229 78 13MB
German Pages 479 [480] Year 1994
Michael Meyer-Blanck Leben, Leib und Liturgie
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Arbeiten zur Praktischen Theologie Herausgegeben von Karl-Heinrich Bieritz und Christian Grethlein
Band 6
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994
Michael Meyer-Blanck
Leben, Leib und Liturgie Die Praktische Theologie Wilhelm Stählins
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994
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Die Deutsche Bibliothek —
CIP-Einbeitsaufnahme
Meyer-Blanck, Michael: Leben, Leib und Liturgie : die praktische Theologie Wilhelm Stählins / Michael Meyer-Blanck.— Berlin ; New York : de Gruyter, 1994 (Arbeiten zur praktischen Theologie ; Bd. 6) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Habil.-Schr., 1994 ISBN 3-11-014364-X NE: G T
© Copyright 1994 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Dr. Kirsten Blanck, Loccum Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz und Bauer, Berlin
Den Kolleginnen und Kollegen im Religionspädagogischen Institut
Vorwort Auf den ersten Blick mag es unzeitgemäß erscheinen, sich im Hinblick auf die gegenwärtige Praktische Theologie mit einem Mann wie Wilhelm Stählin zu befassen. Weder gehörte er zu den Gelehrten, die die Theologiegeschichte dieses Jahrhunderts prägten noch zu denen, die die Aufgabe des Faches Praktische Theologie neu formulierten. Die Bekanntschaft mit Person und Werk Stählins ist nach seinem Tode (1975) immer geringer geworden, und die Zahl der Pfarrer(innen) geht zurück, welche sein am meisten verbreitetes Werk, die "Predigthilfen", noch stehen haben und benutzen. Auf den zweiten Blick wird die Gestalt Stählins aus dem gebührenden Abstand heraus immer interessanter und aktueller. An ihm werden Recht wie Grenze des dialektisch-theologischen Einflusses auf die Disziplin Praktische Theologie exemplarisch transparent. Stählins Konstruktion der Praktischen Theologie im Kontext von Jugendbewegung und liturgischen Aufbrüchen verdient mehr als nur historisches Interesse. In erstaunlicher Parallele zur Gegenwart ging es auch in der Zeit der Weimarer Republik um die theologische Auseinandersetzung mit Institutionenkritik, Individualisierungsprozessen und dem allgemeinen Bedürfnis nach Ritualisierungen als Gegenbewegung. Das Werk Stählins fordert dazu heraus, Akzente in die Grundlagendiskussion der Praktischen Theologie der Gegenwart einzubringen. So ist es mir eine Freude, Herrn Prof. Dr. Friedemann Merkel und Herrn Prof. Dr. Heinz Schmidt dafür zu danken, mich auf dieses hochinteressante Stück praktisch-theologischer Geschichte aufmerksam gemacht zu haben. Die Arbeit stellt die leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift dar, die im Wintersemester 1993/94 von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster angenommen wurde. Unter den vielen, die mir bei der Abfassung der Arbeit freundlich entgegenkamen, möchte ich an dieser Stelle namentlich Frau Regine Szabo von der Klosterbibliothek Loccum erwähnen, die mir bei der Beschaffung entlegener Literatur freundlich und zuvorkommend geholfen hat. Daß die Arbeit wieder in den "Arbeiten zu Praktischen Theologie" erscheinen kann, danke ich Herrn Prof. Dr. Karl-Heinrich Bieritz und Herrn Prof. Dr. Christian Grethlein. Gewidmet sei das Buch denen, die mich in den letzten Jahren in besonderer Weise zum praktisch-theologischen Nachdenken und Argumentieren herausgefordert haben: den Kolleginnen und Kollegen im Religionspädagogischen Institut Loccum. Loccum, im Februar 1994
Michael Meyer-B lanck
Inhalt
1.
Methodisches und Quellenlage
1
2.
Biographischer Abriß im Hinblick auf Stählins Praktische Theologie Ausbildung und Anfänge im kirchlichen Dienst Der erste Weltkrieg Pfarrer in Nürnberg 1917-1926 Professor in Münster 1926-1943 Ökumene Berneuchen
4 5 10 12 19 22 25
3. 3.1. 3.2. 3 .3.
Die bisherige Forschung Biographisch orientierte Beiträge Zur Stellung Stählins in der Jugendbewegung Zur Beurteilung Stählins innerhalb von Berneuchener Bewegung, Liturgik und Praktischer Theologie Das theologische Denken Wilhelm Stählins nach Hans Eduard Kellner (1991) Exkurs: Wilhelm Stählin und Max Scheler 19141923
27 27 30
4.
Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
64
4.1. 4.1.1. 4.1.2.
Leben Lebendige Religion gegen verfestigte Lehre Lebendiges Leben gegen die existierende Kirche und Gesellschaft Lebendiges Gespräch gegen den theologischen Streit um die Wahrheit Durch Christus gewandeltes Leben gegen den optimistischen LebensbegrifF Zwischenschritt: "Leben" und Lebensphilosophie
66 68
91 96
Kontexte zur Schlüsselkategorie "Leben": Das Völkische und das Symbol Das Leben und das Völkische Das Leben als Gleichnis und Symbol Weiterfuhrung von Stählins Begrifflichkeit
110 110 121 145
3.4.
4.1.3. 4.1.4. 4.1.5. 4.2. 4.2.1. 4.2.2.
37 52 53
72 87
X
4.3. 4.3.1. 4.3.2.
4.3.3. 4.4. 4.4.1. 4.4.2. 4.5. 4.5.1. 4.5.2.
Inhalt
Leib Form Relationen des Leibes - Übung des Leibes Der Leib und die Relation des Menschen zu sich selbst Der Leib und die Relation des Menschen zur Natur Der Leib und die Relation des Menschen zu anderen Der Leib und die Relation des Menschen zu Gott Übung des Leibes Mysterium und Bruderschaft: Der Leib Christi Kontexte zur Schlüsselkategorie "Leib": Meditation und Freizeiten Meditation Freizeiten ("Geistliche Wochen")
149 150 155 157 166 167 173 179 183
207 207 215
Liturgie Die Entwicklung von Stählins Liturgik bis 1930 Stählins Liturgik in ihrer ausgeformten Gestalt (ab 1936/37) Leben und Opfer Leib und Leib Christi Mysterium Aspekte von Stählins spezieller Liturgik Kirchenmusik Kirchenbau Kirchenjahr Kasualgottesdienste
241 242 258 267 278 279 282 285 288
5.
Stählins eigene Praxis als Lehrer der Kirche
302
5.1.
Praktisch-theologische Lehrveranstaltungen an der Universität Homiletik Katechetik Pastoraltheologie, Kirchentheorie, Praktische Theologie als ganze
4.5.3.
5.1.1. 5.1.2. 5.1.3.
5.2. 5.2.1. 5.2.2. 5.2.3.
Religionsunterricht für Erwachsene Methodisches Der thematisch-didaktische Ansatz des Unterrichts Stählins theologische Entwicklung im Spiegel des Religionsunterrichts für Erwachsene
219 222
302 306 326 342 355 357 364 371
Inhalt
6. 6.1. 6.2. 6.3. 6.3.1. 6.3.2. 6.4.
Leben, Leib und Liturgie als Konstitutionsbegriffe auf dem Weg zur Einheit der Praktischen Theologie "Leben, Leib und Liturgie" - der implizite Ansatz von Stählins Praktischer Theologie Die gegenwärtige Frage nach der Einheit der Praktischen Theologie Leben, Leib und Liturgie als Kategorien für eine Hermeneutik christlicher Praxis Die drei Schlüsselkategorien und die gegenwärtige Praktisch-theologische Aufgabe Einige Fragestellungen für die Teildisziplinen und ihren Zusammenhang Beitrag zu einer offenen Frage: Das Verhältnis von Praktischer Theologie und Religionspädagogik
XI
377 378 383 394 395 402 407
Anhang 1: Übersicht zu Wilhelm Stählins "Religionsunterricht für Erwachsene" nach den Unterlagen im Archiv des Praktisch-theologischen Seminars der Universität Münster
411
Anhang 2: Übersicht zu Wilhelm Stählins Lehrveranstaltungen an der ev.-theol. Fakultät Münster 1926-1943
415
Anhang 3: Übersicht zu Stählins homiletisch-liturgischen Hauptseminaren Sommersemester 1932 bis Wintersemester 1934/35
419
Quellen und Literatur
420
Namensregister
460
Hinweise zu Abkürzungen, Anmerkungen und Zitierweise AELKZ ARPs BSLK CuG CuW ChW DtPfBl DV EKG EKL EvJ JGNKG JK KatBl KuKi LM MGKK MuK NJWJ PB1 PTh RGG ThBl ThLZ ThPr TRE UB WPKG ZEvKM ZfPäd ZThK ZW RdA SS WS [...]
[ ] [?]
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Abkürzungen, Anmerkungen und Zitierweise
XIII
In Manuskripten Stählins häufig erscheinendes ae, oe, ue ist durchweg als ä, ö, ü wiedergegeben, ss durch ß. In den Fußnoten werden jeweils genannt Verfasser/in, Titel bzw. Kurztitel und Jahr der Abfassung; bei Aufsätzen, die in einer der oben unter den Sigla aufgeführten Zeitschriften erschienen sind, wird zum Zwecke der schnelleren Orientierung auch das entsprechende Siglum angegeben. Bei Titeln ohne Verfassername handelt es sich immer um Schriften/Manuskripte Stählins. Die vollständigen Angaben sind im Quellen- und Literaturverzeichnis zu finden.
1.
Methodisches und Quellenlage
Die Methodik der Untersuchung ergibt sich aus dem Wirken Stählins, aus den vorhandenen Quellen und Veröffentlichungen. Obwohl Stählin fast zwei Jahrzehnte (1926-1945) einen Lehrstuhl für Praktische Theologie in Münster innehatte, legte er kein Praktisch-theologisches Werk im engeren Sinne vor (Lehrbuch einer Einzeldisziplin oder Grundriß der Praktischen Theologie, die geplante Liturgik kam über 25 Seiten nicht hinaus 1 ). Als Praktischer Theologe wirkte Stählin neben der direkten akademischen Tätigkeit vor allem durch Vorträge, durch kleinere Veröffentlichungen und durch die Herausgabe von Periodika ("Das Gottesjahr" 1921-1938; "Evangelische Jahresbriefe" 1931-1942. 1947-1952). Die Hauptschriften während der Lehrtätigkeit 1926-1943 2 haben die Gestalt von Glauben und Kirche als Ganzes im Blick und überschreiten den Rahmen der universitären Praktischen Theologie ("Vom Sinn des Leibes 1930, 2 1934; "Vom göttlichen Geheimnis" 1936; "Bruderschaft" 1940). Bezugspunkt seiner Arbeit und Veröffentlichungen ist nicht so sehr die Universitätstheologie; vielmehr stehen die zu Ende gehende Jugendbewegung einerseits und die entstehende Berneuchener Bewegung und Michaelsbruderschaft andererseits deutlich erkennbar im Hintergrund.
Praktische Theologie ist für Stählin wesentlich Lehre von der Kirche um der Reform der Kirche willen. Jede Vorlesung von Stählin über "Praktische Theologie I" beginnt mit der Lehre von der Kirche. Praktische Theologie ist demzufolge "Nicht Lehre vom Handeln der Kirche, sondern vom Zeugnis der Kirche und ihrer Gestaltung in der Welt." 3 Impulse aus Stählins Werk für die Beschreibung der Aufgabe gegenwärtiger Praktischer Theologie lassen sich darum nicht einfach durch die Auswertung von Vorlesungen/Seminaren und durch die Interpretation von Texten zur Praktischen Theologie gewinnen. Dies wäre wenig ergiebig und würde den spezifischen Beitrag des Stählinschen Lebenswerkes für die Reflexion kirchlicher Praxis verfehlen. Vielmehr steht über dieser Untersuchung die leitende Hypothese, daß Stählins Bezüge zur Jugendbewegung in den zwanziger Jahren und zur liturgischen Bewegung in den dreißiger Jahren Modelle sein können für die Praktisch-theologische Interpretation gesellschaftlicher, individueller und kirchlicher Realität angesichts von Modernisierungsprozessen, die hier vorläufig mit den Stichworten Individualisierung und Plausibilitätsschwund von Tradition und Institution gekennzeichnet seien. Stäh-
1 Manuskript Liturgik, 1944, vgl. dazu Via Vitae, 1968, S. 394 f. 2 Stählin war zwar offiziell bis zum Wintersemester 1944/45 Ordinarius in Münster und zeigte bis dahin noch Lehrveranstaltungen in den Vorlesungsverzeichnissen an, praktisch endete seine Tätigkeit aber im Sommer 1943; vgl. Via Vitae, 1968, S. 381. 3 Praktische Theologie I WS 1933/34, Exzerpt von Heinz H E N C H E , Münster, S. 1.
