Wirklichkeit 2.2. Kants Begriff der reinen Erkenntnis als Grundlage der Kritik Herrmanns an der klassischen Metaphysik . . . . 2.3. Metaphysik als praktische Wissenschaft 2.4. Das Selbstgefühl als Grundlage der Wirklichkeit . . . . 2.5. Zweck und Mittel als Kennzeichen der praktischen Wissenschaft 3. Das Selbstgeßihl und die theoretische Erkenntnis

35 44 49 51 57

3.1. Das Selbstgefühl als „letztes" Subjekt 3.2. Die theoretische Erkenntnis als reines Erkennen 3.3. Das „Ding an sich" und die reine Erkenntnis

57 63 70

4. Das Selbstgefühl als letzte Voraussetzung des praktischen Denkens 4.1. Das Selbstgefühl und die praktische Metaphysik 4.2. Selbstgefühl und Religion 4.3. Das Selbstgefühl und die praktische Ethik

33

. . . .

5. Die praktische Denkweise und der christliche Glaube 5.1. Das historische Christentum als Negation der Metaphysik 5.2. Das geschichtliche Christentum als Hervorbringer der Einheit der Wirklichkeit 5.3. Das religiöse Selbstgefühl und das geschichtliche Christentum

75 75 83 98 116 116 121 126

8

Inhalt

6. Die Offenbarung als geschichtliche Tatsache und als Ereignis persönlichen Erlebens 6.1. Die Offenbarung als Grund - als Erlebnis des Glaubens . 6.2. Die Person Christi als Inhalt der Offenbarung - die Person des Glaubenden 6.3. Die Bedeutung der Offenbarung und das ethische Subjekt 7. Die 7.1. 7.2. 7.3.

Lehre als Ausdruck des Erlebens - als ethische Reflexion . . Kritik und Neuinterpretation des klassischen Dogmas . . Das Glaubenserlebnis und die Einheit der Lehre . . . . Die ethische Reflexion des Glaubens - die religiöse Weltanschauung

8. Zusammenfassung 9. Exkurs: Metaphysik in der Dogmatik gestern und heute . . . 9.1. Die postmoderne Dogmatik - ohne Metaphysik? . . . 9.2. Die Problematik der Rolle der Metaphysik in der Geschichte von Theologie und Philosophie 9.3. Die Rolle der Metaphysik in der Entstehungszeit der Dogmatik, d . h . in der aristotelischen Scholastik . . . 9.4. Die Metaphysik und das letzte Ziel des Menschen . . 9.5. Die ontologische Natur des Guten und der freie Wille: via antiqua und via moderna 9.6. Der nominalistisch-okkasionalistische Begriff der einen Wirkurs ache und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft 9.7. Die Verselbständigung der Physik und die Kritik der modernen Theologie an der klassischen Metaphysik . . 9.8. Die Problematik der Zwei-Sprachen-Strategie in der postmodernen Kultur 9.9. Das Wirklichkeitsverständnis der heutigen Physik und die Methodologie der Dogmatik

133 133 139 144 153 153 159 166 172

. .

178 178 181

. .

182 186 187

193 .

194 197 199

Abkürzungen 206 1. Abkürzungen zu den Quellen (Schriften Wilhelm Herrmanns) 206 2. Abkürzungen zur Literatur 206 Literaturverzeichnis 1. Schriften Wilhelm Herrmanns 2. Sekundärliteratur

207 207 208

1. Einleitung 1.1. Das Paradigma

der modernen

Dogmatik

Kaum ein Tatbestand eint die moderne Dogmatik so sehr wie ihre Kritik der klassischen Metaphysik. Allen unterschiedlichen Schulbildungen und Richtungen in der Theologie der Neuzeit zum Trotz kann übergreifend von einer „modernen Dogmatik" gesprochen werden, wenn es darum geht, das in den Prolegomena der Dogmatik, m. a. W. ihrer grundlegenden Methodologie enthaltene theoretische Paradigma einer näheren Analyse zu unterziehen. Als „Vater" dieses modernen Paradigmas gilt Friedrich Schleiermacher {1768-1834).1 Nach allgemeiner Auffassung entstand seine theologische Methode unter dem Einfluß der transzendentalen Denkweise Kants. Man könnte sie daher als eine Erscheinungsform der transzendentalen Methode betrachten, wenngleich es erst die sogenannten Neukantianer waren, die im eigentlichen Sinne Kants Idee einer transzendentalen Wissenschaft zu einer transzendentalen Methode ausbauten. 2 Nachdem sich diese transzendentale Denkweise als „wissenschaftliche" Denkweise in der Theologie des ^ . J a h r hunderts durchgesetzt hatte, wurden gerade Schleiermachers Prolegomena als repräsentativ für das theologisch-wissenschaftliche Denken der Zeit angesehen. 3 Bei der Rezeption der Dogmatik Schleiermachers konzentrierte sich die Diskussion daher auch bereits im 19. Jh. gerade auf die Frage, in welchem Maße Schleiermacher selbst schon die „reine" transzendentale Denkweise vertrat, deren vornehmliches Merkmal in der Kritik der klas1 Barth 1949, 379. Barth zitiert einen Titel von C. Lühmann, Schleiermacher - der Kirchenvater des 19. Jahrhunderts, 1907. Kein anderer Autor des 19. Jahrhunderts nannte Schleiermacher so! 2 Einen guten Eindruck von der Entwicklung des transzendentalen Wissenschaftsideals bei Kant zu einer wissenschaftlichen Methode bei den Neukantianern Herrmann Cohen und Paul Natorp gibt Holzhey 1986. N a c h dem Verständnis der Neukantianer repräsentierte Kant noch keine dezidierte Methode. Siehe Natorp 1909, 304: „Hat man gesagt, Kants Philosophie sei nur eine Methode, so ist dies ,nur' sofern darin eine Einschränkung liegen soll, nicht berechtigt. Es ist das Höchste, was von einer Philosophie gesagt werden kann, daß sie Methode und nichts als Methode sei, denn das heißt, sie ist eine fortwirkende Kraft, Gedanken zu erzeugen, nicht bloß ein einzelnes gedankliches Erzeugnis." 3 Nach Nygren (1922, 48) hatte die Einleitung von Schleiermachers Dogmatik die Aufgabe, eine wissenschaftliche Begründung der Dogmatik zu liefern.

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Einleitung

sischen Metaphysik lag.4 Die Kritik jeder Metaphysik wurde zum Kriterium und auch zum Eckstein der modernen Dogmatik, sie wurde als allein ausreichender Grund angesehen, auf dem eine neue Dogmatik errichtet werden konnte. Gleichzeitig fanden über den gemeinsamen Nenner dieser grundsätzlichen Kritik der klassischen Metaphysik als Grundlage der Dogmatik die unterschiedlichsten Schulrichtungen den Weg zueinander. Die Suche nach dem Grundprinzip der modernen Dogmatik muß gerade bei der Kritik der klassischen Metaphysik einsetzen, die alles transzendentale Denken enthält. Schleiermachers Dogmatik war zwar tatsächlich historisch gesehen aufgrund ihres methodischen Zugangs das erste Beispiel für eine moderne Dogmatik, fand jedoch als eine solche keine ungeteilte Zustimmung. Wie problematisch Schleiermachers Dogmatik als idealtypisches Zeugnis der Moderne eingeschätzt werde, läßt sich gut an den Urteilen ablesen, die unterschiedliche theologische Schulrichtungen über sie abgaben. In der Tat gibt es einen gemeinsamen Faktor, in dem sich die kritischen Anmerkungen der diversen modernen theologischen Schulmeinungen zur Methodologie der Dogmatik Schleiermachers treffen: Das Mißtrauen von Barthianern, Existentialisten und Neulutheranern gleichermaßen entzündet sich an der „verborgenen" Abhängigkeit von der Metaphysik. Schleiermacher erfährt aufgrund seines neuen, das ganze System erfassenden methodischen Zugriffs zwar Anerkennung als Vater der modernen Dogmatik, doch glaubt man in dieser Methode noch eine Abhängigkeit von der klassischen, „griechischen" Metaphysik sehen zu können. 5 Bei der Analyse der dogmatischen Methodologie Schleiermachers wurde der Begriff der klassischen Metaphysik zur entscheidenden Grenzlinie. Die Metaphysik oder ihre Kritik wird aufgrund ihrer Stellung, die ihr jeweils in der Theologie zugeteilt wird, zum „Testfall" der gesamten Dogmatik und Theologie. Dabei ist zu beachten, daß die Metaphysik nicht nur aus philosophischen Gründen kritisiert wird, sondern auch aufgrund ihres vermeintlichen Einflusses auf die Dogmatik. Dies zeigt sich nicht erst in der kritischen Betrachtung von Schleiermachers Dog4 Über das Verhältnis von transzendentalem und metaphysischem Denken bei Schleiermacher siehe Martikainen 1984, 155-168. 5 Dazu mehr Martikainen 1984, 155-168. Radler (1977, 190) hält die Methodologie Schleiermachers für das schwierigste und mehrdeutigste Problem der Theologie des 19. Jahrhunderts. Weinhardt (1997, 142) analysiert Ritschl's Schleiermachers Kritik folgendermaßen: „Aus dem Schleiermacherschen Religionsverständnis erklärt es sich dann auch, daß auf der anderen Seite Wissen und Moral niemals ohne Religion sein können: Wissenschaft ist das Sein der Dinge in der Vernunft, Kunst ist das Sein der Menschen in den Dingen. Soll beides harmonisieren, so muß das Endliche und das Unendliche im Menschen unmittelbar eins sein, was eben die Religion leistet [ . . . ] . Wiederum ist die Vermittlung der Totalität des Universums mit dem menschlichen Sein in der Religion gegeben." Siehe auch A. Ritsehl 1874, 29-30.

Das Paradigma der modernen Dogmatik

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matik, sondern schon angesichts der Beurteilung nahezu der gesamten Theologiegeschichte, insbesondere der scholastischen Theologie. 6 In der modernen protestantischen Theologie herrscht nahezu ausnahmslos die Auffassung vor, die Scholastik habe ihre Lehre auf der klassischen Metaphysik errichtet. Die Verbindung zwischen scholastischer Lehre und Metaphysik wird als so eng angesehen, daß der Kern der reformatorischen, sich kritisch gegen die Scholastik wendenden Theologie Luthers gerade in deren antimetaphysischer Spitze gesehen wird. 7 Metaphysisch und antimetaphysisch sind somit Charakterisierungen, die auch auf die Theologie selbst bezogen werden: Die Theologie, meint man, sei ihrem Wesen nach immer entweder metaphysisch oder antimetaphysisch. Die Brisanz der Frage nach dem metaphysischen Wesen der Theologie tritt besonders deutlich ans Licht, wird der Begriff der theologischen Lehre untersucht. Die moderne Theologie geht nämlich allgemein davon aus, daß der klassische Begriff der theologischen Lehre, auf dem das Dogma der christlichen Kirche aufbaut, schon eo ipso metaphysisch geprägt ist.8 In einer „antimetaphysischen Theologie" - außer in der barthianischen Tradition - kann nicht mehr von Lehre im Sinne des klassischen Dogmas gesprochen werden. Die Luther-Forschung, die Luther als Vertreter einer antimetaphysischen Theologie versteht, behauptet daher zugleich, daß auch seine Theologie - Zumindestens nach den Grundintentionen der reformatorischen Auffassung - im Wesen nichtlehrhaft ist. Gewöhnlich wird damit argumentiert, daß Luther nicht von einer Rechtfertigungslehre, sondern vom Geschehen oder Erleben der Rechtfertigung gesprochen hat. 9 Die Rechtfertigung als Verkündigung des Gerechtfertigtseins stützt sich nicht auf eine ausgeführte Lehre, sondern auf das aktuale Wort Gottes. Rechtfertigung ist nicht durch Verstehen zu erfassen, sondern nur über den Willen zu empfangen. Sie kann auch nicht durch das Leben verinnerlicht, sondern nur im Erleben erfahren werden. Wird die begriffliche Verknüpfung von Metaphysik und Lehre als derart eng verstanden, scheint die in Schleiermachers Prolegomena der modernen Dogmatik zu beobachtende Kritik der Metaphysik nicht nur zu einem neuen methodischen Zugriff der Dogmatik geführt 6 Siehe z.B. E. Seebergs (1929, 24-25) Bewertung der Scholastik als Vertreterin einer metaphysischen Theologie. 7 Martikainen 1992, 5-21. Metaphysik ist in diesem Zusammenhang zunächst Ontologie. Joest (Í967, 14) macht darauf aufmerksam, daß in der Luther-Forschung Ontologie als die Ontologie verstanden wurde. In der evangelischen Theologie wird die Ontologie als „SeinsMetaphysik" verstanden, nicht nur als „Lehre vom Sein". 8 Seeberg, E., 1929, 31-33. 9 Auch in der barthianischen Theologie wird „der Lehre" eine neue Bedeutung zugesprochen. Führer 1984, 12- 13. Siehe Martikainen 1989.

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Einleitung

zu haben, dem eine wesentliche Bedeutung bei der Interpretation einzelner inhaltlicher Lehrpunkte zukommt, sondern zu einer völligen Neubewertung des gesamten Lehrbegriffs. Der Lehrbegriff, der metaphysikkritisch ausgerichtet ist, bringt dann auch die traditionelle Dogmatik in einem Maße ins Wanken, daß man geneigt ist zu fragen, ob innerhalb der protestantischen Theologie der Neuzeit überhaupt noch von einer Dogmatik gesprochen werden darf. Da der Kritik der Metaphysik in der modernen Dogmatik eine derart umwälzende Bedeutung zukommt, ist es angebracht, die darin implizit enthaltene Aussage noch etwas genauer zu überprüfen. Die Behauptung der modernen protestantischen Theologie lautet, das klassische Dogma beruhe durch und durch auf der klassischen Metaphysik. Es handelt sich dabei nicht nur um sprachliche Formulierungen, sondern um ein komplettes Denksystem, das diese philosophische Tradition enthält. Die hier vertretene Theorie und Denkweise sei in dem Maße ins Dogma übernommen worden, daß es bis in seinen Kern hinein Metaphysik sei. Diese Implikationen des Dogmas habe innerhalb der neuzeitlichen Theologie weitreichende Folgen gehabt. Wenn die Theologie der Neuzeit behauptet, das Dogma sei in seinem tiefsten Wesen metaphysisch, sagt sie nämlich damit zugleich, theologische Lehre sei immer durch irgendeine philosophische Theorie geformt. Theologische Lehre enthalte stets irgendeine Denkform. Wenn der Lehrbegriff gleichsam eo ipso eine bestimmte Denkform voraussetzt, ist der Schluß erlaubt, daß auch die „Lehre" der modernen Theologie eine bestimmte Denkform voraussetzt. Diese ist offenkundig anders als die der klassischen Philosophie, die sie ja kritisiert. In der Dogmatik Schleiermachers ist das Verhältnis zwischen Lehre und Metaphysik, zumindest der Rezeptionsgeschichte seiner Theologie zufolge, noch offen. Es liegt damit noch kein klar umrissenes Bild des Lehrbegriffs der modernen Theologie vor, obwohl ihm natürlich eine wesentlich Bedeutung zukommt, wenn von moderner Dogmatik die Rede ist.

1.2. Wilhelm Herrmann als Repräsentant

der modernen

Dogmatik

Immerhin hat Wilhelm Herrmann (1846-1922) in der Zeit nach Schleiermacher und zumindest teilweise auch unter Berufung auf ihn in seinen Prolegomena der Dogmatik eine systematische Untersuchung der Beziehung von Theologie und Metaphysik in Angriff genommen. Er reflektierte dabei die theoretische Begründung der Theologie in einer Weise, die auch für die Theologie des 20. Jahrhunderts von großer Bedeutung ist, obwohl der theologische Ansatz Herrmanns nicht in allen Schulen allgemeine Anerkennung gefunden hat. Als Professor für systematische

Wilhelm Herrmann als Repräsentant der modernen Dogmatik

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Theologie in Marburg hatte sich Herrmann, der als Urvater vieler theologischer Schulrichtungen gilt, nahezu vier Jahrzehnte lang unermüdlich in vielen Schriften über die Beziehung zwischen Theologie und Metaphysik sowie Lehre und Metaphysik geäußert. 10 Sein theologisches Denken entstand zudem in unmittelbarem Dialog mit der Philosophie, besonders mit dem Werk Hermann Lotzes und des Neukantianers Herrman Cohen. 11 Dennoch sieht Wilhelm Herrmann in Immanuel Kant den Philosophen, dem die Theologie ihre Befreiung von der Metaphysik zu verdanken hat. 12 Indem er sich ausdrücklich als Anhänger der Erkenntnistheorie Kants und dessen neukantianischer Interpretation zu erkennen gibt, betont Herrmann besonders die gerade von Kant vollzogene Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie und die Möglichkeit, die sie durch diese Unterscheidung erhält, sich von ihrer früheren theoretischen Grundlegung zu befreien. Kant ermögliche gerade eine praktische Begründung der Theologie. Auch Herrmann meint, daß echte Theologie nur praktisch sein kann. Die gemeinsame Aufgabe von Theologie und Philosophie bestehe dann auch in der Unterscheidung des praktischen Wissens vom theoretischen Wissen und in der sorgfältigen Beachtung dieser Unterscheidung. 13 Herrmann hält diese gemeinsame Aufgabe von Theologie und Philosophie - die Begründung der praktischen Philosophie und zugleich die Begründung eines eigenen Bereichs der Theologie - für so wichtig, daß er in ihr den ganzen Grund der „evangelischen Theologie" sieht. 14 Eine „evangelische Theologie" sei, meint Herrmann, im Rahmen der früheren metaphysischen Begründung der Theologie, bei der nicht zwischen dem Stoff der Theologie und der Metaphysik unterschieden wurde, nicht möglich gewesen. 15

10

Siehe z . B . Jensen 1975; Fischer-Appelt 1965. Herrmann selbst betont nur die Gesprächsverbindung zur Philosophie. Als Neukantianer bezeichnet zu werden, lehnt er dagegen ab. Siehe „Die Religion im Verhältniß zum Welterkennen und zur Sittlichkeit" (1879, IX): „Trotzdem muß ich es ablehnen, wenn man mich, wie Pfleiderer in seiner ,Religionsphilosophie', als Neukantianer registrirt. Ich suche in dieser Beziehung einfach von der Diskussion zu lernen, welche unter den Philosophen geführt wird." 12 Herrmann bekennt sich ausdrücklich zum erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt Kants. Siehe z. B. „Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit" (1879, IX): „Was die erkenntnißtheoretischen Erörterungen betrifft, von welchen ich ausgegangen bin, so habe ich mich dabei an Kant angeschlossen, in dessen Trennung der theoretischen Erkenntniß von der sittlich bedingten Ueberzeugung ich den Freibrief für die aus den Fesseln philosophischer Weltanschauungen erlöste Theologie erblicke." 13 R IX. 14 R III. 15 R III. 11

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Einleitung

Wenn sich Herrmann bei seiner Begründung der evangelischen Theologie auf die Erkenntnistheorie Kants beruft, geht er - als wäre dies völlig selbstverständlich - davon aus, daß die praktische Philosophie Kants „echt evangelisch und echt reformatorisch" ist. 16 Herrmann zeichnet die Geschichte der evangelischen Theologie in einer langen Linie von der Reformation bis zu Immanuel Kant und Schleiermacher, die er als Explikatoren der eigentlichen Intention der Reformation ansieht. Nach dem Reformationsverständnis Herrmanns hat erst Kant philosophisch expliziert, was bereits die gesamte Theologie Luthers intendierte: Die Befreiung der Theologie von der Metaphysik. Schleiermacher wiederum reformierte die Theologie entsprechend der ursprünglichen Reformation Luthers. Schleiermacher sei somit in gleicher Weise der „Reformator der Theologie", wie Luther der „Reformator des Glaubens" sei.17 Interessant an Herrmanns geschichtlichem Aufriß der „evangelischen Theologie" mitsamt der Linie Luther-Kant-Schleiermacher ist die Kritik, die er an seinen Protagonisten übt. Zwar betrachtet Herrmann Luther, Kant und Schleiermacher als Vorbilder und beurteilt sogar die gesamte Theologiegeschichte ausdrücklich im Lichte ihres Denkens, was ihn aber nicht daran hindert, sie zum Teil sogar heftiger Kritik zu unterziehen. Auch bei dieser Kritik wird eine Gesamtlinie sichtbar, die im wesentlichen auf die Frage zielt, in welchem Maße auch die Theologien Luthers, Kants und Schleiermachers noch in Abhängigkeit von der Metaphysik stehen. Herrmann beurteilt ihre Auffassungen nach dem Maßstab der Metaphysik, die in ihnen noch enthalten ist. 18 Seine eigene Hauptaufgabe 16 Die Auffassung, Kant sei der „Philosoph des Protestantismus", war Ende des ^ . J a h r hunderts sehr verbreitet. Siehe z.B. die Überschrift des Artikels von Pauken 1900, 1-31. „Kant der Philosoph des Protestantismus". 17 GA (1), 39. Siehe auch Mahlmann 1986, 167, 26-29. Cohen und Kant treten als ständige Gesprächspartner Herrmanns bereits in vielen Uberschriften von Werken Herrmanns hervor. Siehe „Kants's Bedeutung für das Christentum" (1884); „Herrmann Cohens Ethik" (1807); „Die Auffassung der Religion in Cohens und Natorps Ethik" (1809); „Der Begriff der Religion nach Herrmann Cohen" (1916). Der sog. Neukantianismus, eine philosophische Richtung, die von etwa 1870 bis 1920 in Deutschland aktiv war, berief sich auf Immanuel Kant. Als ihr Ausgangspunkt gilt die Schrift Otto Liebmanns „Kant und die Epigonen" (1865). Siehe dazu Ollig 1979, 1. Mehr über den Neukantianismus bei Ollig 1982; Kühnke 1986. Eine grundlegende Einführung in das Denken der Neukantianer H . Cohen und P. Natorp, seine Entstehung, die Unterschiede zwischen Cohen und Natorp und ihre Beziehung zur Philosophie Kants bietet Holzhey 1986. Wilhelm Herrmann rechnete sich der sog. Marburger Schule zu, deren Begründer eben gerade Herrmann Cohen (1842-1918) ist. Nach Saarinen (1988, 34) stand Herrmann der Philosophie Cohens kritisch gegenüber, obwohl er dessen sogenannte transzendentale Methode übernahm. Siehe auch Jensen 1975, 34-36. Nach Saarinen (1988, 34-66) folgt Herrmann der Erkenntnistheorie Herrmann Lotzes. Zur Bibliographie Lotzes siehe Santayana & Kuntz 1971. Die wichtigsten Werke Lotzes sind „Mikrokosmus 1-3." (1856-1864) und „System der Philosophie 1-2." (1874-1879).

Wilhelm Herrmann als Repräsentant der modernen Dogmatik

15

sieht er vor allem in der Beseitigung jeglicher Metaphysik aus der Theologie. 19 Herrmanns Kritik der Metaphysik erweist sich so als äußerst gründlich und zugleich weitreichend, sie prägt zudem sein gesamtes Denken von seinen Frühschriften bis zu seinen allerletzten Werken. Mit Hilfe dieser Kritik grenzt er seine Auffassungen von denen Kants und Schleiermachers ebenso ab wie von denen Luthers, ist diesen Denkern aber dennoch unablässig für die Entdeckung und Bewahrung des „reformatorischen" Charakters der Theologie dankbar. Da Herrmann sogar Kant und Schleiermacher metaphysische Neigungen vorhalten kann, liegt nahe, daß er nicht nur die klassische Metaphysik als schädlich für die Theologie ansieht, sondern jegliche Metaphysik überhaupt. 20 Dies zeigt sich auch in seiner direkten Kritik an Kant und dem Neukantianer Hermann Cohen. 21 Bei aller Kritik, die Herrmann an der Metaphysik übt, ist allerdings auffallend, daß sie ihn - obwohl er sie als Grundprinzip der Theologie ablehnt - unablässig interessiert. Herrmann setzt sich zum Ziel, die Trennung zwischen Theologie und Metaphysik philosophisch zu begründen und bedient sich bei dieser Begründung der kantischen Philosophie. Die gemeinsame Aufgabe von Philosophie und Theologie sei gerade, die theoretische Philosophie von der praktischen Philosophie zu unterscheiden und damit die Selbständigkeit der Theologie zu begründen. 22 Gerade die theoretische Philosophie, die in der klassischen Metaphysik den ersten und grundlegenden Teil allen Denkens ausmacht, sei das Gefängnis der Theologie. Herrmann schließt sich mit dieser Meinung eng jenem 18 Die Kritik und ihre Bedeutung für die Dogmatik Herrmanns kommt gut in seiner „Christlich-protestantischen Dogmatik" (1906, 1909) zum Ausdruck. 19 G A 244, 256. Im Todesjahr Ritschis spricht Herrmann auch seine Differenz zu ihm offen und selbstbewußt aus: „Ritsehl hat diesem Gegenstande keine eingehende Arbeit gewidmet. Er hat auch niemals das religiöse Erkennen von dem Welterkennen und damit von der Metaphysik vollständig geschieden [ . . . ] . " Siehe auch Mahlmann 1986, 168, 11-14. Zu Herrmanns Stellung in der Ritschlschen Schule bietet Weinhardt ( 1997) eine neue genaue Untersuchung. Er ist der Meinung, daß Herrmann überhaupt nicht als der Systematiker der Ritschlschen Schule gilt. Siehe Weinhardt 1997, 2. Vgl. Ritsehl, O. 1935, 54. 20 Metaphysik ist zunächst Ontologie. Sie fragt, wie das Seiende als Seiendes gedacht werden muß, und gewinnt so Normen, an denen sie messen kann, ob angeblich wirklich Seiendes ist. Dafür kommen in Frage erstens die Gegenstände der äußeren Erfahrung, die Dinge, das im Raum bewegte Seiende; und zweitens die Gegenstände der inneren Erfahrung, das geistige Seiende. Die Metaphysik untersucht, welche Gegenstandsklasse von beiden, oder ob alle beide zurecht Seiendes genannt werden. Siehe M 7. Siehe auch Weinhardt 1997, 165. 21 Jensen 1975, 70. 22 R IX: „Es giebt allerdings eine gemeinsame theologische wie philosophische Aufgabe, deren Lösung ich in den beiden ersten Abschnitten dieser Schrift versucht habe: die Scheidung der practisch bedingten Ueberzeugungen, in deren Bereiche die eigentlich theologischen Probleme liegen, von dem Gebiete des theoretischen Erkennens."

16

Einleitung

Entwicklungstrend des philosophischen Denkens an, den Kant grundlegend und exemplarisch in seinem transzendentalen Wissenschaftsideal ausgeführt hatte. Herrmanns Anliegen, die Selbständigkeit der Theologie zu sichern, bedeutet somit kein Verlassen der Philosophie ihrer Tradition. Wenn Herrmann die Selbständigkeit der Theologie anhand eines praktischen Denkmodells darlegt, liefert er damit zugleich eine philosophische Begründung der Theologie. In der Tat ist seine grundsätzliche Absicht durch ein apologetisches Interesse gekennzeichnet: Das Bestreben, den Ort von Religion und Theologie im Gesamtzusammenhang mit der Kultur und den üblichen Denkvorstellungen der Zeit zu begründen und zugleich den christlichen Glauben an die intellektuellen Kreise seiner Zeit zu vermitteln. Das vornehmliche Interesse der Theologie und Dogmatik Herrmanns ist also nicht ein gewisser dogmatischen Inhalt oder die Explikation einer Lehre, sondern die Begründung des christlichen Glaubens auf eine Weise, die der allgemeinen Denkweise der Zeit gemäß ist. Herrmanns Theologie stellt somit ein komplettes Denksystem dar, das von bestimmten Prinzipien ausgeht und die Kritik der Metaphysik auf grundlegende Weise gerade mit der Frage nach dem neuen Ausgangspunkt der Theologie verknüpft. 23 Herrmann konstruiert von Anfang an eine systematische Theologie, die auf bestimmten Prinzipien errichtet ist. Seine Kritik der Metaphysik steht nicht isoliert da, sondern bildet einen unauflöslichen Zusammenhang mit seiner Auffassung, daß sich „evangelische Theologie" nur im Sinne Kants als praktisches Denken realisieren läßt, von dem die theoretische Erkenntnis abgesondert ist. Auf dieser Grundlage richtet Herrmann mit Hilfe der Philosophie Kants seine Kritik auf die klassische Metaphysik, weitet sie aber zugleich auf jegliche Metaphysik aus. Herrmann ist in seiner Kritik an der Metaphysik und damit auch an der Metaphysik Kants somit von Anfang an konsequent; sie erfährt auch später keine nennenswerten Veränderungen mehr. Diese Beobachtung ist der grundlegende Ausgangspunkt, wenn nach möglichen Veränderungen in seinem Werk gefragt wird.

1.3. Die frühere

Herrmann-Forschung

Die frühere Forschung vertrat in der Frage nach einem Wandel im Denken Herrmanns unterschiedliche Auffassungen. Gemeinsam war jedoch allen die Meinung, daß er in seinen späten Werken vor allem den erleb23 R IV: „Ferner haftet die Gewißheit des Glaubens immer an einem Ganzen christlicher Weltanschauung, dessen practische Aneignung den persönlichen Geist zu seinem Frieden bringt."

Die frühere Herrmann-Forschung

17

nishaften und subjektiven Charakter des Glaubens betont. Für manche wurde dadurch die objektive Dimension des Glaubens an den Rand gedrängt. Besonders W. Schiitz24 bemühte sich, die wichtigsten Abschnitte der Entwicklung bei Herrmann aufzuzeigen, indem er untersuchte, wie das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität gewichtet war. Schütz analysiert Herrmanns Erkenntnistheorie in der Schrift „Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit" und kommt zu dem Ergebnis, daß Herrmann den erlebnishaften Subjektivismus und den religiösen Individualismus „in die strenge, transzendentallogische Objektivität und Allgemeinheit des kritischen Denkens" einordnet. Das religiöse Gefühl sei bei Herrmann, meint Schütz, ein subjektives und individuelles Prinzip, das die Realität der Religion aufzeige. Ihm zufolge hängt die Grundproblematik der Theologie Herrmanns mit der Auffassung zusammen, das subjektive und individuelle Gefühl sei das Prinzip der Religion und zugleich das apologetische Prinzip. 25 Damit sagt Schütz allerdings zugleich, daß Herrmanns Grundentscheidung - die Religion als individuelles Erlebnis - bereits in seinem Frühwerk sichtbar wird, auch wenn Herrmann sie in der Transzendentallogik eines streng kritischen Denkens zu begründen sucht. Wenn also von Veränderungen in Herrmanns Werk gesprochen werden kann, kann dies - folgt man Schütz - nur bedeuten, daß sich das Gewicht immer stärker auf den individuellen Erlebnischarakter der Religion verlagert. Mit anderen Worten, im Laufe der Zeit wird die grundlegende Auffassung, die für die gesamte Theologie Herrmanns bestimmend ist, immer stärker, und apologetische Tendenzen treten dagegen zurück. Es ist jedoch fraglich, ob bei einem Tatbestand wie diesem von einem grundlegenden Wandel der Denkweise gesprochen werden darf. Es ist nämlich durchaus wahrscheinlich, daß Herrmann das Wesen der Religion als Erlebnis eben gerade mit einem methodisch weitergefaßten Denkmodell begründet. Dies bedeutet, daß sein Verständnis von Religion als individuelles Erlebnis auf eine transzendentale Analyse zurückgeht und demnach in Beziehung zur transzendentalen Metaphysik und praktischen Ethik steht. Die Begründung des Erlebnischarakters der Religion erfordert somit, daß die Religion sowohl in Beziehung zur theoretischen Philosophie als auch zur praktischen Philosophie analysiert wird. Auch unter der Annahme, Herrmann führe in seiner Spätphase diese Analyse nicht mehr durch, sondern begnüge sich mit dem „Ergebnis", d. h. mit der Betonung des Erlebnischarakters der Religion, hätte sich der scheinbar beseitigte „Rahmen" seit der frühen Zeit nicht geändert. Er brauchte nur nicht mehr dargestellt zu werden, da das Wesentliche bereits gesagt 21 25

Schütz 1926. Schütz 1926, 19 u. 27.

18

Einleitung

war. Trifft dies zu, so dürfte vorausgesetzt sein, daß die transzendentale Analyse der frühen Periode ihrem Wesen nach so beschaffen ist, daß sie eine selbständige Uberprüfung der Religion ermöglicht. Implizit besagt diese Auffassung, daß die Religion in der Analyse des Frühwerks ebensowenig organisch mit der transzendentalen Metaphysik wie mit der praktischen Ethik verknüpft sein kann. Auch Fischer-Appelt, der mehrere Phasen bei Herrmann erkennt, untersucht den Wandel auf der Achse subjektiv-objektiv. Seine Perspektive ist dabei allerdings spezifisch theologisch: Nach Fischer-Appelt gibt Herrmann dem Glauben in seinen Frühschriften einen geschichtlichen Grund, hält aber in seinen Spätschriften die Person Jesu für das letzte „dogmatische Relikt", während das entscheidende Gewicht im subjektiven Erlebnis des Glaubens liegt. 26 Dagegen halten Robinson und Greive jede Veränderung im Denken Herrmanns nur für scheinbar. Nach Robinson paßt er sich in der Christologie lediglich „dem Geist der Zeit" an. Als die Historizität Jesu nach 1900 radikal in Frage gestellt wurde, reagierte auch W. Herrmann in gleicher Weise. Er habe in seiner Theologie noch nie die Person Jesu benötigt, da nach seinem Verständnis der Mensch selbst den Geist Gottes findet. 27 Dort, wo er also selbst in seinen späten Schriften Christus noch erwähne, geschehe dies rein zufällig als ein überzähliges Relikt, dem für sein Denksystem keine Relevanz zukomme. 28 Auch Greive glaubt, daß die Denkweise Hermanns, die er aus christologischer Perspektive analysiert, sich nur scheinbar verändert hat. Obwohl er nämlich die christologischen Aussagen in seinem Spätwerk auf ein Minimum reduziert, handelt es sich, im Blick auf seine Denkvoraussetzungen, nicht um eine systematische Änderung seines gesamten Ansatzes. 29 Nach Greive ist für Herrmann eine doppelte Fragestellung kennzeichnend, die sich auf einen christologischen und einen existentiellen Ansatz zuspitzt. Später verschiebt sich das Gewicht dieses doppelten Ansatzes mehr auf den existentiellen Aspekt: Anstelle der Person Christi betont er nun mehr das Selbst des Glaubenden. Herrmann höre aber trotz aller Knappheit in den christologischen Aussagen - auch in seinen späten Schriften nicht auf, von der Bedeutung Christi für den Glauben zu reden. 30 Um die Frage nach einem Wandel im Denken Herrmanns zu beantworten, ist zunächst genauer zu fragen, auf welcher Ebene diese Veränderungen ablaufen. Handelt es sich nur um die Verstärkung einer schon von

26 27 28 29 30

Fischer-Appelt 1965, 209; 211. Robinson 1952, 70. Robinson 1952, 60. Greive 1976, 38-39. Greive 1976, 39.

Die frühere Herrmann-Forschung

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allen Anfängen an bestehenden Tendenz oder um eine grundlegende Kursänderung? Wenn, wie man annehmen darf, gerade die Kritik der Metaphysik bei Herrmann eine tragende Rolle spielt und er diese Kritik bereits in seinen frühen Schriften zum Ausdruck bringt, kann sich eine mögliche Veränderung vor allem als eine Verstärkerung dieser Kritik zeigen. Wenn also der junge Herrmann eine religiöse Weltanschauung konstruiert und sich bei der Abgrenzung der Eigentümlichkeit der Religion der transzendentalen Analyse bedient, was die Isolierung einer eigenen „Kategorie" der Religion im Verhältnis zur Metaphysik und damit also auch zur transzendentalen Metaphysik und Ethik zur Folge hat, und wenn der „reife" Herrmann den individuellen Erlebnischarakter der mit Hilfe einer solchen Analyse ans Licht gebrachten Religion betont, dann zeigt sich darin ein und dieselbe Grundkonzeption in unterschiedlicher Ausprägung. 31 Herrmann definiert die Eigenart des Glaubens im Verhältnis zur Ethik und zur Metaphysik schon in seinen Frühschriften unter Zuhilfenahme der transzendentalen Analyse. Da er die Religion von Anfang an als individuelles Erleben versteht und diese Auffassung über sein ganzes Werk hin beibehält, so geht daraus hervor, daß er bereits grundsätzlich sowohl zum transzendental-praktischen Denken Kants als auch zur neukantianischen transzendentalen Methode Stellung bezogen hat. Stimmt diese Annahme, läßt sich eine Veränderung bei ihm auch in keinen zeitlichen Konnex mit jener philosophischen Entwicklung bringen, die stattfand, als er vom transzendentalen Wissenschaftsideal Kants zur transzendentalen Wissenschaft der Neukantianer überging, in der das transzendentale Wissenschaftsideal seine eigentliche methodische Gestalt erhielt. Es sei also gleich zu Beginn festgehalten, daß Wilhelm Herrmann ein wesentliches Element des kritischen Denkens von Kant bewahrt, auch wenn er sich ansonsten im Rahmen des transzendentalen Denkens der Neukantianer bewegt. Bereits in seinem frühen Werk „Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit" (1879) kennt Herrmann die Kant-Deutung der Neukantianer (Stadler, Cohen) und akzeptiert sie - allerdings ohne deren „Ergänzungen". Zudem betont er den Unterschied zwischen der praktischen und theoretischen Philosophie Kants so, daß er an der „ursprünglichen" Entdeckung Kants festhält. 31 Vgl. Mahlmann (1986, 168, 15-33), der auch ganz genau das Spätwerk (1903-1918) bezeichnet. Nach Mahlmann strebt Herrmann doch wie im Frühwerk eine Gesamtdarstellung an: „Die das Spätwerk bestimmende Konzeption läßt sich datieren: 1903 werden erstmals bisher unbestimmt oder vereinzelt gebrauchte Ausdrücke zu der systematischen Rahmenkonstruktion verbunden, daß ,die Selbstbestimmung der Weg zur Religion und die von jedem Einzelnen erlebte Offenbarung ihr Anfang ist'; und Herrmann sagt darauf reflektierend, er ,glaube [ . . . ] diese Art der Religion als eines individuellen Erlebnisses schärfer erfaßt und in seinen Konsequenzen durchgedacht zu haben'." Mahlmann 1986, 28-33.

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Einleitung

Tatsächlich kommt Herrmanns Urteilen über Kant wegweisende Funktion zu, wird die Entwicklung seiner Grundanschauung untersucht. Herrmann dankt Kant für die Befreiung der Theologie von der Metaphysik, wirft ihm aber zugleich von Anfang an einen ethisch orientierten Religionsbegriff vor. 32 Damit hat Herrmann seine Position nicht so geändert, daß er in seinem Frühwerk eine genaue Unterscheidung zwischen Religion und Metaphysik durchführte, in seinem Spätwerk aber die Religion sogar von der Ethik trennte. Es ist dagegen eher so, daß Herrmann durchweg in allen seinen Schriften die Religion als einen selbständigen transzendentalen Bereich des Bewußtseins ansieht. Er definiert damit die Religion als transzendental selbständig und grenzt sie sowohl vom ethischen Religionsbegriff Kants als auch vom erkenntnistheoretischen Religionsbegriff der Neukantianer ab. Ole Jensen vertritt in seiner Monographie (1975) die Auffassung, daß Wilhelm Herrmann, obwohl es ihm nur darum geht, eine neue Theorie für die Theologie zu schaffen, faktisch eine völlig neue Denkweise hervorbringt: „So ist Wilhelm Herrmann, der erste Existenztheologe, zugleich der erste Existenzphilosoph. " 33 Jensen meint, daß Herrmann zudem ein Repräsentant der sogenannten transzendentalen Methode ist, auch wenn er sie nicht explizit mit dem aus der Philosophie Cohens und Natorps bekannten Begriff belegt. Herrmann meide die Bezeichnung „transzendentale Methode", obwohl er sie faktisch benutzt, weil er seine Position von der Erkenntnistheorie Cohens abgrenzen möchte, die implizit durchaus auch bei ihm eine Rolle spielt. 34 Die Neukantianer legten großen Wert auf ihren transzendentalen Ansatz, in dem der „Methode" eine ganz spezielle Bedeutung zukam. Sie ist nicht nur ein Instrument des Denkens oder ein Verfahren zur Beschaffung von wissenschaftlich zuverlässigen Informationen, sondern die transzendentale Methode ist „die Weise der Philosophie zu denken und zu forschen überhaupt". Konsequenterweise sagt Natorp - und befindet sich darin im Einvernehmen mit Cohen - , daß es bei der transzendentalen Methode nicht nur um einen Kerngedanken Kants gehe, sondern daß darin auch der „unverzichtbare Leitgedanke all unseren Denkens" enthalten sei. Die transzendentale Methode sei nicht nur der Grund für apriorische „Aufstellungen", wie man aus der Perspektive Kants annehmen könnte, sondern für jegliche philosophische Aufstellung überhaupt. 35

32

Die Kritik an Kant zeigt sich deutlich bereits im Werk „Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit" (1879) und wird konsequent über die gesamte literarische Produktion Herrmanns beibehalten. 33 Jensen 1975, 81 34 Jensen 1975, 19-20. 35 Natorp 1912, 194.

Die frühere Herrmann-Forschung

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Die transzendentale Methode entwickelt den Philosophiebegriff auch nicht nur im Verhältnis zur exakten Wissenschaft, sondern im Verhältnis zu allen Kulturbereichen: der Wissenschaft überhaupt, der Kunst, der Ethik und der Religion. „Die Fakten", auf die sich die Philosophie richte, seien nicht irgendwelche existenten Strukturen, sondern eben gerade die „Arbeit", das „Werk", die „Strukturierung" des gesamten Kulturbereichs. Damit schaffe die transzendentale Methode eine wissenschaftliche Grundlage für die Erforschung der einzelnen Kulturbereiche mit einer gewissen unmittelbaren Sicherheit. 36 Jedes Wissenschaftsgebiet habe damit die apriorischen Voraussetzungen zur Erkenntnisbildung im erkennenden Subjekt. Mit diesem Gedankengang konstruierten die Neukantianer aus dem transzendentalen Wissenschaftsideal Kants eine wissenschaftliche Methode, die auf der transzendentalen Erkenntnistheorie basiert. Im Neukantianismus wird das transzendentale Wissenschaftsideal Kants somit auf alle Kulturbereiche, also auch auf die Religion bezogen. Gleichzeitig überbrücken die Neukantianer mit ihrer Methode Kants doppelten Ansatz, indem sie auch Religion und Ethik dem Bereich der transzendentalen Wissenschaft zurechnen. Bei Kant selbst umfaßt die Idee der transzendentalen Methode nur die theoretische Wissenschaft und die Naturwissenschaft, die Religion jedoch gehört zu dem Postulaten der praktischen Vernunft. Wenn schon der Begriff „transzendentale Methode" eo ipso die Auffassung einschließt, daß Naturwissenschaft, Kunst, Ethik und Religion als gleichberechtigte Kulturbereiche von einer wissenschaftlichen Methode erfaßt werden sollen, die auch die empirische Wirklichkeit erforscht, dann konnte sich Herrmann unmöglich einer solchen Methode anschließen, denn ihm lag ja gerade daran, die Religion feinsäuberlich von einer theoretischen Wissenschaft abzugrenzen, die die Natur erforscht. Die Grundbehauptung Herrmanns lautet ja, daß die klassische Metaphysik den Fehler beging, die zur spirituellen Wirklichkeit gehörende Religion in den Bereich naturwissenschaftlicher Erkenntnis und naturwissenschaftlichen Denkens hineinzuziehen, wodurch dann die für die Religion wichtige Unterscheidung von Natur und Person nicht mehr durchführbar ist. Führt die Verwendung der transzendentalen Methode zum gleichen Ergebnis, wie die Orientierung an einem erkenntnistheoretischen Ansatz, so kann Herrmann die neukantianische transzendentale Methode nicht akzeptieren. Jensen äußert Verständnis für diesen Standpunkt Herrmanns - so wie er ihn versteht - , die Bezeichnung transzendentale Methode zu vermeiden, kommt aber trotzdem zu dem Ergebnis, daß auch die existenz-kritische Denkweise Herrmanns ein „metaphysisches Moment"

» Holzhey

1986, 55-56.

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Einleitung

enthält. H a t Jensen mit seiner Annahme recht, so gilt dies besonders für die Frühschriften, da sich Jensen in seiner Untersuchung auf den „jungen" Herrmann beschränkt. 3 7

1.4. Die Problemstellung dieser Forschung D a ß Herrmann wiederholt davor warnt, Metaphysik und Theologie miteinander zu vermischen und aus dieser Perspektive die gesamte frühere Theologiegeschichte - einschließlich Kant und Schleiermacher - beurteilt, impliziert ganz klar, daß er bewußt Theologie und Metaphysik voneinander unterscheidet. W e r sein Denken im Rahmen der neukantianischen transzendentalen Methode analysiert, sollte nicht vergessen, daß dieser Wille zur Unterscheidung sich gegen das kantische Ideal richtet, die transzendentale Methode auf alle Kulturbereiche anzuwenden. Herrmann sieht sich daher zwangsläufig genötigt, die Metaphysikkritik Kants weiterzuführen. E r ist methodisch daher eher ein Neukantianer als ein Kantianer und bedient sich gleichzeitig auch der Kritik des Neukantianismus an Kants Metaphysik. Wenn die Neukantianer nämlich das Wissen aller Kulturbereiche methodisch auf eine empirische Ebene zurückführen, beziehen sie zugleich auch die zur Ethik gehörende Metaphysik Kants in die Kritik ein. Herrmann selbst spricht gerne sehr allgemein von einer „praktischen" Denkweise, begrenzt diese aber nicht nur auf den Bereich der Ethik und der Religion im kantischen Sinne. Herrmann verschiebt den Schwerpunkt von der transzendental-praktischen Denkweise Kants ebenso wie von der transzendentalen Methode der Neukantianer weiter nach vorne, indem er für seine eigene Methode lediglich die Bezeichnung „praktisch" gebraucht. Weder der methodische Dualismus Kants, noch die „transzendentale Wissenschaft" der Neukantianer finden als solche seine Billigung. D e r Dualismus bedeutet nach Herrmann die Bindung der Religion an die Ethik, während der transzendentale Ansatz in der Verknüpfung von Religion und Erkenntnistheorie die Religion letztendlich wieder zur M e taphysik zurückführt. Beide stellen eine Bedrohung der Eigenständigkeit der Religion da, um die es Herrmann vor allem geht. Die „praktische Denkweise", wie sie bei Herrmann vorliegt, ist eine neue eigenständige, ja man könnte sagen „herrmannsche" Denkweise, die als solche ebensowenig auf den transzendentalen Idealismus Kants wie auf die transzendentale Methode der Neukantianer zurückführbar ist. Die „praktische Denkweise" betrachtet die als Erlebnis verstandene 57

Jensen 1975, 101.

Die Problemstellung dieser Forschung

23

Religion als die grundlegende Ursache aller Erkenntnis - der Naturwissenschaft und der Ethik ebenso wie auch der Metaphysik. Herrmann möchte einerseits Kants Idee einer praktischen Ethik bewahrt wissen, verschiebt aber zugleich durch seine Weigerung, die Religion, wie Kant es tut, auf die Idee der praktischen Vernunft zu begründen, sowie durch seine Unterscheidung der Religion von der praktischen Vernunft als ein selbständiges Moment des Bewußtseins, den Schwerpunkt der praktischen Ethik Kants. Mit der Betonung der Eigenständigkeit eines jeden Kulturbereichs und der gleichzeitigen Hervorhebung ihres gemeinsamen spontanen Ursprungs steht Herrmann formal eher der neukantianischen als der kantianischen Denkweise nahe. Man sollte jedoch nicht vergessen, daß die methodische Übereinstimmung mit der neukantianischen transzendentalen Methode offensichtlich rein formal ist. Herrmann schließt sich nämlich nicht - falls die Annahme stimmt, daß die in seiner Spätphase zu beobachtende Herausstellung des individualistischen Charakters der Religion nicht auf eine Änderung der Denkweise zurückgeht - dem in der neukantianischen transzendentalen Methode enthaltenen Gedanken eines einzigen erkenntnistheoretischen Subjekts an. Darauf bezieht sich offensichtlich Jensen, wenn er sagt, daß Herrmann eine völlig neue Denkweise schaffe, die als „existenz-kritisch" bezeichnet werden könnte. Herrmanns Position läßt sich also nicht einfach als eine Fortführung des kritischen Idealismus Kants sehen, aber auch nicht nur als eine Adaption der neukantianischen transzendentalen Methode in der Frage nach der Religion. Das heißt, daß die Kritik Herrmanns sowohl an Kant als auch am Neukantianismus ernst genommen werden muß: Nach Herrmann bringt Kants Begründungsversuch die Religion in die Gefahr, von der Metaphysik abhängig zu werden, während bei den Neukantianern eine andere Gefahr droht, nämlich die Religion auf das Niveau naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu bringen. Beide Bestrebungen stehen im Gegensatz zu Herrmanns eigenem Anliegen, die Religion als einen von Metaphysik und Natur unabhängigen, selbständigen Bereich des Bewußtseins zu begründen. Will man Jensens Sicht ernst nehmen, derzufolge hier eine neue „Denkweise" vorliegt, kann diesem Versuch Herrmanns Konsequenzen erwachsen, die sogar noch darüber hinausgehen. Herrmanns neue Denkweise, die als transzendentale Analyse ihren Ausgang bei der Metaphysikkritik nimmt, führt in ihrer Konsequenz als Kritik an Kant und dem Neukantianismus auch zu einer Infragestellung der allgemeinen Vorstellung, daß die Vernunft eine Einheit sei. Herrmann kritisiert nach dieser Annahme die Einheit der Vernunft also nicht nur in dem Sinne, wie sie etwa im Substanzdenken der klassischen Metaphysik zum Ausdruck kommt. Er kritisiert auch nicht nur jene Auffassung Kants, die besagt, daß die praktische Vernunft synthetische a-priori-Sätze als ethische Ideen zu bilden vermag, sondern auch die

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Einleitung

Idee der transzendentalen Methode der Neukantianer, derzufolge die Einheit der Wirklichkeit a priori im Subjekt selbst sei. Die konsequente und unerbittliche Kritik Herrmanns an der Metaphysik wird als Kritik an der Einheit der Vernunft besonders deutlich faßbar 3 8 , wenn zu dieser Annahme noch die Beobachtung hinzukommt, daß es dem Neukantianismus ausdrücklich um die Einheit der Vernunft im Subjekt selbst welches eben gerade das erkenntnistheoretische Subjekt ist - geht. 39 Um das Umwälzende an Herrmanns neuer Denkweise richtig zur Geltung zu bringen, sollte daher seine eigene Bezeichnung „praktische Denkweise" verwendet werden, vorausgesetzt diese Bezeichnung wird nicht mit der Idee der „praktischen Vernunft", wie Kant sie versteht, identifiziert. An sich könnte man auch auf den Ausdruck transzendental-praktische Denkweise zurückgreifen, da sich Herrmann der transzendentalen Analyse Kants bedient. Auch dieser Terminus könnte jedoch zu der irrigen Annahme verleiten, Herrmann vertrete das doppelte Wissenschaftsideal Kants. Diesen Mißverständnissen beugt Herrmann selbst vor und spricht daher lediglich von einer „praktischen" Wissenschaft. Die Bezeichnung transzendental-praktisch würde außerdem die in der Methode Herrmanns implizierte neue „dynamischere" Denkweise verdecken. Für Herrmann ist die transzendentale Analyse kein Selbstzweck, sondern das ernsthafte Bemühen, die Religion von den „Fesseln der Metaphysik" zu befreien. Kants transzendentale Analyse ist damit nur ein Instrument für Herrmanns eigenes Bestreben, die Religion von einem neuen praktischen Ausgangspunkt aus als spontanes Erlebnis des Selbstgefühls darzustellen. Die Benennung der Sache ist natürlich an sich nicht ausschlaggebend, wenn sie nur nicht zu Mißverständnissen führt. Es gilt jedoch, wenn Herrmanns eigene Bezeichnung „praktische" Denkweise Verwendung findet, der Problematik auch dieser Bezeichnung bewußt zu bleiben. Auch die Bezeichnung existenz-kritisch, die Jensen vorschlägt, ist problematisch, weil Herrmann selbst sie nicht verwendet. Herrmann schafft auch noch nicht bewußt eine existentialistische Denkweise, sondern versucht eher, die Eigenart der Religion im Rahmen einer allgemeinen Denkweise zu begründen, auch wenn eine gewisse totale Kritik der Einheit der Vernunft der späteren Entwicklung im theologischen Denken die Richtung weist. 40 Auch wird Jensens Bezeichnung Herrmanns sorgfältiger „transzendental-logischer" Begründung nicht gerecht.

38 GA II, 214: „ [ . . . ] das Erleben des Selbst kann weder zur Wissenschaft noch zur Sittlichkeit entwickelt werden." Siehe auch Mahlmann 1968, 170, 44-47. 39 Schriften 2, 214. 40 Siehe Mahlmann 1968, 165, 29-32: „Diese komplexe, als Übergang von Kritizismus zu einer Frühform von Existentialismus zu deutende Konzeption kann hier aus Raummangel nur indirekt, im Licht ihrer Modifikationen im Haupt- und Spätwerk erscheinen, ist aber die bleibende Grundlage (zum Verstehen) der Theologie Herrmanns."

Die Aufgabe dieser Untersuchung

1.5. Die Aufgabe dieser

25

Untersuchung

Nach dem bisher Ausgeführten wird die Aufgabe dieser Untersuchung in Folgendem liegen: Zuerst muß Herrmanns Position philosophischund theologiegeschichtlich so dargestellt werden, daß es möglich ist, seinen Ansatz richtig zu interpretieren. Das kann jedoch nicht geschehen, ohne das gesamte philosophische Umfeld zu berücksichtigen. Dabei geht es nicht nur um Kants Philosophie im eigentlichen Sinne, sondern besonders auch um die neukantianischen Ergänzungen, die die Theologie spürbar beeinflußten. Insbesondere wichtig ist natürlich, Herrmanns Denken von den Prinzipien her, die er von Beginn an verfolgte, systematisch zu analysieren. Ohne diese systematische Quellenanalyse bestünde keine Möglichkeit, Herrmanns Ansatz und Bedeutung auch für die neuere Dogmatik zu verstehen. Dabei kommt der Kritik der Metaphysik ein ganz besonderer Stellenwert in seinem System zu. Und das hängt ja gerade mit den Prinzipien zusammen, die in der transzendentalen Methode zu Herrmanns Zeit benutzt wurden. Zweitens ist es wichtig zu beobachten, welchen Platz Herrmann der Metaphysikkritik in der Theologie einräumt. Nach einer ersten Einschätzung weist er ihr eine entscheidende Rolle zu. Die Frage der Metaphysik betrifft nicht etwas Äußerliches, da sie eng mit der Methodenfrage zusammenhängt. Herrmann gestaltet seine Prinzipien so, daß sie in gewissem Sinn den ganzen Aufbau der Dogmatik enthalten, also bereits eine Dogmatik in nuce darstellen. Den Prolegomena, also der Prinzipienlehre, kommt damit eine besondere Wichtigkeit für die ganze Dogmatik zu. Es bleibt jedoch zu fragen, ob Herrmanns Metaphysikkritik historisch zutrifft. Diese Frage wäre auch an die gesamte Transzendentalphilosophie von Kant her zu richten. Zum Dritten werde ich am Aufbau seiner Dogmatik zeigen, wie er den Grundbegriffen, die er darin verwendet, einen ganz bestimmten Stellenwert zuweist. Wenn die Offenbarung, das Evangelium, das Wort, die Lehre als fundamentale Begriffe der Dogmatik Herrmanns zu beurteilen sind, muß die Frage gestellt werden, wie die philosophische Begründung der Dogmatik diese Begriffen beeinflußt. Nach meinem Eindruck dürfte sich sowohl der begriffliche wie der inhaltliche Einfluß als außerordentlich bedeutsam erweisen. Das jedenfalls möchte ich in der kritisch-systematischen Analyse zeigen. Die zusammenfassende Hypothese, die gerade mit den genannten Aspekten zu tun hat, lautet: Herrmanns Begründung der Dogmatik bleibt bis zum Ende auch eine Weltanschauung, obwohl er in seiner letzter Phase die Religion als Erlebnis von der kantischen ethisch-rationalen Begründung zu lösen bestrebt ist. Sein Versuch ist deswegen von Anfang an mit einem großen Risiko behaftet: Die Metaphysikkritik, mit Hilfe transzendental-logischen Philosophie durchgeführt, zeigt, daß Herrmann, obwohl er es für ganz

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Einleitung

wichtig hielt, die Theologie von der Metaphysik zu befreien, auch seine eigene Theologie im Gefängnis der Philosophie beläßt. Die Philosophie ist lediglich anders geworden. Sowohl die theologischen Fundamentalbegriffe als auch die dogmatischen Inhaltsbegriffe (Beispielsweise: Christologie, Glaube, Liebe, Rechtfertigung) erhalten letztlich ihre eigentümliche Färbung von der praktisch-philosophischen Begründung und behalten diese Prägung durch das ganze System hindurch bei. Zuerst es gilt also, das Neue zu sehen, das Herrmanns Arbeiten im Unterschied zu Kants Idee einer „transzendentalen" Wissenschaft und zur transzendentalen philosophischen Methode der neukantianischen Denker enthalten. Kant läßt bereits in seiner „Kritik der reinen Vernunft" (1781, 1787) das Transzendentale einschränkend nur für die Weltweisheit der rein theoretischen Vernunft gelten, zu der die praktische, auf Gefühlen beruhende Ethik nicht gehört. Die Neukantianer hingegen verabsolutieren die transzendentale Methode, indem sie sie auf alle Wissensbereiche, also auch auf die Ethik und die Religion, anwenden. Herrmann führt dagegen eine im Erleben begründete praktische Denkweise ein, in der Kants Kritik der Metaphysik an Schärfe gewinnt, in der zugleich aber ein Dualismus in die Methode kommt, die der transzendentalen Methode der Neukantianer verwandt, ihr aber an denkerischer Intensität unterlegen ist. Herrmann folgt bewußt der Kritik Kants an der theoretischen Vernunft, wobei er zugleich Kants Idee einer praktischen Ethik akzeptiert. Die Frage der Religion wird jedoch zum Kritikpunkt an Kants prinzipiellem Dualismus. Die Religion kann nämlich als selbständiges Moment des Bewußtseins auch nicht auf das kantische Prinzip der praktischen Vernunft zurückgeführt werden. Sie ist keine Erkenntnis der empirischen Wirklichkeit, aber auch nicht wie bei Kant in einem ethischen synthetischen Apriori begründet. Die Religion als Erlebnis des spontanen Selbstgefühls ist vielmehr schon im Ansatz von diesen beiden zu unterscheiden. Zugleich bildet sie aber auch das Zentrum des Bewußtseins, das die Grundlage sowohl der theoretischen Erkenntnis (Weltweisheit, die reine spekulative Vernunft) als auch der Ethik (Sollen, das reine Sollen) bildet. Damit verwendet Herrmann mehr als die Kantianer das Gefühl als Zentrum des Bewußtseins. 41 Seine Art, von einer praktischen Denkweise zu sprechen, unterstreicht gerade die zentrale Rolle des spontanen Selbstgefühls als Bewußtseinszentrum der ganzen Person. Wenn man des Neuen gewahr wird, das im Gedanken des Gefühls als Grund und Fundament des Bewußtseins der Person enthalten ist, ergibt sich 41

Vgl. dazu die postume Schrift von Kant „Urteilskraft" (1790), wo Kant eine genaue Stellung für das Gefühl in seinem System gibt. Das Gefühl ist ein drittes Vermögen des Gemüts, das Urteilskraft bedeutet. Seine Prinzipien sind a priori Zweckmäßigkeit und seine Produkte sind Kunst.

Die Aufgabe dieser Untersuchung

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auch auf die Frage nach der transzendentalen Analyse in der Intention Herrmanns eine Antwort. Seine Begründung der Religion setzt die transzendentale Analyse im Sinne Kants voraus, weil die praktische Denkweise die Kritik der Metaphysik unmittelbar fortsetzt. Die transzendentale Analyse Kants setzt Herrmann ausschließlich kritisch ein. Sie wird daher auch nicht zu einer Methode, die im Sinne der Neukantianer erkenntnistheoretische Einheit schafft. Die Bezeichnung praktische Denkweise trifft die Gesamtintention Herrmanns am besten, nämlich die Beziehung von Religion, Metaphysik und Ethik in jener Gesprächssituation zu definieren, die durch Kants Idee einer Transzendentalphilosophie und die durch die „Transzendentalphilosophie" der Neukantianer der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts und ihrer Prinzipienlehre auferlegt wurde. Es verwundert daher schon, wie wenig die frühere Forschung an der Bedeutung des Religionsbegriffs für Herrmanns systematische Theologie interessiert war, obwohl er in seinen Schriften sehr ausführlich auf das Verhältnis von Lehre und Metaphysik eingeht. 42 Wenn Herrmann die Religion als Werterlebnis definiert, bezieht er sich damit auf den Charakter der gesamten Dogmatik. 43 Die Dogmatik geht von völlig anderen Voraussetzungen aus, wenn ihr das Prinzip des Werterlebnis zugrunde liegt, anstelle des Dogmas oder der Gottesvorstellung, die in der klassischen Dogmatik zumeist als Grundprinzipien herangezogen werden. Herrmann selbst erinnert oft daran, welche Bedeutung Schleiermachers transzendentale Definition des Religionsbegriffs für die gesamte Dogmatik zukommt. Dies gehe schon aus dem Namen seines dogmatischen Hauptwerkes hervor. Schleiermacher spricht nicht mehr von einer „Dogmatik", die auf dem Begriff des Dogmas basiert, sondern von einer „Glaubenslehre", bei der der Begriff des Glaubens gegenüber dem Dogma eine völlig andere Stellung innehat als in der klassischen Dogmatik. Herrmann meint zwar, daß sich Schleiermacher noch nicht völlig von der klassischen Metaphysik befreit habe, verknüpft aber trotzdem die Frage nach dem umwälzenden Charakter der Dogmatik Schleiermachers direkt mit der Frage nach der Metaphysik. 44 Schleiermacher habe sich zwar der transzendental-philosophischen Methode Kants bedient, sie 42 „Christlich-protestantische Dogmatik" (1906, 2. verbess. Aufl. 1909); „Dogmatik" (Mit einer Gedächtnisrede auf Wilhelm Herrmann von Martin Rade.). Gotha 1925. 43 Religion als Werterlebnis ist von Anfang an ein ethischer Begriff, obwohl er gerade am besten die Religion bezeichnet. Siehe D XVI; E XI; V, 80. Hier sagt Herrmann, daß „die Einleitung zur Ethik sowohl zur Dogmatik" identisch ist. „Die Ethik die übergeordnete Wissenschaft ist" Siehe auch Mahlmann 1986, 167, 39-41: „Die Gültigkeit der Korrelation von Sittlichkeit und Religion, den zweiten Glaubensgegenstand, muß Herrmann dabei als (in R) beweisen und voraussetzen." 44 Z.B. Christlich-protestantische Dogmatik, 321-324.

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Einleitung

aber noch nicht weit genug geführt und auch noch nicht für seinen Religionsbegriff ausreichend genutzt. Daß Herrmann die Religion als Werterlebnis definiert und als Grundlage aller Bewußtseinsfunktionen ansieht, hat sowohl erkenntnistheoretische Brisanz als auch dogmatische Bedeutung vor allem was die Prinzipienlehre anbelangt. Eigentlich gehören beide Fragen zusammen. Wenn Herrmann die Metaphysikkritik Kants bis zum Äußersten treibt, schafft er zugleich eine neue Denkweise, die sich aus der Fortsetzung dieser Kritik ergibt. Sie ist besonders erkenntnistheoretisch interessant, obgleich sie jegliche Metaphysik und zugleich jede Rationalität zu negieren sucht. 45 Mit dem erkenntnistheoretischen Interesse ist nahtlos die Frage nach dem Prinzip der Dogmatik verknüpft. Indem er die Religion als Erlebnis des Selbstgefühls versteht, schafft er ein Prinzip, das die gesamte Dogmatik auch in inhaltlicher Hinsicht bestimmt.

1.6. Die Quellen

und der Verlauf der

Untersuchung

Die praktische Begründung der Religion nimmt sich Herrmann in seinem Hauptwerk „Die Religion im Verhältniß zum Welterkennen und zur Sittlichkeit" (1879) zur Aufgabe 46 , das zur frühen Periode zu rechnen ist. Für unsere Untersuchung sind neben diesem Hauptwerk auch seine übrigen Werke relevant, insbesondere das Erstlingswerk „Die Metaphysik in der Theologie" (1876) und seine eigentliche Lutherarbeit „Der Verkehr des Christen mit Gott" (18 96). 47 Von hoher Bedeutung ist auch seine „Ethik" (1901) sowie natürlich die Abhandlung „Christlich-protestantische Dogmatik" (1906; korrigierte Auflage 1909) und die postume „Dogmatik" (1925). Da Herrmann seine Werke oft korrigiert und sie als verbesserte Auflagen veröffentlicht hat, bestehen zwischen den einzelnen Auflagen erhebliche Abweichungen. Veränderungen, die möglicherweise zwischen einzelnen Ausgaben eingetreten sind, werden quellenkritisch untersucht. Jede wesentliche Veränderung findet eine gesonderte Erwähnung. In der Regel bildet die letzte korrigierte Auflage die Grundlage der Untersuchung, so daß jeweils die von Herrmann selbst überprüfte Auffassung zur Darstellung kommt. 45 Mahlmann (1986, 171, 23-25) ist der Meinung, daß Herrmann bis zum Äußersten die Kritik der Rationalität betont: „Ein logischer Irrtum endigt Herrmanns Theologie. Doch Herrmann meint, Theologie müsse 'logisch Unvereinbares' behaupten, den 'logischen Widerspruch' akzeptieren." 46 Abkürzung R. 47 Herrmanns Aufsatzsammlung „Schriften zur Grundlegung der Theologie" wurde von Peter Fischer-Appell herausgegeben (1966-1967). Herrmanns Bibliographie findet sich bei Fischer-Appelt 1965, 215-232.

Die Quellen und der Verlauf der Untersuchung

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Eine wesentliche Stellung in der Dogmatik Herrmanns kommt der Prinzipienlehre zu, was am Aufbau dieser Untersuchung und an der Art ihrer Durchführung deutlich wird. Herrmann versteht in diesem Bereich unter „Religion" noch nicht den christlichen Glauben, sondern Religion überhaupt entsprechend ihrer philosophischen Definition. Die praktische Begründung der Religion verbleibt jedoch trotzdem nicht nur auf der analytischen Ebene eines allgemeinen Religionsbegriffs, sondern gerade das Christentum als positive, m. a. W. geschichtliche Religion findet hier seine Begründung. Eine weitere Frage gilt in diesem Zusammenhang den Auswirkungen, die die praktische Begründung der Religion für das Verständnis des christlichen Glaubens aufweist: impliziert die praktische Denkweise bereits eine spezifisch inhaltliche Deutung des Christentums? Die praktische Definition der Religion führt zum zentralen Begriff des Selbstgefühls. So charakterisiert Herrmann etwa den Glauben wiederholt als spontanes Erlebnis des Selbstgefühls. 48 Der Begriff Selbstgefühl wird auch da wichtig, wo er den Menschen als Person, als ein in praktischer Weise auf die Welt hin orientiertes Wesen, definiert. Er versteht es als Zentrum des Wesens der ganzen Person, weshalb es den Glauben konstituiert und auch die Ethik sowie die Metaphysik berührt. Das Selbstgefühl ist damit auch das Subjekt der erkennenden, Vorstellungen hervorbringenden Person und nicht nur das Subjekt, das spontane religiöse Erlebnisse erzeugt. Schon die Tatsache, daß Religion als Selbstgefühl definiert wird, das seinem Wesen nach Werterlebnis ist und daß der Wille anders als die Vernunft als Moment des praktischen Bewußtseins verstanden wird, bringt eine Vielzahl von Problemen mit sich. Selbst wenn man direkt den Schluß zöge, Religion könne nach Herrmann keine Elemente der theoretischen Vernunft enthalten - vorausgesetzt, Herrmann schlösse sich völlig der Kritik der theoretischen Vernunft von Kant an - bliebe dennoch die Möglichkeit, daß die Religion Elemente der praktischen Vernunft enthält. Dies wird besonders durch Herrmanns Vorliebe, das religiöse Erlebnis als Werterlebnis zu verstehen, nahegelegt. Man darf daher annehmen, daß das Verhältnis zwischen Religion und Ethik sich schon bei der praktischen Analyse der Religion als zentrales Problem herausstellt. Die Definition der Religion als spontanes Selbstgefühl, macht zwar Herrmanns unterschiedliche Position gegenüber Kant und den Neukantianern deutlich, mindestens ebenso wichtig ist aber auch die Abgrenzung gegenüber der transzendentalen Definition von Religion bei Schleiermacher. Herrmann beruft sich zwar auf Schleiermacher, man darf jedoch 48 So betont auch Mahlmann Denken Herrmanns.

(1962, 11-88) das Erlebnis als axiomatischen Ansatz im

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Einleitung

seine harte Kritik an dessen Religionsbegriff nicht vergessen. Schleiermacher bleibe mit seiner Definition von Religion in den Fallstricken der klassischen Metaphysik gefangen, lautet denn auch folglich Herrmanns Urteil. 49 Aus dem bisher Festgestellten empfiehlt sich für unsere Untersuchung zur Bestätigung der Ausgangshypothese folgender Aufbau: Zunächst wird das Verhältnis des religiösen Gefühls zum transzendentalen Subjekt analysiert. Die Beziehung zwischen Selbstgefühl und erkenntnistheoretischem Subjekt muß schon deshalb zum Untersuchungsgegenstand gemacht werden, weil Herrmann andeutet, daß das Selbstgefühl nicht nur das Wesen der Religion, sondern auch das Zentrum der ganzen Person ausmacht. Das Selbstgefühl lasse den Menschen zur Person werden nicht nur zur religiösen Person, sondern ganz allgemein zur menschlichen Person. Dieses Selbstgefühl erhält damit im Denken Herrmanns die Stellung eines zentralen philosophischen Begriffs. Die Analyse des Verhältnisses von Selbstgefühl und erkenntnistheoretischem Subjekt grenzt Herrmanns Auffassung auch von der Einsicht Cohens ab, die besagt, daß ein und dasselbe erkenntnistheoretische Subjekt (Ich) das Subjekt sowohl der Religion, als auch der Ethik und der Erkenntnistheorie sei. In dieser Beziehung kritisiert Herrmann ständig Cohen, den er ansonsten sehr schätzt. Kritischer Punkt scheint gerade zu sein, daß Cohen nicht zwischen erkenntnistheoretischem und religiösem Subjekt unterscheidet. Die Frage nach der Beziehung des Selbstgefühls zum erkenntnistheoretischen Subjekt grenzt so zugleich die Religion von der klassischen Metaphysik ab, sofern diese überhaupt noch in der Transzendentalphilosophie enthalten ist. Herrmanns Kritik scheint sich nämlich gerade daran zu entzünden, daß Cohen - indem er das Subjekt der Religion mit dem erkenntnistheoretischen Subjekt gleichsetzt - letztendlich jene Fragestellung der klassischen Metaphysik repräsentiert, wie man mit Hilfe von Erkenntnis zur Natur oder als deren Fortsetzung zum Ding an sich in der Natur, in die objektive Außenwelt, gelangen kann. Wird das Selbstgefühl im Verhältnis zum erkenntnistheoretischen Subjekt analysiert, so drängt sich auch die Frage, wie Herrmann das Verhältnis zwischen klassischer Metaphysik und transzendentaler Metaphysik versteht, als Gegenstand der Untersuchung auf. Die Problematik des Verhältnisses von Metaphysik und Religion bei Herrmann kann allerdings durch die Analyse des Verhältnisses von Selbstgefühl und erkenntnistheoretischem Ich allein vermutlich noch nicht gelöst werden. Als nächstes soll daher das Verhältnis zwischen religiösem Selbstgefühl und ethischem Subjekt analysiert werden. Nach 49 Zu Schleiermachers Auffassung, daß die Religion an die objektive Wirklichkeit heranreicht, siehe Weinhardt 1997, 142.

Die Quellen und der Verlauf der Untersuchung

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Herrmann muß die religiöse Person auch ethisch aufgeweckt sein. Die Leitfrage, die die Analyse der Sicht Herrmanns vom ethischen Subjekt bestimmt, lautet: Wie verhalten sich das die Religion bestimmende Selbstgefühl und der in der Ethik entscheidende Wille zueinander? An dieser Stelle wird vermutlich Herrmanns Einstellung zu der von Kant postulierten ethischen Idee von Religion relevant. Im zweiten Teil wird Herrmanns Begründung der Dogmatik ausgehend von dem im ersten Teil behandelten Begriff der praktischen Religion untersucht. Wir stellen dabei die Frage, wie Herrmann - philosophie- und theologiegeschichtlich gesehen - den christlichen Glauben als historisches Phänomen praktisch begründet. Kant und Schleiermacher haben diese Aufgabe laut Herrmann nicht erledigt. D a ß Kant und Schleiermacher nicht in der Lage seien, den christlichen Glauben als historischen Glauben zu begründen, hänge vermutlich gerade damit zusammen, daß bei ihnen noch Restbestände der Metaphysik zu finden sind. Die Frage nach der Metaphysik in der Theologie und die Frage nach dem wahren geschichtlichen christlichen Glauben gehören nach Herrmanns Meinung also wesentlich zusammen. Wenn der christliche Glaube als geschichtliche Religion von der Religion „an sich" her begründet wird, ergibt sich zugleich die Frage nach der Beziehung zwischen dem mit der praktischen Definition von Religion verbundenen Apriori und dem Inhalt des christlichen Glaubens. Wenn Herrmann schon im Ansatz davon ausgeht, daß das klassische Dogma auf den Begriffen der klassischen Metaphysik aufgebaut ist, baut dann die neue Lehre ihrerseits auf apriorischen Begriffen auf, die der praktischen Methode entsprechen? Man kann die Frage auch anders stellen: Bedeutet die praktische Denkweise schon eine inhaltliche Deutung der Dogmatik? Herrmann besteht darauf, daß die Dogmatik zugleich Apologetik ist. Daraus ergibt sich als weitere Frage: Wird aus der praktisch begründeten Dogmatik eine neue Art „Dachwissenschaft", die als Weltanschauung den Platz der klassischen Metaphysik einnimmt? Konstruiert Herrmann zugleich eine transzendentalphilosophisch gestützte religiöse Weltanschauung? Auch wenn er in seiner Kritik der Metaphysik die Idee der Einheit aller Vernunft verwirft, hält er dennoch an der Auffassung fest, daß das letzte Ziel des Menschen im Begreifen der Wirklichkeit als Einheit liegt. Diese Einheit der Wirklichkeit begrifflich, mit Hilfe der Metaphysik, zu erreichen, sei jedoch nicht möglich. 50 Die Einheit der Wirklichkeit könne nicht theoretisch begründet werden, sie sei vielmehr ein subjektives Bedürfnis der Person. Herrmann selbst bemühte sich gerade mit Hilfe seiner praktischen Denkweise, eine eigene Antwort auf die vom Menschen unweigerlich gestellte

50

So Mahlmann

1986, 170, 42, 44-47.

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Einleitung

Frage nach der Einheit der Wirklichkeit zu geben. Wenn Herrmann seine Dogmatik anhand der praktischen Denkform errichtet, wie in dieser Untersuchung hypothetisch angenommen wird, kann die Dogmatik nicht an der Frage nach dem letzten Grund der Einheit der Wirklichkeit vorbeigehen. Wenn die Metaphysik, wie Herrmann meint, auf diese vom Menschen in jedem Fall gestellte Frage keine Antwort zu geben vermag, bleiben nur zwei Alternativen: Entweder die Ethik oder die Religion antworten auf die brennende Frage der Weltanschauung oder beide gemeinsam. In diesem letzten Kapitel werden unsere kritischen Analysen zugespitzt: Als Ergebnis wird sich zeigen, daß Herrmann, obwohl er die Metaphysik heftig kritisiert, doch im Gefängnis der Philosophie verbleibt; in diesem Fall hat er lediglich bei einer speziellen, der Transzendentalphilosophie Zuflucht gesucht. Weltanschauung und Dogmatik stehen weiterhin im Zusammenhang, und die Inhalte der Dogmatik zeigen deutlich, daß sie Einflüsse von diesem Zusammenhang empfangen haben.

2. Die praktische Metaphysik als Unterscheidungsmerkmal von Religion und Metaphysik 2.1. Das Grundproblem der Theorie Herrmanns: die Kritik der Einheit der Vernunft - die wahre Einheit der Wirklichkeit Wilhelm Herrmann geht es darum, ausgehend von den durch die Transzendentalphilosophie des 19. Jahrhunderts aufgeworfenen Überlegungen eine theologische Theorie zu schaffen, mit der gleichzeitig zumindest zwei Grundanliegen verwirklicht werden. Erstens die Religion von einem Prinzip her zu begründen, das völlig unabhängig von der Metaphysik ist. Zweitens mit Hilfe eben gerade der Religion die Vorstellung von der Einheit der Wirklichkeit zu formulieren. Er glaubt also, den in der Metaphysik enthaltenen Begriff der Einheit der Vernunft kritisieren und mit dieser Kritik die Religion von der Metaphysik „befreien" zu können. Gleichzeitig meint er aber auch, es sei möglich zu begründen, daß es nur eine Wirklichkeit gebe. Die zentrale Behauptung Herrmanns lautet: Das Begreifen der Wirklichkeit als Einheit ist notwendiges Bedürfnis eines personalen Wesens; diese Behauptung dürfe und könne aber nicht metaphysisch begründet werden. 1 1 M 8: „Die systematische Theologie soll sein die wissenschaftliche Darstellung und Begründung einer religiösen Weltanschauung [ . . . ] . " „Ist dem nun aber so, so liegt auf der H a n d , wie verschieden unsere Stellung zur Welt ist, wenn wir in metaphysischer Arbeit begriffen sind und wenn wir uns in der religiösen Weltanschauung bewegen." Siehe auch M 12: „Wenn nun aber diese im Christentum, wie die systematische Theologie erweist, die jenige Welteinheit erreicht, welche der höchsten sittlichen Idee entspricht, so erfordert es ihr eigenstes Interesse, dieses ihr Werk von allem sorgfältig zu unterscheiden, was etwa an Ahnlichem durch eine sich so nennende Wissenschaft zustande kommt." Siehe auch M 15: „Wenn im Christentum der sittliche Geist als das wahrhaft Reale gilt, an dessen Realität alles übrige teilnimmt, sofern es sich durch die positive Zweckbeziehung auf ihn legitimieren kann, so scheint doch diesem Urteil die Metaphysik entweder feindlich gegenüber oder helfend zu Seite treten, [ . . . ] . " „Religion und Metaphysik lassen sich gar nicht als die Vollstrecker der gemeinsamen Aufgabe, das wahrhaft Reale festzuhalten, koordinieren." Siehe auch M 17: „ [ . . . ] daß wir mit dem Wahrhaftwirklichen im Christentum etwas ganz anderes meinen als in der Metaphysik." „ [ . . . ] muß man auch gestehen, daß die metaphysichen Begriffe von demjenigen, was die Eigentümlichkeit der religiösen ausmacht, durch eine unüberbückbare Kluft getrennt sind."

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Praktische Metaphysik als Unterscheidungsmerkmal von Religion und Metaphysik

Herrmann bemüht sich, die in seiner Theorie enthaltene Hauptthese von der Einheit der Wirklichkeit auf zwei Weisen, die in seinem praktischen Denken ineinander verwoben sind, aufzuzeigen. Seine Argumentation läßt sich dabei in zwei unterschiedliche Argumentationsmuster aufteilen. Im Verhältnis dieser beiden Argumentationsmuster zueinander steckt gerade das Grundproblem seiner Theorie. Einerseits setzt nach Herrmann die Begründung der wahren Einheit der Wirklichkeit die Kritik der früheren, klassischen Auffassung voraus. In der klassischen Metaphysik werde die Einheit der Wirklichkeit, meint er, grundlegend falsch verstanden. Die Kritik der klassischen Metaphysik nimmt daher auch einen zentralen Stellenwert im gesamten Denken Herrmanns ein. Ohne Verständnis für die leidenschaftliche Kritik, mit der er die klassische Metaphysik überzieht, bleibt der Zugang zu Herrmanns theologischer Theorie verschlossen. Im Bündnis zwischen Metaphysik und Theologie sei es prinzipiell nicht möglich, die Selbständigkeit der Religion und die Eigenständigkeit der Theologie von der Metaphysik durchzusetzen. 2 Herrmann schließt sich in seiner Kritik der klassischen Metaphysik der von Kant ausgelösten grundsätzlichen Kritik der gesamten klassischen Denkweise an. Kant bedient sich bei dieser Kritik des in seiner Transzendentalphilosophie enthaltenen Begriffs des reinen Erkennens. Herrmann kritisiert nun seinerseits mit Hilfe der Kritik des reinen Erkennens die Auffassung, derzufolge die Vernunft eine Einheit darstellt; so jedenfalls urteilt die klassische Metaphysik. Auch wenn im kantischen Begriff der reinen Erkenntnis und zugleich auch in der theoretischen Erkenntnis der Gedanke, die Vernunft sei eine Einheit, gar nicht enthalten ist, läßt zumindest Kant selbst nicht davon ab, die Einheit der Wirklichkeit rational zu begreifen. Herrmann versucht dagegen die Kritik der Metaphysik auch auf den Gedanken der Einheit der Vernunft anzuwenden. Dies führt dazu, daß er - um konsequent zu sein - seine Kritik der Metaphysik auf alles, also auch die Metaphysik Kants auszudehnen hat. Folgt man dieser Interpretation, erscheint Herrmanns theologische Theorie als eine grundlegende, absolute und abschließende Kritik der Metaphysik. Herrmanns religiöse Theorie könnte demnach geradezu als Kritik der Metaphysik verstanden werden. Nach dem ersten Eindruck stellt sich Herrmanns Denkweise eben als eine bis ins Äußerste getriebene Kritik der Metaphysik dar. Die Metaphysik wäre demnach der Feind der Theologie und die Abschaffung der Metaphysik wäre die Befreiung der Theologie zu sich selbst. Dieser erste 2 M 18: „Diese Unabhängigkeit der religiösen Weltanschauung des Christentums von der Metaphysik ist nun natürlich nicht bedeutungslos für die systematische Theologie. Der Eigentümlichkeit ihres Gegenstandes ist sie erst sicher mit der Einsicht, daß die Christliche Religion nicht den tatsächlichen Bestand der Welt festellen will, sondern die Zweckbeziehung desselben auf uns."

Grundlage der Kritik Herrmanns an der klassischen Metaphysik

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Eindruck steht jedoch nicht mit der theoretischen und positiven Intention seiner Theologie im Einklang, derzufolge die Person nach der Einheit der Wirklichkeit fragt und die Theologie auf diese Frage eine Antwort zu geben hat. Die Metaphysik-Kritik Herrmanns, die nach der Hypothese dieser Untersuchung total und kompromißlos ist, läßt sich daher nicht aus dem Gesamtkontext seines Denkens herausreißen. Es geht eben nicht nur darum, die von Kant übernommene Kritik der klassischen Metaphysik mit Hilfe der reinen Erkenntnis weiterzuführen und abzuschließen, sondern es geht andererseits auch darum, die Einheit der Wirklichkeit so zu begründen, wie es dem praktischen Denken entspricht. In Herrmanns Kritik der Metaphysik ist somit auch ein eigenes positives Denkelement enthalten, was an seiner Sicht von der praktischen Metaphysik deutlich wird. Herrmann kritisiert die klassische Metaphysik von der praktischen Metaphysik her entsprechend dem Grundsatz „Metaphysik gegen Metaphysik". 3 Das Grundproblem seiner Theorie und zugleich der Prinzipienlehre seiner Dogmatik läßt sich somit in folgende Frage fassen: Was ist das Prinzip der Einheit der Wirklichkeit, wenn es sich bei diesem Prinzip nicht um den von der klassischen Metaphysik angestrebten Gegenstand des theoretischen Denkens, das Ding an sich, handeln kann? Die zweite, unmittelbar daran anschließende Frage lautet: Wenn die Einheit der Wirklichkeit nicht rational begründet werden kann, wie kann dann die Einheit der Wissenschaft im theoretischen Sinn behauptet werden? Herrmann versucht bei der Begründung der Einheit der Wirklichkeit gleichzeitig sowohl eine Einheit der Vernunft zu verneinen, als auch zu behaupten, daß es nur eine Wirklichkeit gebe. Eben in dieser Behauptung steckt das Grundproblem seines gesamten Denkens und der Prinzipienlehre seiner Dogmatik.

2.2. Kants Begriff der reinen Erkenntnis als Grundlage Herrmanns an der klassischen Metaphysik

der

Kritik

Schon ein flüchtiger Blick auf Herrmanns Werk offenbart, wie absolut seine Kritik an der klassischen Metaphysik ist. Herrmann beruft sich dabei auf Kants Entdeckung des „reinen Erkennens": Nach Kant wird 3 M 21: „Es ist eine unvermeidliche Aufgabe der Metaphysik, die Abwandlungen zu markieren, welche unsere Begriffe in dem Wechsel der Beziehungen auf Dinge und auf Geister erleiden. D a s Resultat der Arbeit ist die Rüstkammer der systematischen Theologie." „Wenn die Theologie das Christentum mit wissenschaftlicher Genauigkeit darstellen will, so hat sie sich dieser von der Metaphysik gelieferten Mittel zu bedienen; ob dieselben im Fortgange der metaphysischen Untersuchung an einem anderen Punkte wiederum modifiziert werden, geht sie bei ihrer Tätigkeit nichts an."

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Praktische Metaphysik als Unterscheidungsmerkmal von Religion und Metaphysik

bei der Erkenntnis nicht das Ding an sich in der Wirklichkeit erreicht. 4 Damit unterscheidet sich der Begriff der reinen Erkenntnis bei Kant vollständig vom klassischen Erkenntnisbegriff. Er baut a priori lediglich auf dem erkennenden Subjekt und dessen Vernunft- und Denkfähigkeiten auf. Wenn Herrmann vom Erkenntnisbegriff Kants ausgeht, begnügt er sich jedoch nicht nur einfach mit einer Wiederholung von dessen philosophischer Analyse, sondern wendet von Anfang Kants Erkenntniskritik systematisch-theologisch an. Herrmann setzt in seiner Argumentation bei der Frage ein, welches Gewicht der Kritik der klassischen Metaphysik für die Selbständigkeit der Theologie eigentlich zukommt. Wie man sieht, zieht Herrmann in seiner Theologie sehr weitreichende Schlußfolgerungen aus dem Erkenntnisbegriff Kants und aus der mit dessen Hilfe vollzogenen Kritik der Metaphysik. Es gibt bei Herrmann eine sowohl philosophische als theologische Aufgabe, die praktisch bedingten Uberzeugungen von jeder theoretischer Erkenntnis zu unterscheiden. Die theologischen Probleme sollen nur auf praktischem Gebiet erörtert werden. 5 Den Gedanken, es könnte in der nachkantischen Theologie für die klassische Metaphysik noch irgendeinen Raum geben, weist Herrmann von vornherein zurück. Auffällig an seiner Argumentation ist in diesem Zusammenhang, daß er sich nicht nur damit begnügt, die klassische Metaphysik für nutzlos zu erklären, sondern sie darüber hinaus geradewegs als schädlich für die Theologie ansieht. 6 Die klassische Metaphysik ist nicht nur ein überzähliges historisches Relikt in der Theologie und als solches unnötiger „theoretischer Ballast", sondern wesenhaft theologiefeindlich ausgerichtet. Herrmanns Einsatz für die Selbständigkeit der Theologie ist theoretischer Natur und von seiner Gesamtsicht her geprägt, was an seinem Nachweis deutlich wird, die klassische Metaphysik sei als Feind der Theologie anzusehen. Die klassische Metaphysik sei eben gerade mit ihrer Auffassung, derzufolge die Wirklichkeit eine Einheit bilde, für die Theologie verderblich. Aus Herrmanns Sicht ist die

4

R IX. R IX: „Es giebt allerdings eine gemeinsame theologische wie philosophische Aufgabe, deren Lösung ich in den beiden ersten Abschnitten dieser Schrift versucht habe: die Scheidung der practisch bedingten Ueberzeugungen, in deren Bereiche die eigentlich theologischen Probleme liegen, von dem Gebiete des theoretischen Erkennens." 6 M 48: „Man wird aber in der Theologie immer wieder in die Gefahr geraten, nach einem metaphysischen Ausgleich zwischen der kreattirlichen Freiheit und der hervorbringenden Kausalität Gottes zu suchen, wenn man in dogmatischem Eifer den Ursprung und die Geltung dieser Begriffe im Christentum übersieht." Siehe auch M 50: „ [ . . . ] er ist aber auch unchristlich, weil das höchste Gut des Christentums illusorisch macht, indem er das wahrhaft Wirkliche doch wieder sucht, wo es für uns nicht zu finden ist, jenseits des sittlichen Geistes, also, trotz aller Bemäntelungen, in der Natur." Siehe auch M 66: „Wir nennen dieses Urteil nichtchristlich, weil dasselbe als Bestandteil der religiösen Weltanschauung des Christentums in keiner Weise gelten kann." 5

Grundlage der Kritik Herrmanns an der klassischen Metaphysik

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klassische Metaphysik damit bereits ihrem Grundcharakter nach eine Philosophie, die eine gewisse Vorstellung von der Einheit der Wirklichkeit enthält. Ihm reicht es allerdings nicht, die Auffassung der klassischen Metaphysik zu kritisieren, derzufolge die Wirklichkeit einheitlich ist, sondern seine Kritik zielt auch auf die Art und Weise, wie die klassische Metaphysik diese Einheit begreift. Herrmann stützt sich in seiner Kritik am metaphysischen Begriff der Einheit der Wirklichkeit unmittelbar auf Kants Kritik des theoretischen Verstandes. Die klassische Metaphysik suche fälschlicherweise die Einheit der Wirklichkeit im Bereich des Verstandes. Dabei meine man, die Einheit der Wirklichkeit mit dem Gedanken eines realen Wesens begründen zu können, „des Dings an sich", das ein Objekt des reinen Verstandes sei. Das Ding an sich als Objekt der Erkenntnis, das der Verstand von der Wirklichkeit zu abstrahieren vermag, bildet in der klassischen Metaphysik die Grundlage für die Einheit der Wirklichkeit. Dieser Gedanke „des Dings an sich", der es gestatten würde, die Wirklichkeit als Einheit zu begreifen, sei jedoch nach Kants kritischer Philosophie zum Scheitern verurteilt.7 Kant habe, meint Herrmann, mit Hilfe des Begriffes der reinen Erkenntnis die Unmöglichkeit dieser Intention der klassischen Metaphysik nachgewiesen. Das Bestreben der klassischen Metaphysik, das Ding an sich zu erreichen, ist aus dem Blickwinkel des reinen Erkennens ein aussichtsloses Unterfangen. 8 Herrmann schließt sich in seiner Kritik der klassischen Metaphysik ohne jeden Vorbehalt vollständig der Kritik des reinen Erkennens von Kant an und zieht daraus direkte Schlußfolgerungen für die Metaphysik. In der Tat meint er auch, daß Kant gerade in diesem Zusammenhang eindeutig gezeigt hat, daß die klassische Metaphysik nicht einmal von ihren eigenen Voraussetzungen her betrachtet möglich ist.9 Zugleich zieht 7

M 7. R 16: „Diese reine durch Gefühl und Wille nicht beeinflußte Thätigkeit des Erkennens, durch welche sich die Einheit des Bewußtseins stetig vollzieht; deutlich gemacht zu haben, ist das Verdienst der kantischen Erkenntnistheorie." Siehe auch M 5: „Eine richtige Erkenntnistheorie wird voraussichtlich die schrankenlose Ausdehnung der mechanischen Weltauffassung über das kaum Erscheinende immer mehr bestätigen." ' Κ 107: „Es sind nun nicht die Gedanken des Glaubens über die Welt, sondern die Gedanken der Wissenschaft, welche Kant aus ihrer elementaren Anwendung in der wissenschaftlichen Forschung hervorgezogen und zu philosophischer Klarheit erhoben hat." Siehe Jensen 1975, 66: „Wie betont, beruft sich Wilhelm Herrmann in allen Details seiner Analyse des wissenschaftlichen Naturerkennens auf Kant." Fischer-Appelt (1965, 109) sieht als sachlichen und terminologischen Ausgangspunkt des Metaphysikbegriffs Herrmanns Lotzes Werke „Mikrokosmus" ( 1 8 5 6 - 1 8 6 4 ) und „Metaphysik" (1841) an. Lotzes metaphysischen Ausgangspunkt kann man folgendermaßen charakterisieren: „ [ . . . ] der Anfang der Metaphysik ist nicht in ihr selbst, sondern in der Ethik." Lotze 1841, 329. W o Lotze sagt: „Wie muss das Seiende von uns gedacht werden, wenn etwas sein soll?" sagt Herrmann: „Wie muss die Welt beurteilt werden, wenn das höchste Gut sein soll?"M 8. 8

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Praktische Metaphysik als Unterscheidungsmerkmal von Religion und Metaphysik

er auch Schlußfolgerungen, was die Interessen der klassischen Metaphysik selbst an der Einheit der Wirklichkeit anbelangt, eine Frage, die ihn selbst brennend beschäftigt. Er kann daher auch sagen: „Dieses Bedürfniß ist dem vorstellenden Bewußtsein für sich fremd [ . . .]." 10 Die Art, wie Herrmann in seiner eigenen Argumentation Kants Erkenntnisanalyse, die Metaphysik sowie die weltanschaulichen und religiösen Implikationen beider verknüpft, bestärkt die Hypothese dieser Untersuchung, daß sein Religionsbegriff ein im Wesen theoretisches und weltanschauliches Interesse verfolgt. Für ihn ist nämlich schon Kants Kritik des reinen Verstandes von äußerster Wichtigkeit für die Religion. Mit anderen Worten, Kants Analyse des Erkenntnisbegriffs ist laut Herrmann bereits Apologie, d. h. Verteidigung der Religion. Kant wehre daher, indem er sich gegen die Intention der klassischen Metaphysik wendet, das Ding an sich im Bereich der theoretischen Erkenntnis zu suchen, den schlimmstmöglichen Einwand gegen das Wesen der Religion ab. 11 An der Art, wie Herrmann aus Kants an sich neutraler Analyse des Erkenntnisbegriffs weitreichende und für die Religion folgenreiche Schlußfolgerungen zieht, läßt sich seine eigene, eng an die Kritik der klassischen Metaphysik anschließende Intention erkennen. Diese ist ihm im Blick auf die Religion keineswegs ein neutraler Forschungsbereich. Das Urteil, das Herrmann aus der Perspektive der Religion so unverhohlen über die Metaphysik fällt, ist nur von seiner Gesamtauffassung her möglich, die besagt, daß die Religion und die Frage nach der Einheit der Wirklichkeit

Nach Fischer-Appelt (1965, 105) fällt auf, in welch naher Verbindung Herrmann Metaphysik und Naturwissenschaften sieht. Siehe M 4: „Was der Physik oder, wie es nach heutiger Terminologie heißen müßte, der Metaphysik unerreichbar bleibt, ist die Idee des Gottes [ . . . ] . " Die klassische Verbindung zwischen Naturwissenschaft und Metaphysik beschreibt Aristoteles in seinem 12. Buch über die Metaphysik. 10 R 60-61: „Die Art wie das Bewußtsein Gegenstände vorstellt, wird dann gemessen an dem Gedanken eines definitiven Abschlusses, einer Totalität der Bedingungen, in welchem ein Bedürfniß des Menschen, oder wie wir mit Kant sagen können, ,der Vernunft' zur Ruhe kommt. Dieses Bedürfniß ist dem vorstellenden Bewußtsein für sich fremd [ . . . ] . Jene Totalität, das Ding an sich überhaupt, weil in keiner Erfahrung gegeben noch aus ihr ableitbar als Bedingung ihrer Möglichkeit, ist ein Product unseres eigenen Denkens." 11 „Denn wenn die Metaphysik die Begriffe behandelt, denen wir Alles in der Natur Mögliche unterwerfen wollen, so versteht sich doch wohl von selbst, d a ß das vermeintliche Uebernatürliche, das an diesen Begriffen gemessen werden kann und soll, entweder selbst zur Natur gehört oder als eine dem Naturerkennen immanente Voraussetzung von uns gedacht wird. Nun behaupte ich, daß eine religiöse Ueberzeugung, deren Object so bezeichnet werden kann, durchaus mythologischer oder heidnischer Art ist." R 6. Siehe M 9: „Freilich wird er sich der Ahnung nicht entschlagen können, daß ein verborgener Zusammenhang zwischen der Weise des Seins und Geschehens in der Welt und dem höchsten Gut besteht, das sich in ihnen verwirklicht. Aber diesem Zusammenhang nachzuspüren, gibt ihm sein Christentum weder das Recht noch die Veranlassung."

Grandlage der Kritik Herrmanns an der klassischen Metaphysik

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zusammengehören. Der Erkenntnisbegriff der klassischen Philosophie, der zum Wesen des Dings an sich zu gelangen meinte, impliziert für Herrmann schon eine Vorstellung von der Einheit der Wirklichkeit, die eine Ausweitung der Metaphysik auf den Bereich der Religion bedeutet. - Bereits diese Analyse der Metaphysikkritik Herrmanns deutet an, daß sein Religionsbegriff wesentlich mit der Frage nach der Einheit der Wirklichkeit zusammenhängt. Er sieht in beiden, Metaphysik und Religion, Konkurrenten im Bemühen um das Verständnis der Wirklichkeit, ja sogar um die Prinzipien der Einheit der Wirklichkeit selbst. 12 Bereits in seiner Metaphysikkritik greift er einen brennenden Punkt auf, der zugleich auch der problematischste ist: die Frage, welche Prinzipien der Einheit der Wirklichkeit zugrunde liegen und wie sie beschaffen sind. Die klassische Metaphysik hat auf die vom Menschen immer wieder gestellte Frage nach der Einheit der Wirklichkeit ihre eigene, in gewissem Sinne immer absolute Antwort parat: behauptet sie doch zugleich, daß das Prinzip der Einheit der Wirklichkeit real in der objektiven Außenwelt existiert und daß auch der Verstand die Fähigkeit hat, dieses abstrahierend zu erkennen. D a s Realitätsverständnis der klassischen Metaphysik ist für Herrmann jedoch etwas völlig anderes als die Auffassung der Religion von der Wirklichkeit. 13 Der Wirklichkeitsbegriff der klassischen Metaphysik und der der „wahren" Religion stehen somit in Konkurrenz zueinander. Implizit geht daraus hervor, daß in der wahren Religion eine bestimmte Sicht von der Einheit der Wirklichkeit enthalten ist und die Religion zur Frage nach der realen Natur der Wirklichkeit Stellung bezieht. Die Religion schließt sich damit entweder einem bestimmten Wirklichkeitsbegriff an oder schafft sich selbst einen eigenen. Herrmann bringt dies unmißverständlich in seiner Kritik der klassischen Metaphysik, in der er sich auf den Begriff der reinen Erkenntnis Kants stützt, zum Ausdruck. In dieser Kritik teilt Herrmann gleichfalls auch mit, wie er die von der klassischen Metaphysik vertretene Vorstellung von der Einheit der Wirklichkeit und ihre Bedeutung für die Religion versteht. Auch hierbei stützt

12 M 4: „ D i e Theologie redet ja ohne Zweifel von Erkenntnissen, die, nicht aus wissenschaftlicher Welterklärung entstanden, doch geeignet seien, dem Menschen die drückenden Rätsel der Welt zu lösen." 13 M 8 - 9 : „Ist dem nun aber so, so liegt auf der H a n d , wie verschieden unsere Stellung zur Welt ist, wenn wir in metaphysischer Arbeit begriffen sind und wenn wir uns in der religiösen Weltanschauung bewegen. Bei jener fragen wir danach, in welchen allgemeinen Formen alles Sein und Geschehen widerspruchsfrei vorgestellt werden könnte. Für die Richtigkeit jener Vorstellungen kommt es gar nicht in Betracht, in welchem Verhältnis die Dinge zu den Zielen unseres Willens, zu unserem Wohl und Wehe stehen. Umgekehrt kommt in der religiösen Weltanschauung hierauf alles an, während jene metaphysischen Fragen gleichgültig sind."

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Praktische Metaphysik als Unterscheidungsmerkmal von Religion und Metaphysik

er sich auf Kant. Die Problematik des metaphysischen Wirklichkeitsverständnisses liegt aus der Sicht der Religion gesehen nämlich darin, meint Herrmann, daß die klassische Metaphysik in ihrer Auffassung vom „Ding an sich" im wesentlichen Naturwissenschaft ist.14 Hinter dieser Annahme steht Kants Verständnis von der Naturwissenschaft als einem Bereich der reinen Vernunft. Wenn die klassische Metaphysik nun die Einheit der Wirklichkeit im Bereich des theoretischen Verstands suche, argumentiere sie ausschließlich auf dem Felde der Naturwissenschaft. Die klassische Metaphysik verwendet Begriffe, die die Natur betreffen, und es gelingt ihr nicht, „über" die Natur hinauszugelangen. Die Auffassung, daß sich aus dem klassischen Erkenntnisbegriff die Identifikation der Begriffe der Metaphysik und der Naturwissenschaft ergebe, geht auf das Metaphysikverständnis Kants zurück. Herrmann meint, daß die klassische Metaphysik mit der Terminologie der Naturwissenschaft argumentiert, weil sie auf einem Erkenntnisbegriff beruht, der das Ding an sich mit Hilfe des Wissens über die Natur aus ihr abstrahiert. Dies hat nach Herrmann Folgen auch für die höchsten Begriffe der Metaphysik. 15 Angesichts der Gesamtintention Herrmanns ist es bezeichnend, daß er in seiner Argumentation den Seinsbegriff der Metaphysik und die theologische Gottesvorstellung miteinander identifiziert. 16 Im Grunde genommen übergeht er damit die gesamte Theologiegeschichte, in der gewöhnlich zwischen dem philosophischen Seinsbegriff und dem theologischen Gottesbegriff unterschieden wurde. Auch bei Thomas von Aquin spielt diese Unterscheidung eine wesentliche Rolle, obwohl dieser seine Theologie auf einem philosophischen Seinsbegriff aufbaut. 17 In der Tat meint Herrmann, daß, selbst wenn in der klassischen Metaphysik Gott

14 M 9: „So wenig der Christ, der auf ethische Weltbeherrschung ausgeht, der Formeln bedarf, mit welchen die Physik zum Zwecke mechanischer Weltbeherrschung von den Naturvorgängen Besitz ergreift, so wenig bedarf er jener allgemeinen Formeln, in welchen der Metaphysiker die widerspruchsvolle Begriffswelt sich zurechtlegt." 15 „Vor Allem aber läuft jener Begriff deßhalb dem Interesse des Christenthums zuwider, weil ein Uebernatürliches, daß das seine Geltung vor der Metaphysik rechtfertigen muß, entweder selbst zur Natur gehört oder doch wenigstens auf das Naturerkennen als das legitime Mittel zu seinem Verständniß rechnet. Denn wenn die Metaphysik die Begriffe behandelt, denen wir Alles in der Natur Mögliche unterwerfen wollen, so versteht sich doch wohl von selbst, daß das vermeintliche Uebernatürliche, das an diesen Begriffen gemessen werden kann und soll, entweder selbst zur Natur gehört oder als eine dem Naturerkennen immanente Voraussetzung von uns gedacht wird." R 6. 16 M 16: „Die unheilvolle Folge muß aber immer eintreten, wenn man die metaphysische Position des unendlichen Geistes, also des allgemeinen Grundes des Seins und Geschehens überhaupt, entweder als einen Ausschnitt aus der vollen christlichen Gottesidee oder als die natürlich gegebenen Ergänzung zu derselben ansieht." 17 Zum Verhältnis zwischen klassischer Metaphysik und Theologie in der Scholastik und bei Luther siehe Martikainen 1992.

Grundlage der Kritik Herrmanns an der klassischen Metaphysik

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als Urgrund der Wirklichkeit, als eine Art letzte Ursache angesehen würde, der Gottesbegriff trotzdem in jedem Fall in Naturbegriffe einginge. In der klassischen Metaphysik gelange man daher unweigerlich immer zu dem Schluß, daß auch Gott „ein" Natur-Ding sei, auch wenn man ihn als ersten Grund oder höchstes Wesen definieren würde. Von Herrmanns Intention, d. h. der Selbständigkeit der Theologie, her gesehen ist dies jedoch ein unmöglicher Gedanke. Herrmann bedient sich so der Kritik der reinen Vernunft Kants, um die Unmöglichkeit der Denkweise der klassischen Metaphysik an sich aufzuzeigen, anders gesagt, es führt kein Weg von dem Ding an sich in der klassischen Metaphysik zum Gedanken eines höchsten Wesens an sich. 18 Aus der Perspektive der reinen Erkenntnis im Sinne Kants erweist sich die Denkweise der klassischen Metaphysik schon von ihren Grundvoraussetzungen her als unbrauchbar. Muß doch das Ding an sich vom Verstand abstrahiert werden können und dieser Abstraktion auch ein Begriff entsprechen, der seinerseits als Satz analysierbar ist. Die Verbindung zwischen einem in Wirklichkeit existenten realen Wesen, dem Verstand und dem Begriff ist damit eine reale. Kants Analyse der reinen Vernunft beweise jedoch, daß diese Verbindung unmöglich sei. Sie zeige nämlich, daß es nicht möglich sei, Realbegriffe und theoretische, synthetische Urteile über die Natur zu bilden. Die klassische Metaphysik begehe den Fehler, sagt Kant, daß sie nicht zwischen analytischen und synthetischen Urteilen unterscheide, sondern sie für kongruent halte. 19 Nach Kants Erkenntnisbegriff - der nicht auf dem Gedanken einer aus dem Objekt der Wirklichkeit abstrahierten Form, sondern der vom Subjekt apriori gegebenen Form aufbaut - ist den Begriffen von Natur eigen, daß sie immer diskursiv im Verhältnis zu anderen Begriffen gebraucht werden können. Wenn das möglich ist, so gibt es kein „reines" Subjekt, sondern auch das Subjekt kann seinerseits Prädikat eines anderen Wesen sein.20 18 M 14: „Religion und Metaphysik lassen sich gar nicht als die Vollstrecker der gemeinsamen Aufgabe, das Wahrhaft Reale festzustellen, koordinieren. Aufgabe des Metaphysikers ist zunächst allein, die ontologischen Voraussetzungen und ihren gleichartigen oder Verschiedenen Wert für die beiden großen Gebiete unserer Erfahrung festzustellen. Drängt ihn nun die Last unausbleiblicher Widersprüche zu der Überzeugung, daß den Dingen nicht in demselben Sinne Wirklichkeit zu kommen könne als den Geistern (oder vielmehr zunächst dem Geiste), so ist es damit allerdings auch vor die Frage nach dem Realen gestellt, in dessen Annahme jene Schwierigkeiten verschwinden." 19 Kant 3, 59: „Daß die Metaphysik bisher in einem so schwankenden Zustande der Ungewißheit und Widersprüche geblieben ist, ist lediglich der Ursache zuzuschreiben, daß man sich diese Aufgabe und vielleicht sogar den Unterschied der analytischen und synthetischen Urteile nicht früher in Gedanken kommen ließ." 20 R 24-25: „Es liegt in der Natur unserer Begriffe, daß unser Versuch, die Vorstellung des Gegenstandes zu vollziehen, selbst niemals völlig zum Abschluß gelangt. Wenn wir eine Gruppe von Vorstellungen als zusammengehörige Eigenschaften eines Gegenstandes denken, so

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Praktische Metaphysik als Unterscheidungsmerkmal von Religion und Metaphysik

Herrmann spricht anerkennend über diese Entdeckung Kants, die wie er meint - die Unmöglichkeit der klassischen metaphysischen Denkweise erweist. Erst der kantische Begriff der reinen Erkenntnis, nach dem auch Begriffe lediglich Ausdrucksformen einer Beziehung sind, hat die Loslösung der Theologie von der klassischen Metaphysik ermöglicht. Aus der Blickrichtung des reinen Verstandes gibt es nach Herrmann niemals einen Weg zum absoluten Wesen, das durch einen Substanzbegriff ausgedrückt werden könnte. Das heißt zugleich, daß Gott niemals im Bereich der Metaphysik „gefunden" werden kann und auch für seine Existenz keine metaphysischen Beweise konstruiert werden können: Man kann nämlich in der Metaphysik niemals zu einem absoluten Subjekt gelangen, welches die erste Ursache aller Dinge wäre. Aus Kants Begriff der reinen Erkenntnis wachsen damit umwälzende und weitreichende Konsequenzen für die Theologie. Im Grunde genommen habe Kant mit der Schaffung dieses Begriffs auch bereits das Fundament für die Selbständigkeit der Religion gelegt. Kant sei damit der wahre „Befreier" der Theologie von der Metaphysik. 21 Er biete eine philosophische Begründung für das gleiche Freiheitsstreben der Religion, das bereits in Luthers reformatorischem Denken zu finden sei, welches dieser allerdings - da er dem Metaphysikverständnis seiner Zeit noch zu sehr verhaftet war nicht vollständig explizieren konnte. 22 Herrmann sah also in seiner Metaphysikkritik, daß die Frage nach der Religion und nach der Realität der Erkenntnis organisch zusammen-

beziehen wir dieselben auf eine Substanz als deren Accidenzen. Jedes vorgestellte Ding weist diese Unterscheidung in sich auf. Aber diese Unterscheidung von Substanz und Accidens läßt sich nun nicht an einem einzelnen Dinge vollziehen, sondern nur an einem solchen, welches in einem Zusammenhange mit andern steht. Die Eigenschaften und Zustände, deren Träger die Substanz sein soll, lassen sich von ihr selbst nur unterscheiden, indem sie in Beziehungen zu anderen Substanzen aufgefaßt wird, durch deren Einfluß eine Mannigfaltigkeit von Bestimmungen an ihr selbst gesetzt wird. So weist der Versuch, den Gegenstand zu bestimmen, unweigerlich über ihn selbst hinaus auf andere Punkte der Vorstellungswelt, bei denen sich derselbe Proceß wiederholen muß, [ . . . ] . " 21 R 16. Siehe auch Κ 106: „Kant hat die Vorstellung von der Welt wissenschaftlich begründet, welche allein dem Evangelium entspricht." Κ 112: „So tritt in der durch Kant begründeten Weltanschauung neben den ersten Satz, daß uns die Welt ein Geheimnis ist, der zweite Satz, daß die Welt der Ort unserer Arbeit ist, welche den Naturlauf den Zwecken des Menschen dienstbar macht. D a ß dieser Satz christlich ist, darüber kann unter evangelischen Christen wenigstens kein Zweifel sein." 22 R 17: „Auf der andern Seite wird durch diese Errungenschaft Kants die Theologie in die Freiheit entlassen, nach der sie in der Reformationszeit hinausgeblickt hatte." Siehe auch C D 309: „Der größte Rationalist des 18.Jahrhunderts, Kant, hat aber das Werk der Reformation in einem wichtigen Punkte ergänzt. Hatten die Reformatoren das Wesen des Glaubens neu entdeckt und darin den wichtigsten Gedanken der christlichen Gemeinde [ . . . ] nachgewiesen, so hat Kant für das mit diesem Glauben innerlich verbundene sittliche Wollen zuerst die wissenschaftlich klare Formel gefunden."

Grundlage der Kritik Herrmanns an der klassischen Metaphysik

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gehören. Er verwarf die Antwort der klassischen Metaphysik und meinte stattdessen, in der kantischen Philosophie eine neue Antwort finden zu können. Als erstes „hebt" er dabei die Metaphysik aus dem Bereich der theoretischen Erkenntnis heraus. Die Metaphysik kann ihrem Wesen nach kein theoretisches Wissen sein, weil auch das Ding an sich kein Objekt der Erkenntnis sein kann. Wäre das Ding an sich Objekt der Erkenntnis, hieße dies, sagt Herrmann, daß Metaphysik und Naturwissenschaft identisch wären. Was sie in der Tat, so Herrmann weiter, in der klassischen Metaphysik auch sind. Nach Kants Kritik des reinen Verstandes könne das Ding an sich jedoch kein Objekt des Wissens sein. Allerdings gibt Kant auch zu verstehen, daß das Ding an sich, obgleich nicht Objekt der Erkenntnis, so doch Objekt des Denkens sein kann. 23 Kants Unterscheidung zwischen Denkobjekt und Erkenntnisobjekt ist philosophisch bedeutend, Herrmann zieht aus diesem Unterschied jedoch im positiven Sinn keinen Nutzen. Der Analyse Kants entnimmt er vielmehr vor allem deren negativen Aspekt, nämlich daß das Ding an sich kein Objekt der Erkenntnis sein kann. Hier sei angemerkt, daß Kant von „Erkenntnis" im Sinne des klassischen Erkenntnisbegriffes spricht. „Erkenntnis" in diesem Sinn schließt den Gedanken ein, daß der Verstand in der Lage ist, die gestaltende Kraft (forma) des Wesens eines gegebenen Dinges aus der Wirklichkeit zu abstrahieren und einen ihm entsprechenden Begriff zu bilden, der seinerseits zum Objekt einer logischen Analyse werden kann. Im klassischen Erkenntnisbegriff sind somit das Objekt der Erkenntnis und das Objekt des logischen Denkens ein und dasselbe. Logische Analyse ohne Erkenntnis ist nicht möglich. Kants Kritik des Erkenntnisbegriffes führt die strenge Unterscheidung zwischen dem Objekt der Erkenntnis und dem Objekt des logischen Denkens durch - nicht mehr und nicht weniger. Dort, wo die klassische Metaphysik in der aristotelischen Form voraussetzt, daß es sich beim (Denk-)Objekt der Vernunft und beim empirischen Objekt der Erkenntnis um identische Größen handelt, unterscheidet Kants Kritik des reinen Verstandes gerade zwischen den Objekten des Verstandes und denen der Erkenntnis, indem er sagt, daß die Begriffe des reinen Verstandes nur empirisch, aber nicht metaphysisch gebraucht werden können. Kants 23 „Sich einen Gegenstand denken, und einen Gegenstand erkennen, ist also nicht einerlei." Kant 3, 145 (B 146). D a s Denken eines Gegenstandes erfährt jedoch bei Kant keine Aufteilung vom empirischen Beobachtungsobjekt zum (logischen) Objekt des Verstandes. Herrmann erweist sich als guter Kenner Kants, wenn er formuliert: „Das reine Erkennen aber ist auf die Gegenstände selbst gerichtet, nicht auf die Möglichkeit des Daseins derselben überhaupt. Die Frage nach dieser Möglichkeit wäre gleichbedeutend mit der Frage nach der Möglichkeit des Bewußtseins. D a s reine Erkennen aber hat Kant verstehen gelehrt als den ununterbrochenen Proceß, in welchem sich die wirkliche Einheit des Bewußtseins behauptet" R 31.

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Praktische Metaphysik als Unterscheidungsmerkmal von Religion und Metaphysik

Kritik des reinen Verstandes ist damit im eigentlichen Sinne des Wortes „Erkenntniskritik". Herrmann benutzt gerade diesen, in Kants Erkenntniskritik eingebauten Gedanken einer lediglich empirischen, nicht aber metaphysischen Verwendbarkeit der Begriffe des reinen Verstandes. Das heißt, laut der Kritik des „reinen Verstandes" gibt es keine Brücke von der theoretischen Erkenntnis zur Metaphysik. Herrmann kommt so in Anlehnung an die kantische Kritik des reinen Verstandes zu seiner Auffassung, daß die Metaphysik nicht als ein theoretischer Wissenschaftsbereich gedacht werden darf. Wenn überhaupt Metaphysik möglich sein soll, kann dies nur eine praktische Metaphysik sein, die nicht auf dem Erkenntnisbegriff beruht. Herrmann ist es damit gelungen, die Brücke zwischen dem Erkenntnisbegriff und der Metaphysik abzubrechen und zugleich die Möglichkeit zu eröffnen, Metaphysik von völligen anderen Ausgangspunkten her zu verstehen und zu betreiben.

2.3. Metaphysik

als praktische

Wissenschaft

Eine Analyse der Antwort Herrmanns auf die Frage, ob Metaphysik überhaupt möglich sein kann, darf nicht ausbleiben, auch wenn man wie diese Untersuchung von der Hypothese ausgeht, daß Herrmann die Kritik an der Metaphysik zum Abschluß bringt. Es ist demnach klar, daß sich seine Kritik nicht nur gegen die klassische Metaphysik, sondern gegen jegliche Metaphysik überhaupt und damit auch gegen die kantische Metaphysik richtet. 24 Allerdings kann dies noch nicht eo ipso aus seiner Kritik der klassischen Metaphysik geschlossen werden, da Herrmann schrittweise vorgeht und gleichsam Stück für Stück die „Stützpfeiler" der klassischen Metaphysik abträgt: zuerst die Verbindung zwischen dem Erkenntnisbegriff und dem logischen Begriff, dann die Einheit zwischen Erkenntnis und empirischem Objekt und schließlich die Brücke zwischen Erkenntnis und Metaphysik. Selbstverständlich schließt Herrmanns Kritik auch eine Ablehnung der in der klassischen Metaphysik enthaltenen ontologischen Denkweise ein. Herrmanns Auffassung, daß es keine Metaphysik geben kann, ist auch deshalb relevant, weil er sich selbst in seiner Argumentation gegen die klassische Metaphysik einer transzendentalen Metaphysik bedient. Streng genommen stehen sich somit Metaphysik und Metaphysik gegenüber und nicht Religion und Metaphysik. Dies sollte man im Auge be24 M 16: „Für die Erscheinung oder Erleichterung der religiösen Aufgabe macht es gar nichts aus, ob die dogmatische Metaphysik, welcher der Christ folgt materialistisch oder idealistisch gerichtet ist."

Metaphysik als praktische Wissenschaft

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halten, da Herrmanns praktischem Denken die Tendenz eigen ist, von Kants Philosophie her zu argumentieren. Er möchte, wie Schütz formuliert, die Religion in einer streng transzendental-logischen Argumentation begründen. Es wäre jedoch irrig zu meinen, Herrmann gebrauche die transzendentale Metaphysik eo ipso im Sinne Kants oder der Neukantianer. Er schafft vielmehr eine neue Grundlage für die Religion und führt dabei zugleich eine neue Denkweise ein, die in dieser Untersuchung als „praktisch" bezeichnet werden soll. Eine Untersuchung von Herrmanns Metaphysik muß daher einerseits im Lichte Kants reiner Erkenntnis und andererseits vom Apriori Herrmanns selbst her verstanden werden. Herrmann untersucht zwar das Apriori der „Metaphysik", sein Denken ist aber nicht mehr in jeder Hinsicht mit der Analyse Kants kongruent, auch wenn er sich dieser in ihren grundlegenden Teilen bedient. Bisher wurde bereits deutlich, daß Herrmann seine Antwort auf die Frage nach der Realität der Wirklichkeit zu geben versucht, indem er zunächst die Antwort der klassischen Metaphysik verwirft. Die Realität der Wirklichkeit kann nach Herrmann nicht ontologisch vom Objekt der Erkenntnis her begründet werden (wie es die klassische Metaphysik voraussetzt), sondern sie muß transzendental, von den Denkvoraussetzungen des erkennenden Subjekts ausgehen. Ebenso offenkundig ist, daß Herrmanns Denken die kantische Unterscheidung zwischen einer Metaphysik der Natur und der Moral voraussetzt, auch wenn er sich dieser Unterscheidung als solcher nicht anschließt. Kants Distinktion zwischen einer Metaphysik der Natur und einer Metaphysik der Moral dient Herrmanns Anliegen ebenso wie ihm Kants Kritik der reinen Vernunft Hilfestellung bei der Trennung von Metaphysik und Religion leistet. 25 Allgemein kann man feststellen, daß Herrmann die Metaphysik transzendental aufbaut, anders gesagt, vom erkennenden Subjekt her und nicht ontologisch, vom Objekt der Erkenntnis her. Im transzendentalen Denken erhält die Erkenntnis ihr Wesen nicht vom Objekt, sondern vom erkennenden Subjekt her. Auch die in der Metaphysik enthaltene Frage nach der Realität und Einheit der Wirklichkeit entscheidet sich daher nicht, wie es die klassische Ontologie vorsieht, vom Objekt der Erkenntnis, sondern vom erkennenden Subjekt her. Wie real die Dinge in der 25 R 16: „Für die Theologie hat Kant damit erst die Möglichkeit, als selbständige Wissenschaft neben der Philosophie zu existiren, geschaffen, indem er durch jene Isolirung der Functionen des reinen Erkennens die Unmöglichkeit deutlich machte, mit ihrer Hilfe die religiöse Ueberzeugung zu entwickeln oder zu ihr hinzuführen. Die Vorstellungen, in welchen sich d a s Leben des Menschen als einer über alle N a t u r hinausgehobenen Person vollzieht, werden dadurch erst in ihrer Eigenart erkennbar, daß die Functionen des reinen Erkennens für sich betrachtet werden, deren Thätigkeit die Vorstellung einer N a t u r erzeugt."

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Praktische Metaphysik als Unterscheidungsmerkmal von Religion und Metaphysik

objektiven Wirklichkeit sind, richtet sich nach der Realität des erkennenden Subjekts. Herrmann verfährt zwar formal entsprechend den Regeln des transzendentalen Denkens, modifiziert aber von vornherein die Denkweise Kants und der Neukantianer. Dies zeigt sich bereits bei der von Herrmann mehrfach wiederholten Definition der Realität, der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, das Weltganze ist - in Herrmanns eigenen Worten „so real, wie das fühlende und wollende Individuum real ist". 26 Mit diesem oft wiederholten Satz verbindet Herrmann auf interessante Weise das Gefühl und den Willen als Kriterien der im Subjekt befindlichen Realität. Der zweite auffällige Umstand ist, daß Herrmann vom Menschen als Individuum spricht, nicht als rationalem erkenntnistheoretischem Subjekt. Beim Versuch, den Ansatz seines eigenen praktischen Denkens offenzulegen, bedient er sich einer strengen transzendentalen Analyse. Herrmanns praktische Denkweise kommt somit nur im Rahmen des kantischen und neukantianischen transzendentalen Ansatzes zum Ausdruck. Ein eigenes herrmannsches Prinzip aus diesem Rahmen isolieren zu wollen, würde seinen Intentionen nicht gerecht. Herrmanns Religionsverständnis setzt also voraus, daß die Untersuchung des Verhältnisses von Religion und Metaphysik nach den Bedingungen einer allgemeinen transzendentalen Methodik verfährt, wobei die Voraussetzungen der Erkenntnisfähigkeit des Subjekts überprüft werden. Wenn Religion bei Herrmann etwas anderes ist als Metaphysik, dann weil diese Differenz transzendental definiert wird; die Unterschiede bestehen im Bewußtsein des erkennenden Subjekts und nicht in der Isolierung eines besonderen Erkenntnisobjekts. Um Herrmanns Verständnis von Metaphysik und seine darauf aufbauende Kritik der klassischen Metaphysik begreifen zu können, ist daher zu untersuchen, wie sich die Erkenntnisfähigkeit des Subjekts jeweils demnach unterscheidet, ob sie sich auf Metaphysik oder auf Religion richtet. Dabei ist festzustellen, daß Herrmann in überraschender Weise die Verbindung zwischen Metaphysik und Religion und beider Unterschied zur reinen theoretischen Erkenntnis betont. An erster Stelle steht somit die Distinktion zwischen theoretischer Erkenntnis und Metaphysik sowie die Anbindung der Metaphysik an das praktische Denken. Metaphysik und Religion verbindet eine absichtliche Eigenart der Erkenntnis, die sie gleichzeitig von der reinen (theoretischen) Erkenntnis unterscheidet. Die Begriffe der Metaphysik sind damit nicht theoretisch, sondern praktisch. 27

26

R 39. Siehe auch M 17. R 42: „Denn die Ausübung der Naturwissenschaft wie alles absichtlichen Erkennens ist mit der Reflexion auf einen gefühlten Werth behaftet, an welchen die absichtliche Bewegung anknüpft. Während jeder Act des reinen Erkennens als solcher ein Moment in einem ins Unbestimmte verlaufenden Processe ist, ein Punkt in einer unbegrenzten Linie, v

Metaphysik als praktische Wissenschaft

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Wie schon die Hypothese dieser Untersuchung besagt, gebraucht Herrmann den Ausdruck „praktisch" anders, als Kant etwa den Begriff der praktischen Vernunft. Sie bezeichnet bei Kant ja die zweite und (höhere) Anwendung der Vernunft neben dem theoretischen Verstand 28 , während Herrmann den Grund des praktischen Denkens im Gefiihl sieht. Dieses praktische Denken folgt nicht den Ideen des Verstandes, sondern enthält im Gefühl begründete Werturteile. In Kants Verständnis begründet der theoretische Verstand die transzendentale Erkenntnis, die allein auf die Sinnesbeobachtung gerichtet ist. Die praktische Vernunft als Grundlage des praktischen Denkens wiederum erschafft die ethischen Begriffe, die reine Ideen sind. Diese schroffe Trennung zwischen theoretischem Verstand und praktischer Vernunft bei Kant versucht Herrmann in seinem praktischen Denken zu überbrücken. Dabei erhebt er jedoch gleichzeitig das Gefühl zum Prinzip des gesamten Denkens, dem in der Philosophie Kants als Grundlage der Ästhetik lediglich eine Art Brückenfunktion zwischen theoretischem Verstand und praktischer Vernunft zukommt. Die Ausgangspunkte des praktischen Denkens Herrmanns ergeben sich somit aus der transzendentalen Analyse Kants und der Neukantianer. Mit dem Bestreben, das Gefühl zur Basis des gesamten Denkens zu machen, bleibt Herrmann zwar einerseits auf der Linie Schleiermachers, gelangt aber andererseits durch die Definition des Gefühls als Selbstgefühl in die Nähe Lotzes und der Kantinterpretation der Neukantianer. Die Aufwertung des Gefühls, vor allem des Selbstgefühls, zur Grundlage allen Denkens setzt die Unterscheidung zwischen Person und Natur in der praktischen Vernunft bei Kant voraus. Die Bezeichnung „praktisch" hat somit einen wichtigen kantischen Einschlag, weil sie die Person im Unterschied zur Natur betont. Herrmanns Verständnis von Religion als Selbstgefühl setzt diesen Unterschied ohne weiteres voraus. Die Person ist aber für Herrmann nicht lediglich Hervorbringer und Verwirklicher von ethischen Ideen, sondern auch reales geschichtliches Individuum. Dieser Grundgedanke verleiht in gewissem Sinne allem, was der Kantianismus oder der Neukantianismus zu denken gewohnt ist, einen neuen Sinn. Während die Neukantianer bei der Entwicklung der transzendentalen Methode das transzendentale Wissenschaftsgebiet Kants auf den gesamten Bereich der Kultur und damit auch die Religion ausweiten, geht es

so stehen die Acte des absichtlichen Erkennens in durchgehender Beziehung auf ein Gefühl, welches, für das fühlende Subject wenigstens, in sich selbst vollkommen bestimmt ist und einen Sinn nicht erst dadurch empfängt, daß es dem vorstellenden Bewußtsein gelingt, es aus dem Zusammenwirken erklärbarer Beziehungen selbst zu erklären." Siehe auch R 75: „Die Metaphysik ist nicht theoretische sondern praktische Welterklärung." 28 Kant 5, 119-121.

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Praktische Metaphysik als Unterscheidungsmerkmal von Religion und Metaphysik

Herrmann darum, die Religion bewußt vom Bereich der transzendentalen Wissenschaft als eigenen Bereich abzusondern. Der Lotzesche Begriff des Selbstgefühls als Grundlage des praktischen Denkens zielt also bei Herrmann auf die Schaffung eines eigenen apriorischen Bereichs der Religion. Zugleich schafft jedoch gerade dieser Bereich der Religion, das Selbstgefühl, das Zentrum der Person, das die Basis allen Denkens ist. Die Veränderung gegenüber dem Denken Kants ist beachtlich. Sie wird darin deutlich, wie Herrmann das Verhältnis von Religion und Ethik versteht. Wenn Herrmann von einer praktischen Wissenschaft spricht, darf nicht vergessen werden, daß es sich nicht um die Ethik Kants handelt, die auf der von dem (theoretischen) Verstand unterschiedenen (praktischen) Vernunft, d. h. dem Willen beruht. Herrmann macht die neue Grundlage seines Denkens deutlich, indem er den Charakter der Begriffe der praktischen Wissenschaft definiert. Auf eine Weise, die an die neukantianische Einheit des Denkens erinnert, sagt er, daß alle Begriffe der praktischen Vernunft dadurch miteinander verknüpft sind, daß sie sich wenigstens indirekt auf Lust oder Unlust, auf den Bereich der Gefühle beziehen. Die Erhebung des Gefühls zum gemeinsamen Fundament aller Begriffe unterscheidet ihn schon im Ansatz vom neukantianischen Gedanken des einen erkenntnistheoretischen Subjekts. Herrmann betont, daß sowohl die Metaphysik als auch die Ethik vom Gefühl als Prinzip des Denkens kontrolliert werden. Die aus dem Gefühl stammenden Begriffe der (praktischen) Vernunft nennt Herrmann Werturteile. Nach Herrmann ist auch die Metaphysik praktische Wissenschaft. Sie beruht damit wie die anderen Wissenschaftsbereiche auf dem Gefühl. Ganz ihrem Wesen entsprechend strebt sie danach, die Einheit der Wirklichkeit zu begreifen. Die Welt kann jedoch nicht anhand theoretischer Begriffe als ein Ganzes gedacht werden, sondern „die Welt, die wir als Werthgröße beurteilen, denken wir als abgeschlossenes Ganzes." 29 Die Dinge, die Gegenstand der metaphysischen Forschung sind, erhalten somit in der praktischen Wissenschaft ihren Inhalt aus jener Beziehung, in der sie zu den Gefühlen der Person stehen, und nicht lediglich aus ihrer Beziehung zu anderen Dingen - dies ist vielmehr der Forschungsbereich der Naturwissenschaften. 29 R 63: „Die Begriffe, welche mit der Wissenschaft insofern nothwendig verknüpft sind, als sie absichtliches Erkennen ist, sind nicht theoretische sondern praktische Begriffe. Aber ,alle practischen Begriffe gehen auf Gegenstände des Wohlgefallens oder Mißfallens, d.i. der Lust und Unlust, mithin wenigstens indirect auf Gegenstände unseres Gefühls'. Somit entsprechen auch diejenigen Deutungen des Dinges an sich, welche die Aufgabe der auf Einheit der Welterkenntnis gerichteten Wissenschaft ausdrücken, einem Gefühl für ihren Werth. Die Welt, die wir als Werthgrösse beurtheilen, denken wir als abgeschlossenes Ganzes."

Das Selbstgefühl als Grundlage der Wirklichkeit

2.4. Das Selbstgefühl ais Grundlage der

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Wirklichkeit

Herrmann nimmt sehr dezidiert zur Frage der Metaphysik Stellung, worin auch im Falle der transzendentalen Analyse der reale Anhaltspunkt der Wirklichkeit besteht. Herrmanns Sicht von der Einheit der Wirklichkeit enthält unabweisbar den Gedanken einer Abhängigkeit vom Subjekt, was im Selbstgefühl zum Ausdruck kommt. 30 In den praktischen Wissenschaften, zu denen auch die Metaphysik gerechnet wird, ist die „Realität der praktischen Vernunft" immer auch die Realität des Gefühls. Herrmann scheut sich nicht vor einer gleichzeitigen Anwendung der transzendentalen Analyse und einer Betonung des individuellen Charakters des Gefühls, wenn er sagt, daß die Realität, die in der Metaphysik als Frage notwendigerweise immer wieder aufkommt, nur auf der Grundlage des Gefühls des Individuums behauptet werden kann. 31 Herrmann ist sich der Tragweite seiner Behauptung vor allem im Blick auf die Metaphysik durchaus bewußt. Es ist klar, daß die auf dem Gefühl der einzelnen Person beruhende Realität nicht allen vermittelt werden kann, sie ist aber eine vom Individuum behauptete Realität. 32 Das Individuum 30 Z. B. R 66: „Die absoluten Einheiten, welche die Person verlangt, müssen, wenn sie das Erkennen nicht erdrücken sollen, in regulative Ideen verwandelt werden, in Bezeichnungen einer Aufgabe, die ins Unendliche hinausweist. In dieser Gestalt sind sie nichts weiter als ein Ausdruck des Vertrauens, daß die Welt, die wir als Mittel für unseren Zweck in Anspruch nehmen, sich zusammenhängend werde erklären lassen. Sie sind dann die Symbole des practischen Impulses, der in jedem wissenschaftlichen Erkennen als einem absichtlichen wirksam ist. Wenn ihnen eine Bedeutung darüber hinaus zugeschrieben wird, so kann dieß nur dadurch geschehen, daß das Selbstgefühl der Person, dem sie entstammen, wie die Offenbarung einer besonderen Art von Realität behandelt wird." 31 R 47: „Die eigentliche Grenze des Naturerkennens ist die lebendige Person selbst, welche auf Grund eines Gefühls ihre Realität behauptet und das Erkennen als Mittel fur ihre Zwecke verbraucht." Siehe auch R 63, wo Herrmann explizit den Begriff des Selbstgefühls gebraucht. Siehe auch M 23: „Der Grund, warum wir in diesem Falle dem Spiele des Verstandes nicht folgen, kann nur darin liegen, daß die besondere Erfahrung, welche wir machen, uns zwingt, uns von aller Welt zu unterscheiden, jene Einfügung des Willens in den endlosen Zusammenhang anderer endlicher Größen in Abrede zu stellen. Während sonst jede Willensrichtung nur durch die Bezugnahme auf eine bestimmte Gestalt endlicher Größen den Vorzug vor anderen behauptet, so wird hier eine solche Rücksicht direkt abgewiesen, indem eine Form des Willens unmittelbar als allem sonst Denkbaren an Wert überlegen anerkannt wird. Indessen diese Anerkennung ist doch nur dadurch möglich, daß ihr die wenn auch undeutliche Vorstellung eines Zweckes voraufgeht, dessen Verwirklichung dem auf ihn gerichteten Willen deshalb den unvergleichlichen Wert verleiht, weil in ihm unser Selbstgefühl unabhängig von allem, was wir in dem Wechsel unseres empirischen Daseins erleiden, volle Befriedigung findet." 32 R 122: „Wir unterscheiden also von der nachweisbaren Wirklichkeit der Dinge die erlebbare des Selbstbewußtseins, die [ . . . ] sich nicht in Beziehungen zu anderem verlier(en soll), wie jene." Siehe auch Mahlmann 1986, 170, 32-37: „Beide verhalten sich zueinander wie ,dürftige Abstraktionen' der Wissenschaft und , Farbenreichtums' des Lebens."

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Praktische Metaphysik als Unterscheidungsmerkmal von Religion und Metaphysik

will aufgrund der Erfahrung seiner eigenen Realität die Einheit der Wirklichkeit sehen. 33 Herrmann geht bei der Frage nach der Möglichkeit einer praktischen Metaphysik von der Annahme aus, daß die Einheit der Wirklichkeit nicht theoretisch ist (und vermutlich auch nicht ethisch im erkenntnistheoretischen Sinn), sondern daß sie das vom Gefühl der einzelnen Person bestimmte Bedürfnis ist, die Wirklichkeit als Einheit zu sehen. 34 Der einzige feste Anhaltspunkt, von dem aus sich die Behauptung der realen Natur der Wirklichkeit aufstellen läßt, ist das Gefühl. Schon im Ansatz von Herrmanns Überlegungen - das Gefühl des Einzelnen sei die Grundlage der Einheit der Wirklichkeit - steckt bereits ein offenkundiges Problem. Er weist zwar selbst sorgfältig darauf hin, daß das Begreifen der Wirklichkeit, des Weltganzen, als realer Größe ein Bedürfnis des Einzelnen und keine Notwendigkeit des Verstandes ist, setzt aber doch voraus, daß dieses Bedürfnis im Denken und in der Wissenschaft eine Antwort findet. Im Grunde genommen basieren alle praktischen Wissenschaften, die Werturteile fällen, auf dem Bedürfnis des Einzelnen, die Wirklichkeit als ganze einheitlich zu begreifen. Das Gefühl der einzelnen Person, das Herrmann im Anschluß an Lotze als Selbstgefühl bezeichnet, bildet damit die Grundlage für die Metaphysik ebenso wie für die Ethik, nicht zu vergessen natürlich auch für die Ästhetik. Die Analyse des Grundproblems der Überlegungen Herrmanns hat zu beachten, daß das Selbstgefühl, das die Grundlage allen Denkens bildet, nicht wie bei Kant nur ein rezeptives Zusammenspiel von Sinnesfähigkeiten ist, von dem sich die höheren spontanen intellektuellen Fähigkeiten des Verstandes und des Willens abheben, sondern daß es schon per se spontan ausgerichtet ist und Werte schafft. Die bedeutende Rolle, die Herrmann dem Selbstgefühl als Zentrum der ganzen Person zuteilt, führt zur Frage nach dem erkenntnistheoretischen Charakter dieses Selbstgefühls. Die Frage ist keineswegs überraschend, vor allem, wenn man sein Schleiermacherverständnis in Betracht zieht, nach dem das Gefühl den realen Anknüpfungspunkt für eine objektive Betrachtung der Wirklichkeit darstellt. Viele Aussagen Herrmanns lassen den Schluß zu, daß er im Selbstgefühl den Realgrund der Wirklichkeit sieht. Herrmann geht nämlich an keiner Stelle von jener Auffassung ab, die implizit bereits in seiner Beurteilung der Bedeutung der klassischen Metaphysik für die Religion zum Ausdruck kam: Der Wettbewerb zwischen Religion und Metaphysik wird in der Frage nach der Realität des Weltganzen ausgetragen. Es geht nur darum, welche von beiden Größen an den Einheitspunkt der Wirklichkeit, das Ding an sich, gelangt, falls dies überhaupt 33 34

R 77, E 62. R 63.

Zweck und Mittel als Kennzeichen der praktischen Wissenschaft

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innerhalb der praktischen Denkweise, wie sie Herrmann versteht, möglich ist. Man könnte sich auch vorstellen - Herrmann selbst spielt diesen Gedanken durch - daß sich Metaphysik und Religion auf denselben Gegenstand richten und beide nur unterschiedliche Modifikationen ein und derselben Sache sind. Dann hinge der jeweilige Schwerpunkt vom Standpunkt der Betrachtung ab. Diese Möglichkeit schließt er jedoch aus.35 Dagegen sieht er - wenn er die Frage transzendental angeht - den gemeinsamen Ausgangspunkt von Metaphysik und Religion im Subjekt. Dieser subjektive, alle Wissenschaftsdisziplinen einende Grund ist das Selbstgefühl, aufgrund dessen Erfahrung sich das Subjekt als real behaupten kann. Herrmann verbindet das Erlebnis des Selbstgefühls von der Realität der Person mit der Frage nach dem Ding an sich.36 Es ist also vorstellbar - vor allem, da Herrmann diese Möglichkeit eigens anspricht - , daß die Person selbst in ihrem Selbstgefühl das „Ding an sich" ist, auf dem die Einheit des Weltganzen begründet werden kann. Wenn das richtig wäre, bräuchte sich kein derartiges Problem zu ergeben, wie seine eigenen Aussagen nahelegen. Das Selbstgefühl als erster und letzter Grund des praktischen Realitätsverständnisses kann entweder „das objektive Ding an sich selbst" oder das von jeglichem metaphysischen Denken freie Gefühl des Einzelnen sein. Weil sich die Frage nach dem Selbstgefühl bei Herrmann damit als zentrales Problem herausstellt, gleichzeitig aber auch die Lösung des Grundproblems seines Denkens enthält, soll sie besonders untersucht werden. Um beantworten zu können, ob Herrmann das Selbstgefühl tatsächlich für das Ding an sich hält - er würde damit eine Art transzendentalen Idealismus vertreten - muß das Verhältnis zwischen Selbstgefühl und Ding an sich einer besonderen Analyse unterzogen werden.

2.5. Zweck und Mittel als Kennzeichen der praktischen Wissenschaft Selbst wenn Herrmann die Person aufgrund ihres Selbstgefühls und ihrer Erlebnisfähigkeit als das „Ding an sich" ansähe, wäre damit noch keine Brücke zur klassischen Metaphysik geschlagen. Man darf nämlich nicht vergessen, daß, auch wenn in der transzendentalen Philosophie wie in der klassischen Metaphysik vom „Gegenstand" oder „Ziel" gesprochen wird, diese Begriffe eine andere Bedeutung annehmen, wenn die Grund35

R 96. R 43: „Nämlich als , D i n g als sich selbst' wird die Seele gedacht, wenn sie als letztes Subject der Vorstellungen (nicht sowohl erkannt, sondern) auf Grund eines Gefühls behauptet wird." 36

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Praktische Metaphysik als Unterscheidungsmerkmal von Religion und Metaphysik

läge der Erkenntnis das Erkenntnisvermögen des Individuums und nicht das in der objektiven Wirklichkeit vorhandene Objekt an sich ist. Auch Herrmanns Auffassung vom „Zweck" enthält nicht die Vorstellung eines „Dings an sich" im klassischen Sinn. Der „Zweck" im transzendentalpraktischen Denken ist nicht identisch mit dem „Ziel" (finis), dem Objekt des letztendlichen Strebens des Menschen. „Ziel" in der Sprache der klassischen Metaphysik bedeutet das „höchste Gut", das letzte gute Objekt des Willens, den letzten Grund aller Dinge, auf das sich letztlich alles Streben richtet. Der „Zweck" im Sinne Herrmanns ist kein Ziel, sondern ein Zweck, der mit Hilfe eines Mittels erreicht wird. Das „Ziel", wenn man diesen Begriff gebrauchen will, läßt sich nur vom Mittel her verstehen. Die Rechtfertigung der Erkenntnis vom Zweck her führt nach Herrmann gleichsam automatisch dazu, daß das Gefühl diejenige Form des geistigen Lebens ist, die im Hintergrund der gesamten Erscheinungswelt wirksam ist, wenn nach dem Anknüpfungspunkt des Dings an sich gefragt wird. 37 Herrmann führt die Trennung der praktischen Wissenschaft von der klassischen Metaphysik und den Naturwissenschaften besonders sorgfältig durch, wenn er davon spricht, daß die aus dem Gefühl entstehenden und absichtlichen Sätze der praktischen Wissenschaft keine Tatsachenbehauptungen, sondern Werturteile seien. Werturteile sind im Gegensatz zu Tatsachenbehauptungen über die Natur nicht notwendig, sie sind allerdings auch nicht beliebig. Die Art und Weise, in der Herrmann von einer Notwendigkeit praktischer Sätze spricht, macht besonders deutlich, daß er selbst die Schaffung einer praktischen Denkweise auf der Grundlage des Gefühls des Individuums für möglich hält. Sein Modell der praktischen Denkweise ist damit durchaus „wissenschaftlich" gemeint. Die „Notwendigkeit" praktischer Sätze ist nicht die Notwendigkeit von Tatsachenaussagen oder logischen Sätzen, sondern „die Notwendigkeit des Zwecks". Wenn Herrmann nachdrücklich von der „Notwendigkeit des Zwecks" spricht, möchte er sich allerdings deutlich vom Ansatz des Neukantianers Cohen absetzen. Er sagt dazu wörtlich: „Diese N o t w e n digkeit ist nicht die modale Kategorie, die innerhalb des Erfahrungsgebietes gilt, - dieß giebt Cohen zu - , sondern sie ist die N o t w e n d i g k e i t der Verknüpfung von Mittel und Zweck - dieß unterläßt er hervorzuheben. Der fühlende und wollende Mensch unterliegt dieser Notwendigkeit, weil er sich des ganzen Erfahrungsgebietes als eines Mittels zu seinem Zweck bemächtigt." 38 Mit „Notwendigkeit" meint Herrmann somit keine theoretische oder praktische Notwendigkeit, sondern die vom Subjekt genutzte Notwen57 38

R 62-63. R 61.

Zweck und Mittel als Kennzeichen der praktischen Wissenschaft

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digkeit des Mittels, um den gewollten Zweck zu erreichen. Er sagt daher auch, daß sich die fühlende und wollende Person die ganze Wirklichkeit als Mittel zu ihrem eigenen Zweck dienstbar macht. Die Welt wird zu ihrem Instrument, mit dessen Hilfe sie ihren eigenen, selbst bestimmten Zweck zu erreichen sucht. Herrmann verknüpft - wenn er von der Notwendigkeit des Zwecks spricht - den Gedanken des Dings an sich eben gerade mit dem „Ziel" des Gefühls. Seine Aussagen über das gemeinsame Ziel von Gefühl und Willen werfen die Frage nach dem Ding an sich in einem neuen Licht auf. Hält er die zweckbestimmte Notwendigkeit des Gefühls zugleich für eine ethische Notwendigkeit im Sinne Kants, wobei das Ding an sich zwar für die Erkenntnis unerreichbar, aber doch als Idee des Willens darstellbar ist? Die Frage nach dem Ding an sich im Denken Herrmanns ist somit auch im Blick auf das ethische Apriori zu analysieren. 39 In Herrmanns Ansatz erhält das Selbstgefühl so nachdrücklich die Stellung einer Grundlage allen praktischen Denkens, daß kein davon isoliertes ethisches Apriori analysiert werden kann. Die Frage nach dem Ding an sich läßt sich somit nicht dadurch entscheiden, daß sie typisch kantisch in herrmannscher Form beantwortet wird. Die Frage nach dem Ding an sich entscheidet sich vielmehr so oder so an der Frage nach dem Selbstgefühl, das zur Grundlage des gesamten System erhoben wird. Wenn Herrmann die Existenz eines Dings an sich annimmt und wenn er es als erkennbar ansieht, muß es in der Person selbst - in deren Selbstgefühl - zu finden sein. Problematisch wird die Sache, weil die Person laut Herrmann nicht „selbst" erreichbar und auch nicht begrifflich zu fassen ist. Die Person selbst ist kein Begriff, und von ihr kann auch kein Begriff gebildet werden. Sie ist aber trotzdem die einzige Garantie der Realität des Weltganzen. Die Art, wie Herrmann das Ziel des Willens mit dem Ziel des Gefühls verbindet, deutet die Möglichkeit an, daß die Ethik das Gefühl auf den Begriff bringt. Kants Begriffe der praktischen Ethik sind nur Ideen, die keine Entsprechung in der Wirklichkeit haben. Herrmann meint, daß das Selbstgefühl das Individuum bindet - wenn nicht an die Sinneswelt, so doch zumindest an die historische Wirklichkeit. Wenn die Ethik den Ausdruck des Selbstgefühls begreifbar macht, indem sie religiöse Wertsysteme auf den Begriff bringt, kann es sich dann wie bei Kant um bloße Ideen handeln, die die Vernunft, d. h. der Wille synthetisch erzeugt? An Herrmanns Beschreibung der Kennzeichen der praktischen Wissenschaft fällt sofort auf, daß er bei der Frage nach der Weltbeherrschung der Person die ethische Natur der Person betont. Das auf der

39

R 43.

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Praktische Metaphysik als Unterscheidungsmerkmal von Religion und Metaphysik

Basis des Gefühls aufkommende Bedürfnis, die Wirklichkeit als eine Einheit zu sehen und die Welt zu beherrschen, ist seiner Natur nach ethisch. Herrmann betont daher auch, daß die Einheit der Wirklichkeit wenn auch nicht theoretische Notwendigkeit, so doch ethische Notwendigkeit ist: „Läßt sich nun zeigen, daß nur im Sittlichen der Drang der Vernunft nach dem in sich Geschlossenen, absolut Nothwendigen sein allgemeingültiges Gesetz findet, so ist damit allerdings erwiesen, daß uns erst von dem Standpunkte des Sittlichen aus die einheitliche Weltanschauung möglich ist, welche bereits auf dem Standpunkte des fühlenden und wollenden Subjects, auf Geheiß des Selbstgefühls versucht wird. Damit ist dann freilich nicht eine erkenntnißtheoretische Begründung der Ethik gegeben - eine solche giebt es überhaupt nicht - , wohl aber eine Anknüpfung der Ethik an die Art, wie wir als fühlende und wollende Menschen unser Erkenntnißvermögen gebrauchen." 40 Herrmann lehnt jedoch sogleich die sowohl kantische als auch neukantianische Sicht der Ethik als dem höchsten erkenntnistheoretischen Bereich ab. Er stellt vielmehr unmißverständlich fest, daß die Ethik keinen erkenntnistheoretischen Grund hat, auch wenn das Bedürfnis des Einzelnen, die Wirklichkeit als Einheit zu sehen, sittlicher Natur ist. Die Ethik hat vielmehr damit zu tun, wie der Mensch als Fühlender und Wollender seine Erkenntnisfähigkeit gebraucht. Die praktische Vernunft ist das Vermögen der Erkenntnis, aber als zweckgebundene Erkenntnis strebt sie nach ihrem eigentlichen Ursprung. Der Wille als praktische Vernunft zeigt nicht ein besonderes Objekt oder Ziel des Sittlichen, sondern eben gerade das eigene Ziel der Person an. Herrmann bringt seinen Schlüsselgedanken sehr nachdrücklich zum Ausdruck: Letzter Zweck allen Erkennens ist die Person als ihr eigenes Ziel: Die Selbsterhaltung und die Unversehrtheit als Person. 41 Der letzte Zweck allen Erkennens ist gerade das im Selbstgefühl der Person liegende Erlebnis ihres eigenen Werts. Die Person als ihr eigenes Ziel und die Unversehrtheit der Person sind gerade das Ziel der Religion. 42 Wenn der letzte R 63. R 81: „Während die Aufgaben der Arbeit in der Welt beständig modificirt werden, so bleibt der Zweck der Selbsterhaltung als der höchste Richtpunkt aller untergeordneten Zwecke unverändert bestehen. Wenn daher der Mensch in der Kraft seines Selbstgefühls sich die Welt als Mittel zueignet, so muß folgerichtig sein praktisch motivirtes Urtheil über die Welt dahin ergehen, daß ihr innerstes Wesen mit seinem eigenen Verlangen nach Selbsterhaltung übereinstimmt." 42 R 82: „Wo es dagegen auf die Erhaltung des Individuums überhaupt ankommt, wird in der practischen Voraussetzung über das Wesen der Welt die Macht gemeint, welche die Welt, sie möge sein wie sie wolle, mit verborgener Gewalt dem höchsten Zwecke des Menschen unterwirft. Wenn die Ueberzeugung von der Realität dieser Macht das ganze geistige Leben des Menschen beherrscht, so hat derselbe Religion." Siehe auch R 83: „Erhaltung seiner Person und Verwirklichung seines höchsten Gutes ist ihm dann eins und 40 41

Zweck und Mittel als Kennzeichen der praktischen Wissenschaft

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Zweck aller Dinge, die Person selbst, zugleich das Ziel der Religion ist, fallen bei Herrmann in der Religion die Ziele sowohl der Metaphysik als auch der Religion zusammen. Das personale Subjekt und sein Gefühl bilden also den Fixpunkt, auf den sich die Frage nach der Realität der Wirklichkeit konzentriert. Herrmann scheint in seiner philosophischen Begründung der Religion eine Garantie für die Realität der Wirklichkeit zu schaffen und damit die metaphysische Fragestellung in den Bereich der Religion zu verlegen. Religion, Metaphysik und Ethik teilen sich den Gefühlsgrund der Person und das sich aus ihm ergebende Ziel: die Selbstbewahrung der Person. Herrmann lehnt einerseits die neukantianische Vorstellung ab, das Subjekt von Metaphysik, Ethik und Religion sei erkenntnistheoretisch. 43 Andererseits möchte er aber auch der praktischen Vernunft nicht, wie Kant es tut, allerhöchsten erkenntnistheoretischen Rang einräumen. Herrmann hält einfach an seiner Aussage fest, daß das Selbstgefühl, welches die Grundlage der Religion ist, zugleich der gesamten Wirklichkeit real zugrunde liegt. 44 Es ist freilich weder ein erkenntnistheoretischer noch ein ethischer Grund, aber doch die einzige Möglichkeit im praktischen Denken nach dem Ding an sich zu fragen. Die brennende Frage der Metaphysik nach dem Ding an sich hat sich bei Herrmann von einem Objekt der empirischen Erkenntnis (klassische Metaphysik) und des logischen Denkens (Kant) sowie von einem Grenzbegriff der Beobachtung (Neukantianismus) zum eigenen Werterlebnis des Subjekts gewandelt. Dieses Werterlebnis erfährt das Subjekt in seinem Selbstgefühl. Der einzige Weg, nach dem realen Anknüpfungspunkt der Wirklichkeit zu fragen, besteht in der Suche nach dem Gefühl selbst, dessen Erleben seiner Natur nach nicht rezeptiv, eine Passio im Sinne von Lust oder Unlust, sondern bereits Werterfahrung, d. h. in diesem Sinne ethischer Natur ist. Das in der Hypothese dieser Untersuchung angezeigte Problem verbleibt somit auch nach der Analyse seines praktischen Metaphysikbegriffs ein wirkliches Problem Herrmanns. Er bedient sich zwar sowohl der Grundbegriffe Kants als auch der der Neukantianer, aber nur, um sie als Analysenhorizont einzusetzen oder seiner Kritik eine Spitze zu geben. dasselbe." Τ 96: „Dann muß aber in der Religion noch etwas mehr sein als die Freude am Ewigen, die auch den Forscher und den Künstler erfüllt. Religion ist nicht die Freude am Ewigen, in welcher der Mensch die zeitlichen Dinge und sich selbst vergessen kann, sondern sie entsteht, indem der Mensch sich sagt, daß er selbst für das Ewige da ist." 43 „Durch diese Forderung hängt die Religion mit der Ethik und der Logik zusammen. Darin ist sie Rationalismus." G A II, 322. 44 M 14: „Wenn im Christentum der sittliche Geist als das Wahrhaft reale gilt, dessen Realität alles übrige nut teilnimmt, sondern es sich durch die positive Zweckbeziehung auf ihn legitimieren kann, so scheint doch diesem Urteil Metaphysik entweder feierlich gegenüber oder helfend zur Seite zu treten, je nachdem ihre Entscheidung über das wahrhaft Reale ausfällt."

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Praktische Metaphysik als Unterscheidungsmerkmal von Religion und Metaphysik

Sein eigenes Denken, das in gewissem Sinn beträchtlich aus dem transzendentalen Denken herausfällt, läßt sich weder in kantianische noch neukantianische Sprache übertragen. Ein Beharren in der Kritik der reinen Erkenntnis Kants erlaubt es ihm, die Auffassung zurückzuweisen, das Selbstgefühl bilde einen realen Grund im Bereich des theoretischen Verstandes (dem Bereich der transzendentalen Metaphysik). Die reine theoretische Erkenntnis (das empirische Wissen) hat nicht in dem Sinn, wie er der Religion und Ethik zugrunde liegt, den vom Selbstgefühl geschaffenen Grund. Herrmann hält sich exakt an die kantische Kritik der reinen Erkenntnis, die besagt, daß das Ding an sich kein Gegenstand theoretischen Erkennens sein kann, auch wenn es - nach Kant - als Objekt des Denkens fungiert. Die Auffassung, das Ding an sich sei Gegenstand des Denkens, hat eine negative und abgrenzende Funktion in Bezug auf das (empirische) Wissen: Was lediglich Gegenstand des Denkens sein kann, kann nicht Gegenstand des (empirischen) Wissens sein. Nach Kant ist es nicht möglich, das Ding an sich zu erkennen, weil der Mensch in seinem Verstand nicht über das Vermögen zu intuitiver, anschauender Erkenntnis verfügt. Hätte der Mensch intuitive Erkenntnis, könnte er das Ding an sich erkennen. Das Ding an sich kann jedoch nicht von einem empirischen Objekt auf die begriffliche Ebene transponiert werden. Dies schließt der Begriff der reinen Erkenntnis aus. Die empirische Wirklichkeit, die sich dem Wissen nur als Erscheinungswelt zeigt, erweitert sich nicht mit Hilfe der Erkenntnis zur Wirklichkeit des Dings an sich (noumenalen Welt). In seiner Adaption der kantischen Kritik der reinen Erkenntnis unterscheidet Herrmann zwischen theoretischer Erkenntnis (empirischer Erkenntnis) und Metaphysik. Für die transzendentale Analyse heißt dies, daß das die empirische Welt betrachtende erkenntnistheoretische Subjekt kein „vollständiges" metaphysisches Subjekt ist. In der empirischen (reinen) Erkenntnis steckt noch nicht die Absichtlichkeit der Metaphysik. Das Subjekt der theoretischen Erkenntnis ist das reine erkennende Subjekt, das noch nicht die für die Person wesentlichen subjektiven Voraussetzungen, Gefühl und Wille besitzt. Der vom Subjekt erfaßte Gegenstand bildet also ein Korrelat. Das Selbstgefühl kann daher in Beziehung zu diesem Korrelat analysiert werden. Es tritt in unterschiedlicher Abstufung oder Intensität in Erscheinung, je nachdem, ob es sich um ein metaphysisches, religiöses oder ethisches Subjekt handelt. Was das Trennende und Gemeinsame von Metaphysik, Religion und Ethik im Denken Herrmanns ist, läßt sich jedoch nicht anders herausfinden, als eben durch die Analyse des Selbstgefühls in Gegenüberstellung zur theoretischen und praktischen Vernunft, zum Subjekt von Metaphysik und Ethik, denn Herrmann verknüpft mit dem Selbstgefühl zugleich auch das Interesse der Metaphysik, d. h. die Frage nach dem Ding an sich, dem letzten Realgrund der Wirklichkeit.

3. Das Selbstgefühl und die theoretische Erkenntnis 3.1. Das Selbstgefühl als „letztes"

Subjekt

Der systematische Schlüsselbegriff bei Herrmann ist das Selbstgefühl. Eine Analyse dieses Begriffes Selbstgefühl als eines Grundbegriffes seines praktischen Denkens öffnet vermutlich zugleich auch den gordischen Knoten, den sein gesamtes System enthält und nach dem so gefragt werden kann: Wie kann Herrmann behaupten, daß das Selbstgefühl als religiöses Apriori zugleich Erlebnis des Einzelnen und letzter Grund aller Erkenntnis zu sein vermag. 1 In dieser Behauptung ist zugleich sowohl die von der kantischen Philosophie herkommende transzendentale Analyse als auch die Grundentdeckung seines eigenen Denkens enthalten. Wie oben bereits hypothetisch dargestellt wurde, darf dieses, will man Herrmanns eigenes - praktisches - Denken zuverlässig analysieren, nicht vom transzendentalen Denken isoliert werden. 2 Herrmann konstruiert selbst sein Denken in diesem Horizont und bedient sich in seiner eigenen Analyse sowohl der methodischen Erkenntnisse Kants als auch der der Neukantianer. Weiter ging die bereits aufgestellte Hypothese davon aus, daß sich Herrmann mit seiner Sicht der theoretischen Erkenntnis eng an Kant und dessen Einsichten über die reine Erkenntnis anlehnt. Damit müßte eine Analyse des Verhältnisses von Selbstgefühl und theoretischer Erkenntnis bei Herrmann von den Fragestellungen des transzendentalen Denkens ausgehen. Herrmann schließt sich mit dem zentralsten Begriff seines Denkens, dem Selbstgefühl, Lotze an, benutzt aber zur Charakterisierung des Selbstgefühls Kants Formulierungen über die „Seele". Das Selbstgefühl bei Herrmann ist jedoch schwerer gewichtet als der Seelenbegriff bei Kant. Wo Kant die Seele als den unbekannten Grund der Person ansieht, der seiner Natur nach weder kognitiv noch ethisch ist, scheint Herrmann der „Seele" als Synonym für das Selbstgefühl eine erkenntnistheoretische Bedeutung zuzusprechen, indem er sie für die Voraussetzung allen prak1 M 9: „Aber der Inhalt, der, wie auch immer, die allgemeinen Formen seiner Verwirklichung findet, der in Lust und Unlust als Hemmung oder Förderung unserer Bestrebungen sich uns darstellt, - dieser Weltinhalt allein ist es, der den Christen interessiert." 2 Siehe M 9.