2
1. Methodisches und Quellenlage
lins Theologie formiert sich in der Münsterschen Zeit als Lehre von der Gestaltwerdung von Kirche in der Welt 4 und damit in ihrer Tiefenstruktur als Praktische Theologie. Das für Stählin Eigentümliche kann mit den Kategorien "Leben", "Leib" und "Liturgie" aufgeschlossen werden. Diese Kategorien eignen sich darüber hinaus zur Beschreibung gegenwärtiger gesellschaftlicher, individueller und kirchlicher Formen der Gestalt christlichen Glaubens, was in Abschnitt 6 dieser Arbeit ausgeführt werden soll. Damit ergeben sich folgende Prinzipien für die Darstellung: - Heranzuziehen ist Stählins gesamtes Werk, nicht nur die Praktische Theologie im engeren Sinne; - Dabei liegt der Schwerpunkt auf den Jahren 1926 bis 1945, wobei die Voraussetzungen in der Jugendbewegung besonders wichtig sind; - "Leben", "Leib" und "Liturgie" dienen als Schlüsselkategorien, was unten (s. Abschnitt 4) näher zu erläutern ist. Hinzu kommt eine weitere Grundentscheidung, welche mit der Art und dem Umfang des Schrifttums und Nachlasses zusammenhängt. Allein die Gesamtbibliographie Stählins umfaßt 37 eng bedruckte Seiten. 5 Daneben steht der umfangreiche Nachlaß, den Stählin selbst geordnet und auf verschiedene Archive verteilt hat. Um diese Menge von Material nicht in aller Breite und mit vielen Doppelungen zur Darstellung zu bringen, sollen die Schlüsselkategorien "Leben, Leib und Liturgie" und Stählins Lehrtätigkeit nacheinander entfaltet werden. Zugleich werden damit Stählins akademisches Lehramt und sein - einzigartiger - "Religionsunterricht für Erwachsene" zum Prüfstein für die mit Hilfe der Schlüsselkategorien erhobenen Strukturen seiner Theologie kirchlicher Gestaltwerdung. Dieses Vorgehen entspricht auch dem eigenen Verständnis Stählins, der die Praktische Theologie einmal als "Mittelstelle zwischen der theologischen Arbeit und der kirchlichen Praxis" 6 bezeichnet hat. So ist zu bedenken, inwiefern "Leben, Leib und Liturgie" als Praktisch-theologische Vermittlungskategorien tauglich sind und - zunächst - wie sie sich in Stählins eigener Lehrtätigkeit auswirken bzw. bewähren. Von Beginn der Darstellung an soll in begrenztem Umfang das Gespräch mit den Fragestellungen gegenwärtiger Praktischer Theologie geführt werden. Bei diesen Hinweisen - hauptsächlich in den Fußnoten - wird sich die Aktualität so mancher Stählinscher Überlegung zeigen. Die Auswahl und Berücksichtigung der Quellen richtet sich nach den beschriebenen sachlichen Entscheidungen. Der eigentliche theologische und speziell Praktisch-theologische Nachlaß befindet sich Stählins Verfügung 7 entsprechend im Seminar für Praktische Theologie in der Ev.-theol. Fakultät 4 5 6 7
S. das Zitat zur letzten Fußnote. In: Wissen und Weisheit. Symbolon Folge III, 1973, S. 275-312. Praktische Theologie als Mittelstelle, 1935, S. 193. Abschrift der letztwilligen Verfügung Stählins vom 16. 1. 1965 in der Personalakte Ev.- theol. Fak. Best.-Nr. 58 II, Universitätsarchiv Münster.
1. Methodisches und Quellenlage
3
der Universität Münster. Die Auswertung dieses Nachlasses war der Wunsch Stählins in seinen letzten Lebensjahren und der Grund fur die Übergabe an die Fakultät; neben dem sachlichen Interesse mag dieser Wunsch ein Nebenmotiv für die hauptsächliche Berücksichtigung dieses Nachlasses darstellen. Weitere Nachlaßteile gingen an das Archiv der Michaelsbruderschaft im Berneuchener Haus im Kloster Kirchberg in Sulz/Neckar sowie an das Landeskirchliche Archiv in Nürnberg. Das Kirchberger Archiv umfaßt nur die Vorgeschichte und Entwicklung des Berneuchener Dienstes und der Michaelsbruderschaft 8 und konnte aufgrund der umfangreichen Berneuchener Veröffentlichungen unberücksichtigt bleiben. Das Nürnberger Archiv enthält persönliche Unterlagen Stählins sowie einiges aus der Zeit des Nürnberger Pfarramtes 1917-1926 und ist für den Zweck dieser Untersuchung wenig ergiebig. Auch die Benutzung des Nachlasses in der Fakultät Münster stand nicht unter dem Anspruch der Vollständigkeit, sondern richtete sich nach dem Interesse an Stählins Theologie als Gesprächspartner für heutige Praktische Theologie. Da der Nachlaß den ganzen Lebenszeitraum umfaßt, ist mit dem zeitlichen Schwerpunkt 1926-1945 eine erste Auswahl gegeben. Dabei erwies sich aber eine intensivere Berücksichtigung des Verhältnisses zur Jugendbewegung als sinnvoll, da Stählin wesentliche Impulse der Jugendbewegung für die Kirche fruchtbar gemacht hat. 9 Darüber hinaus wurde die Frühzeit Stählins bis 1926 als Zeit der Entstehung seiner Theologie wesentlich stärker berücksichtigt als die Zeit im Bischofsamt 1945-1952 und die Altersjahre bis 1975. Da Stählin nach 1945 den Großteil seiner Gedanken veröffentlicht hat, wurde hier auf die Einzelauswertung des Archivs verzichtet und hauptsächlich das von Stählin zur Publikation in den drei Aufsatzbänden "Symbolon" (1958/1963/1973) Gewählte herangezogen 10 , um die Linien der Lehrtätigkeit in Münster durch die spätere Entwicklung noch deutlicher herausstellen zu können. Einen Schwerpunkt der berücksichtigten unveröffentlichten Manuskripte im Archiv Münster bilden die Lehrveranstaltungen sowie z.T. sehr ausführliche Nachschriften des "Religionsunterrichts für Erwachsene". Vorträge und Predigten sowie die ebenfalls hinterlassenen Vorarbeiten zu Veröffentlichungen in umfangreichen Zettelkästen blieben großenteils unberücksichtigt. Dieses Material ist wenig ergiebig, da es meistens bereits zu Publikationen verarbeitet wurde und zudem z.T. schwer entzifferbar ist. 11 Eine weitere,
Brief des Archivleiters Pfarrer i.R. Hans NICKLES an den Verfasser vom 4 . 2 . 1 9 9 2 . 9 So richtig Hans U R N E R , Art. "Stählin, Wilhelm", 3RGG Bd. 6, 1962, Sp. 324. 10 Der vierte Band wurde nach Stählins Tod von seinem Schwiegersohn Reinhard M U M M und seiner Tochter konzipiert und 1980 herausgegeben. 11 Stählin verwendete seit seiner Beschäftigung mit der Religionspsychologie (ab 1909) die "Gabelsberger Stenographie", die er z.T. mit persönlichen Kürzeln ergänzte. Er selbst konnte seine Aufzeichnungen nach über 60 Jahren "noch mühelos lesen" 8
4
2. Biographischer Abriß
teilweise aufschlußreiche Quelle im Nachlaß bei der Fakultät ist der Briefwechsel. Eine große Erleichterung für die Arbeit war es, daß Stählin seine Veröffentlichungen in Zeitschriften und Sammelwerken sowie in Zeitungen nahezu vollständig aufbewahrt und - nach Jahren geordnet - der Fakultät Münster hinterlassen hat. Diese Sammlung stellt einen Hauptteil des Nachlasses dar. Die Veröffentlichungen erscheinen im Verzeichnis der Quellen und Literatur jedoch nicht unter den Archivbeständen, da sie - je nach Erscheinungsort unterschiedlich gut - in Bibliotheken zu finden sind. Beim Aufsuchen eines Titels muß darum bei den Quellen und Veröffentlichungen nachgesehen werden, die jeweils chronologisch geordnet sind.
2.
Biographischer Abriß im Hinblick auf Stählins Praktische Theologie
Wilhelm Stählins Leben umfaßt eine kaum vorstellbare Zeitspanne: Vor dem Beginn des 1. Weltkriegs 1914 war er schon fast ein Jahrzehnt im kirchlichen Dienst gewesen (Vikariat in Feucht bei Nürnberg 1905), und noch nach 1970 veröffentlichte er Predigten und Aufsätze. 12 Mit seiner fast 750 Seiten umfassenden Autobiographie "Via Vitae" aus dem Jahr 1968 hat Stählin nicht nur einen Schlüssel zum Verständnis des eigenen Weges vorgelegt, sondern auch eine Geschichtsquelle ersten Ranges. 13 Wie bei jeder Autobiographie ist ein subjektives Moment bei der Auswertung historischer Angaben und Zusammenhänge in Rechnung zu stellen und im Einzelfall kritisch zu bedenken. So werden sich im Vergleich mit anderen Quellen auch hier unterschiedliche Sichtweisen zeigen - etwa beim Rückblick auf das Vordringen des Nationalsozialismus aus der Sicht von 1968 und bei Einschätzungen um 1933. Andererseits wird beim Quellenstudium deutlich, daß Stählin die Ab-
(Brief vom 16. 2. 1975 an den Dekan der Ev.-theol. Fakultät Münster, Personalakte der Fakultät, Best. Nr. 58 II, Universitätsarchiv Münster). 12 Noch 1973 erschienen: Die Urordnung des Lebens. Ein Versuch, die Zehn Gebote zu verstehen, Stuttgart 1973 sowie mehrere kleine Aufsätze und Predigten, u.a.: Der Altar im gottesdienstlichen Handeln, in: Gottesdienst und Kirchenmusik, München 1973, S. 46-48. Die ersten Aufsätze waren 1906/1907 im Nürnberger Missions- bzw. Gemeindeblatt erschienen (s. Verzeichnis der Quellen und Literatur). 13 In der Kirchenkampfgeschichtsschreibung wird das Buch herangezogen, so z.B. von Kurt M E I E R , Barmen und die Universitätstheologie, 1987 [1984], S. 100. 108. 110, daneben spielt es eine wichtige Rolle für die Geschichte der Evangelisch-theologischen Fakultät Münster; s. den Beitrag von Wilhelm H. N E U S E R , Die evangelischtheologische Fakultät Münster im Dritten Reich, 1991. Von Bedeutung ist die Autobiographie in besonderer Weise für die Geschichte der Michaelsbruderschaft, vgl. die zahlreichen Verweise bei Hans Carl von H A E B L E R , Geschichte der evangelischen Michaelsbruderschaft, 1975.
Ausbildung und Anfänge im kirchlichen Dienst
5
fassung von "Via Vitae" unter Zuhilfenahme von älteren Unterlagen, Aufzeichnungen und Briefen vorgenommen hat, - hatte er doch Unmengen an Schriftstücken aufbewahrt und diese erst nach seinem Tod auf die Archive verteilen lassen. Zudem ist der subjektive Standpunkt Stählins selbstverständlich ein wichtiger Faktor bei der Rekonstruktion seiner Praktischen Theologie. Gerade für Stählin gilt, daß Theologie und Biographie sehr eng zusammenhängen. 14 Der folgende kurze biographische Abriß stellt darum einige für die Zielrichtung dieser Untersuchung wichtige Erinnerungen aus "Via Vitae" zusammen und ergänzt diese durch andere Quellen. Ausbildung und Anfänge im kirchlichen
Dienst
Geboren wurde Wilhelm Stählin am 24. September 1883 als elftes Kind des Pfarrers und ehemaligen Indien-Missionars Wilhelm Stählin und seiner Frau Sophie, geb. Hauser im bayrischen Günzenhausen. Nach dem Tod des Vaters verlebt er seine Jugendzeit 1886-1901 in Augsburg und studiert von 19011905 Theologie in Erlangen, unterbrochen durch drei Semester in Rostock (Sommersemester 1903) und Berlin (Wintersemester 1903/1904 und Sommersemester 1904). Sein Rückblick auf das Theologiestudium fällt äußerst kritisch aus. Die Erinnerungen beschränken sich auf wenige theologische Details, die Freizeitunternehmungen nehmen einen wesentlich breiteren Raum ein. Starken Eindruck hinterlassen bei Stählin nur die beiden Semester in Berlin, wo insbesondere das wissenschaftliche Ethos und die Menschlichkeit Adolf von Harnacks hervortreten. 15 Die Erlanger Vorlesungen hingegen charakterisiert Stählin mit beißendem Spott - sie hätten "noch nicht die Konsequenzen aus der Erfindung der Buchdruckerkunst gezogen" (S. 48). Ein religiöses Interesse kann Stählin für die Studienjahre nicht erinnern - er ist froh, der Augsburger Pflicht zum Kirchgang entronnen zu sein (S. 49). Die Paulusbriefe finden allenfalls sein philologisches Interesse (S. 48), das später so geschätzte Johannesevangelium überhaupt keines (S. 58), ihm wird Nietzsche vorgezogen (S. 57); durch einen Zufall bedingt, liest Stählin daneben Kierkegaard (S. 58) 16 und studiert u.a. auch Kunstgeschichte und Zoologie (S. 48). 14 So auch Hans-Martin BARTH in seinem Vorwort zu H.E. Kellner, Das theologische Denken Wilhelm Stählins, 1991, S. V. 15 Via Vitae, 1968, S. 51 f.: Harnack hatte sich einmal von einem Studenten belehren lassen und Stählin am Weihnachtsabend eingeladen, weil dieser nicht nach Hause fahren konnte. - Seitenzahlen im Text beziehen sich im folgenden auf Via Vitae. 16 Unerwähnt bleibt in "Via Vitae" die Philosophie Taines, die nach einem Brief vom 28. 2. 1907 an die Fakultät in Erlangen (betr. einer neutestamentlichen Dozentur) besonders wichtig war: "[...] so möchte ich nicht verschweigen, daß ich zumal nach meiner Universitätszeit von freier gerichteten Theologen stark beeinflußt wurde und zumal Philosophen wie Taine sehr viel verdanke." Am Rand hat Stählin diesen Satz
6
2. Biographischer Abriß
Der äußerst kritische Rückblick auf das eigene Studium "ohne innere Erkenntnis, ohne geistliches Leben, ohne wirkliche Bildung" (S. 55) und das glänzend bestandene 1. Examen 17 erläutern in anschaulicher Weise Stählins jahrzehntelange Überlegungen zur Reform des Theologiestudiums. Bei der späteren Gründung der "Jungbruderschaft" (neben der Michaelsbruderschaft 1932) spielt in Stählins Erinnerung gerade eine ähnliche Äußerung eines seiner Studenten eine wichtige Rolle: Dieser hatte erzählt, unter den Studenten gebe es keinerlei geistliches Leben (S. 324). Beeindruckt zeigt sich Stählin dagegen von der Institution persönlicher Tutoren (jüngere Pfarrer) an den Colleges während seiner England-Reise 1908 (S. 102). So bildete sich in mehreren Etappen Stählins Vorschlag heraus, den Zugang zum kirchlichen Amt in sieben Stufen zu gliedern in Analogie zu den sieben ordines der katholischen Weihen. 18 In der Retrospektive sieht Stählin in den Erfahrungen mit seinem eigenen 1. Examen auch schon den Konflikt mit der Bekennenden Kirche um die Bildung der Prüfungsabteilungen 19 präfiguriert: Man dürfe die erste theologische Prüfung nicht überbewerten, da sie "nur formale geistige Fähigkeiten und theologische Kenntnisse feststellen", aber nichts über die geistliche und menschliche Befähigung zum Pfarramt aussagen könne (S. 64). Am Ende der Lehrtätigkeit in Münster sollte dann das resignierte Fazit gezogen werden, "daß die übliche Ausbildung der zukünftigen Pfarrer fragwürdig, gefährlich und verkehrt ist." (S. 372) Bedeutsamer als die akademischen Lehrveranstaltungen schätzt Stählin seine Begegnung mit den berühmten Nürnberger Predigern Christian Geyer (1862-1929) und Friedrich Rittelmeyer (1872-1938) ein: Bei ihnen war von der Wirklichkeit des Menschen die Rede, die Welt gewann eine hintergründige Bedeutung, "und alles war von einer tiefen Lebendigkeit durchflutet" (S. 59). Erst hier findet der junge Examenskandidat einen Zugang zum Gottesdienst:
dann korrigiert und den Hinweis auf Taine gestrichen; offensichtlich handelt es sich um den Entwurf eines Briefes. Hippolyte Taine (1828-1893), aus der positivistischen Schule Comtes, wird von Stählin später nie wieder erwähnt. 17 "Ich hatte mir auf ein Täfelchen geschrieben: 'Schicke Deinen Geist schlafen' und fing an, unter diesem Motto stumpfsinnig Namen, Daten, Zahlen und Formeln auswendig zu lernen, und muß leider sagen, daß sich diese Methode im Examen sehr bewährt hat." (S. 60) 18 Die Endform dieses Ansatzes liegt vor in: Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 110 ff. Dazu s. schon den Vortrag Priester und Pfarrer, 1926 und: Zur Erneuerung des Pfarrerstandes in der deutschen evangelischen Kirche, 1933 sowie schließlich die Schrift Bruderschaft, 1940. Im Abschnitt 4.3.3. wird genauer hierauf einzugehen sein. Vgl. ferner Via Vitae, S. 564.652. 19 Dazu s. Via Vitae, 1968, S. 302-308.