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Das Selbstgefühl und die theoretische Erkenntnis

tischen Erkennens hält. Er unterstreicht die grundlegende Bedeutung des Selbstgefühls in der praktischen Wissenschaft überhaupt und schließt sich damit scheinbar dem neukantianischen Gedanken eines singulären erkenntnistheoretischen Subjektes an. Die Ubereinstimmung ist jedoch nur formal. Tatsächlich entwickelt Herrmann mit seinem Begriff des Selbstgefühls sowohl die kantische als auch die neukantianische Auffassung vom erkenntnistheoretischen Subjekt weiter. 3 Bei ihm wird das Selbstgefühl zur Grundlage allen Erkennens - des naturwissenschaftlichen, metaphysischen, ethischen wie auch des religiösen. 4 Ihm dient bei dieser Überlegung Schleiermacher als Vorbild, bei dem das (religiöse) „Gefühl" das Fundament sowohl für das theoretische als auch für das praktische Denken ausmacht. Herrmann geht allerdings über Schleiermacher einen großen Schritt hinaus. 5 Indem er das Selbstgefühl für den letzten Grund allen Erkennens hält, bedient er sich Kants transzendentaler Analyse und benutzt Kants Idee einer praktischen Ethik, und zwar mehr als Schleiermacher. Nach Schleiermachers Verständnis ist das Gefühl passiv. Auch bei Kant ist das Gefühl lediglich rezeptiv und erst der Verstand ist aktiv, Herrmann

3

Herrmann selbst mißt den Unterschieden zwischen der Philosophie Kants und der Neukantianer sowie ihrer Bedeutung f ü r die Theologie keine große Bedeutung bei: „Was die erkenntnißtheoretischen Erörterungen betrifft, von welchen ich ausgegangen bin, so habe ich mich dabei an Kant angeschlossen, in dessen Trennung der theoretischen Erkenntniß von der sittlich bedingten Ueberzeugung ich den Freibrief für die aus den Fesseln philosophischer Weltanschauungen erlöste Theologie erblicke. Ich halte allerdings die Art, wie vor Allem Cohen und Stadler die kantische Erkenntnißtheorie interpretiren, für die richtige, während ich ihren Ergänzungen derselben nicht beizupflichten vermag. Trotzdem muß ich es ablehnen, wenn man mich, wie Pfleiderer in seiner ,Religionsphilosophie', als Neukantianer registrirt [ . . . ] Es kann mir als Theologen gleichgültig sein, ob jene beiden Männer mit ihrer ausgezeichneten Vertheidigung der kantischen Lehre Recht behalten, oder ob die Anwendung des Causalitätsbegriffs auf die Macht practischer Impulse zurückgeführt wird, wie unter Anderen von Göring und Sigwart. Die Möglichkeit, der Theologie ihre Selbständigkeit zu wahren, bleibt in beiden Fällen dieselbe." R IX. Vgl. GA II, 318: „Bisher hatte Cohen den Kantischen Gedanken festgehalten, daß Religion in Wahrheit nichts anderes als ein Ausdruck sittlichen Ernstes sein könne. Jetzt dagegen sieht er in der Religion zwar auch eine Betätigung des sittlichen Willens, aber zugleich sagt er sich, es müßte in ihr doch etwas Eigenartiges sein, dessen der sittliche Wille des Menschen zu seiner Ergänzung bedarf." 4 M 11 : „Wo das Gefühl für den unendlichen Wert des Reiches Christi und der Glaube an die Offenbarung des Vaters in ihm sich gegenseitig beleben, ist der Friede Christi erreicht. Das Rätsel ist die praktische Gebundenheit des sittlichen Menschenwesens durch die Welt; die Lösung ist die praktische Befreiung desselben durch Gott trotz aller Welt." 5 M 26: „Aber das Recht, nach dem hervorbringenden Grunde jener Einheit zu greifen, würde uns dieser Beweis nur dann erteilen, wenn die religiöse Selbstbeurteilung nicht zur Voraussetzung das Erlebnis einer Freiheit hätte, die im Momente ihrer Betätigung schlechterdings nicht als Hervorgebrachtes, sondern nur als Hervorbringendes gelten will." Vgl. Schleiermacher 1821, 18.

Das Selbstgefühl als „letztes" Subjekt

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wertet das Gefühl jedoch zum Selbstgefühl auf und versteht es als aktiv. Nicht erst der Verstand, sondern schon das Gefühl als Selbstgefühl ist aktiv, Wirklichkeit schaffend. 6 Unter Verweis auf Lotze betont Herrmann, daß das Selbstgefühl als Zentrum der Person nicht nur eine Art unbeweglicher Grund personaler Aktivität ist, das heißt gleichsam ein „Sprungbrett", denn als eigentlicher Grund allen Denkens weist er bereits höchste Autorität auf. Nach Herrmann ist das Selbstgefühl in jeder absichtlichen Erkenntnis enthalten (mit diesem Ausdruck benennt Herrmann jegliche Erkenntnis der praktischen Wissenschaft). 7 Seine Sicht des Selbstgefühles bildet praktisch den Kreuzungspunkt zwischen den Auffassungen Schleiermachers, Kants und der Neukantianer. Die Definition des Begriffes Selbstgefühl ist für Herrmann von so entscheidender Bedeutung, daß sich in nahezu jedem seiner Texte eine Abgrenzung gerade dieses Begriffs nach allen Richtungen findet. Herrmann grenzt das Selbstgefühl, das er als Grund des Erkennens bezeichnet, beispielsweise sogleich vom erkenntnistheoretischen Subjekt des Neukantianers Herrmann Cohen ab8 Auch wenn dem Selbstgefühl erkenntnistheoretische Bedeutung zukommt, darf es trotzdem nicht mit

' Nach Kant ist das Vermögen des Gemüts, das die Grundlage der Ästhetik bildet, das Gefühl der Lust und der Unlust. Das Gefühl der Lust oder Unlust ist jedoch seiner Natur nach passiv und nicht spontan. Erst das Kritikvermögen als oberes Erkenntnisvermögen ist aktiver Natur und zielt auf zweckmäßige Tätigkeiten (Zweckmäßigkeit), als deren Ergebnis Kunst entsteht. In gewissem Sinne entspricht Kants Verständnis des Gefühls, das als Vermögen des Gemüts im Bereich der Ästhetik als Vermittler zwischen der theoretischen und der praktischen Erkenntnis fungiert, sowohl der Auffassung Schleiermachers vom Gefühl als Grund der Religion als auch der Auffassung Herrmanns vom Selbstgefühl. Man darf jedoch nicht vergessen, daß das Gefühl im kantschen Sinn seinem Charakter nach rezeptiv ist Erst das Gemütsvermögen der Ethik, das ein Vermögen zum Begehren ist, ist aktiver Natur. Es ist das Gemütsvermögen der Ethik, dem ein höheres Erkenntnisvermögen entspricht: Die Vernunft. Als Ergebnis der praktischen Vernunft entstehen die Moralgesetze. Siehe Kant 12, 563-571. Möglicherweise bedient sich Herrmann der kantschen Ästhetik, wenn er das Selbstgefühl als Grundlage der Person und zugleich als Kategorie der Religion ansieht. Gleichzeitig bildet er aber auch unter Berufung auf die Philosophie Lotzes daraus die Fähigkeit der höchsten Erkenntnis. Mit der Erhebung des Selbstgefühls zum Zentrum der Person und zugleich zum höchsten Vermögen des Gemüts, von dem die höchste Erkenntnis herkommt, stellt er sich kritisch zum Religionsverständnis Kants, der sagt, daß das a priori der Ethik auch das a priori der Religion sei. 7 R 42. Siehe Lotze, Mikrokosmus 1, 273. Laut Saarinen (1988, 45) hat der von Herrmann gebrauchte Begriff „Selbstgefühl" die gleiche Funktion wie bei Lotze die Begriffe „Gefühl" und „Gemüt". Saarinen läßt sich jedoch nicht weiter auf eine Analyse des Begriffes Selbstgefühl bei Herrmann als erkenntnistheoretischem Subjekt ein, sondern geht zur Suche nach der Gemeinsamkeit zwischen Herrmann und Lotze im Gebrauch des Begriffes „Grund" über: „Letzten Endes bildet Gott bzw. das Unendliche für Lotze den Grund aller weltlichen Wirkungen." Saarinen 1988, 46. 8 GA II, 322.

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Das Selbstgefühl und die theoretische Erkenntnis

dem transzendental erkenntnistheoretischen Subjekt, von dem Cohen spricht, gleichgesetzt werden. Das Selbstgefühl ist seinem Wesen nach nicht rational: Es ist kein Begriff und läßt sich auch nicht begrifflich fassen. Auf das Selbstgefühl trifft auch nicht der im Neukantianismus so wichtige Gedanke des Ich-Bewußtseins als Wesen der Erkenntnis zu. Das Selbstgefühl ist auch nicht das ICH, das sich selbst im Selbstbewußtsein zum Objekt seiner Betrachtung macht. Das Selbstgefühl ist überhaupt nicht transzendental ausdehnbar; wenn dem so wäre, könnte das Subjekt mittels irgendeiner Erweiterung des Bewußtseins sich selbst zum Objekt des Denkens machen. Nach Cohen hat sich das Ich im Selbstbewußtsein vom Nicht-Ich so abgegrenzt, daß das Erkennende das gleiche ist, wie das Erkannte. Das Selbstgefühl im Sinne Herrmanns ist jedoch nicht das von Cohen beschriebene transzendentale Ich, das Selbstbewußtsein. Das Selbstgefühl ist überhaupt kein Bewußtsein. 9 Auch wenn Herrmanns Begriff des Selbstgefühls vom Seelenbegriff Kants in mindestens ebenso starkem Maße abweicht wie vom transzendentalen Ich Cohens, sucht Herrmann dennoch beim Seelenbegriff Kants nach Rückhalt für seine Argumentation in der Frage, wie sich das Selbstgefühl vom erkenntnistheoretischen Subjekt im Sinne Cohens unterscheidet. Nach Kant kann die Seele weder in Begriffe gefaßt noch erkannt werden; sie läßt sich allein mit einem Symbol beschreiben, welches das Bild der Seele, des letzten Subjekts allen Denkens, aufzeichnet. 10 Herrmann zitiert Kant, der sagt: „Das, was wir mit der Seele meinen, ist nichts mehr als Gefühl eines Daseins ohne den mindesten Begriff"11 Die Seele, die als das letzte Subjekt allem zweckmäßigen Denken vorausgeht, paßt gar nicht in den Bereich des Begriffes Verstand. 12 Herrmann hält das Selbstgefühl also nicht für das transzendentale Ich, das sich selbst im Selbstbewußtsein zum Objekt der Erkenntnis machen könnte. Das Selbstgefühl ist somit seinem Wesen nach weder erkennend noch rational. Trotzdem hält Herrmann das Selbstgefühl nicht nur für „das Gefühl eines Daseins", sondern gibt ihm noch einen ganz besonderen Inhalt. Das Selbstgefühl ist Gefühl, und als Gefühl ist es nach aller transzendentalen Analyse das Zentrum des Menschen und das Fundament allen Bewußten und Funktionalen. Herrmann sieht aber noch mehr im Selbstgefühl: Es ist überhaupt die Voraussetzung dafür, daß

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R 107. Siehe auch Κ 114, wo Herrmann Kants Verständnis des Selbstgefühls beurteilt. R 42. 11 R 41. Siehe auch Κ 114. 12 R 42: „Diese rein subjective Erscheinung, welche allem absichtlichen Erkennen innewohnt, aber allem Erkanntwerden widerstrebt und daher nur symbolisch bezeichnet werden kann, giebt aber den Impuls, das Bild einer Seele zu erzeugen, welche letztes Subject für alle Vorstellungen ist." 10

Das Selbstgefühl als „letztes" Subjekt

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der Mensch Person sein kann. 13 Indem er das Selbstgefühl mit dem zweiten zentralen Begriff seines Denkens, nämlich der Person verknüpft, gibt Herrmann dem Selbstgefühl seinen eigentlichen Inhalt. Darin unterscheidet er sich von der Definition des Gefühls bei Schleiermacher ebenso wie bei Cohen und Kant. 14 Für das Verständnis von Herrmanns Auffassung ist vor allem der Unterschied zum Personbegriff Kants wichtig. Kant hält das Gefühl lediglich für „das Gefühl eines Daseins" und sieht darin noch nicht die Existenz als Person. Nach Kant gehen Person und Ethik Hand in Hand. Das Gefühl enthält jedoch noch kein ethisches Moment. Es hat überhaupt nicht den Charakter einer höheren Spontaneität der praktischen Vernunft, der Person. Das „Gefühl" drückt nach Kants Verständnis lediglich eine Passion aus, aktiv ist dagegen der Verstand und unter den Arten des Verstandes ist die praktische Vernunft oder der Wille am spontansten. Herrmanns Auffassung, das Selbstgefühl sei das Fundament allen Denkens, erhält besonderes Gewicht, wenn man sie mit dem Gedanken des Personseins verbindet. Das Selbstgefühl ist gerade als Voraussetzung personalen Seins realer Grund allen Denkens. Herrmann weiß sich im praktischen Denken Kants gut zuhause und geht daher mit dem Begriff „Person" nahezu wie selbstverständlich um. Die „Person" wird in der kantischen Tradition von der Natur unterschieden, man kann geradezu sagen, sie wird gegen die Natur gerichtet. Existenz als Person bedeutet Subjektsein, nicht Objektsein. Die Person ist anders als die Natur ihrem Wesen nach aktiv, sie schafft sich ihr eigenes Gesetz und ist spontan. Herrmann selbst definiert „Person" wie folgt: „Wir nennen den Menschen, sofern er nicht nur Bewußtsein hat, sondern in seinem Gefühl Werthe empfindet und in seinem Willen das Vermögen zu besitzen glaubt, vorgestellte Werthe zu realisiren, Person." 15 Bei der Definition der Person widmet Herrmann besondere Aufmerksamkeit dem Unterschied zwischen Bewußtsein und Werten. Bloßes Bewußtsein macht noch keine Person aus. Das Bewußtsein ist in seinem Wesen passiv und auf die Natur und die Tatsachen gerichtet. Die Person setzt sich dagegen aus der Fähigkeit zusammen, Werte zu setzen und nach ihnen zu agieren. Der Mensch setzt die Werte, die er in seinem Willen verwirklicht, bereits in seinem Gefühl, meint Herrmann. Im Selbstgefühl, in dem der Mensch

13 Über den Personbegriff bei Kant siehe KrV A 361: Person heißt um ihre numerische Identität in aller Zeit bewußt zu sein. 11 GA II, 321. 15 R 40; W 142-143: „Eine Person verstehe ich nur, soweit ich mich selbst in ihr inneres Leben versetzen kann." Wa 96-97: „Das innere Leben des Menschen, seine Persönlichkeit, wird hervorgerufen durch die Fragen: Was bist du selbst, was ist Zweck und Ziel deines Daseins?"

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D a s Selbstgefühl und die theoretische Erkenntnis

Werte setzt, spielt bereits eine ethische Implikation mit. D a s Selbstgefühl ist also mehr als ein passives, Vorstellungen schaffendes Bewußtsein. Auch der Begriff der Person, den Herrmann fest mit dem Selbstgefühl verknüpft, ist ein unverzichtbarer Begriff der Religion. Mit der Definition des „Person Begriffs" bringt Herrmann das Wesentliche des Selbstgefühls als Subjekt aller absichtlicher Erkenntnis zum Ausdruck. Daran ist bemerkenswert, daß er das Selbstgefühl auch für den Grund allen absichtlichen Erkennens hält. Obwohl er also das Selbstgefühl als Voraussetzung für die Existenz als Person definiert und zugleich bereits auf die ethische Natur des Selbstgefühles hinzielt, trennt er es doch nicht wie Kant von der Erkenntnis (dem Bewußtsein) ab, sondern versteht es auch als Grund der Metaphysik. D a s Selbstgefühl ist trotz seiner Spontaneität bei der Setzung von Werten nicht wie der - kantisch verstandene - Wille ein höheres Verstandesvermögen. Herrmanns Verständnis des Selbstgefühls ist neu und erschließt sich nur schwer einer Analyse. Weil dieses Selbstgefühl die Grundlage allen praktischen Erkennens legt, bildet es in irgendeiner Weise auch die Grundlage der Metaphysik und der theoretischen Erkenntnis, auch wenn es nicht im neukantianischen Sinne mit dem erkenntnistheoretischen Subjekt gleichzusetzen ist. D a s Verhältnis zwischen dem Selbstgefühl und dem Begriffe bildenden Bewußtsein ist von entscheidender Wichtigkeit, um herauszuarbeiten, wie Herrmann das Verhältnis zwischen Religion und Metaphysik transzendental definiert. Ist die Metaphysik ihrem Wesen nach begrifflich, erfolgt die Abgrenzung zur Metaphysik bereits im Begriff des Selbstgefühls. Nun sagt Herrmann wiederholt unter Berufung auf Kant, daß das Selbstgefühl nicht begrifflich zu fassen und daher auch nicht Objekt des Verstandes sein kann. D a s Selbstgefühl gehört nicht in den Bereich des Verstandes. 1 6 D a s schließt jedoch noch nicht aus, daß das Selbstgefühl, auch wenn es selbst nicht zum Begriff gemacht werden kann, nicht doch zur Grundlage begrifflichen Denkens und damit auch metaphysischen Denkens herangezogen werden könnte. Mit seiner Hervorhebung des nicht-begrifflichen Charakters des Selbstgefühls stützt sich Herrmann bereits in seinen Ausgangspunkten auf Kants Sicht von der theoretischen Erkenntnis als reiner Erkenntnis. Er scheint dabei fest innerhalb der kantischen Analyse der reinen Erkenntnis zu bleiben. Die Begriffe der reinen Erkenntnis sind dennoch relationaler Natur. Herrmann hält daran fest, daß Kant mit seinem Begriff der reinen Erkenntnis die Problematik der klassischen Metaphysik und zugleich die Problematik der Beziehung zwischen Theologie und Metaphysik offenkundig gemacht hat. Herrmann hält daher auch die im

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R 42.

Die theoretische Erkenntnis als reines Erkennen

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Begriff reines Erkennen enthaltene Entdeckung Kants für den eigentlichen Dienst, den er der Theologie geleistet hat. 17 Schließt doch dieser Begriff die Möglichkeit der klassischen Metaphysik aus und befreit damit schon als solcher die Theologie von ihr. Der Begriff der reinen Erkenntnis, so wie ihn Herrmann versteht, ist damit von entscheidender Bedeutung bei der genaueren Festlegung der Beziehung zwischen Religion und Metaphysik.

3.2. Die theoretische

Erkenntnis als reines Erkennen

Herrmann hält unverrückt an Kants Auffassung fest, daß das theoretische Erkennen reines Erkennen ist. 18 Deshalb unterscheidet er auch genau zwischen dem reinen Erkennen und dem die Person wesentlich definierenden Selbstgefühl. Damit wehrt Herrmann gleichzeitig die neukantianische Interpretation des Selbstgefühls ab. Das reine Erkennen beruht nicht unmittelbar, gleichsam als dessen Fortsetzung, auf dem Selbstgefühl, auch wenn dieses als Zentrum der Person die Voraussetzung allen Denkens ist Die theoretische Erkenntnis ist „bloßes Erkennen", sagt Herrmann im Zusammenhang mit einer Definition des reinen Erkennens. Denn zur Definition des reinen Erkennens gehört gerade, daß Gefühl und Wille, m. a. W. die wesentlichen Elemente der Person, von ihm unterschieden sind. 19 Das theoretische Erkennen als reines Erkennen ist damit nichtpersonaler Natur. Es ist auch noch keine Wissenschaft im Sinne des absichtlichen Wissens. Das reine Erkennen ist lediglich ein in der Beobachtung begründetes Bewußtsein, gegenüber dem die Person in ihrem Innersten - in ihrem Selbstgefühl - distanziert und passiv verbleibt. Wenn Herrmann so das reine Erkennen definiert, erhält auch das theoretische Erkennen zugleich eine indirekte Charakterisierung, die dem entspricht, wie man es spontan empfindet: als leblos, distanziert, isoliert Herrmanns Sicht des theoretischen Erkennens folgt dabei ziemlich exakt - wie auch Jensen erkennt - dem Verständnis Kants von der reinen Erkenntnis. Obwohl dem theoretischen Erkennen entsprechend dem praktischen Erkenntnisbegriff sämtliche personalen Elemente und der Charakter eines eigentlichen wissenschaftlichen Erkennens abgehen, ist das reine ErR 16; Κ 1 1 0 - 1 1 1 . Siehe Kant, R r V A l l / B 24. 19 R 16: „Unter dem reinen Erkennen verstehe ich diejenige Thätigkeit des vorstellenden Bewußtseins allein, welche unmittelbar mit dem Dasein desselben gesetzt wird, ohne daß dabei der Einfluß jenes Inhalts der Menschenseele, der im Fühlen und Wollen bewegt wird, sich geltend macht." Jensen (1975, 60) beschreibt Herrmanns Auffassung vom „reinen Erkennen" wie folgt: „Sie ist Verstand in Funktion, Vorstellungstätigkeit als solche. Sie ist das isoliert erkennende Subjekt in actu, das Ergebnis des sich ,rein theoretisch Verhaltens'." 17 18

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Das Selbstgefühl und die theoretische Erkenntnis

kennen dennoch nicht chaotisch, sondern durch eine gewisse Gesetzmäßigkeit bestimmt. Diese Gesetzmäßigkeit läßt sich allerdings nicht aus dem durch Sinneswahrnehmung erfahrbaren Objekt der Erkenntnis ableiten, sondern kann nur von den Voraussetzungen der Erkenntnisfähigkeit des Subjekts her gefunden werden. Um Klarheit über Herrmanns Position in der Frage des theoretischen Erkennens zu bekommen, sollte Kants Sicht der theoretischen, auf Sinneswahrnehmungen beruhender Erkenntnis Berücksichtigung finden. Auch nach Kant ist das Subjekt in der Ausrichtung auf die Sinneswahrnehmung rezeptiv, passiv, anders wäre eine Sinneswahrnehmung auch gar nicht möglich. Selbst der Verstand, der bei Kant prinzipiell spontan ist, spielt bei der Sinneswahrnehmung eine eher passive Rolle. Er enthält a priori (der Erfahrung vorausgehend) die Vorstellung von Zeit und Raum, die den Begriffen über die Sinneswahrnehmung ihre Form geben. Eine Wahrnehmung ist nur innerhalb der vom Verstand aufgezeichneten Gesetzmäßigkeit möglich. Alles, was das erkennende Subjekt erkennt, erkennt es eben gerade in den Kategorien von Zeit, Raum und Kausalität. 20 Doch ist auch das reine Erkennen auf die Mitwirkung des Subjekts angewiesen. In Anlehnung an Kant formuliert Herrmann daher, daß im Begriff des reinen Erkennens die Vorstellung von der „Einheit des Bewußtseins" enthalten ist.21 Trotzdem beruht die Einheit des Bewußtseins nicht unmittelbar auf dem Selbstgefühl. 22 Wie Kant nennt Herrmann die 20 Kant, KrV A 41: „Zeit und Raum sind dennoch zwei Erkenntnißquellen, aus denen a priori verschiedene syntetische Erkenntnisse geschöpft werden können." 21 R 17: „Indem Kant die Einheit des Bewußtseins, welche in einer gleichartigen Erfahrung von den Dingen und ihren Beziehungen zu einander vorliegt, auf ihre Bedingungen hin untersucht, gelangt er zu den Functionen des reinen Erkennens, in deren unwillkürlicher Anwendung sich das menschliche Bewußtsein vollziehen soll." Siehe Kant 3, 136: „Ich nenne auch die Einheit derselben die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins, um die Möglichkeit der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeichnen." Kant bezeichnet eigentlich die Einheit des Bewußtseins als reine Apperzeption. Die Einheit besteht im ursprünglichen Denken des Ichs (Ich denke), das ein Akt der Spontaneität ist, mit anderen Worten, mit ihm ist nichts Sinnliches verbunden. Kant beschreibt die Einheit des Bewußtseins wie folgt: „Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke, in demselben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird. Diese Vorstellung aber ist ein Actus der Spontaneität, d. i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden. Ich nenne sie die reine Apperzeption, um sie von der empirischen zu unterscheiden, oder auch die ursprüngliche Apperzeption, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, indem es die Vorstellung: Ich denke, hervorbringt, die alle andere muß begleiten können und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann." Kant 3, 136. 22 GA II, 313: „Die in der Philosophie gemeinte Einheit des Bewußtseins kann nichts anderes sein als die in aller wissenschaftlichen Erkenntnis gemachte Voraussetzung. Das ist ein Gedanke, nach dem man sich richten muß, um überhaupt eine allgemeingültige Erkenntnis des Wirklichen zu erreichen. Davon ist natürlich die Einheit des Bewußtseins zu unterscheiden, nach der jeder gesunde Mensch verlangt, und die nichts anderes bedeutet, als ein einheitliches Verständnis der Erlebnisse, die er für sich allein hat."

Die theoretische Erkenntnis als reines Erkennen

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spontane Einheitsbasis des Bewußtseins „identisches Subjekt" 23 , das notwendigerweise ein Mittel braucht, um die Einheit seiner vielfältigen, zeitlich aufeinander folgenden Vorstellungen zu erhalten, ohne daß sich das identische Subjekt in verschiedene Subjekte unendlich aufeinander folgender Begriffe auflöst. Das Mittel, durch welches das Bewußtsein zum Herrn über seine Empfindungen wird, ist der Raum. 24 Herrmann äußert die auch im transzendentalen Denken zulässige, nahezu selbstverständliche Auffassung, daß eine Wahrnehmung nur in der Gegensätzlichkeit von Objekt und Subjekt möglich ist. Das Objekt der Sinneswahrnehmung kann laut transzendentalem Denken jedoch keine Ordnung in die Wahrnehmung bringen, da die „Natur" keine Einheit bildet, sondern eine Art Materialmenge darstellt. Die Organisierung und gleichzeitige Vollkommenheit der Empfindung beruhen auf der Einheitsfunktion des Bewußtseins selbst, die der Vielheit die Einheit verleiht. Das Bewußtsein an sich ist das Ergebnis von etwas keineswegs schon Fertigem. Es ist nur als eine Funktion des Ichs erkennbar, die keinen anderen Inhalt hat, als das gemeinsame Subjekt der vielfältigen Auffassungen zu sein. Herrmann wiederholt daher auch das im transzendentalen Denken eingebürgerte Axiom: „Mit dem Bewußtsein zugleich ist sein Gegenstand gegeben". 25 Mit anderen Worten sind die Objekte der Erkenntnis das Ergebnis jener Tätigkeit, mit der das Bewußtsein die Vielheit seiner Modifikationen organisiert. Mit Herrmanns Worten: „Wir erkennen nichts als unsere Vorstellungen". 26 Es ist also weder möglich, das Bewußtsein, noch dessen Einheitsfunktionen, noch auch die ursprünglichen Empfindungen seiner Zustände zu kennen. 27 Die reine Erkenntnis strebt lediglich nach der gesetzmäßigen Verknüpfung der Vor-

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R 17: „Die Zustände des Bewußtseins heißen Vorstellungen. In dieser Mannigfaltigkeit vereinzelter Vorstellungen weiß sich das Bewußtsein als das identische Subject, welches sie alle als seine Vorstellungen hat." Siehe Kant 3, 137: „Denn das empirische Bewußtsein, welches verschiedene Vorstellungen begleitet, ist an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjects." 24 R 17-18. „Aber dieses Wissen von sich als dem identischen Subjekt oder Ich ist nur dadurch möglich, daß es dem Bewußtsein zugleich gelingt, die vielen Einzelvorstellungen, welche ihm zeitlich gesondert gegeben sind, irgendwie auf ein Beharrliches zu beziehen, welches erlaubt, die einzelnen Vorstellungen nicht nur als zeitlich getrennt, sondern auch als irgendwie verbunden zu denken [ . . . ] Dieses Neue ist die räumliche Anschauung." 25 R 23. 26 R 23. Vgl. Kant, KrV A 4 3 / B 60: „Wenn wir diese unsere Anschauung auch zum höchsten Grade der Deutlichkeit bringen könnten, so würden wir dadurch der Beschaffenheit der Gegenstände an sich selbst nicht näher kommen." Siehe auch KrV Β 2 7 4 - 2 7 9 . 27 R 23: „Wir können ebensowenig das Bewußtsein für sich erkennen, wie einen Gegenstand, der nicht unsere Vorstellung wäre. [ . . . ] Aber nur die Resultate der Thätigkeit, durch welche das Bewußtsein die Vielheit seiner Modificationen ordnet und sich dadurch selbst erhält, sind Objecte des Erkennens."

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Das Selbstgefühl und die theoretische Erkenntnis

Stellungen, nicht aber nach dem letzten Erklärungsgrund, der selbst nicht mehr erklärbar wäre. 28 Ohne eine Vorstellung vom Ort der Dinge im Raum gäbe es auch keine Einheit des Bewußtseins. „Das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewußtsein meines eigenen Daseins beweiset das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir. 29 " „ [ . . . ] das Bewußtsein als das, was es ist, als Subjekt der auf ein Mannigfaltiges der Anschauung bezogenen Einheitsfunktion. Mit dem gänzlichen Aufhören jener Tätigkeit würde das Bewußtsein selbst erlöschen." 30 Die vom Bewußtsein geschaffenen Vorstellungen können auch qualitativ unterschiedlich sowie einerseits bestimmt und andererseits unbestimmt sein. Die Vielzahl der Qualitäten ist dem Bewußtsein empirisch gegeben. Die nach den Gesetzen des Erkennens geordnete Anschauung ist die Natur, wie Herrmann im Anschluß an Kant sagt. 31 Denn die Natur ist kein sich aus sich selbst erschließendes Ganzes - wie die klassische Metaphysik meinte - sondern eine unbestimmt bis ins Unendliche wachsende Vielheit, die das Bewußtsein durch seine Einheitsfunktionen zu beherrschen sucht. 32 Die Erkenntnis über die Natur gelangt daher nie an das Ding an sich, da beim diskursiven Voranschreiten das jeweilige Subjekt dem nachfolgenden Subjekt als Prädikat dient. 33 Das

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R 29. R 30. Der Lehrsatz Kants. Kant 3, 255. Herrmann zitiert folgenden, von Kant in seinem Beweis gebrauchten Satz (R 30): „Also ist es auch mit der Existenz der Dinge außer mir, als Bedingung der Zeitbestimmung, nothwendig verbunden; d. i. das Bewußtsein meines eigenen Daseins ist zugleich ein unmittelbares Bewußtsein des Daseins anderer Dinge außer mir." Kant 3, 255 (B 276). 30 R 32. 31 R 32; Kant 3, 172 (A 114). 32 R 24: „Wenn wir die nach den Gesetzen des Erkennens geordneten Anschauungen Natur nennen, so ist diese Natur f ü r das Bewußtsein nicht ein Ganzes, welches von ihm selbst aus bestimmt wäre, sondern ins Unbestimmte wachsende Vielheit, deren das Bewußtsein durch seine Einheitsfunctionen H e r r zu werden suchen muß." 53 R 24-25: „Es liegt in der Natur unserer Begriffe, daß unser Versuch, die Vorstellung des Gegenstandes zu vollziehen, selbst niemals völlig zum Abschluß gelangt. Wenn wir eine Gruppe von Vorstellungen als zusammengehörige Eigenschaften eines Gegenstandes denken, so beziehen wir dieselben auf eine Substanz als deren Accidenzen. Jedes vorgestellte Ding weist diese Unterscheidung in sich auf. Aber diese Unterscheidung von Substanz und Accidens läßt sich nun nicht an einem einzelnen Dinge vollziehen, sondern nur an einem solchen, welches in einem Zusammenhange mit andern steht. Die Eigenschaften und Zustände, deren Träger die Substanz sein soll, lassen sich von ihr selbst nur unterscheiden, indem sie in Beziehungen zu anderen Substanzen aufgefaßt wird, durch deren Einfluß eine Mannigfaltigkeit von Bestimmungen an ihr selbst gesetzt wird. So weist der Versuch, den Gegenstand zu bestimmen, unweigerlich über ihn selbst hinaus, auf andere Punkte der Vorstellungswelt, bei denen sich derselbe Proceß wiederholen muß, sobald in der Unterscheidung von Substanz und Accidens die Vorstellung eines Gegenstandes zu Stande kommt. Daher kommt es, daß wir eine letzte Substanz, welche nicht wiederum als Prädikat eines umfassenderen Ganzen gedacht werden müßte, nicht erkennen können." 29

Die theoretische Erkenntnis als reines Erkennen

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diskursive Denken ist charakteristisch für die Naturwissenschaften, die die Wirklichkeit erklären wollen. Die Naturwissenschaft erweist sich nach Herrmann als grenzenloses, sich auf die reine Erkenntnis stützendes Erklären. Herrmann zitiert in diesem Zusammenhang Kants Aussage, daß Naturwissenschaft und Mathematik dann grenzenlos sind, wenn sie nicht nach metaphysischen und moralischen Begriffen fragen, die außerhalb des Gegenstandes der Sinne verbleiben. Dieser bedürfen Naturwissenschaft und Mathematik um ihrer selbst willen nicht. 34 Herrmann schließt sich eng an Kants Sicht der theoretischen Erkenntnis an und gelangt zu einem Verständnis der reinen Erkenntnis, von der metaphysische und ethische Begriffe unterschieden sind. Unterschieden von der reinen Erkenntnis sind auch die personalen Elemente des erkenntnistheoretischen Subjekts, die im Selbstgefühl verborgenen Wertvorstellungen und ihre Verwirklichung. Damit ist Herrmann in der Lage, genau zwischen theoretischer Erkenntnis und Metaphysik, Wissen über Natur und Religion und auch Natur und Moral zu trennen. Die theoretische Erkenntnis ist eo ipso keine praktische Erkenntnis im Sinne des herrmannschen Wissenschaftsbegriffs. Die Quintessenz der kritischen Analyse der reinen Erkenntnis läßt sich darin zusammenfassen, daß Naturerkennen niemals zum Ding an sich vorstößt. 35 Wenn Herrmann in seinem eigenen Denken von der Existenz eines Dings an sich ausgeht, muß dieses woanders gesucht werden als im Bereich der theoretischen Erkenntnis. Bei Herrmann spielt die Frage nach dem Ding an sich, die in dieser Formulierung direkt auf Kant zurückgeht, eine äußerst wichtige Rolle. 36 54

R 27. R 27: „Naturwissenschaft wird uns niemals das Innere der Dinge d. i. dasjenige, was nicht Erscheinung ist, aber doch zum obersten Erklärungsgrunde der Erscheinungen dienen kann, entdecken; aber sie braucht dieses auch nicht zu ihren physischen Erklärungen; [ . . . ] . " Herrmann zitiert hier Kant. N a c h Kant bleibt das „Ding an sich" als Objekt des Verstandes immer unbekannt. Deshalb kann das „wie sie sind" nicht transzendental, sondern nur empirisch gedacht werden: „Wenn wir denn also sagen: die Sinne stellen uns die Gegenstände vor, wie sie erscheinen, der Verstand aber, wie sie sind, so ist das letztere nicht in transcendentaler, sondern bloß empirischer Bedeutung zu nehmen, nämlich wie sie als Gegenstände der Erfahrung, in durchgängigem Zusammenhange der Erscheinungen, müssen vorgestellt werden und nicht nach dem was sie außer der Beziehung auf mögliche Erfahrung, und folglich auf Sinne überhaupt mithin als Gegenstände des reinen Verstandes sein mögen. Denn dieses wird uns immer unbekannt bleiben, so gar, daß es auch unbekannt bleibt, ob eine solche transcendentale (außerordentliche) Erkenntnis überall möglich sei, zum wenigsten als eine solche, die unter unseren gewöhnlichen Kategorien steht. Verstand und Sinnlichkeit können bei uns nur in Verbindung Gegenstände bestimmen. Wenn wir sie trennen, so haben wir Anschauungen ohne Begriffe, oder Begriffe ohne Anschauungen, in beiden Fällen aber Vorstellungen, die wir auf keinen bestimmten Gegenstand beziehen können." Kant 3, 284. 36 R 41: „Indem ich Betreffs des Doppelsinnes der Realität, der sich hiemach ergiebt, 35

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Das Selbstgefühl und die theoretische Erkenntnis

Es ist gerade diese Frage, in der die zentrale Problemstellung dieser Untersuchung akut wird. Herrmann bestreitet nämlich einerseits, daß das Ding an sich im klassischen Sinne erkennbar wäre, weist jedoch andererseits nicht von vornherein von der Hand, daß es existieren könnte. Diese Konstellation geht unmittelbar auf die Philosophie Kants zurück. Auch wenn Kant meint, daß über das Ding an sich keine Erkenntnis erlangt werden kann, bestreitet er doch nicht direkt die Existenz eines Dings an sich. Herrmann folgt auch Kants Argumentation, nach der das Ding an sich nicht Objekt der theoretischen Erkenntnis sein kann. Es ist unmittelbar klar, wie sich die transzendental definierte reine Erkenntnis von der klassischen (aristotelischen) Naturwissenschaft unterscheidet, die gerade meint, im Objekt der Erkenntnis zum Wesen (Natur, forma) des Dings gelangen zu können. Wie bereits deutlich wurde, macht Herrmann aus seinem Standpunkt zur Lösung der klassischen Metaphysik keinen Hehl. Deshalb bezeichnet er auch die klassische Naturwissenschaft und die in Erweiterung daraus entstehende Metaphysik wie Kant als dogmatische Metaphysik. Die klassische Metaphysik und ihr Erkenntnisbegriff verhalten sich laut Herrmann in ihrer Auffassung, daß sich die Gesamtheit des Weltganzen vom Objekt und vom Ding an sich, das darin enthalten ist, erschließt, unkritisch. Die Auffassung der klassischen Metaphysik sei besonders schädlich für die Religion, weil sie weder zwischen dem Gegenstand der Natur und der Metaphysik noch dem der Religion unterscheide. Das Ding an sich - so wie es die klassische Metaphysik im Objekt selbst anzutreffen meint - ist das absolute Dogma, welches den Gegenstand der Religion in die Natur zurückführt. Ein solches Denken widerspricht laut Herrmann dem Wesen der Religion. Denn diese kann weder Teil noch Erweiterung der Welt sein. Es sei das Verdienst Kants, diese Behauptung mit Hilfe des Begriffes der reinen Erkenntnis begründet zu haben, meint Herrmann. Damit sei der klassischen Metaphysik der endgültige Todesstoß versetzt worden und die Garantie für die Freiheit der Theologie sei erreicht. Aus dem Blickwinkel der reinen Erkenntnis ist die Welt grenzenlos und nicht beherrschbar. D e r Mensch möchte die Welt aber trotzdem beherrschen und sie als ein Ganzes sehen. Die Frage nach der Einheit der Welt gehört jedoch nicht in den Bereich der theoretischen, sondern der praktischen Vernunft. 3 7 Herrmann überträgt also die Aufgabe, die

auf die weitere Ausführung im folgenden Abschnitt verweise, möchte ich hier nur noch zwei Begriffe hervorheben, die in ganz derselben Weise gebildet sind, wie der des Weltganzen, die Begriffe der Seele und des Dinges an sich. Beide sind ebenfalls die steten Begleiter alles absichtlichen Erkennens und setzen demselben eine von ihm unablösbare Grenze." 37 „Wie haben wir nun über die Realität dieses Gedankendinges, der so gedachten Natur,

Die theoretische Erkenntnis als reines Erkennen

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Welt als Einheit darzustellen und zu begründen, die früher der theoretischen Erkenntnis oblegen hatte, in den Bereich der praktischen Vernunft. „Erkenntnis" sieht Herrmann somit im Sinne Kants nur im Bereich von Naturwissenschaft und Mathematik, wobei die Erkenntnis diskursiv voranschreitet, ohne jemals an das Innerste aller Dinge, das Ding an sich, zu gelangen. Die Erkenntnis beantwortet jedoch nicht die Frage nach dem Ganzen der Welt und seiner Beherrschung. Das Bedürfnis des Menschen, die Welt zu beherrschen, sagt Herrmann, gehört zu seinem personalen Wesen, mit anderen Worten, in den Bereich des Gefühls und des Willens, von dem das reine Erkennen abgetrennt ist. Die praktische Weltbeherrschung resultiert aus der personalen Natur des Menschen, die noch nicht zur reinen Erkenntnis gehört. Damit ist die Einheit der Welt auch im Prinzip nicht theoretisch, sondern allein praktisch begründbar. 38 Die Wissenschaft muß daher, insofern sie ein Gesamtbild von der Welt bieten will, praktisch begründet werden. 39 Wenn das theoretische Erkennen nicht an das Ding an sich gelangt, kann es auch keine Antwort auf die Frage nach der Realität der Welt geben. Die Antwort auf diese Frage gehört in den Bereich des praktischen Denkens und damit in den der Person. Die Realität, die

zu urtheilen? Nicht weil wir sie erkennen, halten wir eine so beschaffene Natur für wirklich, sondern weil wir sie wollen. Es ist nicht das rein Theoretische im Naturerkennen, welches jenen Gedanken erzeugt, sondern der ihm innewohnende practische Impuls [ . . . ] . Der bloße räumlich angeschaute sinnliche Eindruck entscheidet über die Realität noch nicht." R 37. Herrmann wehrt entschieden die Vorstellung ab, das „Objekt" der Realität des Weltganzen könne auf irgendeine bereits existierende Realität zurückgeführt werden: „Wenn das Erkennen alle Realität feststellt in der Beziehung zu anderem, was als wirklich gilt, so müßten wir auch von diesem Weltganzen sagen, es sei so real, wie ein andres Wirkliche, zu welchem es in erkennbarer Beziehung steht. Trotzdem liegt es auf der H a n d , daß die Art jenes Gedankens von einem Weltganzen die Möglichkeit abschneidet, seine Realität durch gesetzmäßige Verbindung mit den Gegenständen im Räume zu bewähren. - Es giebt kein solch Wirkliches, zu welchem das Weltganze in Beziehung stehen könnte, als wir selbst. Das Weltganze ist so real, wie das fühlende und wollende Individuum real ist." R 39. 38 „In den Begriffen des Verstandes läßt sich die Vorstellung eines Weltganzen nicht auffassen. Ihnen ist sie gradezu widersprechend, weil eine in sich abgeschlossene Totalität die Beziehungen negirt, in welchen jene Begriffe zur Anwendung kommen. Dagegen entspricht sie durchaus dem inappellablen Urtheil des Gefühls und insbesondere der gefühlsmäßigen Gewißheit der individuellen Existenz, welche die Gewähr ihrer Geltung in sich selbst trägt, ohne in der Verfolgung von Beziehungen Sie finden zu wollen." R 40. Herrmann stützt sich hier auf Lotze: „So geben wir uns im Laufe der gewöhnlichen Erfahrung ohne Bedenken den Verfahrungsweisen des Verstandes hin, mit denen wir sicher sind, immer Einzelnes mit Einzelnem gesetzmäßig verbinden zu können, und mit denen wir zugleich sicher sein könnten, wenn wir es eben bemerkten, niemals jenes Bild des Weltganzen zu erreichen, das während aller dieser Bemühungen unsere Vernunft gleichzeitig festhält oder zu gewinnen sucht." Lotze 1856, 266. 39 R 41: „Alles absichtliche Erkennen, also auch das wissenschaftliche Naturerkennen, ist von diesem Bilde einer Seele begleitet."

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Das Selbstgefühl und die theoretische Erkenntnis

Wissenschaft und die Frage nach dem Ding an sich, „in der der Verstand zur Ruhe kommt", gehört also in den Bereich der Person, d. h. des Gefühls und des Willens. Nicht der bloße Verstand, sondern das Bedürfnis des Menschen verlangt, daß die Welt ein Ganzes ist. Die Wissenschaft ist somit praktisches Handeln des Menschen, die Unterordnung des Wissens über die Welt für seine eigenen Zwecke. Dennoch lehnt Herrmann die Vorstellung eines Grundes der Gesamtheit der Wirklichkeit, des Dings an sich, nicht prinzipiell ab, obwohl das Ding an sich keine Frage der reinen theoretischen Vernunft und auch nicht in ihrem Bereich zu erreichen ist. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang Herrmanns Kritik an Cohen.

3.3. Das „Ding an sich" und die reine

Erkenntnis

Herrmann bestreitet jegliche Möglichkeit, das Ding an sich im Bereich des theoretischen Verstandes zu erkennen. 40 So überraschend es auch klingen mag, läßt - so Herrmann - das neukantianische transzendentale Denken quasi durch die Hintertür den Gedanken ein, das Ding an sich sei über die Erfahrung, die auf Sinneswahrnehmungen beruht, erreichbar. 41 Allerdings habe sich dieser Gedanke seit jener Auffassung der klassischen Metaphysik, die meinte, das Ding an sich sei gerade das Wesen des Dinges, welches Gegenstand der Erkenntnis sei, die auf Sinneswahrnehmung zurückgeht, gewandelt. Die neukantianische transzendentale Methode geht von der Analyse der Voraussetzungen des Erkenntnisvermögens des Subjekts aus und betrachtet nicht den Gegenstand als solchen als Gegenstand der Erkenntnis. 42 Cohen meine dagegen, sagt Herrmann, das Ding an sich sei ein Grenzbegriff des reinen Verstandes, den dieser aus Erfahrung durch Erweiterung der Kategorien erreiche. 43 Mit Bestimmtheit wendet sich Herrmann auch gegen die Möglichkeit, die der Neukantianismus hier andeutet, nämlich das Ding an sich auf dem Gebiet der theoretischen Erkenntnis zu erkennen. 44 Das Ding an sich ist nicht die abstrakte Ganzheit eines Phänomens und auch nicht dessen Grenze. Es ist nicht „das Unerreichbare"; die Abstraktion des Gegenstands im Gegenstand, von dem man nicht genau weiß, was er 40 R 52: „Mit dem Gebiete des reinen Erkennens, für sich genommen, läßt sich der Gedanke des Dinges an sich nicht verknüpfen." 41 R 52-53. 42 Siehe R 54, wo Herrmann darüber reflektiert, warum Kant nicht statt von der Erscheinung vom Objekt, dem Gegenstand spricht: „Der Terminus Erscheinung bedeutet also die erkennbare Wirklichkeit, [...]." 43 R 60. 44 R 52-53.

Das „Ding an sich" und die reine Erkenntnis

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ist. 45 Wieder stützt sich Herrmann auf Kants Erkenntnisbegriff, wenn er sagt, das Ding an sich bilde auch nicht die Grenze der Erkenntnis, denn die Erkenntnis weist, insofern sie gleichwertig ist, überhaupt keine Grenze auf. 46 Die Frage nach dem Weltganzen und dem Ganzen seiner Erscheinungen, dem Ding an sich, ist überhaupt kein Interesse des reinen Verstandes, sondern Bedürfnis des eigenen menschlichen Denkens: .Jene Totalität, das Ding an sich überhaupt, weil in keiner Erfahrung gegeben noch aus ihr ableitbar als Bedingung ihrer Möglichkeit, ist ein Product unseres eigenen Denkens." 47 Herrmann bringt seine Auffassung vom Ding an sich noch explizierter zum Ausdruck. Aus dem folgenden Zitat wird sowohl sein eigener Ansatz als auch der Unterschied zu Kant sehr gut deutlich: „Mit dem Gebiete des reinen Erkennens, für sich genommen, läßt sich der Gedanke des Dinges an sich nicht verknüpfen [ . . . ] . Das Ding an sich, das Unbedingte, ist ein Reflex des fühlenden und wollenden Subjects in der Welt der reinen Erfahrung." 4 8 Auch in der Auseinandersetzung mit der Position des Neukantianers Cohen zum Problem des Dings an sich führt Herrmann die Frage nach der Einheit der Wirklichkeit auf die Voraussetzungen des praktischen Denkens zurück. Dieser Überlegung zufolge ist die Antwort auf die Frage nach der Einheit der Wirklichkeit in der Person selbst zu suchen. Mit dem Sein als Person, das am besten durch Herrmanns Begriff des Selbstgefühls charakterisiert wird, ist das Bedürfiiis verbunden, die Wirklichkeit als Einheit zu denken. Auch in diesem Zusammenhang wiederholt Herrmann den axiomatischen Ausgangspunkt seiner Überlegungen, nämlich 15

R 58. R 58. Siehe auch R 52-53: „Aber die neuerdings gemachten Versuche, das Ding an sich als Grenzbegriff des Erfahrungswissens selbst zu rechtfertigen, scheinen mir nur dadurch zu Stande zu kommen, daß man eine Reihe kantischer Aussagen nicht zur Geltung kommen läßt, welche die Relation jenes Begriffes zum fühlenden Subject bezeugen und seine erkenntnißtheoretische Ableitung aus dem vorstellenden Bewußtsein zu verbieten scheinen." Auch Saarinen (1988, 41) meint, daß Herrmann die Ergänzungen Cohens nicht akzeptiert. 47 R 60-61. 48 R 52: Siehe noch R 52: „Das Ding an sich gehört also nicht zu der reinen Erfahrung für sich, - auch nicht als Grenze, denn dieselbe ist unbegrenzt sondern es gehört zu eben demselben Gebiete, sofern es subjectiv beurtheilt, von dem Standpunkte der fühlenden und wollenden Person aus aufgefaßt wird." An dieser Stelle äußert Herrmann seine Kritik an Kant sehr vorsichtig: „Nun ist es ja freilich außer Zweifel, daß Kant den Gedanken des Dinges an sich niemals in einem in dieser Weise bestimmten Zusammenhang mit der Erfahrung gebracht hat. Es gewinnt vielmehr bei ihm oft genug den Anschein als führe die Analyse des Begriffs der Erfahrung von selbst auf jenen Gedanken." Siehe auch R 57: „Warum hat nun also Kant trotzdem sich so ausgedrückt, als sei das Ding an sich ein Ertrag einer erkenntnißtheoretischen Untersuchung? [ . . . ] Die Thatsache, daß wir vom Ding an sich nicht loskommen, wird einfach anerkannt; eine Rechtfertigung jenes Begriffes wird hier nicht gegeben." 46

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Das Selbstgefühl und die theoretische Erkenntnis

daß die Einheit der Wirklichkeit keine Notwendigkeit des theoretischen Verstandes (des Intellekts) sei. Einheit der Wirklichkeit und Einheit der Vernunft gehen nicht, wie die klassische Metaphysik meint, Hand in Hand. Mit anderen Worten, der Verstand muß nicht unbedingt die Wirklichkeit als eine Einheit denken. Das Bedürfnis, die Wirklichkeit als Einheit zu sehen, ist jedoch - wiewohl personal - nicht willkürlich, sondern in gewissem Sinne eben „notwendig". Diese Notwendigkeit ist freilich keine Modalkategorie, die - wie Cohen meint - auf dem Erfahrungsgebiet gültig ist, sondern sie ist die Notwendigkeit des Mittels und des Zwecks. „Gesetzt" wird diese Notwendigkeit von der fühlenden und wollenden Person, wenn sie sich das gesamte Erfahrungsgebiet als Mittel um ihres eigenen Zweckes willen unterwirft. 49 Lediglich aus der Perspektive des Zweckes ergibt sich der Gedanke der Ganzheit. Die Erfahrung ist zufällig, und auch die Kategorien führen zu keinem wie auch immer gearteten festen Punkt, an dem sich die einzelne Erscheinung ständig festmachen könnte. Kategorien können nicht, wie Cohen das - nach Herrmanns Ansicht irrigerweise - meint, zu Ideen „wachsen". 50 In seiner Kritik an Cohen wiederholt Herrmann einfach die Auffassung Kants, daß sich das Vermögen des theoretischen Verstandes und das Vermögen der praktischen Vernunft schon im Ansatz unterscheiden. Herrmann formuliert die Sache so: Die Tätigkeit des vorstellenden Bewußtseins und das absichtliche Erkennen der Wissenschaft, das die Metaphysik anstrebt, bilden kein gleichwertiges Kontinuum, das heißt keine aufeinander folgenden oder mindereinander verkundenen Erkenntnismöglichkeiten. Zwischen ihnen wird nur dadurch eine Brücke gebildet, daß das fühlende und wollende Subjekt sich selbst zuliebe die Tätigkeit des reinen Bewußtseins nach seinen eigenen Zwecken organisiert. 51 Nach Herrmann bildet die theoretische Erkenntnis als reines Erkennen an sich keinerlei Einheit. Sie beschreibt keine objektive Wirklichkeit, sie ist auch keine Metaphysik, ja nicht einmal Wissenschaft im Sinne des praktischen Wissenschaftsbegriffs. Ihr kommt lediglich ein instrumenteller Wert für die Bestrebungen der Person zu. Das reine

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R 61. R 62; R 58: „Seine [Cohens] Absicht ist, zu zeigen, daß das Sittliche mit den Grundgesetzen unseres Erkennens zusammenhänge. In einem solchen Zusammenhange sieht er die eigentliche Realität des Sittlichen und das Recht einer Ethik als der nothwendigen Ergänzung der Erfahrungslehre." Nach Jensen (1975, 69) verschließt Herrmann alle Wege vom „reinen Erkennen" zum Ding an sich und zur Ethik und erlaubt diesen Ubergang nur als „Sprung". Auf diese Weise gelangt Herrmann zu einer nicht-metaphysischen Realität. Nach Jensen muß Herrmann dabei jedoch die Vorstellung einer Einheit der Vernunft aufgeben. 51 R 61: „Der fühlende und wollende Mensch unterliegt dieser N o t w e n d i g k e i t , weil er sich des ganzen Erfahrungsgebietes als eines Mittels zu seinem Zweck bemächtigt." 50

Das „Ding an sich" und die reine Erkenntnis

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Erkennen (die Naturwissenschaft) erhält seine wirkliche Bedeutung erst, wenn es für die Metaphysik nutzbar gemacht wird, wobei dann bereits der Bereich der praktischen Wissenschaft betreten wird. Die zum Bereich der praktischen Wissenschaft gehörende Metaphysik wird durch jene Voraussetzungen bestimmt, die schon von Natur aus personal sind und dem Zweck der Person dienen. Daher steigt die am reinen Erkennen orientierte Naturwissenschaft nicht einmal nach der Erkenntnistheorie, wie Cohen sie betreibt, zur Metaphysik auf. 52 Das die Einheit der transzendentalen Metaphysik schaffende Prinzip als solches liegt also nicht in der Naturwissenschaft, sondern muß erst in der praktischen Wissenschaft und ihren Prinzipien, dem Gefühl und dem Willen, gesucht werden. Dies meint Herrmann, wenn er sagt, daß das Begriffe schaffende Bewußtsein (das reine Erkennen) und die zweckgerichtete Tätigkeit der Wissenschaft (die praktische Wissenschaft) kein gleichwertiges Kontinuum bilden. Die Erkenntnis, deren sich die Metaphysik bedient, verbleibt daher, was das Prinzip der Metaphysik anbelangt, im Äußerlichen. Die Metaphysik ist nicht die Fortsetzung der Naturwissenschaft, auch wenn sie sich bei ihrem Bestreben, die Ergebnisse der Naturwissenschaft zu einer einheitlichen Wissenschaft zu verbinden, naturwissenschaftlicher Erkenntnis bedient. Um herauszufinden, ob Herrmann in seiner eigenen Idealvorstellung einer praktischen Wissenschaft noch die Existenz eines Dings an sich voraussetzt, muß seine Auffassung von der praktischen Metaphysik näher analysiert werden. 53 Praktische Metaphysik und Naturwissenschaft sind nicht das gleiche, Herrmann verwendet sogar - wie bereits deutlich wurde - viel Aufmerksamkeit auf die genaue Begründung dieser Unterscheidung. Herrmanns Sicht von der Einheit des Weltganzen und des Dings an sich, welches als reales Siegel dieser Wirklichkeit fungiert, läßt sich am besten mit Hilfe einer Analyse des Verständnisses der praktischen Metaphysik, insbesondere vor dem Hintergrund deren Prinzips (des Selbstgefühls) eruieren. Falls Herrmann die Einheit der Wirklichkeit für eine Frage des rationalen Denkens hält, kann der Fixpunkt dieser Einheit, das Ding an sich, entsprechend dieser Annahme eben gerade im 52 Herrmanns Kritik an Cohen wird verständlich, wenn man berücksichtigt, welche Bedeutung dem Ding an sich bei Cohen überhaupt zukommt: „Es ist daher durchaus erklärlich, daß Cohen, indem er Kants Begründung der Ethik zu seiner eigenen machen will, damit beginnt, den Begriff des Dinges an sich zu rechtfertigen. Seine Absicht ist, zu zeigen, daß das Sittliche mit den Grundgesetzen unseres Erkennens zusammenhänge. In einem solchen Zusammenhange sieht er die eigentümliche Realität des Sittlichen und das Recht einer Ethik als der nothwendigen Ergänzung der Erfahrungslehre. Das Mittelglied, welches beide verknüpft, ist das Ding an sich." R 58. 53 Siehe R 57: „Die Thatsache, daß wir vom Ding an sich nicht loskommen, wird einfach anerkannt; eine Rechtfertigung jenes Begriffes wird hier nicht gegeben."

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Das Selbstgefühl und die theoretische Erkenntnis

Bereich der praktischen Metaphysik ausgemacht werden. 54 Zugleich fällt neues Licht auf die für Herrmann brennende Frage nach der Beziehung zwischen Religion und Metaphysik. Ist doch das Selbstgefühl gerade das Prinzip der Religion, von der ausgehend die Person die Einheit der Wirklichkeit und zugleich deren realer Natur behaupten kann. Herrmann lehnt somit in seiner Kritik der klassischen Metaphysik nicht schon von vornherein jegliche Metaphysik ab. Er akzeptiert die klassische Metaphysik an sich, durchtrennt aber, indem er sie von der theoretischen Wissenschaft trennt und dem Bereich der praktischen Wissenschaft zuführt, die enge Verbindung zwischen theoretischem Erkennen und Metaphysik. Herrmann sieht darin zugleich die Abwehr der Vormachtstellung der Metaphysik als bestimmenden Faktor der Realität der Wissenschaft im Verhältnis zur Religion. Die Metaphysik definiert nicht mehr das Prinzip der Einheit der Wirklichkeit, da sie selbst bereits einer solchen Wissenschaft untersteht, deren letztes Prinzip unser personales Selbstgefühl ist.

54 Herrmann folgt weitgehend Kants Verständnis von Wissenschaft: „Kant hat in richtigem Fortgang seiner erkenntnistheoretischen Untersuchung, nachdem er die Kategorieen abgeleitet als die Bedingungen einer möglichen Erfahrung, die Ideen abgeleitet als die Mittel einer beabsichtigten Wissenschaft Was ihr die Erfahrung niemals bieten kann, das verschafft sich die Vernunft ,um ihrer Selbstbefriedigung willen', ,die Idee eines Ganzen der Erkenntnis nach Principien'. Ein solches Ganze der Erkenntnis ist systematische Welterkenntnis oder Wissenschaft." R 61. Siehe auch Kant 3, 122.

4. Das Selbstgefühl als letzte Voraussetzung des praktischen Denkens 4.1. Das Selbstgefühl und die praktische

Metaphysik

Die Begriffe der Wissenschaft, sagt Herrmann, sind nicht theoretischer, sondern praktischer Natur. Wären sie theoretisch, würden sie die Wirklichkeit so beschreiben, wie sie an sich ist. Die Sätze der Wissenschaft sind jedoch keine Beschreibung der Wirklichkeit, sondern bringen vielmehr persönliche Werte zum Ausdruck.1 Die Sätze der Wissenschaft als Werte entstehen aus dem Bedürfnis der Person, die Welt als Einheit zu sehen und sie zu beherrschen. Die Begriffe der Wissenschaft basieren daher auf Werten, die aus den Tiefen des Gefühls aufsteigen. In prägnanter Weise formuliert Herrmann, wie er das Wesen der Einheit der Wirklichkeit versteht: „Die Welt, die als Wertgröße beurteilt wird, denken wir als abgeschlossenes Ganzes." 2 Die praktische Metaphysik, wie Herrmann sie versteht, versucht in ihrer Eigenschaft als Wissenschaft dem personalen Bedürfnis, die Welt als vollkommene Einheit zu sehen, gerecht zu werden. In diesem Bemühen bedient sie sich des naturwissenschaftlichen Wissens, d. h. des reinen Erkennens der Welt. Die Metaphysik macht sich das reine Erkennen lediglich zunutze, sie ist nicht in ihm begründet, sondern liegt im fühlenden Subjekt und dessen Werturteilen. Grundlage der Metaphysik ist allein der Wunsch der fühlenden und wollenden Person, die Welt als Ganzes zu sehen, keineswegs jedoch irgendeine theoretische Notwendigkeit. Die Metaphysik ist daher ein auf Werturteilen beruhendes absichtliches Wissen, dessen einziges Fundament im Bedürfnis der Person liegt, die Welt zu beherrschen. Die Absichtlichkeit der Wissenschaft bedeutet aber für Herrmann keine subjektive Willkür, sondern „Zweckmäßigkeit".3 Im „Wesen" - wenn man diesen Begriff für das praktische Denken gebrauchen will - des fühlenden und wollenden Subjektes ist das Bedürfnis enthalten, das Welt1 R 42: „Denn die ist mit der Reflexion Bewegung anknüpft." 2 R 63; M 6: „Wer 3 R 61. Siehe Kant

Ausübung der Naturwissenschaft wie alles absichtlichen Erkennens auf einen gefühlten Werth behaftet, an welchen die absichtliche das tut, begibt sich auf den Weg der Metaphysik." KrV A 773/B 801.

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Das Selbstgefühl als letzte Voraussetzung des praktischen Denkens

ganze real zu sehen und technisch zu beherrschen. Auch die Metaphysik ist hier in gewissem Sinn nur ein Mittel für die Zwecke des Subjekts. Herrmanns Metaphysikverständnis schwankt jedoch bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen der Realität der Metaphysik und der Wirklichkeit zwischen zwei Alternativen. Einerseits gibt er nämlich zu verstehen, daß die praktische Begründung der Metaphysik nur eine Art „Motivation" der Metaphysik ist und letztendlich mit der Metaphysik doch nur die reine theoretische Erkenntnis intendiert wird. Die im Bereich der Metaphysik erlangte Erkenntnis wäre dann genau wie in der Naturwissenschaft theoretischer Natur und damit eine Erkenntnis des reinen Verstandes. Für den reinen Verstand ist jedoch charakteristisch, daß mit seiner Hilfe niemals die Einheit der Wirklichkeit und auch keine einheitliche Weltanschauung erlangt werden kann. Das grundlegende Prinzip der Einheit der Wirklichkeit kann nicht in reiner Erkenntnis liegen, von der das Gefühl und der Wille des Subjekts isoliert sind. Das „Objekt" der Metaphysik und der Naturwissenschaft ist letztlich dasselbe: Es sind die Dinge der Welt, so wie sie vom Verstand auf der Grundlage der Einheitsfunktion des Subjekts erfaßt werden. Obwohl in der Metaphysik eine einheitliche Weltanschauung angestrebt wird, greift sie auf das reine Erkennen zurück. Die Sätze der Metaphysik sind somit im Wesen theoretische Sätze, sofern sie allein als Sätze des reinen Erkennens gebildet werden. Weil die reine Erkenntnis immer diskursiv und provisorisch ist, läßt sich auch in der Metaphysik nur ein momentanes, diskursives Gesamtverständnis der Welt gewinnen. Herrmann kann daher, ausgehend von seiner Überlegung, daß die Metaphysik eigentlich nur das jeweilige Ergebnis der Naturwissenschaft zusammenfaßt, ohne zu irgendeiner „endgültigen" Weltanschauung zu gelangen, seine These über die Beziehung von Metaphysik und Religion formulieren. Die echte Metaphysik, meint Herrmann, sei immer hypothetisch und nie dogmatisch. Die Hypothese gehöre zur Metaphysik, das Dogma zur Religion. 4 Im Dogma geht es um das Ding an sich, welches keine metaphysische Erkenntnis enthalten könne. Diese Schlußfolgerung ergibt sich logisch aus der Auffassung, daß sich die Metaphysik des theoretischen Erkennens der Naturwissenschaft bedient, welches seinem Charakter nach reine Erkenntnis ist. In der Tat gibt Herrmann daher auch zu verstehen, 4 R 84-85: „Wie ganz anders [als in der Religion] es sich mit der Metaphysik verhält, haben wir oben gesehen. Sie büßt allen wissenschaftlichen Werth, auf den sie Anspruch machen könnte, ein und wird selbst eine untergeordnete Species religiöser Weltanschauung, sobald sie den hypothetischen Character ihrer Producte vergißt und den gewonnenen letzten Erklärungsgrund für den gesetzlichen Zusammenhang der Welt als unumstößliches Dogma verkündigt." Siehe auch Kant „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft".

Das Selbstgefühl und die praktische Metaphysik

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daß die Metaphysik die Frage nach dem Ding an sich und nach der Realität der Wissenschaft nur aus dem Blickwinkel ihrer praktischen „Notwendigkeit" enthält. Das Ding an sich braucht man mit anderen Worten in der Metaphysik nur „als einen Standpunkt, den die Vernunft sich genöthigt sieht, außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als practisch zu denken".5 Auch die Metaphysik geht die Frage nach der Realität des Weltganzen vom Subjekt her an, auf das sie im praktischen Denken rückbezogen ist.6 Für die genaue Bestimmung des gegenseitigen Verhältnisses von Metaphysik und Religion ist somit die Frage nach dem letzten Prinzip der Realität der Wirklichkeit entscheidend: Gehört der letzte Garant der Einheit der Wirklichkeit, das Ding an sich, in den Bereich der Metaphysik oder der Religion? Das Prinzip der Realität wiederum ist entsprechend der praktischen Denkweise nur im Subjekt selbst zu finden. Damit ist die Frage nach der Beziehung des Selbstgefühls zum Subjekt der Metaphysik von entscheidender Bedeutung für die Beantwortung der Frage nach Eigenart und Stellung der Metaphysik in der Dogmatik Herrmanns. Herrmann behauptet nämlich, daß das Selbstgefühl gleichzeitig sowohl die Grundlage der Religion als auch der Person als ganzer ist. Als Grundlegung der gesamten Person kann sie zugleich prinzipiell auch das letzte Prinzip der Erkenntnis sein, selbst wenn sie nicht begrifflich zu fassen ist und selbst wenn die durch das Selbstgefühl bestimmten Werturteile nicht begrifflicher Natur sind. 7 Andererseits scheint Herrmann der Metaphysik doch auch die Möglichkeit einzuräumen, „dogmatisch" und nicht lediglich hypothetisch zu sein. Anders gesagt, der Metaphysik ist freigestellt, danach zu streben, auf die Frage nach dem letzten Realitätsprinzip der Wirklichkeit eine Antwort geben zu können. Herrmann sagt daher auch, daß die Metaphysik sich nicht damit begnügt, die Welt mit Hilfe der Erkenntnis nur hypothetisch zu beherrschen, sondern vielmehr mit der Religion in einen Wettstreit um die vollständige Herrschaft über die Welt eintritt. Die Analyse von Herrmanns Metaphysikverständnis hat daher zu beachten, 5 R 64. Vgl. R 49, w o Herrmann das „Ding an sich" mit einer beachtlichen erkenntnistheoretischen Aufladung versieht: „Die Relation zu unserem Gefühl giebt den Dingen den Hintergrund des Dinges an sich, der sie selbst zu Erscheinungen, zu Realitäten minderen Grades herabsetzt. D a s Ding an sich ist nicht das Correlai des vorstellenden Bewußtseins, sondern das Correlai des Subjects, welches seines Daseins im Gefühl gewiß ist." 6 G A II, 284: „Unter einer solchen [praktische Erkenntnis] würde man doch die Erkenntnis eines Gewollten, also einer Aufgabe verstehen müssen." 7 R 42: „Diese rein subjective Erscheinung, welche allem absichtlichen Erkennen innewohnt, aber allem Erkanntwerden widerstrebt und daher nur symbolisch bezeichnet werden kann, giebt aber den Impuls, das Bild einer Seele zu erzeugen, welche letztes Subject für alle Vorstellungen ist." Siehe auch R 49.

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Das Selbstgefühl als letzte Voraussetzung des praktischen Denkens

daß die Realität der Wirklichkeit und gleichzeitig das Prinzip der Einheit der Wirklichkeit nur von den Voraussetzungen der Erkenntnisfähigkeit des Subjekts her definiert werden können. Das Realitätsprinzip der Wirklichkeit ist damit rein praktischer Natur, und Herrmann verknüpft mit ihm oft wie selbstverständlich außer dem Gefühl auch den Willen. Er wiederholt vielmals seinen Lieblingssatz, daß die Welt nicht deshalb wirklich sei, weil der Mensch sie erkennt, sondern weil er möchte, daß sie real ist: „Nicht weil wir sie erkennen, halten wir eine so beschaffene Natur für wirklich, sondern weil wir sie wollen." 8 „Es gibt kein solch Wirkliches, zu welchem das Weltganze in Beziehung stehen könnte, als wir selbst. Das Weltganze ist so real, wie das fühlende und wollende Individuum real ist." 9 Das Kriterium für die Realität der Welt ist letztendlich der Mensch als Person, d. h. als fühlendes und wollendes Wesen, welches Werte setzt und sie in seinem Willen verwirklicht, mit anderem Wort als Subjekt, das außerhalb der reinen Erkenntnis steht. 10 Religion und Metaphysik haben zwar formal gesehen dieselbe personale Grundlage im Subjekt - das spontan urteilende Selbstgefühl - was jedoch nicht heißt, daß die Erkenntnisprinzipien der Religion und der Metaphysik identisch wären. Herrmann sagt deshalb auch, daß die Religion die Welt auf eine andere Weise beherrscht als die Metaphysik. Auch dieses „Wie" ist nicht willkürlich, sondern ergibt sich aus den unterschiedlichen transzendentalen Voraussetzungen der Metaphysik und der Religion. Das reine theoretische Erkennen ist bei Herrmann vom praktischen Werturteil dadurch unterschieden, daß allein das Bewußtsein Subjekt der theoretischen Erkenntnis ist.11 Die personalen Elemente, welche die Grundlage der praktischen Werturteile ausmachen, nämlich das Gefühl 8

R 37. R 39. 10 Herrmann ist bereit, das letzte Subjekt aller Erkenntnis als „Ding an sich" zu bezeichnen: „Nämlich als ,Ding an sich selbst' wird die Seele gedacht, wenn sie als letztes Subject der Vorstellungen (nicht sowohl erkannt, sondern) auf Grund eines Gefühls behauptet wird. Sie ist damit als noli me tangere für das Erkennen gesetzt. Denn der Gegenstand des Erkennens, das Ding, das nicht ,an sich selbst' sondern f ü r das Bewußtsein ist, kann niemals letztes Subject sein sondern immer nur ein solches, welches, wenn man seinen Beziehungen weiter nachgeht, auch als Prädicat gedacht werden kann." R 43. Stärker noch als Kant betont Herrmann den Gedanken des „Dings an sich": „ [ . . . ] Kant nennt die Dinge des reinen Erkennens, die Objecte des bloßen vorstellenden Bewußtseins, Erscheinungen. Den Gegensatz der gewöhnlichen Meinung von den Dingen gegen diesen Begriff formulili er in dem Begriffe des Dinges an sich. Wir meinen, an den Dingen ein Mehr von Realität zu haben, als uns Kant an den erkennbaren Erscheinungen, an den Objecten möglicher Erfahrung aufweist [ . . . ] Die Erscheinungen, von denen Kant redet, sind nicht Schein, sondern die wirklichen Dinge des vorstellenden Bewußtseins." R 47-48. Siehe auch Kant, KrV A 20; Β 34. 11 R 26. 9

Das Selbstgefühl und die praktische Metaphysik

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und der Wille, fungieren nicht als Grundlage der reinen Erkenntnis. Die Person „schließt" quasi ihre Persönlichkeit von der innersten theoretischen Erkenntnis „aus".12 Auch Metaphysik und Religion grenzt Herrmann in gleicher Weise voneinander ab wie theoretische Erkenntnis und Metaphysik. Er meint nämlich, daß das Gefühl an sich auch das Sinnesvermögen des Subjektes ist, das die Grundlage des metaphysischen Werturteils bildet. 13 Dieses Gefühl, das die Grundlage des metaphysischen Werturteils ausmacht, hat aber noch nicht die gleiche Intensität wie das religiöse Gefühl. Das der Metaphysik zugrundeliegende Gefühl ist ein reines, erkennendes Gefühl, welches der Sinneswelt zugewandt ist und aus ihr Werturteile schafft. 14 Das der Religion zugrundeliegende Gefühl dagegen enthält mehr - wie später gezeigt werden soll - und ist deswegen auf einen anderen Gegenstand ausgerichtet als die Metaphysik. 15 Das Objekt der Religion ist nicht die Erscheinungswelt, und die Religion strebt auch nicht danach, sie bewußt zu beherrschen. Die Religion strebt überhaupt nicht wie die Metaphysik nach der Erkenntnis der Welt.

12 Vgl. R 49, wo Herrmann unterstreicht, daß die in der Vorstellung auftretenden Dinge Korrelate des fühlenden Subjektes sind: „Aber der Character des Dinges, Correlai des fühlenden Subjects zu sein, wird dadurch nicht vernichtet, denn vor den ins Endlose hinausstrebenden Reihen liegt als unwandelbare Vorstellungsgrenze für die Person, welche die Mittel des Bewußtseins handhabt, das Ding an sich. Nur in der erkenntnißtheoretischen Abstraction läßt sich das Gebiet der Erfahrung von dieser Grenze befreien, welche als Bedingung f ü r die Einheit des Bewußtseins nicht abgeleitet werden kann. Im wirklichen Leben kommen wir von dieser Vorstellungsgrenze nicht los, weil das vorstellende Bewußtein in uns selbst umfaßt wird von dem Selbstgefühl, in welchem wir unserer eigenen Existenz gewiß werden. Darin liegt für uns die Notwendigkeit, das Gebiet der Erfahrung, das trotzdem für das gleichartig fortgehende Naturerkennen in sich unermeßlich bleibt, zu begrenzen." 13 R 47: „Darin, daß das Naturerkennen für uns die Funktion eines Wesens ist, das von Gefühl und Wille bestimmt ist, liegt es auch, daß wir dasselbe auf Grenzen stoßen sehen." R 62-63: „Die kantische Rechtfertigung der Ideen aus dem Zwecke der Wissenschaft führt ganz von selbst auf das Gefühl als diejenige Form des geistigen Lebens, unter deren Einfluß die Erscheinungswelt den Hintergrund des Dinges an sich gewinnt und demgemäß der endlose Regressus der Kategorie in der Idee seine Begrenzung findet." 14 „Die Wissenschaft ist nicht aus der vorstellenden Thätigkeit allein zu erklären, sondern aus dem Zweck, dem dieselbe unterworfen wird. Die Begriffe, welche mit der Wissenschaft insofern nothwendig verknüpft sind, als sie absichtliches Erkennen ist, sind nicht theoretische sondern practische Begriffe." R 63. 15 R 89: „Aus dem bloßen Zusammenwirken der qualitativ verschiedenen geistigen Thätigkeiten, welche wir als Vorstellen, Fühlen und Wollen bezeichnen, lassen sich die Anfänge metaphysischer Welterklärung begreifen. Von der Religion läßt sich nicht das Gleiche sagen. Das Object des religiösen Glaubens ist nicht das unausweichliche Product der formalen geistigen Thätigkeiten, wie jene Gegenstände einer naiven Metaphysik allerdings zu sein scheinen, sondern es entspricht einem persönlich bedingten Inhalt des geistigen Lebens."

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Das Selbstgefühl als letzte Voraussetzung des praktischen Denkens

Um die Unterscheidung zwischen Religion und Metaphysik verstehen zu können, darf nicht außer acht bleiben, daß Herrmann von den Seelenvermögen, die hinter der metaphysischen Erkenntnis stehen, auch den Willen abgrenzt. Herrmann versteht die Metaphysik zwar als eine aus Gefühl und Willen hervorgehende Weltbeherrschung, jedoch enthält das Prinzip der Metaphysik noch kein ethisches Moment. 1 6 Das religiöse Gefühl und der moralische Wille unterscheiden sich in ihrer Intensität vom Gefühl und Willen als metaphysische Seelenvermögen. Sie richten sich nicht nur auf unterschiedliche Gegenstände, sondern es besteht auch ein Unterschied zwischen dem Sinnesvermögen und dem Prinzip im Subjekt. Gefühl und Wille der Metaphysik sind weniger intensiv als Gefühl und Wille der Religion. Herrmanns Sicht, wie sich Metaphysik und Religion bei der Definition der Realität der Wirklichkeit zueinander verhalten, läßt sich folgendermaßen darstellen: Sowohl die Metaphysik als auch die Religion werden durch das Selbstgefühl, welches gerade der reale Anknüpfungspunkt der Wirklichkeit ist, miteinander verbunden. Das ist der Punkt, von dem aus die Realität der Wirklichkeit angenommen und behauptet, wenn auch nicht bewiesen werden kann. 17 Herrmann nimmt jedoch zugleich gestützt auf Kants transzendentale Erkenntniskritik an, daß die Welt, wie sie von der Metaphysik begriffen wird, niemals die Wirklichkeit der Religion sein kann. Die Metaphysik kann daher nicht ihre Aufgabe darin sehen, jene von der Person in ihrem Selbstgefühl gesetzte Realität zu beweisen. 18

16 R 101: „Daraus ergiebt sich die Einschränkung, daß sich die Begriffe der Metaphysik nur auf diejenige Wirklichkeit beziehen können, welche, indem sie uns erklärbar ist, sich uns als Mittel für unsere Zwecke darstellt. Wie vereinigt sich nun aber damit, daß die Metaphysik für ihre Begriffe den Anspruch auf universelle Geltung erhebt? Dieser Anspruch bleibt trotzdem bestehen, weil nur die erklärbare, für unsere Zwecke verwendbare Wirklichkeit f ü r die Wissenschaft vorhanden ist, deren Vollendung die Metaphysik beabsichtigt. Mit dem, was das mit gesunden Sinnen und Verstand begabte Subject als wirklich setzen muß, hat sich die Wissenschaft zu beschäftigen, welche sich von der Herrschaft bestimmter ethischer Voraussetzungen frei erhält. Und nur auf dieses Gebiet, welches allein für den Menschen abgesehen von seiner sittlichen Qualität, als allgemeiner Gegenstand der Erkenntniß vorhanden ist, kann sich jener Anspruch der Metaphysik erstrecken, wenn sie selbst als unabhängige Wissenschaft gelten will." 17 Nach Herrmann kann die hinter aller Erkenntnis stehende Einheit des Ichs vom Gefühl her behauptet werden. Es handelt sich dabei um eine erkenntnistheoretische Analyse: „ [ . . . ] die Einheit des Bewußtseins als etwas schlechthin Einfaches überhaupt nicht Object des gegenständlichen Erkennens sein kann. Das einheitliche Ich steckt zwar als Voraussetzung in aller Erfahrung und kann durch die erkenntnißtheoretische Analyse darin als solche entdeckt werden. Aber als ein Reales wird das Ich nicht in den Beziehungsbegriffen erkannt; sondern auf Grund eines Gefühls behauptet." R 45. 18 R 47: „Schon oben sahen wir, daß die Begrenzung des Naturerkennens durch das Bild eines Weltganzen im Gefühl ihre Wurzel hat. Die eigentliche Grenze des Naturerkennens ist die lebendige Person selbst, welche auf Grund eines Gefühls ihre Realität behauptet [...]."