Ausbildung und Anfänge im kirchlichen Dienst
7
"[...] bei Rittelmeyer erfuhren wir zum ersten Male und mit höchster Überraschung, daß Langeweile nicht zu den notwendigen Merkmalen einer Predigt gehört." (S. 59) Stählin wird 1906 zum persönlichen "Schüler" Rittelmeyers, der ihn auf gemeinsamen Spaziergängen in ganz neuer Weise "praktische" Theologie lehrt. 20 Die lebendige Predigt ist vorerst der einzige Punkt, an dem Stählin kirchliche Praxis einleuchtet. Aufgrund seines glänzenden 1. Examens erhält Stählin 1908 ein Reisestipendium, das er für eine Englandreise verwendet (S. 92). Diese Reise beschreibt Stählin ausführlich - auf fast ebenso vielen Seiten wie das Studium (S. 92-105). Die anglikanische Kirche erschließt Stählin zwei ganz neue theologische Dimensionen, die für sein künftiges Leben entscheidend werden: die Kirche und ihre Liturgie. Nachhaltigen Eindruck hinterläßt bei Stählin das Gebet eines jungen Priesters in einem Londoner Slumviertel in Westminster, das diesem den Zugang auch zu schwierigsten bzw. ihm äußerst fremden Gemeindegliedern eröffnet (S. 97). Auf diese Frage, ob die anglikanische Kirche evangelisch oder katholisch sei, bekommt Stählin die Antwort, die für seine Auffassung von der Konfession bestimmend werden sollte: "/ hate the word protestant; I belief in the one Holy Evangelical Catholic Church. " (S. 96, dort kursiv.) Neben diesen beiden Hauptthemen haben zwei weitere wichtige Aspekte in Stählins Leben und Denken ihre Wurzeln in der Englandreise. Zum einen ist die für Theologen der damaligen Generation ungewöhnliche Kenntnis der englischen Sprache hervorzuheben, die Stählin zur dauerhaften Teilnahme am ökumenischen Gespräch und zu ökumenischen Kontakten befähigt. 21 Zum anderen nimmt Stählin in England einen wichtigen Impuls zur geistlichen Naturbetrachtung auf mit dem Buch von Henry Drummond. Das Naturgesetz in der Geisteswelt. Hier empfängt Stählin "die ersten entscheidenden Anstöße für die spätere Beschäftigung mit dem biblischen Gleichnisdenken."22 20 Manuskript Friedrich Rittelmeyer, 1938, S. 3. Das Anstößige für Rittelmeyers Gemeinde bestand u.a. darin, daß dieser Tennis spielte (ebd.). Stählin schrieb hingegen 1938 noch emphatischer als 1968: "Wir meinten zum erstenmal zu erfahren, was christliche Predigt ist" (ebd.). Durch Rittelmeyer kam Stählin auch zur Beschäftigung mit der Bildersprache im Neuen Testament (ebd., S. 4) und zur Religionspsychologie. 21 Vgl. dazu die Bemerkung von Edwin ROBERTSON, George Bell - Gerechtigkeit als Grundlage der Versöhnung, 1991, S. 3: "Wie bereits erwähnt, wurde Bell in seinem theologischen Denken sehr stark von Wilhelm Stählin beeinflußt." 22 Über die Natur, 1973 [1958/59], S. 124. In Via Vitae wird das Buch von Drummond nicht zitiert. Es erschien 1883, wurde in den darauffolgenden Jahren immer wieder aufgelegt und 1886 nach der 17. (!) Auflage ins Deutsche übersetzt. Im Kapitel über das ewige Leben (Henry DRUMMOND, Das Naturgesetz in der Geisteswelt, 1886, S. 169-207) versuchte Drummond mit der evolutionistischen Philosophie Herbert Spencers (1820-1903) eine Synthese von Evangelium und Naturwissenschaft: "die Stim-
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2. Biographischer Abriß
Nach dem Vikariat in Feucht, Nürnberg-Steinbühl und Schwabach 2 3 legt Stählin 1910 sein 2. theologisches Examen ab und wird nach der Heirat mit Emmy Thäter in demselben Jahr Pfarrer in EglofFstein im Fränkischen Jura. 24 Sein dortiges Arbeitskonzept richtet sich in der Hauptsache darauf, die überkommene Kirchlichkeit zu erhalten und nicht darauf, einen kleinen Kreis von bewußten Christen zu sammeln (S. 119). In Nürnberg hingegen war ihm die volkskirchliche Sitte schon früh fraglich geworden: Trotz der persönlichen Freude am Unterrichten der Konfirmanden zweifelte er an dem Sinn "dieses ganzen mühsamen Unternehmens" (S. 73). Das Thema Konfirmandenunterricht und Konfirmation mit allen daran transparent werdenden volkskirchlichen Widersprüchen ist künftig Gegenstand besonderen Praktisch-theologischen Interesses. Unverbunden steht nach Stählins eigener Einschätzung (S. 123) sein Psychologiestudium in Würzburg bei Oswald Külpe neben dem Pfarramt. Zusammen mit Rittelmeyer und Geyer hatte Stählin ab 1907 eine eigene Methode religionspsychologischer Experimente entwickelt, bei welcher Versuchspersonen nach ihren Einfällen zu religiösen Sätzen befragt wurden 25 (S. 105). Rittelmeyer vermittelt Stählin dann 1909 das Psychologiestudium bei Oswald Külpe 26 , weil Stählin mit dem methodischen Repertoire an die Grenzen gekommen ist. Der Ansatz von Stählins Forschungen, in denen er das positivistische Religionsverständnis der amerikanischen damaligen Religionspsychologie mit der Würzburger Denkpsychologie Külpes kombiniert,
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me Gottes und die der Natur" stimmten durchaus überein: das ewige Leben ist "ein Problem f ü r die Biologie. Die Seele ist ein lebendiger Organismus, und bei jeder Frage betreffs des Lebens der Seele müssen wir uns an die Lebenswissenschaft wenden. Und was lehrt diese? Daß wenn ich das ewige Leben erben soll, ich eine Beziehung zum Ewigen pflegen müsse. Dies ist ein einfacher Lehrsatz, denn die Natur ist stets einfach." (H. DRUMMOND, a.a.O., S. 198 f.) Dieses zeigt, daß eine monokausale Ableitung des Stählinschen Denkens aus Max Schelers Phänomenologie verfehlt ist (s.u. den Exkurs zu Stählin und Scheler). Der prägendste - negative - Eindruck der Schwabacher Zeit waren f ü r Stählin die dort bestehenden acht unterschiedlichen Beerdigungsklassen mit sorgfältigen liturgischen Unterschieden, je nach der sozialen Stellung des Toten. Stählin erwähnt dies später immer wieder als Beispiel verfehlter Anpassung des Christentums an weltliche Gepflogenheiten. Wegen einer Erklärung über Schwierigkeiten mit dem Apostolikum gegenüber dem Konsistorium war Stählins Ordination 1906 (üblicherweise kurz nach dem 1. Examen) fraglich gewesen (S. 69-72). Veröffentlicht als: Experimentelle Untersuchungen über Sprachpsychologie und Religionspsychologie, ARPs 1914, S. 117-194. Rittelmeyer hatte bei Külpe, der auch Philosophie lehrte, über Nietzsches Erkenntnistheorie promoviert, nachdem er "jede Zeile, die Nietzsche geschrieben hatte", gelesen hatte: Friedrich RITTELMEYER, Aus meinem Leben, 1937, S. 169. Rittelmeyer erwähnt Stählin übrigens an keiner Stelle seiner Autobiographie, dafür aber den Besuch eines Vortrages von Max Scheler in Berlin (a.a.O., S. 365).
Ausbildung und Anfänge im kirchlichen Dienst
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beschränkt sich ganz auf die empirischen Aspekte von Religion (im Gegensatz etwa zum psychologisch-theologischen Zirkel von Georg Wobbermin). 27 Nach heutigem Stand wird man Stählins Experimente nicht mehr als empirische Forschungen akzeptieren können. 28 Obwohl Stählin die Religionspsychologie 1968 als eine "'Jugendliebe', die man nicht geheiratet hat", bezeichnet (S. 127), entspricht sein Interesse daran seinem gesamten Denken: Es geht ihm darum, "das wirklich gelebte Leben des Glaubens besser und genauer kennen zu lernen." (S. 125). Er schließt sein Psychologiestudium 1913 mit einer Dissertation "Zur Psychologie und Statistik der Metaphern" ab.29 Es handelt sich um eine allgemeine sprachliche Untersuchung, welche als Vorarbeit zu einem Buch über die "Bildersprache des Neuen Testaments" dienen soll: Metapher, Metonymie, Vergleichung, Gleichnis, Allegorie werden definiert und als Rückprüfung an religiösen Texten von Löhe und Schleiermacher untersucht. 30 Damit hat Stählin zugleich sein theologisches Lebensthema gefunden: die Ineins-Setzung der Wirklichkeit Gottes und der Welt in ihren verschiedenen Ausprägungen. 31 Von hier setzen sich die Linien fort bis in die spätere Rede von Symbol und Gleichnis, in die Theologie der Natur und des Gottesdienstes (vgl. dazu S. 41 ff. die von K.F. Müller vorgenommene Gegenüberstellung mit Karl Barths Gottesdienstlehre). Als Stählin jedoch 1914 die "Gesellschaft für Religionspsychologie" und das "Archiv für Religionspsychologie" 32 gründet, steht die Verschiebung seiner Interessen unmittelbar 27 Vgl. Stählins kritische Rezension zu G. Wobbermin, Systematische Theologie nach religionspsychologischer Methode, ARPs 1914, S. 279-298: bei Wobbermin liege eine "durchgängige Vermengung" von Psychologie und Erkenntnistheorie vor (S. 293) und die Religionspsychologie werde bei Wobbermin durch die Dogmatik "in ihrem innersten Wesen vergewaltigt" (S. 296). 28 Hierzu insgesamt vgl. Hans-Jürgen FRAAS, Die Religiosität des Menschen, 1990, S. 16-19: Er stellt als Haupteinwand heraus, daß die angewandte Reizwort-Methode kein echtes religiöses Erlebnis hervorruft, zudem suggestiv und an bestimmte Versuchspersonen gebunden ist (S. 19). 29 Das Doktordiplom mit "summa cum laude" datiert vom 14. Oktober 1913, Inhalte der mündlichen Prüfung (21. 7. 1913) waren Orientalische Philologie, Pädagogik und Philosophie (Original im Archiv des Prakt.-theol. Seminars Münster). 30 Zur Psychologie und Statistik der Metaphern, 1913, S. 101-129. 31 Noch mit fast 92 Jahren, also wenige Monate vor seinem Tod, bat Stählin die Fakultät um Rückgabe seiner bereits überlassenen Zettelkartei zu dem Buch "Bildersprache im Neuen Testament": er wollte jetzt noch einmal mit der Arbeit daran beginnen (Brief vom 29. 7. 1975 an den Dekan in der Personalakte der Fakultät, Best.Nr. Ev. theol. Fak. Nr. 58 II, Universitätsarchiv Münster). Vgl. dazu auch Via Vitae, 1968, S. 125. 32 Stählin hat das Archiv bis Band II/III, 1921 herausgegeben. Vor allem für den ersten Band (1914) hat er mit großem Fleiß gearbeitet: Neben der erwähnten Untersuchung über die Wirkung religiöser Sätze und die umfangreiche Auseinandersetzung mit Wobbermin hat er die Einführung sowie drei weitere Buchreferate, u.a. über ein Lehrbuch der Psychologie von H. Ebbinghaus von über 800 Seiten (ARPs 1/1914, S.