Das Selbstgefühl und die praktische Metaphysik

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Auch die praktische Metaphysik verunstaltet dann die Religion, wenn sie ihre eigene Realität zur Realität der Religion macht: Echte Metaphysik ist niemals dogmatisch, sondern immer nur hypothetisch. 19 Herrmann hält unverrückt an der für sein ganzes Denken zentralen Aussage fest, daß einzig die Religion, da nur sie das „Dogma" enthalten kann, die letzte Realität der Wirklichkeit aufzeigt. Herrmann verwendet den Begriff „Dogma" dabei im Sinne eines realistischen Wirklichkeitsbegriffes, auch wenn seine eigene praktische Denkweise letztendlich diese Bedeutung von Dogma ausschließt. Seine Verwendung des Begriffes „Dogma" ist somit vor allem Ausdruck seines Bemühens, zwischen Metaphysik und Religion bei der Frage nach dem Realitätsprinzip der Wirklichkeit zu unterscheiden. 20 Die wirkliche Religion muß die Gewißheit haben, die sich aus der Realität ihres Subjekts ergibt. Er sagt aber auch, daß sich die Religion im allgemeinen gar nicht auf die Welt beziehe und auch nicht an einer theoretischen Beherrschung der Welt interessiert sei.21 Die Religion wäre damit überhaupt nicht bereit, innerhalb der neuen praktischen Erkenntnistheorie, die Herrmann gleichzeitig entwirft, die Position der klassischen Metaphysik einzunehmen. Obwohl Metaphysik und Religion beide praktische Weisen der Weltbeherrschung sind, unterscheiden sie sich doch voneinander hinsichtlich der Spontaneität der Seelenvermögen des Subjekts und seines unterschiedlichen Korrelats. Das Seelenvermögen des Subjekts der Metaphysik ist lediglich das betroffen „erkennende" Gefühl, das mit Hilfe des Willens Werturteile über die Welt fällt. Als Seelenvermögen des Subjekts der Metaphysik ist das Gefühl von Natur aus rezeptiv, und der Wille enthält kein eigentliches ethisches Moment, d. h. das Vermögen, Gesetze aufzustellen und sie zu halten. Nach Herrmann braucht der Metaphysiker auch gar nicht die Ethik, um Werturteile über die Welt aufzustellen. Insoweit ist die Metaphysik eine „reine" Wissenschaft, die die Ergebnisse einer jeden Wissenschaft zu einem Ganzen zusammenfügen möchte. Die Weltanschauung der Metaphysik ist somit nur hypothetisch. Die Metaphysik schafft es nie, an den letzten Realitätsgrund der Wirklichkeit, das Ding an sich, zu gelangen. Der Mensch als Person möchte zwar, wenn er im Bereich der Metaphysik tätig wird - als Gefühl und Wille - die Welt beherrschen, bedient sich zu diesem Zweck aber der theoretischen Erkenntnis und vereitelt damit seine Absicht. Nach Herrmanns eigenem Verständnis ist die Metaphysik daher - soll sie überhaupt gelingen können - eine praktische Wissenschaft, welche die in der Naturwissenschaft gewonnene reine Erkenntnis für die Bildung metaphysischer 19

R 66.

20

R 86.

21

R 117-118.

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Das Selbstgefühl als letzte Voraussetzung des praktischen Denkens

Werturteile nutzbar macht.22 In der Metaphysik strebt die Person danach, die Welt bewußt zu beherrschen, mit anderen Worten indem sie jeweils die diskursive Erkenntnis zusammenfaßt, die mit Hilfe der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gewonnen wurde. Herrmann weist damit in seiner Definition der praktischen Metaphysik auch die Möglichkeit zurück, daß sie den letzten Grund der Wirklichkeit aufzeigen könnte. In seiner Kritik der Metaphysik schließt er völlig aus, daß man im Bereich der Metaphysik, die sich auf theoretische Erkenntnis stützt, an die Einheit der Wirklichkeit gelangen könne. Herrmanns Kritik der Metaphysik bemüht sich bis zum letzten zu bestreiten, daß im Bereich der Metaphysik das letzte Realitätsprinzip der Wirklichkeit, das Ding an sich, gefunden und aufgezeigt werden könnte. 23 Diese kritisierte Vorstellung ist bereits im Erkenntnisbegriff der klassischen Metaphysik enthalten, weshalb sie aus der Sicht der Religion schon von vornherein unmöglich ist. Der Erkenntnisbegriff der klassischen Metaphysik bedeutet ihm eine Rückführung der Religion in den Bereich der Natur. Die Religion geht jedoch zugrunde, wird sie nicht von der Natur unterschieden, sondern nur als ihr Anhängsel verstanden. Wird die Religion dem Bereich der Natur und nicht dem des Geistes zugeordnet, wird ihr Wesen unmittelbar zerstört. Die gleiche Gefahr lauert im Prinzip auch in der praktischen Metaphysik, wenn man davon ausgeht, daß die Kategorien der Religion und der Metaphysik identisch sind. Herrmanns praktische Metaphysik versucht jedoch dieser Gefahr auszuweichen, denn Kant

22 Die reine Naturwissenschaft ist eine Abstraktion, wenn auch eine nützliche. In Wirklichkeit ist auch die Naturwissenschaft intentioneil, eine Werturteile bildende Wissenschaft: „Aber das reine Naturerkennen ist eine, wenn auch sehr nützliche Abstraktion. Das Erkennen, wie wir es factisch ausüben, auch in der Naturwissenschaft, ist als absichtliches Erkennen mit der Vorstellung einer Grenze, eines letzten Grundes der Erscheinungswelt, behaftet. Wer absichtliches Erkennen ausübt, hat an der Natur nicht bloß das gleichgültige Object des Bewußtseins, sondern auch eine Werthgröße des Gefühls. Die Deutung die wir den Dingen als den Erregern von Lust und Unlust geben, begleitet unablösbar alles absichtliche Erkennen." R 50-51. 23 Obwohl sich Herrmann Kants Sicht des zur Vorstellung gehörenden „vorgestellten Ding" anschließt, unterscheidet er es sorgfältig vom „Ding an sich": „Das vorgestellte Ding enthält nichts als Bestimmungen und Functionen des Bewußtseins; es ist eine sinnliche Anschauung, welche als Fall eines Gesetzes gedacht wird. Wenn wir von diesem vorgestellten Dinge das Ding an sich unterscheiden, so sind es zwei Merkmale, in welchen wir das letztere dem ersteren entgegensetzen, die Unabhängigkeit von uns und die Geschlossenheit in sich. Für beide Gedanken ist in dem bloß vorstellenden Bewußtsein kein Raum. Die Unabhängigkeit der Dinge von uns wird erst denkbar, indem wir die Vorstellungseinheiten des Bewußtseins in Beziehung setzen zu der gefühlsmäßigen Gewißheit unserer eigenen Existenz und Spontaneität. Ebensowenig wird eine Geschlossenheit der Dinge in sich gedacht, wenn wir dieselben nur in ihrem Sein als Gegenstände des vorstellenden Bewußtseins denken. Denn dieses Sein ist ja nichts weiter als ein Stehen in Beziehungen." R 51. Nach Beintker (S. 142, Anm. 185) Herrmann zitiert hier Lotze, Mikrokosmus III, 470.

Selbstgefühl und Religion

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folgend meint er, das Gefühl habe als Sinnesvermögen der Metaphysik nur rezeptiven Charakter, wobei die als Prinzip des Bewußtseins fungierenden Gesetzmäßigkeiten der Wahrnehmung passiver und formaler Natur sind. Das Gefühl als personales Sinnesvermögen ist noch nicht an der Erzeugung metaphysischer Erkenntnis beteiligt. Herrmann gibt aber trotzdem seinen Grundgedanken, der zugleich auch den Grundpfeiler seines Christentumsverständnisses ausmacht, nicht auf, nämlich das Verständnis der Einheit der Wirklichkeit und der Beherrschung der Welt als ein Bedürfnis der Person, welches nach seiner Verwirklichung verlangt, auch wenn sie sich nicht auf der Ebene der Metaphysik vollzieht. Um die Frage, auf welche Weise die Religion dem Bedürfnis der Person nach Einheit der Wirklichkeit entspricht, beantworten zu können, ist zunächst das Sinnesvermögen, das die Grundlage der Religion bildet, d. h. das Selbstgefühl zu untersuchen.

4.2. Selbstgefühl und

Religion

Die grundlegende Behauptung Herrmanns besagt, wie bereits festgestellt wurde, daß die Kategorie der Religion, das Selbstgefühl, das Zentrum der gesamten Person und als solches die Grundlage allen Denkens ist. Herrmann behauptet weiter, daß die Person gerade im Selbstgefühl sich als real erfährt und daraus schließen kann, daß auch die Wirklichkeit real ist. 24 Er meint, wenn eine Person ihre eigene Realität erlebe, werde zugleich das Bedürfnis geweckt, die Wirklichkeit als Einheit zu sehen. Die Unversehrtheit des Personseins der Person verlangt, daß die Wirklichkeit beherrschbar ist.25 Weder die theoretische Erkenntnis noch die Metaphysik, die sich auf sie stützt, können diese Frage beantworten, allein die Religion ist dagegen in der Lage auszusagen, auf welche Weise die Wirklichkeit einheitlich ist, und wie sie zugleich dem tiefsten Bedürfnis der Person entspricht. 26 In dieser Fragestellung, die Herrmanns Denken zugrunde liegt, steckt jedoch ein grundsätzliches Problem, das 24

„Indem wir als Personen unser eigenes Dasein als ein in sich geschlossenes in Lust und Unlust zu erleben glauben, behandeln wir die erkennende Thätigkeit des vorstellenden Bewußtseins als Mittel zu dem Zwecke der Person. Dem persönlichen Bedürfniß entspricht aber nicht eine grenzenlose Vielheit von Vorstellungen, sondern ein Ganzes von abgeschlossenen Dingen." R 65. 25 R 65. 26 Folglich sei Religion etwas von und nach außen „Unbeschreibliches" und „Unübertragbares" erkenntnistheoretisch „eine bloße (unbeweisbare) Behauptung ohne jeden Versuch einer Begründung", wenn „Erkenntnis", dann „verschiedene [ . . . ] von aller [1] anderen Erkenntnis". S.GA II, 61; V 15, GA II 335; GA I 252. Siehe auch Mahlmann 1986, 171. 10-14.

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Das Selbstgefühl als letzte Voraussetzung des praktischen Denkens

bereits in der Hypothese dieser Untersuchung wie folgt formuliert wurde: Das religiöse Selbstgefühl, auf dessen Grundlage die Einheit der Wirklichkeit dargestellt werden kann, ist als Gefühl trotzdem individuell. Herrmann setzt damit einerseits voraus, daß die Einheit der Wirklichkeit begründet werden kann, bestreitet aber zugleich andererseits, daß die Begründung rational ist. 27 Wie er die Einheit der Wirklichkeit versteht, wird sowohl in seiner Kritik der klassischen Metaphysik als auch in seinem eigenen Entwurf einer praktischen Metaphysik gut deutlich. In seiner Kritik der Metaphysik gibt er, wie wir sahen, den realen Anhaltspunkt der Einheit der Wirklichkeit, das Ding an sich, nicht einfach auf, sondern transferiert ihn in den Bereich der Religion. In der Metaphysik gibt es keine Möglichkeit, das Ding an sich zu erkennen, da die Metaphysik hypothetischer Natur ist, aber in der Religion, die das Dogma enthält, kann ein Ding an sich behauptet werden. Um das in der praktischen Begründung des Christentumsverständnisses auftretende Grundproblem entfalten zu können, muß sich die Analyse auf das Selbstgefühl als religiöses Sinnesvermögen richten. Zu fragen ist dann nach dessen Verhältnis zum Sinnesvermögen der Metaphysik, das Herrmann ebenfalls als Selbstgefühl bezeichnet. Herrmanns Bemühen, das Selbstgefühl als den alle Bereiche der praktischen Erkenntnis verbindenden Grund zu sehen, erscheint in problematischem Licht, wenn genauer nach dem Verhältnis des religiösen Selbstgefühls zum Sinnesvermögen - wie es die Metaphysik versteht gefragt wird. In methodischer Hinsicht scheint das Problem Herrmanns gerade darin zu liegen, daß er, indem er das Selbstgefühl als den alles umfassenden Grund des Denkens des Subjekts setzt, versucht, in seinem eigenen Ideal der praktischen Wissenschaft die Idee der neukantianischen transzendentalen Methode umzusetzen. Das Selbstgefühl ist seinem Wesen nach aber nicht ein einziges erkenntnistheoretisches Subjekt, sondern im tiefsten Grunde ein Sinnesvermögen, dessen Grad an Spontaneität und Erlebnisgehalt es auf eine höhere Stufe als das passive Gefühl heben. Als Sinnesvermögen - wenngleich auch bereits als eines, das ethisches Erleben enthält - ist das Selbstgefühl auf zusätzliche Prinzipien des Denkens angewiesen, damit auf seiner Grundlage jene praktischen Werturteile gebildet werden können, die sowohl das metaphysische als auch das religiöse und ethische Denken voraussetzt. Vom Selbstgefühl „an sich" her lassen sich keine Werturteile bilden. Es ist in erster Linie

27 „Wenn t r o t z d e m der subjective U r s p r u n g jener Vorstellungen nicht darauf f ü h r t , sie als Einbildungen bei Seite zu setzen, so kann dieß nur seinen G r u n d in d e r M a c h t des subjectiven Impulses haben, dem sie ihre Entstehung verdanken." R 65. „Diese Gewißheit haben wir f ü r uns selbst und haben d a r a n genug." Bibliographie 128, 30. Siehe auch Mahlmann 1986, 171, 2 1 - 2 3

Selbstgefühl und Religion

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Werterleben. Herrmann schreibt dem Selbstgefühl jedoch nicht die gleiche Intensität zu, wenn es um die Frage nach dem Grund aller Wissenschaftsbereiche geht. Der Unterschied zwischen Metaphysik, Religion und Ethik liegt nicht nur in der Verschiedenheit der Werturteile und zugleich der Objekte dieser Werturteile, sondern kommt bereits in der Intensität des Selbstgefühls zum Tragen. Die Erklärung für die unterschiedlichen Werturteile der einzelnen Wissenschaften liegt nicht nur in den unterschiedlichen Gegenständen dieser Wissenschaften, sondern auch in den Voraussetzungen der im Subjekt enthaltenen Prinzipien. Obwohl Herrmann wiederholt davon spricht, der Unterschied zwischen Religion und Metaphysik bestehe darin, daß die Religion nicht mit der Metaphysik um die Erklärung der Welt konkurrieren möchte, erklärt der Tatbestand, daß allein die Welt Gegenstand der Metaphysik ist, den Unterschied zwischen Religion und Metaphysik nicht. Der unterschiedliche Charakter der Religion ergibt sich vielmehr bereits aus ihrer unterschiedlichen praktischen Grundlage: dem Selbstgefühl. Wenngleich auch das Selbstgefühl reales Zentrum der ganzen Person ist, handelt es sich bei dem Sinnesvermögen, welches die Grundlage der Religion bildet, um ein anderes Gefühl als bei dem Seelenvermögen, welches die Grundlage der Metaphysik ausmacht. Herrmann gibt daher auch deutlich zu verstehen, daß es sich beim religiösen Gefühl keineswegs um das Gleiche handelt wie beim Gefühl, das die Grundlage der Metaphysik bildet. Der transzendentale Unterschied zwischen Religion und Metaphysik kann nicht allein dadurch erklärt werden, daß Prinzip und Gegenstand des Denkens in der Religion anders sind als in der Metaphysik. Herrmann ordnet dem religiösen Bereich im Selbstgefühl eindeutig mehr zu als dem Sinnesvermögen, das die Grundlage der Metaphysik bildet. Er sagt daher auch, daß das Selbstgefühl als Subjekt der Religion kein nur formales, sondern ein bereits inhaltliches Subjekt ist. 28 Herrmann charakterisiert das religiöse Selbstgefühl als spontan im Gegensatz zum lediglich erkennenden Wesen des Gefühls, das zum Bereich der Metaphysik gehört. In der Religion ist das Selbstgefühl Energie der Person. 29 Herrmann betont deshalb auch den besonderen spontanen

28 R 1 1 4 - 1 1 5 . Siehe auch G 2 5 2 : „Sie [Glaubenserkenntnis] kann also endlich nur dadurch gewonnen werden, d a ß der Einzelne eine solche Lebendigkeit gewinnt und sich dann auf den Inhalt seiner eigenen Existenz besinnt." C 3 1 1 : „ W e r innerlich so lebendig wird, d a ß er eine Anschauung von dem Sinn seiner eigenen Existenz gewinnt, hat damit Religion." 29 R 82: „ W o es dagegen auf die Erhaltung des Individuums überhaupt ankommt, wird in d e r practischen Voraussetzung über das Wesen d e r W e l t die M a c h t gemeint, welche die Welt, sie möge sein wie sie wolle, mit verborgener G e w a l t dem höchsten Zwecke des M e n s c h e n unterwirft W e n n die Uberzeugung von d e r Realität dieser M a c h t das ganze geistige Leben des M e n s c h e n beherrscht, so hat derselbe Religion." Siehe auch R 141.

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Das Selbstgefühl als letzte Voraussetzung des praktischen Denkens

Charakter der religiösen Werturteile, durch den sie sich von anderen Urteilen unterscheiden. Das Selbstgefühl als Subjekt der Religion setzt mit einer gewissen Notwendigkeit seine eigenen Werte. Das Subjekt der Religion kann damit als spontanes Selbstgefühl, das unmittelbares Erlebnis ist, definiert werden. 30 Herrmann betont diesen unmittelbaren Erlebnischarakter der Religion durchgehend in seinem Werk, auch seine frühe Zeit bildet da keine Ausnahme. Falls sein Gesamtwerk auf einen möglichen Wandel hin untersucht werden sollte, so dürfte der kaum mit einer Änderung der Kategorie von Religion zusammenhängen, so jedenfalls wäre möglicherweise die wesentliche Änderung der Denkweise eines Theologen zu qualifizieren, der unter entscheidendem Einfluß der Transzendentalphilosophie steht, nicht aber die Wilhelms Herrmanns. Auch sollte im Blick bleiben, daß Herrmann vom Anbeginn seines literarischen Schaffens im Sinnesvermögen, in der Grundlage der Religion, im Selbstgefühl, zugleich auch die Voraussetzung allen Denkens sieht. Beide kennzeichnenden Prägungen durchziehen sein ganzes Werk. Ein möglicher Wandel im Denken Herrmanns kann somit nur in einer Präzisierung liegen, die das Verhältnis der Metaphysik oder der Ethik zur Religion genauer faßt. Das Selbstgefühl und die Religion, die auf ihm beruht, ist bereits beim jungen Herrmann das reale Zentrum der Person und im Wesen spontan. Mit dieser Sicht des spontanen Charakters von Religion unterscheidet sich Herrmann von Kant ebenso wie von den Neukantianern und Schleiermacher. Herrmann sagt seit seinen frühesten Schriften wiederholt, daß das Selbstgefühl als spontanes Werterleben nicht lediglich ein „Erleiden" von Lust und Unlust bedeute. Er löst sich mit seiner Auffassung, derzufolge der Charakter der Religion spontan ist, insbesondere vom Religionsbegriff seines Vorbilds Schleiermacher, der die Religion als das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit vom Absoluten definiert. Nach Herrmanns Schleiermacherdeutung ist das Gefühl als Wesen der Religion passiv und gehört daher in den Bereich der Natur. In dieser Kritik an Schleiermacher klingt Kants Auffassung von der Passio als dem Sinnes30 R 114: „Unser Verstehen oder Nachfühlenkönnen der Motive des Glaubens bedingt aber unser Urtheil über die Wirklichkeit seiner Gegenstände. Folglich ist auf diesem Gebiete das Kriterium des Wirklichen nicht die Beziehung, in welcher der Inhalt der Vorstellung zu anderen vorgestellten Objecten steht, sondern sein Verhältnis zu der Bestimmtheit unseres Selbstbewußtseins, welche uns als unabänderlich gilt, weil wir ihren unvergleichlichen Werth im Gefühl zu erleben glauben. Wirklich ist hier also nicht das Erklärbare, sondern das, was von dem so in seiner Tiefe erfaßten Selbstgefühl genossen werden kann, das Erlebbare." Siehe auch R 159. Zur Kritik des Religionsbegriffes Schleiermachers siehe auch C 315, wonach in Schleiermachers Religionsbegriff problematisch bleibt, daß er die Verbindung zwischen Religion und Ethik nicht sieht. Auch nach Jensen (1975, 79) vermag Herrmann eine letzte Antwort in der Ethik zu geben und liegt hier trotzdem mit Cohen auf der gleichen Linie.

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vermögen des Verstandes durch. In Herrmanns Augen hält Schleiermacher das religiöse Gefühl lediglich für den passiven Grund des Bewußtseins, was seine scharfe Mißbilligung hervorruft. Das Gefühl im Schleiermacherschen Sinne kann nicht als Grund der Religion dienen, weil die Religion immer personaler und nie theoretischer Natur ist. Das spontane Selbstgefühl als Subjekt der Religion ist laut Herrmann das personale Zentrum im Menschen, das Gefühl als Passio ist jedoch keineswegs personal. Aus seiner Sicht wäre der Unterschied zu Schleiermacher etwa so zu beschreiben: Während Schleiermacher mit seinem Religionsbegriff das Individuum an den tiefsten Grund des Universums bindet, trennt bei Herrmann die Religion das Individuum von der Natur und der Welt. Für Herrmann ist das Selbstgefühl das „Innerste" der einzelnen Person, welches das Gefühl seiner eigenen Existenz und seines eigenen Werts einschließt. Auch wenn das Selbstgefühl seinem Wesen nach aus Lust im Unterschied zur Unlust besteht, ist es doch auch bereits Werterleben. Das Selbstgefühl ist also das Gefühl des allertiefsten, des personalen Wertes der eigenen Existenz der Person. Das Selbstgefühl als Subjekt der Religion begründet im Denken Herrmanns den individuellen Charakter der Religion. 31 Das Selbstgefühl ist als Subjekt der Religion bei Herrmann auch anders gewichtet als in der transzendentalen Methode Cohens, in der die Religion, wie Herrmann meint, mit dem Verstand gleichgesetzt wird. Er betont daher im Gegensatz zu Cohen immer wieder, daß die Religion Erlebnis und nicht Erkenntnis ist. Herrmann hält daran fest, daß Subjekt der Religion das Individuum und nicht das a priori erkenntnistheoretische Subjekt ist. In der Religion setzt das Selbstgefühl spontan seine eigenen Werte, weshalb das religiöse Denken aus unmittelbaren Werturteilen besteht. Die Werturteile der Religion entstehen jedoch immer ähnlich den Werturteilen der Metaphysik - mittels der Erfahrung, wenn sich das Individuum auf der Basis seiner eigenen Lebendigkeit in Beziehung zur Außenwelt setzt. 32

31

R 259-263. Siehe besonders R 263: „Nun bleibt ja Schleiermacher mit diesem Entwürfe der Weltanschauung, so sehr er auch damit seiner eigenen sonstigen Schätzung des persönlichen Lebens widerspricht, vollständig innerhalb des Schemas, welches der kirchlichen Dogmatik als ein Vermächtniß der alten griechischen Theologie zu Grunde zu liegen pflegt." 32 R 114. Herrmann lehnt die Vorstellung ab, Religion setze sich nur aus vorübergehenden Empfindungen zusammen: „Wirklich ist hier also nicht das Erklärbare, sondern das, was von dem so in seiner Tiefe erfaßten Selbstgefühl genossen werden kann, das Erlebbare. Als Einbildung dagegen weisen wir ab, was nicht aus dem Wesen des concreten Selbstgefühls heraus, sondern unter dem Einfluß einer vorübergehenden untergeordneten Stimmung als wirklich gesetzt war."

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Das Selbstgefühl als letzte Voraussetzung des praktischen Denkens

Herrmann folgt in seiner praktischen Begründung der Religion im allgemeinen der transzendentalen Denkweise. 33 Seine Analyse des Religionsbegriffs kann daher formal in gleicher Weise im Rahmen des Denkens von Schleiermacher, Kant, oder Cohen dargestellt werden. Herrmann übernimmt deren Denkweise jedoch nicht, sondern schafft eben mit seiner Auffassung von der Religion als Selbstgefühl eine eigene. Man sollte daher nicht von einer transzendentalen Methode im Sinne Cohens sprechen, weil Herrmann sorgfältig darauf achtet, daß das Selbstgefühl nicht im Sinne Cohens mit dem erkenntnistheoretischen Subjekt gleichgesetzt werden kann. Obwohl er wie bei der allgemeinen transzendentalen Analyse für ausgemacht hält, daß das Erlebnis des Individuums sich immer auf eine (äußere) Erfahrung bezieht, unterscheidet er religiöse Werturteile von metaphysischen Werturteilen. 34 Auch wenn das spontane religiöse Selbstgefühl auf ein Objekt außerhalb des Subjekts gerichtet ist, ist das Objekt der Religion nicht mit dem Objekt der Erkenntnis identisch, wie Herrmann unermüdlich wiederholt. Die Religion richtet sich nicht auf Dinge oder ihre gegenseitige Beziehung, sie versucht auch nicht, die Welt zu erklären, sondern richtet sich auf eine andere Wirklichkeit, in der sie auf einen Zweck zu treffen hofft, der ihrem eigenen Selbstgefühl entspricht. Herrmann bedient sich dann allerdings, wenn er vom Zweck der Religion spricht, einer klassischen christlichen Formulierung: Das höchste Gut sei es, wonach die Religion strebe. Der Unterschied zwischen dem höchsten Gut im Sinne des klassischen Christentums, Gott, und dem höchsten Gut im Verständnis Herrmanns wird jedoch an seiner Aussage deutlich, daß das „höchste Gut" die Summe jener „Zwecke" ist, von denen der Gläubige hofft, daß sie sich eines Tages erfüllen. 35 Das höchste Gut, auf das die unterschiedlichen Bestrebungen der Person gerichtet sind, ist kein objektiver, vom Erlebnis des Glaubens unabhängiger Gegenstand, sondern immer ein Gegenstand des unmittelbaren Erlebens des Individuums. In der Religion strebt das Individuum also nach einem höchsten Gut, das kein Gegenstand der Sinneswahrnehmung und auch kein Gegenstand des Intellekts sein kann. Es ist vielmehr Gegenstand des unmittelbaren Erlebens. 36

33 GA II, 298: „In drei Richtungen hat nun die Menscheit die Wahrheit ihres Lebens gesucht. Wir wollen wahrhaftig werden in unserem Wollen, in unserem Vorstellen oder Erkennen und in unserem Erleben. An dem ersten erwächst die Sittlichkeit, aus dem zweiten die Wissenschaft, aus dem dritten Kunst." 34 Vgl. Mahlmann 1986, 171, 3-6. 35 R 30: „Wohl kennt auch die christliche Theologie einen Begriff, der jene Gegensätze formell zusammenfaßt, den Begriff des höchsten Gutes, welchem aber ebendeshalb niemals eine bestimmte Anschauung vollkommen entspricht." 36 R 110: „Eine bestimmte Lebendigkeit des Selbstgefühls, aus welcher die ganze Bewegung der Menschengeschichte quillt, giebt dem Menschen die Fähigkeit, einen constanten

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Wenn analysiert wird, was Herrmann unter dem höchsten Gut als Ziel der Person versteht, ist daher von vornherein jegliche intellektuelle Interpretation abzuwehren. Das höchste Gut ist nicht irgendetwas in oder außerhalb der Welt bereits Existentes, sondern die Summe der Werte, die das Individuum in seinem Selbstgefühl erfährt. Es setzt sich aus den persönlichen Werten zusammen, die das Individuum eines Tages verwirklichen zu können glaubt. In letzter Konsequenz fallen diese persönlichen Werte keineswegs aus dem Personsein der Person heraus: das höchste Gut ist letztlich das Individuum selbst als sein eigenes Ziel?7 Das höchste Ziel bestimmt, wenn sich der Mensch seiner bewußt wird, alle jene Werte und Entscheidungen, die er während seines Lebens in der Welt trifft. 38 Das höchste Gut und die Bewahrung der persönlichen Existenz, also der Unversehrtheit des Daseins in der Welt, in der die Person im ständigen Widerstreit von Geist und Natur leben muß, basieren auf dem Selbstgefühl des personalen Wertes der Existenz. Gerade die Erfahrung des eigenen personalen Wertes macht jenen Inhalt aus, der nach Herrmann bereits im religiösen Selbstgefühl zu finden ist. Die Religion bildet dann das entsprechende Korrelat. Weil das religiöse Selbstgefühl als spontanes Werterlebnis nicht nur ein passives Gefühl der Metaphysik ist, ist die Religion nicht auf die Welt gerichtet. Vielmehr ist es das Gefühl, das als Sinnesvermögen der Metaphysik auf die Welt gerichtet ist, bzw. als passiver Empfänger der durch Sinnesobjekte erhaltenen Sinneseindrücke fungiert. Doch richtet sich das religiöse Gefühl aufgrund seines spontanen Charakters auf etwas vollkommen anderes als die Welt: nämlich auf die Macht, in der es die

Zweck als das Correlat seines Selbst zu behaupten. Zu dieser individuell bedingten subjectiven Disposition, ohne welche es keine Geschichte der Menschheit gäbe, wurzelt die Ueberzeugung von der Wirklichkeit, deren Gewißheit religiöser Glaube heißt. Gezwungen durch einen widrigen Lauf der Ereignisse kann der Mensch auf viele seiner Zwecke verzichten. Sein Selbstgefühl kann ihn dazu befähigen, auch unter vielfachen Enttäuschungen seine Zwecke immer wieder so zu modificiren, daß sie sich zusammenfassen lassen in ein höchstes Gut, dessen Verwirklichung immer noch erwartet werden kann." Siehe auch R 111. 37 R 83: „Erhaltung seiner Person und Verwirklichung seines höchsten Gutes ist ihm dann eins und dasselbe." Siehe Jensen (1975, 79), der als wesentlich für Herrmanns Gesamtverständnis ansieht, daß er die neukantische Erkenntnistheorie existentialisiert: „Das Selbst, das sich in seiner Bedingtheit versteht, ist das lebendige Selbst. Ein solches Selbst hat ein nicht-wissendes Wissen vom D a ß der Transendenz im Erkennen seiner eigenen Begrenztheit; es hat ein Bedürfnis nach unbedingter Bestätigung, nach ,Ruhe' und ,Frieden' in der Transzendenz (Ding an sich), die das einzige ist, was nicht, wie die Immanenz, Spiegelung seiner selbst ist (und damit Bedingtheit), die aber andrerseits das Mögliche darstellt - die also ein Nichts oder das Absolute sein kann." 38 R 85: „Es kommt vielmehr darauf in der Religion an, die Vielheit der Welt als das geordnete Ganze von Mitteln anzuschauen, durch welche der im Gefühl erlebte höchste Werth des Frommen verwirklicht wird."

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Das Selbstgefühl als letzte Voraussetzung des praktischen Denkens

Entsprechung seines eigenen innersten Zwecks findet. Nach Herrmann meinen alle Religionen, diese Macht in der Geschichte zu finden; auch das Christentum bildet da keine Ausnahme. Die Wirklichkeit der Religion ist also keine gegenständliche, zur Welt gehörende Wirklichkeit, sondern personale, geistige Wirklichkeit, die „überweltlich" ist, indem sie über die Natur zur Geschichte hinaufsteigt. 39 Ein wichtiges Problem liegt in der Frage nach dem Verhältnis zwischen der subjektiven, spontanen Seite der Religion und ihrem objektiven, historischen Korrelat. 40 Darauf wird später bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem historischen christlichen Glauben und der praktisch begründeten Religion zurückzukommen sein. Einerseits nimmt Herrmann nämlich an, das Selbstgefühl sei das Subjekt, das spontan religiöse Werte schafft. Er behauptet entsprechend, daß das höchste Gut des Individuums die Summe aller Werte sei, die es geschaffen habe. Andererseits gibt Herrmann jedoch auch zu verstehen, daß das Selbstgefühl in der Geschichte auf die „Macht" trifft, die bereits das höchste Gut des Individuums als eine Art objektiver Gegenstand repräsentiert. Das höchste Gut ist damit einerseits die bereits im Individuum selbst vorhandene Werterfahrung, andererseits die in der Geschichte anzutreffende personale Macht. 41 Herrmann verknüpft häufig in seiner praktischen Begründung der Religion den spontanen mit dem „objektiven" Aspekt der Religion. Er bringt dies in der Aussage zum Ausdruck, daß das Ziel der Religion die Selbstbewahrung des Subjekts und das Erstreben des höchsten Gutes sei.42 Bei beiden Zielbestimmungen von Religion handelt es sich um die gleiche Sache, wenn unter Ziel transzendental der Zweck verstanden wird und nicht intellektuell das objektive, vom Verstand aufgezeigte Ziel. Aufgrund ihres eigenen subjektiven Werterlebens bewahrt sich die Person ohne 39 R 90: „Denn als ein solches in sich geschlossenes Ganzes kann sich der Mensch nur denken, wenn er sich in eine Welt versetzt, die von einem Unbedingten umhegt und von seiner geheimnißvollen Macht beherrscht ist. Was als das Erste anzusehen sei, ob jene gesammelte Kraft des Selbstgefühls, oder diese Macht des Unbedingten über das Gemüth, - diese anthropologische Frage hat für uns hier kein Interesse [ . . . ] Während die Metaphysik schon in dem natürlichen Menschendasein, in den überall gleichen formalen Bedingungen des geistigen Lebens wurzelt, so hat die Religion ihre Stätte nur in dem geschichtlichen Menschenleben." 40 „Wenn seine Religion wirklich aus einem Erlebnis quillt, wird mit dem jungen Schleiermacher sagen: ,Der religiöse Mensch ist ganz und gar historisch'." GA II, 285. 41 R 83: „Wenn also sein Selbstgefühl ihn anregt, in der Religion die Vorstellung von einer die Natur zu seinem Besten beherrschenden Macht zu bilden, so erhält diese Macht von vornherein einen concret bestimmten Charakter aus der Beschaffenheit des höchsten Gutes, um dessen willen sie von uns als thätig gedacht wird." 42 R 83: „Sondern darauf kommt es ihm an, daß die Macht über die Welt die Ereignisse auf die Erhaltung seiner selbst hinlenkt. Und da er sich selbst, sofern er im Gefühle seinen Werth erlebt, mit seinem höchsten Gute identificirt."

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Schaden in jenem Widerspruch, in dem sie dadurch lebt, daß sie unablässig mit einer Natur konfrontiert wird, die sie als ihr entgegengesetzt erfährt. Die Person bewahrt sich, indem sie Dinge wertschätzt, die Korrelate zu ihrem eigenen Selbstgefühl. Die religiösen Werte unterscheiden sich nach Herrmann von der Erkenntnis durch ihre unmittelbare Erfahrbarkeit. Er schließt sich auch Lotzes Auffassung an, daß religiöse Werte keine reflektierten Werte, sondern unmittelbar im Selbstgefühl erfahrbare Werte sind: „Wie alle Werthe des Vorgestellten, so wird auch nur dieser durch Gefühle der Lust und Unlust von uns ergriffen. Nicht indem jenes Zusammenfallen des Denkenden mit dem Gedachten von uns gedacht, sondern indem es in dem unmittelbaren Werthe, den es für uns hat, gefühlt wird, begründet es unser Selbstbewußtsein und hebt unwiderruflich den Unterschied zwischen uns und der Welt über alle Vergleichung mit den Gegenständen hinaus, durch die ein Gegenstand sich vom andern sondert". 43 Herrmann betont, indem er Lotze zitiert und damit verbunden den spontanen Erlebnischarakter der Religion hervorhebt, zugleich, daß es sich nicht um ein Erkennen in der gleichen Art handelt wie beim erkenntnistheoretischen Religionsbegriff Cohens. Herrmann lehnt deshalb auch Cohens Auffassung ab, daß das in der Religion Erkennbare und der es Erkennende als Ergebnis der Erkenntnis eins würden. Religiöse Werturteile werden nicht in dem Sinne zu Gegenständen des Bewußtseins, daß das Beurteilte und der Urteilende identisch wären. Werte sind nur durch die unmittelbare Erfahrung zu erreichen. 44 Die Werturteile des spontanen Selbstgefühls werden auch nicht in dem Sinne zu Gegenständen des Ichs, daß sie zu einer Summe von Werturteilen zusammengestellt werden könnten, zu einer Art objektiver Menge religiöser Sätze. Das religiöse Selbstgefühl läßt sich nicht auf Werturteile reduzieren. Es ist kein Begriff und auch kein Satz, sondern spontanes Werterleben: das Erleben des eigenen personalen Seins. Die Religion strebt also nicht nach irgendeiner einheitlichen, geschlossenen Aussagemenge von Werturteilen als ihrem höchsten Ziel. Wenn dies so wäre, würde dies, sagt Herrmann, die Rückführung der Religion in die Natur bedeuten. 45 43

R 106; Herrmann zitiert Lotze I, 280-281. R 107. R 106: „Es ist offenbar, daß wir das Wesen unseres Seibstbewußtseins erst wirklich erfassen, wenn wir es so auf ein Selbstgefühl zurückführen, durch welches der mit allem Uebrigen unvergleichbare Werth unserer geistigen Bewegungen uns zur Erfahrung kommt, und uns somit erst das unterscheidende Merkmal für die Momente unseres eigenen Selbst geboten wird. Dadurch wird aber dieses Wissen von uns selbst ein völlig anderes als das Wissen von den Gegenständen. Während hier das einigende Band des Mannigfaltigen der Begriff der Substanz ist, so ist es dort das Gefühl f ü r den Werth des Selbstseins und aller der Momente, welche die eigenthümliche Art dieses Selbst constituiren." 44 45

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Das Selbstgefühl als letzte Voraussetzung des praktischen Denkens

Herrmann betrachtet also alles gegenständliche Denken - gleich ob es den Bereich der Wertschätzung der Religion oder den des diskursiven Denkens der Natur betrifft - als naturwissenschaftliches Denken. Im Gegensatz zu einer objektivierenden Denkweise betont Herrmann somit, daß das Urteile schaffende „letzte" Subjekt außerhalb allen Denkens steht. Auf die Frage nach dem „letzten" Subjekt, welches alles Denken bestimmt, ohne selbst Objekt des Denkens zu sein, wird bei der Analyse des Verhältnisses von Religion und Ethik noch zurückzukommen sein. An dieser Stelle kann festgehalten werden, daß das Selbstgefühl als religiöses Subjekt kein derartiges reales Zentrum bildet, das metaphysische und religiöse Sätze vereinen könnte. Das Begriffe schaffende Denken gehört somit nicht in den Bereich der Religion. Religiöse Werturteile sind völlig anders geartet als Werturteile über die Natur. Immer wieder weist Herrmann auf die kosmologische Auffassung hin, der für sein Denken äußerste Wichtigkeit zukommt, daß das religiöse Bewußtsein nämlich die Unterscheidung von Person und Natur zur Voraussetzung hat. 46 Der Unterschied zwischen Person und Natur kann zum ersten Mal im unmittelbaren religiösen Werterleben in grundlegender Weise erfahren und dann das Erleben der eigenen, persönlichen Realität als wahr behauptet werden. Wenn das Individuum auf diese Weise die eigene Realität erlebt, so erhält es ein Indiz dafür, daß es als Person etwas anderes ist als Natur. Es ist ein vollständiges und ganzes Subjekt, das nicht begrifflich abstrahiert werden kann. Das Subjekt begrifflich zu fassen, hieße, es zu relativieren, mit anderen Begriffen in Beziehung zu setzen. Eine Beziehung macht das erste Subjekt immer zum Prädikat des zweiten, wodurch das Subjekt selbst kein Absolutes mehr ist. In einer abstrahierbaren Beziehung zu einem anderen zu stehen, bedeutet nach Herrmann nicht mehr Existenz als Person, sondern Sein als Natur. Existenz als Person bedeutet immer Sein als unbedingtes Subjekt. Die Person und die Werturteile, die sie zum Ausdruck bringt, lassen sich also niemals von etwas anderem als dem Subjekt zum Objekt der Analyse machen. Sie lassen sich also nicht im eigentlichen Sinn des Wortes verobjektivieren. 47 Herrmann unterscheidet - wie dargelegt wurde - die Religion auch von der Metaphysik, obgleich beide - praktisch gesehen - den gleichen Grund haben und beide auf die Beherrschung der Welt zielen. 48 Die 46 R 12: „Die christliche Weltanschauung gilt daher nicht f ü r den Menschen als sinnlich beschränktes Naturwesen, sondern für den Menschen als sittliche Person." M 6: „Eine einheitliche Weltauffassung, welche die regelmässige Bedingung eines sittlichen Charakters ist, kann sich jeder aneignen, wenn auch nicht auf dem Wege blosser Naturforschung, so doch auf jeden Fall, ohne dass er auf jene schwierigen Untersuchungen eingeht." 47 R 43-44. Siehe auch Kuntseva 1990,199,229. Vgl. Mahlmann 1986, 170, 49-54. 48 R 17: „Der Versuch, beides zu vermischen, setzt daher die Verleugnung der Einsicht voraus, daß das ethische Faktum, in welchem die religiöse Weltanschauung wurzelt, als

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Metaphysik strebt - anders als die Religion - die theoretische Beherrschung der Welt an. Ihr Ziel ist eine Wissenschaft, die die Wirklichkeit als gesetzmäßige Einheit darstellt. Auch die Religion strebt nach Beherrschung der Welt, allerdings geschieht dies ohne Erkenntnis, denn die Erkenntnis gehört nicht zum Wesen der Religion. 4 9 Auch bildet die Metaphysik, obwohl sie wie die Religion in den Bereich des Gefühls gehört, keine Begriffe, die sie mit der Religion gemeinsam hätte. Die Metaphysik versucht vielmehr die Welt als Einheit zu sehen, indem sie die durch naturwissenschaftliche Erkenntnis gewonnenen Teilbereiche zu einer erklärbaren wissenschaftlichen Erkenntnis zusammenbringt. Die Religion zielt dagegen nicht auf eine Erklärung der Welt, sondern auf ihre personale Beherrschung. In diesem Sinn „überschreitet" die Religion immer die Welt. Herrmann akzeptiert also auch die praktische Metaphysik als Teil der Theologie nicht, obgleich er ihren Grund ebenso wie den der Religion als Selbstgefühl versteht. 5 0 Eine auf dem unmittelbaren Erleben beruhende Religion, meint Herrmann, ist im wissenschaftlichen Sinn nicht notwendig. Nicht einmal in praktischem Sinn gehören wissenschaftliche Beweisführung und Weltbeherrschung zum Wesen der Religion. Trotzdem läßt Herrmann nicht von seinem leitenden Gedanken ab, demzufolge in der Religion letztendlich die Vorstellung von der Einheit der Wirklichkeit begründet werden könne, auch wenn sich die Religion die Metaphysik hier nicht zu Hilfe holen kann. D e r christliche Glaube kann nach Herrmann eine echte Weltanschauung anbieten, in der die Frage nach der Einheit der Wirklichkeit als unbestreitbares Bedürfnis der Person gelöst ist. Allerdings ergibt sich auch in Herrmanns Versuch, eine religiöse Weltanschauung zu schaffen, jenes Problem, das sein ganzes Denken und seinen Versuch, den christlichen Glauben mit Hilfe einer praktischen Philosophie zu begründen, ebenfalls durchzieht. Eine religiöse Weltan-

ein Besonderes, gegen die allgemeinen Formen alles Seins und G e s c h e h e n s völlig G l e i c h gültiges für die Metaphysik gar nicht vorhanden, während die Religion um den S t o f f d e r letzteren, um die physischen T a t s a c h e n und die sie beherrschenden Begriffe selbst sich nicht kümmert, sondern um das Verhältnis derselben zu dem Selbstgefühl des sittlichen Subjects." 4 9 M 18: „Die Unabhängigkeit der religiösen Weltanschauung des Christentums von der Metaphysik ist nun natürlich nicht bedeutungslos für die systematische T h e o l o g i e . D e r Eigentümlichkeit ihres Gegenstandes ist sie erst sicher mit der Einsicht, d a ß die christliche Religion nicht den tatsächlichen Bestand d e r Welt feststellen will, sondern die Z w e c k b e ziehung desselben auf uns." 50 M 17: „Wenn man sie als gleichartig einander entgegengesetzt oder zu gegenseitiger Ergänzung verbindet, so hat man entweder nicht die rein ethische, von weltlichen Bedingungen unabhängige Religion des Christentum im Auge, oder man gibt bei dem Ü b e r g a n g e von dem einen Gebiete auf das andere die Freiheit der wissenschaftlichen Untersuchung auf."

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Das Selbstgefühl als letzte Voraussetzung des praktischen Denkens

schauung kann nämlich nicht nur religiös begründet werden. Das religiöse Selbstgefühl ist von Natur aus individualistisch, auch wenn es ein Werterleben enthält. Die durch das religiöse Erleben ausgelösten spontanen Werturteile ordnen sich nicht dem Denken als Gegenstände unter. Mit anderen Worten, sie haben keine Allgemeingültigkeit, sondern bleiben Ausdrücke unmittelbaren Werterlebens. Mit ihrer Hilfe vermag zwar ein Individuum dem anderen ein eigenes Erlebnis mitzuteilen, dieses Erlebnis jedoch nicht zu reflektieren. Auch hier findet Herrmann bei seinem Bemühen, eine religiöse Weltanschauung zu konstruieren, die sich zugleich allgemein begründen ließe, Rückendeckung in der Philosophie Kants. Die religiöse Weltanschauung kann nämlich laut Herrmann ethisch begründet werden. Gerade eine praktisch verstandene Ethik verleiht auch der Religion den Charakter von etwas allgemein Begründetem. Mit Hilfe der praktischen Ethik läßt sich aufzeigen, daß die Religion im ethischen Sinn aus der Sicht der Person „notwendig" ist. 51 Wohlgemerkt, Herrmann hat, wenn er von einer ethisch begründbaren religiösen Weltanschauung spricht, mit seiner Hervorhebung der Realität der Religion keine wissenschaftlich (metaphysisch) begründete Realität vor Augen. Die Religion ist kein über der Metaphysik oder der Ethik stehender letzter Garant von 51 R 250: „Bei der Entwicklung des Begriffs der Religion ohne Rücksicht auf das sittliche Bewußtsein [ . . . ] blieb eine ungelöste Frage zurück. Es fehlte dem Menschen für die Stellung, welche er sich im religiösen Glauben der Welt gegenüber giebt, ein Grund, der sich als allgemeingültiger hätte ausprechen lassen." Siehe auch z. B. G 253-254: J e n e r Grundgedanke der lebendigen Religion kann in uns nur entstehen, wenn wir das ewige Ziel unseres Wollens als wahr ergriffen haben und mit ihm unsere eigene Existenz zusammenfassen. Was unserem Wollen die unveränderliche Richtung gibt und den Endzweck unserer eigenen Existenz bildet, denken wir notwendig als den Endzweck alles Wirklichen. Dieser Gedanke eines Endzwecks aller Dinge, in dem unsere Seele das sich zur Klarheit bringt, was sie ewig verpflichtet und über alles Geschehen in der Zeit erhebt, macht die religiöse Erkenntnis erst möglich. Ich kann Gottes Wirklichkeit erst denken, wenn ich den Endzweck erkenne, dem tatsächlich alles unterworfen ist." Der Gedanke, daß das ethische Ziel dem religiösen Gefühl Denkbarkeit verleiht, durchzieht sämtliche Schriften Herrmanns. Besonders deutlich zeigt sich dies in seiner Ethik aus dem Jahre 1913, wo er Schleiermacher vorwirft, in der Religion nicht die Ethik einbezogen zu haben, sondern Religion als Annahme zu verstehen: „Daran ist ein eigentümlicher Mangel bei Schleiermacher nicht unbeteiligt. Er beschränkt sich darauf, zu zeigen, welche Impulse zur Tätigkeit aus dem christlichen Bewußtsein hervorgehen. Der christliche Gemütszustand ist danach ein Verlangen nach Gemeinschaft mit Gott und ein Erleben ihrer Verwirklichung durch Christus, das doch in jedem Moment von dem Bewußtsein, in uns gehemmt zu sein, begleitet sei." E 4. Siehe auch E 6: „Zunächst ist zu betonen, daß der christliche Glaube nur aufkommen kann in der Erfüllung der dringendsten Pflicht, die auf einen Menschen gelegt werden kann. Dann müssen wir aber das sittliche Problem, um das es dabei sich handelt, selbst durchleben, wenn es in uns zu christlichem Glauben kommen soll. Um den christlichen Glauben und die geistigen Vorgänge, in denen er sich entfaltet, zu verstehen, muß man also von dem Verständnis des Sittlichen ausgehen."

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Realität, da Grundlage der Realität der Religion das individuelle Selbstgefühl ist. In Herrmanns praktischer Denkweise unterscheiden sich die Wissenschaften voneinander nicht nur hinsichtlich der Erkenntnisfähigkeiten des Subjekts, sondern auch des Zwecks des Wissenschaftsbereichs. Der Zweck der Metaphysik ist die intellektuelle Beherrschung der Welt, die die Person aufgrund ihres Gefühls absichtlich erkennen will. Die Metaphysik strebt danach, auf der Grundlage der diskursiven Erkenntnis, die die Naturwissenschaft erarbeitet hat, jeweils ein wissenschaftliches Gesamtbild der Welt zu errichten; ein Bild das niemals endgültig ist, da sich das Wissen ständig vermehrt und verändert. In der Religion strebt die Person nach einer anderen Art von Weltbeherrschung: sie möchte sich selbst in der Welt erhalten, indem sie Werte schafft, die dann Korrelate für das Selbstgefühl der Person bilden. Mit Hilfe des Korrelats, das dem Selbstgefühl entspricht, löst sie sich aus der Welt als einer selbständigen und heilen Ganzheit heraus. Die Einheit der Person liegt in ihrer Selbst-Vollkommenheit ohne irgendwelches Wissen über die Welt. 52 Die Wirklichkeit der Religion ist unmittelbares Werterleben; die Wirklichkeit der Ethik hingegen ist das, was noch nicht ist. In der Ethik erhebt sich die Person nicht nur über die Welt, sondern auch über ihr eigenes Selbst-Erleben hinaus. Herrmann beschränkt sich also nicht darauf, lediglich festzustellen, daß die Frage nach der Realität der Person und der Einheit der Wirklichkeit nur im spontanen Selbsterleben der Religion existiert, sondern versucht auch, dieses Erleben mit Hilfe einer praktischen Ethik zu entfalten. Damit wird seine Sicht von der Beziehung zwischen Religion und Ethik zum Prüfstein dieses Denkens. Die Analyse dieser Auffassung kann nämlich als eine Art Test zur Beantwortung der Frage dienen, ob Herrmann rational aufzeigen möchte, daß die Wirklichkeit im Erleben des Selbstgefühls real ist. Im Bereich der Religion ist rationale Realität nicht möglich, weil - wie bereits mehrfach festgestellt wurde - die Grundlage der Religion im Selbstgefühl liegt, welches seinem Wesen nach unbeweisbar individuell ist. Auch wenn in der T a t das unmittelbare Werterleben 52 G A II, 289: „Ist uns gegenwärtig so wie nirgends sonst in der Person Jesu d a s Eine anschaulich, das wir uns allein als die M a c h t in allem Wirklichen denken können, so wäre es doch wunderlich, wenn das, was wir dahin empfangen haben, uns nicht ruhig und getrost machen sollte gegenüber abstrakten Möglichkeiten, deren Vorstellung eine unerläßliche Bedingung fur die Bewegungsfreiheit der Wissenschaft bleibt. Wie die Wissenschaft vom Wirklichen nie aufhören wird, sich in der Vorstellung solchen Möglichkeiten die immer nur relative Geltung ihrer Ergebnisse vorzuhalten, so wird auch der Glaube oder d a s Leben nicht darauf verzichten, der in der erlebten Wirklichkeit lebenschaffenden Macht sich rein hinzugeben. D a ß wir die andere auflösen können, mag einen Religionsphilosophen betrüben."

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Das Selbstgefühl als letzte Voraussetzung des praktischen Denkens

des Selbstgefühls bereits ethischer Natur ist, kann es trotzdem nicht im Bereich der Religion reflektiert werden. Herrmann hält daher auch unbeirrt an seiner Position fest, daß das Werterleben der Religion immer spontan und als solches unreflektiert ist. 53 Die bewertenden Urteile, die es auflösen, lassen sich in der Religion niemals zum Objekt der Reflexion oder zu einer Objektivierung verwenden. Wenn Herrmann also daran interessiert ist, die Realität der Einheit der Wirklichkeit und damit in gewissem Sinne die Einheit der Vernunft aufzuzeigen, muß die Reflexion dieser Einheit im Bereich der Ethik gefunden werden können. Wiederholt äußert Herrmann seinen Lieblingssatz, mit dem er die praktische Natur der „Realität" der Wirklichkeit betont. Er lautet: „Die Welt, die wir als Wertkategorie beurtheilen, denken wir als abgeschlossenes Ganzes." 54 Die Einheit der Wirklichkeit ist demnach nicht, wie die klassische Metaphysik meint, etwas bereits Existierendes, sondern sie entsteht im Wunsch der Person, die Einheit der Wirklichkeit „zu schaffen". Die Einheit ist nichts Existentes, sondern sie ist das Bedürfnis, die Einheit zu erzeugen. Um auch die Welt als Einheit oder vielmehr noch als beherrschbar zu sehen, macht sich die Person eine Erkenntnis zunutze, die metaphysisch und absichtlich ist. Als praktische Wissenschaft ist die Metaphysik absichtliche, auf das eigene Ziel der Person gerichtete Weltbeherrschung, in der die Welt als Ganzheit und zugleich als beherrschbar gesehen werden kann. Obwohl hinter Metaphysik und Religion die gleiche Motivation steckt, d. h. sowohl das Bedürfnis der Person nach Einheit als auch nach der Beherrschung der Welt, unterscheiden sie sich doch hinsichtlich ihres Zwecks. Die Metaphysik ist auf die Welt gerichtet und bedient sich dabei des Instrumentariums der reinen Erkenntnis, mit dessen Hilfe sie die Welt als Ganzes erfaßt. Die Gesamtheit, die sie dabei ergreift, ist jedoch hypothetischer Natur, wie es bei einer Wissenschaft nach Herrmann notwendigerweise der Fall ist. Die Gesamtvorstellung der Welt, die die Metaphysik für die Bedürfnisse der Wissenschaft darbietet, basiert nur auf deren momentaner Erkenntnis. Auf der reinen Erkenntnis aufbauend, unterliegt diese Auffassung allerdings ständiger Veränderung. Sie sieht die Dinge lediglich in ihren Beziehungen zueinander, nicht an sich. 55 Die Person findet im Bereich der Metaphysik nicht das Korrelat, das ihr selbst und zugleich ihrem

53 GA II, 284: „Entspringt die Religion wirklich aus einem Erlebnis, so wird sie selbst auch nur in dem, was den Menschen in solcher Weise geschenkt wird, ihren Gehalt sehen können [ . . . ] Die Religion ist die wirklich erlebte Hingabe der ganzen Seele. Was darin nicht enthalten ist, kann auch nur äußerlich mit der Religion verbunden sein." 54 R 63. 55 GA II, 291: „Denn wenn die Wissenschaft sich selbst in ihren Rechten behaupten kann, versteht sie auch ihre Grenze."

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Ziel entspricht. Die Weltbeherrschung, die die Metaphysik erziehlt, bleibt gegenüber der Person äußerlich und mechanisch - ihr Innerstes, ihre Energie ist nicht daran beteiligt. Das Korrelat der Metaphysik entspricht nicht dem „Innersten" der Person. Dieses Korrelat des Innersten der Person, die persönliche Macht, ist allein in der Geschichte zu finden, die ihrem Wesen nach persönliche Wirklichkeit ist. Man beachte jedoch, daß die historische Wirklichkeit nicht als eine vom Werterleben der Person geschaffene religiöse Wirklichkeit die Einheit der Wirklichkeit aufzeigt. Wenn Herrmann die Einheit der Wirklichkeit aufzeigen möchte, vermag er dies entsprechend der transzendentalen Analyse nur in der Ethik zu tun. Das Verhältnis von Ethik und Religion bildet im Denken Herrmanns zumal im Zusammenhang mit der zentralen Frage nach der Einheit der Wirklichkeit ein schwieriger zu analysierendes Problem als das Verhältnis von Metaphysik und Religion. Unter Verwendung des kantischen Begriffs der reinen Erkenntnis läßt sich die Religion in gewisser Hinsicht gegenüber der Metaphysik ziemlich klar abgrenzen. Der Unterschied zwischen Metaphysik und Religion stellt sich klarer dar als der zwischen Religion und (kantscher) Ethik. Herrmann hält nämlich einerseits an der für sein ganzes System grundlegenden Aussage fest, daß die Realität der Wirklichkeit nur behauptet wird, und zwar vom Individuum, das das Selbstgefühl erlebt. Die Einheit der Wirklichkeit liegt im Bedürfnis der Person, sich selbst als ihr eigenes Ziel, als ganze und heile Person zu denken. Da die Person jedoch auf die Sinneswahrnehmung, anders gesagt auf die Natur, beschränkt ist, erlebt sie ihre Ganzheit als bedroht. Im personalen Erlebnis, welches also seinem Wesen nach individuell ist, ist bereits in dem Sinn das ethische Moment enthalten, daß sich gerade in diesem Erleben die Person von der Natur unterscheidet. Die Elemente personaler Ganzheitlichkeit sind also einerseits das (Einheit schaffende) Gefühl und andererseits der (Differenzierung fördernde) Wille. Die kantische Ethik, deren sich Herrmann bei seiner religiösen Reflexion zu bedienen sucht, unterscheidet sehr scharf zwischen Person und Natur. Um seiner Grundintention treu bleiben zu können, müßte Herrmann gleichzeitig am Wesen der Religion als Erleben des Selbstgefühls festhalten und wie bei Kant die Distinktion zwischen Person und Natur auf dem Prinzip der praktischen Vernunft d. h. dem Willen aufbauen können. Das Sinnesvermögen, das die Grundlage der Ethik Kants bildet, ist die Geneigtheit. Uber ihr steht als Vermögen die praktische Vernunft oder der Wille, dessen Prinzip wiederum die bloße Verbindlichkeit oder das Vermögen des Willens ist, allein aus Pflicht zu handeln. Als Ergebnis dieses Vermögens entstehen die Moralgesetze. Die Moralgesetze sind reine Ideen. „Gegenstand" der Ethik ist nicht das Sein, die Welt oder die personale Wirklichkeit, sondern das, was nicht ist: Die Person selbst

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Das Selbstgefühl als letzte Voraussetzung des praktischen Denkens

in vollkommener Freiheit von der Welt. Ethische Sätze bestehen somit weder aus Tatsachenbehauptungen noch aus Werturteilen, sondern aus dem absoluten Sollen, das keinen anderen Grund hat als den, sein zu sollen. Kants Ethik sensu stricto verstanden würde, so scheint es, Herrmanns Begriff des Selbstgefühls verengen. Denn Kants Pflichtethik akzeptiert als Sinnesvermögen des ethischen Subjekts kein anderes Gefühl als das Pflichtgefühl: Den Wunsch, aus reiner Pflicht zu handeln. Die Frage, wie es Herrmann gelingt, an der im Begriff des Selbstgefühls enthaltenen Behauptung, die für sein Denken grundlegend ist, festzuhalten und gleichzeitig die kantsche Ethik zu übernehmen, kann nur anhand einer Analyse des Verhältnisses von Selbstgefühl und ethischem Subjekt bei Herrmann beantwortet werden.

4.3. Das Selbstgefühl und die praktische

Ethik

Wie gezeigt wurde, bietet die Religion bei Herrmann keinen realen Anhaltspunkt im metaphysischen Sinn. Herrmann lehnt den im Schleiermacherschen Religionsbegriff enthaltenen Gedanken ab, daß gerade im religiösen Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit der reale Grund der objektiven Wirklichkeit erreicht werden könne. Die Religion ersetzt die klassische Metaphysik nicht. 56 Eine grundsätzliche Aussage Kants besagt, daß der Mensch kein intuitives Erkenntnisvermögen habe, mit dessen Hilfe er das Ding an sich erkennen könnte. Im Anschluß an die Erkenntniskritik Kants meint Herrmann daher, daß die religiöse „Intuition" als ästhetische Schau diesen Mangel an Erkenntnisfähigkeit nicht aufzuwiegen vermag. Interessanterweise vollzieht der Religionsbegriff Schleiermachers nach Herrmann in Wahrheit eine Rückkehr zur klassischen „griechischen" Denkweise. 57 Er vertritt in seiner Schleiermacher-Interpretation die Auffassung, daß die Religion als Gefühl der Abhängigkeit an die objektive Grundlage der Wirklichkeit, das Universum, gelangt. Die transzendentale Methode Schleiermachers bedeute aber noch nicht, daß die klassische Ontologie bei ihm völlig zerbrochen wäre. Herrmann selbst weist jedoch eindeutig jedweden Gebrauch der transzendentalen Methode zur Absicherung der klassischen Ontologie, wie er ihn bei Schleiermacher 56 GA II, 291: „In der wirklichen Religion dagegen wird Gott niemals als ein Wesen gedacht, das den Menschen zwingt, es anzuerkennen, indem es sich einem aufdrängt. Die religiös behauptete Wirklichkeit ist immer mit der Vorstellung verbunden, daß sie nicht mit menschlichen Mitteln jedem gezeigt werden kann, sondern sich bestimmten Menschen selbst offenbart." 57 R 263.

D a s Selbstgefühl und die praktische Ethik

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festzustellen meint, zurück. Herrmanns eigene Definition der Religion als Selbstgefühl erinnert zwar an Schleiermachers Lösung, die das religiöse Gefühl als die Grundlage aller Erkenntnis ansieht. Indem er jedoch das religiöse Gefühl scharf vom Bereich der theoretischen Erkenntnis abtrennt, stellt Herrmann stärker heraus, daß es sich dabei um ein praktisches Seelenvermögen im Sinne Kants handelt. Auch wenn das Selbstgefühl als grundlegendes Seelenvermögen aller praktischen Erkenntnis das Zentrum der Person ist, tritt es nicht an die Stelle der intuitiven Erkenntnis und ersetzt damit auch nicht die klassische Metaphysik. Das religiöse Selbstgefühl gelangt nicht mit einer Art unmittelbaren Sicherheit an den letzten realen Fixpunkt der objektiven Wirklichkeit, das Ding an sich, mit dem die gesamte Wirklichkeit als Ganzheit erklärt werden könnte, obgleich die Religion dem Individuum das Erleben der Realität seiner eigenen Existenz ermöglicht. 58 Herrmann betont von Anfang an in allen seinen Schriften, daß das im Gefühl anzutreffende Erlebnis der Realität individueller Natur sei und damit als Erlebnis nicht verallgemeinert werden könne. Mit dieser für seinen Religionsbegriff wesentlichen Auffassung unterscheidet er sich von Schleiermacher. Schwerer als eine Abgrenzung zur Auffassung Schleiermachers zu ziehen, fällt der Analyse seines Religionsbegriffes allerdings, die Beziehung zur praktischen Ethik Kants darzustellen. 59 Auch Kant kennt die Vorstellung vom Gefühl als einer „Brücke" zwischen theoretischer und praktischer Vernunft. Das Gefühl ist das Sinnesvermögen der Ästhetik. Auch nach Kant erzeugt das Gefühl, das seinem Wesen nach individuell ist, Werturteile. Das Gefühl des ästhetischen Bereichs ist das Sinnesvermögen, dessen Prinzip die Zweckmäßigkeit ist und auf dessen Grundlage gefällte Werturteile von Urteilsvermögen zeugen. Da das Urteilsvermögen auf einem Gefühl beruht, ist es dem Wesen nach individuell, aber gutes Urteilsvermögen läßt sich auch allgemein (objektiv) feststellen. Obwohl Herrmann dem religiösen Selbstgefühl nicht die Bedeutung eines intuitiven Erkenntnisvermögens zuschreibt, spricht er ihm trotzdem mehr erkenntnistheoretische Potenz zu als Kant. Das religiöse Selbstge-

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R 262: „Sollte trotzdem damit der volle Inhalt der Religion angegeben sein, sollte also die transcendente Einheit des Dinglichen und Geistigen, welche der Mensch bei allem Wirken in der Welt voraussetzt, den eigentlichen Sinn der Gottesidee für ihn bedeuten, so hätte zunächst eine solche Religion auf das persönliche Leben selbst keinen bestimmenden Einfluß. Das letztere bewegt sich um das Lebensziel, dem der Mensch seine Kräfte unterordnet." 59 Siehe z. B. GA II, 293: „Nun hat freilich die strengste Wissenschaft, die Wissenschaft Kants, den Gottesgedanken nicht nur für unentbehrlich, sondern für einen wissenschafdich gesicherten Besitz der Menschheit gehalten. Nicht die Wissenschaft, die wirkliche Dinge im Raum feststellt, kommt dafür in Betracht, sondern die andere, die das eine klarmachen soll, wie unser Wollen wahrhaftig sein kann, also die Ethik."

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Das Selbstgefühl als letzte Voraussetzung des praktischen Denkens

fühl läßt nämlich nach Herrmann „das Vertrauen auf die Zusammengehörigkeit des Geistigen und Dinglichen allem absichtlichen Erkennen und Handeln innewohnen". Es ist eben allerdings nur Vertrauen, welches das praktische Denken der Person in Religion und Metaphysik möglich macht. 60 Das Selbstgefühl gelangt weder in seiner Eigenschaft als Seelenvermögen der Metaphysik noch als spontanes Erlebnis der Religion an seinen objektiven realen Gegenstand. Die Metaphysik ist zwar auf die Welt gerichtet und spricht über sie Werturteile aus, sie erreicht aber trotzdem nicht ihren realen Gegenstand, welcher zudem - folgt man der praktischen Denkweise - im Objekt selbst gar nicht angetroffen werden kann. Auch die Religion, die auf die persönlich erfahrbare Wirklichkeit, d. h. die Geschichte, gerichtet ist, findet darin keine (objektive) Einheit von materieller und geistiger Wirklichkeit. Vielmehr findet das religiöse Selbstgefühl in der Geschichte lediglich das seinem eigenen Erleben entsprechende Korrelat, die Macht, die die Person über die Natur hinaushebt. Im religiösen Selbstgefühl ist erlebnishaft erfahrbar, daß die Person über der Natur steht. Das religiöse Selbstgefühl vermag aber nicht das von der Person erlebnishaft erfahrene Bedürfnis, sich von der Natur abzugrenzen und seine eigene personale Einzigartigkeit zu erhalten, zu verwirklichen. Darin ist zwar bereits ein Werterleben enthalten, das aber nicht im Gefühl selbst als Wert reflektiert werden kann. In getreuer Nachfolge Kants wiederholt Herrmann seine Auffassung, daß das religiöse Selbstgefühl weder objektivierbar noch abstrahierbar ist. Damit ist in entscheidender Weise die Beobachtung verbunden, daß das religiöse Selbstgefühl nicht per se, in einer Art intuitiven Unmittelbarkeit das Ding an sich darstellt, das nach Herrmann der reale Fixpunkt der Wirklichkeit ist. Als einzige Möglichkeit, die letzte reale Einheit der Wirklichkeit begrifflich zu behaupten und aufzuzeigen, bleibt Herrmann - sofern er es versucht - das ethische Prinzip. In der Tat begegnen bei Herrmann zuweilen Aussagen, die in Anlehnung an Kants Begriff der praktischen Ethik besagen, daß die Grundlage aller Wissenschaften eben gerade in der Ethik liegt. 61 Dabei bleibt jedoch

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R 265: „Denn an seiner geschichtlichen Form der Religion möchte es sich bewahrheiten, daß die Gottesidee durch das Bedürfniß vermittelt werde, sich der Einheit des Geistigen und Dinglichen zu versichern, auf welche bei allem Erkennen und Handeln gerechnet werde. Vielmehr muß, wie wir es oben [ . . . ] ausgeführt haben, das Vertrauen auf die Zusammengehörigkeit des Geistigen und Dinglichen allem absichtlichen Erkennen und Handeln innewohnen, ohne daß es in der Regel als ein besonderes Moment des geistigen Lebens ins Bewußtsein zu treten braucht." Κ 122: „Der Eindruck dieser wunderbar gespannten Seele (Jesu) erhebt uns immer wieder zu der Zuversicht, daß ein liebevoller Wille der allmächtige Grund alles Daseins ist und daß wir durch ihn zu einem ewigen Guten, zu einem seligen Leben in sittlicher Freiheit berufen sind." 61 R 2 - 3 (hier von Thomas aus), 12, 205, 250.

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zu beachten, daß Herrmann von „Ethik" in der umfassenden Bedeutung Kants sprechen und dabei allgemeine praktische Wissenschaftsbereiche meinen kann, die auch die Religion einschließen. 62 Diese Aussagen enthalten noch keine Information darüber, ob Herrmann alle Erkenntnis mit der praktischen Vernunft und ihren Prinzipien begründen würde. Die Frage nach der Ethik als Grundlage aller Wissenschaften stellt sich jedoch schon dadurch, daß Herrmann von der „Notwendigkeit" der Ethik spricht. Ethik ist nach Herrmann nur dann Ethik, wenn sie „notwendig" ist. 63 Allerdings ist die Ethik nicht, wie bereits deutlich wurde, notwendig im Sinne der Notwendigkeit der Natur. Herrmann meint, daß die Sittlichkeit des Menschen danach verlangt, scharf zwischen der Naturerkenntnis und der ethischen Erkenntnis zu unterscheiden. Das, was ist (die Natur), ist nicht notwendigerweise das, was sein soll (Ethik). 64 Die klassische Möglichkeit einer natürlichen Ethik schließt Herrmann bereits von vornherein aus. Seine Unterscheidung zwischen Natur und Sittlichem, der er den Stellenwert eines Axioms zuweist, setzt voraus, daß sich die Sittlichkeit nicht aus der Natur ableiten läßt. 65 Diese Vorstellung des Verhältnisses von Sein und Sollen, die sich aus der Denkweise der klassischen Metaphysik in Konsequenz ergibt, lehnt Herrmann strikt ab. Herrmann geht bei seiner Analyse des Wesens der Ethik deshalb auch vom Unterschied zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen aus. Ethische Sätze unterscheiden sich aber nicht nur von den Tatsa-

62 GA II, 293: „Diese Gottesidee, die in dem auf sein ewiges Ziel gerichteten Wollen notwendig entsteht, ist ein Ausdruck wissenschaftlicher Erkenntnis, zwar nicht der Naturwissenschaft, wohl aber der Ethik oder der Geisteswissenschaft." Siehe auch GA II, 298-299. „Das Wichtigste ist offenbar, daß wir wahr zu werden suchen in unserem Wollen, denn das Wollen ist die Lebensbetätigung, die alles andere, was wir zu uns selbst rechen können, umfassen muß." 63 R 137: „Unter dem Sittlichen verstehen wir eine Nothwendigkeit am Wollen." R 140: „Vom Sittlichen zu reden haben wir nur dann ein Recht, wenn wir die Nothwendigkeit am Wollen unterscheiden von der Nothwendigkeit des Geschehens." 64 R 146: „Denn es handelt sich dabei nicht um einen gefühlsmäßigen Zwang, sondern um eine vor dem Denken gerechtfertigte Nothwendigkeit; sonst hat man offenbar nur den factischen Zwang einer psychischen Disposition, also ein bedingtes Naturereigniß, aber nicht die Nothwendigkeit des Sittlichen. Auf der anderen Seite soll diese Nothwendigkeit auch nicht die Begreiflichkeit aus einem größeren Zusammenhange bedeuten. Denn wollte man sie darauf hinausführen, so würde man wiederum stillschweigend einräumen, daß es einen Unterschied zwischen dem Sittlichen und dem natürlichen Geschehen nicht geben könne. Aber die Anerkennung dieses Unterschiedenes wird hier vorausgesetzt. N u r mit dem, der sich auf den Boden dieser Anerkennung stellt, läßt sich über das Sittliche reden." 65 GA II, 293: „Ein Mensch nämlich, der nicht bloß die Natur erkennt, sondern auch von sich selbst fordert, daß das Gute durch seinen Willen im Kampf mit der Natur wirklich werde, hat im Gehorsam gegen dieses Gebot tatsächlich immer den Gedanken, daß das Gute in der Wirklichkeit der Natur sich durchsetzen werde."

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chenbehauptungen über die Natur, sondern auch von den Werturteilen der praktischen Metaphysik und der Religion. Tatsachenbehauptungen über die Natur beziehen sich darauf, wie die Dinge sind; Werturteile im Bereich der Religion und der Metaphysik gelten dem, was der Mensch in der Welt für Wert erachtet; Sätze der Ethik dagegen beziehen sich auf gar nichts, was ist, sondern fordern das, was noch nicht ist.66 Ethische Sätze sind Sätze des Sollens, sie sind weder Tatsachenbehauptungen noch Werturteile. Sie beziehen sich also nicht auf irgendeinen bereits existenten Gegenstand. Wenn dies so wäre, wäre Ethik „Naturethik", was nach Herrmann das gleiche wäre wie die klassische Metaphysik. Hier steht der Gedanke im Hintergrund, daß in der klassischen Metaphysik das Objekt der Ethik, das höchste Gut, dasselbe ist wie das Objekt der Metaphysik: Das vollkommene Ding als letzter Grund der Wirklichkeit. Wenn Herrmann vom „höchsten Gut" spricht, hat dieses nicht die Bedeutung, die ihm in der klassischen Ethik zukommt. Das „höchste Gut" muß vielmehr von der Gesamtkonzeption seiner Denkweise her interpretiert werden, in der es den Inhalt des praktischen Denkens begrifflich zusammenfaßt. „Höchstes Gut" bedeutet die Gesamtheit jener religiösen Werturteile, die das Individuum verwirklichen zu können meint. Das höchste Gut ist also eine Art Summe der Werturteile des Individuums. Es ist nicht dasselbe wie der Endzweck, der bei Herrmann ein ethischer Begriff ist. Der Endzweck ist die Konzeption, die die Person schafft und mit deren Hilfe sie sich selbst von der Natur unter66

Herrmann zitiert Cohen (Kants Begründung der Ethik, S. 140): „Wenn Menschen nicht da wären, so müßte das All der Dinge dennoch einen Endzweck haben. Dieses Gedankens können wir uns schlechterdings nicht entschlagen, da ja die Zweckeinheit unser Erbtheil bleibt, auch wenn wir des Besitztitels der Causalität verlustig gehen. Und bestände selbst dieser teleologische Mechanismus unseres Denkens nicht; so sei dies behauptet das Sittliche ist als eine Realität solcher Art zu denken, daß es bestehen müßte, daß sein Sein sein müsste, auch wenn es kein Dasein gäbe, für das es gälte. Wenn alle Realität der Erfahrung, wenn alles sinnliche Dasein vernichtet wäre: die Grenzen desselbigen im N o umenon würden und müßten bleiben. Wenn alle Natur verginge, die Idee der Freiheit bliebe. Wenn alle Erfahrung abbräche: die ethische Realität soll bleiben." Hier wird also der Unterschied der ethischen Realität von der Natur behauptet - man kann die Natur wegdenken ohne daß das Sittliche aufhörte, wirklich zu sein. Kann es seine Wirklichkeit auch behaupten, wenn man mit der Natur auch den Menschen wegdenkt, der sie vorstellt? Ohne Zweifel müssen wir diese Frage bejahen. Siehe E l l , wo Herrmann in änigmatischer, kaum verständlicher Weise angibt, wo er anders denkt, als Cohen und Natorp: „Von Cohen und Natorp unterscheidet mich erstens eine andere Auffassung der Religion und ihrer Stellung im sittlichen Leben, zweitens die mir feststehende Unmöglichkeit, die Ethik in der Form einer Tugendlehre auszuführen, drittens die Notwendigkeit, die sittlichen Gedanken erst als solche festzustellen, bevor die Frage nach ihrer Wahrheit behandelt werden kann." Siehe auch R 147: „An dem Subject allein, das in seinen Selbstgefühl sein Dasein behauptet [ . . . ] ist das Sittliche verständlich."

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scheidet, m. a. W. sich als geschlossene Einheit aus dem Bereich der Beziehungsbegriffe, d. h. der Tatsachenbehauptungen über die Natur heraushebt. 67 Der Endzweck des Menschen ist also nicht wie die Naturerkenntnis in irgendeiner Beziehung zu etwas anderem denkbar. Beziehungsbegriffe gelten für ihn nicht. Im Bereich der Ethik muß sich der Mensch selbst als eine Gesamtheit denken können, was im Bereich der Natur nicht möglich ist. Auch dieses Sich-Selbst-Denken der Person als Einheit gilt nicht dem unmittelbaren Erreichen ihrer selbst. 68 Der Endzweck, mit dem Herrmann nichts anderes meint als die Person und ihren eigenen Zweck, ihre Persönlichkeit, ist kein Abstraktum. Er bedeutet vielmehr die Freiheit von all jener Wirklichkeit, die abstrahiert werden kann, mit anderen Worten, von jener Wirklichkeit, in der Begriffe in eine Beziehung zu anderen Begriffen gesetzt werden können. 69 Hier kommen wir auf einen entscheidenen Punkt bei der Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Ethik bei Herrmann. Herrmann meint nämlich, daß das Individuum selbst sein endgültiger Zweck sei. Dieses Selbstsein ist auch Kern und Zweck der Religion. Der Mensch kann sich jedoch nicht in der Religion als Endzweck setzen, weil dieses „selbst" nur als Selbstgefühl erfahrbar ist. Wäre aber das Gefühl der Zweck des Menschen, hieße das nach Herrmann, die Religion zu naturalisieren. Nimmt man das Gefühl als Endzweck, verbleibt der Mensch im Bereich der Natur, dort, wo er sich bereits in seiner unmittelbaren Erfahrung von Lust und Unlust befindet. 70 Der natürliche Zustand des Menschen kann aber nicht Zweck der Person sein, da der Zweck ja gerade der Natur widerspricht und über der Natur steht, also etwas, was der Mensch noch nicht ist, sondern was er sein soll. Der höchste und endgültige Zweck des Menschen - er selbst als

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R 157. R 150: „Eine Auflösung der Schwierigkeit scheint erreichbar, wenn der Mensch, für den das Sittliche gelten soll, im Stande wäre, sich selbst als Endzweck vorzustellen. Der Versuch dazu liegt vor in den Religionen. In der practischen Welterklärung der Religion lebt der Gedanke, daß alles Dasein sich müsse auffassen lassen als Mittel zur Verwirklichung der Güter, in welchen der Mensch seinen eigenen Endzweck erkannt hat. Aber dieser Versuch, das bedürftige Subject als unbedingten Endzweck über die Natur zu erheben, endigt, wie sich oben gezeigt hat, nothwendig in der Erkenntniß, daß die blinde Macht des Geschehens Recht behält." Siehe E 17: „Die auf das eigene Selbst gerichtete Tätigkeit, die wir Wollen nennen, verschafft uns erst ein eigenes Leben oder ein Selbst. Wir haben es nur, indem wir es wollen. In dem Wollen ist das Selbst als wirksam gedacht, und in dem Selbst liegt bereits als seine Voraussetzung das Wollen." m R 157: „Der Endzweck ist eine Conception der Person, welche bestrebt ist, ihr Innenleben von der Natur zu unterscheiden, dasselbe als ein in-sich-geschlossenes Ganzes aus dem Gebiet der Beziehungsbegriffe herauszuheben." Siehe auch R 196. Siehe auch E 17. 70 R 143-144. 68

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seine eigene Einheit - kann also nicht im Bereich einer transzendental definierten Religion erlangt werden. Wäre der Zweck des Menschen das vollkommene Selbstsein der Person - in der Religion erreichbar, würde dies die Naturalisierung der Religion bedeuten. Dann wäre der Zweck das vollkommene Gut so, wie es das Individuum aufgrund seiner eigenen Lust erfährt. In die gleiche Richtung zielt nach Herrmann auch die Vorstellung der klassischen Metaphysik von Gott als dem Endziel des Menschen. 71 Herrmann meint, wenn Gott als Endzweck des Menschen gelte, so würde das unweigerlich bedeuten, daß der Mensch im Bereich der Natur verbliebe, dies ergibt sich aus seiner absoluten Unterscheidung zwischen Person und Natur. „Natur" ist immer materielles, nicht-geistiges Objekt; „Person" dagegen geistiges, keineswegs im Bereich der Natur denkbares Subjekt. Gott als ethisches oder religiöses Ziel bedeutet damit die Materialisierung sowohl Gottes als auch des Menschen, ihre Reduzierung auf die Geschöpflichkeit. Beide religiösen Verständnisweisen, das Gefühl oder Gott als Ziel des Menschen bedeuten nach Herrmann die Rückwendung zur Natur. Herrmann hält auch dann, wenn er vom religiösen Selbstgefühl spricht, an der Kritik der Metaphysik fest, die mit großer Gründlichkeit sein gesamtes schriftliches Werk durchzieht. Die praktische Ethik, auf die die Person nicht verzichten kann, setzt diese Kritik der Metaphysik fort. Daß Herrmann die praktische Ethik Kants übernimmt, in der die Person ihr Personseins verwirklicht, scheint zunächst für die Auffassung zu sprechen, daß es ihm vor allem und letztendlich um die Kritik jedweder Metaphysik geht. Die Metaphysik, die, in welcher Gestalt sie auch immer auftritt, die Person bedroht, indem sie sie mit der Natur gleichzusetzen sucht, ist somit möglichst sorgfältig aus der Theologie fernzuhalten. Darin liegt aber nur ein Aspekt bei Herrmann. Auf einen anderen stoßen wir in seinem Bemühen, eine praktische Denkweise zu konstruieren, in der das religiöse Selbstgefühl zwar eine zentrale Rolle spielt,

71 R 150: „Aber dieser Versuch, das bedürftige Subject als unbedingten Endzweck über die Natur zu erheben, endigt, wie sich oben gezeigt hat, nothwendig in der Erkenntniß, daß die blinde Macht des Geschehens Recht behält. Die Gottheit, deren zweckvolles Handeln den Sieg des Menschen über die Natur darstellen soll, ist in ihrem Wesen selbst nichts weiter als Natur. Die Güter, welche sie vertritt, sind die Reflexe von Lusterfahrungen, die an eine bestimmte Weise des Geschehens, an eine besondere Gestaltung des Menschenlebens geknüpft sind. Sobald daher die unermeßliche Bedingtheit dieser Gestaltung ins Bewßtsein tritt, muß die freudige Erhebung in ein unverstandenes Verhängniß weichen. Die Gottheit wird zur Natur, und der Mensch, der sich als Endzweck denken wollte, resignirt in der Anerkennung eines ziellosen Geschehens. In dieser Entwicklung erscheint die Religion als der vergebliche Versuch des Menschen, sich als Endzweck über die Natur zu erheben."