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2. Biographischer Abriß
b e v o r . D i e A r b e i t als F e l d g e i s t l i c h e r i n s b e s o n d e r e in M i t a u ( " K u r l a n d " ) b r i n g t ihn in K o n t a k t mit der J u g e n d b e w e g u n g ( " F e l d - W a n d e r v ö g e l i m Osten"). Der
erste
Weltkrieg
Ü b e r s e i n e K r i e g s p r e d i g t e n urteilt Stählin im R ü c k b l i c k 1 9 6 8 , d a ß er s i c h d e s d a m a l s G e s a g t e n nicht z u s c h ä m e n brauche; er h a b e k e i n e s w e g s nur P a t r i o t i s m u s g e p r e d i g t ( S . 1 3 8 . 1 4 4 ). A u f Stählin als P r e d i g e r u n d H o m i l e t i k e r w i r d im A b s c h n i t t 5 . 1 . e i n z u g e h e n sein. H i e r sei nur v o r a u s g e s c h i c k t , d a ß m a n n a c h der L e k t ü r e v o n Stählins g e d r u c k t e n K r i e g s p r e d i g t e n d i e s e m U r t e i l z u m i n d e s t nicht v ö l l i g w i d e r s p r e c h e n kann. N e b e n v i e l e m für d i e P r e d i g t der Jahre 1 9 1 4 - 1 9 1 8 T y p i s c h e m ( L o b d e s " H e l d e n s i n n s " o p f e r b e r e i ter F r a u e n 3 3 , Ü b e r t r a g u n g biblischer S a c h v e r h a l t e a u f m i l i t ä r i s c h e A k t i o n e n 3 4 und Verherrlichung des Deutschtums35) findet sich auch m a n c h e s der K r i e g s b e g e i s t e r u n g kritisch E n t g e g e n s t e h e n d e : E s w i r d nicht b e h a u p t e t , d a ß
316-318) geschrieben. - Ferner kritisierte Stählin damals eine Umfrage methodologisch, welche aus religionskritischen Äußerungen von Konfirmanden weitreichende Schlüsse zog: Die Tatsache, daß 370 von 410 befragten Konfirmanden die Existenz Gottes verneinten, führte Stählin auf Suggestivfragen zurück (Zu Feldens Umfrage, CW 1919, Sp. 685-689): "Wenn die Religionspsychologie jedes dreiste Geschwätz interessant macht, dann lieber keine Religionspsychologie!" (Sp. 688). Stählin sprach sich stattdessen f ü r die religionspsychologische Biographieforschung wie bei Richard Kabisch aus (Sp. 687). Ähnlich hatte er schon 1912 den Ansatz bei religiösen Autobiographien gefordert (Der Almanach des Coenobium, 1912, S. 150). Der dort verteilte Fragebogen sei suggestiv (S. 146) und unklar (S. 170), die behauptete Allgemeingültigkeit bei der Beschränkung auf französische und italienische Katholiken "lächerlich" (S. 151). In Stählins Unterlagen in Münster befindet sich noch dieser Fragebogen von 1911, Frage 5 lautet z.B.: "Quel rapport y a-t-il, selon vous, entre le dogme et la religion? L'un est-il la condition de l'autre? D'ailleurs, qu'entendez-vous par dogme?" 33 Wer sein Leben verliert, 1914 [30.8.1914], S. 9: "[...] von manchen Frauen aus unserem Dorf habe [ich] sagen hören: Das Vaterland braucht seine Männer; sie können nicht alle lebendig wieder heimkommen, [...] Was ist das für ein wunderbarer Heldensinn!" 34 In der "Feldpredigt vor Mannschaften eines Armierungsbataillons und einer Eisenbahnkompagnie", 1915, S. 400 wird der militärische Strecken- und Wegebau mit der Wegbereitung f ü r den Herrn parallelisiert (Text: Matth 3,1-3). 35 Die Predigt "Deutsche Art" zum Hohenzollernjubiläum am 17. 10. 1915 in Mitau endet: "Und es muß am deutschen Wesen/Einmal noch die Welt genesen. Amen." (Um die Heimat, 1915, S. 19). Der Vers spielt im 1. Weltkrieg eine große Rolle: Er stammt von Emanuel Geibel (1815-1884) aus dem Gedicht "Deutschlands B e r u f ' (1861). Ebenso trugen die Aufsätze des von Stählin in Mitau studierten H.St. Chamberlain (1855-1927) (Via Vitae, 1968, S. 142) später den Titel "Deutsches Wesen": Deutschland habe das moralische Recht und die Pflicht, "erste Macht der Welt zu werden." (H.St. CHAMBERLAIN, Deutsches Wesen, 1942, S. 29.)
Der erste Weltkrieg
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Gott mit der Sache Deutschlands sei, auch nicht, daß der Krieg Gottes Wille sei; vielmehr äußert Stählin in seiner Abschiedspredigt vor dem Kriegseinsatz, im Krieg drängten sich Leid und Sünde zusammen 36 : "Unser Gott ist ein verborgener Gott; wir leben in einem Dunkel, das unser Verstand nicht durchdringt." 37 In seinem Artikel "Liebet Eure Feinde!" kritisiert Stählin im Herbst 1914 die Tendenz, den Feinden alles Böse zu unterstellen38, und fahrt fort: "Daß viele Feinde fallen, [...] natürlich freuen wir uns darüber [...]. Daß wir uns über so etwas freuen müssen, offenbart uns die ganze Entsetzlichkeit des Krieges. Wer kann sich denn darüber wirklich freuen?" 39 Auch einem Artikel über die englische Frömmigkeit im Herbst 1914 fehlen nicht die selbstkritischen Töne: Das antienglische Ressentiment dieser Monate wird bei Stählin offensichtlich durch seine positiven Erfahrungen in England verunsichert. 40 Insgesamt ergibt sich auch bei Stählins Predigten und Artikeln während des 1. Weltkriegs der zwiespältige Eindruck, der seinen politischen Äußerungen in der Vorphase und während des "Dritten Reiches" anhaftet. Die bürgerlich-nationalkonservative Grundeinstellung wird aber häufig durch eigene Erfahrungen und durch solide theologische Arbeit korrigiert oder durchbrochen, was auch die weiteren Darlegungen noch belegen werden. Die Kriegszeit im Baltikum vermittelt Stählin eine Fülle positiver Erfahrungen. So erteilt er aufgrund des Wunsches einer Familie zwei Brüdern einen sehr eigenartigen, im Grunde idealen Konfirmandenunterricht am Strand mit Gespräch über die Hauptstücke des Glaubens: "Dazwischen Schwimmen, Tauchen, Purzelbäume in jugendhafter Ausgelassenheit, und das tut der ernsten Besinnung keinen Abbruch." (S. 153). Stählin merkt an, daß er hier Wesentliches für die Gestaltung seines Nürnberger Unterrichts gelernt habe 36 37 38 39
Der Krieg - Gottes Wille?, 1914, S. 4. A.a.O., S. 5. Liebet Eure Feinde!, 1914, S. 153, 1. Sp. A.a.O., S. 153, 2. Sp., Hervorhebung im Original. Insofern trifft die Bemerkung von Gottfried K R E T Z S C H M A R (Die Kriegspredigt 1914-1918, DtPfBl 1964, S. 683, 1. Sp.), das Wort Matth 5,44 scheine in der Kriegspredigt außer Kraft gesetzt, auf Stählin so nicht zu. Die von Kretzschmar (a.a.O., S. 682, 2. Sp.) beschriebene Häufigkeit des "Opfer"-Motivs widerspricht im übrigen auch der von H.E. KELLNER, Das theologische Denken Wilhelm Stählins, 1991, S. 206-215 konstatierten Ableitung des Opfermotivs bei Stählin von Max Scheler: Stählin wie Scheler haben hier Anteil an damals allgemein verbreitetem Gedankengut. 40 "Aber wenn wir [...] vergessen wollten, was in der englischen Frömmigkeit gut und nachahmenswert ist, so würden wir in den gleichen Fehler nationaler Engherzigkeit verfallen, der uns an unseren Feinden so sehr mißfällt." ("Kann die englische Frömmigkeit echt sein, wenn sie sich nicht gegen diesen Krieg wendet?", CuG 1914, S. 176.)
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2. Biographischer Abriß
(ebd.). Vor allem aber kommt Stählin - durch den Lutherforscher Otto Clemen - in Kontakt mit der Mitauer Wandervogelgruppe (S. 142), nachdem es schon 1914 einen flüchtigen Kontakt zum Erlanger Wandervogel gegeben hatte (S. 120). Pfarrer in Nürnberg
1917-1926
Nachdem Stählin zum 1. 4. 1916 zum 2. Pfarrer der Nürnberger Lorenzkirche ernannt worden ist, wird er zum 1. 10. 1917 vom Konsistorium aus dem Kriegseinsatz nach Hause und damit in die neue Pfarrstelle versetzt (S. 156). Wie schon vor 1914, rechnet sich Stählin zu dem Kreis der "freier gerichteten" Theologen, der durch die Kritik an Biblizismus, Neupietismus/Orthodoxie und Landeskirchentum geprägt ist. 1919/20 kommt es zu einer bemerkenswerten Kontroverse mit Hans Lauerer, die versöhnlich in einem "Religionsgespräch" endet (S. 159 f.). Lauerer hatte am 16. 10. 1919 einen vielbeachteten Vortrag über den "Lebenswert des alten Evangeliums" gehalten. Darauf reagiert Stählin mit einem offenen Brief: Lauerers Vorwurf, die liberalen Theologen lehrten nicht das alte Evangelium vom Weg Gottes zu den Menschen, sondern ein neues Evangelium vom Weg des Menschen zu Gott, sei "so grundfalsch", daß er nicht unwidersprochen bleiben dürfe. 41 Der Grundfehler lutherischer Theologie sei es, daß sie sich gebärde, "als wäre sie in Gottes Ratsstube gesessen" 42 , das Geheimnis des Kreuzes werde so "zu einer rationalen Theorie vermenschlicht"43, die Methode Lauerers sei "intellektualistisch". 44 Der Hauptvorwurf Stählins an Lauerer aber lautet, dieser betreibe die Trennung von den freier gerichteten Theologen und somit eine Spaltung der Landeskirche. 45 Höchst bemerkenswert an Stählins Angriff ist, daß er nicht die "evangelische Freiheit" des "individuellen Gewissens" (als klassische Argumente des theologischen Liberalismus) ins Spiel bringt, sondern die Einheit der Landeskirche! Hier zeichnet sich bereits Stählins Primat der Ekklesiologie ab. Wie wenig harmlos der Angriff Lauerers war, zeigt der Fall des amtsenthobenen Pfarrers Knote (S. 191). Auf Wunsch von Stählin findet dann am 13. Februar 1920 eine (schließlich acht Stunden dauernde) Aussprache statt, zu der Stählin wie auch Lauerer jeweils sechs Kollegen mitbringen.46 Lauerer fragt Stählin ganz 41 V o m "alten" und "neuen Evangelium". Ein offener Brief an Herrn Rektor Lie. Lauerer, 1919, S. 5. - Hans (Johannes) Lauerer ( 1 8 8 4 - 1 9 5 3 ) wurde 1918 Rektor in Neuendettelsau und 1936 Kirchenrat. 42 A.a.O., S. 11. 43 Ebd. 44 A.a.O., S. 14. 45 A.a.O., S. 15. 46 D a s gedruckt erschienene Protokoll (H. LAUERER/W. STÄHLIN, "Altes" und "neues" Evangelium?, 1920) umfaßt 56 Seiten und wurde von Lauerer und Stählin für den Druck abgestimmt (Via Vitae, 1968, S. 159). Stählin hatte als Begleiter u.a. die drei
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konkret nach seiner Einstellung zu sechs dogmatischen Topoi: Auferstehung Jesu, Präexistenz, Gebet zu Jesus, Jungfrauengeburt, Wiederkunft Jesu, Versöhnung durch Christi Tod. 47 Die ganze Aussprache kreist nun um das Verständnis dieser sechs Lehrpunkte. Christian Geyer fordert die Übersetzung 48 , Stählin fordert, daß "das alte Evangelium religiös und nicht theologisch gefaßt wird". 49 Allein schon aufgrund der Ausführlichkeit, mit der über alle sechs Punkte diskutiert wird, bahnt sich ein versöhnlicher Abschluß des Gesprächs an. Lauerer erklärt, er habe mit seinem Vortrag nicht speziell den Nürnberger Liberalismus angreifen wollen, zudem habe er einen neuen Eindruck gewonnen von der Einstellung der Nürnberger freier gerichteten Theologen. 50 Neben diese fortbestehende Einbindung in die "freier gerichtete" Theologenschaft tritt nun aber mehr und mehr die Jugendbewegung. Bei der Heimberufung 1917 schickt die Wandervogelgruppe in Mitau ein Empfehlungsschreiben über Stählin an den Nürnberger Wandervogel (S. 176). In der Folgezeit übernimmt Stählin bald wichtige Ämter im Wandervogel, vor allem aber wachsen er und seine Frau persönlich in die bayerische Landsgemeinde hinein, einen bewußt völkischen, "antispartakistischen" Kreis aus den alten Wandervögeln. Hier lernt Stählin - inzwischen in der Mitte des vierten Lebensjahrzehnts - das kennen, wonach er als junger Mensch unbewußt gesucht hatte (S. 176 f.). Hier kann Stählin seinen Gedanken freien Lauf lassen, ohne taktische Rücksichten auf landeskirchliches Luthertum und das Bild der "freier Gerichteten" in der kirchlichen Öffentlichkeit. Ein handgeschriebener Rundbrief der bayrischen Landsgemeinde von 1919 zeigt den
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Nürnberger Pfarrer Brendel, Geyer und Ortloph gewählt ("Altes" und "neues" Evangelium?, 1920, S. 3). "Altes" und "neues" Evangelium?, 1920, S. 7. A.a.O., S. 15: In früherer Zeit hätte er einfach alle sechs Punkte bejaht. Es bestehe ein Dissens in der Methode, nicht in der "sachlichen Auffassung vom Christentum" (a.a.O., S. 16). Die geistige Lebendigkeit Geyers erhellt aus der Tatsache, daß er damals 58 Jahre alt - Albert Schweitzers "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" zitiert (a.a.O., S. 55) sowie die erst 1919 erschienene 1. Auflage von Barths "Römerbrief' erwähnt: "Ich habe mich entwickelt und weiß noch nicht, ob ich mich zu Ende entwickelt habe. Ich stehe eben unter dem Eindruck von Barths Kommentar zum Römerbrief, das braust in mir, [...]." (a.a.O., S. 42) A.a.O., S. 26. Angemerkt sei, daß die philosophische Einordnung Stählins durch H.E. KELLNER an dem Protokoll einigen Anhalt findet: Explizit betont Geyer, er und Stählin dächten "durchaus antikantianisch" und rechneten "mit einer Metaphysik" (a.a.O., S. 26); a.a.O., S. 37 wendet sich Stählin gegen Kants "scharfen Unterschied zwischen Bewußtsein und Welt": "Wir Phänomenologen sehen einen Wesenszusammenhang zwischen unserem Bewußtsein und der Welt [...]." Schon hier erwähnt sei der kritische Hinweis, daß Scheler sich wohl in der Ethik, nicht aber in der Erkenntnistheorie von Kant distanzierte (s.u. den Exkurs zu Stählin und Max Scheler). A.a.O., S. 47.