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aber allein noch nicht ausreicht. Tatsächlich ist Herrmann bestrebt, die Beziehung von Religion und Ethik von deren eigenen Voraussetzungen her zu skizzieren, und die Verwendung der praktischen Ethik Kants beschränkt sich nicht nur auf eine abschließende Kritik der Metaphysik. Würde Herrmann die kantische praktische Ethik lediglich als eine Fortführung der Kritik der Metaphysik betrachten, zerflösse seine grundlegende Auffassung von der Religion als Erleben des Selbstgefühls ins Nichts. Auch das religiöse Erleben ist Metaphysik, wenn nicht das sittliche Sollen der Person einbezogen wird. Herrmann entscheidet die Frage nach dem Verhältnis zwischen Religion und Ethik, indem er an seiner Behauptung festhält, daß die Person ihr Ziel an sich ist und dieses Ziel im religiösen Erlebnis zwar zu erfahren, nicht aber zu verwirklichen ist. 72 Die Religion braucht also die Ethik, um ihr eigenes Ziel, das Personsein der Person, zu erreichen. Religion und Ethik stehen somit bei Herrmann in einem engen Verhältnis zueinander, anders als Religion und Metaphysik. Eine Person kann die Metaphysik lediglich zur mechanischen Beherrschung der Welt verwenden, die Ethik benötigt sie jedoch zur Aufrechterhaltung ihres eigenen „Innersten" und dessen Unversehrtheit. Die Religion braucht also nach Herrmann die Ethik, um ihr eigenes Ziel zu erreichen, nämlich daß der Mensch Person ist und seine Einheit erhält. 73 Das Wesen der Naturreligion ist das Gefühl, welches nur als Lust oder Unlust erfahren werden kann. Wenn die Lusterfahrung als Kriterium für die Zwecke und Ziele des Menschen gilt, könnte die Person nicht vom natürlichen Wesen des Menschen abgegrenzt werden. Der religiös verstandene Zweck des Menschen macht die Religion naturalistisch, und zwar unterschiedslos, ob man nun das Gefühl oder Gott als den höchsten Zweck des Menschen ansieht. Das religiöse Bewußtsein des Menschen ist nämlich nur Bewußtsein des im Gefühl erfahrbaren Erlebnisses, obgleich dieses Erlebnis als solches den Grundwert des Menschen, sein Personsein, begründet. Allerdings kann der Mensch nur im Bereich des Gefühls, mit anderen Worten in der Religion sich real als Person erfahren, als in sich ruhende Ganzheit, die von der Natur unterschieden ist. Um diesen Grundwert, sein eigenes Sein als Person zu verwirklichen, braucht der Mensch neben der Religion die Ethik, die diese Verwirklichung durchführt. Der Zweck des Menschen, d. h. das sich von der Natur als Person unterscheidende, unversehrte Individuum verwirklicht sich nur in der Sittlichkeit. 74

72 GA II, 297: „Diese Gewissenforderung, die uns auf den einzigen Weg weist, auf dem wir Gott finden können, lautet: Sei wahr in dir selbst." 73 GA II, 305: „Es ist doch wohl klar, daß wir nur dann wirklich etwas erleben können, wenn wir überhaupt ein eigenes Leben wollen." 7i R 146.

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Das Selbstgefühl als letzte Voraussetzung des praktischen Denkens

Herrmann betont, daß sich das Wesen der Religion als unmittelbares Erleben des Selbstgefühls nicht ändert, obwohl es sich nur in der Sittlichkeit verwirklicht. Er behauptet also, daß das in der Religion enthaltene Lusterlebnis erhalten bleibt, auch wenn seine Verwirklichung erst im sittlichen Sollen geschieht. Die Religion ist unmittelbare Lusterfahrung sowie das darin unmittelbar enthaltene Werterlebnis der eigenen personalen Existenz. Um den Grundwert, die eigene personale Unversehrtheit zu verwirklichen, braucht das Individuum ein Mittel, das ihm hilft, sich selbst zum Zweck zu gestalten. Dieses Mittel ist die praktische Ethik, mit der es dem Menschen möglich ist, seine eigene Person „zu rechtfertigen", mit anderen Worten, sich als von der Natur unabhängiges Wesen zu denken. Sittlichkeit bedeutet also für den Menschen die Möglichkeit, sich selbst als jene Person zu denken, die er in seinem eigenen Lusterlebnis bereits unmittelbar erfährt. Diese Lust ist im naturreligiösen Erlebnis selbst aber noch unbewußt. Für Herrmann ist somit Ethik die Reflexion des religiösen Werterlebnisses. Sie ist ein Mittel der Religion, das dem Menschen ermöglicht, sich selbst zu denken. 75 Herrmann versucht jenes Problem zu lösen, das sich aus seiner Definition der Religion als unmittelbarem Erlebnis und Kants Definition der Ethik als unbedingtem Sollen aus reiner Pflicht ergibt. Indem er die praktische Ethik Kants lediglich als ein Mittel der Religion begreift und nicht meint, sie enthalte in sich die Idee der Wahrheit, ganz zu schweigen davon, daß die Ethik das Fundament der Religion bilden könnte, kann Herrmann an seiner Auffassung, die Religion sei unmittelbares Werterlebnis, festhalten. Zugleich kann er aber auch sagen, daß die Ethik notwendig ist. Ihr kommt schon Notwendigkeit an sich zu, aber auch sie ist notwendig als Mittel zum Zweck des Menschen, sein Personsein im Unterschied zur Natur zu etablieren und zu erhalten. Die Ethik ist also in Herrmanns Verständnis einerseits ein Mittel der Religion, mit dessen Hilfe sich das Individuum von der Person zur Persönlichkeit entwickelt. Andererseits ist sie als ein eigenes Momentum des Bewußtseins der Religion jedoch nicht unterstellt, sondern eine selbständige Funktion des Bewußtseins.76 Herrmann kann sehr gut zugeste75 R 149: „Also auf ein Verständnis des Sittlichen werden wir nur rechnen dürfen, wenn wir im Auge behalten, daß seine Nothwendigkeit für Personen gilt, d. h. für denkende Wesen, welche im Selbstgefühl ihr Dasein genießen und von diesem Mittelpunkt aus die Beziehungen desselben bestimmen. Was für ein Bestimmungsgrund seines Willens kann nun für ein solches Wesen als nothwendig gelten? N u r derjenige, welcher als unumgängliches Mittel f ü r den Selbstzweck der Person gedacht wird. Er ist auf jeden Fall um ihretwillen nothwendig." Siehe auch E 18: „Unser eigenes Wollen ist nur das, dessen Zielsetzung ein Akt unserer Selbstbehauptung ist. Aber die Verbindung zwischen einem veränderlichen Ziel des Wollens und unserem Selbst knüpft das Gefühl." 76 Sittlichkeit und Religion liegen auf verschiedenen Ebenen: „Denn eines eigenen Lebens

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hen, daß die Ethik als Funktion des Bewußtseins ohne Religion existiert, wie auch die Religion als eine eigene Kategorie ohne Ethik existiert. 77 Das Verhältnis von Ethik und Religion ist das der gegenseitigen Wechselwirkung zweier selbständiger Bewußtseinsmomente, die ein gemeinsames Ziel erreichen wollen. Ethik und Religion werden durch das eine Ziel miteinander verbunden: das Personsein der Person. In der Ethik wird das Ziel der Person jedoch auf andere Weise verfolgt als in der Religion, welche den Menschen noch nicht über die Natur „hinaushebt". Auch die Ethik braucht die Religion, um wirksame Bedeutung zu erlangen. Ohne Religion ist die Ethik lediglich abstraktes Denken ohne konkrete Bedeutung. 78 Herrmann weist so die Auffassung Kants zurück, die Religion sei in der Idee einer abstrakten Ethik begründet. 79 Damit sei, meint Herrmann, die Religion nicht mehr auf die Wirklichkeit gerichtet, sondern ziele nur auf ein denkbares Ideal. Der Ethik an sich käme keine konkrete, mit dem realen Leben des Menschen zusammenhängende Bedeutung mehr zu für seinen Kampf gegen Schuld und um seinen Selbstwert. Auch verlöre die Religion, würde sie in der Weise Kants begründet, ihr eigentliches Wesen: Die Würdigung des unmittelbaren Selbstgefühls, welches das Ideal mit dem empirischen Menschen zusammenbringt. 80 Die Religion ist somit das Erlebnis des empirischen, konkreten Menschen, in dem er erfährt, daß er als in seinem eigenen Selbst existente Person, als reale Einheit keinem anderen Wesen unterstellt ist und mit Gott über der Natur steht. In der Religion erfährt sich der Mensch selbst als sein eigenes Ziel, das den Zwecken keines anderen Wesens untergeordnet werden kann, weil es in Gottes Zweck eingeordnet ist. Religion und Ethik sind also durch den einen und selben Zweck verbunden: Die Unterscheidung der Person von der Natur, obgleich beide diesen Zweck auf unterschiedliche Weise verwirklichen. Sie sind auf einander angewiesen, ohne dabei jedoch ihren eigenen Charakter aufzugeben. 81

sich bewußt sein, ist zwar unlöslich damit verbunden, daß man sich ein eigenes Leben zur Aufgabe macht, es ist aber etwas anders als dieses. Jene ist Religion, dieses ist Sittlichkeit." GA II, 244. 17 R 231. 78 R 212. " Siehe Kant, KpV 5:129; Religion 6:153; Metaphysik der Sitten 6:443: Philosophische Religionslehre nach Pölitz 28:1102: „Religion ist [ . . . ] das Erkenntniß aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote." 80 R 207. 81 R 196: „Das Sittengesetz bedeutet für den Menschen seine Erhebung zur Persönlichkeit. (Das bedeutet:) Es ist nicht der Ausdruck dessen, was er ist, sondern dessen, was er sein soll." Siehe R 156, 157, 159; E 37: „Denn wenn wir überhaupt die Sittlichkeit auffassen, stellt sie sich uns dar als eine Art des Lebens, die sich selbst von dem natürlichen abgrenzt"

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Das Selbstgefühl als letzte Voraussetzung des praktischen Denkens

In der Ethik verwirklicht sich der Zweck des Menschen, er selbst, mit Hilfe des „notwendigen Gesetzes". Mit dem „notwendigen Gesetz" meint Herrmann kein objektives Gesetz, sondern das Gesetz, das sich die Person selbst auferlegt, um sich als freies Subjekt denken zu können. 82 Das Gesetz ist für das Personsein des Menschen auch in dem Sinne notwendig, weil er es braucht, um sich seines eigenen Personseins bewußt zu werden. Auch wenn Herrmann der Meinung ist, daß die Person in ihrem Selbstgefühl und Wollen so spontan ist, daß sie sich selbst Gesetze geben kann, ist sich die Person doch nicht, bevor das Gesetz ist, ihrer eigenen Persönlichkeit bewußt, mit anderen Worten ihrer Freiheit von der Natur. Erst im Beachten des Gesetzes erschließt sich der Person ihre eigene personale Wirklichkeit: die Freiheit. 83 Nach Herrmanns Verständnis der praktischen Ethik sind der Geber, der Befolger und der Inhalt des Gesetzes letztlich derselbe. Es verlangt vom Individuum nichts anderes, als sich selbst als seinen eigenen Zweck zu verstehen. Der Inhalt des Gesetzes ist also die Freiheit; aber erst im Beachten des Gesetzes, was einer absoluten Unterwerfung unter das Gesetz gleichkommt, erkennt die Person ihre Freiheit. Die Freiheit der Person liegt im Vermögen des Willens, seine eigenen Gesetze aufzustellen und einhalten zu können. Das Gesetz verlangt von der Person gerade, sich von allem, was zur Natur gehört, zu lösen, die Beachtung des Gesetzes zeigt aber zugleich, daß der Mensch von vornherein gar nicht zur Natur gehört. 84 Ohne das Gesetz, dem sich der Mensch vollkommen hingibt, ist ein Erkennen der Freiheit nicht möglich. Das Gesetz ist also, wenn die Person ihre eigene Freiheit reflektiert, das Mittel. Das Gesetz als Mittel zu verstehen, bedeutet aber nach Herrmann keine Relativierung des Gesetzes. Es ist kein beliebiges Mittel, das man gebrauchen kann oder auch nicht, sondern in gewissem Sinne ein „absolutes Mittel". Die freie Person muß eine Vorstellung davon haben, daß sie selbst das Gesetz aufzustellen und ihm selbst auch zu 82 R 157: „Nur dann ist die Person im Stande, ihr inneres Leben in dem Gedanken des Endzwecks abzuschließen, wenn sie ihr Wollen einem unbedingten Gesetze unterworfen denkt. In ihrem Wollen, in allen einzelnen Zwecksetzungen desselben will die Person sich selbst." 83 R 163: „Die Wirklichkeit der practischen Gesetze wird nicht auf irgend eine Anschauung zurückgeführt, auch nicht auf die innere Anschauung der psychologischen Erfahrung, sondern lediglich auf den Begriff des Daseins des vernünftigen Willens in einer intelligibeln Welt, d. h. den Begriff der Freiheit." E 45: „Die Form unseres Wollens müssen wir also als eine alle vernünftige Wesen umfassende Ordnung oder als allgemeingültig denken können. Eine Art des Wollens, die sich nicht als zu einer ewigen Ordnung ausgebreitet denken läßt, ist nicht sittlich." 84 R 165: „Aber als Subject sittlicher Erfahrung können wir uns ja, wie sich gezeigt hat, erst dadurch denken, daß wir das unbedingte Gesetz als Bestimmungsgrund unseres Willens voraussetzen." E 44-45.

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folgen vermag. 85 Das Vermögen, Gesetze zu erlassen und zu beachten, bedeutet gerade, daß der Mensch als Person über der Natur steht. Die Geschöpfe unterscheiden sich von der Person, da sie mit kausaler Notwendigkeit einem Gesetz folgen, das sie nicht selbst gesetzt haben. Sie unterstehen etwas anderem, und sind somit nicht wie die Person frei, sich selbst ein Gesetz zu erlassen. 86 Wenn Herrmann vom Vermögen des Willens spricht, das Gesetz zu schaffen und zu beachten, meint er allerdings nicht den natürlichen Willen. Das ethische Gesetz und das Vermögen des Willens, es zu halten, sind lediglich Ideale. Herrmann meint, daß der Wille als solcher, als natürlicher Wille, nicht imstande ist, das Gesetz zu halten. Vielmehr erlangt er eigentlich erst dann das Vermögen, das Gesetz zu halten, wenn er es wirklich tut. Das Erlassen und Halten des Gesetzes sowie das Vermögen, das Gesetz zu halten, sind somit ein und dasselbe Ereignis. Der Wille selbst „existiert" vor dem Akt der Einhaltung des Gesetzes gar nicht. Auch er ist eine Art Denknotwendigkeit. Die Notwendigkeit des Gesetzes liegt gerade darin, es zu halten, weil das Gesetz von der Person fordert, frei zu sein, auch wenn sie es von Natur aus nicht ist, sondern erst im Akt des Sollens wird. Daß der Wille das Gesetz zu befolgen vermag, ist zugleich ein Zeichen für seine Freiheit, sich dem Gesetz, das er selbst setzt, zu unterwerfen. 87 Herrmanns Verständnis des Moralgesetzes folgt konsequent der Kritik der Gesetzmäßigkeiten der Natur, die er sich in seiner Kritik der Metaphysik zu eigen gemacht hat. Das Gesetz, wie auch der Wille, der sich ihm unterordnet, steht über allem kausalen Naturgesetz. Herrmann weist auch die Möglichkeit zurück, das Moralgesetz könnte in irgendeiner übergeschichtlich-kausalen Bedeutung notwendig sein. Die Notwendigkeit des Gesetzes ist eben gerade die „Notwendigkeit der Freiheit", die die Person von der Natur unterscheidet. Das Gesetz verleiht der Person die Möglichkeit, sich als frei zu denken. Das notwendige Moralgesetz ist damit zugleich die Voraussetzung für das praktische Denken. 88

85

R 166. R 176. 87 R 189: „Also die vernünftige Person, welche sich einen eigenen Willen zuschreibt, wird in der Reflexion auf diesen Act, in welchem sie ihr Selbstsein vollzieht, auf die Idee der Freiheit geführt. Es ist möglich, daß sich die Person in dieser Anmaßung eines eigenen Willens täuscht; aber unleugbar ist dieselbe (Person) mit der subjectiven Ueberzeugung von ihrem Selbstsein gesetzt. Der Gedanke eines eigenen Willens läßt sich aber nur durchführen in demjenigen einer Unabhängigkeit von Naturursachen, oder der Freiheit." Siehe auch R 255. E 47: „Ein Mensch ist offenbar nur dann vertrauenswürdig, wenn er nach dem Gesichtspunkt, der in jener Formel ausgedrückt ist, das, was er tun soll, selbst findet und sich vorschreibt" 88 R 205. 86

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Nach Herrmann zielt das Moralgesetz nur darauf, daß die Person sich selbst als frei denken kann. Der Inhalt des Moralgesetzes ist die Freiheit der Person, und diese ist nichts anderes als die Loslösung von der Kausalität der Natur. Der Inhalt der Freiheit läßt sich nicht zum Gegenstand einer Kontrolle machen, da er gerade das letzte Subjekt allen Erkennens und Tuns ist. Das letzte Subjekt kann nie zum Objekt der Uberprüfung gemacht werden. Indem das Gesetz den Menschen auffordert, frei zu sein, zeigt es auf eine Grenze, die nicht überschritten werden kann. Die Person, die das Gesetz aufstellt, ist eine ihren Wert kennende und zum spontanen Wollen befähigte Person, die das Gesetz als Mittel benötigt, um sich ihres Personseins und zugleich ihrer Freiheit bewußt zu werden. Bewußtwerden heißt hier nicht, daß die Freiheit größer würde, was nach Herrmann zu bedeuten hätte, daß das letzte Subjekt objektivierbar wäre. Bewußtwerden bedeutet weder das Erkennen des Subjekts in sich noch in einem anderen Individuum. Die vom Gesetz der Freiheit geforderte Freiheit ist kein Begriff. Erforscht werden kann nur der Gedanke der Freiheit, nicht die Freiheit selbst. 89 Am besten zeigt sich in Herrmanns praktischer Ethik die Intention seines Denkens. Es ist die letzte Kritik der Metaphysik und ihre Uberhöhung. Herrmann möchte aus der Ethik jedenfalls jedwede Metaphysik mit Stumpf und Stiel ausrotten, wenn er sagt, daß auch der Wille kein Ding sei, das zeitlich vor dem Gesetz existiere. Selbst wenn Herrmann vom Selbstbewußtsein der Person spricht, geht es nicht um die Erkenntnis irgendeiner bereits vorhandenen Entität. Der Wille geht also nicht im eigentlichen Sinne dem Gesetz voraus, auch wenn Herrmann meint, daß der Mensch als natürliches Wesen, als Gefühl und Wille in der Tat ein gewisses spontanes Vermögen hat. 90 Wille und Gesetz bilden vielmehr gleichsam einen Kreis: Der Mensch selbst stellt das Gesetz auf, das sein Selbstsein rechtfertigt; zugleich geben ihm das Gesetz und die unbedingte Hingabe erst den Willen und die Freiheit. Das Halten des Gesetzes bringt den Menschen auf den Gedanken, daß er frei ist, das Gesetz aufzurichten und zu halten. Das Halten des Gesetzes hebt den Menschen über die Natur hinaus, da es ihm die Idee seiner eigenen Freiheit vermittelt. Herrmann vergißt nicht, immer wieder zu betonen, daß die Freiheit, die den Inhalt des Moralgesetzes ausmacht, weder als natürliche noch als übernatürliche zum Objekt der Betrachtung gemacht werden kann. Im Grunde genommen deutet er alles, auch das transzendentale Sein,

89 R 255: „Dieser Gedanke der Freiheit aber bedeutet, daß das unbedingte Gesetz des Willens den Menschen, indem es ihn zum Bewußtsein seiner Persönlichkeit aufruft, an diejenige Grenze seines Denkens geführt hat, welche f ü r ihn als Person eine absolute ist." 90 E 88. Mahlmann (1986, 169, 13-21) ist der Meinung, Herrmann ändere später seine Auffassung.

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als Metaphysik. Mit anderen Worten hält er alles objektivierende Denken für ein Denken über die Natur. Deshalb sagt seine praktische Denkweise an keiner Stelle etwas über den Gegenstand aus. Gegenstand und Zweck gehören als Begriffe verschiedenen Denkweisen an. Ersterer gehört zur metaphysisch-ontologischen, letzterer dagegen zur praktischen Denkweise. Der Zweck der Ethik, die Person als Persönlichkeit d. h. als vollkommene Freiheit, ist kein Gegenstand, sondern die Notwendigkeit der Person, sich selbst als Person denken zu müssen. Die praktische Ethik bildet bei Herrmann die letzte Kritik der klassischen Metaphysik, in der jegliches Denken über das Ding an sich ausgemerzt wird. Herrmann gelangt in seiner Ethik zu der Auffassung, daß die Einheit der Vernunft nicht einmal im Sinne der praktischen Vernunft der Einheit der Wirklichkeit entspricht. 91 Die letzte Realität der Wirklichkeit, sie mag als die Grundlage der Einheit oder das Ding an sich bezeichnet werden, kann weder reflektiert noch gedacht werden. Obwohl Herrmann mit seiner in der praktischen Ethik enthaltenen Kritik der Metaphysik kantischer als Kant zu sein scheint, d. h. die Idee der praktischen Ethik für die bloße Möglichkeit praktisch zu denken hält, lehnt er doch den Gedanken einer Einheit der Wirklichkeit nicht ab. Auch nach dem sorgfältigen und abschließenden Vollzug der Metaphysikkritik und ihrer Besiegelung durch seine praktische Ethik, bleibt der Gedanke einer letzten Einheit der Wirklichkeit als grundsätzliche Aussage bestehen. Herrmanns Vorgehen ist deshalb durchweg im üblichen Sinne erkenntnistheoretisch und nicht ontologisch. Die letzte Kritik der Metaphysik bedeutet auch nicht, daß Herrmann meinen würde, die Wirklichkeit sei letzten Endes eine. Er hält sich vielmehr konsequent an die kantische Kritik der praktischen Vernunft, die besagt, daß das Ding an sich nicht erkannt werden kann, bestreitet aber dennoch nicht dessen Existenz. Herrmann meint, daß auch die praktische Denkweise, den Gedanken der Einheit der Wirklichkeit voraussetzt, was irgendwo eine Einheit zwischen Materialität und Spiritualität erfordern würde. Dies ist jedoch eine Voraussetzung, die weder zum Objekt einer Überprüfung noch der Erkenntnis gemacht und ebensowenig bewiesen werden kann. Auch wenn die Ethik den Personbegriff verallgemeinert und zugleich der Religion den Charakter einer allgemeinen Denkweise zuweist und sie in diesem Sinne auch der wissenschaftlichen Begründung unterstellt, ist sie für Herrmann weder in einem metaphysischem noch rationalem Sinne notwendig. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die Einheit der Wirklichkeit eine Voraussetzung ist, auf die man nur vertrauen kann. Die Einheit der Wirklichkeit ist „Gegenstand" des Vertrauens und nicht irgendeine exi-

" Siehe Mahlmann 1986, 170, 42-45.

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Das Selbstgefühl als letzte Voraussetzung des praktischen Denkens

stente Einheit. In diesem Sinne bleibt das religiöse Erleben der erste und der letzte Grund der Einheit der Wirklichkeit. In ihm wird der Wert und die Einheit der eigenen Person erlebnishaft erfahren. Letzten Endes gibt die praktische Ethik ebenfalls keine größere Gewißheit, auch wenn sie das Personsein der Person entwickelt und verwirklicht. Der Punkt der Wirklichkeit, an dem sich die Doppelheit des Lebens, d. h. Person und Natur schneiden, ist allein eine Angelegenheit des Vertrauens und des Erlebens. Es gibt keinen Weg, ihn zu beweisen. Herrmanns Auffassung, daß die Ethik der Religion Allgemeingültigkeit verleiht, darf daher nicht so verstanden werden, als daß in der Ethik Gottes Existenz bewiesen werden könne. Herrmann wirft hier besonders Kant vor, die Religion mit dem Begriff der Freiheit ethisch begründen zu wollen. 92 Die Religion könne aber nicht mit einem ethischen Apriori begründet werden, und aus einem ethischen Apriori folge auch nicht unweigerlich eine Gottesvorstellung, obwohl der Gedanke der Freiheit zum Gedanken eines vollkommenen Wesens führt. Herrmanns Kant-Kritik offenbart an dieser Stelle anschaulich sein eigenes Interesse. Im Gegensatz zu Kant meint er, daß gerade die Religion die Brücke und die Ethik der Verwirklicher ist. Der in der Religion zu spürende Selbstwert der Person ist der, den die Ethik vervollkommnet: Die wahre Religion führt zur Ethik, aber nicht unbedingt umgekehrt. Die Ethik an sich führt nicht zur Religion, sondern ist eine unabhängige Wissenschaft, die nicht unbedingt etwas mit der Religion zu tun hat. Herrmann weist also die ethische Begründung der Religion im Sinne Kants zurück. Religion und Ethik, sagt er, haben ihre eigenen Funktionen als Momente des Bewußtseins, auch wenn sie in gegenseitiger Wechselwirkung verbunden sind. Die Religion braucht die Ethik, um ihren Zweck zu verwirklichen. Das Moment der Religion, das Erlebnis des Selbstwertes der Person, bleibt auch unabhängig von der Ethik immer erhalten. Die Religion richtet sich, wie es ihrem eigenen Wesen entspricht, auf die Wirklichkeit bzw. die Werturteile, die sie schafft. Auf diesem Pfad verwirklicht sich ebenfalls die Ethik. Auch sie braucht die Religion, um praktikabel zu sein. Nach Herrmann ist daher eine ethische Konzeption von Freiheit, die ohne die Werturteile der Religion auszukommen meint, abstrakt. 93 Auch 92

R 260: „Und zugleich ist damit ein Mißverständniß abgewehrt, gegen welches die kantischen Ausführungen nicht genügend schützen, als ob nämlich religiöse Ueberzeugung durch verständige Erwägung, welche man vom Standpunkte des sittlichen Bewußtseins aus anstellt, erzeugt werden könnte. Die sittliche Person hat nicht nöthig, auf der Brücke irgend welcher Argumente zur Religion zu gelangen." 93 R 246: „Nur die Aneignung des Sittengesetzes durch den lebendigen Menschen, d. h. durch ein Selbstgefühl, welches von der Natur in verschiedenartige Schwingungen versetzt wird, läßt das Urtheil, daß das Gute die Macht über die Welt sei, hervortreten, und zwar als die unumgängliche Voraussetzung für ihre eigene Entwicklung. Aus der sittlichen Ge-

Das Selbstgefühl und die praktische Ethik

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die Ethik braucht also die Religion, denn obwohl die Religion kein notwendiges Moment der Ethik ist, kommt ihr allein keinerlei konkrete, empirische Bedeutung zu. Ohne Religion ist die Ethik eine reine Abstraktion. Im Blick auf Herrmanns Grundanliegen verdient festgehalten zu werden, daß er das Wesen der Religion nicht auf die Ethik zurückführt. Die Religion ist also, auch wenn sie eine Brücke für die Ethik darstellt, nicht lediglich die Schwelle, welche die Person auf dem Weg zu einem höheren Bewußtsein überschreitet. Herrmann hält im Zusammenhang mit der autonomen kantischen Ethik an der Eigenart der Religion fest; daraus geht hervor, daß er sein kritisches Denken beibehält. Im Grunde genommen führt er die kantische Erkenntniskritik noch weiter, auch wenn seine Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Religion im Verhältnis zur Ethik eine eigenständige Lösung darstellt. Entsprechend dieser Kritik ist es zwar nicht möglich, zum letzten Subjekt aller Erkenntnis zu gelangen, doch zeigt die Ethik die Grenze dieses Subjekts. Eigentlich begründet sie nur das Subjekt, welches als Gegenstand gedacht nichts ist. Es ist das reine Subjekt, in seiner vollkommenen Freiheit, als sein eigenes Ziel. Die Ethik übernimmt also innerhalb der Überlegungen Herrmanns vor allem eine kritische Funktion, auch wenn sie gleichzeitig auf die Reflexion des Inhalts der Religion gerichtet ist. Sie zeigt vor allem, daß das Subjekt des praktischen Denkens nicht objektivierbar ist. Die Analyse der praktischen Ethik Herrmanns zeigt, daß es keinen Weg gibt, das letzte Subjekt allen Denkens zu abstrahieren. Es ist die vollkommene Freiheit der Person, Freiheit von der Natur und jeglicher Objektivierung. Das Ding an sich kann also auch nicht im Subjekt selbst gefunden werden. 94 Dies ist implizit bereits bei der Definition der Religion gesagt, wo es heißt, daß die Religion im Werterlebnis des Individuums besteht. Die praktische Ethik bestätigt, daß jedwedes objektive Denken abgewehrt wird, wenn das Individuum den Ausgangspunkt des Denkens bildet. 95 Dies bedeutet, daß niemals die Gesamtmenge aller sinnung für sich gedacht, läßt sich jenes Urtheil nicht ableiten, weil dieselbe immer darauf gerichtet ist, sich das Sittengesetz in seiner abstracten Allgemeinheit als unbedingtes Gesetz zu vergegenwärtigen." Siehe auch R 231, 247, 258, 268-270, 320, 345. 94 Das Ding an sich ist der Anknüpfungspunkt, den die Person für sich als notwendig erachtet, um sich als praktisch denken zu können: „Der Begriff des Dinges an sich ist also nur zu rechtfertigen als ,ein Standpunkt, den die Vernunft sich genöthigt sieht, außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als practisch zu denken'." R 64. 95 R 205: „Wenn das Sittengesetz die wenn auch verborgene Voraussetzung f ü r alles Denken ist, welches die Realität des persönlichen Lebens zu behaupten sucht und auf die Kultur und Pflege seines Inhaltes gerichtet ist, so ist auch die religiöse Weltanschauung solange excentrisch, als sie nicht um jenen Mittelpunkt der geistigen Welt sich bewegt." Siehe R 206, wo es heißt, daß diese Reflexion „sich mit unerbittlicher Gewalt" in allen Religionen „geltend macht".

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Das Selbstgefühl als letzte Voraussetzung des praktischen Denkens

religiösen Werturteile zusammengestellt werden kann, ungeachtet dessen, daß sie in der Ethik reflektiert werden können. Religiöse und ethische Werturteile bleiben sonst letztlich auf der gleichen Ebene wie die Tatsachenbehauptungen der reinen Erkenntnis über die Natur. Tatsachenbehauptungen schreiten diskursiv von einem Ding zum anderen in der Weise voran, daß das vorhergehende Subjekt zum Prädikat des nachfolgenden wird und kein realer Anknüpfungspunkt besteht. Religiöse Werturteile wiederum zielen auf die Realität der Person, die lediglich ein Objekt des Sollens, nicht aber des Seins ist. Das höchste Gut läßt sich also nicht untersuchen oder analysieren, sondern es wird immer nur im ethischen Befolgen des Gesetzes bewahrt, was nichts anderes bedeutet als die vollkommene Freiheit des Menschen von der Natur. Aus der Perspektive der praktischen Ethik kann der Inhalt der Religion bei Herrmann kurz folgendermaßen beschrieben werden: Das Ziel der Religion, Person zu bleiben d. h. die Ganzheit der Person herzustellen und zu bewahren, kann letzten Endes nur von einem solchen Moralgesetz her verstanden werden, das von der Person verlangt, die totale Freiheit zu verwirklichen und zu leben. Das höchste Gut ist also auch aus der Sicht der Ethik nicht irgendein objektives Ziel - was ja bereits der Begriff der reinen Erkenntnis ausschließt - sondern ein Zweck, den sich das Individuum selbst setzt, um seine Identität zu wahren. Die „Selbstbewahrung" der Person ist keine Bewahrung des Natürlichen oder Physischen, sondern des Personseins der Person, anders gesagt, das Verbleiben als Individuum, das nicht von der Natur abhängig ist. Diese sich in der Sittlichkeit vollziehende Reflexion der Person bedeutet nach Herrmann nicht, daß sich das personale Ich im Sinne der Erkenntnislehre Cohens ausdehnt, sondern daß das Ich von allem, was zur Welt gehört, unterschieden ist. 96 Die Erkenntnis, die die Person von der Welt gewinnt, wächst nicht mit dem ethischen Bewußtsein, weil dieses Bewußtsein immer über die Welt zum „Uberweltlichen" hinausweist. Der Wille als ethisches Subjekt bildet somit nicht den letzten realen Fixpunkt der Erkenntnis, die vor allem im Gedanken der die Welt überschreitenden ethischen Person liegt. Das Bündnis zwischen Religion und praktischer Ethik ist von wesentlicher Bedeutung für Herrmanns Christentumsverständnis, wie es in seiner systematischen Theologie zur Darstellung kommt. Für Herrmann selbst ist von entscheidender Wichtigkeit, daß Religion und Ethik praktisch als Grundlage der gesamten Dogmatik angesehen werden. Wer von einer richtigen Definition der Beziehung zwischen Religion und Ethik ausgehe, könne nämlich den christlichen Glauben authentisch als historischen Glauben darstellen. Herrmanns vertritt einen wesentlich apolo96

R 178; 254.

Das Selbstgefühl und die praktische Ethik

115

getischen Religionsbegriff, denn er versucht, den wahren historischen Charakter des christlichen Glaubens entsprechend der allgemeinen Denkweise seiner Zeit aufzuzeigen und zu begründen. Diese Begründung sei allen Menschen, die ihrer Person bewußt geworden sind, gleichsam von selbst einleuchtend. Da Herrmann eine wesentliche Aufgabe der Dogmatik in der Apologie sieht, kommt der praktischen Begründung des christlichen Glaubens in der dogmatischen Methodenlehre eine entscheidende Stellung zu. Herrmann knüpft mit dieser Methode an die vorherrschende transzendentale Denkweise seiner Zeit an, um sie dann in seine eigene praktische Denkweise umzugestalten. Herrmann meint auch, daß die Dogmatik ihre allgemeine Begründbarkeit aus der praktischen Ethik, die allen Menschen gemeinsam ist, erhält. Das religiöse Selbstgefühl, das alle Personen von Natur aus teilen, reiche für eine allgemeine Begründung des christlichen Glaubens nicht aus, da das religiöse Erlebnis seinem Wesen nach individuell ist. Dagegen biete die Ethik einen allen gemeinsamen Begründungszusammenhang. Die Aufgabe der Dogmatik sieht Herrmann in der Darstellung des historischen christlichen Glaubens als absolutem Glauben, das Fundament aber, auf dem er seine Dogmatik errichtet, ist der Gedanke der praktischen Ethik. 97 Ausgehend von seinem praktischen Denken setzt sich Herrmann also die Begründung des christlichen Glaubens als eines echten historischen Glaubens zur Aufgabe. Die praktische Bestimmung der Religion betrifft noch nicht den spezifisch christlichen Glauben, sondern umschreibt den allen religiösen Erlebnissen gemeinsamen Faktor. In seiner Begründung des praktischen Christentums wird das Verhältnis zwischen Spontaneität und Rezeptivität der Religion zum Problem. Wenn das religiöse Erlebnis bereits a priori in jedem Individuum vorhanden ist, was kann dann die historische Religion mit ihrer Offenbarung Neues bringen? Es führt kein Weg an dieser Frage vorbei, auch wenn man Herrmanns Begründung des praktischen Christentums als Kritik jeglicher Metaphysik versteht, die einer echten historischen Offenbarung Raum geben möchte. Herrmann ist in seiner Kritik der klassischen Metaphysik der Meinung, daß ihre Form und Sprache auch die inhaltliche Deutung des klassischen Dogmas beeinflussen, und eine entsprechende Frage ergibt sich auch im Zusammenhang mit der praktischen Begründung des Christentums. Herrmanns praktische Denkweise ist im Wesen philosophisch. Sie berührt nicht spezifisch den historischen Inhalt des christlichen Glaubens. Für die Analyse seiner Dogmatik lautet daher die eigentliche Frage, wie sich der Inhalt des historischen Christentums und das religiöse Erlebnis sowie der Inhalt der beide reflektierenden praktischen Ethik zueinander verhalten?

,7

Vgl. Mahlmann 1986, 268, 52-169, 1-51. Siehe auch GA I, 187.

5. Die praktische Denkweise und der christliche Glaube 5.1. Das historische

Christentum

als Negation

der

Metaphysik

Herrmanns praktische Denkweise bringt ein systematisches Problem mit sich, das folgendermaßen formuliert werden kann: Das Bedürfnis des Individuums macht es erforderlich, die Wirklichkeit als Einheit aufzufassen. Doch läßt sich die Einheit der Wirklichkeit nicht metaphysisch begründen. 1 Die Kritik der Metaphysik führt letztendlich zu einem Bestreiten der Einheit der Vernunft, ungeachtet ob die Vernunft, wie es die klassische Metaphysik tut, als Intellekt oder entsprechend dem transzendentalen Idealismus apriorisch verstanden wird. Herrmann hält aber unbedingt an dem Gedanken fest, daß die Einheit der Wirklichkeit zu fordern sei, weil dies dem Bedürfnis des Individuums entspreche. Im Selbstgefühl des Individuums ist das Erlebnis des Seins als Person, d. h. als von der Natur unterschiedenem Individuum, enthalten. Das Individuum vermag jedoch in seinem Selbstgefühl dieses Erlebnis nicht zu reflektieren und auch nicht die darin inhärente Sittlichkeit zu erfüllen. Dazu ist vielmehr ein Sittengesetz vonnöten, das Herrmann entsprechend der kantischen Idee der praktischen Vernunft versteht. Die praktische Ethik reflektiert zwar das im Selbstgefühl des Individuums enthaltene Werterlebnis, dessen hauptsächlicher Inhalt die Freiheit von der Natur ist, sie vermag aber doch nichts anderes anzubieten als die Idee der Freiheit. Sie bringt also nicht selbst konkret diese Freiheit. Nach Herrmann vermag die praktische Ethik Kants, so unverzichtbar sie bei der Reflexion des Glaubens auch ist, keinen Anknüpfungspunkt für die Einheit der Wirklichkeit aufzuzeigen. Mit anderen Worten, aus der Idee der praktischen Vernunft läßt sich kein Gottesbegriff ableiten, auch wenn die Idee von der freien Person zum Gedanken eines vollkommenen Willens führt. Bei dieser Idee handelt es sich jedoch nicht um Gott, denn Gott kann laut Herrmann nicht gedacht werden. Nur das Christentum als geschichtliche Religion vermag sowohl das Streben der Person nach 1

M 30: „Denn eine Einigung der dort mit richtigem Takt beschlossenen Gegensätze durch eine wissenschaftliche Formulierung ihrer Einheit wäre nur dann erreichbar, wenn diese Einheit jemals f ü r sich zur Erfahrung käme und nicht bloß in der Wechselbeziehung von Freiheit und Abhängigkeit im Christenleben offenbar wäre."

Das historische Christentum als Negation der Metaphysik

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vollkommener Freiheit zu verwirklichen als auch zugleich eine Antwort auf das Bedürfnis der Person nach Einheit der Wirklichkeit zu geben. 2 Herrmanns Auffassung, der christliche Glaube könne als geschichtliche Religion sowohl dem Einzelnen wirkliche Freiheit bringen als auch aufzeigen, wie die Wirklichkeit in „genuiner" Weise als Einheit zu begreifen sei, ist allerdings nicht ganz problemlos. Das faktische Christentum, das Christentum als „bloße" Geschichte, verlangt doch nach der gesamten Metaphysikkritik, die Herrmann in seiner Theologie auch sonst vertritt. Mit seinem Anliegen, den christlichen Glauben als faktische geschichtliche Religion zu begründen, erhebt sich analog wieder das gleiche Problem, das schon bei der Untersuchung der Grundvoraussetzungen seines Denkens erkennbar wurde. Das „reine" geschichtliche Christentum, das Herrmann skizziert, tritt nur unter den Bedingungen seiner Metaphysikkritik auf. Es entsteht nur, wenn alle metaphysischen Elemente entfernt sind. Um Herrmanns Auffassung an diesem Punkt verstehen zu können, muß seine Metaphysikkritik und ihre Voraussetzung umfassende Berücksichtigung finden. Es wurde ja bereits deutlich, daß die Metaphysikkritik Herrmanns eine sehr verwickelte Problematik enthält. Auch wenn die Linie dieser Kritik in ihrer Unbedingtheit und in der bis zuletzt durchgehaltenen Konsequenz gut erkennbar ist, stellt sie doch nur die eine Hälfte seiner Überlegungen dar. Baute er seine Auffassung vom faktischen geschichtlichen Christentum allein auf einer direkten Kritik der Metaphysik auf, getreu dem Motto „weg mit aller Metaphysik", so wäre seiner Argumentation leicht zu folgen. Das geschichtliche Christentum würde dann aus den Ruinen der Metaphysikkritik entstehen. Diese Kritik ist aber eben nur die eine Seite der praktischen Begründung des christlichen Glaubens bei Herrmann. Er stellt nämlich nicht nur seine Sicht vom faktischen geschichtlichen Christentum in den Raum, sondern führt zugleich dem ethisch aufgeklärten Individuum, das die Frage nach der Einheit der Wirklichkeit stellt - eine Hinterlassenschaft der klassischen Metaphysik - , die Bedeutung des Christentums vor Augen. Im Blick auf das geschichtliche Christentumsverständnis Herrmanns erhebt sich folgendes Problem: Herrmann behauptet einerseits in Weiterführung seiner Kritik der Metaphysik, daß das genuine Christentum „bloße" Geschichte sei, gibt aber gleichzeitig zu verstehen, daß es eben gerade der geschichtliche christliche Glaube ist, der auf die Frage des Einzelnen nach der Einheit der Wirklichkeit und das Wesen dieser Einheit Antwort gibt. Der christliche Glaube ist sowohl positiv verstandene 2 M 28: „Durch ein metaphysisches Verfahren, welches eine so singulare Situation durch allgemeine Begriffe zu klären sucht, die über den Bereich derselben weit hinausgreifen, wird daher gerade das Unveräußerliche darangegeben."

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Die praktische Denkweise und der chrisdiche Glaube

Geschichtlichkeit als auch eine Weltanschauung, die Denkelemente enthält. Eine Untersuchung dieser Problematik muß bei Herrmanns Voraussetzungen des praktischen Denkens ansetzen. Wichtige Momente dieses Denkens liegen in der Kritik aller Metaphysik und zugleich im Gedanken an das Werterlebnis, das im Selbstgefühl der Person verborgen ist und das erst im Moralgesetz seine Reflexion und Umsetzung findet, alle diese Momente sind organisch verbundene Bestandteile seines denkerischen Ansatzes. Wird das Christentum als geschichtliche Religion verstanden, richtet sich diese Auffassung verständlicherweise in erster Linie gegen ein solches Christentumsverständnis, in dem das klassische Dogma eine zentrale Stellung einnimmt. Herrmann hält das klassische Dogma im Sinne des der gesamten neoprotestanten Schule gemeinsamen Vorverständnisses für die metaphysische Gestalt des Christentums. Ganz im Sinne der Grundaussage der Neoprotestanten hält er das klassische Dogma für eine Verunstaltung des ursprünglichen Christentums, dessen „Hellenisierung". 3 Dieses Dogma, so heißt es, verlasse das ursprüngliche Verständnis des Evangeliums, weil ein Dogma nur in der „Formulierung" der klassischen Metaphysik überhaupt möglich sei. Die philosophische „Formulierung" sei in diesem Falle nicht nur eine sprachliche oder äußerliche Angelegenheit, sondern reiche bis in den Kern und die Substanz des christlichen Glaubens hinein. Das klassische Dogma, das nach der neoprotestantischen Schule nur in der Formulierung der klassischen Metaphysik möglich ist, sei, meint Herrmann, selbst Metaphysik. Als ein Beispiel für den metaphysischen Charakter führt Herrmann in diesem Zusammenhang die Aussage von Gott dem Schöpfer an. In der Interpretation des Satzes „Gott ist der Schöpfer" unterscheidet Herrmann nicht zwischen philosophischer und theologischer Bedeutung. 4 Was das Dogma über Gott den Schöpfer und die Metaphysik über den ersten Urgrund der Welt aussagen, ist dasselbe. 5 Da Herrmann die ausgedehnte 3 M 27: „Das Verfahren, welches die Reformation anwandte, gehört der Metaphysik an . . . ihr kommt es zu, die Widersprüche in unseren in gleicher Weise bezogenen Begriffen zu lösen." Vgl. auch Ritsehl, A. 1870. 4 M 48: „Man wird aber in der Theologie immer wieder in die Gefahr geraten, nach einem metaphysischen Ausgleich zwischen der kreatürlichen Freiheit und der hervorbringenden Kausalität Gottes zu suchen, wenn man in dogmatischem Eifer den Ursprung und die Geltung dieser Begriffe im Christentum übersieht. Sobald die Urteile, daß Gott die Welt schafft und leitet und daß der Mensch einen freien Willen hat, als Produkte wissenschaftlicher Erkenntnis oder als Sätze allgemeinmenschlicher Erfahrung feststehen, so liegt für die Metaphysik die Aufgabe vor, den Weg zu zeigen, wie sich die Aussage über einen Teil der Welt mit der über das Weltganze vermitteln läßt." 5 M 28: „Der Begriff einer absoluten Determination des Endlichen durch das Unendliche ist möglichst verschieden von der im Christentum erlebten Abhängigkeit des Erlösten von Gott."

Das historische Christentum als Negation der Metaphysik

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theologiegeschichtliche Diskussion über das Verhältnis von philosophischem und theologischem Gottesbegriff nicht kennt, folgert er, daß Gott als Schöpfer nur in den Denkkategorien der klassischen Metaphysik ausgesagt werden kann. In einer Dogmatik, die mit metaphysischen Mitteln denkt, kann der historische Inhalt des Christentums nicht vom philosophisch-metaphysischen Inhalt getrennt werden; der theologische Gottesbegriff ist vielmehr zugleich der metaphysische Seinsbegriff: Gott ist der letzte Erklärungsgrund für die metaphysische Wirklichkeit, von dem alle Dinge ihr Sein erhalten. Der christliche Glaube wird, in der Fassung des Dogmas, zur Erkenntnis über die Welt. Darin sieht Herrmann den Niedergang des Christentums und überhaupt aller Religiosität. 6 Herrmann verbannt den Satz „Gott ist der Schöpfer" aus seiner Theologie. Damit versucht er, unter Zuhilfenahme der Kritik der klassischen Metaphysik im Sinne der Programmatik der neoprotestantischen Schule das ursprüngliche Evangelium und den ursprünglichen christlichen Glauben aus der Schale der Metaphysik zu befreien. Da die klassische Metaphysik Herrmann zufolge in der Lehre der Kirche und der klassischen Dogmatik eine einflußreiche Stellung einnimmt, besteht die Herausarbeitung des ursprünglichen Christentums zugleich in einer absoluten Kritik der Metaphysik. Herrmann äußert diese Kritik kategorial in seiner Begründung des praktischen Religionsbegriffes, die zugleich die Prinzipienlehre seiner Dogmatik darstellt. 7 Von besonderer Wichtigkeit ist ihm selbst dabei die erste Hälfte dieser Prinzipienlehre, die Befreiung des „genuinen" Inhalts des christlichen Glaubens mit Hilfe der Metaphysikkritik. Der „genuine" christliche Glaube, so behauptet Herrmann ganz auf dieser Linie, sei eine geschichtliche Religion, die keinerlei metaphysischer Begründung bedürfe. Eine metaphysische Begründung des Christentums bedeute eo ipso seine „Philosophisierung", so daß gleichzeitig Charakter und Inhalt des „genuinen" christlichen Glaubens verloren gingen. Diese Argumentationslinie, in der das Verhältnis von Metaphysik und Christentum ausschließlich negativ dargestellt ist, führt zur Auffassung, daß der christliche Glaube als geschichtliche Religion „als solcher" faktisch nur dann echt ist, wenn er nicht metaphysisch begründet wird. Das geschichtliche, „faktische" Christentum wird im Grunde einfach dadurch erreicht, daß jegliche Metaphysik vollständig aus der Theologie

6

M 27. M 48: „Subjekt der christlichen Religion ist nun aber nicht der mit Freiheit begabte Mensch überhaupt, sondern der Mensch, welcher in der freien Entscheidung zum Guten die unendliche Wirklichkeit des höchsten Gutes erlebt hat. Diesem allein kann die christliche Religion dienen wollen; vor ihm allein hat daher auch die Theologie die bei der Darstellung jener verwandten Begriffe zu rechtfertigen." 7

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Die praktische Denkweise und der chrisdiche Glaube

entfernt und das „bloße" geschichtliche Christentum zum Gegenstand der Theologie erhoben wird. Wäre das die Auffassung der Theologie von Herrmann, ließe sie sich nur als eine unbedingte bis in die letzte Konsequenz durchgehaltene Kritik der Metaphysik verstehen. Dann wäre auch die praktische Ethik ihrem Wesen nach lediglich als kritische Ethik zu verstehen, als etwas, in derem Bereich keinerlei Einheit der Vernunft geschaffen oder nach den Prinzipien dieser Vernunft gefragt werden könnte. In gewissem Sinne ist dieses Verständnis der Prinzipienlehre von Herrmanns Dogmatik auch richtig. Die Metaphysikkritik droht nämlich jedes kreative Interesse aus seinem Denken völlig zu vertreiben. In seiner Prinzipienlehre ist diese Dekonstruktion jedoch bei weitem nicht die ganze Wahrheit. Die Metaphysikkritik bleibt nämlich nicht auf der Ebene der Prinzipienlehre stehen, nur um dort das individuelle Erleben zu betonen, dem auf der inhaltlichen Seite des Christentums lediglich die Geschichtlichkeit des Christentums entsprechen würde. Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, daß Herrmann schon in seiner praktischen Religionsdefinition das individuelle religiöse Erlebnis fest mit der praktischen Ethik Kants verknüpft. Diese Definition hat weitreichende Folgen für seine Dogmatik. Sie darf daher nicht allein als „existenz-kritisch" angesehen werden. Auch darf seine Theologie nicht mißverständlich als bloße Manifestation eines positivistischen Christentumsverständnisses gelten. Herrmann strebt einerseits in seinem praktischen Denken eine „Befreiung" des Christentums als geschichtlicher Religion aus der Bevormundung der Metaphysik an. Andererseits läßt er jedoch nicht von der Auffassung ab, der christliche Glaube biete gerade als geschichtliche Religion eine Antwort auf die Frage nach der Unversehrtheit der Person und nach der Einheit der gesamten Wirklichkeit an. In seinem Bemühen, mit Hilfe der Metaphysikkritik das „bloße" Christentum ans Licht zu bringen, zeigt sich zugleich Herrmanns Position, derzufolge das historische Christentum die Antwort auf jene unausweichlich von der Person gestellten Frage enthält, auf die weder die Metaphysik noch die praktische philosophische Ethik eine Antwort zu geben weiß. Der christliche Glaube ist nicht nur die absolute Religion, sondern die christliche Botschaft ist für alle aufgeklärten Menschen auch die Antwort auf das Bedürfnis, die Wirklichkeit als eine Einheit zu denken. 8

R 275-276.

Das geschichtliche Christentum und die Einheit der Wirklichkeit

5.2. Das geschichtliche und die Einheit der

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Christentum Wirklichkeit

Herrmanns apologetisches Anliegen, demzufolge der christliche Glaube gerade als geschichtliche Religion eine Antwort auf die brennende Frage des Menschen nach der Einheit der Wirklichkeit bietet, hat ein Christentumsverständnis zur Voraussetzung, das im Sinne der allgemeinen wissenschaftlichen Denkweise liegt. Eine Begründung des christlichen Glaubens aus allgemeinen Denkprinzipien heraus kann auch nicht nur äußerliche, sprachliche Formulierung oder die Einkleidung christlicher Wahrheiten in eine allgemeinverständlichere Form sein, sondern wirkt sich als Methodologie der Dogmatik auf die gesamte Deutung des Christentums aus. Herrmann sagt daher auch explizit, daß er in seiner Apologie des Christentums auf Kants Idee der praktischen Ethik zurückgreift. Der Gedanke einer Dogmatik als Apologie findet somit seine Stütze in der praktischen Ethik, die den christlichen Glauben allen moralisch wachen Personen verständlich macht. 9 Seine Intention, den christlichen Glauben als Antwort der ethisch aufgeweckten Person auf die Frage nach der Einheit der Wirklichkeit zu verstehen, scheint Herrmann zu einer Interpretation des Christentums im Sinne der kantischen Ethik zu führen und seine eigene grundlegende Überlegung, die Religion sei ein selbständiges Moment des Bewußtseins, überflüssig zu machen. Herrmanns Versuch, ein geschichtliches Christentum zu skizzieren, das gleichzeitig eine allgemein anerkannte Weltanschauung ist, scheint bereits auf der Ebene der Prinzipienlehre an der Frage nach dem Verhältnis von Religion und Ethik auseinanderzubrechen. Hielte Herrmann lediglich am individualistischen Erlebnischarakter der Religion fest, müßte auch der christliche Glaube als geschichtliche Religion als eine relativistische Sammlung von Erzählungen verstanden werden, die lediglich als Inspirationsquelle für das Erleben des Individuums dient. Forderte Herrmann aber vom Christentum einen gesamtweltanschaulichen Charakter, müßte er die kantischen Prinzipien der praktischen Vernunft als Vorverständnis für eine Deutung des Christentums akzeptieren. Er versucht jedoch, beide Aspekte gleichzeitig gelten zu lassen. Der christliche Glaube ist geschichtlich, d. h. nicht metaphysisch zu begründender Glaube, bietet aber gerade als geschichtlicher Glaube dem Menschen eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Wirklichkeit.

9 Siehe R 265, wo Herrmann sagt, daß die Einheit der Wirklichkeit der Gegenstand des Vertrauens ist. Wenn auch die Religion nicht auf die metaphysische Frage antwortet (R 262), so tut dies doch die Ethik, (obgleich die Antwort der Ethik nicht in dem Sinne, wie Herrmann „Metaphysik" definiert, metaphysisch ist). R 254; 232. Siehe auch R 155.

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Die praktische Denkweise und der christliche Glaube

Herrmann hält also an seinem Standpunkt fest, daß der christliche Glaube und sein Inhalt, das Gottesverständnis, nicht mit der kantischen Idee der praktischen Ethik begründet werden kann. Er meint, die praktische Ethik Kants sowohl bei der Explikation des Erlebnisses des religiösen Selbstgefühls als auch entsprechend bei der Explikation des Inhalts des geschichtlichen Christentums verwenden zu können, ohne sich bei der Begründung des Gottesbegriffes auf die Prinzipien der praktischen Vernunft im Sinne Kants stützen zu müssen. Die Ethik Kants ließe sich nach Herrmann als allgemeine Wissenschaftssprache der Zeit in eine Gesamtkonzeption des christlichen Glaubens einordnen, ohne daß ihre grundlegenden Prinzipien schon von allem Anfang an den Gesamtcharakter des Christentums vorbestimmen würden. Herrmann bedient sich zwar der kantischen praktischen Ethik, um den christlichen Glauben für den wissenschaftlich aufgeklärten Menschen „salonfähig" zu machen, überläßt aber die Religion ebensowenig völlig dem Machtbereich der Ethik, wie er das Christentum dem der Metaphysik zuordnet. Herrmann verknüpft die Fragen nach der Geschichtlichkeit und der antimetaphysischen Ausformung des Christentums so eng miteinander, daß er es als unmöglich betrachtet, den christlichen Glauben ausgehend vom Prinzip der praktischen Ethik Kants begründen zu können. In diesem Sinne sind Geschichtlichkeit und Metaphysik wie Feuer und Wasser: Sie schließen einander aus. Nach Herrmann führt keine Brücke von einer wie auch immer gearteten Metaphysik zum geschichtlichen Christentum. Schon der junge Herrmann meint, daß im Religionsbegriff Kants ein zu einer metaphysischen Grundanschauung führendes rationalistisches Element enthalten sei. Es ist also nicht so, daß er seine Metaphysikkritik erst in späteren Jahren auch allgemein auf den Gedanken der Einheit der Vernunft ausgeweitet hätte und damit der subjektiv-erlebnishafte Religionsbegriff quasi die Folge dieser Kritik wäre. Die Kritik an Kant wird bereits in seinen frühen Schriften klar formuliert und offenbart zugleich sein eigenes Interesse. Er ist aufrichtig bestrebt, im Rahmen des praktischen Denkens jene Definition des Verhältnisses von Religion und Ethik zu korrigieren, die seiner Auffassung nach wie in der Philosophie Kants zum Rationalismus führt. Die gleiche Kritik wird auch an Schleiermacher geübt, der - trotz des an sich richtigen Gebrauchs der kantischen „philosophischen Methode" - keine echte positive Begründung des christlichen Glaubens geliefert habe. Schleiermacher kehre deshalb, meint Herrmann, zur „griechischen Kosmologie" zurück. An den im schleiermacherschen Religionsbegriff enthaltenen metaphysischen Elementen könne man sehen, daß er die klassische Metaphysik und die klassische Dogmatik billige. In seinem ästhetischen Religionsverständnis meine Schleiermacher, daß die Religion die Einheit der objektiven materiellen und geistigen Wirklichkeit immanent in der Welt

Das geschichtliche Christentum und die Einheit der Wirklichkeit

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erfasse. Die Religion nehme so bei ihm den Platz der Metaphysik ein. E r habe damit aber noch nicht in genügendem Umfang die „transzendentale Denkweise" Kants übernommen, obwohl er die Religion als Selbstbewußtsein transzendental begründe. Jedoch enthalte diese transzendentale Begründung bereits ein „objektives" Element. Die Religion als „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit" sei auf die reale Einheit der Wirklichkeit ausgerichtet. Herrmann gesteht allerdings ein, daß sich Schleiermacher mit seiner transzendentalen Denkweise von der klassischen Metaphysik unterscheide, nur gelange er dann zum gleichen Ergebnis wie die klassische Metaphysik, nämlich zu der Auffassung, daß die Wirklichkeit objektiv erfaßt werden könnte. 1 0 Herrmanns Kant- und Schleiermacherkritik richtet sich vor allem darauf, daß es ihm möglich scheint, auch in der transzendentalen Philosophie zu einer metaphysischen Grundanschauung zu gelangen. Selbst wenn das Gefühl als Subjekt der Religion verstanden wird, kann dies, so Herrmann, zur Metaphysik führen, wie beispielsweise bei Schleiermacher. 11 Ebenso führe der auf dem abstrakten ethischen Prinzip Kants aufbauende Religionsbegriff zum Rationalismus. Auch Kant beurteilt er, da er in ihm einen Rationalisten sieht, als Metaphysiker. 1 2 Wenn er die Religion im ethischen, in einem dem absoluten Sittengesetz folgenden Subjekt begründet sehe und daraus einen übergeschichtlichen, höchsten Willen, d. h. Gott, folgere, meine Kant, daß im O b j e k t des religiösen Subjekts ein „objektiver", rationaler Gegenstand, in dem die Einheit der Wirklichkeit erreichbar sei, feststellen zu können. Auch bei Kant sei G o t t Gegenstand der Vernunft, und also solcher sei er metaphysische Einheit der Wirklichkeit. Herrmann weitet mit solchen Aussagen seine Kritik der Metaphysik auf die Einheit der Vernunft überhaupt aus, unabhängig, ob die Vernunft wie in der klassischen Metaphysik grundlegend vom Objekt her definiert wird oder ob die Einheit der Vernunft, wie die Transzendentalphilosophie annimmt, a priori in der Vernunft selbst gegeben ist. 13 Herrmanns Metaphysikkritik scheint also zu einer Auflösung der Einheit der Ver-

10 R 2 8 1 - 2 8 2 . Siehe C 152. Schriften I, 325. Dort hält Herrmann Schleiermachers Glaubenslehre für eine Fortsetzung der Scholastik, auch wenn er ihm zugesteht, im Verständnis der Begriffe Religion und Lehre weiter gekommen zu sein als seine Vorgänger. 11 M 43: „Beide Theologen [Schleiermacher und Pfleiderer] werden mit Notwendigkeit dazu gezwungen, den Unterschied von Naturursache und freiem Willen zu verleugnen." 12 R 288: „Unter Rationalismus verstehen wir hier im Allgemeinen dasjenige theologische Verfahren, welches über die Geltung der religiösen Wahrheit nach Maßstäben entscheidet, die nicht aus der Religion selbst erzeugt werden können." 13 M 45: „Eine Zerstörung der christlichen Weltanschauung ist die unausbleibliche Folge des konsequent durchgeführten Versuches, ihre einzelnen Momente aus der Einheit des Weltgrundes zu begreifen."

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Die praktische Denkweise und der christliche Glaube

nunft zu führen. Zugleich aber scheint es, als ob er mit einer gewissen Unnachgiebigkeit auch die Auffassung besiegelt, derzufolge der Wirklichkeit ein dualistischer Charakter zukommt. 14 Andererseits hält er aber auch, wie man weiß, die Auffassung, daß die "Wirklichkeit eine Einheit bildet, für ein Bedürfnis der Person, das nach Antwort verlangt. Es verdient, festgehalten zu werden, daß beide Auffassungen schon in den frühen Schriften Herrmanns zu finden sind. Man kann also nicht sagen, daß Herrmanns Kritik am rationalistischen Denken Kants und Schleiermachers nur in seine Spätphase fiele, wobei der junge Herrmann dann den christlichen Glauben noch transzendental von den apriorischen Prinzipien der Vernunft her begründen würde. Herrmann nimmt vielmehr von seinen ersten schriftlichen Äußerungen an zur Frage nach dem Ort der Religion Stellung, wenn er die Religion transzendental-praktisch analysiert. Das Aufzeigen der Einheit der Wirklichkeit steht von der frühesten Phase an im Brennpunkt seines Interesses. Seine doppelgleisige Denkweise liegt bereits im Ausgangspunkt seines Denkens und zeigt sich auch in seiner Dogmatik, der er einerseits zur Aufgabe stellt, den christlichen Glauben als genuin geschichtliche Religion zu präsentieren, was er mit einer strengen bis in die letzten Konsequenzen reichenden Metaphysikkritik durchgeführt. Andererseits muß die Dogmatik aber auch ihrem Wesen entsprechend apologetisch orientiert sein, m. a. W. sie setzt voraus, daß die Begründung des christlichen Glaubens und seine inhaltliche Darstellung im Einklang mit der allgemeinen wissenschaftlichen Denkweise erfolgt. Bei der Erfüllung dieser Aufgabe benötigt die Dogmatik wenn keine Metaphysik, so doch die praktische Ethik. Nur liegt das Prinzip der praktischen Ethik Kants eben in der praktischen Vernunft oder im Willen, der Begriffe als Ideen zu schaffen versteht. Der innere Widerspruch in Herrmanns Theologie - eine im individualistischen Erleben des Selbstgefühls begründete Religion, die jedoch auf wissenschaftlich akzeptable Weise zu explizieren ist - zieht sich als ein grundlegendes Problem durch alle Ebenen seines Werkes. Herrmann meint, mit der Zurückweisung von Kants Idee der praktischen Vernunft als Prinzip des Christentums auch die in seiner praktischen Philosophie enthaltene Metaphysik abwehren zu können, die er als Rationalismus qualifiziert. Seiner eigenen Metaphysikkritik treu bleibend richtet er seine Kritik ebenso auf den Rationalismus Kants wie den

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M 44: „Denn diese [christliche Religion] wird nur erlebt im Zusammenhang mit einem Akte des Willens, durch welchen sich derselbe für unser Bewußtsein von aller Natur unterscheidet. Indem daher die Theologie sich als Metaphysik der Religion geriert und durch die gemeinsame Deutung aus der hervorbringenden Kausalität Gottes den charakteristischen Unterschied der Freiheit vom Naturleben aufhebt, so macht sie die christliche Religion wenigstens nach Kräften unmöglich."

Das geschichtliche Christentum und die Einheit der Wirklichkeit

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Schleiermachers, der seine Begründung des christlichen Glaubens bedroht. Kant und Schleiermacher vermochten, trotz ihrer „an sich richtigen transzendentalen Denkweise", einer Metaphysik nicht zu entgehen, die den historischen Inhalt des christlichen Glaubens rationalisiert. Herrmann meint deshalb auch, daß es Kant und Schleiermacher letztlich nicht gelungen sei, den christlichen Glauben als geschichtlich-absolute Religion zu begründen, sie seien vielmehr in einem transzendentalen Rationalismus, also in Herrmanns Augen einer „Metaphysik" verhaftet geblieben. Kant sei trotz seiner an sich richtigen Prämissen nicht zu einem positiven Christentum gelangt, obwohl seine Philosophie aus dem Glaubensverständnis der Reformation herrührt und seine autonome Ethik an sich dem Christentum nicht widerspricht. 15 Nach Herrmann ist es eher so, daß der christliche Glaube erst dann rechtens ist, wenn er sich selbst mit der automonen Ethik noetisch begründen kann. Kants Fehler sei jedoch, daß seine Religionsauffassung auf einer abstrakten Ethik beruhe. Wenn Kant von der Möglichkeit der Person, sich dem unbedingten Sittengesetz hinzugeben, den vollkommenen Willen, den Willen Gottes ableitet, weist er damit der Religion einen transzendentalen Ort zu. Kant endet damit letztlich in einer metaphysischen, wenn auch transzendental-praktisch begründeten Religion. Herrmanns Überlegungen, was Kant veranlaßt haben könnte, bei der praktischen Begründung der Religion diesen Fehler zu begehen, bieten auch Hinweise auf seine eigene Lösung. Das Problem Kants liege darin, meint Herrmann, wie die Beziehung von Religion und Ethik definiert wird. Kant hält das Selbstgefühl für ein der Natur zugehörendes Moment des Bewußtseins und meint daher, die Religion nicht vom Begriff des Selbstgefühls her ableiten zu dürfen, sondern auf der Idee einer abstrakten Ethik aufbauen zu müssen. Wird die Religion jedoch in einer abstrakten Ethik begründet, dann leidet ihre geschichtliche und empirische (erfahrungsmäßige) Dimension. Bei Herrmann selbst entsprechen die Begriffspaare religiöses Selbstgefühl (praktische Begründung) und geschichtliches Christentum (Dogmatik) sowie praktisches Sittengesetz (praktische Begründung) und weltanschauliche Bedeutung des Christentums (Dogmatik) einander. Er baut seine Sicht von der Geschichtlichkeit des Christentums damit auf der praktischen Überlegung auf, daß die Religion Erlebnis des Selbstgefühls ist. Herrmann setzt, wenn er diese Auffassung argumentativ begründet, derzufolge der christliche Glaube als geschichtliche Religion der ethisch aufgeklärten Person eine Antwort bietet, die Gültigkeit beider Begriffspaare voraus.

15

R 260, 284-289.

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Die praktische Denkweise und der chrisdiche Glaube

5.3. Das religiöse Selbstgefühl

und das geschichtliche

Christentum

Herrmann hält an seiner grundlegenden Auffassung fest, der christliche Glaube sei genuin geschichtliche Religion, was bedeute, daß er nicht metaphysisch begründet werden könne. Die Fragen nach der Geschichtlichkeit und der Metaphysik des Christentums stehen wie Gegenseiten zueinander. Wie Fichte stellt auch Herrmann die metaphysische und die geschichtliche Denkweise konträr einander gegenüber. Die „Geschichtlichkeit" enthält keinerlei metaphysische Elemente, und kein Weg führt mit der Metaphysik zu einer Begründung der geschichtlichen Wirklichkeit. Herrmann meint vielmehr, die Geschichtlichkeit des christlichen Glaubens durch die Verurteilung jeglicher metaphysischer Denkweise begründen zu können. Der Gipfel der Kritik liegt in der Ablehnung des ethisch begründeten Religionsbegriffes Kants als rationalistischer Metaphysik. 16 Geschichtlicher Charakter des Christentums und Metaphysik schließen sich also gegenseitig aus. Uberhaupt ist „Geschichtlichkeit" etwas, das nicht metaphysisch begründet zu werden braucht. Um dies darzulegen, muß Herrmann allerdings das ganze Arsenal seiner Metaphysikkritik, wie es in seiner praktischen Definition der Religion zum Ausdruck kommt, ins Feld führen. Die Geschichtlichkeit des Christentums erwächst bei ihm demnach aus den Ruinen der Metaphysik. Seine Haltung zur Geschichtlichkeit läßt sich gut in den Satz fassen: Wo die Metaphysik endet, da beginnt die Geschichte. 17 Gerade die Metaphysik sei, meint Herrmann, das Hindernis für die Geschichtlichkeit und müsse daher als erste aus dem Weg geschafft werden. Auch wenn er von der Geschichtlichkeit des Christentums wie von einer Tatsache spricht, die nicht begründet zu werden braucht, nimmt er trotzdem an, daß die Transzendentalphilosophie sie mit ihren Mitteln hätten begründen müssen. Allerdings sei bisher keiner der bedeutendsten Transzendentalphilosophen aller richtigen methodischen Ausgangspunkte zum Trotz dazu in der Lage gewesen. Weder Schleiermacher noch Kant hätten dies vermocht. Herrmann bleibt auch keine Antwort schuldig, warum dies so ist. Für Schleiermacher wie für Kant sei das Objekt der Religion ein metaphysischer Gegenstand: Bei Schleiermacher die ästhetisch zu erfassende Einheit des Universums, bei Kant wiederum der mit Hilfe ethischen Gehorsams zu erreichende höchste Wille. Aus Herrmanns Kantinterpretation geht deutlich hervor, daß er bei der Begründung der Geschichtlichkeit des Christentums die transzendentale Denkweise an sich nicht ablehnt. Jedoch hat die praktische Definition von Religion und Ethik entscheidende Bedeutung für das Ver16 17

R 400. GA II, 298.

Das religiöse Selbstgefühl und das geschichtliche Christentum

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ständnis des Korrelats der Religion. 18 Herrmann meint also einerseits, die Begründung des Christentums als geschichtlicher Religion sei von einer transzendentalen Religionsdefinition abhängig 19 , betont aber andererseits, die geschichtliche Wirklichkeit könne nicht begründet werden. Damit ist jedoch nur gemeint, daß die geschichtliche Wirklichkeit nicht metaphysisch zu begründen ist, ihre „richtige" praktische Begründung bleibt weiterhin möglich und nötig. Wenn es der transzendentalen Analyse gelingt, die Metaphysik auszuschließen, gibt es für die praktische Begründung des christlichen Glaubens kein Hindernis mehr. Auch die transzendentale Philosophie ist dann zu kritisieren, wenn sie bei ihrer Kritik der Metaphysik auf halbem Wege stehen bleibt. Das Korrelat der Religion, die Offenbarung Gottes in der Geschichte, kann nach Herrmann nur mithilfe einer antimetaphysichen Denkweise richtig verstanden werden. Die geschichtliche Offenbarung ist gerade ohne metaphysische Begründung das Korrelat der Religion. Das „richtige" Korrelat kann aber nur gefunden werden, wenn Metaphysik, Religion, und Ethik transzendental „richtig" analysiert werden. Das Glaubenskorrelat, die geschichtliche Offenbarung, existiert also nicht ohne die Verbindung zur praktisch verstandenen Religion, in der sie ihre Begründung findet. Herrmann lehnt also mit seiner Auffassung, derzufolge dem Christentum Geschichtlichkeit zukommt, die praktische Begründung der Religion nicht von vornherein ab, sofern Metaphysik, Religion und Ethik in seinem Sinne als unterschiedliche Momente des Bewußtseins verstanden werden. In seiner Deutung des Christentums mit Hilfe des praktischen Religionsbegriffes zeigt sich somit ein ähnliches Problem, wie das, das er in seiner Kritik der Metaphysik am klassischen Christentumsverständnis anspricht. Vermag Herrmann dann überhaupt selbst die Religion transzendentalphilosophisch zu definieren, ohne daß sich dies auf die Deutung des geschichtlichen Inhalts des christlichen Glaubens zumindest in seiner Form auswirkt? Liefert er nur die transzendentale Begründung für die Freiheit des christlichen Glaubens von der Metaphysik, oder gibt die praktische Philosophie der Dogmatik auch ihren Inhalt vor? Kann das religiöse Apriori als praktische Begründung des Christentums dienen, ohne daß zugleich schon etwas Wesentliches über das Wesen und den Inhalt des christlichen Glaubens ausgesagt wäre? Herrmanns praktische Definition von Religion, die notwendigerweise der praktischen Ethik als Mittel der Explikation bedarf, führt noch zu

18

R 258, 320. G A II, 298: „Aber wenn das Lebendige fehlt, das in seinem Wollen seine Zukunft trägt, so fehlt natürlich auch die Geschichte. Denn diese ist eben nicht bloß ein Geschehen, das man beobachten kann, sondern die Gestaltung der Zukunft durch ein wahrhaftiges oder freies Wollen." 19

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Die praktische Denkweise und der christliche Glaube

einer weiteren Frage. Er meint nämlich, das religiöse Selbstgefühl sei einerseits selbständig, werde andererseits aber nur in der Ethik expliziert und in der Religion verwirklicht. Die Religion habe ihre eigene transzendentale Kategorie - das Selbstgefühl - könne aber weder selbst ihren eigenen Inhalt explizieren noch sich selbst verwirklichen. Damit ist der Kategorie der Religion bereits ein ethischer Inhalt zugeordnet. Wie gezeigt wurde, versteht Herrmann das Erlebnis des religiösen Selbstgefühls dem Wesen nach als Werterlebnis, in dem die Person sich von den Gesetzmäßigkeiten der Natur befreit erfährt. U m die Frage zu beantworten, in welchem Maße Herrmanns praktische Definition von Religion und vor allem ihre ethische Ausrichtung bereits a priori den Inhalt des Christentums vorbestimmt, muß als erstes analysiert werden, wie er das Verhältnis von geschichtlichem Christentum und praktisch definierter Religion versteht. Herrmann befaßt sich explizit nur recht wenig mit dem Verhältnis zwischen religiösem Selbstgefühl und geschichtlicher Wirklichkeit. Zum Teil liegt das eben an seiner Auffassung, daß Geschichte nicht begründet werden kann. Daraus, wie er Geschichte charakterisiert, geht jedoch hervor, daß es gerade die praktische Denkweise ist, die der Geschichte ihre Bedeutung zuweist. Herrmanns strenge Metaphysikkritik impliziert bereits, daß seine Sicht des Christentums als geschichtlicher Religion nicht von den Voraussetzungen seines praktischen Denkens isoliert werden kann. Herrmann nennt etwa die Geschichte „personal" im Unterschied zur Wirklichkeit der Natur. Die Geschichte ist in gleicher Weise personal, „eigentliche Wirklichkeit" wie die Person als fühlendes und wollendes Wesen wirklich ist. Auch wenn die Geschichte als personale, „eigentliche Wirklichkeit" und die praktisch definierte religiöse Person offensichtlich als analoge Größen verstanden sind, möchte Herrmann doch die Auffassung des subjektiven Idealismus abwehren, die Geschichte sei Produkt des individuellen Subjekts. Herrmanns strenge und unerbittliche Metaphysikkritik überrascht den Leser vor allem dann, wenn er sie auf seinen eigenen, praktisch definierten Religionsbegriff bezieht. Auch in seinem eigenen Gedanken, das Individuum sei Subjekt der Religion, wittert er die Gefahr von Metaphysik. Der Gipfel seiner Metaphysikkritik geht deutlich aus seinem Verständnis des Verhältnisses von Individuum und Geschichte hervor. Herrmann hält daran fest, daß die Geschichte nur als antimetaphysische Größe, aus der jede Metaphysik absolut ausgeschlossen ist, gedacht werden kann. Allein seine bis zum Letzten durchgehaltene Metaphysikkritik macht imgrunde verstehbar, daß er die Geschichte auch nicht vom individuellen Subjekt her begründet. Die philosophische Begründung der Geschichte ergibt sich also auch nicht dadurch, daß die Geschichte ein Produkt des Individuums wäre, „denn als solches ist er gar nicht wirkliche Person - sondern in der

Das religiöse Selbstgefühl und das geschichdiche Christentum

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geschichtlich gewordenen Gemeinschaft". 20 Dies hieße nach Herrmann, die Metaphysik im transzendentalen Sinne wiedereinzuführen. Die Geschichte ist jedoch keine Fortführung des individuellen Subjekts, sondern das Korrelat des Glaubens. 21 Wenn er in seiner geschichtlichen Begründung des Christentums auch noch die Religion des Individuums ablehnt, liegt der Eindruck äußerst nahe, daß sein Denken ganz auf die Kritik der Metaphysik reduziert ist. Auf den Ruinen der absoluten Metaphysikkritik bleibt nichts anderes bestehen als die „schlechthinnige" Geschichtlichkeit des Christentums. Der christliche Glaube existiert in der Geschichte also unabhängig vom Glaubenserlebnis des Einzelnen. Herrmann äußert zwar in seinem praktischen Religionsbegriff die Auffassung, daß das Selbstgefühl spontan religiöse Werturteile erzeugt; trotzdem dürfe der christliche Glaube aber nicht als Produkt des Selbstgefühls angesehen werden. Herrmann wirft Lipsius und Biedermann, die er als „moderne Dogmatiker" apostrophiert, vor, den christlichen Glauben als Produkt des individuellen Gefühls zu behandeln. 22 Ein solcher Glaube sei jedoch Illusion. Das Christentum als geschichtliches Phänomen, der christliche Glaube in der Tradition und die Gemeinde im Leben existieren bereits vor dem Glauben des Individuums. Herrmann meint so mit seiner bis ins Äußerste gehenden Kritik, die auch vor dem praktischen religiösen Selbstgefühl nicht halt macht, das geschichtliche Christentum freilegen zu können. In Konsequenz dieser kompromißlosen Metaphysikkritik tritt dann gleichsam wie von selbst das ,genuine' geschichtliche Christentum hervor, das nun nicht einmal mehr praktisch begründet werden muß. Wenn Herrmann von der Kritik der klassischen Metaphysik her argumentiert, bezieht sich dies nicht nur darauf, daß die Metaphysik das Gegenteil des geschichtlich verstandenen Christentums ist, sondern auch darauf, daß die klassische Metaphysik dem christlichen Glauben zugleich die Form gibt. Da dem klassischen Dogma eine metaphysische Form zukommt, ist zugleich auch sein Inhalt metaphysisch. 23 Wichtig ist, daß

20 R 403. Dagegen stützt sich die Geschichte nach Herrmann sicherlich auf das Sittengesetz. Die Geschichte ist nicht philosophisch unbegründet. Siehe Wa 143: „Die Wirklichkeit der Natur beruht auf dem Naturgesetze; die Wirklichkeit der Geschichte beruht auf dem Sittengesetze. Das Naturgesetz erzwingt seine Anerkennung von jedem nicht irrsinnigen Menschen; das Sittengesetz fordert seine Anerkennung von dem freien Willen. In der Natur zu leben ist das Selbstverständliche; in der Geschichte zu leben ist unsere Aufgabe 21 R 399, 363. In der Geschichte liegt auch der Grund des Glaubens. gC 177: „Grund des Glaubens ist der geschichtliche Christus, indem er uns durch die Macht seines persönlichen Lebens Gottes Wirken auf uns erfahren läßt, [ . . . ] . " 22 R 374. 23 R 18: „Man denke nur daran, daß selbst innerhalb der Grenzen desselben Zeitraums

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Die praktische Denkweise und der chrisdiche Glaube

er die transzendentale Metaphysik nur im ersten Teil seiner Kritik angreift. Damit bilden die tranzendentale Metaphysik, wie die Neukantianer sie vertreten und die praktische Ethik Kants als rationale Denkweise ein Hindernis für eine historische Grundlegung des christlichen Glaubens. Dagegen befürchtet Herrmann nicht, der transzendental oder praktisch begründete Glaube könne eine falsche Form annehmen. Trotz ihrer an sich „richtigen Methode" sind die transzendentale und kantische Auffassung beide rational und enthalten zudem noch ein „metaphysisches Element", das die Begründung des christlichen Glaubes als geschichtliche Religion verhindert. Gelänge es, den christlichen Glauben geschichtlich von der praktischen Philosophie her zu begründen, so erhielte er vermutlich zugleich die „rechte" Form, d. h. den richtigen Inhalt. Auch wenn die Kritik Herrmanns an der Metaphysik absolut ist und in der Vorstellung vom Christentum als geschichtlicher Religion gipfelt, die nicht einmal vom religiösen Selbstgefühl her abgeleitet werden kann, hält er es dennoch für selbstverständlich, daß der Glaube, dessen Korrelat die Offenbarung in der Geschichte bildet, transzendental „richtig" in Bezug auf beides, auf Metaphysik auf Ethik definiert werden kann und muß. Obwohl also der geschichtliche christliche Glaube nicht aus dem praktischen Religionsbegriff abgeleitet werden kann, impliziert dieser als spontanes Werterlebnis im gewissen Sinn bereits einen apriorischen Inhalt des geschichtlichen Christentums. 24 Herrmanns praktische Definition von Religion und seine Deutung des Christentums hängen eng miteinander zusammen. Seine Furcht vor und seine Kritik an der transzendentalen Metaphysik gilt nicht so sehr der inhaltlichen Problematik des christlichen Glaubens als vielmehr seiner Geschichtlichkeit. Wenn es gelänge, die echte Geschichtlichkeit des christlichen Glaubens zu begründen, so wäre damit zugleich auch die richtige Deutung des Glaubens gegeben. Herrmanns Intention, das Christentum nur als geschichtliche Größe zu begründen, ist also eng mit seinem praktischen Religionsbegriff, der die Religion als Werterlebnis versteht, verknüpft. Das Werterlebnis erweist sich schon implizit als ethisch und wird genauer in der praktischen Ethik reflektiert. Die Kategorie der Religion ist damit nicht

die Verteidiger des Nicänums die Menschheit, sofern sie Gegenstand der von Christus vollbrachten Erlösung ist, nur als Natureinheit dachten." 24 R 62: „Eine den Schwankungen der Selbstbeurteilung entzogene Gewißheit des Heils kann es für uns nur geben, wenn wir eine von den Erfolgen unserer Willensanstrengungen unabhängige Tatsache als eine direkte Offenbarung des Liebeswillens Gottes an uns zu deuten vermögen. Wenn eine solche Tatsache für eine Anzahl Menschen der Anlaß zu diesem Vertrauen wird, so bildet sich eine religiöse Gemeinde. Für uns Christen ist jene unsere Gemeinschaft konstituierende besondere Offenbarung Gottes in der Person Christi gegeben, wie ihr Inhalt nach ihrem Eindruck auf die erste Gemeinde in den Evangelien für uns erkennbar ist."