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2. Biographischer Abriß
Stählin, von dem sich künftig viele Jugendliche angesprochen fühlen: Die wiedergegebene "Haßpredigt" stellt eine Symbiose von Radikalität und Empfindsamkeit dar, die nicht ohne Wirkung bleibt. Die Ansprache (wahrscheinlich frei gehalten) propagiert in loser Anlehnung an Am 5,15a die Verbindung von Liebe und Haß gegen die Erfüllung von außen kommender Normen. Ein längeres Zitat mag einen Eindruck vermitteln von dem radikalen Stählin, wie er in seinen Veröffentlichungen nicht begegnet: "Diese zimperlichen Staturen, denen schon das Wort ' H a ß ' unerträglich ist, muß man daran erinnern, wie die Großen der Geschichte, zumal die eigentlich Großen unseres Volkes, starke Hasser gewesen sind [...] Ich erinnere an Nietzsche, der mit seinem glühenden Hassen eine weiblich zarte Rücksicht gegen alle Menschen seiner Umgebung verband. [...] Wirkliche Gemeinschaft ist immer Gemeinschaft des Hassens und des Liebens. Wir wissen, was wir heute hassen: Unsere Liebe zur Natur ist zugleich ein ehrlicher Haß gegen alles Scheinwesen, Unnatur und alles verkrampfte Wesen. [...] Wir hassen den Humanismus, weil er uns die Umkehr einer göttlichen Ordnung zu sein scheint, wir hassen den Geist der Masse, der das Edle erstickt, wir hassen jeden heuchlerischen Zwang, der uns hindert, wir selbst zu sein." 51 Der Kontakt mit dem Wandervogel und überhaupt die Umbrüche jener Zeit ermöglichen es Stählin, seinen Widerspruch gegen die bestehende bürgerliche und kirchliche Sicherheit anders zu formulieren als bisher, da dies nur in der Form der "freier gerichteten" Theologie möglich gewesen war. Der Kampf gegen die Selbstsicherheit der Institution Kirche ist dann später ein Aspekt, der Stählin trotz aller Unterschiede mit Karl Barth verbinden wird. 52 In der Zeit unmittelbar nach 1918 formiert sich auch Stählins politische Einstellung. Diese ist mit dem ex post vergebenen Etikett national-konservativ-völkisch sehr unzureichend charakterisiert. Auch politisch fühlt sich Stählin 1918/19 "ergriffen von einem stimmungsmäßigen Radikalismus". 53 Die Auffassung, Deutschland sei von einem Ring es grundlos hassender Feinde erdrückt worden, bleibe an der Oberfläche. 54 Mit der Erhaltung des Bisherigen - politisch wie ökonomisch - sei es keinesfalls getan: 51 Eine "Haßpredigt", 1919, S. 2 f. 52 Zum 25-jährigen Jubiläum des Berliner Dombaus bemerkt Stählin 1930: "Ich kann den Gedanken nicht unterdrücken, daß es die einzig würdige Form wäre, dieses Domjubiläum zu feiern, wenn man ihn von Grund auf zerstörte, als Bekenntnis dazu, daß die heutige Kirche mit jenem Geist, aus dem dieser Dom gebaut wurde, nichts mehr zu tun hat." (Via Vitae, 1968, S. 259 nach Tagebuchaufzeichnungen 1930.) Ebd., S. 260 schreibt Stählin, wie ihn die Nachbarschaft mit Karl Barth gegen das kirchliche Selbstbewußtsein von Dibelius kritisch gemacht hatte. 53 Unsere Pflicht zum Radikalismus, 1919, S. 1. 54 A.a.O., S. 1 f.
Pfarrer in Nürnberg 1917-1926
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"Der große Fehler weiter Teile des Bürgertums ist ein Mangel an Radikalismus, d.h. an Einsicht, daß wir vor den Trümmern einer Kultur stehen, die nicht notdürftig geflickt oder wiedergebaut werden kann."55 Dem Bürgertum habe es bisher völlig an politischen Ideen gefehlt - diese seien nur in der Sozialdemokratie und im Zentrum vorhanden gewesen. 56 Heute aber habe der liberale Individualismus keine Chance mehr, gefordert sei vielmehr - im Anschluß an Fichte - die Erziehung eines neuen Menschengeschlechtes. 57 Gleichzeitig trügen die Deutschen "und vielleicht wir allein [...] in uns die Idee einer Menschheitsgemeinschaft."58 Diese Geisteshaltung paßt gut zusammen mit den Gedanken von Wilhelm Stapel, den Stählin 1919 bei der Gründung des "Jungdeutschen Bundes" auf Burg Lauenstein kennenlernt und zu dem er sich noch 1972 ausdrücklich bekennt.59 Auch in bezug auf Stapel gilt, daß die Wirklichkeit differenziert ist und nicht einfach zu beschreiben. Stapel war nicht nur der berüchtigte Wegbereiter deutschchristlicher Theologie durch sein Reden vom "Volksnomos". 60 Stapel kam aus dem jungkonservativen Lager, das schon vor 1914 Kritik an der Sicherheit des Wilhelminismus geübt hatte61, ent-
55 A.a.O., S. 4. 56 Ebd. 57 A.a.O., S. 6. Eine Form von Sozialismus sei dem Liberalismus vorzuziehen (S. 7), aber der Bolschewismus wiederum gehe über den Wert des einzelnen Menschen hinweg (S. 8); Rätesystem wie parlamentarische Demokratie seien gleichermaßen unbefriedigend (S. 8). 58 A.a.O., S. 9. 59 Noch einmal Wilhelm Stapel, LM 1972, S. 202: "[...] ich mich mit Wilhelm Stapel gerade in seinen konservativen Gedanken verbunden fühlte und ihm und seinem 'Deutschen Volkstum' vor allem für das Verständnis der Sprache Wesentliches verdanke [...]". Stählin beschließt seinen Artikel mit der Feststellung, "daß jemand, der einem Irrtum abschwört und einen falschen Weg verläßt, mindestens ebenso verdient, gehört zu werden, wie jemand, der alles immer schon richtig gewußt und gesagt hat." (ebd.) Stählin zitiert einen Brief von Stapel an ihn vom 24. 8. 1942: "Es gilt einen neuen Kampf mit dem leibhaftigen Satan. Der Satan hat auch mich belogen. Ich habe ihm arglos vertraut." (ebd.) 1936 war Stapel aus dem "Deutschen Volkstum" ausgeschieden, am 20. 11. 1944 sprach er von "abgründiger Gemeinheit" des Nazi-Regimes (nach Heinrich KEßLER, Wilhelm Stapel als politischer Publizist, 1967, S. 223). Bereits 1962 hatte Stählin Stapels Mühe um die Sprache positiv hervorgehoben: Die Zurüstung zum geistlichen Amt als Lebensaufgabe der Kirche, 1963 [1962], S. 205. 60 Wilhelm STAPEL, Der christliche Staatsmann, 1932, S. 181-183. 61 Diese Kritik hatte ihren Ort in der Zeitschrift "Kunstwart" (1887-1937), die gegen allen Pomp und alles Phrasenhafte eintrat und für die u.a. Theodor Heuss schrieb (Heinrich KEBLER, Wilhelm Stapel als politischer Publizist, 1967, S. 17). Stapel war seit 1911 engerer Mitarbeiter des von Ferdinand Avenarius (1856-1923, Neffe Richard Wagners) gegründeten und geleiteten "Kunstwart" (H. KEBLER, ebd.). Stählin
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wickelte sich während der Weimarer Republik dann aber immer mehr zum Nationalisten und Anhänger Hitlers. Stählin, Hans Asmussen und Karl Bernhard Ritter rückten 1934 von Stapel ab, als dieser die Bekennende Kirche als "Sektentum" bezeichnete. 62 Stapels theologische Position weist daneben durchaus Parallelen zur dialektischen Theologie auf: So wendet er sich 1932 gegen die Verkehrung des Christentums in Sittlichkeit und Moral und betont die Erbsünde 63 , während "eine bestimmte Art des BindestrichChristentums" nur von "sittlich-religiösem Verhalten" spreche. 64 In diesem Kontext nimmt nun die Theologie Stählins ihre wesentliche Gestalt an: Kritik an bürgerlicher Lebensweise, auch am neuen Weimarer Staat, Kritik am neu entstehenden Kirchentum und der völkische Flügel 65 der Jugendbewegung werden zu Verstehenshorizonten für das gegenwärtige Evangelium. Durch einen eher zufälligen Kontakt mit dem Leiter des "Bundes Deutscher Jugendvereine" (BDJ), Pastor Gotthold Donndorf aus Hamburg, kommt Stählin dazu, 1921 bei der 9. Bundestagung des BDJ in Heidelberg den Hauptvortrag zu halten (S. 179 f.). In diesem Referat gelingt es Stählin, die scharfe Kritik an der Kirche verständnisvoll aufzunehmen 66 und die eigene Kritik an lehrhafter Theologie mit einem für Jugendliche zugänglichen Jesusbild zu verknüpfen. "Die Theologie, insbesondere die sogenannte Christologie hat sich redlich Mühe gegeben, das Schweigen zu brechen, das Jesus selbst über sein innerstes Wesen gebreitet hat. [...] Jesus hat eben keine Theorie aufgestellt und seine Verkündigung enthält keine Moralgesetze. Sondern er spricht einfach die Gesetze des Lebens aus, das er geschaut hat und in dem er selbst lebt." 67
erwähnt Avenarius noch 1963 ausdrücklich: Rückblick nach 50 Jahren: Was bleibt (Symbolon 4, 1980), S. 20. 6 2 H . KEßLER, a . a . O . , S.
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63 W i l h e l m STAPEL, Der christliche Staatsmann, 1932, S. 20. 64 W. STAPEL, a.a.O., S. 23; vgl. ebd., S. 152: "Christentum ist Entscheidung und Entschluß. Damit entfällt [...] alle moralische Fortschrittsbemühung. D i e g e s c h w ä t z i g e Erkenntnis, die eifrige Moralität, die wichtigtuerische Gefühligkeit - es ist nur ein Selbstbetrug. Entscheide dich und überlaß alles andere Gott." (Hervorhebung im Original.) Der Duktus zeigt freilich auch: Stapel liegt eher die D e m a g o g i e denn die Differenzierung. 65 Aus heutiger Sicht urteilt übrigens Wolfgang TRILLHAAS, die politische Einstellung sei für Stählin nicht charakteristisch gewesen, sondern eher eine "mitlaufende Normalität" (Gespräch mit dem Verfasser am 29. 7. 1992). 66 Jesus und die Jugend, 1921, S. 33: "Es sind in diesen Tagen scharfe Worte g e g e n alles Kirchentum [...] hier gesprochen worden [...)", vgl. Via Vitae, 1968, S. 180. 67 Jesus und die Jugend, 1921, S. 11. 19. D i e berühmte "Heidelberger Rede" Stählins wurde am 13. 7. 1921 in der Stadthalle Heidelberg gehalten und später immer wieder zitiert, z.B. von Karl KOBOLD. Bischof D. Dr. Wilhelm Stählin, PTh 1953, S. 459.
Pfarrer in Nürnberg 1917-1926
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Diese - theologiegeschichtlich betrachtet - zunächst klassisch-liberale Entgegensetzung von Christologie und Leben Jesu, verbunden mit einer deutlichen Kritik an kirchlicher Lehre und Moralismus, ist von so großer Wirkung, daß Stählin bald in die Führung des BDJ berufen wird: von 1922 bis 1932 ist er dessen Bundesleiter. Seine große Arbeitskraft entfaltet sich ganz entscheidend im BDJ, was in seinen großen Schriften zur Jugendbewegung zum Ausdruck kommt, bis dann (mit dem Ende der Jugendbewegung) die Berneuchener Arbeit und die Michaelsbruderschaft die erste Stelle einnehmen. Als Pfarrer an St. Lorenz in Nürnberg von 1917-1926 übt Stählin große Wirkung als Prediger aus. Die gedruckt erschienenen Predigten 68 können davon nur einen unzureichenden Eindruck vermitteln. In der Regel handelt es sich um Themapredigten mit mehr oder wenig starkem Textbezug, die Anlehnung an den Predigtstil von Christian Geyer und Friedrich Rittelmeyer ist unverkennbar. 69 Eine frühe Predigt über "Die Geburt Gottes in der Seele" an Weihnachten 1920 übrigens erinnert deutlich an eine Auslegungsform, wie sie gegenwärtig von Eugen Drewermann betrieben wird. 70 Das Besondere an Stählins Predigtweise ist einmal so beschrieben worden, daß er auf der Kanzel genauso redete wie im persönlichen Gespräch und umgekehrt im persönlichen Gespräch neben der eigenen Person die Institution Kirche repräsentierte. 71 Nach dem Weggang Rittelmeyers nach Berlin (1916) wird Stählin schnell zum zweiten berühmten Nürnberger Prediger neben Christian Geyer. So schreibt Gerhard von Rad 1958 im Rückblick von der
68 Advent, 2 1925. Das Buch enthält 15 Predigten aus den Jahren 1920-1923 über Themen, die sich meistens am Kirchenjahr orientieren, aber z.B. auch "Stufen religiöser Erkenntnis" und "Von der rechten Ehe". 69 Christian GEYER/Friedrich RITTELMEYER, Gott und die Seele, 1912. 70 Vgl. Stählin, Advent, 1925, S. 17 (zu Lk 2,19): "Das ist das Evangelium von der ewigen Bestimmung der Menschenseele: Maria, der jungfräulichen Mutter des Heilandes gleichend, soll sie Gott empfangen in jungfräulichem und mütterlichem Geiste." Dazu Eugen DREWERMANN, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. I, 1984, S. 527: "Im Menschen selber liegt, wenn er nur auf sein eigenes Wesen hört, das Wunder der jungfräulichen Geburt begründet; in seiner eigenen Seele liegt die anfangs verachtete, für hurenhaft gehaltene Gestalt der 'Mutter', die sich gleichwohl auf die Engelsbotschaft hin am Ende als Madonna zu erkennen gibt [...]." Den Kindermord in Bethlehem findet Stählin, a.a.O, S. 19 wieder darin, daß "das Gotteskind [...] stirbt im Lärm der Straße, erstickt in Sinnlichkeit, ertrinkt im Vergnügen!", Drewermann im Kampf des Über-Ich ("Herodes") gegen das psychisch integrierte, unverstümmelte Dasein ("göttliches Kind"), in deutlicher Anlehnung an die archetypisch-subjektale Auslegung C.G. Jungs (a.a.O., S. 518-522). 71 Gespräch mit Heinz
HENCHE
am 9. 2. 1993.
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2. Biographischer Abriß
"Nürnberger Zeit, da Dir (und dann uns) fast jede Predigt, die Du zu halten hattest, neue Horizonte eröffnete." 7 2 Die Nürnberger Sonntagspredigten werden von 800-1000 Menschen besucht (die Abendgottesdienste um 18 Uhr noch einmal von 400-600, die Wochenpredigten am Dienstagabend von 100-150, S. 163). An der Form der Themapredigten wird Stählin bis hin zum 4. Band seiner Predigthilfen (1966) festhalten, wenn er auch später vorwiegend Textpredigten hält. Stählins Interesse gilt aber schon hier nicht allein der Predigt: Er experimentiert mit liturgischen Gottesdiensten, u.a. mit "Väterlesungen" (z.B. von Karl Barth [!], S. 164 f.). Im Konfirmandenunterricht entscheidet sich Stählin explizit für die Behandlung von Lebensfragen und gegen die Vermittlung eines Mindestmaßes "kirchlichen Wissens". Das auffällig positive Fazit verdient ganz zitiert zu werden: "An diese Konfirmandenstunden in den Jahren 1919-1925 denke ich mit der größten Freude zurück, und sie sind das Schönste gewesen, was ich in meinem Beruf erlebt habe." (S. 171) Neben dem Unterricht veranstaltet Stählin bereits in jenen Jahren Konfirmandenfreizeiten (S. 174). Trotz seiner großen pädagogischen Erfolge in der Konfirmandenarbeit wird ihm die Konfirmation mit den Konfirmationsfragen nach der Agende problematisch: Schließlich verzichtet er ganz auf Fragen und läßt als Bekenntnis Luthers Te Deum im Wechsel mit dem Jugendkreis singen (S. 173). 73 Auch das Konfirmationsproblem bleibt nun - nachweisbar mindestens bis in die Oldenburger Zeit - Gegenstand seines besonderen Interesses. Die Gemeindejugendarbeit entsteht aus der Konfirmandenarbeit und hat gemeinsame Wanderungen oder Fahrten, Gottesdienste und die Vorbereitung des Krippenspiels zum Inhalt (S. 183-187). Zudem existiert der erwähnte "Mittwochkreis", in dem u.a. Gerhard v. Rad und Wolfgang Trillhaas Karl Barths "Römerbrief' von 1919 kennenlernen, sowie besondere "Studienkreise" junger Mädchen, die sich an Guida Diehl 74 orientieren. Mittelpunkt all dieser Gruppen sind die allmonatlichen Jugendgottesdienste am 72 Brief G. v. RADS an Stählin vom 8. 12. 1958, Best. Pers. XVIII Stählin, Nr. 42, Persönliche Angelegenheiten, Landeskirchliches Archiv Nürnberg. G. v. Rad fährt übrigens fort: "Es kann mir jetzt gelegentlich widerfahren, daß ich in ein K l a g e l i e d auf den im ganzen entschwundenen 'Liberalismus' ausbreche. Ist es nicht so, daß alle diejenigen, die aus ihm kommen, sich bei allem theologischen B e m ü h e n etwas M e n s c h l i c h e s erhalten haben, das schon fast etwas Seltenes geworden ist und an dem man sich erkennt." 73 Zur bayrischen Konfirmationsagende von 1920 mit drei alternativen Formen von B e kenntnis und Gelübde s. M. MEYER-BLANCK, Wort und Antwort, 1992, S. 169 f. 74 Zu Guida Diehl vgl. Irmgard KLÖNNE, "Ich spring' in diesem Ringe", 1988, S. 23-29. D i e h l war schon 1930 der N S D A P beigetreten. Stählin, Via Vitae, 1968, S. 184 distanziert sich explizit von dem Nationalismus in Diehls "Neuland-Kreis".
Professor in Münster 1926-1943
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Sonntagabend (S. 184 f.). Hier läßt Stählin den beteiligten Jugendlichen große Freiheit in der liturgischen Gestaltung. 75 Daneben hat Stählin die herkömmliche Pfarramtstätigleit verrichtet und darüber in einem "Amtstagebuch Nürnberg 1917-1926" genau Buch gefuhrt. 76 Stählin hat zahlreiche Gottesdienste und Predigten vorzubereiten, die Zahl der Kasualien hingegen ist den Aufzeichnungen zufolge begrenzt. Für 1918 sind z.B. 71 Predigten (an 60 verschiedenen Tagen) verzeichnet. Abendmahlsfeiern hält Stählin 1918 immerhin 16, eine im Vergleich zur norddeutschen Sitte des jährlichen Abendmahlsganges recht beachtliche Anzahl. Dazu hat Stählin alle Kommunikanten einzeln namentlich notiert. 77 Von November 1917 bis April 1926 traut er 325 Paare und beerdigt 216 Gemeindeglieder. Bei den 226 Taufen fuhrt er (bis März 1921) genau darüber Buch, welche Familien er nach der Taufe besucht hat. Professor in Münster
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Anfang Dezember 1925 erhält Stählin den Ruf auf den Lehrstuhl für Praktische Theologie in Münster, nachdem bereits 1921 eine Berufung nach Marburg im Gespräch gewesen war (S. 192 f.).Ganz bewußt wird Stählin vom Minister berufen - dieser will an den Universitäten nicht gelehrtes Wissen, sondern "menschliche Führung der Jugend" (S. 195). Stählins akademisches Lehramt ist Thema im Abschnitt 5.1. dieser Untersuchung. Hier seien nur einige wichtige, prägende Umstände erwähnt. Der Abschied von der pfarramtlichen Praxis fällt Stählin schwer, wird aber gemildert durch seine bis 1932 weiterlaufende Jugendarbeit im Rahmen des BDJ. In Münster ist er nicht nur akademischer Lehrer, sondern auch Universitätsprediger, allerdings gänzlich ohne Einvernehmen mit den kirchlichen Gremien und ohne kirchliche Einfuhrung oder Begrüßung 78 . In den 1930 scheiternden Verhandlungen über eine Berufung nach Heidelberg ist es für Stählin konstitutiv, neben dem staatlichen Lehramt das kirchliche Predigtamt innezuhaben. 79 Auch in diesem Konflikt in Heidelberg legt er also 75 Auskunft von Wolfgang TRILLHAAS im Gespräch mit dem Verfasser am 29. 7. 1992. 76 Bestand Personen Nr. XVIII, 43, Landeskirchliches Archiv Nürnberg. 77 1919 hielt er 14, 1920 17 Abendmahlsfeiern; am 6. März (Laetare) 1921 enden die Aufzeichnungen. 78 Vgl. Manfred JACOBS, Die evangelisch-theologische Fakultät der Universität Münster 1914-1933, 1991, S. 65. 79 Die dort traditionelle Distanz zwischen "liberaler" Fakultät und "positiver" Kirchenleitung kann Stählin nicht mitvollziehen. Er will nicht auf der Seite der Fakultät (die ihn gerne in ihrer Mitte haben will) gegen die Kirche stehen: "Aber ich konnte und wollte den mir unentbehrlichen Predigtauftrag nicht vom Staat entgegennehmen und ich konnte und wollte nicht nach Heidelberg gehen, wenn die offizielle Kirchenleitung sofort die Absicht hatte, die Grundlagen meiner Arbeit zu zerstören." (Bericht für die Freunde über die Ablehnung der Berufung nach Heidelberg, 4 S.,
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besonderen Wert auf das Verhältnis zur Landeskirche - ebenso wie seinerzeit im Disput mit Hans Lauerer. Der unten zitierte Aufsatz von Johann Friedrich M o e s zeigt, wie starken Einfluß Stählin in der Apostelkirche Münster ausübt 80 und als weiteres Praxisfeld dort den (in Abschnitt 5.2. genauer zu skizzierenden) "Religionsunterricht für Erwachsene" einführt. An der Fakultät hat Stählin in den ersten Jahren81 neben Karl Barth (dieser geht zum Sommersemester 1930 nach Bonn) einen schweren Stand: Die Studenten sind "zum weitaus größten Teil von der Jugendbewegung völlig unberührt" (S. 310), und die Barth-Schüler empfindet Stählin als immunisiert für alle Fragen kirchlicher Praxis (S. 220). Aber schon neben Barth gelingt es Stählin dennoch, sich in Münster Gehör zu verschaffen. 8 2 Es bedarf keiner großen Phantasie, um zu ermessen, wie neben sachlichen Differenzen persönliche Konkurrenzen das Verhältnis von Barth und Stählin getrübt haben mögen: Fand Barth als unbestrittener Führer der theologischen Neubesinnung eine starke Anhängerschaft unter den Studenten, so war es Stählin gewohnt, großen Einfluß als Jugendführer zu haben. 83 Offensichtlich ist Stählin von Barth wesentlich stärker beeindruckt als umgekehrt Barth von Stählin 84 : Er fühlt sich bisweilen durch Barth "gehemmt und gelähmt" (S. 221), verleugnet aber umgekehrt nicht dessen positive Einflüsse auf ihn (S. 260). Im weiteren Verlauf wird Stählin dann "eine der prägenden Persönlichkeiten der Fakultät, geachtet bei Kollegen und Studenten." 85 Als
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oben auf S. 1 der hs. Eintrag "streng vertraulich!", im Briefwechsel betr. Berufung nach Heidelberg.) J.F. MOES, Die Apostelkirche als Ort geistlicher Erneuerung, 1984. Irrtümlicherweise schreibt Stählin in Via Vitae, 1968, S. 220: "Wir waren noch zwei Jahre dort zusammen", während Barth und Stählin tatsächlich genau 4 Jahre, 8 Semester (SS 1926 - WS 1929/30) gemeinsam in Münster lehrten. "Ich habe hier eine sehr schöne Tätigkeit. Während in den ersten Semestern die fast ausschließliche Herrschaft der dialektischen Theologie unter den Studenten mir es fast unmöglich gemacht hat. das was ich sagen wollte hörbar zu machen, habe ich jetzt eine sehr viel bessere Situation und im Ganzen habe ich von den Studenten einen recht erfreulichen Eindruck." (Brief vom 3. 7. 1929 an den Schwager Gottfried Seiler, Gesammelter Briefwechsel mit verschiedenen Personen 1922-1972.) Vgl. KF (?)/SCH (?), Mit Stählin auf Fahrt, 1922, S. 83: "Fast als Kinder durften wir uns fühlen auf der weiten Fahrt - und Stählin unser sorgender Vater [...] Stunden der Sammlung und des Schweigens. Zu allem führte uns Stählin; immer war er mit uns und unter uns." Vgl. Eberhard BUSCH, Karl Barths Lebenslauf, 1975, S. 181 f. Manfred JACOBS, a.a.O. (s. Anm. 78), S. 64. Stählins Charakterisierung durch Jacobs: "Er ist Religionspsychologe [...]" (ebd.) trifft allerdings für die Zeit in Münster nicht mehr zu: Das "Archiv für Religionspsychologie" hatte Stählin schon nach Bd. II/III (1921) an Werner Gruehn abgegeben, in den Veröffentlichungen der zwanziger Jahre und in den Münsteraner Lehrveranstaltungen spielt die Religionspsychologie keine Rolle mehr.
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Stählin nach Heidelberg berufen w e r d e n soll, wird er mit einer 2 2 6 Unterschriften enthaltenden Bittschrift ersucht, in Münster zu bleiben. 8 6 Außerhalb der Fakultätsarbeit widmet sich Stählin noch manchen w e i t e r e n Aktivitäten: Er vertritt die Fakultät als Synodaler der Preußischen Generals y n o d e in Berlin 1 9 3 0 (S. 2 5 9 ) , führt 1932 mit evangelischen und katholischen Studenten das "Spiel v o m Antichristen" 8 7 auf (S. 2 3 1 ) und ist schließlich ab 1931 "Kulturbeirat d e s Westfälischen Bauernvereins" (S. 2 3 3 ) . E s bedarf besonderer Beachtung, w i e Stählin, dem o f t die N ä h e zur natürlichen T h e o l o g i e nachgesagt wird, den Bauern die Eigenart d e s Christentums nahezubringen versucht. In einem Aufsatz "Bodenständiges Christentum" im w e s t f ä l i s c h e n Bauernblatt führt er im Oktober 1 9 3 2 aus, daß das Christentum gerade nicht bodenständig sei, sondern aus der Welt herausrufe. D a r u m w e r d e das Christentum heute im N a m e n des bodenständigen V o l k s t u m s ang e g r i f f e n und der Bauer "muß wissen, w a s er v o n diesem K a m p f zu halten hat; er muß wissen, w o h i n er gehört." 8 8 D a s Christentum sprenge den Rahmen j e d e n V o l k s t u m s und das bedeute:
86 Das Schreiben mit der Unterschriftenliste befindet sich im Briefwechsel betr. Berufung nach Heidelberg und lautet: "Herrn Professor D. Dr. Stählin bitten wir, den Ruf nach Heidelberg abzulehnen, um nicht nur uns, den Studenten und Studentinnen, sondern auch dem Lande Westfalen und seiner Pfarrerschaft auch weiterhin ein Lehrer und Führer zu sein." (Nebenbei ist die hier gewählte "inklusive Sprache" für die damalige Zeit auffallend, im BDJ und bei Stählin aber schon länger üblich.) Die von Stählin in Via Vitae, 1968, S. 227-231 niedergelegte Darstellung der Verhandlungen in Heidelberg ist deutlich im Rückgriff auf die alten Schriftstücke gefertigt, es fehlt allerdings z.B. eine sehr kritische Passage aus dem Brief von Kirchenpräsident Wurth/Karlsruhe vom 14. 7. 1930: "Und wenn z.B. in Ihrem Kreuz Christi S. 34 f. das stellvertretende Leiden und Sterben Jesu von Ihnen so schroff abgelehnt wird, so meine ich allerdings, daß die Worte Jesu selber mit einer solchen Verneinung nicht ganz stimmen [...]". In "Das Kreuz Christi" hatte Stählin 1922 Anselms Satisfaktionslehre explizit abgelehnt mit an heutige feministische Theologie erinnernden Sätzen: "Der Gott, den diese Lehre meint, ist ein wütender Tyrann, der Blut sehen muß, ehe er sich erbarmen kann. [...] Eine 'stellvertretende Strafe' gibt es nicht; das ist ein ganz unsittlicher Gedanke. Aber freilich gibt Gott die Menschen dahin in die Folgen der Sünde hinein, [...]" (Das Kreuz Christi, 1980 [1922], S. 89 u. 90). 87 S. dazu: Das Spiel vom Antichrist, 1958 [1954/55], S. 480-495. Stählin ist auf den "Ludus" durch Wilhelm Stapel gekommen. 1958 [1954/55], S. 493 leitet Stählin aus dem Ludus die Notwendigkeit einer übernationalen Ordnung ab (am 23. 10. 1954 war die Bundesrepublik der NATO beigetreten), während er 1932 der Wiedergeburt der deutschen Reichsidee anhing wie auch Wilhelm Stapel (dazu die Rede "Das Reich als Gleichnis" 1933). Stapel hat gleichfalls 1954 noch einmal über den Ludus geschrieben. Die bei Stählin, a.a.O., S. 494, Anm. 21 fehlende Literaturangabe: W. STAPEL, Der Ludus de Antichristo, DtPfBl 1954, S. 265-267. Kontinuierlich hält sich Stählins Zustimmung zu der Darstellung des Ludus, nach der der Antichrist vor allem durch die Losung "pax et securitas" gekennzeichnet ist. Dies entspricht seiner durchgängigen Kritik am selbstsicheren Kirchentum. 88 Bodenständiges Christentum, 1932, S. 685.