Das religiöse Selbstgefühl und das geschichtliche Christentum

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neutral und inhaltslos, sondern bereits im tiefsten Sinne inhaltlich geprägt. Als fundamentales Problem seiner Dogmatik erweist sich somit das Verhältnis zwischen dem spontanen Erlebnis des Selbstgefühls und dem Inhalt der geschichtlichen Offenbarung. Zugespitzt wäre zu fragen: Gibt das spontane Erlebnis bereits a priori der geschichtlichen Offenbarung ihren Inhalt, oder bringt die geschichtliche Offenbarung dem glaubenden Subjekt wirklich etwas Neues? Obwohl Herrmann seine Auffassung, daß der christliche Glaube als geschichtliche Religion weder aus einem rationalen Apriori noch aus dem Gefühl des Individuums abgeleitet werden kann, gut begründet, betrachtet er doch die geschichtliche Offenbarung als Korrelat des Glaubens. Es liegt daher nahe zu untersuchen, wie die praktisch definierte Religion in seinem Christentumsverständnis in Erscheinung tritt, wird sie mit ihrem geschichtlichen Korrelat in Beziehung gesetzt. Zugleich stellt sich dann auch die Frage, welcher Inhalt dem geschichtlich verstandenen christlichen Glauben zukommt und wie sich dieser Inhalt zu dem Ergebnis der transzendentalen Analyse verhält, die die Religion als Selbstgefühl untersucht. Legt die Kategorie der Religion, das Selbstgefühl, bereits den Inhalt der geschichtlichen Offenbarung fest? Ist in der Religion als Selbstgefühl bereits das Wesentliche auch über den geschichtlichen Inhalt des christlichen Glaubens enthalten? Herrmanns Sicht der Beziehung zwischen geschichtlichem Christentum und glaubendem Subjekt führt zu der Beobachtung, daß zumindest formal eine enge Verknüpfung zwischen dem religiösen transzendentalen Apriori, dem Erlebnis des Selbstgefühls und dem geschichtlichen Inhalt des Christentums besteht. 25 Das ist aber nicht nur formal, sondern die philosophisch definierte „natürliche" Struktur des glaubenden Subjekts hat auch Einfluß auf die inhaltliche Deutung des christlichen Glaubens. Herrmanns Kritik der Metaphysik weist zwar das transzendentale rationalistische Apriori zurück und versucht auch nicht, im rationalistischen Sinn dem christlichen Glauben schon bei der Analyse, die die Voraussetzungen für den Glauben des Subjekts untersucht, eine „Form" zu geben, sie verleiht aber doch, indem sie das Erlebnis des Selbstgefühls zur Kategorie der Religion erhebt, dem geschichtlichen Christentum bereits einen gewissen Inhalt, der dann bei der Interpretation des christlichen Glaubens deutlich wird. Herrmann kann sich also selbst nicht vollkommen von dem Dilemma, das die transzendentale Theologie enthält, lösen, demzufolge mit der Analyse der Kategorie der Religion bereits das Wesentliche über den 25 R 63: „Dieses die religiöse Weltanschauung des Christen abschließende Bekenntnis, daß Christus für ihn den Wert der Gottheit hat, ist nicht die Zustimmung zu einem metaphysischen Satze, sondern ein religiöses Urteil, weil es in untrennbarer Relation zu dem erlebten Werte des religiösen Gutes steht."

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Die praktische Denkweise und der chrisdiche Glaube

Inhalt der Offenbarung zum Ausdruck kommt. Die Kritik der Metaphysik ist zwar bestrebt, jede apriorische philosophische „Form" von der geschichtlichen Offenbarung fernzuhalten, gibt aber trotzdem der Offenbarung, indem sie die Religion als ein von der Metaphysik freies Erlebnis des Selbstgefühls der Person definiert, einen bestimmten apriorischen Inhalt. Dies versuche ich im folgenden Kapitel, in dem die Begriffe „Offenbarung", „Tatsache" und „Sicherheit" innerhalb der Theologie Herrmanns genauer in den Blick genommen werden, im einzelnen nachzuweisen.

6. Die Offenbarung als geschichtliche Tatsache und als Ereignis persönlichen Erlebens 6.1. Die Offenbarung als Grund - als Erlebnis des Glaubens Das im Verhältnis zwischen dem rezeptiven und dem spontanen Aspekt, zwischen Geschichtlichkeit und Erlebnishaftigkeit der Offenbarung liegende Problem, das in Herrmanns Offenbarungsbegriff deutlich wird, geht auf ein Grundproblem seines Denkens zurück, das bereits in seiner praktischen Begründung des christlichen Glaubens enthalten ist. Herrmann behauptet einerseits, daß das Christentum per se geschichtlich ist, anders gesagt, seine Geschichtlichkeit nicht begründet werden kann. Herrmann versucht so zu bestreiten, daß die Geschichtlichkeit des Christentums mit Metaphysik begründet werden kann, lehnt aber trotzdem eine „echte" Begründung des christlichen Glaubens nicht ab. 1 Andererseits begründet Herrmann die Geschichtlichkeit des christlichen Glaubens faktisch eben gerade mit seiner praktischen Denkweise. Die Metaphysik, insofern sie Gegenstand der Kritik des praktischen Denkens ist, steht gerade einem Verständnis der Geschichtlichkeit des christlichen Glaubens im Wege. Erst wenn alle Elemente der Metaphysik beseitigt sind, kann der christliche Glaube geschichtlich verstanden werden. Trotzdem gehört die Kritik der Metaphysik organisch zur praktischen Denkweise, welche ihrerseits das Gegenteil jedes theoretischen Ansatzes ist. Damit begründet Herrmanns faktisch den geschichtlichen Charakter des christlichen Glaubens praktisch, auch wenn er gerne behauptet, daß dies nicht möglich sei. Das gleiche Problem zeigt sich auch in seinem Offenbarungsbegriff, in dem das Wie der Geschichtlichkeit des Glaubens eine zentrale Rolle spielt. D e r Aufstieg des geschichtlichen Offenbarungsbegriffes zu einem bedeutenden Bestandteil der neuprotestantischen Theologie hängt mit der Entwicklung zusammen, die im Zuge der klassischen Metaphysik statt1 R rV (Vorwort): „Endlich muß der evangelische Glaube verlangen, daß die Theologie die Bedeutung zum vollen Verständniß bringe, welche der geschichtliche Grund seiner Zuversicht beansprucht. Durch die Anwendung des metaphysischen Beweises wird dagegen immer das Verlangen rege gemacht, das religiöse Verständnis der Geschichte, welches nur in der geschichtlich gewordenen Gemeinde gepflegt werden kann, durch geschichtslose Wahrheiten zu ersetzen, die jedem erkennenden Geiste zugänglich sind."

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Offenbarung als geschichtliche Tatsache und Ereignis persönlichen Erlebens

gefunden hatte. Der Stellenwert, den der Offenbarungsbegriff in der neuprotestantischen Theologie einnimmt, wächst nämlich proportional mit der Kritik der Metaphysik. Herrmann kennt diese Problematik und legt deshalb auch Wert auf eine Offenbarung, die ihrem Charakter nach geschichtlich und nicht metaphysisch ist. Daß er nicht den metaphysischen, sondern den geschichtlichen Offenbarungsbegriff wählt, ist an sich schon symptomatisch. Dabei hat er sich niemals zur metaphysischen Offenbarung überhaupt geäußert, denn Metaphysik ist ja Philosophie und keine Theologie. 2 Der Offenbarungsbegriff, wie er ihn konzipiert, zeigt bereits das in seiner praktischen Begründung des christlichen Glaubens enthaltene systematische Problem. Herrmann muß stets zweigleisig argumentieren. Wie immer die Akzentsetzung auch ausfällt, beide Argumentationspole müssen im Blick bleiben, will man seine Darlegung verstehen. Wenn er einerseits in seiner Kritik der Metaphysik jegliche Einheit der Vernunft zurückweist und das Christentumsverständnis lediglich mit dem subjektiven Selbstgefühl begründet, wird der geschichtliche und rezeptive Aspekt der Offenbarung hervorgehoben. 3 Die Offenbarung ist dann Offenbarung in sich, gleichsam ein positives Faktum, das weder als Objekt eines metaphysischen noch eines transzendentalen Denkens begründet zu werden braucht. Wäre jedoch zweitens in Herrmanns Ansatz ein Einheit schaffendes Prinzip enthalten, so könnte sein Offenbarungsbegriff nicht analysiert werden, wenn nicht zugleich die Voraussetzungen des Denkvermögens des Subjekts berücksichtigt würden. Die Frage betrifft also das Verhältnis des objektiven und subjektiven Elements der Offenbarung oder anders gesagt, das Verhältnis zwischen Rezeptivität und Spontaneität der Offenbarung. Die Fragestellung drängt sich angesichts der Art und Weise, in der Herrmann die Geschichtlichkeit des christlichen Glaubens praktisch begründet, geradezu auf. Um Herrmann gerecht zu werden, muß seiner zweigleisigen Argumentation unbedingt weitere Beachtung gewidmet werden. Herrmann betont die geschichtliche und rezeptive Seite der Offenbarung. Er sagt, daß die religiöse Zuversicht im „Gegenstand" oder im

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Wir werden dieses Problem im Exkurs noch eingehender diskutieren. R 63: „Denn die Versöhnung deren Gewißheit er [Dorner] wie die Griechen in jenem Ausdruck ausspricht, ist in beiden Fällen etwas völlig anderes; für den evangelischen Theologen bezeichnet sie das in der religiösen Gemeinde erlebbare Heil, für die Griechen ein menschlicher Wahrnehmung verborgenes Ereignis physischer Art." Siehe auch R 66: „Die derselben angehörigen Urteile tragen den Charakter der Notwendigkeit nicht deshalb, weil sie sich jenen Grundsätzen bereitwillig unterordnen, sondern weil sie sich ableiten lassen aus der Vorstellung eines höchsten Wertes, der seine faktische Gültigkeit für uns in seiner Macht über unser Gefühl besitzt. Ob daher das irgendwie formulierte Urteil, daß Christus die Welt mit sich versöhnt hat, sich vor etwaigen metaphysischen Beziehungen der Gottesidee legitimieren kann, geht uns nichts an." 3

Die Offenbarung als Grund - als Erlebnis des Glaubens

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„Grund" liegt, der von außerhalb des Glaubens kommt. 4 Gemäß seiner grundlegenden und zugleich allgemeinen Definition des Begriffes „Offenbarung" versteht er darunter eine „von außen kommende göttliche Mitteilung". 5 Herrmann behauptet damit zwar, sich der üblichen theologischen Definition anzuschließen, wonach Offenbarung eine von außen kommende göttliche Mitteilung ist, man kann diese Aussage aber trotzdem nicht nach diesem theologiegeschichtlichen Modell interpretieren. Das „Von-außen-kommen" der Offenbarung bedeutet bei Herrmann keine transzendenztheoretische, in gewissem Sinne in sich bereits abgeschlossene Offenbarung, sondern eine im spezifisch Herrmannschen Sinne „geschichtliche" Offenbarung. Man sollte beachten, daß „Geschichtlichkeit" ein besonderes Gewicht im praktischen Denken erhält, wenn sie als nicht-metaphysisch gedacht wird. Geschichtlichkeit als antimetaphysische Wirklichkeit ist somit nicht im Gegenüber zur Natur, aber auch nicht zur Ubernatur angelegt. Geschichtlichkeit bedeutet für Herrmann immer etwas „Persönliches" im Gegensatz zur Natur. Dieses Verständnis des Personalen ist ein selbständiges Erbe aus der Philosophie Kants, mit der Herrmann ja von Anfang vertraut war. Die einzige Entsprechung zur geschichtlichen Offenbarung ist das Erlebnis und der Wille des Subjekts, anders gesagt, die personalen Elemente der Person. Herrmanns Sicht von Offenbarung als etwas, das von außen kommt, ist deshalb nur in Bezug auf das Subjekt zu befragen. 6 Geschichtlichkeit und Offenbarung sind im praktischen Denken dem Wesen nach personale und keine objektiven Größen. Die entscheidende Frage lautet daher, welche Form und welcher Inhalt der Offenbarung als subjektivem Erlebnis zukommt, um als äußere Wirklichkeit gelten zu können, das heißt grundsätzlich, ob sie überhaupt etwas von außen Kommendes ist. Das sind schwierige Fragen, mit denen wir uns beschäftigen müssen, um den geschichtlichen Offenbarungsbegriff Herrmanns richtig verstehen zu können. Wie Jensen schon erkannt hat, ist Herrmann im Grunde genommen der erste Existenztheologe überhaupt. Seine Begründung des Offenbarungsbegriffes bleibt jedoch letztlich transzendental-praktisch. Herrmann steht eigentlich keine Wahlmöglichkeit in seinem Offenbarungsbegriff zur Verfügung. Er kennt nur folgende Alternative: Entweder 4 „Die Frage, worauf ihre eigene religiöse Zuversicht beruhe, werden auch diese evangelischen Theologen dahin beantworten, daß sie in der geschichtlichen Erscheinung Jesu von Nazareth ihren Grund habe." R X . 5 R 375. Siehe auch R 313, w o Herrmann explizit von mehreren Offenbarungen spricht. 6 „Von diesen drei Aufgaben [Bibel, Prinzip, religiöses Bewußtsein] bezeichnet die dritte eine Verwechselung der erbaulichen Thätigkeit mit der theologischen; aber auch die beiden andern dienen zwar der Darstellung und Ordnung der religiösen Urtheile, nicht aber ihrer Begründung." R 9.

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Offenbarung als geschichtliche Tatsache und Ereignis persönlichen Erlebens

ist die Offenbarung metaphysisch, und das bedeutet, sie kann in Lehrsätze gefaßt werden, oder Offenbarung ist persönlich-geschichtlich im Sinne von Herrmanns praktischer Denkweise. In der Explikation seines Offenbarungsbegriffes wehrt er bereits von vornherein die Vorstellung ab, man könne ihn im Sinne der klassischen Theologie verstehen. Die klassische Theologie meint nach Herrmann in Entsprechung zur Metaphysik, die Offenbarung bestünde aus Lehrsätzen. Er bestreitet schon im Ansatz, daß die Offenbarung Lehrsätze enthalten, gar aus solchen bestehen könnte, der die Glaubende für wahr halten müßte. Seine konsequente Metaphysikkritik erstreckt sich also auch auf seinen Offenbarungsbegriff, und zwar in so nachhaltiger Weise, daß von Vorherein dessen Verständnis einengt ist. Metaphysik und Offenbarung als Lehrsätze hängen nach seiner Meinung direkt zusammen. Faßt man die Offenbarung metaphysisch, versteht man sie nach Herrmann so, als spräche sie von Gott objektivierend als dem letzten Urgrund der gesamten Wirklichkeit. Sprechen Offenbarungssätze von Gott als dem letzten Grund der Wirklichkeit, sind sie von Natur aus metaphysisch. Offenbarung und Lehre lassen sich dann nicht mehr unterscheiden. Auch können dann nicht mehr theologische Sätze von naturwissenschaftlichen unterschieden werden, meint er, womit der gesamte Offenbarungsbegriff auseinanderfällt und Gott als ein, wenn auch höchster Teil der Natur verstanden wird. „Offenbarung" darf nach Herrmann - um Offenbarung zu sein keinerlei Gedanken irgendeines Objektiven, sei es Lehre oder Ding, das einen bestimmten Inhalt und eine bestimmte Form hätte, enthalten. Herrmanns Aussage, daß die Offenbarung „von außen" kommt, läßt die Frage allerdings weiter unbeantwortet, welche Form und welcher Inhalt der Offenbarung eigentlich zukommt. Da seine Theologie praktischem Denken folgt, kann Außenwelt schlicht „Welt" bedeuten, in der es eine Einheit als solche nicht gibt. Dies geht in anschaulicher Weise bereits aus der Analyse des kantischen Erkenntnisbegriffes hervor, den Herrmann als wesentliches Element seiner Metaphysikkritik übernimmt. Die Welt als Gegenstand der Erkenntnis bildet eine Reihe fortgesetzter Beziehungen zwischen Gegenständen und Dingen, die sich niemals an ein Einheit schaffendes Erkenntnisobjekt binden. Es ist also naheliegend, daß auch die Geschichte - obwohl sie als Korrelat der Person zur geistigen Wirklichkeit, d. h. zur Wirklichkeit der Person gehört - aus einer solchen Materialmenge besteht, die erst vom erkennenden Subjekt her ihre Ordnung gewinnt. Eine Analyse von Herrmanns Offenbarungsbegriff hat daher nach dessen Beziehung zum Subjekt zu fragen, will sie über Form und Inhalt der Offenbarung Aufschluß erhalten. Um das in Herrmanns Theologie zentrale Problem der Beziehung von Spontaneität und Rezeptivität zu klären, ist daher wichtig zu erfahren, ob die von außerhalb des Glaubens kommende Offenbarung etwas ist, über das im

Die Offenbarung als Grund - als Erlebnis des Glaubens

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transzendentalen Apriori, dem Erlebnis des Selbstgefühls, noch gar nichts gesagt ist, bzw. über das darin überhaupt nichts gesagt werden kann. Herrmann betont in seiner Explikation des Offenbarungsbegriffes ziemlich unmißverständlich auch den spontanen Charakter der Offenbarung. Die spontane Seite ist geradezu definitiver Bestandteil der Offenbarung in der zweiten Bedeutung dieses Begriffes. Dort bezeichnet sie keine unabhängige Wirklichkeit außerhalb des Subjektes mehr, sondern beschreibt gerade jene Wirklichkeit, in der nicht mehr zwischen Subjekt und Objekt unterschieden werden kann: Offenbarung bedeutet dann das Ereignis und die Bedeutung, die der Glaubende in der Begegnung mit Christus als Erlebnis erfährt. 7 Sie bezeichnet ein inneres Ereignis des Individuums, in dem sich das Subjekt ihrer Bedeutung für sich selbst bewußt wird. Die Bedeutung der Offenbarung liegt also nicht in ihr selbst als solcher, auch kommt sie nicht von außerhalb auf das Subjekt zu, sondern erst das Individuum verleiht von seiner inneren Struktur her dieser Offenbarung ihre Bedeutung. Das Erlebnis liegt bei Herrmann gerade in der Entsprechung der inneren und äußeren Welt im Subjekt: Die äußere Wirklichkeit entspricht dann dem eigenen unmittelbaren Erlebnis des Subjekts. 8 Offenbarung und Bedeutung der Offenbarung für den Glaubenden fallen bei Herrmann zusammen, denn das glaubende Subjekt erkennt in ihr sein eigenes inneres Wesen. Explizit sagt Herrmann, daß Gott sich im eigentlichen Sinn des Wortes erst als Selbstöffnung des Individuums auf seine Persönlichkeit hin offenbart: „Indem das Wesentliche des ge7 R 67: „Dagegen ist uns nun ein Zusammenhang Christi mit der Menschheit offenbar, sofern er der Urheber eines neuen religiösen und sittlichen Zustandes ist. Wie gering auch die von ihm eingeleitete Bewegung in uns noch sein mag, wir können doch nicht anders, als in ihr das Zunehmen in dem Besitz des höchsten Gutes zu erkennen, so daß die volle Aneignung des letzeren nichts von ihr verschiedenes ist, sondern ihre eigene Vollendung." 8 R 382: „Für uns dagegen ist Offenbarung ein religiöser Begriff; die Offenbarung bezeichnet f ü r uns weder die auch einem indifferenten Erkennen erreichbare Ursache noch das Vorbild unserer religiösen Erlebnisse, sondern den innerhalb dieser Erlebnisse selbst ausdrücklich vergegenwärtigten Grund unserer religiösen Gewißheit." Siehe O 125: „Wir hätten nicht nur einen Zuwachs an Kenntnissen bekommen, sondern eine neue Art, alle Dinge zu sehen, einen neuen Sinn und Mut. Was das an uns bewirkt, das ist Offenbarung." Siehe O 128: „ [ . . . ] daß Gott einen Menschen in solcher Weise berühren könnte, das wäre ein Ereignis, das wirklich eine Offenbarung zu heißen verdiente. Wenn wir das erleben, so tritt etwas völlig Neues in unsere Welt, das uns nie etwas Altes werden kann." O 129: „Offenbarung ist dem Christen die Selbstoffenbarung Gottes, d. h. die Tatsache, daß Gott ihn durch einen unwidersprechlichen Erweis seiner allmächtigen Liebe überwältigt und aus einem unglücklichen zu einem fröhlichen und getrosten Menschen macht. Das allein sollen wir f ü r Offenbarung halten." gC 168: „Denn sie [die Frömmigkeit] lebt nicht nur von allgemeinen Gedanken, deren Wahrheit uns einleuchtet, sondern immer von der Offenbarung, die als ein Ereignis in das Leben des Einzelnen eingreift."

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Offenbarung als geschichtliche Tatsache und Ereignis persönlichen Erlebens

schichtlichen Zusammenhanges, der uns umfaßt, ein Element unseres Bewusstseins wird, werden wir vor die Thatsachen geführt, die uns Gott offenbaren können. Wenn unsere Seele nicht zu einem klaren Bewußtsein von diesen Thatsachen aufwacht, wenn wir die Beziehungen zu andern Menschen nur erleiden und nicht erleben, so schläft in uns die Persönlichkeit, der sich Gott offenbaren will, so sehen wir die Thatsachen nicht, durch die allein er sich offenbaren kann." 9 An der Art, in der Herrmann Offenbarung als Lehre, die ja nach seiner Meinung immer metaphysisch ist, und Offenbarung als Person Christi konträr einander gegenüberstellt, wird deutlich, in welch großem Maße er seine praktische Denkweise und seinen damit verbundenen Personenbegriff auch für die Interpretation des geschichtlichen Christentums einsetzt. Die Offenbarung als Lehre repräsentiert bereits von vornherein klassische Metaphysik und kann als solche keine genuine geschichtliche Offenbarung sein. Ihr Verständnis als personale Kategorie liegt somit auf einer Linie mit der Kritik an der Metaphysik und damit zugleich auch an der klassischen Dogmatik. Herrmanns Aussage, bei der Offenbarung gehe es um die Person, kommt kritische Bedeutung zu. Um zu ermitteln, worin der positive Inhalt seines Offenbarungsbegriffes besteht, muß jedoch die Frage beantwortet werden, ob diese Offenbarung Christus als objektive göttliche Person meint oder ob sie nur ein Bild von der Person Christi vermittelt oder gar von der eigenen Person des Individuums. Zu diesem Problem führt wie selbstverständlich die Analyse des Verhältnisses von Rezeptivität und Spontaneität vor allem auch deshalb, weil Herrmann Lehre hier durch den Begriff der Tatsache ersetzt. Herrmann identifiziert also doch die Offenbarung im eigentlichen Sinn des Worts mit einer Tatsache. 10 Die Begegnung mit der Offenbarung bedeutet somit, daß das Subjekt in sich selbst erlebnishaft das Material der Offenbarung erkennt und „bereit ist", der „Tatsache" zu begegnen, in der die Person Christi offenbart wird. Daß es sich nicht um eine historische Tatsache, sondern um eine Tatsache, die „Gegenstand des Glaubens ist" handelt, wird deutlich, wenn Herrmann Tatsache und Glaubensgewißheit miteinander verknüpft. Der Glaube ist gewiß, weil er auf eine Tatsache gerichtet ist. Diese Tatsache ist eben Jesus Christus, in der Gott sich selbst offenbart: „In der Welt der Geschichte aber, die der Inhalt unseres persönlichen Lebens

' V 53. Steht unverändert auch V 5-7, 51. Siehe auch ζ. B. gC 169. Siehe gC 180: „Wie bei jenen, so muß auch bei ihm ein Ereignis, das er selbst erlebt, die Kraft haben, ihn in den neuen Stand christlichen Lebens und Denkens zu erheben, indem es ihm als die Offenbarung Gottes an ihn selbst klar wird." 10 V 46: „Gott gibt sich uns zu erkennen durch eine Tatsache, um deren willen wir an ihn glauben können."

Die Person Christi als Inhalt der Offenbarung - die Person des Glaubenden

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werden soll, gibt es keine Tatsache, die wichtiger für jeden einzelnen wäre als Jesus Christus." 11 Die Antwort auf die Frage, ob die Person Christi in der Offenbarung objektiv verstanden ist, m. a. W. ob Herrmann der Person Christi noch einen anderen Inhalt zuschreibt neben seinem bereits in der praktischen Analyse dargestellten Personenbegriff, ist im Verhältnis von Inhalt der Offenbarung und Person des Glaubenden zu suchen.

6.2. Die Person Christi als Inhalt der Offenbarung die Person des Glaubenden Herrmann antwortet auf die Frage nach dem Verhältnis von objektiver Person Christi und Person des Glaubenden mit dem Begriff der Tatsache. Damit ist die Auffassung verknüpft, daß Christus religiöse Bedeutung zukommt. Christi Person existiert historisch, zu einer religiösen wird sie aber erst, wenn das glaubende Subjekt sich ihrer Bedeutung für sein eigenes Selbstgefühl bewußt wird. Herrmann bringt den Kerngedanken des Offenbarungsbegriffes ohne Umschweife mit der Aussage zum Ausdruck, daß erst in der Bedeutung, die das glaubende Subjekt Christus gibt, der „Inhalt" der Offenbarung liegt. An der Offenbarung ist nicht das historische Faktum wesentlich und auch nicht Christus als historische Person, sondern gerade die Bedeutung, die der Glaubende diesen Dingen in der Begegnung mit der Offenbarung zuweist, die damit eben im Selbstgefühl geschehende erlebnishafte Selbsteröffnung ist. Die Mitteilung der Offenbarung, ihren „Inhalt" formt das Subjekt selbst, wenn es sich in seiner eigenen Person erkennt. Obgleich die Offenbarung dann auch als historische Person und als geschichtlicher Stoff von außerhalb des Subjekts kommt, ist sie doch ohne jene Bedeutung, die ihr erst der Glaubende gibt, noch nicht im eigentlichen Sinne des Wortes Offenbarung. Sie ist vielmehr das sich mit der Tatsache identifizierende Selbst-Erlebnis. Wenn Offenbarung darin 11 V 51. Siehe gC 163, wo ausdrücklich gesagt wird, daß es sich bei der Tatsache nicht um eine geschichtliche Wahrscheinlichkeit (historischer Jesus), sondern letztlich um den Gegenstand und Inhalt des Glaubens handelt. Herrmann unterscheidet den Grund des Glaubens, welcher der geschichtliche Christus ist, und die Tatsache, die der „Inhalt" der Offenbarung ist: „Nicht der geschichtliche Christus, in dem jeder Einzelne den letzten Grund seines Glaubens finden soll, wird verkündigt, sondern Christus, wie er Inhalt und Gegenstand des Glaubens ist." Inhalt ist laut Herrmann Gott selbst: „Grund des Glaubens ist der geschichtliche Christus, indem er uns durch die Macht seines persönlichen Lebens Gottes Wirken auf uns erfahren läßt, Inhalt des Glaubens ist der in diesem Christus uns erscheinende G o t t " g C 177. Herrmann spricht von einer Tatsache, weil es sich beim Glauben um ein „Sehen" handelt. Siehe gC 170.

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Offenbarung als geschichtliche Tatsache und Ereignis persönlichen Erlebens

besteht, daß sie sich selbst öffnet und die Bedeutung dieser Öffnung an den Glaubenden vermittelt, kann es mehrere Offenbarungen geben. In der Tat spricht Herrmann gerade dann von mehreren Offenbarungen, wenn er deren Bedeutung für das persönliche Glaubenserlebnis darlegt. Die Offenbarung ist dann Ereignis und Erlebnis, bei dem weder das Objekt noch das Subjekt getrennt betrachtet werden können. 12 Herrmann löst also das Dilemma zwischen geschichtlichem Objekt und glaubenden Subjekt transzendental. Der geschichtliche und zugleich rezeptive Aspekt der Offenbarung kommt von außerhalb auf das Individuums zu und findet erst in dem Ereignis seine Form, in dem ihn das Subjekt erkennend in sich aufnimmt. 13 Auch Christus als Person bedeutet Offenbarung im eigentlichen Sinne des Wortes nur, wenn der Glaubende sie erfährt. Obwohl Herrmann zweifelsohne praktisch denkt, daß Inhalt und Form der Offenbarung in der Selbstöffnung des Glaubenden zusammenfallen, geht die Person Christi dennoch erschöpfend nicht in der Person des Individuums auf. In gewissem Sinne verbleibt die Person Christi außerhalb des Glaubenden. Dieser Gedanke wird leichter verständlich, wenn man die Unterscheidung berücksichtigt, die Herrmann in der praktischen Definition des Religionsbegriffes zwischen religiösem Erlebnis und ethischer Reflexion trifft. Er begründet seine Deutung des christlichen Glaubens nicht nur mit dem Begriff des Selbstgefühls, sondern zugleich auch mit der ethischen Reflexion und Verwirklichung. Dieser Definition zufolge spricht die Ethik von jener Wirklichkeit, die sein sollte, aber noch nicht ist. 14 Auch wenn das religiöse Selbstgefühl 12

V 55: „Wir erklären vielmehr, daß die geschichtliche Erscheinung Jesu, sofern sie in den Bereich dieses Verfahrens, das wahrscheinlich Wirkliche zu konstatieren, gezogen wird, nicht Grund des Glaubens sein kann, sondern ein Teil der Welt ist, mit der sich der Glaube auseinander setzen soll." V 56: „Das Urteil, in dem wir die Tatsache konstatieren, geht vielmehr ebenso aus unserer selbständigen Tätigkeit hervor und gründet sich ebenso auf das, was wir gegenwärtig als wirklich anschauen, wie die Urteile der historischen Kritik." Auch die Bedeutung der Tatsache ändert sich. Im folgenden Zitat bedeutet sie die Persönlichkeit Jesu, der innerlich zu begegnen ist (V 58-59): „Wir gehen zwar von der Uberlieferung aus; aber die Tatsache, die sie uns darbietet, haben wir erst dann erfaßt, wenn wir an der Bereicherung unseres eigenen inneren Lebens der Berührung mit dem Lebendigen inne geworden sind [ . . . ] So wird auch das innere Leben Jesu ein Bestandteil unserer eigenen Wirklichkeit." Siehe auch R 382-383. Siehe noch 391: „Denn das Verständnis f ü r die sittliche Verbindung der Menschen, welche Jesus herbeiführen will, fällt für jeden mit dem Bewußtsein von seiner eigenen Freiheit zusammen. So kann das Bild des Lebens Jesu durch den Endzweck, den es verkündigt, auch in der verworrensten Seele die Ahnung ihrer sittlichen Würde entzünden." Siehe noch RuS 279: „Wer diese Offenbarung erlebt, weiß auch, daß sie unbeschreiblich ist." 13 V 55. 14 R 320: „Christlicher Glaube und sittliche Uberzeugung sind Correlate; [ . . . ] . " RuS 279: „Das Vertrauen, das die von uns erfahrene Macht sittlicher Güte in uns schafft, ist

Die Person Christi als Inhalt der Offenbarung - die Person des Glaubenden

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bereits als Erlebnis erkennt, daß es als Person Person und nicht Natur ist, verwirklicht dies noch nicht sein personales Wesen. Nähme Herrmann die Beziehung zwischen Person Christi und glaubendem Subjekt, allein vom Erlebnis des Selbstgefühls her in den Blick, so wäre die Person Christi in einem solchem Maße im Selbstgefühl des Glaubenden erfahrbar, daß kein Unterschied mehr zwischen der Person Christi und der Person des Glaubenden bestünde. Für den Offenbarungsbegriff bedeutet dies, daß der Inhalt der Offenbarung im Grunde genommen schon a priori vor der geschichtlichen Begegnung mit Christus im Selbstgefühl gegeben wäre. Christi Person würde sich dann nicht von der Person des Glaubenden unterscheiden und die Offenbarung brächte dem Glaubenden nichts Neues. Sie würde lediglich das Erlebnis des Selbstgefühls reflektieren oder dem Individuum selbst stärker bewußt machen. Herrmanns Offenbarungsbegriff erweist sich also als ebenso kompliziert wie das in der praktischen Analyse dargestellte Verhältnis zwischen Religion und Ethik. Nach der Analyse hebt die Ethik das religiöse Erlebnis durch Reflexion und die Forderung an die Person, wirkliche Person, Persönlichkeit zu werden, auf eine neue Ebene. Herrmanns Offenbarungsbegriff setzt damit jene Struktur voraus, die bei der praktischen Analyse des religiösen Erlebnisses und des ethischen Sollens deutlich wurde. Gleichzeitig erweist sich auch das ethische Moment als wesentlich für das Offenbarungsverständnis. Wäre das Korrelat der geschichtlichen Offenbarung im Subjekt nur das Erlebnis des Selbstgefühls, brächte die Offenbarung dem Glauben nichts wesentlich Neues. Doch erhält Herrmanns Offenbarungsbegriff einen neuen Zug, wenn er Christus eben gerade als ethische Person denkt. Damit bringe die geschichtliche Offenbarung etwas Neues in das subjektive Glaubenserleben des Individuums. Sie kann demnach nicht auf das Erkennen des religiösen Erlebnisses allein reduziert werden, also jenes Erlebnisses, welches jedem Menschen von Natur aus bereits in seinem eigenen Selbstgefühl zukommt. Als ethische Person hebt der geoffenbarte Christus den Glaubenden auf eine höhere ethische Ebene. Diese Sittlichkeit enthält gleichzeitig die implizit im Selbstgefühl verborgene Reflexion des Werterlebnisses. Die Person entwickelt sich in der ethischen Reflexion ihres Erlebnisses des Selbstgefühls zur Persönlichkeit. Eine solche Persönlichkeit, eine vollkommene ethische Person repräsentiert gerade Christus. Indem Herrmann ihn als Persönlichkeit, als vollkommene ethische Person begreift, kann er zugleich behaupten, Christus bringe nicht nur das der Glaube an Gott, die wirkliche Religion [ . . . ] Diese eine kann die Menschheit durch ihre Geschichte leiten, deren ewiges Ziel die Gemeinschaft freier Personen ist, die Verwirklichung alles dessen, worauf die Energie des guten Willens geht."

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Offenbarung als geschichtliche Tatsache und Ereignis persönlichen Erlebens

glaubende Subjekt zum Ausdruck, sondern seine Person sei auch etwas anderes und stehe über der Person des Glaubenden. An dieser Stelle stoßen wir auf ein entscheidendes Problem, was den Inhalt des christlichen Glaubens anbelangt. Denn die Offenbarung verkündet nicht allein die im Selbstgefühl des Individuums liegende Erfahrung des eigenen Wertes, sondern auch noch etwas Höheres. 15 Herrmann bezieht in seine Auffassung, die Offenbarung verkündige etwas Neues und Höheres als das, über das jeder Mensch bereits in seinem eigenen Erleben des Selbstgefühls - wenn auch unreflektiert verfügt, allerdings keine Überlegung ein, die an die klassische Transzendenz erinnert. Die „höhere Person Christi", die sich vom Glaubenden unterscheidet, ist keineswegs göttlich in dem Sinne, daß Christus den transzendenten Gott verkündigen würde, der „an sich", objektiv hinter der geschichtlichen Offenbarung existiert. Es ist nicht möglich, zwischen „Gott an sich" und „Gott für uns" zu unterscheiden. Gott an sich, Gott als Ding an sich, gehört zur metaphysischen, nicht zur praktischen Sprache. In der praktischen Sprache kann nicht zwischen dem Ding an sich und seinen Phänomenen unterschieden werden. In der Offenbarung sind Gottes Wesen und Gott in seinem Wirken identisch, auch wenn „Gottes Wesen in der Tatsache an sich verborgen ist". 16 So sehr Herrmann auch ablehnt, Gott in der Offenbarung als ein bestimmtes transzendentes Wesen oder ihren Inhalt als Lehrsatz zu verstehen, so eng verbindet er die Offenbarung zugleich mit dem Glauben oder dem Ereignis des Glaubens. Wird nach dem Inhalt der Offenbarung gefragt, wird die Verbindung der geschichtlichen Offenbarung zum praktischen Religionsbegriff offenkundig. In der Tat behandelt Herrmann den Inhalt der Offenbarung in grundsätzlicher Beziehung zu jener Bedeutung, die sich im Glaubenserlebnis eröffnet. Dabei bleibt zu beachten, daß die Offenbarung als geschichtliche Größe keinen fest umrissenen Inhalt kennt, den das religiöse Subjekt nur noch anzunehmen brauchte. Auch die Glaubensgewißheit, die nach Herrmann im Wesen des Glaubens enthalten ist, stützt sich nicht auf die historische Seite der Offenbarung, sondern stimmt vielmehr mit jener Bedeutung überein, die sich im Glauben auftut. 17 Es sollte auch nicht vergessen werden, daß die in der Begegnung mit der Offenbarung offenkundig werdende Bedeutung nicht bei den Werturteilen des Glaubens verbucht werden kann, sondern immer Ereignis, Akt oder Erlebnis bleibt. Gerade die Offenbarung als Erlebnis macht das Faktum aus, auf dem der Glaube beruht und von dem der Glaube seine 15 16 17

R 394-395. V 51. R 276.

Die Person Christi als Inhalt der Offenbarung - die Person des Glaubenden

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Gewißheit erhält. Herrmann betrachtet gerade das Glaubenserlebnis des Individuums als einen so sicheren Anknüpfungspunkt, daß er es als Tatsache bezeichnen kann. Die Offenbarung als Tatsache läßt sich letztlich nicht in Glaubenssätze fassen und braucht auch weder erklärt noch gelehrt zu werden. Der praktische Charakter dieses Offenbarungsbegriffes wird deutlich, wenn Beachtung findet, daß das Glaubenserlebnis als Tatsache eben gerade jener sichere Fixpunkt ist, der an die Stelle des in der metaphysischen Religiosität enthaltenen Dogmenbegriffes getreten ist. Für die Offenbarung als Tatsache und Glaubensgewißheit spricht, daß Herrmann seinen eigenen Offenbarungsbegriff mit Elementen der praktischen Ethik ausstattet. Das Ereignis der Offenbarung, das Glaubenserlebnis, in dem der Glaubende in immer größerem Maße seine personale Natur erkennt, ist seinem Wesen nach ethisch. Die Tatsache tritt an die Stelle der Lehre; damit ist auch das von der Gemeinde vermittelte Christus-Bild nicht letzter Inhalt der Offenbarung. Herrmann ist zwar der Meinung, daß das Christusbild, durch das der Glaube entsteht, nur in der Gemeinde lebt. Christus ist also nicht in der Geschichte und auch nicht als solcher in der Bibel anzutreffen, sondern nur in der Gemeinde, in der getragen von der Tradition des christlichen Glaubens das Bild Christi lebendig gehalten wird. Der Glaube der Gemeinde und der Ausdruck dieses Glaubens, das Christusbild, setzen immer den Glauben des einzelnen Christen voraus. 18 Jedoch kann sich der einzelne Christ nicht unmittelbar daran binden, auch wenn er mit Hilfe dieses Bildes zu seinem eigenen Glauben gelangt. Das heißt, daß auch das Christusbild der Gemeinde Ausdruck der Glaubenserfahrung von Individuen ist und als solche dem Glauben nicht unmittelbar vermittelt werden kann. Jeder Glaubende muß sich selbst seinen eigenen Glaubensausdruck aufgrund dessen schaffen, was er durch das Christusbild für sich selbst als Offenbarung und als Tatsache erfährt. Erst nach dieser Erfahrung kann er sich selbst ein Bild von Christus machen, das für ihn richtungweisend oder bedeutsam ist. 19 Das Kriterium der Lehre liegt bei Herrmann somit im Glaubenserlebnis des Einzelnen, der sich mit der Offenbarung und der Glaubensgewißheit identifiziert. Die Lehre besteht demnach in keiner fertigen Menge an Sätzen, sie bildet auch kein in sich ruhendes Wesen, sondern ist Ausdruck des bei der Begegnung mit dem Christusbild der Gemeinde entstehenden Erlebnisses, das zugleich das Erlebnis des Glaubenden,

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V 57. " V 58: „Wer das innere Leben Jesu durch die Vermittelung anderer gefunden hat, ist, insoweit als das geschehen ist, auch von dieser Vermittelung frei geworden [ . . . ] Wir brauchen, wenn wir seine Kraft an uns erfahren haben, nicht mehr auf das Zeugnis anderer zu blicken, um es als etwas Wirkliches festzuhalten."

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Offenbarung als geschichtliche Tatsache und Ereignis persönlichen Erlebens

seiner selbst als Person ist. Herrmann scheint in seinem Offenbarungsbegriff die Problematik der Lehre auf das Erlebnis des Selbstgefühls zurückzuführen 20 Dennoch meint er, daß das individuelle Glaubenserlebnis als Fundament der Dogmatik und ihrer Lehre nicht ausreicht. Eine allein auf dem individuellen Glaubenserlebnis beruhende Dogmatik kann nicht allgemeingültig dargestellt werden. Herrmanns praktische Begründung des christlichen Glaubens und damit verbunden der Inhalt des Glaubens muß daher auch noch aus dem Blickwinkel des ethischen Subjekts untersucht werden.

6.3. Die Bedeutung der Offenbarung

und das ethische

Subjekt

Herrmann hält für das Verständnis des christlichen Glaubens die Auffassung für wesentlich, daß es der Person erst in der Ethik möglich ist, sich selbst als Persönlichkeit, als frei von der Natur zu denken. Das religiöse Erlebnis reicht, wird die Religion praktisch untersucht, zum Personsein der Person noch nicht aus. Doch Ethik ohne Religion und philosophische Ethik ohne christlichen Glauben führen zu einer bloßen Abstraktion, weil sie lediglich die Idee der Freiheit bringen. Die Ethik ermöglicht dem Menschen allein den Gedanken einer vollendeten persönlichen Freiheit, gibt sie aber nicht selbst. Eine philosophische Ethik im Sinne Kants gelangt also nicht an die Freiheit selbst, sondern nur an ihre Idee. Herrmann bindet philosophische Ethik und christlichen Glauben so zusammen, daß der christliche Glaube die Form ist, durch die die ethische Idee anschaulich zur Geltung gebracht wird: Die vollkommen freie ethische Person, die bereits im Reich der freien, ethischen Individuen, im Reich Gottes lebt, ist gerade Christus. 21 Christus - als der vollkommene ethische Mensch - verkündet Gott. In Christus ist der endgültige ethische Endzweck des Menschen schon sichtbar. Christus als die vollkommen freie ethische Person zu sehen, die das endgültige Ziel des ethisch aufgeklärten Lebens zur Erscheinung bringt, ist entscheidend für die gesamte Christentumsdeutung Herrmanns. Letzten Endes hat der 20 R 391; R 276: „Wenn das Christentum die absolute Religion sein will und deßhalb zu einem dogmatischen Beweise seiner Wahrheit auffordert, so muß die in ihm vorhandene religiöse Gewißheit als integrirendes Moment die Einsicht in sich legen, daß es die nothwendige und vollkommene Lebensform des persönlichen Geistes ist. In jedem gläubigen Christen erwächst diese Einsicht aus dem Zeugniß, welches sein Gewissen für die Wahrheit seines Glaubens ablegt. Sein Glaube macht es ihm möglich, die Wirklichkeit, von welcher sich sein Selbstgefühl nicht ablösen läßt, an das Ideal zu knüpfen, welches ihm durch das Sittengesetz von ferne gezeigt wird." Siehe auch R 394-395. 21 R 256.

Die Bedeutung der Offenbarung und das ethische Subjekt

145

christliche Glaube einen ethischen Inhalt. Darin expliziert sich auf konkrete Weise das ethische Bewußtsein, das als Idee dem aufgeklärten ethischen Menschen zu erreichen möglich ist, wenn er sich vollkommen dem notwendigen ethischen Gesetz hingibt. Herrmann setzt philosophische Ethik und Christentum allerdings nicht miteinander gleich, auch wenn sie den gleichen Inhalt haben: Die vollständige Freiheit der Person von der Natur. Ihr Unterschied liegt in der Weise, in der das endgültige Ziel des Menschen als erreichbar gedacht ist. Philosophisch gesehen ist Freiheit von der Natur nur eine denkmögliche Freiheit, in der das Subjekt seine eigenen Grenze erfährt. Diese Grenze, jenseits derer die Freiheit liegt, kann der Mensch in seinem „natürlichen" Bewußtsein nicht überschreiten. Das ethische Ziel ist somit in der philosophischen Idee nur eine Denkkonzeption. Der Gedanke eines höchsten Gutes und vollkommenen Willens ist jedoch nicht Gott, denn Gott ist kein Objekt des Denkens. Gott wird nicht, wie Kant laut Herrmann irrtümlich annimmt, in der Idee eines höchsten Willens und einer vollkommenen Freiheit erreicht. Herrmann lehnt also die Vorstellung ab, im Bereich der Philosophie, in der reinen Sittlichkeit des Menschen sei Erkenntnis von Gott vorhanden oder die Vernunft könne Gott denkerisch erfassen. Der Gedanke begreift Gott nicht, und was sich das Denken vorstellen kann, ist nicht Gott. Herrmann kommt sogar geradewegs zu der Aussage, daß Gott an sich überhaupt nicht existiert. 22 Gott ist Gott nur in seiner Offenbarung, in Christus, in dem Gottes Wille in Vollkommenheit sichtbar wird. Herrmann reduziert das Sein Gottes somit auf den Ausdruck des Willens Gottes, der aufgrund der Offenbarung erfahren werden kann. Er betont sogar, daß der Wille Gottes aufgrund der Offenbarung vollkommen erkennbar ist. Es verbleibt nichts außerhalb der Offenbarung, das dem Glaubenden über Gott verborgen bliebe. 23 22 GA, 261: „Wie Gott sich dem Glauben in Jesus Christus offenbart, so ist er." R 324: „Für den religiösen Glauben ist die metaphysische Frage gleichgültig, ob in dieser gegebenen Welt sich dem Erkennen eine Tiefe erschließt, in welcher unabänderliche Bedingungen einer zusammenhängenden Welterklärung sichtbar werden. Dagegen ist dem Glauben die Erkenntniß des Wesens Gottes allerdings nothwendig. Vielleicht ohne daß er es sich selbst eingesteht, zehrt das religiöse Leben des Gläubigen von der Gewissheit, daß ihm das innerste Wesen Gottes aufgeschlossen ist. Die Ungewißheit über das Wesen Gottes gestattet vielleicht abergläubische Sicherheit, die sich auf statutarische Zeichen des Verborgenen verläßt, aber keine religiöse Gewißheit. Es ist doch gar nicht denkbar, wie man von Herzen an Gott glauben und dadurch eine innere Befreiung erleben könne, wenn man nicht weiß, an wen man glaubt." 23 R 324-325; 391; Siehe besonders R 394: „In der geistigen Weltherrschaft, welche Jesus auf diese Weise ausübt, wird auch das Wesen Gottes wirklich erkennbar. Wir können uns nicht denken, daß noch irgend ein geheimnisvolles Etwas der Macht des guten Willens über die Welt, welche Jesus erlebt, M a ß und Ziel setze. Wir bilden durch den Glauben,

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Offenbarung als geschichtliche Tatsache und Ereignis persönlichen Erlebens

Wenn Herrmann darlegt, daß Gott nur in der Offenbarung existiert, übt er Kritik an der Metaphysik und damit auch an der klassischen Theologie. Er vertritt nämlich die Auffassung, daß jegliches Reden über das Wesen Gottes in einem anderem Sinne als dem seines Willens schon Metaphysik und keine Theologie mehr ist. In der Theologie kann nur von der Offenbarung des Willens Gottes gesprochen werden, obgleich auch der Wille Gottes als eine in sich selbst ruhende Größe zum Problem gerät, wird er im Verhältnis zum Willen des Glaubenden betrachtet. Wo sich der Mensch des Willens Gottes bewußt wird, wird nämlich zugleich die Richtung des eigenen ethischen Willens Gottes offenkundig. Die Offenbarung zeigt also ein ethisches Ziel auf, legt jedoch nicht den Willen Gottes „an sich" offen. 24 Wenn Herrmann in Gottes Willen gerade die Forderung sieht, der Mensch müsse sich zur ethischen Persönlichkeit verwirklichen, bedeutet dies nicht, daß er praktisch die Grenzen zwischen Philosophie und Theologie verwischte, falls unter Philosophie natürliches, ohne Offenbarung erlangtes Wissen verstanden würde. In dieser Hinsicht unterscheidet er die Theologie von der Philosophie. Theologie und Dogmatik bauen auf der geschichtlichen Offenbarung auf, die er allerdings praktisch interpretiert. Der Inhalt der Offenbarung liegt im höchsten Willen Gottes, welcher wiederum nichts anderes ist, als die vollkommene s i t t l i c h e Person, d. h. die im Reiche Gottes lebende freie Persönlichkeit. Die Person Christi ist somit Ausdruck des vollkommenen Willens und der vollkommenen Freiheit. 25 Herrmann betont einerseits auf der Ebene der Idee die Gleichheit von Gottes Willen und dem „Wesen" des Menschen: Gott ist dem sittlichen Menschen gleich. 26 Andererseits ist die Person Christi,

daß der persönliche Wille des Gottesreiches, welchen J e s u s als seinen eigenen und als den Willen Gottes weiß, der Schöpfer und Herrscher über alles Dasein ist, eine besondere Religionsgemeinde, und sind uns zugleich bewußt, daß dieser G l a u b e mit der Behauptung unserer sittlichen Persönlichkeit identisch ist. J e d e r Versuch also, dem Wesen Gottes einen anderen Inhalt zu geben, muß für den Christen einen Abfall von dem christlichen Glauben bedeuten, für den Theologen aber eine nachweisbare Abirrung von dem ethisch n o t w e n digen Gottesgedanken: D a s Leben J e s u giebt uns den Stoff für den Gedanken Gottes." Siehe auch Κ 122. 24 R 313: „Dieses Wirkliche aber ist für jeden Menschen nicht in der Gottesidee als solcher zu finden, sondern in den Ereignissen, durch welche der Inhalt derselben für ihn practisch wirksam geworden ist. In solchen Ereignissen hat der Fromme unter den besonderen Bedingungen seines weltlichen Daseins die auf ihn gerichtete Gesinnung des lebendigen Gottes erkannt. U n d christliche Religion besteht nun eben darin, daß jemand in der geschichtlichen Person J e s u Christi denjenigen Ausdruck der thatkräftigen Gesinnung G o t tes gegen ihn selbst gefunden hat, welcher ihn zu seinem Frieden bringt und ihm die Augen für die fortlaufenden Offenbarungen öffnet, mit welchen G o t t seinen Lebensweg umgiebt." 25 R 323. 26 R 323.

Die Bedeutung der Offenbarung und das ethische Subjekt

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wenn es um die Verwirklichung der Idee geht, weit mehr als die glaubende Person. Christus steht nicht in seiner bloßen Äußerlichkeit, in seiner Geschichtlichkeit, über dem Menschen, sondern gerade in jener Bedeutung, die der Glaubende in seiner Begegnung mit Christus erfährt. 27 Der Person Christi zu begegnen heißt nicht, sie im physischen oder ontologischen Sinn zu besitzen. Dies schließt Herrmanns Kritik der Metaphysik natürlich aus. 28 Dagegen muß sorgfältig analysiert werden, was er meint, wenn er sagt, der Glaube bedeute auch nicht eine Teilhabe am sittlichen Bewußtsein Christi. Dies kann weder nachgeahmt noch im nachhinein erworben werden. 29 Mit dieser Aussage weist Herrmann sowohl Schleiermachers als auch Cohens transzendentale Auslegung zurück. Christus wird nicht im ethisch-erkenntnistheoretischen Sinn zum Bestandteil des glaubenden Bewußtseins, wie aus der transzendentalen Methode Cohens folgen würde. Cohen unterscheidet nämlich nicht zwischen ethischem, erkenntnistheoretischem und religiösem Subjekt, vielmehr versteht er dies als ein und dieselbe Größe. Schleiermacher wiederum unterscheidet nicht zwischen religiösem und sittlichem Bewußtsein, wenn er herausstellt, daß Sittlichkeit nur die Identifizierung mit dem Leben Christi bedeutet. Für unsere Frage, was Herrmann mit Glauben an Christus meint, bekommt also der bereits deutlich gewordene besondere Zug zentrale Bedeutung, nämlich daß er bereits in seiner praktischen Begründung eine Trennung zwischen ethischem und religiösem Subjekt vollzieht. 30

27 R 394-395: „Es wäre vollständig ziellos, dieß durch Nachahmung Jesu erreichen zu wollen. Denn es handelt sich ja grade darum, uns in diejenige geistige Situation zu versetzen, durch welche auch unser Wille erst zu einer Thätigkeit befähigt werden kann, welche der seinigen entspricht. Ein Vertrauen auf die Liebe Gottes, welches durch Nachahmung Jesu gewonnen wäre, würde dem, welches ihn selbst trägt, durchaus ungleich sein." 28 M 50: „Weit verderblicher als in dem eben behandelten Punkte scheint mir nun aber die Verwechslung der theologischen mit einer metaphysischen Aufgabe in der Christologie gewirkt zu haben. Wie man sich dort mit metaphysischen Eigenschaften Gottes auseinanderzusetzen suchte, so spricht man hier von einer metaphysischen Einheit Christi mit Gott." Siehe auch M 67: „Ist es daher, wie nach der kirchlichen Christologie, unmöglich, in jener Erkenntnis ein Offenbarwerden des Wesens Christi zu sehen, so fällt dieses über das denkbar Wertvollste hinaus. Mit dem Hervortreten dieser Einsicht muß das kirchliche Dogma von der Gottheit Jesu als ein störendes Hindernis empfunden werden." 29 R 395: „Für Jesus liegt diese spürbare Wirksamkeit Gottes in der Thatsache seines eigenen Selbstbewußtseins. Für uns kann die Zuversicht zu Gott in dieser Weise keine innere Wahrheit haben, weil uns der sittliche Endzweck und damit der Inhalt des Gottesgedankens selbst erst an dem geschichtlichen Leben Jesu mit anschaulicher Lebendigkeit aufgeht, also als etwas nicht zu uns Gehöriges." 30 R 395: „Aber was wir gewinnen, ist die freie Einsicht, d a ß für uns, wenn wir uns auf uns selbst stellen, das, was er [Christus] erlebt, keine Wahrheit hat."

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Offenbarung als geschichtliche Tatsache und Ereignis persönlichen Erlebens

Christus befindet sich außerhalb des Glaubenden in solcher sittlicher Vollkommenheit, wie sie dem Glaubenden erst als Gedanke, als Idee gegeben ist. Herrmann deutet auch an, der Christ könne nicht in der Weise das sittliche Bewußtsein Christi erlangen, daß er es aus sich selbst heraus unter Benutzung Christi als Mittel erreichte. 31 Damit ist die entscheidende Beobachtung gemeint, daß die Christus-Offenbarung dem sittlich aufgeklärten Menschen nichts ontologisch oder erkenntnismäßig Neues sagt. Bereits in ihrem sittlichen Bewußtsein kann sich die Person ja als von der Natur freie Persönlichkeit denken. Es scheint, als ob die Offenbarung, meint Herrmann, nur die Richtung der Sittlichkeit anzeige. Sie bestätigt weder den Willen des Menschen noch seine sittliche „Substanz", sondern ist einer Art Macht gleich, die seinen Blick auf das Ziel lenkt: das Reich der sittlich vollkommenen Individuen, das Herrmann als Reich Gottes bezeichnet. Der bereits aus der praktischen Ethik bekannte Inhalt erweist sich so auch als Inhalt der Offenbarung: Die M o tivation der Person, Persönlichkeit zu werden. Dieses Bestreben ist keinem bloßen Erleben des religiösen Selbstgefühls möglich, das allerdings bereits als Werterlebnis dem Wesen nach sittlich ist. Es überrascht angesichts der zentralen Rolle des religiösen Erlebnisses in Herrmanns Definition des praktischen Religionsbegriffes, daß er auch den ethischen Charakter der Offenbarung betont. Christus ist als vollkommenes ethisches Bewußtsein kein Gegenstand, den man nachahmen 3 2 oder an dessen Gottesbewußtsein man teilhaben könnte, und zwar auch dann nicht, wenn man Christus als Hilfe dafür verwenden würde, denn er ist eine Macht, die den Mangel an Sittlichkeit im Glaubenden aufzeigt. Die Christus-Offenbarung ist also vor allem Gericht. 3 3 Herrmann bezeichnet das Gericht als „Freiheit", weil es das natürliche Bewußtsein des Menschen verurteilt und ihm zugleich zur Erkenntnis seiner Freiheit von der Natur verhilft. Die Freiheit der Person von der Natur ist somit dieselbe Freiheit, die auch der christliche Glauben verkündet. Christus 31 R 395: „ D i e Freiheit des Selbstgerichts wird uns durch das Verständniß dessen, was Jesus für sich selbst ist, geschenkt, aber nicht die Fähigkeit, dieselbe Stellung zu G o t t einzunehmen wie er." 32 M 68: „Denn das Prädikat der Gottheit Christi wird ja nicht auf dasjenige bezogen, worin er uns offenbar ist, nicht auf den ethischen Inhalt seiner Person, sondern auf das, was dunkel und unergründlich als das eigentlich Wertgebende sich mit diesem verbindet, auf seine verborgene Einheit mit dem Vater. D a n n gilt aber das wahrhaft Reale, als die Macht über alle Wirklichkeit nicht mehr das Reich Gottes, das höchste Gut der christlichen Gemeinde. An die Stelle dessen schiebt sich die Vorstellung eines dem sittlichen Geiste undurchdringlichen Etwas, das als das gemeinsame Wesen Christi und Gottes der Quell aller Güter ist." 33 R 396: „Diese Vereinigung der absoluten sittlichen Autorität und der allem eigenen Thun des Menschen zuvorkommenden vergebenden Liebe, in Jesus begründet die religiöse Gemeinde, die durch ihn an den Vater glaubt." Siehe auch R 397.

Die Bedeutung der Offenbarung und das ethische Subjekt

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ist die Macht, die dem Willen des Menschen zunächst die Richtung weist und dann die Kraft verleiht, dem ethischen Reich, dem Reich Gottes zuzustreben. Aus der Erfahrung des Gerichts und der Vergebung Christi (der Liebe Gottes) erhebt sich der Glaubende selbst über die Natur. Er wird beauftragt, ein sittliches, auf das Reich Gottes ausgerichtetes Leben zu führen, das sich in der Gemeinde konkretisiert. 34 Herrmann gebraucht für diese Begegnung mit Christus die Bezeichnung „Verkehr". 35 Das Individuum kommt dabei so mit dem „Wesen" Gottes als vollkommenem Willen und Freiheit in Berührung, daß es sich immer mehr selbst als ethische Person versteht. Dieses Ereignis nennt Herrmann Gabe und Evangelium, weil es für den Menschen Freiheit bedeutet. Dabei hält der Glaubende nicht (gesetzeshaft) an irgendwelchen Lehrsätzen fest, er übernimmt auch keine physische Wirklichkeit, sondern wird sich seiner eigenen Freiheit, die ihn über die Natur hinaushebt, bewußt. Das Evangelium bedeutet somit Freiheit im ethischen Sinn. 36 Diese Aussage wiederum ist organisch mit dem Gedanken verknüpft, daß der Mensch seine eigene Person als Freiheit erkennt. Der Mensch übernimmt also, wenn er Christus als Person an- und übernimmt, nicht ontologisch die göttliche Person in der Welt. Eine solche Übernahme stünde ja auch im vollkommenen Gegensatz zu Herrmanns Kritik der Metaphysik. Das Individuum erkennt vielmehr bei der Übernahme der Person Christi sich selbst als eine immer größer werdende Freiheit, mit anderen Worten es erkennt sich als von der Natur unterschieden. Doch ist dem Frommen die totale Trennung von der Natur und ein Leben als sittliche Person nicht möglich, die Freiheit zeigt ihm vielmehr erst die Richtung zum Reich Gottes, d. h. dem sittlich vollkommenen Reich, an. Der Glaube ist damit nach Herrmann also keine Gabe in dem Sinne, daß in ihm irgendeine göttliche, physische oder intellektuelle Wirklichkeit angenommen - und übernommen würde. 37 Glaube bedeutet vielmehr Freiheit, weil das Individuum in Christus sich in immer größerem Maße seines Freiseins bewußt wird. Die Begegnung mit Gott ist die Begegnung des Individuums mit seiner eigenen sittlichen Persönlichkeit, d. h. mit etwas, was noch nicht ist, nämlich mit seiner eigenen Teilhabe am Reich 34 R 397: „Ebenso aber wie für Christus bleibt für uns in Geltung, daß wir das religiöse Gut nur genießen, indem wir zugleich unserem Willen die Richtung auf das Gottesreich geben." 35 „Verkehr" lautet auch der Titel von Herrmanns Luther-Untersuchung. 36 Herrmann setzt D o g m a und Gesetz miteinander gleich: V 3. 37 M 31: „Trotz seines [Luthers] regellosen Zurückgreifens auf patristische Wendungen bricht bei ihm überall das Gefühl hervor, daß die alte Christologie mit ihrer äußerlichen Verknüpfungen der innerlich geschiedenen Naturen dem evangelischen Glauben widersteht."

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Offenbarung als geschichtliche Tatsache und Ereignis persönlichen Erlebens

Gottes. Der Glaubende hat zwar bereits daran teil, repräsentiert es jedoch noch nicht. Im Gedanken einer Repräsentanz dieser Teilhaberschaft verbirgt sich nach Herrmann auch der Unterschied zwischen dem Glaubenden und Christus. Christus repräsentiert das Reich Gottes, und die Gottheit ist in ihm als vollkommener Wille gegenwärtig. Das „Wesen" Gottes ist also das Wesen des vollkommenen Willens, und Gottes Wille ist nach Herrmann kein Geheimnis. Er ist in Christus sichtbar, und der Glaubende kann in dem Maße leben, wie er durch Christus seine eigene Freiheit erkennt. 38 Obwohl das Evangelium also nach der praktischen Ethik Herrmanns in seinem tiefsten Wesen ethisch ist, bezeichnet er es außer als Freiheit auch als Gabe. „Gabe" verweist dabei auf das erlebnishafte Element des Evangeliums im Glauben, d. h. im Bereich des Erlebens des Selbstgefühls. Der Mensch kann in seinem Selbstgefühl das Evangelium als Gabe „genießen": er kann jedoch noch nicht die Freiheit selbst in sich realisieren. 39 Transzendental betrachtet sind „Gabe" und „Freiheit" auf der inhaltlichen Ebene des Christentums das, was „Religion" und „Ethik" auf philosophischer Ebene sind. Die Dogmatik setzt als Begründung und Auslegung des christlichen Glaubens nach Herrmann die „richtige" philosophische Definition von Religion und Ethik voraus. Die Religion hat, wie bereits dargelegt wurde, ihren Grund im Gefühl und im unmittelbaren Werterleben, das das Individuum von seiner Existenz gewinnt. Insoweit ist das Selbstgefühl das Korrelat des geschichtlichen Christentums. Es ist auch das einzige transzendentale Korrelat zum christlichen Glauben. Dennoch kann der Inhalt des christlichen Glaubens nicht allein vom Selbstgefühl her verstanden werden. Erst die Sittlichkeit expliziert den Gedanken, daß die Person frei von der Natur ist, und gibt ihm die letzte Bedeutung, Herrmanns Metaphysikkritik und der Inhalt des christlichen Glaubens sind damit in gewissem Sinne zwei Seiten einer Medaillie. Der Inhalt des Christentums oder die vollkommene Freiheit in Christus, die der Glaubende nur als Richtung des Willens auf das Reich Gottes, auf das Reich sittlicher Vollkommenheit, hin „besitzen" kann, steht mit der bloßen Forderung des Sollens im Gegensatz zur Metaphysik. Die Freiheit existiert nicht substantiell im Glaubenden, weil sich der Begriff der Freiheit

38

R 396-397. R 12: „Die christliche Weltanschauung gilt daher nicht für den Menschen als sinnlich beschränktes Naturwesen, sondern f ü r den Menschen als sittliche Person. Sie macht den Anspruch, die Verbindung der Menschen zur Menschheit in einem Reiche Gottes zu ermöglichen und der sittlichen Person durch die Eröffnung eines wahrhaft überweltlichen Lebens die Gewißheit ihrer eigenen Realität gegen den Widerspruch der Natur zu sichern. In der Wahrheit dieser Verheißung besteht die universelle Bedeutung des Christenthums." 39

Die Bedeutung der Offenbarung und das ethische Subjekt

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ja gerade gegen jede ontologische Metaphysik richtet. Herrmanns Metaphysikkritik fungiert also nicht nur als eine Abgrenzung gegenüber einem inhaltlich religiösen Gehalt der Dogmatik, sondern der Inhalt der Dogmatik ist gerade der Inhalt einer kritischen, ethischen Philosophie. Christentum und Philosophie unterscheiden sich nur dadurch, daß die Botschaft des Christentums nicht nur ein Ideal, sondern auch lebendige geschichtliche Wirklichkeit ist. Die Botschaft des Christentums steht dem Glauben offen, auch wenn sie noch nicht übernommen werden kann. Obwohl Herrmann also meint, dem intellektuellen Publikum seiner Zeit mit praktisch-philosophischen Mitteln eine Begründung für den christlichen Glauben bieten zu können, geht es bei dieser Begründung nicht nur um formale oder sprachliche Fragen. Die Art der Begründung gibt vielmehr bereits in großem Maße den Inhalt des christlichen Glaubens vor. Dieser Inhalt des christlichen Glaubens läßt sich als Inhalt der praktischen Ethik Kants darstellen, demzufolge nämlich das höchste Ziel im vollkommen von der Natur befreiten Menschen liegt. 40 Herrmann bezeichnet den wirklich freien Menschen als „Persönlichkeit". Die vollkommene sittliche Persönlichkeit ist in Christus bereits ein geschichtliches Faktum, auch wenn die Freiheit im glaubenden Individuum erst noch angestebt werden soll. Durch Christus nimmt der Glaubende seine eigene Persönlichkeit an, mit anderen Worten er erkennt seine eigene Freiheit. Er ist so auf das Reich Gottes als dem Reich der sittlich vollkommenen Individuen ausgerichtet. Das Individuum erkennt seine eigene Freiheit im Erleben des Selbstgefühls, das vor anderen verschlossen ist. Religiöse Erlebnisse und Werturteile eines anderen Menschen kann das Individuum nur als eine Art Nacherlebnis erfahren. Solche aus religiösen Erlebnissen entstehenden Werturteile eignen sich nach Herrmann nicht als dogmatische Sätze, weil sie nicht allgemeingültig sind. Die religiösen Werturteile eines Individuums können nur von ihm selbst erlebt werden und lassen sich nicht verallgemeinern. Auf der Ebene religiöser Werturteile ist daher keine allgemeine Kommunikation möglich, mit ihnen läßt sich auch nicht die Absolutheit des christlichen Glaubens begründen, worauf Herrmanns Apologetik hinzielt. Die Religion, also das Erlebnis des Selbstgefühls, reicht an sich also als Begründung des christlichen Glaubens nicht aus und läßt sich auch nicht für eine allgemeine Bekanntmachung des Christentums einsetzen. Die Dogmatik ist demnach auf die praktische Ethik, durch die sie Allgemeingültigkeit erlangt, angewiesen. Die Religion ist praktisch gesehen individuell, weil sie auf dem Selbstgefühl beruht. Die Ethik dagegen

10

R 12

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Offenbarung als geschichtliche Tatsache und Ereignis persönlichen Erlebens

ist allgemeingültig, denn sie liegt in den Begriffen des sittlichen Sollens und der Freiheit begründet. Als ein von der Religion unterschiedenes Moment des Bewußtseins verleiht die Ethik der Dogmatik die Allgemeingültigkeit, die Herrmann für die Dogmatik zu fordern scheint. Herrmann meint auch nicht wie Schleiermacher, daß die „Wissenschaftlichkeit" der Dogmatik darin liege, ihr "Wesen von ihren eigenen inneren Voraussetzungen her zu erklären. Herrmann sieht die Dogmatik vielmehr in ihrem Wesen als apologetisch an, als wissenschaftliche Begründung des christlichen Glaubens für alle. Die unmittelbar durch das Glaubenserlebnis ausgelösten Werturteile reichen also nicht aus, um als Lehrsätze gelten zu können. Weil das religiöse Erlebnis immer individuell ist - ein Gedanke, der Herrmanns ganzes Schaffen durchzieht - , kann es in keiner Weise verobjektiviert werden. Niemand kann das Erlebnis eines anderen anders als durch eine Art Nacherlebnis nachvollziehen. Dieses Nacherlebnis bezeichnet Herrmann als Liebe. Er füllt also die klassischen Begriffe „Gabe" und „Liebe" inhaltlich in einer Weise, die zwar an ihre ursprüngliche Bedeutung erinnert, dabei aber jegliche ontologische Interpretationsmöglichkeit ausschließt. Damit ist „Gabe" das im Selbstgefühl erfahrbare Christus-Erlebnis und als solches das Realste, was es im Glauben geben kann. „Liebe" ist die Erfahrung, in der ein Mensch das religiöse Erlebnis eines anderen nacherlebt. Einer kann das Erlebnis eines anderen nur erfahren, indem er in seiner eigenen Entwicklung das durchleben kann, was der andere bereits erfahren hat. Den Ausdruck eines solchen Erlebnisses kann nur verstehen, wer ein gleichartiges Erlebnis hatte. Die Lehrsätze sind daher, weil in religiösen Werturteilen begründet, nicht absolut und können vom Individuum auch nicht unabhängig von der eigenen inneren Erfahrung übernommen werden.

7. Die Lehre als Ausdruck des Erlebens als ethische Reflexion 7.1. Kritik

und Neuinterpretation

des klassischen

Dogmas

Wie sehr Herrmanns praktische Begründung des christlichen Glaubens auch seine Deutung des Christentums bestimmt, wird sehr gut an seiner Sicht der Lehre deutlich. Herrmann setzt das klassische Dogma der Metaphysikkritik aus, die sich aus seinem praktischen Denken ergibt. In dieser Kritik des klassischen Dogmas wird nun ein Zug besonders erkennbar, der sein Christentumsverständnis besonders strukturiert. H e r r mann meint nämlich, d a ß das klassische Dogma bis in den Kern hinein der metaphysischen Denkweise entspricht. Das Dogma sei eine Ansammlung von Lehrsätzen über die objektive Wirklichkeit, deren Objekt G o t t an sich, Gott als der letzte Grund der gesamten Wirklichkeit sei. Die Sätze des Dogmas formulierten als wahre Sätze eine objektive Wirklichkeit, und G o t t werde in ihnen als der erste und letzte Grund der Wirklichkeit zum Gegenstand des Intellekts. Ein intellektualistisches Verständnis der Lehre weist Herrmann jedoch schon auf der Grundlage seiner Metaphysikkritik zurück. Vor seinem eigenen Glaubenserleben kann der Glaube nichts annehmen oder für wahr halten. Herrmann fragt deshalb auch, wie es möglich sei, daß der Glaubende gewisse Lehrpunkte übernehmen kann, bevor er sie selbst erfahren hat. Wie sollte es also möglich sein, einen Satz für wahr zu halten, auch wenn man noch nicht selbst mit der Tatsache, von der der Satz spricht, in Berührung gekommen ist. Als Beispiel f ü h r t er den Tatbestand der klassischen christlichen Dogmatik an, d a ß Jesus Gott sei.1 Niemand könne diesen christologischen Satz für wahr halten, wenn er nicht vorher in Christi Person Gott begegnet sei, sagt Herrmann: „Wenn wir den Satz, daß Jesus Gott ist, verstehen, so ist natürlich erstens nötig, d a ß wir Jesus selbst sollen kennen." 2 Sein Urteil über das klassische Dogma führt zunächst auf dasselbe Problem des Verhältnisses von Rezeptivität und Spontaneität, das bereits bei der Analyse seines Offenba1 M 53: „Also der unumgänglich notwendige theologische Beweis, daß Jesus für den Glauben eins ist mit Gott, wird unterlassen und dafür ein Beweis unternommen, der nicht theologischer sondern metaphysischer Art ist." 2 V 102.

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Die Lehre als Ausdruck des Erlebens - als ethische Reflexion

rungsbegriffes deutlich wurde. Ist Christi Person von aussen her zu erkennen, oder ist er nur das Bild eines Individuums, das sein Personsein in seinem Selbstgefühl schon, erlebt hat? Oder gibt Herrmann in der Tat zunächst zu verstehen, das Problem des Dogmas bestehe nur darin, daß der Glaubende vor seiner eigenen Erfahrung mit Gott die Bedeutung des Satzes nicht verstünde. 3 Später, nachdem er Gott durch die Vermittlung Christi erfahren habe, könne der Glaubende verstehen, was der Satz „Christus ist Gott" bedeute und könne ihn auch selbst bekennen. Das christologische Dogma kann also aus einem rezeptiven Blickwinkel gesehen gültige Aussagen enthalten, und zwar unabhängig davon, ob es persönlich verstanden wird oder nicht. Herrmann scheint davon auszugehen, daß die Erfahrung des Glaubenden bereits von Natur aus so strukturiert ist, daß er seine Glaubenserfahrung richtig zu benennen vermag. 4 Herrmanns Auffassung scheint auch mit Blick auf das Dogma zwei unterschiedliche Seiten aufzuweisen. Dies mag der Fall sein, weil er dem klassischen Dogma stets kritisch gegenübersteht. Immerhin kann er sagen, daß das Bekenntnis von der Gottheit Christi der Kirche niemals verloren gehen könne, auch wenn die Sätze dieses Bekenntnisses völlig anders verstanden würden, als man sie verstehen müßte. Es gehe bei der Gottheit Christi darum, daß der Glaube in Christus „das höchste Gut" findet. Jedoch betrachtet er die Auffassung, die klassischen Lehrsätze seien als solche gültig, würden sie nur richtig ausgelegt, als irrig. Das jedenfalls zeigt sich, wenn untersucht wird, welchen Inhalt Herrmann selbst dem klassischen Dogma zuweist. Herrmann zufolge liegt das Problem des klassischen Dogmas aus der Sicht des praktischen Denkens nicht nur in einem falschen Verständnis und dessen Korrektur. Das Problem des Dogmas verschwinde durch seine Uminterpretation nicht, weil das Dogma hinsichtlich seiner gesamten Denkweise zeitgebunden sei. Die Zweinaturenlehre habe beispielsweise bereits in sich eine gewisse Bedeutung, die nicht umgebogen werden könne. Herrmann weist so bereits der Bedeutung die Rolle zu, die Struktur der Denkweise sichtbar zu machen. Allerdings kennt die Theologiegeschichte auch Beispiele dafür, daß ein Dogma geachtet und bewahrt wurde, obwohl man sich faktisch in der Lehre von seiner ursprünglichen Bedeutung abgewandt hatte. So führte etwa Luther, ohne expressis verbis die klassische Lehre zu verwerfen, faktisch eine neue Rechtfertigungslehre ein. Luther habe seine eigenen, tatsächlich neuen Ideen „im alten Wein" verborgen zur Kenntnis gebracht. Ihm habe in seiner Zeit keine andere Möglichkeit zur Verfügung gestanden, weil dem klassischen Dogma noch eine selbstverständliche und nicht hinterfragte Verbindlichkeit zukam. 5 4

V 102. V 115.