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"Da gehen die Wege auseinander: Auf der einen Seite zu den Erdreligionen 'der großen Mutter', auf der anderen Seite zu dem Heiland, der auf dieser Erde starb und aus dem Grab dieser Erde auferstand." 89 Bedeutende Auswirkungen auf die Praktische Theologie Stählins, wie sie in Münster Gestalt gewinnt, haben darüber hinaus drei Außenbezüge, deren Anfänge sämtlich in die Nürnberger Zeit zurückreichen: die ökumenischen Beziehungen, die (1932 endende) Arbeit im BDJ und die Anfänge Berneuchens und der Michaelsbruderschaft. Ökumene Gerade die ökumenischen Beziehungen zeigen, wie wenig sich Stählins Position in die gängigen Kategorien nationalistisch/internationalistisch bzw. positiv/liberal einordnen läßt. In seinen vier (!) veröffentlichten Berichten von der Stockholmer Weltkonferenz für Praktisches Christentum 1925 (Stählin war als Vertreter der Jugendbewegung delegiert worden) zeigen sich deutlich zwei kritische Grundlinien: - die deutsche Delegation agiert laut Stählin taktisch, bürokratisch, voll von politischem Mißtrauen und darum gesprächsunfähig; - die Theologie der angelsächsischen Delegationen ist von Weltverbesserungsoptimismus geprägt und versteht in diesem Optimismus gerade auch die Jugendbewegung falsch. In einem Satz: Politisch kritisiert Stählin die ihm eigentlich nähere Position der Deutschen (etwa in der Kriegsschuldfrage), theologisch kritisiert er die ihm vom Werdegang her nicht fremde Position der Angelsachsen. Letztlich handelt es sich aber bei beiden Aspekten um eine theologische Kritik. So heißt es über die deutsche Delegation: "Es war doch letztlich mehr aus der Politik als aus dem Glauben heraus geredet worden, es war viel zu sehr nur Abwehr, zu wenig positive, überlegene und weiterführende Verkündigung in dem, was von deutscher Seite gesagt worden ist." 90 Umgekehrt sucht Stählin die Position der angelsächsischen Delegierten zu verstehen: Es sei der "Moralismus der ganzen Weltbetrachtung", welcher
89 A.a.O., S. 686. 90 Stockholm, ZW 1925, S. 489. Die deutsche Delegation, zu der 31 Mitglieder aus Kirchenleitungen gehörten (von insgesamt 70 Mitgliedern), empfand Stählin als "bürokratisch": sie wirkte zudem "vielfach als eine geschlossene Oppositionspartei, die über die Wahrung ihrer nationalen Belange wachte." (A.a.O., S. 4 9 5 ) D i e Deutschen hätten auch die anderen Delegationen "nationalisiert" (ebd.).
Ökumene
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"der politischen Beurteilung der deutschen Kriegsschuld zugrunde liegt." 91 Stählin hat den Eindruck, "daß die ganze angelsächsische Welt die sozialen und moralischen Schäden doch in viel höherem Grad als überwindbare Mängel einer an sich erfreulichen Menschheitsentwicklung ansieht [,..]." 92 Für Stählin, der sich gerade mit der Schuldfrage auseinandergesetzt hatte 93 , wurde hier schlicht "die Gewalt 'des altbösen Feindes' unterschätzt." 94 Das mangelnde Verstehen in Stockholm wird von Stählin also in der Wurzel auf theologische Mängel auf beiden Seiten zurückgeführt. 95 Stählins Teilnahme an der Konferenz des "Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen" in Cambridge 1931 fuhrt zu einer (für Stählin ungewöhnlich scharfen) literarischen Kritik an Paul Althaus und Emanuel Hirsch. Zwar war die Stimmung für die Deutschen in Cambridge "freundlicher, als wir es je auf einer internationalen Tagung erlebt hatten" 96 gewesen, aber Althaus und Hirsch hatten bereits vorher kategorisch behauptet, daß die "christliche und kirchliche Verständigung und Zusammenarbeit in den Fragen der Annäherung der Völker unmöglich ist, solange die anderen eine für unser Volk mörderische Politik gegen uns treiben." 97 Stählin reagiert, weil er hier die Wirklichkeit von Kirche durch politisches Kalkül suspendiert sieht. Die Erklärung von Althaus und Hirsch erwecke den Anschein, als ob in der Ökumene mit Regierungen verhandelt werde. Dies bedeute, "daß hier politische Aufgaben zum Inhalt und Maßstab kirchlicher Bemühungen gemacht werden." 98 Stählin fordert dagegen die Unabhängigkeit von Theologie und Kirche "in strenger theologischer Besinnung". 99 Als 91 Die soziale Frage auf der Stockholmer Konferenz für Praktisches Christentum, 1925, S. 2, 2. Sp. 92 A.a.O., S. 2, 1. Sp. 93 Vgl. Das Schuldgefühl der modernen Jugend, 1925 [1924], 94 Stockholm, CuW 1925, S. 256. 95 Die Darstellung Stockholms durch Kurt NOWAK, Evangelische Kirche und Weimarer Republik, 1988, S. 195-198 erreicht diese Stählinsche theologische Dimension nicht, indem hier lediglich das deutsche Taktieren um die Kriegsschuldfrage thematisiert wird. 96 Cambridge 1931, 1931, S. 231. 97 P. ALTHAUS/E. HIRSCH, Evangelische Kirche und Völkerverständigung, 1931, S. 236. 98 Evangelische Kirche und Völkerverständigung. Zu der Erklärung der Professoren Althaus und Hirsch, 1931, S. 147. Ebenso urteilt im historischen Rückblick Klaus SCHOLDER, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, S. 214: "Tatsächlich war es das erste Mal, daß zwei bedeutende Theologen die Konsequenzen der politischen Theologie offen aussprachen: das Verhältnis zum deutschen Volk war das Kriterium der christlichen Gemeinschaft." 99 W. Stählin, a.a.O. (s. die letzte Anm.), S. 151.
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Hirsch dann in einem Aufsatz dazu noch schreibt, er lege auf die nationale und kirchliche Gemeinschaft mit Rade und Niebergall "keinerlei Wert" 100 , stellt Stählin erschrocken fest, daß ein Dialog mit Hirsch gegenwärtig unmöglich ist. 101 Zu einer Kooperation mit Dietrich Bonhoeffer kommt es, als dieser in Cambridge 1931 zum ehrenamtlichen Jugendsekretär des Weltbundes für Freundschaftsarbeit gewählt wird und in Deutschland eine "Mittelstelle für ökumenische Jugendarbeit" unter der Leitung von Stählin und Bonhoeffer ins Leben gerufen wird. 102 Auf einer Konferenz der Mittelstelle vom 29. 30. 4. 1932 geraten beide aneinander, als Bonhoeffer sich kritisch gegen die von Stählin vertretenen "Schöpfungsordnungen" wendet. 103 In diesem Zusammenhang erscheint es einigermaßen befremdlich, daß Bonhoeffer an dieser Stelle wie in den gesamten Lebenserinnerungen Stählins mit keiner Silbe erwähnt wird. 104 Das mag mit den von H.E. Kellner herausgearbeiteten 1 0 5 grundsätzlich verschiedenen theologischen Ansätzen zusammenhängen. Stählins Äußerungen im Rahmen der ökumenischen Arbeit lassen damit bereits schon deutlich seine Position im Kirchenkampf erkennen, mit der er sich wenige Jahre später zwischen allen Stühlen wiederfinden wird: weit entfernt von der nationalistischen politischen Theologie, aber auch getrennt von dem konsequenten Denken Bonhoeffers. Stählins Kirchenbegriff wird geprägt bleiben von Weite in mehrfachem Sinn: dies gilt für die Ökumenizität wie für die konkrete Organisation von Kirche. Wie er schon frühzeitig den Freunden Geyer und Rittelmeyer und dem Gegner Lauerer das Bleiben in der Landeskirche entgegengesetzt hatte (und den Weg Rittelmeyers schon aus ekklesiologischen Gründen nicht mitgehen konnte 106 ), so empfindet er
100 In der AELKZ vom 24. 7. 1931, zitiert nach W. Stählin, Cambridge 1931, 1931, S. 239. 101 W. Stählin, ebd.: "Auf solche Sätze kann man nicht mehr antworten, sondern nur noch erschrocken feststellen, daß mit einem Mann, der solche Sätze zu schreiben wagt, zunächst überhaupt kein Gespräch mehr möglich ist [...]." Das "zunächst" ist typisch für Stählins durchgängigen Willen zum Gespräch. 102 Vgl. DOKUMENTE zur Bonhoeffer-Forschung 1928-1945, 1969, S. 3 2 - 3 9 . 5 9 - 6 3 und Dietrich BONHOEFFER, Gesammelte Schriften, 6. Bd., 1974, S. 2 3 5 - 2 3 8 . 103 Nach Eberhard BETHGE, Dietrich Bonhoeffer, 1967, S. 289. 104 Ein e i n z i g e s Mal nur wird Bonhoeffer erwähnt bei der Wiedergabe eines an Stählin gerichteten Briefes (Via Vitae, 1968, S. 306)! 105 H.E. KELLNER, Das theologische Denken Wilhelm Stählins, 1991, S. 5 2 0 - 5 3 8 : Bonhoeffer setzt gegen den Begriff der "Schöpfungsordnung" den der "Erhaltungsordnung auf Christus hin" (H.E. KELLNER, a.a.O., S. 532). Ganz anders als Stählin ist Bonhoeffer darum in der Lage, sofort das Verfehlte in W i l h e l m Stapels "Volksnomos"-Lehre zu durchschauen; s. Christoph STROHM, Theologische Ethik im Kampf g e g e n den Nationalsozialismus, 1989, S. 111-114. 106 "[...] wir wollten nicht von dem Schiff der Kirche auf einen Rettungskahn umsteigen, sehr wesentlich um all der Menschen willen, die auf j e n e s gefährdete Schiff angewiesen blieben." (Via Vitae, 1968, S. 318) Von Anfang an stellte Stählin die
Berneuchen
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nun die nationalistische Position Hirschs und später die radikale Position auf dem "Dahlemer Flügel" der Bekennenden Kirche als eng und damit der Gemeinschaft des Leibes Christi widersprechend. Berneuchen Der Dissens mit Bonhoeffer hängt mit der Gesamtentwicklung zusammen, die beide in diesen Jahren durchmachen: ist Bonhoeffer auf dem Weg, vom Theologen zum "Zeitgenossen" zu werden107, so verlagert sich Stählins Interesse immer stärker von der Außenaktivität und Organisation der Kirche auf die Gestaltung des Innenbereichs, auf die Liturgie der Kirche und den Dienst an der Kirche durch Bruderschaften. Diese Entwicklung ist durch die Stichworte Berneuchen und Michaelsbruderschaft charakterisiert. Die Anfänge von Berneuchen gehen in die Nürnberger Jahre zurück: Nachdem vom 28. 5. - 1. 6. 1923 die erste Berneuchener Konferenz stattfindet 108 , verlagert sich Stählins Arbeit (neben dem Pfarramt und ab 1926 neben der Professur) immer mehr vom BDJ auf die Berneuchener Bewegung. Zwar kommt die Jugendbewegung endgültig durch den Nationalsozialismus zu ihrer Auflösung 109 , die innere Auflösung hat sich aber bereits Ende der zwanziger Jahre vollzogen. Es gehört in diesen Kontext, daß Stählin mittlerweile im fünften Lebensjahrzehnt - einen neuen Wirkungskreis findet und aus der Leitung des BDJ 1932 ausscheidet (S. 312)110. Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt hat die Arbeit im Bund Stählin auch für seine Münsteraner Lehrtätigkeit, etwa für die Vorlesungen über Katechetik, Anregungen vermittelt und Material geliefert (S. 311). Nun jedoch richtet sich sein Praktisch-theologisches Interesse immer mehr auf die Kirchenreformbestrebungen, wie sie in der Berneuchener Gemeinschaft entwickelt werden, und damit letztlich auf den (in heutiger Sprache) Gemeindeaufbau und vor allem auf die Liturgik. (Im übrigen hat Stählin im Laufe der Jahre eine einzige Lehrveranstaltung zur Jugendarbeit angeboten - bereits ab 1930 hingegen dominieren liturgische Fragen. 111 ) Diese Tendenz verstärkt sich, als 1931 — zunächst geheim112 - die Evangelische Michaelsbruderschaft gegründet wird. Weichen für eine Bruderschaft auf dem "Boden der manifesten Kirche" (Hans Carl vonHAEBLER, Geschichte der evangelischen Michaelsbruderschaft, 1975, S. 13). 107 So der prägnante Untertitel von E. BETHGES Bonhoeffer-Biographie: "Theologe Christ - Zeitgenosse". 108 Eine ausführliche Schilderung durch Karl Bernhard Ritter gibt Hans Carl von HAEBLER, Geschichte der evangelischen Michaelsbruderschaft, 1975, S. 7-11 wieder. 109 Eingliederung des Evangelischen Jugendwerks in die Hitlerjugend am 20. 12. 1933. 110 Vgl. dazu unten Stählins Äußerung beim Rücktritt (zu Anm. 148). 111 Im WS 1927/28 bot Stählin "Übungen über evangelische Jugendkunde, 2st." an (s. dazu die Übersicht in Anhang 2). 112 Erst 1935 berichtete Rudolf Spieker öffentlich über die Michaelsbruderschaft (allerdings an entlegener Stelle, s. W. Stählin, Berneuchen, 1937, S. 12, Anm. 13);