Kritik und Neuinterpretation des klassischen Dogmas

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D a ß Herrmann Luther noch faktisch als einen Repräsentanten des klassischen Dogmas sieht, ist interessant, es wirft zudem ein bezeichnendes Licht auf seine eigene Auffassung. Für ihn ist es nämlich ausgemacht, daß, wenn überhaupt einer mit Vehemenz die klassische Lehre repräsentiert, es Luther war. Unter Berufung auf Harnacks dogmengeschichtliche Forschungen konstatiert er, daß in der Theologengeneration vor Luther kaum ein zweiter gefunden werden kann, der das klassische Dogma so ernst genommen hat wie Luther. 5 Nach Herrmann war die klassische Lehre für Luthers Vorgänger und Zeitgenossen quasi nur ein Relikt aus vergangenen Zeiten, und erst Luther nahm sie in seiner Theologie ernst. Luther meinte, daß das Heil gerade in der Zweinaturenlehre Christi enthalten sei.6 Für Herrmann ist das Heil jedoch nicht in der klassischen Zweinaturenlehre enthalten, sondern Luther führt hier seiner Meinung nach ein neues, fremdes Element ein. Dieses war weder im Sinne der ursprünglichen Verfasser des Dogmas, noch entsprach es seiner späteren Bedeutung. Luther benutzt die klassische Christologie wie eine Schale, um darin seine eigene neue Rechtfertigungslehre zu präsentieren. Nach Herrmann war das klassische Dogma zur Zeit Luthers so selbstverständlich, wie man sagte, „die Sonne geht auf". Jegliche Infragestellung war von vornherein undenkbar. Luther blieb gar nichts anderes übrig, das Neue gleichsam im Gewand der alten Lehre einzuführen. Dieses Neue - dem sich Herrmann selbst, wenn auch von seiner eigenen Auffassung her anschließt - lasse sich jedoch inhaltlich nicht mit der klassischen Lehre vereinbaren. Das, was Luther in Jesus finde, decke sich nicht mit der Aussage des klassischen Dogmas, daß Gott die göttliche Natur mit der menschlichen Natur Jesu verbindet. 7 Herrmann möchte also zweierlei: Einerseits möchte er Luther historisch korrekt deuten, indem er zugibt, daß der Reformator äußerlich dem klassischen Dogma folgt. Andererseits möchte er aber zugleich Luther als Autorität für seine eigenen neuen Auffassungen in Anspruch nehmen. 8 Die Spitze seiner Kritik an der klassischen Zweinaturenlehre gilt der Gottheit

5 „Es ist so, wie es A.Harnack ausgeführt hat, daß in dem Theologengeschlecht, über dessen Horizont Luther sich erhob, keiner so mit dem alten D o g m a der Kirche ernst machte, wie er." V 118. 6 „Für Luther dagegen war darin [im D o g m a ] ausgesprochen, was sein Glaube thatsächlich an Jesus Christus hatte, die Erlösung aus N o t und Sünde." V 118. 7 V 121-122: „In den Formen des alten Dogmas lässt sich das, was Luther in der Person Jesus gefunden hatte, nicht vollständig ausdrücken, denn der persönliche Gott, der in dem menschlichen Leben Jesu sich uns zuwendet, ist etwas anderes als der Gott, dessen Eintritt in die Menschheit nur das zur Folge hat, dass sich mit der menschlichen Natur Jesus eine Göttliche Natur verbindet." 8 V 119: „Deshalb bedeutete die Stellung zu Jesus, deren Luther sich bewusst war, einen Fortschritt in der Entwicklung der christlichen Religion."

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Die Lehre als Ausdruck des Erlebens - als ethische Reflexion

Christi und ihrer Bedeutung für den Heilsbegriff Luthers. Hier möchte er dem historischen Verständnis Luthers zum Recht verhelfen. Er sieht jedoch nicht dessen Bedeutung für Luthers Entdeckung der Rechtfertigung aus Gnaden. Luther, so meint Herrmann, schließe sich Athanasius an, wenn er sage, daß der Grund des Heils in der Gottheit Christi liege, 9 gebe sich damit aber nicht zufrieden. 10 Für Luther sei es zum Heil nicht genug, für wahr zu halten, daß Christus Gott sei. Ihm zufolge halten viele Christus für den wahren Gott, vermögen aber trotzdem keinen Trost aus der Freundlichkeit Christi zu schöpfen. 11 Nach Herrmanns Verständnis meint Luther, daß diejenigen, die es beim bloßen Bekenntnis der Gottheit Christi belassen, ohne das besondere, aus der Christuserfahrung resultierende Verständnis zu haben, „in der Macht des Satans" verbleiben. 12 Faktisch begnüge sich Luther auch nicht mit dem Inhalt des klassischen Dogmas, in dem die Verbindung von Gott und Christus vorausgesetzt sei. Das klassische Dogma vermöge nämlich nicht, das persönliche Leben Gottes und des Menschen Jesus zu vereinen. Luther meint daher auch, so Herrmann, daß erst „in der Offenbarung des inneren Lebens Jesu" der wirkende und das Innerste des Menschen öffnende Gott angetroffen werde. 13 Luther, so Herrmann weiter, betone diesen Hauptaspekt, von dem das richtige Verständnis des Gedankens der Gottheit Christi abhänge, nicht immer in genügender Weise. 14 Dennoch meint Herrmann Luthers eigentliche Intention recht

9 V 121. 10 γ !22. 11 V 122-123. Herrmann beruft sich auf folgendes Lutherzitat: „ [ . . . ] denn das kann der Teufel noch leiden, so man allein an dem Menschen Christo hanget, und nicht weiter fähret: ja er lässt auch die Wort reden und hören, dass Christus wahrhaftig Gott sei. Aber da wehret er, dass das H e r z nicht könne Christum und den Vater so nahe und unzertrennet zusammenfassen, dass er gewisslich schliesse, sein und des Vaters Wort sei ganz und gar einerlei Wort, H e r z und Wille; wie denn die unverständigen Herzen denken: Ja ich höre wohl, wie Christus den betrübten Gewissen freundlich und tröstlich zuspricht; wer weiss aber, wie ich mit Gott im Himmel daran bin? Das heisst denn, nicht einen einigen Gott und Christum, sondern einen andern Christum und einen andern Gott ihm selbst gemacht, und damit den rechten Gottes gefeilet, welcher nirgends erfunden und ergriffen werden will, denn in diesem Christo." Ε. A. 12, 324 (Sommerpostille 1543, Pred. über Joh. 14, 23-31.) 12 V 123. 13 V 124. Siehe C 312: „Denn das Christentum Luthers scheidet sich dadurch am schärfsten von dem katholischen, daß f ü r ihn der Glaube nicht ein Werk ist, das der Mensch nur als das seine erleben kann, sondern das ihm geschenkte Leben, in dem seine Seele frei wird; und daß für ihn in diesem Zusammenhang die Offenbarung nicht eine Mitteilung ist, die Anerkennung fordert, sondern die das neue Leben des Glaubens schaffende Macht. Damit ist aber auch gesagt, daß der Mensch nur deshalb Glauben hat, weil er in seiner eigenen Existenz dem begegnet, dessen Offenbarwerden bewirkt, daß er glaubt." 14 V 125.

Kritik und Neuinterpretation des klassischen Dogmas

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zu interpretieren, wenn er sagt, daß in Luthers Rechtfertigungslehre die Erlösung „das Erleben des Vertrauens selbst" ist, auch wenn Luther dies in Treue zur klassischen Lehre noch nicht mit der Gottheit Christi zusammenbringt. 15 Er kommt in seiner Deutung zu dem Schluß, daß Luther dem alten Dogma einen Inhalt gibt, der ihm von sich aus nicht zukommt. Faktisch hat Luther den ursprünglichen Sinn des alten Dogmas verlassen. 16 Er hält es für ausgeschlossen, daß das klassische Dogma seinem ursprünglichen Sinn nach das von ihm herausgestellte Verständnis des menschlichen Lebens Jesu und seiner Bedeutung für das sittliche Bewußtsein des Glaubenden enthalten könnte. 17 Eher setzt der Gedanke der klassischen Christologie von der Gottheit Christi eine seiner Sicht vom menschlichen Leben Jesu genau entgegengesetzte Auffassung voraus. Er sagt denn auch unverblümt, daß das klassische Dogma nicht den notwendig zum christlichen Glauben gehörenden Gedanken des „Verkehrs mit Gott" zum Ausdruck bringt. 18 Für ihn enthält der Gedanke des Verkehrs mit Gott die Vorstellung, daß der Glaubende in der Christusbegegnung an sittlicher Selbsterkenntnis gewinnt. Das klassische Dogma drückt nicht das aus, was Herrmann am Christentum für wesentlich hält, weil es einer anderen Denkform folgt als die praktische Denkweise. Nach seiner eigenen Analyse stoßen hier klassische Metaphysik und praktische Philosophie aufeinander. Er wiederholt in seiner theologiegeschichtlichen Bewertung des klassischen Dogmas seine aus der Programmatik der neuprotestantischen Schule bekannte Grundbehauptung, daß das klassische Dogma bis ins Mark klassische Metaphysik repräsentiert und ein theologischer Inhalt nicht herausgefiltert werden kann. In Anlehnung an Herrmanns Argumentation ausgedrückt handelt es sich jedoch nicht um die Konstellation Theologie gegen Philosophie, sondern um den Zusammenprall zweier philosophischer Denkformen. Dies zeigt sich besonders deutlich bei der Frage nach der Substanz der Gottheit. 15

V 130. V 138: „Luther legt also in das alte D o g m a , das er festhalten will, einen neuen Inhalt. Er will erstens in dem persönlichen Leben des Menschen Jesus den persönlichen Gott selbst finden. Dabei braucht er sich eines Bruches mit dem alten D o g m a nicht bewusst zu werden. Denn was er forderte, konnte ja in der That als der intensivste Ausdruck der Einigung von göttlicher und menschlicher Natur, die das alte D o g m a bekannte, angesehen werden. Und Luther hat es thatsächlich so angesehen. Aber den ursprünglichen Sinn des D o g m a s hat er doch damit verlassen." 17 V 139. 18 V 140: „Daraus ergibt sich das Urteil, dass in dem christologischen D o g m a und in allen Gedankenbildungen, die auf diesem Stamme gewachsen sind, der Gedanke von der Gottheit Christi überhaupt nicht ausgedrückt ist, der zu dem Leben der christlichen Religion gehört, d. h. eine Form unseres Verkehrs mit Gott." 16

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Die Lehre als Ausdruck des Erlebens - als ethische Reflexion

Die Aussage der klassischen Dogmatik von der Gottheit Christi muß nach Herrmann unter Berücksichtigung der Frage nach der Substanz beurteilt werden. Für ihn ist es nicht korrekt, von Gottes Wesen als einer Substanz zu sprechen, er ist vielmehr als ein persönlicher Geist zu verstehen. Er sieht keine Möglichkeit, daß der Geist Substanz sein könnte. Er faßt daher auch Substanz und Geist prinzipiell als Gegensätze auf. 19 Nach Art des klassischen Dogmas kann von der Gottheit Christi nur gesprochen werden, wird die Vorstellung akzeptiert, daß Gott Substanz ist. Der klassische dogmatische Satz repräsentiert damit zugleich eine bestimmte philosophische Vorstellung von Gott. Herrmann läßt auch an dieser Stelle den Leser über seine eigene Position nicht im Unklaren. Nach seiner Auffassung bedeutet die Gottheit Christi lediglich, daß sich der Wille des ewigen Gottes und seine Bedeutung im Willen Christi treffen, der in der Geschichte wirkt. 20 Die klassische Auffassung stellt in ihrer Eigenschaft als „wissenschaftliche Theorie" geradezu eine Verfälschung des christlichen Gottesbegriffes dar. Herrmann sagt ganz explizit, daß das klassische Dogma nur in Form einer (naturwissenschaftlichen Theorie seiner Zeit vertreten werden kann. 21 Man beachte, daß mit Wissenschaft hier Naturwissenschaft oder auf die Natur gerichtete Metaphysik gemeint ist. Es bleibt also festzuhalten, daß das klassische Dogma ihm zufolge seinem Wesen nach immer derartige Metaphysik repräsentiert. Luthers Versuch einer Adaption und Umdeutung des klassischen Dogmas mißlang, weil sich der neue Inhalt schon vom Prinzip her gar nicht auf theoretischer Ebene in die Form des alten Dogmas, das der ontologischen Philosophie angehört, einfügen läßt. Später konnte daher auch Luthers Auffassung von der Lehre nicht mehr angewendet werden. 22 Herrmann schließt daraus, daß das klassische Dogma abgelehnt werden müsse, damit „wir in vollem Sinn an die Gottheit Christi glauben" können. 23 Nach seiner Interpretation beruht die im klassischen Dogma entw V 145: „Die Frage aber, ob man alsdann von der Gottheit Jesu reden dürfe, wenn man in der Erscheinung seines persönlichen Lebens den sich uns zuwendenden Gott gefunden hat - diese Frage wird danach entschieden werden, ob man sich Gott in seinem Wesen als Substanz vorstellt oder als persönlichen Geist, der sein Wesen durch die Energie des auf bestimmte Zwecke gerichteten und eine bestimmte Gesinnung hegenden Willens behauptet H a t man die erstere Vorstellung von Gott, so wird man allerdings den Satz, dass göttliche Substanz in Christus sei, für den richtigen Ausdruck seiner Gottheit halten." 20 V 145. 21 V 146: „Das wollen wir gar nicht leugnen, dass unsere Vorstellung von der Gottheit Christi eine andere ist als die des Dogmas. Wir legen im Gegenteil auf diesen Unterschied den grössten Wert. Der Unterschied ist, kurz gesagt, dieser. Die Vorstellung von der Gottheit Christi, die im Dogma ausgesprochen ist, lässt sich nur in der Form einer wissenschaftlichen Theorie behaupten." 22 V 148. 23 V 148: „Also gerade deshalb, weil wir in vollem Sinne an die Gottheit Christi glauben,

D a s Glaubenserlebnis und die Einheit der Lehre

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haltene Auffassung von der Gottheit Christi auf dem Substanzbegriff der klassischen Metaphysik, der in einer Theologie, die von den Voraussetzungen der praktischen Philosophie her denkt, nicht mehr gelehrt werden kann. Herrmann führt dies selbst noch weiter aus. Wir halten fest: D a s klassische D o g m a ist ein notwendiger Ausdruck für die der klassischen Metaphysik eigene Auffassung von Gott als Substanz. Garant für die Einheitlichkeit der klassischen dogmatischen Sätze war nach Herrmann der Gedanke der klassischen Metaphysik, daß Gott die erste Ursache, der letzte Grund alles Wirklichen ist. Indem es aus Sätzen der Metaphysik besteht, repräsentiert das D o g m a zugleich eine objektive Beschreibung der Wirklichkeit, die jeder Vernünftige, so die gängige Meinung, für wahr hält. Herrmann meint jedoch, daß die Sätze der Dogmatik gar keine echten theologischen Sätze sind und auch nicht das echte Verständnis des christlichen Glaubens darlegen können. Es sind keine echten theologischen Sätze, weil sie von Gott mit derselben Sprache sprechen, die sie auch auf andere beliebige Dinge der Wirklichkeit anwenden, selbst wenn sie Gott als Allerhöchsten bezeichnen. Gott wird so auf die Ebene der Natur reduziert und zugleich wird damit der für die Religion wichtige Unterschied zwischen Person und Natur zum Verschwinden gebracht. N a c h Herrmanns praktischem Verständnis des Christentums ist es dem Glauben gar nicht möglich, Lehrsätze anzunehmen und sie für wahr zu halten. D a s völlig Neue an Herrmanns Verständnis von Lehre gegenüber dem klassischen D o g m a ist, daß er die Lehre als sittlich reflektierten Ausdruck des Glaubenserlebnisses versteht. Jedoch kommt in dieser Sicht der Lehre das gleiche Problem zum Ausdruck, wie bei Herrmanns Offenbarungbegriff. Die Lehrsätze können nämlich weder Gegenstand des Glaubens sein, noch läßt sich ihre Einheitlichkeit auf der Ebene von Glaubenssätzen beschreiben. Als Ausdrucksformen des Glaubenserlebnisses müssen die Lehrsätze immer wieder allein von ihrem Grund, d. h. dem Glaubenserlebnis her verstanden werden.

7.2. Das Glaubenserlebnis

und die Einheit der Lehre

Welche Bedeutung Herrmanns praktischer Begründung des Christentums zukommt, zeigt sich besonders deutlich in seinem Entwurf eines neuen Lehrbegriffes, nach dem die Lehre ein Ausdruck des Glaubenserlebnisses und kein Gegenstand des Glaubens ist, wie im klassischen Lehrverständmüssen wir d a s D o g m a von der Gottheit Christi als ein g a n z unvollkommenes Gedankengebilde ablehnen."

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Die Lehre als Ausdruck des Erlebens - als ethische Reflexion

nis weiterhin angenommen wird. Die Problematik gerade dieses Begriffs wird jedoch angesichts der Frage nach der Einheit der Lehre deutlich. Kann überhaupt noch von einer Lehre gesprochen werden, wenn sie sich aus immer wieder neu formulierten Ausdrücken des Glaubenserlebnisses des einzelnen Christen zusammensetzt, Ausdrücken, die sich nach keinem wie auch immer gearteten Prinzip zu einer einzigen Satzgruppe zusammenfassen lassen? Laut Herrmann läßt sich das individuelle Erleben nämlich nicht auf der Ebene von Sätzen vermitteln; diese Vermittlung ist nur als eine Art Nacherleben, als ein Wiedererleben durch die Liebe möglich. Nach seiner grundlegenden Definition besteht die Einheit der Lehre nicht in speziellen Gedanken, sondern im Denken selbst.2'' Die christliche Lehre kann niemals im Ganzen als eine Art Summe der Lehre, die dem Glaubenden zur Annahme und der Kirche als Grundlage ihrer Einheit vorgelegt würde, dargestellt werden. 25 Auch wenn Christen erst mit Hilfe von Gedanken miteinander kommunizieren und ihre Vorstellungen gegenseitig beurteilen können, 50 sind doch diese Gedanken nicht an sich isoliert von ihrer Grundlage gültig. 26 Er sieht also als Kriterium für die Beurteilung der Lehre ihre Grundlage: das Denken selbst. Hier zeigt sich erneut, wie sich sein Ansatz faktisch auf alle Grundbegriffe seiner Theologie auswirkt und ihnen eine neue Struktur gibt. Herrmann behauptet - was das dargelegte Verständnis seiner praktischen Begründung von Lehre unterstützt - , daß die im Glauben begründete Lehre die einzige richtig verstandene Lehre ist. 27 Das Kriterium, das die Bedeutung der Lehrsätze relativiert, ist selbst nicht relativ, sondern in gewissem Sinne absolut. Die Lehre ist nach Herrmann kein Gegenstand des Glaubens und kann als solche dem Glaubenden weder durch die Bibel noch die Tradition oder die Symbole der Kirche vermittelt werden. Eine Lehre, die so vermittelt werden kann, bezeichnet er als Lehrgesetz ohne „Leben". Die Scholastik und sogar noch Luther hätten die Lehre als Lehrgesetz verstanden. Zwar habe Luther im Zuge seiner reformatorischen Erkenntnis innerlich von dieser Auffassung Abschied genommen, doch sei er äußer24 V 9: „Was uns Christen wirklich untereinander und mit den Glaubenszeugen des Neuen Testaments verbindet, ist nicht die Gleichheit der Gedanken, sondern die Gleichartigkeit des Denkens und die Einheit der Offenbarung, die diese Gleichartigkeit bewirkt." Der gleiche methodische Zugriff zeigt sich auch in Herrmanns Ethik. Siehe E 47: „Das sittliche Gesetz bedeutet nicht eine Satzung, die sich erledigen läßt, sondern eine Methode des Handelns, die auf immer neue Aufgaben führt." 25 V 7. 26 V 7. 27 V 12: „Danach ist der Weg, den wir hier einschlagen, der einzig mögliche zur Verständigung über die christliche Lehre."

Das Glaubenserlebnis und die Einheit der Lehre

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lieh noch an seine Tradition gebunden und in einem solchen Lehrverständnis gefangen. Das klassische Dogma bedeutet nach dem Verständnis Herrmanns nicht Gesetz im theologiegeschichtlichen Sinn als Gegenpol zum Evangelium im dialektischen Gegeneinander von Gesetz und Evangelium. Gegebene Lehrsätze werden zu „Lehrgesetzen", weil sie nicht die Erfahrung des Glaubenden ausdrücken, sondern ohne eigene innere Erfahrung übernommen werden müssen. Herrmann bezeichnet die klassische Lehre, die auf eine Summe von Inhalten hinstrebt, als Dogma. Diese Idee des Dogmas widerspreche jedoch dem „Heiligen Geist", weil sie auf ein einheitliches „Lehrgesetz" zielt. Der Heilige Geist jedoch schafft Individuen des Glaubens. 28 Die „rechte Lehre" ist hingegen immer Ausdruck des Glaubens. Voraussetzung für Lehrgesetze ist das Erlebnis des Glaubens und die unmittelbare Verbindung zum Selbstgefühl der Person. Er kennt jedoch auch Lehrsätze, die er als Glaubensgedanken bezeichnet und gebraucht, nicht als Ausdrucksweisen eines direkten unmittelbaren Gefühls. Wären sie dies, würden sie ja nur ausdrücken, was dem Glaubenden schon nach seiner Erfahrung eignet. Die Lehrsätze als Ausdrucksformen des Glaubens bringen den Glaubenden jedoch weiter. In ihnen steckt nicht nur die Gefühlserfahrung, die der Glaubende bereits hat, sondern auch die Erfahrung der äußeren Wirklichkeit. Diese bezeichnet Herrmann zuweilen in Analogie zum klassischen Offenbarungs- und Lehrbegriff als objektiven Gegenstand des Glaubens. 29 Er spricht zwar selbst von Offenbarung, es sollte aber beachtet werden, was sich bereits bei der Analyse seines Offenbarungsbegriffes gezeigt hat: Offenbarung ist schon im eigentlichen Sinne des Wortes die gedeutete und reflektierte Christuserfahrung, die der Glaubende bereits in seinem Erleben und in seinem Bewußtsein hat. Als solche ist sie die eigene Wirklichkeit des Glaubenden, in der der Glaube als ihr Fundament gegenwärtig ist. 28 V 7: „Aber die Idee des Dogmas als eines einheitlichen Lehrgesetzes ist dem Wirken des h. Geistes zuwider." 29 V 37: „Also indem wir uns von der Mystik lossagen, sind wir in folgenden Punkten mit dem alten theologischen Verfahren einverstanden. Erstens die subjektiven Erlebnisse der christlichen Religion lassen sich von der objektiven Macht, die uns zu einer solchen Art des Erlebens bringt, nicht ablösen. Zweitens auch von den Gedanken, die man in der christlichen Lehre als Inhalt des Glaubens zu formulieren sucht, lässt sich das subjective Erlebnis der christlichen Religion nicht abtrennen. Es verklingt nicht in Gefühlen, sondern vollendet sich in diesen Gedanken. Drittens diese Gedanken sind viel mehr als ein Ausdruck dessen, was wir bereits gefühlt und genossen haben." Siehe S 202: „Lehren können wir uns nur insoweit aneignen, als wir imstande sind, ihre Wahrheit zu erfassen. Wir müssen ihren Sinn verstehen und einsehen, daß ihre Gedanken der Ausdruck einer Wirklichkeit sind, die sich uns selbst enthüllt hat. Wenn wir das, was wir in einem solchen Erlebnis geworden sind, in einem Gedanken ausgesprochen finden, wird er unser Eigentum."

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Die Lehre als Ausdruck des Erlebens - als ethische Reflexion

Mit „objektiv" ist in diesem Zusammenhang die transzendental verstandene Gegenständlichkeit und keine metaphysische Objektivität gemeint. Auch der Begriff „Offenbarung" wird im Sinne der praktischen Philosophie und nicht der klassischen Theologie gebraucht. Offenbarung ist also nicht, wie es die eigentliche Bedeutung des Wortes besagt, von der Erfahrung und dem Bewußtsein des Subjekts unabhängig. Christus als historische Tatsache ist noch nicht Gegenstand des religiösen Glaubens. Jedoch ist das die Christusoffenbarung erkennende und erfahrende Subjekt bereits einen Schritt über sich hinausgegangen, anders gesagt, es hat sich von seinem unmittelbaren Erleben gelöst und reflektiert sich selbst als neue Person. Auch an dieser Stelle wird die Definition der Beziehung zwischen Religion und Ethik für den Lehrbegriff relevant. Auch wenn Herrmann die klassische, von außen kommende, d. h. ohne die eigene Erfahrung des Subjekts nicht verinnerlichte Lehre, d. h. die nicht in der eigenen Erfahrung des Subjekts enthaltene Lehre, als Gesetz betrachtet, ist die praktisch definierte Lehre nicht etwa Evangelium in der Bedeutung, daß sie vom Glaubenden nichts verlangen würde. Im Gegenteil, er füllt die Christusoffenbarung inhaltlich mit dem Gesetz und der Ethik. Dies ist eine kantianische Interpretation der Offenbarung. Die Form und der Inhalt müssen unbedingt zueinander passen. Die Denkform und der Inhalt der Offenbarung sind unmittelbar miteinander verbunden. Anders ist Herrmanns Position nicht zu verstehen. Christus steht „außerhalb" des Subjekts und über ihm nur im kantischen Sinne, so daß er oberhalb der Natur in vollkommenem ethischen Bewußtsein lebt. Christus hilft auch dem, der an ihn glaubt, sich im ethischen Sinn, wie es der neuen Richtung seines Willens entspricht, um das Reich Gottes, das Reich der sittlich freien Menschen zu bemühen. Die Christusoffenbarung wirkt wie der Inhalt des notwendigen Moralgesetzes: der unbedingte Gehorsam und die Hingabe an das Moralgesetz zielt darauf, daß sich der Mensch frei von der Natur fühlt. Gerade die Erfahrung der Freiheit ist nach Herrmann der „Inhalt" des Evangeliums. Herrmann hat jedoch den kantianischen, ethischen Freiheitsbegriff hier benutzt, um den Inhalt des Evangeliums darzulegen. Er bleibt jedoch sehr formal. Dieser neue Inhalt der Christusoffenbarung steht über dem Glaubenden und ist beim Denken des Glaubens absolut notwendig. Nur in diesem Sinne kann von der Offenbarung und ihrem Inhalt gesprochen werden. D a s Gefühl des Individuums als solches ist noch kein Gedanke, weil der Glaubende in ihm nur unmittelbar erfährt, daß er eine wertvolle Person ist. Eine Erfahrung, die ihm aber noch nicht dazu verhilft, über die Natur hinaus zu steigen. Die Hingabe an das sittliche Gesetz erlaubt es ihm, sich als frei zu denken. Aber erst in der Christusoffenbarung wird dieser Gedanke zur Anschauung. Lehrsätze sind also das Ergebnis derjenigen Reflexion, die entsteht, wenn die unmittelbare Gefühlserfahrung

Das Glaubenserlebnis und die Einheit der Lehre

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des Christen, das ethische Bewußtsein und die Christusoffenbarung zusammentreffen. 30 Jetzt dürfte verständlicher geworden sein, was Herrmann meint, wenn er sagt, Lehrsätze seien Ausdruck des Glaubens und könnten als solche nicht vom Glauben selbst abgelöst werden. Der Glaube selbst wiederum ist persönliches Erleben, das sich jedem Zugang von außen verschließt. Dieses Wesen des Glaubens bleibt als Kriterium für die Lehrsätze im Sinne Herrmanns immer erhalten. Die Gedanken lösen sich also nicht von den Erlebnissen, auch wenn sie auf ethischer Ebene reflektierbar sind und damit auch an andere weitervermittelt werden können. Die Auffassung, die Lehre sei Ausdruck des Glaubens, hat zur Folge, daß Lehrsätze niemals als solche - abgelöst von ihrem Grund - in ein System gebracht oder tradiert werden können. Die Lehre ist deshalb in der Kirche immer mannigfaltig und muß dies nach Herrmann auch sein. Vielfalt ist ein Kennzeichnen der rechten Lehre. 31 Mannigfaltigkeit der Lehre bedeutet aber keineswegs Relativität. Wie Herrmann sagt, besteht die Einheit der Lehre nicht in Gedanken (Lehrsätzen), sondern im Denken selbst. Der rechte methodische Zugriff bei der Formulierung der Lehre ist ihr unverzichtbares Kriterium. Er versteht daher auch die verschiedenen Sichtweisen des christlichen Glaubens von der ganzen in den Prolegomena der Dogmatik enthaltenen Methode her. 32 Die christliche Schöpfungslehre spricht somit nach Herrmann eben gerade davon, wie Gott als vollendeter Wille die Welt aus dem Nichts geschaffen und den Zwecken seines Willens Untertan gemacht hat. Die rechte christliche Sicht der Welt besagt also, daß sie das Instrument der Person auf dem Weg zu ihrem letzten Ziel ist. Die Natur selbst ist mechanisch zu verstehen, ihr kommt keinerlei Selbstwert zu. In ähnlicher Weise beurteilt Herrmann die Christologie und ihr Verhältnis zum Glaubenserlebnis. Dabei zeigt sich, daß das klassische Dogma von den zwei Naturen Christi und dem Erlösungswerk des Gottmenschen für den 30 V 37: „Denn sie [diese Gedanken] sind ein Ausdruck dessen, was der Gott, der uns ergriffen und den Glauben in uns geweckt hat, uns verheisst." 31 V 10: „Hier in dem innern Leben des Glaubens herrscht der eine Gott und der eine Christus. In die Darstellung dieses Lebens ist die Entwickelung der einzelnen Lehren einzuordnen. Die Lehren, die aus diesem Rahmen heraustreten und nicht mehr als Lebensregungen des Glaubens legitimiert werden, sind wertlose Hirngespinste, die unnützen Streit erregen und die Einheit der christlichen Gemeinde unwirksam machen. Die so von ihrem Lebensgrunde abgelösten Lehren zu formulieren und zum System zu verknüpfen, ist ein möglichst unkirchliches Unternehmen [ . . . ] Wenn wir dagegen das vor Augen haben, was Gott aus dem innern Leben des Christen macht, so wird uns die Mannigfaltigkeit der aus dem Glauben quellenden Gedanken nicht beirren, sondern erfreuen. Denn wir können alsdann diese Mannigfaltigkeit als etwas Notwendiges verstehen und als etwas Wertvolles empfinden." 32 V 23.

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Die Lehre als Ausdruck des Erlebens - als ethische Reflexion

Glauben nicht ausreicht, obwohl darin in spezifischer Weise die Voraussetzungen, die die Vereinigung des Sünders mit Gott ermöglichen, aufgeführt sind. Der Katholizismus sieht im Bild des Menschen Jesus den Weg, der zu Gott führt. Das ist auch nach Herrmanns Sicht nicht völlig falsch, denn nur in der Begegnung mit Christus kann der Mensch zu Gott gelangen. Auch die Vorstellung von der Nachfolge Christi, daß der Glaubende „genau so wahrhaftig und gerecht wird wie Christus", ist nach Herrmann nicht an sich falsch. Beide Auffassungen reichen nur nicht aus. Christus ist für den Christen noch „mehr". Christus ist bei Herrmann eigentlich alles: Gott ist Christus und nicht etwa nur ein hinter oder über Christus stehendes unendliches Wesen. Gott wird daher auch nur und erst im innersten Leben Christi erreicht. Keine jener Vorstellungen vom Wesen Gottes, die nicht vom inneren Leben Christi ausgehen, kann Gott nahekommen, sie sprechen vielmehr nur von dem, was nichts, eine Nicht-Welt ist. 33 Ganz im Einklang mit seiner praktischen Methode meint Herrmann, daß die klassische Lehre, wenn sie nicht auf das innere Leben Christi reduziert werden kann, von Gott nur negativ, wie von einer Nicht-Welt spricht. Dagegen gelangt der Christ im inneren Leben Christi an eine „positive Anschauung" von Gott. Diese „positive Anschauung" befreit den Christen von der Welt, weil sie ihn zwingt, sich selbst zu verleugnen. Das klassische Dogma von Christus und seiner Vorbildlichkeit bietet diese Hilfestellung, die nur im Zusammenhang mit einem ethischen Anstoß verstanden werden kann, nicht. In der klassischen Lehre, so Herrmann, geht Christus verloren, wenn man zu Gott gelangt. Christus ist jedoch kein Instrument und auch kein Weg zu Gott. Das klassische Dogma „bewahrt" also Christus nicht für den Glauben. 34 Es ist deshalb über das klassische Dogma hinaus zu einer „höheren Auffassung" zu streben, in der Christus außerhalb des Glaubens verbleibt. Wenn Herrmann davon spricht, daß wir zu Gott in Christus gelangen oder mit Gott verkehren, identifiziert er diesen Verkehr mit Gott mit der Religion, m. a. W. er identifiziert das Wesen der praktisch definierten Religion mit dem Inhalt der Christusoffenbarung. 35 Auch die Trinitätslehre, wenngleich direkt mit der Auffassung vom erhöhten Christus verknüpft, vermag nach Herrmann nicht zu garantieren, daß der innere Christus als Fundament der Gottesverbindung beibehalten wird. Er veranschaulicht das Verhältnis von Trinitätslehre und Glaubenserlebnis am Beispiel der religiösen Erfahrung Augustins. Auch wenn Augustin 15 Bücher über die Trinitätslehre geschrieben habe, spre33 34 35

V 26-27. V 26. V 27.

Das Glaubenserlebnis und die Einheit der Lehre

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che er doch nicht über die Trinität, sondern über den einen Gott, nachdem er mit seiner Mutter neben dem Fenster stehend die Nähe Gottes erfahren hatte. So ergehe es immer allen Christen, worin sich zeigt, daß religiöse Erfahrung letztendlich von einer Art ist, die sich nicht in Worte fassen läßt. 36 Eine religiöse Erfahrung ist jedoch keine mystische Erfahrung. Herrmanns Abgrenzung gegenüber der Mystik macht deutlich, daß es bei der Christus-Offenbarung immer um das Sittengesetz und den von ihm ausgelösten Anstoß geht. Für ihn liegt in der Mystik nämlich die Kehrseite des Dogmas. 37 Wie dieses führt auch die Mystik über die Geschichte hinaus in einen Bereich, in dem Christus nicht gefunden werden kann. Herrmann gelangt zu dem Schluß, daß die Kirche nicht weiterleben könnte, wenn Dogma und Mystik in ihr die Oberhand gewönnen. 38 Herrmann meint zwar, daß sich in der Frage nach der „Objektivität" des Glaubens das moderne Lehrverständnis und das klassische „orthodox-protestantische" Lehrverständnis berühren, nur ist ihr Gegenstand nicht identisch. Obwohl beide in der Tat vom Glauben an Gott als einem Begegnen sprechen, sind bei beiden der objektiv anzutreffende Gott und die Wirklichkeit verschiedene Dinge. Nicht die objektive Macht, die das Fundament der Lehre ausmacht, ist die Summe der Lehre, sondern der Mensch Jesus. Die Sätze der Lehre entstehen innerhalb des Glaubenden, in der Gottesverbindung, zu der die personale Macht Christi ihn erhebt. Niemand wird Christ, indem er eine bestimmte Summe von Gedanken aus der Bibel übernimmt, sondern indem er die Fähigkeit erhält, jene zu erzeugen. 39 Herrmann verwirft Lehrsätze also nicht an sich: Der Glaubende muß die Möglichkeit erhalten, seinen eigenen Glauben zu denken und auszudrücken. Der den Glauben zum Ausdruck bringende Gedanke hebt den Glaubenden über sich hinaus zu einer neuen Existenz. Diese Gedanken können aber niemals vom Gefühl, das ihr Fundament ist, abgelöst werden. Allerdings reicht das Gefühl als Kriterium von Lehrsätzen nicht aus, der Glaubende expliziert sie vielmehr von seinem ethische Bewußtsein her. Faktisch ist die Vielfalt der Lehrsätze nicht völlig offen, sondern an die praktische Denkweise gebunden, in der das ethischen Moment als letztes Kriterium fungiert. Herrmann hält es daher auch für möglich, auf der Basis seines Lehrverständnisses eine „christliche Weltanschauung" zu schaffen, die mit Hilfe der praktischen Ethik dargestellt werden kann.

16 37 38 59

V 27. Ebenso z.B. E. Seeberg 1929, 31-33. V 28. V 37.

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Die Lehre als Ausdruck des Erlebens - als ethische Reflexion

7.3. Die ethische Reflexion des Glaubens die religiöse Weltanschauung Herrmann bestreitet in seiner Kritik der klassischen Metaphysik die Möglichkeit, metaphysisch eine Vorstellung von der Einheit der Wirklichkeit zu schaffen, die vom Begriff eines „Dings an sich" ausgeht; zugleich bestreitet er die Möglichkeit einer metaphysischen Weltanschauung. 4 0 Die Aufgabe der Metaphysik liegt darin, die jeweiligen Ergebnisse der Naturwissenschaften zusammenzufassen, sie kann aber auf der Grundlage des reinen Erkennens die Einheit der Wirklichkeit nur hypothetisch aussprechen. Die Einheit der Wirklichkeit läßt sich auch nicht, wie es Cohen tut, transzendentalphilosophisch begründen. Selbst die Vorstellung Kants, die Idee der Vernunft könne Gott erreichen, lehnt Herrmann ab. Er verneint so die Möglichkeit, daß die Einheit der Wirklichkeit mit Hilfe der Vernunft zu erreichen wäre. Gott ist kein Gegenstand des Denkens. Er macht radikal Schluß mit dem Gedanken einer Einheit der Vernunft als Anknüpfungspunkt für die Einheit der Wirklichkeit. Dagegen läßt er die Möglichkeit zu, daß die Einheit der Wirklichkeit, welcher das Individuum bedarf, im geschichtlichen Christentum gefunden werden kann. Herrmann bestreitet also nicht die Möglichkeit einer religiösen Weltanschauung, sondern betrachtet die Religion und besonders den christlichen Glauben als Antwort auf das Bedürfnis des Menschen, die Wirklichkeit als eine denken zu können. 4 1 Alles Denken, so meint Herrmann, beginnt im Vertrauen darauf, daß irgendwo ein Verbindungspunkt zwischen der Natur und der Person besteht, auch wenn er nicht mit der Metaphysik oder dem Denken allgemein zu erreichen ist. Herrmann sieht also keine prinzipielle Möglichkeit, daß der Gegenstand der Metaphysik ein von den Geschöpfen getrennter und unterschiedener Gegenstand wäre. Deshalb könne die Einheit der materiellen und spirituellen Wirklichkeit in der Metaphysik - sollte man dies versuchen - nur erreicht werden, indem sich die geistliche, sittliche Person in ein Geschöpf zurückverwandelt. Dabei würde aber die Person eo ipso zerstört. Allerdings erfährt sich die Person schon in ihrem eigenen Selbstgefühl als von den Geschöpfen unterschieden. Der Mensch spürt bereits in diesem Gefühl, daß er etwas anderes ist als das Wesen der Natur; und diese Erfahrung bereitet ihm einen fortwährenden Konflikt, der nach einer Antwort verlangt, d. h. nach der Vorstellung der letztendlichen R IV (Vorwort). R IV (Vorwort): „Ferner haftet die Gewißheit des Glaubens immer an einem Ganzen christlicher Weltanschauung, dessen practische Aneignung den persönlichen Geist zu seinem Frieden bringt." 40

41

Die ethische Reflexion des Glaubens - die religiöse Weltanschauung

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Einheit der Wirklichkeit. Der Konflikt läßt im Menschen das Bedürfnis aufkommen, sich selbst als Einheit, m. a. W. als Person, die über der Natur steht, zu bewahren. Nach Herrmann widersetzt sich bereits die natürliche Religiosität einer metaphysischen Weltanschauung. 42 Er hält jedoch nicht nur die klassische Metaphysik für einen Konkurrenten jeder religiösen Wirklichkeitssicht. Die religiöse und damit auch die christliche Wirklichkeitssicht ist seiner Ansicht nach nämlich dualistisch, weil sie auf dem Unterschied zwischen Natur und Person beruht. Doch auch die transzendentale Metaphysik konkurriert mit der religiösen Auffassung beim Versuch, ausgehend von einem einzigen erkenntnistheoretischen Subjekt, eine Grundlage dafür zu schaffen, daß Wirklichkeit einheitlich ist. Auch die transzendentale Metaphysik strebt letztendlich mit ihrer Vorstellung des Dings an sich als Grenze der Erkenntnis zu einer theoretischen Erklärung der Einheit der Wirklichkeit. Sie bedient sich nämlich der theoretischen Erkenntnis, obschon sie ihrem Wesen nach immer diskursiv vorgeht. 43 Auch die transzendentale Metaphysik ist dem religiösen Bestreben dann entgegengesetzt, wenn ihre Art, die Wirklichkeit als Einheit zu sehen, „dogmatisch" wird. Obwohl sich Religion und Metaphysik im Bedürfnis des Menschen, die Wirklichkeit als Einheit zu begreifen, treffen, vermag die Metaphysik trotzdem letztendlich diesem Bedüfnis nicht zu entsprechen. Der christliche Glaube ist jedoch in der Lage, diese die Person zufriedenstellende Antwort auf die Frage nach der schlechthinnigen Einheit der Wirklichkeit zu geben. Herrmann weist somit der Dogmatik die weltanschauliche Aufgabe zu, eine Gesamtinterpretation des christlichen Glaubens zu liefern. 44 Der weltanschauliche Charakter der 42 R 78: „Es gehört das volle Selbstgefühl des Menschen dazu, in welchem er die unermeßliche Welt seinen eigenen Zwecken als Mittel unterordnet, um von der Wahrheit metaphysischer Systeme zu sprechen." 43 R 84: „Dagegen entspricht im Christentum der hier vollendeten Sicherheit der religiösen Ueberzeugung der einfache Gedanke, daß das höchste Gut des Menschen im tiefsten Sinne nicht von dieser Welt ist. Die Versuchung zu Resignation und Verzweiflung ist dadurch abgewehrt und der Versuch, die religiöse Wahrheit wie eine wissenschaftliche Hypothese zur abschließenden Erklärung der dem theoretischen Erkennen gegebenen Welt anzusehen, von vornherein als eine entwürdigende Zumuthung verurtheilt. Wie ganz anders es sich mit der Metaphysik verhält, haben wir oben gesehen. Sie büßt allen wissenschaftlichen Werth, auf den sie Anspruch machen könnte, ein und wird selbst eine untergeordnete Species religiöser Weltanschauung, sobald sie den hypothetischen Charakter ihrer Producte vergißt und den gewonnenen letzten Erklärungsgrund für den gesetzlichen Zusammenhang der Welt als unumstößliches Dogma verkündigt." 44 M 8: J e d e religiöse Weltanschauung ist nun eine Antwort auf die Frage: Wie muss die Welt beurteilt werden, wenn das höchste Gut wirklich sein soll?" M 8: „Die systematische Theologie soll sein die wissenschafdiche Darstellung und Begründung einer religiösen Weltanschauung." R 316: „Im Christenthum wird das Selbstgefühl oder das Freiheitsbedürfniß des Menschen, das sich in jeder Religion regt, aufs Höchste gesteigert und vollständig befriedigt."

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Die Lehre als Ausdruck des Erlebens - als ethische Reflexion

Dogmatik ergibt sich gleichsam unmittelbar aus seiner praktischen Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Ethik. Bereits in seiner praktischen Definition der Religion meint er, daß die Religion auf die Frage nach der Einheit der Wirklichkeit analog zu derjenigen der Metaphysik antwortet. Herrmann bleibt in der Tat bei seiner Deutung des Christentums die Antwort auf diese Frage nicht schuldig. Die religiöse Weltanschauung beruht für Herrmann auf dem Unterschied zwischen Person und Natur, den jedes Individuum a priori in seinem Selbstgefühl erfährt. Dieser Unterschied sei überhaupt die Voraussetzung für jegliches religiöse oder ethische Denken. Doch obwohl dieser Unterschied bereits im religiösen Erleben des Selbstgefühls spürbar ist, kann er doch erst in der ethischen Reflexion zum Gegenstand des Denkens gemacht werden. Der Mensch vermag, indem er gewahr wird, daß er das für sich selbst notwendige Gesetz aufstellen und sich ihm bedingungslos unterwerfen kann, seine eigene Freiheit zu rechtfertigen. Diese Erfahrung und ihre ethische Begründung hält Herrmann allerdings nicht für ein Element metaphysisch-kosmologischer Weltanschauung. Anders gesagt, er betrachtet sein eigenes, praktisches Denken nicht als Alternative zur metaphysisch-kosmologischen Denkweise, auch wenn er meint, daß die religiöse Weltanschauung analog zur metaphysischen Weltanschauung steht. Die Unterscheidung zwischen Person und Natur ist bei ihm so eng an die religiöse Erfahrung und den christlichen Glauben geknüpft, daß er sie für eine Art religiöses Apriori hält, welches erst metaphysisch expliziert werden kann. 45 Herrmann hält es in der Tat prinzipiell für möglich, die Metaphysik so einzusetzten, daß ihre Begriffe für die christliche Weltanschauung nutzbar gemacht werden können. 46 Er hätte auch nichts dagegen, wenn

45 Dies dürfte damit zusammenhängen, daß Herrmann die apriorische Erfahrung des Selbstgefühls, von der die Religion transzendental „abgeleitet" wird, für ein Erlebnis hält, das nicht bewußt und damit auch nicht metaphysisch ist: „Aber der Inhalt, der, wie auch immer, die allgemeinen Formen seiner Verwirklichung findet, der in Lust und Unlust als Hemmung oder Förderung unserer Bestrebungen sich uns darstellt, - dieser Weltinhalt allein ist es, der den Christen interessiert. In die regellose Mannigkeit desselben bringt er Zusammenhang und Ordnung, indem er überall die Spuren des absolut seinsollenden Gutes anerkennt, dessen Wert er im Gemüt erlebt und dessen Wirklichkeit er in dem Vertrauen auf den Vater im Himmel feststellt. Freilich wird er sich der Ahnung nicht entschlagen können, daß ein verborgener Zusammenhang zwischen der Weise des Seins und Geschehens in der Welt und dem höchsten Gute besteht, das sich in ihnen verwirklicht. Aber diesem Zusammenhange nachzuspüren, gibt ihm sein Christentum, weder das Recht noch die Veranlassung." (M 9) Herrmann bleibt also bei jener Definition der klassischen Metaphysik, die besagt, daß die Metaphysik immer die Einheit der Wirklichkeit zu beweisen sucht. Sie ist jedoch keine praktische Ethik, die den Unterschied dieser Einheit zu beweisen sucht. Siehe R 102 und R 317. 46 M 20: „Der Gedanke des höchsten Gutes im Christentum schließt ein die Unterord-

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die Metaphysiker darauf bedacht wären, bewußt an jene Einheit der Wirklichkeit zu gelangen, die im Christentum erst Gegenstand des Vertrauens ist. Notwendig ist dies jedoch nicht, und er weiß auch nicht, ob es überhaupt möglich ist. 47 Die unterschiedlichen Aufgaben, die Herrmann der Metaphysik zuweist, machen deutlich, daß er die religiöse Weltanschauung nicht mit der metaphysischen Anschauung gleichsetzt. Die in der Dogmatik mit Hilfe der praktischen Ethik darzulegende Weltanschauung zeigt lediglich den im Christentum vorausgesetzten Unterschied zwischen der Person und der Natur auf. In der Begründung und Explikation dieses Unterschiedes, welche nur in Form der Kritik der klassischen Metaphysik möglich ist, liegt daher auch die vornehmliche Aufgabe der Dogmatik. D a ß Herrmann die religiöse Weltanschauung als Alternative zur metaphysischen Weltanschauung ansieht, wird aus seiner Auffassung deutlich, daß die Dogmatik prinzipiell eine für alle Wissenschaftsbereiche gemeinsame (weltanschauliche) Grundlage bilden kann. Zwar bestreitet er also ausdrücklich, daß die Dogmatik zu einer wissenschaftlichen Welterklärung streben könne, verknüpft aber trotzdem doch irgendwie die Grundlage der religiösen Weltanschauung und der praktischen Wissenschaften miteinander. 48 Der Schluß, daß es sich bei der Dogmatik nicht nur um eine Weltanschauung für die Gläubigen handelt, sondern um eine allen gemeinsa-

nung d e r Naturwelt als Mittel unter ein Geisterreich als Zweck. Diese alles beherrschende Anschauung kann aber selbstverständlich nur in solchen Begriffen zum vollen Ausdruck gelangen, welche in d e r Rücksicht auf den Unterschied zwischen Dingen und geistigem Leben gebildet sind. U n d nun liegt doch wohl auf der H a n d , d a ß keine Metaphysik umhin kann, diesen Unterschied zunächst zu beachten, mag sie auch späterhin das eine Gebiet unserer E r f a h r u n g als bloß hervorgebrachtes behandeln, das andere mit hervorbringenden Realen bevölkern, o d e r mag sie gar in den verschiedenartigen Begriffen die Linien entdecken, welche auf die verborgene Einheit des Unterschiedes hinweisen." Siehe auch M 21. " M 21: „Ob es einem Metaphysiker gelingt, die allgemeinen Formen des Seins und Geschehens aus der christlichen Gottesidee abzuleiten, wäre nur dann für uns von Wert, wenn es in unserer Religion auch darauf ankäme, die Welt als solche zu erkennen und nicht einzig und allein darauf, sie allezeit als Mittel unserer Seligkeit zu beurteilen." 48 Z. B. G 253-254: J e n e r Grundgedanke der lebendigen Religion kann in uns nur entstehen, wenn wir das ewige Ziel unseres Wollens als wahr ergriffen haben und mit ihm unsere eigene Existenz zusammenfassen. Was unserem Wollen die unveränderliche Richtung gibt und den Endzweck unserer eigenen Existenz bildet, denken wir notwendig als den Endzweck alles Wirklichen. Dieser Gedanke eines Endzwecks aller Dinge, in dem unsere Seele das sich zur Klarheit bringt, was sie ewig verpflichtet und über alles Geschehen in der Zeit erhebt, macht die religiöse Erkenntnis erst möglich. Ich kann Gottes Wirklichkeit erst denken, wenn ich den Endzweck erkenne, dem tatsächlich alles unterworfen ist." G 252: „Der religiöse Glaube ist also nicht eine aus Wunsch, Willkür und Gewohnheit erwachsene Meinung oder Annahme. Er hat die volle Würde der Erkenntnis."

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me Weltanschauung, wird durch die Aussage Herrmanns gestützt, daß die Theologie (Dogmatik) andere Wissenschaften praktisch begründen kann. Diese praktische Begründung der Wissenschaften ist allerdings weder Wissenschaft noch Metaphysik. Die Dogmatik ist keine neue Metaphysik. Sie ist wesentlich etwas anderes als Metaphysik und Wissenschaft, auch wenn sie Werturteile über die Natur der Wirklichkeit fällt. Die Stellung und Bedeutung der Welt ist in der Dogmatik anders als in Naturwissenschaft und Metaphysik. In ihr ist Welt ein personales, über der Natur stehendes Mittel des Willens, das dieser in den Dienst seiner eigenen Ziele stellt. 49 Herrmann ist der Auffassung, daß die christliche Weltanschauung, in der die Natur und die Welt nur ein Mittel des sittlichen Willens sind, die rechte Weltanschauung ist, die sich auch als Grundlage für die anderen Wissenschaften eignet. Herrmann ist somit bereit, eine solche Metaphysik in Diensten des Christentums zu akzeptieren, die von dieser Auffassung ausgeht sich damit begnügt, die Voraussetzungen der Sätze der Wissenschaft zu analysieren und zu ordnen. 50 Versuche die Metaphysik aber den Ausgangspunkt der Einheit der Wirklichkeit aufzuzeigen, werde sie zu einem Konkurrenten der religiösen Weltanschauung. Denn Voraussetzung des christlichen Glaubens sei der Unterschied zwischen Natur und Person, der von der Metaphysik nicht überbrückt werden könne. Vielmehr meint Herrmann, daß der von der Unterscheidung zwischen Person und Natur ausgehende christliche Glaube am Ende diesen Unterschied in einer gemeinsamen Weltanschauung überbrückt, auch wenn die Realität der Religion gar nicht beweisbar ist. 51 49 M 14. R 85: „Es k o m m t vielmehr darauf in d e r Religion an, die Vielheit d e r Welt als das geordnete G a n z e von Mitteln anzuschauen, durch welche d e r im G e f ü h l erlebte höchste W e r t h des Frommen verwirklicht wird." 50 Die „richtige" Metaphysik ist nach H e r r m a n n mechanische Weltbeherrschung. Siehe M 16: „Sofern sie [Metaphysik] überhaupt z u r wissenschaftlichen Welterklärung gehört, also der Ethik sich nicht unterordnet, ist sie die letzte feinste Funktion der mechanischen Weltbeherrschung." Siehe auch R 73. 51 M 17: „Die Beachtung dieser Eigentümlichkeit zwingt uns zu der Anerkennung, d a ß wir mit dem Wahrhaftwirklichen im Christentum etwas ganz anderes meinen als in der Metaphysik. H i e r bedeutet dasselbe das hervorbringende Reale, durch welches wir uns die Möglichkeit alles Seins und Geschehens überhaupt begreiflich machen; dort seine Gewißheit in Wechselwirkung mit der unübertragbaren E r f a h r u n g von dem Werte des Christlich-Guten." Siehe R 83: „Sondern darauf k o m m t es ihm an, d a ß die M a c h t über die Welt die Ereignisse auf die Erhaltung seiner selbst hinlenkt. U n d da er sich selbst, sofern er im G e f ü h l e seinen W e r t h erlebt, mit seinem höchsten Gute identificirt, so erscheint als der concrete Inhalt d e r geglaubten M a c h t regelmäßig das mehr o d e r minder fest bestimmte höchste G u t des Menschen, dessen H e r r s c h a f t sich in dieser Form über die Welt ausbreiten soll, wie es bereits im Inneren des Geistes herrscht. D a r a u s folgt aber unwiderleglich, d a ß die practische Welterklärung der Religion mit dem Anspruch absoluter W a h r h e i t auftreten muß."

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Das Bedürfnis der Person verlangt nach der Einheit der Wirklichkeit. Der christliche Glaube vernichtet die metaphysische Lösung dieser Einheit, bietet aber zugleich eine neue Lösung an. Denn er setzt die Trennung zwischen Person und Natur voraus, läßt aber auch das Bedürfnis der Person, die Wirklichkeit als Einheit zu sehen, nicht unbefriedigt. Als einheitlich zeigt sich die Wirklichkeit auf Initiative des vollkommenen Willens: Die Natur wird den Zwecken des Willens und dem Endzweck der vollständigen sittlichen Freiheit der Person untergeordnet. Herrmann begründet die Weltanschauung der Religion, derzufolge Gott als vollkommener Wille die Welt in den Dienst seines Willens gestellt hat, sowohl mit der christlichen Lehre als auch mit der allgemeinen (praktischen) Voraussetzung des christlichen Glaubens, dem Unterschied zwischen Person und Natur. Spricht doch die Schöpfungslehre des Christentums eben gerade von einem Gott, der die Welt zum Instrument seines Willens macht. Herrmann sieht darin einen „Beweis" für die Trennung zwischen Person und Natur, den das Christentum unter gleichzeitiger Befriedigung des Bedürfnisses der Person nach einer einheitlichen Weltanschauung vollzieht. Die besagte Trennung zwischen Person und Natur ist jedoch bereits im natürlichen Bewußtsein anwesend. Schon in seinem unmittelbaren Selbstgefühl spürt das Individuum, daß es nicht zur Natur gehört. Der christliche Glaube verwirklicht nun diesen im natürlichen Erlebnis des Selbstgefühls erfahrbaren höchsten Wert. Deshalb bringt Herrmann auch die enge Verflechtung der Begründung des christlichen Glaubens und der inhaltlichen Interpretation der Glaubensaussagen besonders gut im Rahmen der christlichen Weltanschauung zum Ausdruck. Unsere Hypothese, daß sich Herrmann in seiner Dogmatik bis zum Ende mit der Problematik der Metaphysik beschäftigt, obwohl mit der kantianischen Metaphysik, scheint hier ihre Bestätigung zu erhalten. Herrmanns Versuch, mit Hilfe von Metaphysikkritik die Theologie und die Offenbarung von der Metaphysik zu befreien, ist in gewissem Sinne mißlungen. Es geht um die Konkurrenz zwischen der „christlichen" Weltanschauung, die Herrmann transzendental-praktisch begründet, und zwar auf Kosten der theologischen Begriffe und ihrer Inhalte, und dem klassischen metaphysischen Weltkonzept, das Herrmann ganz eng mit dem klassischen Dogma verbunden sieht. Es handelt sich eigentlich um die Konkurrenz zwischen zwei Arten von Philosophie. Herrmanns Denkweise hält sich ganz und gar an das Denken Kants, so daß ihm keine anderen Möglichkeiten verbleiben, um die Theologie von der Metaphysik zu befreien, als den von Kant gewiesenen Weg konsequent zu Ende zu gehen.

8. Zusammenfassung Die Untersuchung hat gezeigt, daß die Kritik der klassischen Metaphysik in Wilhelm Herrmanns Begründung des christlichen Glaubens eine wesentliche Rolle spielt. Herrmann macht es sich zur Aufgabe, die Metaphysik von der Prinzipienlehre der Theologie zu lösen. Seine Kritik der Metaphysik erstreckt sich auch auf die sog. transzendentale Metaphysik, als deren Vertreter Herrmann Hermann Cohen, Friedrich Schleiermacher und überraschenderweise auch I. Kant betrachtet. Auch wenn Herrmann Kant als Rationalisten ansieht, hält er es doch für das Verdienst Kants, daß dieser die Theologie von der klassischen Metaphysik befreit und zugleich den „reformatorischen" Charakter der Theologie philosophisch expliziert hat. Seine eigene Methode bezeichnet Herrmann jedoch nicht als transzendental, obwohl er sich Kants transzendentaler Analyse bedient, um an die reine Erkenntnis zu gelangen und somit die Religion als eine selbständige Funktion des Bewußtseins und Betrachtungsweise der Wirklichkeit im Unterschied zu Metaphysik und Ethik zu bestimmen. Allgemein gesehen kann man Herrmann somit dem transzendentalen Denken zurechnen. Herrmann zufolge bedienen sich Schleiermacher und Kant in ihrem Denken zwar an sich der richtigen, der transzendentalen Methode, gehen damit aber nicht weit genug. Herrmanns eigene Denkweise läßt sich besser mit dem Begriff praktisches Denken umschreiben; er betont sowohl seine bis ans Ende geführte Kritik der Metaphysik als auch sein eigenes, im religiösen Selbstgefühl begründetes Denken. Allerdings gilt es festzuhalten, daß Herrmanns Methode nicht mit der kantischen Idee der praktischen Vernunft gleichgesetzt werden kann, da Herrmann die praktische Wissenschaft als grundlegende wissenschaftliche Denkweise aller Wissenschaften und Wissensgebiete, also auch der Metaphysik und der Religion ansieht und nicht jenen bei Kant zwischen Gefühl und praktischer Vernunft herrschenden Dualismus teilt. Herrmann schließt sich in seiner Definition der Religion vor allem Hermann Lotzes Auffassung an, die Religion sei im Wesen spontanes Selbstgefühl. Das Selbstgefühl als Zentrum der Person ist die letzte Grundlage allen Wissens, auch wenn es kein erkenntnistheoretisches Subjekt ist. Das Selbstgefühl ist ein Subjekt, das weder begrifflich zu fassen, noch objektivierbar ist, „es ist ein Gefühl ohne jeden Begriff", trotzdem aber der einzige reale Fixpunkt der Wirklichkeit. Das Weltganze ist so real, wie das fühlende und wollende Individuum real ist. Obwohl nun

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das Selbstgefühl Gefühl ohne jeglichen Begriff ist, enthält es doch die apriorische Erfahrung des Subjekts, daß es Person ist, die nicht zum Bereich der Natur gehört. Der für das religiöse Denken wesentliche Unterschied zwischen Person und Natur liegt nach Herrmann im spontanen Erlebnis des Selbstgefühls. Diese Distinktion spielt eine wichtige Rolle in Herrmanns Kritik der Metaphysik und auch in seiner Begründung des christlichen Glaubens. Herrmann unterscheidet in seiner transzendentalen Analyse der Religion zunächst das Wissen über die Natur vom religiösen Erlebnis. Kants Begriff des „reinen Erkennens" aufgreifend meint Herrmann, daß die Naturwissenschaft auf „dem reinen Erkennen" beruht, anders gesagt auf einem solchen Bewußtsein, von dem Gefühl und Willen, die wesentlichen Elemente der Person, abgesondert sind. Das reine Erkennen ist die Wahrnehmung der Welt durch das identische Subjekt in den Kategorien Zeit, Ort, Raum und Kausalität, in denen das „Ding an sich" nicht gefunden werden kann. Die Dinge der Natur zeigen sich dem Bewußtsein in einer fortwährenden Ursache-Folgebeziehung, was bedeutet, daß das reine Erkennen niemals an das „Ding an sich", den realen Fixpunkt der Wirklichkeit, gelangen kann. Kants Begriff der reinen Erkenntnis versetzt nach Herrmann schon an sich der klassischen Metaphysik den Todesstoß, welche aus den Dingen der Natur auch auf ein höchstes Wesen der Wirklichkeit schließt. Das theoretische Wissen kann jedoch nach Herrmann niemals das Ding an sich finden. An dieser Stelle fällt auf, daß Herrmann die Naturwissenschaft und die klassische Metaphysik sehr eng zusammensieht. Die Metaphysik ist die unausweichliche Folge der Naturwissenschaft und bildet als solche eine Bedrohung für die Religion, da sie auch das höchste Wesen, Gott, in den Kreis des die Natur betreffenden Wissens einschließt. Aus der Sicht der praktischen Methode Herrmanns kann Metaphysik nur ein Sammeln der jeweiligen Ergebnisse der auf dem absichtlichen Erkennen beruhenden Naturwissenschaft sein. Alle praktische Wissenschaft ist absichtliches Erkennen, mit dem das fühlende und wollende Individuum seinen eigenen Zweck zu erreichen sucht. Die praktische Wissenschaft ist auf der „Notwendigkeit" des erkennenden Subjekts und des Zwecks nicht auf der Notwendigkeit der Naturwissenschaft und der Logik aufgebaut. In der praktischen Metaphysik, die nach Herrmann einen selbständigen Wissenschaftsbereich bildet, sammelt das Individuum in seinem Willen, die Welt zu „beherrschen", die Ergebnisse der Naturwissenschaft für seine Zwecke. Die Metaphysik enthält nicht die personalen Elemente der Religion oder der Ethik, Gefühl und Wille, benötigt diese auch nicht. Herrmann hält es für problematisch, die Metaphysik in der Theologie für Zwecke der Theologie in Anspruch zu nehmen, auch wenn sich die Theologie auf jenes im religiösen Selbstgefühl schon vorfindliche Vertrauen stützt, daß

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„hinter" dem Widerspruch der Wirklichkeit, der scharfen Distinktion zwischen Person und Natur, dennoch eine Einheit besteht. Der auf dem Vertrauen begründete Gedanke von der Einheit der Wirklichkeit kann auch nicht erkenntnistheoretisch durch ein Ausweiten der Kategorien der Wirklichkeit begründet werden. Die Einheit der Wirklichkeit besteht lediglich im Vertrauen, welches von allem praktischen Erkennen letztendlich vorausgesetzt wird. Die religiöse „Erkenntnis" unterscheidet sich nach Herrmann von der Metaphysik darin, daß sie individuelles spontanes Erlebnis des Selbstgefühls, Energie, ist, die unmittelbar ihre eigenen Werte gebiert. Das religiöse Selbstgefühl richtet sich in Herrmanns praktischer Definition nicht auf die Natur, sondern die Wirklichkeit der Personen, die Geschichte, in der es die seiner eigenen Person entsprechende Macht findet. Korrelat der Religion ist die Geschichte, die im Wesen personale Wirklichkeit ist. Da die Religion individualistisch ist, kann man im religiösen Erlebnis des Selbstgefühls - so sehr dieses auch den einzigen „realen" Fixpunkt der Wirklichkeit ausmacht - weder seine Werte denken noch diese auf eine für jedermann gültige Weise begründen. Die Religion ist also für ihre Reflexion auch auf die Ethik angewiesen, deren Begriffe allgemeingültig sind. Die zentrale Bedeutung der Ethik in Herrmanns praktischem Denken kann gar nicht überschätzt werden. Im Grunde genommen hängt sie schon mit der Definition der Religion zusammen, die besagt, daß die Religion unmittelbare Erfahrung des Selbstgefühles des Subjekts, seines Seins als Individuum ist. Im religiösen Erleben als solchem kann das Individuum nämlich nicht sein Personsein, das völlige Freisein von der Natur, verwirklichen. Falls das Individuum im Erlebnis seines Selbstgefühls verbleibt, bleibt es nach Herrmann in der Natur gefangen. Die Ethik zielt dagegen gar nicht auf die Natur, sondern allein auf den Gedanken des Sollens. Ethisch ist nicht, wie die Dinge sind, sondern wie sie sein sollen. In der Ethik ist die Idee der vollkommenen Freiheit im Gedanken vom autonomen Willen gegeben, der imstande ist, sich selbst das Gesetz aufzuerlegen und es zu halten - aus der bloßen Freiheit heraus, es zu halten. Erst in der Idee der ethischen Freiheit vermag sich das Subjekt als Person, als von der Natur freies Individuum zu denken. Die Religion braucht nach Herrmann die Ethik, um sich zu verwirklichen, obwohl beide von der transzendentalen Analyse her gesehen ihr eigenes Moment des Bewußtseins bilden. Der Gedanke der engen Verbundenheit von Religion und Ethik wird im ganzen Werk Herrmanns durchgehalten, Herrmann wirft somit konsequent sowohl Cohen vor, eine erkenntnistheoretische Begründung der Ethik zu betreiben, als auch Kant, die Religion einem ethischen Apriori zu unterwerfen. Trotz dieser Kritik hat Kants praktische Ethik eine äußerst wichtige Stellung, wenn Herrmann später seine Auffassung vom Christentum als einer geschieht-

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liehen Religion und von der Dogmatik als Explikatorin der religiösen Weltanschauung konstruiert. Nach Herrmann ist Geschichte die von freien Personen geschaffene Geschichte und darum Gegenstand des Interesses der Theologie. In der Geschichte findet der Glaube sein eigenes Korrelat, Jesus Christus, dessen inneres Leben, die „Person", nach Art einer Macht das Individuum beeinflußt, welches in seinem Selbstgefühl sein Personsein erfährt. Die aus der Geschichte, von außerhalb des Individuums kommende „Offenbarung" ist keine Verkündigung der Lehre und auch kein Verkünden von Gott „an sich". Herrmanns Kritik der klassischen Metaphysik kommt in seiner Theologie darin zum Ausdruck, daß er die scholastische Auffassung von Offenbarung als einer gegebenen Lehre für eine der klassischen Metaphysik zuzurechnende Denkweise hält. Nach Herrmanns praktischer Begründung des christlichen Glaubens wird in der Offenbarung keine Lehre gegeben, die der Glaube anzunehmen hätte. In ihr wird auch keine göttliche Substanz verkündet. In ihr wird vielmehr Jesus als Person gegeben, der das Individuum in seinem religiösen Erlebnis auf eine neue Ebene hebt. Die Christusbegegnung hilft dem Individuum, sich auf seine ethische Freiheit hin zu orientieren. „Offenbarung" ist das Erlebnis des Individuums von der personalen Macht des Vertreters des Reiches Gottes, von Jesus, der dem Individuum die Kraft gibt, sich auf das ethische Ziel auszurichten, das Reich der vollkommen freien Menschen. Bereits in Herrmanns Vorstellung von „Offenbarung" von Jesus als „Verkünder Gottes", als „Faktum", das der Glaubende erfährt, begegnet die Auffassung der Zusammengehörigkeit von Religion und Ethik. Die Entgegennahme der Offenbarung setzt bereits den ethisch aufgeklärten Menschen voraus, ohne den die Auffassungen der Bibel Jesus weder zum „Offenbarer" noch zum „Faktum" für den Glauben machen. Jesus Christus ist zwar als geschichtliche Person sicher „Grundlage" des Glaubens, aber nicht der eigentliche „Gegenstand" oder „Inhalt" des Glaubens. „Faktum" und „Inhalt" des Glaubens bestehen nur in jenem Ereignis des Glaubens, in dem das Individuum erfährt, daß es zu einem neuen Leben fähig ist, fähig ist, sich auf das Reich Gottes zu orientieren. Da die Offenbarung keine Lehre und die Lehre nicht „gegeben" sein kann in der Absicht, daß sie vom Glauben anzunehmen wäre, ist „Lehre" nach Herrmann nur in „Glaubensgedanken" möglich, die der Glaubende beim Explizieren seines religiösen Erlebnisses bildet. Für dieses Denken braucht der Glaube jedoch die Ethik. Die Dogmatik, welche die auf dem Unterschied von Person und Natur aufbauende religiöse Weltanschauung begründet, ist also notwendig auf die praktische Ethik angewiesen. Herrmanns Dogmatik wird so zur Begründung der religiösen Weltanschauung sowie zur Kritik der früheren Dogmatik.

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Herrmann kritisiert alle ihm bekannten Darstellungen der Dogmatik bis hin zu dem Werk des von ihm ansonsten hoch geschätzten Schleiermacher aus dem gleichen Grund: In ihnen wird die Dogmatik bereits in dem Verständnis von Lehre, das dem Glauben vorangeht, auf der klassischen Metaphysik aufgebaut. Eine Lehre, die dargestellt und von der vorausgesetzt wird, daß sie ohne eigenes Glaubenserlebnis des Individuums geglaubt wird, ist nach Herrmann Metaphysik und als solche „Gesetz". Auch Luther sei entsprechend der Denkweise seiner Zeit ein Repräsentant des klassischen Dogmas gewesen. Jedoch habe er innerhalb des alten Dogmas einen neuen reformatorischen Glaubensbegriff transportiert. Seine eigene Aufgabe sieht Herrmann darin, in seiner Dogmatik jene von der Reformation eingeleitete Reform zu Ende zu bringen, die bereits von Kant und Schleiermacher philosophisch begründet wurde. Zu diesem Abschließen der „reformatorischen" Linie von Herrmanns Dogmatik gehört im Grunde genommen auch die Kritik der Lehre, wenn man die Lehre als eine Art Zusammenfassung von Sätzen versteht, die dem Glauben angeboten werden. Bei der „Lehre" kann es sich nach Herrmann nur um Glaubensgedanken handeln, die der Glaubende spontan von seinem eigenen Erlebnis erzeugt, welches vom ethischen Bewußtsein und der Macht der personalen Begegnung mit Christus unterstützt wird. Die Glaubensgedanken führen den Glaubenden weiter, mit ihrer Hilfe kann er mit anderen Menschen kommunizieren. Die letzte Begründung der Glaubensgedanken und somit der Lehre liegt nach Herrmann im praktischen Denken, in einer bestimmten Methode, den christlichen Glauben als geschichtliches Phänomen zu analysieren. Weil die Lehre ihr letztes Kriterium im Denken selbst und nicht in Gedanken, die auf der Ebene von Sätzen keine Einheit bilden, findet, ergibt sich folgerichtig die Auffassung von der Mannigfaltigkeit der Lehre. In der Tat gehört nach Herrmann zu den Kennzeichen der wahren Kirche die lehrhafte Vielheit. Die Lehre ist niemals fertig, sondern eine Aufgabe, die aus dem sittlichen Bewußtwerden der gläubigen Personen entsteht und aus der von der Person Christi gegebenen Kraft, sich auf die vollkommene Freiheit, das Reich der vollkommenen Personen hin zu orientieren. Die Ethik verleiht den Sätzen der Dogmatik ihren allgemeingültigen Charakter. Mit dieser Allgemeingültigkeit ist keine wissenschaftliche Gültigkeit im Sinne der Naturwissenschaften gemeint, mit anderen Worten, dogmatische Sätze erklären nichts. Als ethische Sätze beziehen sie sich lediglich auf die Idee, die zu denken ist. Die ethischen Sätze bringen lediglich das Individuum in den Bereich der Erkenntnis und des Denkens der im religiösen Erlebnis zu erfahrenden Wirklichkeit. Die Dogmatik legt systematisch diese im christlichen Glauben enthaltene Weltanschauung dar, die laut Herrmann eine reale Alternative für das Bedürfnis der

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Person, das Weltganze als Einheit zu denken, bietet. Herrmann schließt im Begriff „Weltanschauung" eine der Metaphysik analoge Fragestellung ein, auch wenn es gar nicht um Metaphysik geht. Aus der Sicht der Dogmatik Herrmanns gesehen ist das Verhältnis zwischen Theologie und Metaphysik jedoch komplizierter, als man aus seiner transzendentalen Analyse der Beziehung von Metaphysik und Religion schließen könnte, und als er es selber darstellt.

9. Exkurs: Metaphysik in der Dogmatik gestern und heute 9.1. Die postmoderne

Dogmatik

- ohne

Metaphysik?

Unser postmodernes Zeitalter wird in der allgemeinen kulturellen Diskussion gerne als eine Zeit charakterisiert, die metaphysische Fragestellungen fast völlig ausklammert. Die Metaphysik, unter der in der klassischen Philosophie die Kosmologie, d. h. die Untersuchung des Anfangs und der Natur des Universums, ebenso betrieben wurde wie auch die Ontologie oder Seinslehre, wird schnell als unwissenschaftliche Spekulation abgestempelt, deren Absturz in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte schon vor hundert Jahren geschah. Eine postmoderne Dogmatik, sofern man von einer solchen überhaupt noch sprechen kann 1 , sollte sich nicht mehr der Untersuchung von sogenannten Prolegomena widmen, mit anderen Worten einer methodologischen Aufgabe stellen, die von den theologischen Inhalten der Dogmatik relativ unabhängig behandelt werden kann. Noch die im Einflußbereich der Transzendentalphilosophie stehenden Theologen des 19. Jahrhunderts entwarfen und schufen solche Prolegomena. Auch Schleiermacher und Herrmann gehören zu denen, in deren Prinzipienlehren sich solche Prolegomena befinden. Nicht zuletzt durch den Einfluß Karl Barths wurden die philosophischen Prolegomena in der Theologie des 20. Jahrhunderts jedoch weithin in Frage gestellt. In Barths Theologie liegt unstrittig der einflußreichste Entwurf protestantischer Theologie des 20. Jahrhunderts vor, und in der kontinentaleuropäischen Theologie behauptet er diesen Platz noch heute; in der skandinavischen Theologie und auch in der 1 Bereits Joest (1967, 1 3 - 1 4 ) bezweifelte, ob man im 20.Jahrhundert überhaupt noch von Dogmatik sprechen kann. In der evangelischen Theologie rede man, sagt Joest, seit dem 19. Jahrhundert von der Ontologie als alles umfassendem metaphysischem System. Seit die Luther-Forschung die Scholastik als Repräsentant einer solchen metaphysisch-ontologischen Denkweise betrachtete, wurde auch der theologische Begriff der Lehre als im Grunde genommen metaphysischer Begriff angesehen. Nachdem er grundsätzlich an die Metaphysik gebunden worden war, bedeutete ihre totale Verwerfung in der modernen Luther-Forschung zugleich die Ablehnung des klassischen Lehre-Begriffs selbst. Die Haltung zur Metaphysik löste zugleich die Frage nach der Lehre und ihrem Wesen auf. Dies konnte nicht ohne Einfluß auf die Dogmatik selbst bleiben, in der nach Schleiermacher eben auch nicht mehr von Dogmatik, sondern einengend vom Glauben gesprochen wurde.

Die postmoderne Dogmatik - ohne Metaphysik?

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finnischen Theologie hat Karl Barth dagegen stets nur wenig Beachtung gefunden. Karl Barth, neben Rudolf Bultmann der zweite berühmte Schüler Wilhelm Herrmanns, verwarf die liberale Theologie des ^ . J a h r h u n derts und ihre philosophischen Prolegomena und verkündete statt dessen die Souveränität Gottes: Gott ist ganz anders als die Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten. Karl Barths Kirchliche Dogmatik ist Theologie des Wortes Gottes, und Gottes Wort ist letztlich an kein menschliches Wort gebunden. 2 Kritik an den philosophischen Prolegomena wurde seit dieser Zeit im 20. Jahrhundert immer wieder geübt. Es fällt in der Tat schwer, in der systematischen Theologie des europäischen Kontinents einen Entwurf auszumachen, der nicht in irgendeinem Maße von der Theologie Karl Barths abhängig wäre. Das gilt auch für die neue sogenannte trinitarische Theologie, die sich scharf an der liberalen Theologie Herrmanns reibt und meint, diese habe aus dem Zentrum der Theologie nicht nur die Offenbarung und das Wort Gottes, sondern auch die Inhalte der klassischen Dogmatik, den Gottesbegriff selbst und die damit verbundene Trinitätslehre sowie die Christologie vertrieben. Doch auch die jüngsten Vertreter der Trinitätstheologie, im deutschen Sprachraum Jürgen Moltmann und Wolfhart Pannenberg sowie im angelsächsischen Bereich Thomas F. Torrance und Robert Jenson, zeichnen sich nicht gerade durch eine völlige Unabhängigkeit von der Theologie Barths aus. Allerdings haben sie sich bei der Neufassung des Gottesbegriffs in gewissem Umfang an die Philosophie Hegels und an Hegels philosophische Begründung des Offenbarungsbegriffs gehalten. 3 Auch moderne Theologen haben daher, sofern sie ihre systematische Theologie auf dem Gottes- und Trinitätsbegriff aufbauen, ihre Dogmatiken nicht ohne philosophische Einflüsse verfaßt. Nicht zuletzt Wolfhart Pannenberg hat sich in seiner Systematischen Theologie (1988) auf den Standpunkt gestellt, daß die Prolegomena einer Dogmatik nicht isoliert von den eigentlichen theologischen Inhalten geschrieben werden können. Ihm zufolge muß die Dogmatik bei der Trinität einsetzen, und hier sollte auch der eigentliche, inhaltliche Schwerpunkt der Dogmatik liegen. 4 Jedoch wurden in letzter Zeit scharfe Ein2 Zur Bedeutung der Theologie Karl Barths auch für die lutherische Theologie siehe Martikainen 1989. Auch im ökumenischen Dialog war Barths Theologie von großem Einfluß. Siehe Martikainen 1999. 3 Der Tübinger Professor für systematische Theologie Oswald Bayer bezog in die Diskussion über den Einfluß der Philosophie Hegels auch die Theologie Bonhoeffers ein. Er verfaßte darüber einen Artikel (Bayer 1985, 259-276) und löste eine breite Diskussion unter Bonhoeffer-Forschern aus. Von den Vertretern einer trinitarischen Theologie hat am klarsten Jenson den Einfluß der Philosophie Hegels auf seine Theologie zugestanden. Siehe Jenson 1969, 1982, 1984 und 1997.

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Exkurs: Metaphysik in der Dogmatik gestern und heute

wände gegen eine jegliche Kategorisierung der Theologie überhaupt erhoben. So hat Oswald Bayer die wichtigsten Kategorisierungsbestrebungen der Theologie angegriffen. Bayer ist der Auffassung, für die Theologie könnten in keiner Form irgendwelche Kategorien aufgestellt werden. 5 Eine Methodologie der Theologie, die den Kontakt mit den Naturwissenschaften sucht, müßte im strengen Sinn des Wortes in Frage gestellt und statt dessen müßten die ureigenen, der Tradition entnommenen inhaltlichen Ausgangspunkte der Theologie aufgesucht werden. Die Entwicklung der Physik gegen Anfang des 20. Jahrhunderts und besonders das Aufkommen der Quantentheorie hat in neuer Form Fragen nach der rationalen Erkennbarkeit der Wirklichkeit und nach sicherem naturwissenschaftlichen Wissen aufgeworfen. 6 Die Quantentheorie ist in ihrem Wesen indeterministisch, und die Ereignisse der Quantenwelt sind nicht mit Sicherheit voraussehbar. Das Problem, das die Quantenmechanik mit sich bringt, liegt in der Meßbarkeit. Das war bereits den Vätern der Theorie als erkenntnistheoretisches Problem bewußt. Es weitete sich schließlich so aus, daß es die Natur der Realität selbst betraf. Die Kopenhagener Quantenphysiker ahnten dabei im voraus, zu welchen tiefgreifenden Umwälzungen die Quantenmechanik im abendländischen Wirklichkeitsverständnis führen könnte. Sie forderten besonders die deterministische Mechanik Newtons heraus, die nicht mehr länger als gültig angesehen wird. 7 Es muß daher gefragt werden, ob die moderne Theologie, die ihre Apologie auf dem newtonschen Weltbild errichtete, und in deren kritischem Kontinuum sich später dann auch die Theologie des 20. Jahrhunderts zu einem eigengesetzlichen und eigensprachlichen, nahezu völlig von der übrigen Kultur isolierten Bereich abgesondert hat, nicht einer völlig falschen Herausforderung antwortet. Zugleich steht eine weiterreichende Untersuchung der Beziehung zwischen Theologie und Metaphysik überhaupt an. Diese Beziehung hat sich als weit komplizierter erwiesen, als es Wilhelm Herrmann in seiner Kritik der klassischen Metaphysik behauptete. Methodologie und Wirklichkeitsverständnis der Theologie sind seit ihren Anfängen miteinander verwoben.

4

Zur ökumenische Bedeutung der Theologie Pannenbergs siehe Martikainen 1997. Siehe Bayer 1999. 6 Dieser Exkurs basiert weitgehend auf Ergebnissen und Veröffentlichungen, die in Zusammenhang mit meinem Forschungsprojekt „Die Methodologie der Theologie der Neuzeit und der Wandel des westlichen Wirklichkeits- und Geschichtsverständnisses" stehen. Die wichtigsten darunter sind: Infinity, Causality, and Determinism. Ed. Eeva Martikainen 2002. Im folgenden wird für die Artikel dieses Buches das Kürzel I C D verwendet; Eeva Martikainen: Teologian perusmalleja klassisesta postmoderniin. [Grundmodelle der Theologie von der Klassik bis zur Postmoderne] (Auf Finnisch. Helsinki. 1999). Zur Herausforderung durch die moderne Physik siehe mehr bei Martikainen 2002 (in ICD). 7 Dazu Kallio-Tamminen 2002 (in I C D ) 5

Die Problematik der Rolle der Metaphysik

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Ohne Kenntnis der Geschichte des Verhältnisses von Metaphysik und Theologie kann auch heute nicht erkannt werden, wie sich die moderne Dogmatik zu der Kritik Herrmanns stellen soll. Die Kritik hatte weitreichende Folgen für die gesamte moderne Dogmatik, aber die Frage, ob sie auch dem richtigen Gegenstand galt, ist immer noch aktuell.

9.2. Die Problematik der Rolle der Metaphysik in der Geschichte von Theologie und Philosophie Die christliche Theologie bezog in ihrer Entstehungsphase, d. h. der Phase der Ausformulierung des klassischen Dogmas, noch keine Stellung zur aristotelischen Metaphysik, gegen die sich besonders die Metaphysikkritik der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts richtete, sondern zur platonischen Weltentstehungstheorie. Für den Piatonismus war es charakteristisch, daß er die Wirklichkeit als eine einheitliche sah, die als solche intellektual verstanden werden kann, doch bereits die christliche Trinitätstheologie grenzte sich von der platonischen Philosophie ab. Die historische Analyse der christlichen Trinitätstheologie, die ein neues kritisches Licht auf das Verständnis der Dogmengeschichte, wie es die neuprotestantischen Schule vertrat, geworfen hatte, konnte die Beziehung zwischen christlicher Trinitätstheologie und platonischer Philosophie in neuer Weise erhellen. 8 Die Schwierigkeiten von Philosophie und Theologie, in der gegenwärtigen Situation metaphysische Fragen ernst zu nehmen, gehen zum Teil auf die ambivalente Rolle der Metaphysik in der Wissenschaftsgeschichte zurück. Diese Ambivalenz zeigt sich auch in der Metaphysikkritik des 19. Jahrhunderts, die sich besonders gegen die aristotelische Metaphysik richtete. Der aristotelischen Metaphysik kommt in der Geschichte von Philosophie und Theologie jedoch eine zweifache Bedeutung zu. Zunächst einmal diente sie nur der Erforschung des Seins der Natur (being qua being). Zweitens konnte sie jedoch auch zur Erforschung des Wesens des Seins selbst eingesetzt werden. So wurde sie beispielsweise auf die 8 Besonders Wolfhart Pannenberg (1988, 113) hat darauf hingewiesen, daß sich die neuprotestantische Metaphysikkritik gegen die aristotelische und nicht gegen die platonische Philosophie richtet, die nach Pannenberg selbst das klassische christliche Trinitätsverständnis besser formuliert hat, eine Ansicht, die von anderen, insbesondere Patristikern geteilt wird. Hier sind besonders Georg Kretschmar sowie der verstorbene Dogmatiker Regin Prenter zu erwähnen. Pannenberg hat auch die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß eigentlich erst im Mittelalter, in der Blütezeit der aristotelischen Metaphysik das Verhältnis von Theologie und Metaphysik in einer Weise problematisiert wurde, die große Folgen auch für die zentralen Inhalte der Dogmatik nach sich zog. Wie weit diese Behauptung zutrifft, müßte durch umfangreichere Untersuchungen überprüft werden.

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Exkurs: Metaphysik in der Dogmatik gestern und heute

Frage nach dem Wesen (essentia) Gottes, einer nicht zur Natur gehörenden selbständigen Substanz [substantia] bezogen. 9 Die antike und besonders die aristotelische Philosophie spielte bei der Definition des Begriffs Metaphysik eine zentrale Rolle. Aristoteles selbst betrachtete seine „erste Philosophie" als eine Wissenschaft, für die man später die Bezeichnung Metaphysik erfand. Zunächst war damit lediglich die konkrete Sammlung aristotelischer Werke gemeint, welche „die ersten Gründe" behandelten und die die Herausgeber hinter Aristoteles' Schriften über die Physik piazierten. 10 Daher stammt die Bezeichnung Meta-Physik. Vor allem im Mittelalter wurde sie zu einem besonderen Fach der Philosophie weiterentwickelt und zur Erforschung des Seins selbst ausgeweitet.

9.3. Die Rolle der Metaphysik in der Entstehungszeit Dogmatik, d. h. in der aristotelischen Scholastik

der

In der Praxis diente die Metaphysik in der Geschichte der Theologie als Band, das die Theologie mit den anderen Wissenschaften und der gesamten Kultur vereinte. Die Metaphysik als Vorhof der Theologie war der gemeinsame Bereich, in dem sich Theologie und andere Wissenschaften begegnen konnten. So war es möglich, über den Gegenstand der Theologie in der Sprache der Metaphysik zu sprechen. Gott galt demnach als höchstes Gut, Summum bonum, als erster Urgrund und als letzter oder als Finalgrund. Die klassischen Gottesbeweise stützen sich folglich auch auf metaphysische Vorstellungen. Die Metaphysik war jener Wissenschaftsbereich, der Ontologie, Kosmologie, Ethik, Ästhetik und auch Theologie zusammenfaßte. Man denke nur an den Begriff des Seins selbst: nach klassischer griechischer Auffassung ist alles, was ist, wahr, gut und schön. Sein ist immer besser als Nichtsein. In die theologische Sprache übersetzt, hieß das, daß Gott als höchstes Gut die Wahrheit selbst, die Quelle und auch die ethische Grundlage allen Seienden ist. In der klassischen Metaphysik gehen Ontologie und Erkenntnistheorie Hand in Hand; über das, was ist, kann auch Wissen erworben werden, und dieses Wissen ist evident. 11 Der philosophische Seinsbegriff und der theologische Gottesbegriff konvergierten im kosmologischen Gottesbeweis, der Gott als ersten Grund (prima causa efficiens) und auch als letzten Grund (causa finalis) 9

Aristoteles, Met. 1. 1003a 21. Knuuttila 1990, 269. 11 Aristoteles, De anima III 7,431 a 1): „Das aktuale Wissen ist identisch mit seinen Gegenständen. " 10

Die Rolle der Metaphysik in der Entstehungszeit der Dogmatik

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allen Seienden verstand. 12 Auch wenn Gott im kosmologischen Argument als erste Ursache allen Seins gilt, ist die Gottheit weder auf ein Seiendes reduziert, noch ist die Frage nach den Ursachen des Seins auf die Theologie begrenzt. Die lange Tradition einer Kosmologie, die Physik, Philosophie und Theologie gemeinsam durchlaufen haben, macht dagegen deutlich, wie eng die Disziplinen miteinander verbunden sind. Im Zuge der Herausbildung des Wissenschaftsbegriffs der mittelalterlichen Scholastik sah sich auch die Theologie genötigt, ihren spezifischen Bereich genauer als zuvor festzulegen, denn der intellektuale Wissenschaftsbegriff des Mittelalters fußte auf der Unterscheidung der Wissenschaften bei Aristoteles, die hier genauer gefaßt ist als in der platonischen Philosophie. Die Wissenschaft des Mittelalters war eine von unten nach oben errichtete Konstruktion, die auf der aristotelischen Physik und Metaphysik aufbaut und in der die Theologie an der Spitze der Pyramide die höchste Ausübung intellektualer Erkenntnissuche darstellt. War die Theologie im Zeitalter des Piatonismus von einer engeren Verknüpfung zwischen Ontologie und Theologie geprägt gewesen, mußte die scholastische Theologie des Mittelalters nun ihr Verhältnis zur philosophischen Disziplin noch genauer und differenzierter bestimmen. In der aristotelischen Scholastik ermöglichte die Metaphysik eine philosophische Theologie, die aus Teilbereichen der Theologie eine Brücke zu den anderen Wissenschaftsdisziplinen schlug. Die Metaphysik, die zwischen den unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen Brücken baute, spielte jedoch eine nicht ganz unproblematische Rolle, was auf ihre doppelte Bedeutung zurückzuführen ist. Auch die spätere Konfusion hat ihre Ursache in dieser begrifflichen Ambivalenz: Konnte Metaphysik doch auf der einen Seite im Sinne der ersten aristotelischen Philosophie lediglich die Erforschung des Seins der Natur, mit anderen Worten des Seins des Seienden oder der Physik mit der Sprache der Philosophie bedeuten, auf der anderen Seite aber auch die Erforschung des Wesens des Seins selbst meinen. Im letzteren Sinne wurde sie vor allem im Mittelalter auch auf die Analyse der nicht zur Natur gehörenden selbständigen Substanz, des Seins selbst, ausgeweitet. Der philosophische Seinsbegriff und der theologische Gottesbegriff fallen im kosmologischen Gottesbeweis Thomas von Aquins, der Gott als erste Ursache (prima causa efficiens) und auch als letzten Grund (causa finalis) allen Seienden versteht, zusammen. Der intellektuale Wis-

12 Nach Hintikka (1996, 34) war die Theorie des Aristoteles vom unbewegten Beweger eine natürliche Folge seiner Theorie des Denkens in Kombination mit seiner Sicht von Potentialität und Aktualität Alle Formen sind aktual in der Seele der Gottheit, wie sie sich Aristoteles vorstellt. Der unbewegte Beweger denkt sein eigenes Denken. Siehe Aristoteles, Met XII 1072b 1930; 1073a 314.

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Exkurs: Metaphysik in der Dogmatik gestern und heute

senschaftsbegriff und die christliche Gesamtkultur des Mittelalters bauten deshalb auch auf der Unterscheidung der einzelnen Wissenschaften bei Aristoteles auf, die hier in einer genaueren Fassung vorliegt als bei Piaton. Aristoteles spricht von einer vierfachen Ursache: er unterscheidet eine erste Ursache, die Wirkursache, die Formalursache und den finalen Grund. Der aristotelische Gedanke eines unbewegten Bewegers, in dem der erste Grund (prima causa efficiens) und der letzte Grund (causa finalis) zusammenfallen, bot auch der philosophischen Theologie des Mittelalters eine feste Plattform, wenngleich Thomas von Aquin ihn nicht direkt für seine eigene theologische Kosmologie übernahm. Thomas von Aquin entlehnte die Grundbegriffe der aristotelischen Kosmologie, dynamisierte sie aber zugleich mit dem Seinsbegriff. Deshalb wird der Seinsbegriff in seiner philosophischen Theologie mit aristotelischen Kausalbegriffen allein noch nicht verständlich. Im kosmologischen Gottesbeweis gilt freilich der aristotelische Begriff des ersten Grundes: Die philosophische Theologie konnte dementsprechend annehmen, daß Gott die prima causa efficiens ist. Gleichzeitig konnte der Theologe den Finalgrund, den Aristoteles auf das Wesen der Natur bezog, auf die Theologie übertragen: Gott ist die causa finalis im übernatürlichen Sinn. Dagegen läßt sich der aristotelische Begriff des Formalgrundes als solcher nicht auf die Theologie übertragen: Gott ist keine prima causa forma allen Seienden und Gott schafft auch nicht direkt die „forma" der existenten Wesen, weil dem Seienden eine relative Selbständigkeit gegenüber dem Sein zukommt. Gott als Sein selbst ist actus purus, Akt des reinen Seins. In der essentialen Betrachtung des Seins ist Gott nach thomasischer Auffassung nichts. In der Kosmologie konnte man jedoch behaupten, daß Gott erster Grund (prima causa efficiens) des gesamten Kosmos ist. 13 Es verdient allerdings Beachtung, daß es vor allem die philosophische Theologie, also die Metaphysik, war, die sich für kosmologische Fragen interessierte. Die Theologie mußte aber auch ihre besondere Informationsquelle, die Bibel, berücksichtigen, in deren Auslegung ihre ureigendste Aufgabe bestand. Dies zeigt sich bereits in der theologischen Konstruktion des großen Hochscholastikers, Thomas von Aquins, der im ersten Teil seiner monumentalen Summa Theologiae kritisch fragt: Benötigt man zusätzlich zur philosophischen Disziplin noch eine Lehre (sacra doctrina), die der Theologie ihre spezifischen, eigenen Prinzipien gibt? Der Erschaffer der großen Synthese aus Physik, Philosophie und Theologie kannte also die Unterschiede zwischen den einzelnen Disziplinen genau. Es ist falsch wie Herrmann zu behaupten, daß die Scho-

13

Martikainen

2000.

Die Rolle der Metaphysik in der Entstehungszeit der Dogmatik

185

lastik unter Lehre im wesentlichen Metaphysik verstand. Sie erhielt ihren dogmatischen Grundbestand von der alten Kirche, das heißt insbesondere von den Kirchenvätern, vor allem von Augustin. Seine Wurzeln lagen, so empfand man es, in der Bibel. Die Apostel hatten jenes apostolische Glaubensbekenntnis diktiert, das zu Beginn der Scholastik in eine zunächst vierteilige, später eine achtteilige und sogar zwölfteilige Dogmatik ausgeweitet wurde. Zwar fand die aristotelische Logik sehr wohl auch auf die Beweisführung der Dogmen Anwendung, aber ansonsten herrschte eine deutliche Trennung zwischen dem, was intellektual, intuitiv gewußt werden kann, und dem, was logisch zu beweisen ist. Man beachte, daß das Wesen Gottes für Thomas auch in der Offenbarung letzten Endes unerkannt bleibt. Gottes Wesen läßt sich nämlich auch mit der aristotelisch-thomasischen Sprachtheorie begrifflich nicht erfassen. Gottes Name ist komplex, und kein Prädikat Gottes enthält sein Wesen. Sämtliche Gottesprädikate: Allmacht, Ewigkeit, Weisheit, Liebe, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Weisheit besagen lediglich in analoger Weise, wie Gott zu verstehen wäre, wenn die Sprache die Wirklichkeit Gottes aussagen könnte. 14 Wesentlich für die Entwicklung der Kosmologie und auch der Metaphysik im Hochmittelalter waren jedoch die beiden Kausalitätsbegriffe, die Thomas übernahm: die prima causa efficiens und die prima causa forma. Der Begriff der zwei Kausalitäten ermöglichte ihm die Unterscheidung zwischen natürlicher und übernatürlicher Ursache. Nach Thomas kommt den natürlichen Dingen, wie beispielsweise Pferden, Menschen und Steinen unter den uns bekannten Weltverhältnissen ihre je eigene natürliche, ihrer Art gemäße Ursache zu. Der Mensch strebt nach intellektualen Dingen und benimmt sich rational, weil er ein intellektuales und rationales Wesen ist. Sein Interesse richtet sich gleichsam von Natur aus auf die höchsten Ziele, zu denen auch gehört, den Sinn des gesamten Kosmos zu verstehen. Die Vorstellung, jedes Seiende trage in sich selbst eine formende Ursache, die verständlich macht, weshalb es so handelt, wie 14

Martikainen 1992. Laut Pannenberg (1988, 314) ist es Thomas von Aquin nämlich nicht gelungen, den Gedanken über Gott als Sein und als geoffenbarte Trinität in Einklang zu bringen, sondern der Gottesbegriff sei schon bei ihm in zwei schwierig miteinander in Beziehung zu setzende Teile zerfallen. Den ersten Teil habe die metaphysische Anschauung über Gott als ersten Kausalgrund (prima causa faciens) und als letzten Grund (prima causa finalis) gebildet. Gott sei als dreieiniger jedoch erst durch die Offenbarung erkennbar. Der Ansatz von Thomas, den Gottesbegriff in den Gegenstand der metaphysischen und der spezifisch theologischen Erkenntnis zu unterteilen, bricht so Pannenberg mit der überkommenen augustinisch-platonischen Anschauung von Gott, die unter dem Aspekt des Erkenntnisprinzips einheitlich ist. Der Position Augustins zufolge könne man in der Metaphysik nicht nur erkennen, daß Gott ist, sondern auch, wie er beschaffen ist. Der philosophische Grundsatz des Seins und der theologische Ausgangspunkt der Trinität gehören zum Bereich desselben Prinzips.

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Exkurs: Metaphysik in der Dogmatik gestern und heute

es handelt, ermöglichte eine intellektual-empirische Betrachtungsweise der Natur ohne eine erste kosmologische Ursache anzunehmen. Die empirische Betrachtungsweise des Seienden beruhte jedoch auf dem Intellekt, der im Erkenntnisbegriff, wie er von der klassischen Metaphysik vertreten wird, eine grundlegende Rolle spielt. Die Ratio hat hier lediglich eine begrenzte Aufgabe im Dienst des Intellekts. Der Intellekt oder der Verstand enthält viel mehr und ist grundlegender als die bleiche Ratio, die Vernunft. Nach der klassischen Auffassung setzt die Vernunft den Intellekt voraus. 15

9.4. Die Metaphysik

und das letzte Ziel des Menschen

Die Metaphysik stellt somit auch die ontologische Frage, anders gesagt die Frage, was und wie beschaffen alles ist. In ihrer klassischen Ausprägung bestand eine gegenseitige Entsprechung von Ontologie und Erkenntnistheorie. Der klassische Erkenntnisbegriff setzt ja die Vorstellung einer objektiven Wirklichkeit voraus, deren Struktur erfaßbar und sogar endgültig erkennbar ist. Das Wissen, das die Wirklichkeit begreift, entspricht ihr auch. Aristoteles glaubte deshalb, mit Hilfe der Wissenschaft sei es möglich, ein genaues Abbild der Wirklichkeit zu zeichnen. Hätte der Mensch nur ausreichendes Wissen, könnte er sich mit Hilfe der von der Wissenschaft erstellten Orientierung zuverlässig in der Wirklichkeit bewegen. Die Wirklichkeit ließe sich in Begriffe bringen, und Begriffe geben ein genaues Bild vom objektiven Aufbau der Wirklichkeit. 16 Nach der klassischen, bis zum Beginn der Neuzeit einmütig vertretenen Auffassung besteht das Erkennen im wesentlichen in einer Art Sehen. Das Begreifen eines durch Sinneswahrnehmung zu erfassenden rein intellektualen Objekts beruht demnach auf Intuition. Jede rationale Analyse und jede Schlußfolgerung setzt in sich selbst evidentes, unmittelbares Wissen voraus, das von vornherein bereits das enthält, was aus dem Begriff durch logische Analyse erschlossen werden kann. Die Struktur der Wirklichkeit ist somit intellektual und auch logisch analysierbar. Das Wissen über die Wirklichkeit besteht seinem Kern nach in einem intellektualen Schauen, in dem das objektive Wesen der Dinge, die sich in der Realität befinden, begriffen werden kann. In dieser Schau wird das Ganze, die „forma" eines Dings erkannt, in Begriffe gefaßt und zum Gegenstand von logischen Analysen erhoben. 17

15 16 17

Siehe hierzu z.B. Snell 1924. Ks. Aristoteles, De anima II 5, 418 a 36. Hintikka 1996, 37-38.

Die ontologische Natur des Guten und der freie Wille

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Die Analyse des Seienden gilt im Prinzip für alle Wissenschaften von der Naturwissenschaft bis hin zur Theologie. Im Bereich der Naturwissenschaften weist jedes Ereignis beispielsweise eine Voraussetzung auf, die ein ihrem Wesen entsprechendes Ergebnis zustandebringt. Auf dem Apfelbaum wachsen eben Äpfel und keine Birnen. Die gleiche Logik besteht auch im Bereich der Moralphilosophie. Ein im moralischen Sinn gutes Werk erfordert eine gute Person, deren Seelenleben sich in einer Ordnung befindet, die der Intellekt eingeübt hat. Auch im theologischen Sinn hat gutes Handeln eine gute Person zur Voraussetzung. Martin Luther wandte den klassischen Seinsbegriff analog auch auf die Theologie an, wenn er immer wieder einen Spruch zitierte, der sich auch im Licht der klassischen Ontologie verstehen lässt: „Ein guter Mensch tut gute Werke. Lasst uns erst den Baum gut machen, dann bringt er von selbst gute Früchte!" 18 Die übliche intellektuale Denkweise, der zufolge allen Wissenschaftsgebieten ein gemeinsames Seinsprinzip zu Grunde liegt, ermöglichte die gegenseitige Wechselwirkung der Disziplinen unabhängig von ihren unterschiedlichen Inhalten und Bedeutungen in den einzelnen Bereichen des Lebens. Aus der aristotelischen Scholastik oder aus dem Piatonismus Augustins wissen wir, was die den Wissenschaftsgebieten gemeinsame Metaphysik und der Begriff des Wissens, den sie enthält, in der Theologie bedeutet. Demnach ist Gott das höchste Gut, über das wir Wissen erlangen können, und zwar in der Erforschung des Seienden und des ersten Urgrundes sowie des Finalgrundes allen Seienden; das Wissen richtet sich auf einen Bereich, auf den alle existenten Wesen bei der Verwirklichung der in ihnen enthaltenen eigenen Seinsform zielen.

9.5. Die ontologische Natur des Guten und der freie via antiqua und via moderna

Wille:

Die klassische Metaphysik war so mit dem Gedanken eines Ganzen der Wirklichkeit vertraut, das objektiv aufgebaut ist und damit vom Intellekt begriffen werden kann. Diese Vorstellung ermöglicht die Erforschung der Wirklichkeit als objektive und logische Einheit. Die Struktur des Seienden ist der klassischen Metaphysik zufolge nicht nur auf bestimmte Weise geordnet, sondern auch gut. Damit hat der Mensch seinen Ort in der Ordnung des Seienden, und aus der Kenntnis dieses Ortes kann geschlossen werden, was für den Menschen gut ist. Weil dem Guten von Natur aus Objektivität zukommt, da es in der Struktur des Seienden 18

Siehe Luther, WA 40 I, 410, 15-23 (Dr.); mehr dazu bei Martikainen

1987b, 87-99.

188

Exkurs: Metaphysik in der Dogmatik gestern und heute

begründet liegt, verschafft die Kenntnis des Seienden zugleich auch ein Wertewissen. Die Einübung des Intellekts bedeutet zugleich auch gutes Leben. Und gutes Leben heißt Einklang zwischen Mensch und Natur. In der klassischen Metaphysik findet sich nicht die Vorstellung, der Mensch könne sich über die Natur erheben und selbst das Ziel seines Lebens wählen. Das Ziel des Menschen ist in seinem Wesen objektiv vorgegeben. Die beste Selbstverwirklichung besteht in dem Wissen, was der Mensch objektiv ist. Das höchste, über den natürlichen Menschen hinausragende Ziel besteht in der Liebe zum höchsten Gut, also zu Gott. 1 9 Die Betonung des Intellekts, wie die klassische Metaphysik sie vornimmt, bedeutet, daß der Intellekt logisch dem Willen vorangestellt wird. Wenn der Mensch weiß, was objektiv für ihn gut ist, weil er zur Gattung Mensch gehört, dann handelt er auch entsprechend. Aristoteles oder Thomas von Aquin nahmen an, daß der Mensch das will, was ihm der Verstand als gut präsentiert. Der Mensch kann also das Ziel seines Lebens, glücklich zu werden, nicht selbst wählen, er verwirklicht es aber; sofern der Mensch nur ausreichend Wissen über das Ziel erlangt, strukturiert er sein Inneres in Entsprechung zu diesem Wissen. Das grundlegende Ziel ist in der Natur seiner Gattung vorgegeben, die einen Teil der objektiven Einheit der Wirklichkeit bildet. Der Mensch ist kein Engel, er ist nicht Gott, aber auch keine Rose und kein Pferd. Das Wissen um die eigene Stellung im Ganzen der Wirklichkeit verschafft ihm auch das Wissen darüber, was das beste für ihn ist. Seine intellektuale Vervollkommnung bewirkt zugleich seine ethische Besserung. Damit ist das Gute objektiv. Bis ins Spätmittelalter herrschte das sogenannte sokratische Paradox vor. Es besagt, daß der Wille im Grunde genommen ein Vermögen des Verstandes ist, daß der bewegte Beweger nicht ohne das mit dem Verstand erkannte Gute handeln kann. Erst die sogenannten Nominalisten, Duns Scotus und Wilhelm von Ockham versuchten dies in Frage zu stellen und behaupteten, der Wille des Menschen sei keineswegs logisch an das vom Intellekt aufgezeigte Gute gebunden. Der Mensch kann von dem Guten, das ihm der Intellekt zeigt, abweichen und das Böse wünschen. Sein Wille ist von Natur aus frei. Bezeichnenderweise waren noch

19 Von der Antike an wurde die Glückseligkeit als das Lebensziel angesehen. Der Mensch will glücklich sein, aber die bestimmende Struktur dieses Glücks, das gute Leben selbst, kann er nicht wählen. Bei Augustin und Thomas liegt das Lebensziel des Menschen in ewiger Glückseligkeit, und Gott ist das höchste Gut (summum bonum). Der Mensch kann - so Augustin und Thomas - sein ewiges Ziel, also Gott als höchstes Gut, nicht selbst wählen. Dagegen hat man seit der Antike über die "Willensfreiheit in dem Sinn gesprochen, daß der Wille ungezwungen aktiv ist.

Die ontologiche Natur des Guten und der freie Wille

189

die philosophischen Lehrer Luthers, Jodocus Trutfetter und Bartholomäus von Usingen, geneigt, anzunehmen, daß der Wille dem Gutem folgt, auf das der Verstand verweist. Auch sie stellten sich in der Frage, ob der Mensch sein letztes Ziel selbst wählen könne, auf den Standpunkt der klassischen Metaphysik, und durch die Vermittlung dieser Lehrer übernahm auch Martin Luther die für die klassische Metaphysik typische intellektuale Denkweise, die keine freie Wahl des Willens kennt.20 In seiner Schrift De servo arbitrio nimmt Luther zur Frage der freien Entscheidungsgewalt Stellung. Er scheint sich an die klassische Vorstellung zu halten, daß der Mensch weder sein Ziel selbst noch irgend ein einzelnes Werk wählen kann, das von dem vorgegebenem Ziel abweicht oder es ändert. Luthers Standpunkt weicht hier sowohl von dem der Hochscholastik eines Thomas von Aquin als auch von dem der Spätscholastik ab. Luther betrachtet als Kriterium der freien Entscheidungsgewalt nur, daß der Mensch, wenn er etwas tut, genau so gut auch anders handeln könnte.21 Allerdings wird man Luthers Auffassung nicht ganz gerecht, wenn man sie lediglich ontologisch philosophisch betrachtet, anders gesagt, wenn man nur mit der Frage an sie herantritt, ob der Mensch ausschließlich Werke tut, die das höchste Ziel des Lebens voranbringen. Anthropologisch gesehen geht es darum, ob sich der Wille automatisch danach richtet, was der Verstand als richtig vorgibt, wie das sokratische Modell meint. Luthers Antwort ist letztendlich theologisch orientiert, d. h. untrennbar mit der Frage nach Gott und Gottes Verhältnis zum Menschen verbunden.22 Darüber ausführlicher Martikainen 1996. Siehe Knuuttila 1977, 135-149; 145. Siehe auch W A 18, 617: 2 - 6 : „Neccesitatem consequentiae vocant, ut crasse dicam, Si Deus aliquid vult, necesse est ut ipsum fiat, sed non est necesse, ut id sit, quod fit. Solus Deus enim necessario est, omnia alia possunt non esse, si Deus velit. Ita actionem Dei necessarium dicunt, si volet, sed factum ipsum non esse necessarium. Quid autem istis ludibriis verborum efficiunt? Ut scilicet, facta res non est necessaria, id est, non habet essentiam necessarium, hoc est aliud nihil dicere quam, res facta non est Deus ipse." Scotus, De primo principio IV, 4: „Non dico hic contingens quodcumque non est necessarium nec sempiternum, sed cuius oppositum posset fieri quando istud fit." W A 18, 615: 33-35; 616:1-2: „Voluntas enim Dei efficax est, quae impediri non postest, cum sit naturalis ipsa potentia Dei, Deinde sapiens, ut falli non possit. Non autem impedita volúntate opus ipsum impediri non potest, quin fiat loco, tempore, modo, mensura, quibus ipse et praevidet et vult." KS. W A 18, 722: 12-13: „Hoc enim efficit nécessitas consequentiae, id est, si Deus praescit, ipsum necessario fit. Hoc est, liberum arbitrium nihi est." 22 Wolfhart Pannenberg (1988, 317) hat die These aufgestellt, daß in der Reformation der Gottesbegriff als systematische Voraussetzung der Theologie zerbrach, weil er nicht mehr auf dem philosophischen Seinsbegriff basierte. Laut dieser These habe Luther die philosophische Basis des Gottesbegriffs durch seine Anschauung aufgegeben, daß nur aus der Bibel Erkenntnisse darüber hervorgehen, daß Gott ist und wie beschaffen er ist. Dem 20 21

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Exkurs: Metaphysik in der Dogmatik gestern und heute

In Luthers Auffassung fallen zwei Denklinien zusammen, eine kann als modern und die andere als traditionell angesehen werden. Modern ist die Auffassung, daß allein Gott über freie Entscheidungsgewalt verfügt, daß ihm allein ein liberum arbitrium zukommt. Gottes Wille ist keineswegs nur an das gebunden, was intellektual gesehen als gut gelten kann. Gott kann frei wählen, und zwar den Tod anstelle des Lebens und das Böse anstelle des Guten. Gott kann zulassen, daß der Rechtschaffene leidet, und er kann den Sünder rechtfertigen. Gott kann das Wertlose anstatt des Wertvollen, den Dummen anstelle des Weisen und den Armen anstatt des Reichen lieben. Gott vermag mit dem Sünder anstatt mit dem Gerechten zu speisen. Gottes Wille ist nicht an ein Gutsein gebunden, das der Intellekt ihm vorgeben könnte. Nach Luthers Auffassung ist die freie Entscheidungsgewalt eine Eigenschaft oder Prädikat, die allein Gott zukommt und nicht, wie Scotus und Ockham meinen, auch für den Menschen gilt. Scotus und Ockham nahmen ja an, daß der Mensch gegen das bessere Wissen seines Intellekts auch das Böse wollen könne, ohne schwach oder krank zu sein. Für Luther dagegen ist der Mensch seinem Wesen nach nicht im Stande, für sich selbst negative Dinge zu wollen. Er verabscheut Ungerechtigkeit, die ihm widerfährt, und er flieht vor dem Tod. Der Mensch kann auch nicht von sich aus das Minderwertige lieben, sondern ist immer bestrebt, etwas zu lieben, von dem er selbst etwas Gutes erwartet. Die traditionelle Sichtweise wird deutlich, wenn Luther die Auffassung äußert, daß Gott seinen Willen unwiderruflich verwirklicht. Er nimmt auch zu der in der aristotelischen Scholastik (Boethius) viel diskutierten Frage Stellung, ob aus dem Vorherwissen Gottes folgt, daß auch genau das geschieht, was Gott zuvor weiß. Er hält daran fest, daß Gott seinen Willen stets verwirklicht. Wenn Gottes Wille nicht zu beeinflussen ist, dann kann auch ein Werk nicht daran gehindert werden, sich an dem Ort und in der Weise zu verwirklichen, wie Gott es voraussieht und will. Nach Luther können Gottes Wille und dessen Folge nicht so, wie es in der aristotelischen Scholastik üblich war, voneinander unterschieden werden. Das Neue an Luthers Auffassung sowohl gegenüber der aristotelischen Scholastik als auch dem Denken Scotus' besteht darin, daß er Gottes Vorauswissen und die Verwirklichung seines Willens mit seiner Allwirksamkeit zusammendenkt. Gott entscheidet über Heil und Verderben des Menschen überall von seiner Gegenwart, seiner Allwissenheit und seiner Allmacht her, wie Luther in seiner Schrift De servo arbitrio wiederholt Zerbrechen des (systematischen) Gottesbegriffs in der Reformation gehe jedoch eine langwierige Entwicklung voraus. D e r Gottesbegriff sei schon vor der Reformation problematisch gewesen, und dieses Problem stehe im Zusammenhang damit, wie T h o m a s von Aquin das Verhältnis von Sein und G o t t verstanden habe.

Die ontologische Natur des Guten und der freie Wille

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sagt. Gottes Entscheidung vollzieht sich nicht in einer Instanz, die außerhalb der Welt und des Menschen steht, sondern durch seine Allwirksamkeit und sein bewahrendes Handeln in der Schöpfung (conservado). Luther betont mit Nachdruck, daß sogar der Verstand begreift, was mit der Allmacht Gottes gemeint ist: Gottes Wirken in allem. Eben dieses Wirken Gottes in allem schließt eine freie Entscheidungsgewalt des Menschen aus. Die gebundene Entscheidungsgewalt des Menschen, das servum arbitrium, ist somit keine Unfähigkeit des menschlichen Willens, das Gute zu wählen oder es abzulehnen, sondern beruht auf der Auffassung, daß allein Gott freie Entscheidungsgewalt zukommt. Der Mensch verfügt über keine Entscheidungsgewalt in Dingen, die über ihm stehen. Über dem Menschen steht eine höhere Instanz, die alles bewirkt: das Gute wie das Böse. Luther verknüpft die Allmacht Gottes mit seiner Anwesenheit als unmittelbar im Geschaffenen wirkenden Grund (prima causa efficiens). Gott wirkt hier also nicht lediglich als erste Kausalursache (prima causa faciens), die es den Geschöpfen erlaubte, ihrem Wesen entsprechend vergleichsweise selbständig zu handeln. Luther lehnt diesen Gottesbegriff, den er als aristotelisch ansieht, ab. Gott wäre nicht allmächtig, wenn er nicht auch in allem wirkte. Gott wirkt ebenso im guten wie im bösen Menschen. Er kann nicht aufhören, ständig zu wirken, da sonst die Schöpfung zusammenbräche. Um sie aufrecht zu erhalten, wirkt Gott sowohl das Böse als auch das Gute. Selbst der Satan ist Gottes Satan und kann dessen Allmacht nicht behindern. Zwar bedeutet die Allmacht Gottes in der Tat, daß der Mensch die Richtung seines Lebens nicht ändern kann, doch liegt darin für Luther auch ein tiefer Trost. Der verborgene Gott, der Gutes wie Böses wirkt, zeigt dem Menschen, daß er unmöglich sein Leben bessern kann, indem er Gutes tut. Es geht also auf Gottes Wirken zurück, daß der Mensch unsicher wird, wenn Gott durch sein Gesetz wirkt. Das Gesetz hilft dem Menschen zu spüren, daß er verloren ist. So wie der menschliche Wille an den Willen Gottes, der im Geheimen in der Schöpfung wirkt, gebunden ist, so bleibt der menschliche Wille an den Willen Gottes auch im Evangelium gebunden. Auch wenn das Evangelium die liebevolle Gegenwart Gottes mit sich bringt, gelangt der menschliche Wille von sich aus selbst in der Predigt des Evangeliums nicht an die Liebe und Barmherzigkeit Gottes heran. Luther verneint damit die Möglichkeit, daß sich der Mensch durch Gottes Gegenwart im Evangelium in freier Entscheidung der Gnade und Güte Gottes zuwenden könnte. Gott verschenkt seine Gnade, seinen Geist und seine Liebe allein aufgrund seines eigenen Willens und Vorherwissens. Seine Allwirksamkeit schließt nicht, wie die Spätscholastik nach Luther anzunehmen scheint, die Möglichkeit ein, aus eigener Kraft die Gnade zu erlangen, die Gott demjenigen schenkt,

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Exkurs: Metaphysik in der Dogmatik gestern und heute

der zuerst tut, was er aus sich selbst heraus tun kann (facere quod in se est). Im Evangelium hat Gott seine Liebe und Barmherzigkeit geöffnet, doch gehen sie nicht in die Verfügung des Menschen und in seine Entscheidungsgewalt über. Gott bewirkt damit sowohl, daß der Mensch durch das Gesetz seine Lage fühlt, als auch, daß er auf die Liebe Gottes im Evangelium hingewiesen wird. Die gebundene Entscheidungsgewalt des Menschen in seiner Gottesbeziehung bedeutet bei Luther im tiefsten Sinn Evangelium: Alles kommt von Gott, und der Mensch ist der Empfänger seiner Liebe und Güte. Gott erweist sich als verborgener Gott, als deus absconditus, dessen linke Hand letztlich zugunsten der rechten wirkt. Gott wählt, wirkt und verwirklicht seine Gnade und Liebe im Menschen. Als Gegenstand der Liebe Gottes wird er wirklich frei, d. h. er beginnt, spontan das zu wollen, was Gott will. Er möchte von Natur aus nicht den Tod, wenn er aber durch die Liebe Gottes frei und fröhlich geworden ist, fürchtet er den Tod nicht, weil er weiß, daß denen alles zum Besten dient, die Gott lieben, der zuerst sie geliebt hat. Für Luther liegt die wirkliche Freiheit in der Liebe Gottes, der den Willen zu einem spontanen Willen macht, so daß er von innen heraus, ohne äußeren Zwang all das will, was auch Gott will. Diese Freiheit setzt voraus, daß der Mensch an etwas gebunden ist, das über ihm steht. Gebundensein und Freisein sind demnach keine Gegensätze, sondern setzen sich im Gegenteil eher gegenseitig voraus. Damit ist Luthers Theologie nicht völlig frei von Metaphysik, vielmehr verlangt das rechte Verständnis des Evangeliums einen Begriff von Gott, der souverän seinen Willen auch dann verwirklicht, wenn er sich des Sünders ohne dessen eigenes Verdienst erbarmt. Die Kritik Luthers richtet sich also nicht gegen eine neutrale, philosophische Auffassung von Metaphysik, in der Natur und Moralphilosophie mit Hilfe aristotelischer Begrifflichkeit untersucht werden, sondern gegen einen theologischen Gottesbegriff, wie ihn die Scholastiker mit Hilfe der aristotelischen Metaphysik formulierten. Der Gott an sich ist der Gott der Metaphysik; ein intellektuales, von der Welt getrenntes Wesen, ein in sich selbst über seine Geschöpfe nachsinnender Gott, der nicht in die Welt hinein und auch nicht zu uns kommt (Gott für uns). In der Theologie wird dagegen von Gott so gesprochen, wie er für uns ist, d. h. wie ihn uns die Heilige Schrift im Evangelium offenbart. Sätze des Dogmas sind in diesem Sinne für Luther Sätze des Evangeliums. 23

23

Darüber ausführlich bei Martikainen

1992.

Der nominalistisch-okkasionalistische Begriff

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9.6. Der nominalistisch-okkasionalistische Begriff der einen Wirkursache und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft Die Nominalisten des Spätmittelalters gingen mit ihren Überlegungen jedoch weit über die Theologie hinaus. So richtete sich der philosophische Streit zwischen Realisten und Nominalisten auf die Frage nach der Erreichbarkeit der realen Welt ebenso wie auf die Frage der Kausalität. Die Nominalisten, die sich als Gegner der Auffassung des Aristoteles verstanden, zogen als erste systematische Trennlinien zwischen Physik, Philosophie und Theologie. Weil Gott die Welt aufgrund seines freien Willens erschaffen hat, müssen ihm Alternativen zur Auswahl gestanden haben, die sich nicht aus der besteh'enden Welt und ihren Gesetzmäßigkeiten ableiten lassen. Damit ist der Gedanke einer einzigen, rational erfaßbaren Wirklichkeit unmöglich geworden. Wenn die Naturgesetze vom logisch Möglichen abweichen, so folgt daraus, daß sich auch die Eigenschaften der Dinge nicht auf das beschränken, was ihnen nach ihren wesensgemäßen (aristotelischen) Definitionen zukommt. Letztlich meinen die Nominalisten, daß es lediglich Einzeldinge gibt, denen die Menschen Namen geben. Gattungsbezeichnungen, wie auch die Eigenschaften der Gattungen und Naturgesetze vergeben wir aufgrund jener Gesetzmäßigkeiten, denen die Dinge, wie wir sie wahrnehmen, folgen. Diese Position der Nominalisten nimmt die Wissenschaft der Neuzeit vorweg, für die es charakteristisch ist, empirisch zu forschen, das heißt Versuche anzustellen und sich gerade nicht an die apriorische Definition von Dingen zu halten. Die zweite wichtige Denkweise, die im Nominalismus angewandt wird, besteht im sogenannten Okkasionalismus, demzufolge jedes Ereignis der Welt nur auf eine einzige unmittelbar wirkende Ursache (causa immediata), d. h. auf Gott selbst zurückzuführen ist. Das nimmt den Kausalitätsbegriff der Naturwissenschaften der Neuzeit vorweg. Nach Wilhelm von Ockham kann die Existenz der Kausalität nicht wissenschaftlich demonstriert werden. Wir haben weder über kausale noch über irgendwelche andere Relationen irgendwelche intuitive Kenntnis. Die nominalistischen Philosophen-Theologen des Spätmittelalters haben also in gewissem Sinne die begrifflichen Voraussetzungen für die Befreiung der Naturwissenschaft von der aristotelischen Metaphysik geschaffen. Zugleich wurde damit aber auch das Verhältnis zwischen Theologie und Metaphysik problematisiert. Denn im Grunde genommen brachen die Nominalisten, wenngleich nur auf begrifflicher und logischer Ebene, jene Brücke ab, die Physik und Metaphysik zu einer argumentativen und syllogistischen Wissenschaft verbunden hatte. Neben der okkasionalistisch-theologischen Denkweise, die lediglich den Begriff der unmittelbaren Ursache (causa immediata) zuließ, gab es sicher noch weitere Faktoren, die die Verselbständigung der modernen

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Exkurs: Metaphysik in der Dogmatik gestern und heute

Physik und ein mechanistisches Weltverständnis ermöglichten. Zudem unterstützten gerade die Theologen der Reformation, die im Prinzip den Begriff der einen Wirkursache vertraten, die neue Naturwissenschaft. Die Theorie des Kopernikus über die Himmelsmechanik wurde im Zentrum der Reformation, in Wittenberg, mit großer Aufmerksamkeit aufgenommen. Der Astronom und Theologe Andreas Oslander schrieb eine vorsichtige, zugleich aber auch positive Vorrede zu Kopernikus' Werk. Später, im 17. Jahrhundert, waren lutherische Theologen vielseitig bewandert und beschäftigten sich außer mit Theologie auch mit Naturwissenschaften und Naturphilosophie.

9.7. Die Verselbständigung der Physik und die Kritik der modernen Theologie an der klassischen Metaphysik Mit dem Beginn der Neuzeit trat in der Wissenschaft bei der Erklärung der Naturphänomene ein entscheidender Wandel ein, der zugleich das Wirklichkeitsverständnis veränderte und direkt zur Entstehung der modernen Theologie führte. In der Physik war man von nun an bestrebt, Phänomene allein durch den Hinweis auf ihre physikalischen Ursachen zu erklären. Die Natur könne, propagierte Newton, als eine Sammlung von Naturgesetzen erforscht werden, die auf mathematisch formulierbaren funktionalen Abhängigkeiten beruhen. Dem naturwissenschaftlichen Umbruch folgten Philosophie und Theologie. Descartes und besonders Spinoza versahen als Meister der geometrischen Methode die Physik Newtons mit einer philosophischen Begründung. Die natürliche Theologie der Aufklärung stellte sich wiederum programmatisch die Aufgabe, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob in den mathematischen Gesetzmäßigkeiten, wie sie die Natur enthält, auch solche Elemente zu finden sind, die Aussagen über das Unendliche selbst zulassen. Die Aufklärung bewirkt deshalb eher eine neue Einstellung zur Wirklichkeit als ein klar umrissenes philosophisches Lehrgebäude. Das Verhältnis von Physik und Metaphysik wurde jedenfalls erneut auf den Prüfstand gestellt. Descartes und Spinoza waren zwar der Auffassung, daß die Physik als reines empirisches Wissen sehr wohl ohne die Metaphysik auskommen könne, ihre Wissenschaftlichkeit (scientia naturae) jedoch, die das gesammelte empirische Wissen zu einer Einheit zusammenfügt, werde aber erst durch die Metaphysik, die jeder Wissenschaft ihre philosophische Grundlage verschaffe, ermöglicht und garantiert. Um die Wende zum 19. Jahrhundert bestritt Immanuel Kant die Möglichkeit, abschließendes Wissens über die Wirklichkeit erlangen zu können. Nach Kants Meinung ist der Mensch unfähig, die objektive Struktur

Die Verselbständigung der Physik

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der Wirklichkeit zu erfassen. Der Intellekt, so Kant, gelangt nie zum Wesen des Dinges, das er beobachtet. So erreicht beispielsweise die Beobachtung einer Rose kein Wissen darüber, was die Rose „an sich" ist, unabhängig von den Veränderungen in Raum und Zeit, die sich durch die Beobachtung ergeben. Die ewige Idee der Rose, wie sie der Begriff Rose beschreibt, ist dem Wissen nicht zugänglich. Die Gesetzmäßigkeiten des Wissens können mit der Fähigkeit einer Brille zur Brechung verglichen werden. Brechkraft und Farbe der Gläser legen fest, in welcher Gestalt und in welcher Farbe wir die Welt sehen. Nach Kant liegt in dieser Brille die unabdingbare Voraussetzung zum Sehen, und sie kann nicht abgesetzt werden. Kants Kritik, die sich gerade gegen die Annahme des intuitiven Wissens richtete, rechnete endgültig mit dem klassischen Erkenntnisbegriff ab, der wesentlich zur Metaphysik gehörte und als einigendes Band zwischen den einzelnen Wissenschaften fungiert hatte. Nach Kant kann das Wesen des Seienden nicht einmal ansatzweise weder durch Beobachtung noch durch Begriffsbildung erkannt werden. Der bleibende Charakter der Wissenschaft, erschließt sich allein dem moralischen Handeln. Die Kritik am klassischen Erkenntnisbegriff bewirkte daher, daß die objektive Wertgrundlage der Moral ins Blickfeld geriet. Es gibt nach Kant keine Möglichkeit, von einem objektiv vorgegebenen Ziel des Menschen auf ein gutes Werk zu schließen, das getan werden müsste, um dieses Ziel zu erreichen. Das gute Werk ist immer ein moralisches Werk, das in der Befolgung der Pflicht getan wird. Damit brachte die Erkenntniskritik Kants die Prinzipien der verschiedenen Wissenschaften auseinander. Die Moral wies nun eine andere Erkenntnisgrundlage als die Naturwissenschaft auf. Allerdings beruhen nach Kant Religion und Moral auf derselben Erkenntnisgrundlage. Werden in der Theologie, so Kant, doch nicht wie in der Naturwissenschaft Tatsachenbehauptungen vorgetragen, sondern moralische Annahmen vertreten.24 In der aufklärerisch bestimmten und gegen die klassische Metaphysik gerichteten transzendental-apriorischen Definition der Wissenschaften und Kulturbereiche Immanuel Kants fand sich auch Platz für eine eigene apriorische Kategorie der Religion. Demnach ist die Theologie vor allem von den theoretisch-empirischen Wissenschaftsbereichen, wie sie die Naturwissenschaften vertreten, genau abgegrenzt, und steht eher der Ästhetik oder der Moralphilosophie nahe. Die methodologischen Prinzipien einer Theologie, die sich auf die Aufklärung und die Philosophie Kants beruft, lassen sich zusammenfassend als eine Art transzendentaler Methode bezeichnen. Ihnen liegt eine erkenntnistheoretische Subjekt-Ob-

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Martikainen

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jekt-Konstellation zugrunde, in der die Bereiche der theoretischen Wissenschaft so begründet werden, daß sie rein auf Beobachtung beruhen, also ausschließlich empirisches Wissen enthalten, das keinerlei Werturteile umfaßt. Nicht alle Theologen, die ihre Werke in der Zeit nach Kant veröffentlichten, übernahmen dessen Moralprinzipien als selbstverständlichen Ansatz. So war der Schöpfer der modernen Theologie, Friedrich Schleiermacher, der Ansicht, daß die Theologie der Ästhetik näher stehe als der Ethik. Theologische Erkenntnis ist eher wie die Ästhetik kreatives Sehen als praktisches Festhalten an irgendeiner Moral. Schleiermacher war der Ansicht, daß dem ästhetischen Theologiebegriff große kulturelle Bedeutung in einer Zeit zukäme, in der der Erkenntnisbegriff, der allen Wissenschaften gemeinsam war, zu zerbrechen schien und in der sich die Naturwissenschaft in eine autonome Unabhängigkeit von der Ethik und den humanistischen Wissenschaften überhaupt begeben hatte. Nach Schleiermacher hält die Religion, in der das Gefühl mit dem Wissen verbunden ist, auch die Kultur als eine Art Seele zusammen. Ohne das Verständnis, das die Religion mit sich bringt, werde die Kultur zum hohlen Gerippe. Dagegen stand Wilhelm Herrmann, einer der Väter des Kulturprotestantismus, der Philosophie Kants näher als den Ansichten Schleiermachers, wenn er das religiöse Erlebnis des Glaubens und das moralische Empfinden als eng zusammengehörig behandelte. Herrmann hatte einen kulturell orientierten religiösen Menschen im Auge, der über ein starkes moralisches Bewusstsein verfügt und der Verantwortung für die Gesellschaft und ihre Entwicklung trägt. 25 Die im Bannkreis der Erkenntnistheorie Kants stehenden Kulturtheologen genossen im 20. Jahrhundert den Ruf übertriebener Liberalität und zu starker Affinität zur natürlichen Religiosität des Menschen. Anfang des 20. Jahrhunderts ließen sich daher auch Stimmen vernehmen, die forderten, daß sich die Theologie der Philosophie entledigen und sich direkt auf genuin theologische Begriffe stützen sollte. Viele bekannte Theologen wie Karl Barth und andere Anhänger der dialektischen Schule stellten sich auf diesen Standpunkt. 26 Zugleich lief die Theologie jedoch Gefahr, sich aus der wechselseitigen Beziehung und dem Dialog, den sie mit der Philosophie geführt hatte, auszuklinken. Dies zeigte sich auch darin, daß die kulturelle Dimension der Theologie vernachlässigt wurde. Die Theologie drohte sich von den anderen Wissenschaften abzusondern und sich in ein eigenes, geschlossenes System zu begeben. Das gemeinsame Prinzip des Wissens und des Handelns, daß die Theologie mit der übrigen Kultur verbunden hatte, war abhanden gekommen Gleichzeitig 25 26

Die Auffassung kommt deutlich in Schleiermachers „Reden" (1799) zum Ausdruck. Siehe Brunner, E. 1928; Barth 1947.

Die Problematik der Zwei-Sprachen-Strategie in der postmodemen Kultur

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änderte sich der Charakter des theologischen Arbeitens. Es wurde zur positivistischen Forschung und konzentrierte sich vor allem auf historische und existentielle Fragestellungen. Die Theologen waren nicht mehr nennenswert an der Stellung der Religion in der menschlichen Kultur und Gesellschaft interessiert. Nach der transzendentalen Analyse Kants gehören Moral und Religion zum praktischen Wissens- und Erkenntnisbereich, wie die Analyse Herrmanns im einzelnen ergeben hat. Die für die moderne Theologie wichtige Unterscheidung zwischen der Sprache der Naturwissenschaften, die auf Fakten beruht, und der Sprache der Moral und der Religion, der Werturteile zugrunde liegen, wurde mit diesem methodischen Ansatz besiegelt. Die im 19. Jahrhundert begonnene Entwicklung der theologischen Methodologie hat später auch noch zu weiteren charakteristischen theologischen Entscheidungen geführt, deren Verbindung zum sogenannten transzendentalen Denken allerdings nicht mehr leicht zu erkennen ist.

9.8. Die Problematik der Zwei-Sprachen-Strategie in der postmodernen Kultur Der Gedanke einer Eigenwelt und Eigensprachlichkeit der Theologie zeigt sich betont auch in der spätwittgensteinschen kulturlinguistischen Auffassung, der zufolge die religiöse Sprache in einem eigenen Sprachspiel besteht: Dieses braucht außer vielleicht besonders Eingeweihten niemand zu verstehen. Auch der postmodern denkende Theologe verkündet im Chor mit anderen Postmodernisten, daß jeder Bereich der Wirklichkeit, einschließlich der Religion, über einen eigenen Bereich mit eigenem Sprachspiel verfügt. Mit dem Ubertritt in einen anderen Lebensbereich wechselt der Mensch zugleich von einem Sprachspiel zum anderen. Die Beherrschung eines Lebensbereiches garantiert noch keine Verständnisbrücke, die zu einem anderen führt. Der heutige Mensch muß die Spielregeln jedes einzelnen Lebensbereichs studieren und imstande sein, flexibel hin- und herzuwechseln, um sich in einer neuen Welt zurechtzufinden. 27 Die postmoderne Zeit kommt ohne jede Metaphysik aus. Sie kennt keinen verbindenden Faktor, der einen Brückenschlag zwischen den unterschiedlichen Bereichen der Wirklichkeit ermöglichte. Das klassische 27 Siehe Lindbeck 1984, 12-14, der drei Grundmodelle der Theologie vorstellt: 1) die klassische, den kognitiven Aspekt des Glaubens hervorhebende Linie, 2) das erfahrungsorientiert-expressive Modell, für das besonders die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts steht, sowie 3) das sogenannte kulturell-linguistische Modell, das von der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins beeinflußt wurde, und dem Lindbeck selbst zuneigt.

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Exkurs: Metaphysik in der Dogmatik gestern und heute

Denken wurde von der Auffassung zusammengehalten, die Wirklichkeit trage einen objektiven Charakter in sich, den der Intellekt verstehen kann. Das moderne Denken verfolgt dagegen eher die Auffassung, daß die Person über moralische Kraft verfügt, die im Willen liegt. Der postmoderne Mensch findet keinen Anhaltspunkt, der eine geschlossene, einheitliche Betrachtung der Wirklichkeit ermöglicht, und zwar weder im Subjekt noch im Objekt. In der Welt kann die Wirklichkeit weder mit Hilfe des Intellekts noch mit Hilfe des Willens strukturiert werden. Der Mensch ist nicht mehr frei im Wollen und nicht imstande, sein eigenes Leben oder die Wirklichkeit überhaupt zu beherrschen. Vielmehr beherrschen ihn äußere, voneinander isolierte Lebensbereiche mit jeweils eigenen Gesetzmäßigkeiten, die mit Hilfe der Gesetzmäßigkeiten anderer Lebensbereiche nicht mehr verstehbar sind. Doch zeigt sich auch noch ein anderes Bild, nämlich das von der Rückkehr der Metaphysik. 28 Unter der Postmoderne versteht man dann keine auf den Modernismus folgende Zeit, sondern die Rückkehr zu etwas, was man schon von jeher als gut kennt. Die Menschen sehnen sich nach einem ganzheitlicheren, harmonischeren Lebensverständnis. Davon, wie das Verhältnis von Metaphysik und Theologie in der Gegenwart neu gestaltet werden wird, hängt weithin auch der Charakter und die Rolle der Religion im Leben ab. Es geht wesentlich um die Frage, ob ein erkennendes Interesse in die Religion eingegliedert werden kann, oder ob das Gefühl nur ein Gefühl ohne Kenntnis ist. Die Frage nach der Metaphysik ist nicht nur eine Frage von Theologie und Religion, sondern auch eine Frage der gesamten Kultur. Die Postmoderne wird in der allgemeinen Kulturdebatte als eine Zeit charakterisiert, in der metaphysische Fragestellungen fast völlig fehlen. Im philosophischen Denken machte sich daher auch im Fahrwasser des Positivismus, des logischen Empirismus und der spätwittgensteinschen Sprach- und Kulturphilosophie leicht ein nahezu vollständiger Relativismus breit, in dem die Behauptung, es gäbe keine Rationalität mehr, die die Wissenschaften verbindet, und sie sei auch gar nicht mehr erstrebenswert, allzu leichtfertig übernommen wurde. Viele Theologen (Oswald Bayer, Alistair McGrath) und einige Physiker-Theologen (John Polkinghorne) vertreten diesen Standpunkt ebenfalls. Soll die Philosophie doch Sprache und Logik als reine Abstraktionen untersuchen und der Theologe sich auf die Betrachtung der religiösen Sprache und Lebensweise beschränken, meint man. Die religiöse Lebensform verfügt über ihre eigene Tradition, Praxis und Bedeutung, deren Kenntnis ein wichtiger Bestandteil der abendländischen Kulturtradition bildet. Die religiöse

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Siehe z.B. Kurten 1986, 133-148.

Wirklichkeitsverständnis der heutigen Physik und Methodologie der Dogmatik

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Sprache betreibt ihr eigenes Sprachspiel, und ihre Grammatik ist die Lehre. Der postmoderne Philosoph oder Theologe muß jedoch zugleich die Abkopplung der Wissenschaften voneinander und die Zersplitterung der Kultur akzeptieren. Die Schreckensbilder einer Zukunft des Postmodernismus, in der sich gewisse Lebensbereiche verselbständigen und sich ihre eigenen Gesetze aufstellen, stehen bereits vor der Tür. Am schnellsten dürfte sich das Wirtschaftsleben, beflügelt durch die globale Marktwirtschaft, von anderen Bereichen absondern. Auch der Ausschluß der Wissenschaft aus der Kultur und dem kulturellem Diskurs zeigt sich mit erschreckender Deutlichkeit. Der Theologe, der die postmoderne Kultur kritisch analysiert, kann daher nicht einfach jene Entwicklungslinie aufgreifen, die mit der Aufklärung begonnen hatte und die methodologisch durch die neuprotestantische Theologie, vor allem gerade Wilhelm Herrmanns, im 19. Jahrhundert begründet wurde. Die postmoderne Theologie kritisierte mit der Strategie der zwei Sprachen die transzendentale Erkenntnistheorie sowie Immanuel Kants praktisch-ethische Begründung der Religion und den Gebrauch jener Kategorien in der Theologie. Doch verlief der Weg ziemlich einlinig in Richtung dieser Zwei-Sprachen-Strategie, auch wenn diese sich als wenig integrativ erwies.

9.9. Das Wirklichkeitsverständnis der heutigen und die Methodologie der Dogmatik

Physik

In der Theologie des 20. Jahrhunderts, in der jede Art von Kategorisierung auf scharfen Widerstand stieß, konnte eine theologische Methodologie, die den Kontakt auch zu den Naturwissenschaften suchte, im strengen Sinn jegliche Methodologie der Dogmatik in Frage stellen und nach den der Theologie ureigenen traditionell-inhaltliche Ansätzen suchen. Karl Barth verwarf die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts und verkündete die Souveränität Gottes: Gott ist ganz anders als die Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten. Nun hat die Forschung in jüngster Zeit allerdings darauf hingewiesen, daß die Theologie Karl Barths keineswegs völlig unabhängig von der liberalen Theologie ist. Wie der Liberalismus billigt sie die moderne Prämisse eines geschlossenen Charakters der Natur, in der sie eine kausale Kontinuität angelegt sieht, wie die klassische Physik sie beschreibt. Damit hat auch eine Theologie, die sich autonom glaubt, in Wahrheit Stellung zum Wirklichkeitsverständnis der Naturwissenschaften genommen. Während die klassische protestantische Theologie Sprache univoque gebraucht, verwendet sie Barth im besten Fall analog. Da die religiöse Sprache von allem konkreten Inhalt entleert ist, werden ihre Analogien

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Exkurs: Metaphysik in der Dogmatik gestern und heute

äquivoque verwendet. So sieht die Strategie der zwei Sprachen aus: Die Theologie bedient sich der biblischen Sprache, wohingegen die säkulare Sprache entweder historisch oder naturwissenschaftlich das aussagt, was tatsächlich geschieht. Als man sich dieses Problems der beiden Sprachen bewußt wurde, entwickelte man verschiedene neue theologische Theorien. Die Methodologie der Theologie kann sich auch der Frage nach dem Verhältnis zwischen Theologie und Naturwissenschaft nicht entziehen. Sie kann nicht gleichgültig gegenüber der Frage bleiben, wie naturwissenschaftliche Theorien philosophisch und theologisch zu interpretieren sind. Dabei bieten sich prinzipiell folgende Alternativen an: Die erste Interpretation, die im Rahmen der Autonomietheorie der Religion vertreten wird, sucht nicht mehr nach einer gemeinsamen kulturellen Brücke im Bereich der Metaphysik, und zwar weder in der Erkenntnistheorie noch der Ontologie. Sie begnügt sich damit, daß die Sprache der Naturwissenschaft die der Tatsachen und die Sprache der Theologie die biblische Sprache des Evangeliums ist, mit dem Zweck, den Christen zu trösten und zu leiten. Die Naturwissenschaften beschreiben Tatsachen, die Theologie dagegen befaßt sich mit der Person und dem Erleben. Sie beschäftigt sich mit existentiellen und existentialen Fragen, zu denen auch die Frage nach Gott gehört, und nicht mit Fragen nach dem Ursprung und dem Wesen der Wirklichkeit. Die Autonomietheorie der Religion zeigt sich ihrem Charakter nach oft hermeneutisch sowie gesellschaftlich aufgeklärt und greift ein bestimmtes theologisches Thema heraus. Man möchte die traditionelle metaphysische Frage umgehen, aber trotzdem den systematischen Zugriff der Theologie nicht aufgeben. Sie betont einen einzelnen Grundsatz, von dem her ein Problem, das in einer bestimmten Kultur herrscht, gelöst werden soll. So ist etwa in der brasilianischen Theologie die Freiheit zum leitenden Prinzip allen theologischen Arbeitens geworden. Die Theologie der Befreiung zielt auf die Befreiung des Menschen von der Masse zu einer eigenverantwortlichen Person, die danach ihr Leben und die Gesellschaft ändern soll. Ein ähnlicher Ansatz findet sich auch in der feministischen Theologie, die eine theologische Theorie schaffen möchte, um die Deutung des christlichen Glaubens mit feministischen Begriffen und Werten zu ermöglichen. Die Hervorhebung feministischer Werte wird in Theologie und Gesellschaft als kreativ und das menschliche Leben harmonisierend empfunden. Die Liste ließe sich weiter führen. So stehen Bezeichnungen wie politische Theologie, Theologie der Revolution, ökologische Theologie und viele andere im Vordergrund. All diesen theologischen Entwürfen, die vor allem einen grundsätzlichen Aspekt hervorheben, ist gesellschaftliche Aufgeklärtheit und die Hervorhebung eines aktuellen Problems als Ausgangspunkt eines bestimmten Verständnisses von Theologie gemeinsam. Die vorgestellten

Wirklichkeitsverständnis der heutigen Physik und Methodologie der Dogmatik

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Modelle einer hermeneutischen Theologie erweisen sich von Natur aus als problematisch; ein einzelnes, an sich wichtiges Element, wird zum theologischen Prinzip erhoben, mit dessen Hilfe der christliche Glaube neu interpretiert wird. Diese Modelle nehmen klassische Texte des Christentums wie die Bibel ernst, indem sie sie vom Grundsatz ihres jeweiligen Ansatzes her interpretieren, aber sie nehmen nicht unbedingt Stellung zur Frage der philosophischen Erkenntnistheorie, auch wenn ihre Voraussetzung gewöhnlich in der Kritik der klassischen Erkenntnis liegt. In der zweiten Autonomietheorie wird die inhaltliche Kontinuität der Theologie sowie ihr eigenständiger Platz an der Seite anderer Wissenschaftsbereiche hervorgehoben. Die Prinzipien der Theologie liegen in ihr selbst und brauchen nicht von den Prinzipien eines anderen Wissenschaftsbereichs her begründet zu werden. Auch theologische Begriffe bedürfen nicht der Begriffe anderer Disziplinen, sondern weisen ihre eigene, selbständige Bedeutung auf. Zu dieser genuinen Bedeutung theologischer Begriffe gehört auch, daß sie einen theologischen Beitrag zur Kultur leisten. Deshalb ist die Treue der Theologie zu ihren eigenen Grundsätzen durchaus von Belang, wenn ihre Position innerhalb einer wertepluralistischen Kultur zur Debatte steht. Die Darstellung ihres spezifischen Inhalts ist die eigentliche Aufgabe der systematischen Theologie. Diese Denkweise bietet zugleich einen neuen Zugang zur Theologiegeschichte, indem sie keinerlei hermeneutisches Prinzip zum Ausgangspunkt der Interpretation ihrer Geschichte erhebt. Sie ist vielmehr bestrebt, aufzuzeigen, daß auch die klassische Theologie auf eigenen Prinzipien beruht. Das Prinzip des Seins läßt sich als solches nicht direkt auf die Prinzipienlehre der Theologie übertragen. Die Rede über Gott hat ihre selbständige Bedeutung, in deren Darlegung ihre eigentliche Aufgabe besteht. Der Beitrag der Theologie zur Kultur oder zum Dialog mit den Naturwissenschaften liegt höchstens in der ethischen Relevanz ihrer Aussagen. Deshalb hat beispielsweise die skandinavische Theologie betont, daß die Theologie ihre klassischen Sätze, wie beispielsweise Aussagen über die Schöpfung, beibehalten solle, da sie in ethische Sätze übersetzt werden können. Der Satz „Gott erschuf die Erde" kann weder als naturwissenschaftliche Behauptung verstanden werden noch läßt er sich in die Sprache der Naturwissenschaft übersetzen. Doch enthält er implizit eine ethische Bedeutung: Der Mensch hat die Welt nicht erschaffen und ist daher auch nicht verantwortlich für ihre Struktur. Der Mensch, der die Welt nicht geschaffen hat, hat auch kein Recht, etwas an ihrer Struktur zu ändern. Der Unterschied zwischen naturwissenschaftlicher und theologischer Sprache ist zu akzeptieren, und gerade darin liegt der Sinn beider und die gegenseitige Hilfe, die sie sich geben können. Im zweiten Modell, das sich bemüht, den Herausforderungen zu begegnen, die die heutigen Naturwissenschaften an die Theologie stellen,

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wird nicht von vornherein zurückgewiesen, daß der Philosophie eine Bedeutung für die Theologie zukommen kann. Nach diesem Modell ist die Zusammenarbeit von Theologie und Philosophie dann aussichtsreich, wenn die kulturelle Relevanz der Theologie im Leben des heutigen Menschen sichtbar werden soll. Die Frage nach den Voraussetzungen des Wissens über die Realität und die Bedeutung des Wissens in der menschlichen Kultur ist allen Wissenschaftsbereichen gemeinsam. In jeder wissenschaftlichen Forschung steckt auch Kreativität, die im Kern immer gleich ist. Das schöpferische Element läßt sich auch im allgemeinen Wissenschaftsbetrieb letztlich nicht als Gegenstand rationaler Analyse und reinen Nutzdenkens beliebig einfach einsetzen. In der nachkritischen Phase erfährt die traditionelle philosophische Theologie einen deutlichen Aufwind. Als ein Beispiel dafür kann Richard Swinburne gelten, der auf eine neue Art die Gottesbeweise ins Spiel gebracht hat. Im deutschen Sprachraum hat Wolfhart Pannenberg programmatisch die Auffassung vertreten, daß die Gottesfrage kein vom Interesse des Wissens unterschiedenes theologisches Problem ist. 29 Dieses sogenannte hypothetische Modell Pannenbergs erfreut sich auch in der amerikanischen Theologie einer gewissen Beliebtheit. Außerdem ist zu beachten, daß in der römisch-katholischen Welt noch immer eine sich auf Thomas von Aquin berufene neothomistische philosophische Theologie lebendig ist, die die Metaphysikkritik Kants und ihre Folgen nicht in gleicher Weise wie das protestantische Europa übernommen hat. 30 Eine konstruktive, d. h. systematisch strukturierte Theologie liegt somit stark im Trend und kann sich der Frage der Metaphysik nicht verweigern. Das Gespräch über die Metaphysik sollte daher fortgesetzt werden. Es sind noch viele Fragen 29

Pannenberg 1998. Bis zum Jahr 1274 hat die katholische Kirche an der Auffassung festgehalten, daß die Schöpfung nur am Anfang stattfand, und alle anderen Auffassung als ketzerisch verurteilt. Thomas von Aquin spricht daher auch entsprechend dem klassischen Schöpfungsverständnis von einer Entwicklung durch Veränderung. Die in der Welt feststellbare Entwicklung besteht in einer Veränderung, die allerdings schon mit der Schöpfung begonnen hat, weil Gott als unbewegter Beweger die Veränderung jeder Gattung von der Potentialität hin zur Aktualität, d. h. zu einer vollendeteren und höheren Seinsebene bewirkt. Gott selbst steht für die höchste Seinsebene und bildet somit das endgültige, ewige Ziel aller Wesen im theologischen Sinn. D o c h handelt es sich bei der Veränderung nicht um ein sich ständig vollziehendes neues Schaffen, sondern die Gattungen entwickeln sich entsprechend der für sie jeweils spezifischen Eigenarten zu einer immer vollständigeren Erfüllung ihrer eigenen Natur. N a c h Thomas besteht das höchste Bestreben des Menschen in der Erreichung einer möglichst vollständigen intellektualen Ebene; dies wird endgültig erst im seligen Schauen Gottes verwirklicht {visto beatifica Dei). Die traditionelle thomasische Distinktion zwischen der ersten und der zweiten Kausalität, die sowohl für den Katholizismus als auch für die protestantische Orthodoxie charakteristisch war, wird im Neuthomismus von Kant her modifiziert. Zu erwähnen wären an dieser Stelle Namen wie Bernhard Lonergan, Joseph Maeschal, Jacques Maritain, und Karl Rahner sowie Austin Farrel und Eric Mascall. 30

Wirklichkeitsverständnis der heutigen Physik und Methodologie der Dogmatik

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offen schon allein deswegen, weil keine einheitliche Theorie der Physik und kein einheitliches wissenschaftliches Weltbild vorliegen, mit denen die Theologie in einen Dialog treten könnte. [Die erste Alternative kann als sogenannte exegetische Interpretation verstanden werden, die die mathematische Struktur der Physik in Alltagssprache übersetzt und sich in völliger Ubereinstimmung mit dieser Theorie befindet. Die Problematik dieser Alternative liegt darin, daß physikalische Theorien nichts über religiöse Fragen aussagen. Die zweite methodische Alternative kann als konsistente Interpretation bezeichnet werden. Sie ist neutral und respektiert die mathematische Struktur physikalischer Theorien. Die Physik vermag, so meint diese Theorie, der Theologie entweder durch Erkenntnis und Metaphorik dienen oder den brauchbaren Kontext für eine Neuformulierung der Theologie bieten. Die Theologie sollte in einer Wechselbeziehung zum gesamten wissenschaftlichen Weltbild und nicht nur zu einer seiner Teiltheorien stehen. Die Vereinheitlichungsbestrebungen der heutigen Physik dauern noch an. Zwei Theorien treten dabei in Konkurrenz: die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik. Die neuesten Bemühungen der Physik um eine kosmologische Theorie konzentrieren sich auf eine Verknüpfung dieser beiden Theorien. Keine kosmologische Theorie kann jedoch auf die philosophische oder theologische Frage „warum gibt es überhaupt irgendetwas?" antworten. Einerseits berufen sich die Physiker auf die sogenannte Standard-Kosmologie (die „Big-Bang-Theorie"), die auf der allgemeinen und besonderen Relativitätstheorie beruht. Eine wichtige Rolle spielt hier vor allem der Gedanke der Singularität, (t = 0), einer Grenze des Universums, an der die Gesetze der Physik ihre Gültigkeit verlieren. Der Gedanke der Singularität bietet der theologischen Methodologie die klassische Möglichkeit, nach einer Konsonanz in der Frage nach dem Anfang der Zeit zu suchen. In der Theologie wird die Standard-Kosmologie auch mit Hilfe des Modells der hypothetischen Konsonanz oder des hypothetischen Realismus angewandt. Sie erinnert am stärksten an die klassische Theologie und wird vor allem von Anhängern der neuen Trinitätstheologie übernommen, die den Gedanken einer gemeinsamen Realität noch nicht aufgegeben haben. Zugrunde liegt dabei eine kosmologische Denkweise, die Anknüpfungspunkte zwischen Theologie und Physik am Anfang aller Dinge zu sehen meint. Diese Theorie versucht die Probleme einer Autonomietheorie der Religion und die Dissonanz, die sie enthält, zu überwinden. Andererseits wird im Bereich der Teilchenphysik schon seit etwa 30 Jahren an einer sogenannten Partikelkosmologie gearbeitet, die auf der Quantengravitationstheorie aufbaut. Hier stellt sich die Frage ob in t = 0

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Exkurs: Metaphysik in der Dogmatik gestern und heute

jenes veränderliche Element der Standard-Kosmologie liegt, das verschwand, als die Quantengravitationstheorie aufgestellt wurde. Die Quantentheorien sind gegenwärtig unvollständig und sehr spekulativ. Falls die quantenkosmologischen Hypothesenbildungen, die auch als Theorie für alles [Theory of Everything] bezeichnet werden, so weit fortzuschreiten in der Lage wären, daß auch die allgemeine Relativitätstheorie und die schwache und starke Wechselwirkung miteinander verknüpft werden könnten, dann läge eine Theorie vor, die möglicherweise den für naturwissenschaftliche Erklärungsversuche wichtigen Begriff der Kausalität entscheidend verändern könnte. Auf allerletzter Ebene gäbe es dann vielleicht weder Zeit noch eine Ordnung der Zeit, und auch keine Kausalität, so wie sie gewöhnlich definiert werden. Jene quantenkosmologischen Theorien, die das All und die Zeit mit Hilfe der allgemeinen Relativitätstheorie und der Quantenphysik beschreiben, verstehen die Zeit als interne Eigenschaft des Universums und nicht als vorgegebene ewige Realität. Die interne Zeit erweist sich daher auch als Schlüsselbegriff der Quantengravitationstheorie. Problematisch an diesen Theorien ist der probalistische und instrumentalistische Charakter der Quantenphysik, der zu begrifflichen Problemen führen kann. Es gibt verschiedene Ansätze, weil allgemeine Relativitätstheorie und Quantenphysik in die Quantengravitation einbezogen werden. In jedem Fall bringt die Quantenkosmologie begriffliche Probleme mit sich, die als philosophische und theologische Interpretationen gelöst werden müssten. Gerade hier bieten sich für eine Methodologie der Theologie neue Möglichkeiten.] Wie aus dem oben Gesagten deutlich wurde, ist eine apologetische Theologie, so wie sie Wilhelm Herrmann im 19. Jahrhundert kannte und propagierte, in der heutigen Dogmatik nicht mehr möglich. Das Wirklichkeitsverständnis Kants und die Auffassung, die Physik sei kausal, werden in der heutigen Physik in Frage gestellt. Auch der barthianischen Theologie, die die liberale Theologie kritisierte, wird nachgesagt, eben jenes Wirklichkeitsverständnis zur Grundlage zu nehmen. Eine auf der Theorie der zwei Sprachen basierende Dogmatik, in der der Theologie die biblische Sprache und den Naturwissenschaften die Sprache der Tatsachen zugewiesen wird, führt die Dogmatik unweigerlich in eine Sackgasse. Es muß daher ein neues Gespräch über die Methodologie aufgenommen werden, in dem die heutigen Herausforderungen der Naturwissenschaften ernst genommen werden und in dem der spezifische Inhalt der Theologie auf sie hin expliziert und nicht auf einen veralteten Wirklichkeitsbegriff begrenzt wird. Dies könnte in gleicher Weise sowohl die Theologie als auch die gesamte Kultur befruchten, in der den Naturwissenschaften ein zu wenig hinterfragter, souveräner Platz zukommt. Die Theologie hat in ihrer Geschichte immer auch einen Beitrag zum

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umfassenderen Gespräch über die Kultur zu leisten vermocht. Ein wenngleich heute auch veraltetes Beispiel dafür liegt in der liberalen Theologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit Wilhelm Herrmann als ihrem bedeutendsten Systematiker, die von einer transzendental bestimmten Kulturdefinition ausging.

Abkürzungen Abkürzungen C E gC GA G Κ M O R RuS S V W Wa

Herrmanns)

Christlich-protestantische Dogmatik (1906). Ethik (1901). Der geschichtliche Christus der Grund unseres Glaubens (1892). Gesammelte Aufsätze. Hrsg. von F.W. Schmidt. Tübingen 1923. Der Glaube an Gott und die Wissenschaft unserer Zeit (1905). Kants Bedeutung für das Christentum (1884). Die Metaphysik in der Theologie (1876). Der Begriff der Offenbarung (1887). Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit. Eine Grundlegung der systematischen Theologie (1878). Religion und Sittlichkeit (1905). Die Sittlichen Weisungen Jesu (1904). Der Verkehr des Christen mit Gott. Im Anschluss an Luther dargestellt (1896). Warum bedarf unser Glaube geschichdicher Tatsachen? (1884). Die Wahrheit des Glaubens (1888).

Abkürzungen ICD

zu den Quellen (Schriften Wilhelm

zur

Literatur

Infinity, Causality, and Determinism. Cosmological Enterprise and Their Preconditions. Ed. Eeva Martikainen. (Contributions to Philosophical Theology 3). Frankfurt am Main 2002. KrV Kant, Immanuel (1791), Kritik der reinen Vernunft 1. - Werkausgabe 3. Werke in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt 1968. LA Luther-Agricola-Gesellschaft. Helsinki. Met Metaphysica - Aristotle. Selected works. - Translated by Hippocrates G. Apostle and Loyd Gerson. Iowa 1983. [Auf Finnisch: Metafysiikka. Suomentaneet Tuija Jatakari, Kati Näätsalo ja Petri Pohjanlehto. Selitykset laatinut Simo Knuuttila. Helsinki 1990.] Sth S. Thomas Aquinatis. Doctoris Angeli. Summa Theologiae. Cura et studio Sac. Petri Caramello cum Textu ex recensione Leonina. Mariette 1962. SthL Studia Theologica Luendensia STKS Suomalainen Teologinen Kirjallisuusseura [Die Finnische Theologische Literaturgesellschaft]. Helsinki. ThBl Theologische Blätter ThR Theologische Realenzyklopädie WA 40 In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius ex praelectione D. Martini I—II Lutheri collectus. (1531). 1535. VIEG Veröffentlichungen des Institutes für Europäische Geschichte

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92 Eberhard Hahn

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Geheimnis und Sakrament

Studien zur Wahrnehmung der Vollmacht der Sündenvergebung durch die Kirche Jesu Christi 1999. 259 Seiten, kart. ISBN 3-525-56299-3

Die Theologie des göttlichen Namens bei Kant, Cohen und Rosenzweig 2001. XVII, 412 Seiten, kart. ISBN 3-525-56211-X

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Grundfragen ökumenischerTheologie Gesammelte Aufsätze, Band 1 1999. 326 Seiten, kart. ISBN 3-525-56298-5

Realistische Philosophie

Geschichte und Theologie eines ökumenischen Problems 2001. 628 Seiten, geb. ISBN 3-525-56207-1

Der philosophische Entwurf Adolf Schlatters 1999. 338 Seiten, kart. ISBN 3-525-56297-7

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Wilhelm Vischer als Ausleger der Heiligen Schrift

Allein aus Glauben Zur Entwicklung der Rechtfertigungslehre in der konkordistischen und frühen nachkonkordistischen Theologie 2000.366 Seiten, kart. ISBN 3-525-56206-3 94 Reiner Anselm

Ekklesiologie als kontextuelle Dogmatik Das lutherische Kirchenverständnis im Zeitalter des Konfessionalismus und seine Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert 2000. 269 Seiten, kart. ISBN 3-525-56203-9 93 Christoph Klein

Wenn Rache der Vergebung weicht Theologische Grundlagen einer Kultur der Versöhnung 1999. 288 Seiten, kart. ISBN 3-525-56300-0

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Eine Untersuchung zum Christuszeugnis des Alten Testaments 1999. 414 Seiten mit 3 Abb., geb. ISBN 3-525-56296-9 88 Martin Diederich

Schleiermachers Geistverständnis Eine systematisch-theologische Untersuchung seiner philosophischen und theologischen Rede vom Geist 1999. 375 Seiten, kart. ISBN 3-525-56295-0

V&R

Vandenhoeck SL Ruprecht