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2. Biographischer Abriß
B r u d e r s c h a f t u n d G o t t e s d i e n s t , Leib u n d Liturgie bleiben über den K i r c h e n k a m p f u n d ü b e r d i e Jahre im B i s c h o f s a m t h i n a u s d i e g r o ß e n T h e m e n Stählinscher Praktischer T h e o l o g i e , w e l c h e aber die V e r b i n d u n g z u d e n P r ä g u n g e n durch die "freier gerichtete" T h e o l o g i e und durch die J u g e n d b e w e g u n g n i e a u ß e r K r a f t s e t z e n o d e r a u c h nur v e r l e u g n e n : D e r P r i m a t d e s " l e b e n d i g e n L e b e n s " soll d i e G e s t a l t u n g v o n K i r c h e u n d d a s N a c h d e n k e n d a r ü b e r v o r E r s t a r r u n g in R i c h t i g k e i t e n , G e w o h n h e i t e n u n d F o r m e l n b e w a h r e n u n d d e n A n s c h l u ß an d i e A l l t a g s f r a g e n n i c h t v e r l i e r e n . 1 1 3 D a m i t s i n d i m w e s e n t l i c h e n d i e E i n f l ü s s e n a c h g e z e i c h n e t , d i e s i c h bei d e r A u s b i l d u n g v o n S t ä h l i n s P r a k t i s c h e r T h e o l o g i e in d e n Jahren in M ü n s t e r a u s w i r k e n . A u f e i n e F o r t s e t z u n g der b i o g r a p h i s c h e n S k i z z e k a n n a n d i e s e m P u n k t v e r z i c h t e t w e r d e n , da w e i t e r e w i c h t i g e A s p e k t e in d i e D a r s t e l l u n g a n h a n d d e r K a t e g o r i e n L e b e n , L e i b und L i t u r g i e im f o l g e n d e n e i n f l i e ß e n w e r d e n und z u d e m die E n t w i c k l u n g des Stählinschen D e n k e n s w ä h r e n d der akademischen Lehrtätigkeit zu einem gewissen Abschluß kommt. Während und n a c h d e r p r a k t i s c h e n T ä t i g k e i t im O l d e n b u r g e r B i s c h o f s a m t w a c h s e n d a n n d i e " A l t e r s f r ü c h t e " : ein n e u e s B e m ü h e n u m d i e K a t h o l i z i t ä t d e r K i r c h e 1 1 4 u n d d i e f ü n f B ä n d e der " P r e d i g t h i l f e n " ( 1 9 5 8 - 1 9 7 1 ) . 1 1 5 D i e s e S p ä t p h a s e ist
erst Stählins Schrift: Berneuchen, 1937 beendete die Gerüchte über den " G e h e i m b u n d " in der kirchlichen Öffentlichkeit. Die Stiftungsurkunde ist abgedruckt in: Die Evangelische Michaelsbruderschaft, 1981, S. 11-18 und wird geprägt durch den Satz 1,2: "Wir können an der Kirche nur bauen, wenn wir selber Kirche sind." (a.a.O., S. 13) Dieser Satz impliziert zweierlei: Die Bruderschaft ist von der Sachlogik her primär ekklesiologisch, von der Praxis her aber zunächst liturgisch orientiert. Nicht ohne Grund gilt die Berneuchener Arbeit vor allem als "liturgische B e w e g u n g " . Auf diesem Gebiet hat sie sich am stärksten ausgewirkt, namentlich bei der Arbeit an den Agenden nach 1945. 113 Noch 1963 formuliert Stählin: "Der Wert einer Lebenserscheinung, eines gelebten Lebens, läßt sich nicht messen an erreichten oder auch nur erreichbaren Zwecken. [...] niemals ist das lebendige Leben durch fixierte Formeln zur E i n h e i t gebunden worden [...]". (Rückblick nach 50 Jahren: Was bleibt, 1980 [1963], S. 14.15.) 114 U.a. durch die Gründung des "Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen" 1946 und des "Theologischen Konvents Augsburgischen Bekenntnisses" 1947. Es wäre gut, wenn etwas von Stählins B e m ü h u n g e n bis in die Gegenwart weiterwirkt. So schrieb Karl Lehmann, damals Professor in Freiburg und j ü n g s t e s katholisches Mitglied im evangelisch-katholischen Arbeitskreis, Stählin z u m 90. Geburtstag: "Evangelische Theologie aus Büchern allein k e n n e n z u l e r n e n ist leicht, aber f ü r das ökumenische Gespräch auch gefährlich." Ähnlich Josef Ratzinger, d a m a l s Bischof in Regensburg: der Arbeitskreis habe geholfen, " e i n a n d e r im Herrn zu finden, auch wo es in den Institutionen noch nicht gelingen will." (Beide Briefe im Bestand Personen XVIII Stählin, Nr. 60, Landeskirchliches Archiv N ü r n berg.) 115 Schon hier sei die Bemerkung von Heinz HENCHE/Münster zitiert, Stählin habe seine Hauptaufgabe in Münster darin gesehen, Prediger des E v a n g e l i u m s zuzurüsten (Gespräch mit dem Verfasser am 9. 2. 1993). In der Tat darf nicht vergessen werden, daß Stählin bei aller Kritik an der Verabsolutierung der Predigt und bei aller
3.1. Biographisch orientierte Beiträge
27
jedoch nicht mehr Gegenstand dieser Untersuchung und wurde von Stählin selbst ausfuhrlich beschrieben (S. 407-733).
3.
Die bisherige Forschung
Das Werk Stählins hat für die Rezeption wissenschaftlicher Praktischer Theologie bisher keine Rolle gespielt. Seit der umfangreichen Monographie von Hans Eduard K E L L N E R 1 1 6 läßt sich das für die Allgemeine und Systematische Theologie so nicht mehr sagen. Die vorliegende Untersuchung ist die zweite Monographie zu Stählins Theologie und hat sich von daher zunächst auf die Arbeit Kellners zu beziehen.117 Zuvor sind die meistens noch zu Lebzeiten Stählins erschienenen Würdigungen und Anknüpfungen an sein Werk zu skizzieren. Es handelt sich neben eher biographischen Artikeln um (meist beiläufige) Wertungen seiner Stellung in der Jugendbewegung und in der (Praktischen) Theologie. Ausführlich wird hingegen von Anfang an die theologische Auseinandersetzung mit dem Berneuchener Schrifttum geführt.
3.1. Biographisch orientierte Beiträge Bereits der erste hier zu besprechende Artikel spiegelt die bisherige Rezeption des Stählinschen Werkes wider, welche entweder von Gegnern oder von Gefährten Stählins und der Berneuchener Bewegung bestimmt ist. Stählins liturgischer Widerpart Gerhard K U N Z E bittet so den Mitunterzeichner des Berneuchener Buches, Karl K O B O L D , um eine zweite Würdigung Stählins zum 70. Geburtstag neben seiner eigenen, sehr kritischen, die er für die von ihm selbst edierte - "Pastoraltheologie" schreibt. 118 Während Kobold Stählin bescheinigt: "Es war Dir gegeben, in einer ganz besonderen Weise der Jugend weisende Worte zu sagen", und daß es in Münster "keineswegs nur Theologen [waren], die zu Deinen Füßen saßen" 119 , führt Kunze sein Liebe zur Liturgie sowohl persönlich wie literarisch wohl am meisten als Prediger bzw. als Autor der "Predigthilfen" gewirkt hat. 116 Das theologische Denken Wilhelm Stählins, 1991. 117 Die Dissertation von Erich NESTLER, Der Beitrag Wilhelm Stählins zur Jugendbewegung, 1986 berührt am Rande ebenfalls theologische Fragen, bezieht sich aber hauptsächlich auf die Geschichte der Jugendbewegung. 118 K. KOBOLD/G. KUNZE, Bischof D. Dr. Wilhelm Stählin, PTh 1953. 119 K. Kobold, a.a.O., S. 459 f.
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3. Die bisherige Forschung
"Geschiedensein" von Stählin auf die eigene Prägung durch die dialektische Theologie und Stählins bleibenden Bezug zur "idealistischen Jugendbewegung" zurück 120 : "Die nur 9 Lebensjahre, die uns trennen, haben in den Schicksalsjahren zwischen 1900 und 1920 ein unermeßliches Gewicht gehabt." 121 (Im gleichen Jahrgang der "Pastoraltheologie" bespricht Kunze die dritte Auflage von Stählins "Der Sinn des Leibes" und deutet die Gegnerschaft in "Analogie zum Universalienstreit": Stählins idealistischer Sicht des Leibes müsse "das 'nominalistische' Gegenbild zur Seite" gestellt werden 122 ). Auf die Auseinandersetzung mit Kunze wird im Zusammenhang der Kritik an der Berneuchener Ordnung der "Deutschen Messe" zurückzukommen sein (s. Abschnitt 4.5.2 ). Der kurze Artikel von Kunze und Kobold markiert jedoch bereits die Aufgabe, heute von der subjektiven Wertung Stählins durch die Zeitzeugen zur Auswertung des für die Praktische Theologie Bleibenden überzugehen. In seinem Geleitwort zum 1. Band von Stählins Aufsätzen (1958) markiert bereits Stählins Freund Adolf KÖBERLE die Aufgabe, Stählins Beziehungen zu den Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft sorgfältig wahrzunehmen, wenn er feststellt, "daß ihm die Korrelation Kirche und Kultur zunächst näher lag als die von Kirche und Kultus." 123 1966 schreibt Köberle über Wilhelm Stählin im Rahmen einer Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts in Porträts. Entsprechend dem Titel der Festschrift "Kosmos und Ekklesia" zum 70. Geburtstag Stählins 1953 stellt Köberle hier die Bezüge zur Natur und zur Kirche als wesentliche Punkte der Theologie Stählins heraus: "In die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg fällt Stählins eigenständige Entdeckung von Leib, Erde, Natur und Kosmos. [...] Die Kirche als der Leib Christi bedarf der leibhaften Darstellung, und
120 G. KUNZE, a.a.O., S. 460 f. 121 G. KUNZE, e b d .
122 G. KUNZE, Rezension, PTh 1953, S. 208. Seinen Gegensatz zum "Nominalismus" hatte Stählin selbst zehn Jahre vorher formuliert in: Liturgie als Entscheidung, MuK 1944, S. 4 ("kultischer Realismus" contra "nominalistische Entleerung"). Wie H.E. KELLNER, D a s theologische Denken Wilhelm Stählins, 1991, S. 506 ff. herausgearbeitet hat, geht die Entgegensetzung von Nominalismus und Realismus in bezug auf den Kultus wahrscheinlich auf Paul Tillichs Beiträge während der ersten Berneuchener Konferenzen zurück. 123 A. KÖBERLE, Geleitwort, 1958, S. 8. Zu Köberle vgl. Via Vitae, 1968, S. 194 u. 318.
3.1. Biographisch orientierte Beiträge
29
das sowohl nach der diakonischen wie auch nach der liturgischen Ausgestaltung hin." 124 Die beiden Sätze Köberles zeigen, wie die Schlüsselkategorie "Leib" in zweifacher Weise zu verstehen ist: Der Mensch läßt sich nicht denken ohne seinen Leib und die Kirche nicht ohne leibhafte Gestaltung. In diesem Doppelsinn ist unter 4.3. Stählins Theologie unter dem Leitgedanken "Leib und Leib Christi" zu entfalten. In seinem Nachruf aus Sicht der Jugendbewegung bescheinigt Wilhelm MOGGE, daß Stählin "zwar in der Jugendbewegung, doch zugleich ihr gegenüber stand." 125 Dieses Urteil kann als Ausgangspunkt für den Abschnitt 4.1. ("Leben") dienen. Die Eigenständigkeit gegenüber der Jugendbewegung parallelisiert Mogge daneben mit Stählins Position im Kirchenkampf zwischen der Bekennenden Kirche und den Deutschen Christen. 126 Zum 100. Geburtstag Stählins schreibt Johann-Friedrich MOES 1984 einen Beitrag zum Gedenken an Stählin aus der Sicht der Apostelkirchengemeinde, in der Stählin als Universitätsprediger gewirkt hatte. Moes stellt dar, wie die Apostelkirche durch Stählin zum "Ort geistlicher Erneuerung" wurde: Unter dem Einfluß Stählins mühte man sich um die glaubwürdige Feier des ganzen Gottesdienstes, so daß die "Liturgie" nicht nur als "Rahmen" für die Predigt diente. Die Apostelkirche war "der Ort, in [sie] dem neue gottesdienstliche Formen entwickelt und erprobt wurden." 127 Neben vielen wertvollen Einzelheiten zu Stählins Tätigkeit in Münster (u.a. zum "Religionsunterricht für Erwachsene" 128 ) stellt Moes auch die ökumenischen Bezüge von Stählins Abendmahlstheologie zu Recht heraus129: Die Betonung von Anamnese und Epiklese und überhaupt der Bezug zu den Gaben des Schöpfers entsprechen der ostkirchlichen Tradition. Diese hat bekanntlich kurz nach Stählins Tod ihren Niederschlag gefunden in den Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen. 130 Der Aufsatz von Moes ist damit unter den biographisch orientierten der bei weitem ergiebigste.
124 A. KÖBERLE, Wilhelm Stählin, 1966, S. 232 u. 234. Daneben stellt Köberle die Bedeutung des Symbolbegriffs für Stählin heraus (S. 233). 125 W. MOGGE, Das Menschliche bewahren, 1966, S. 167. 126 W. MOGGE, a.a.O., S. 172. Ferner lobt Mogge ausdrücklich Stählins einfache Sprache, indem dieser "die Kunst nicht schätzte, durch Umständlichkeit den Eindruck großen Tiefsinns zu erwecken" (a.a.O., S. 171). 127 J.F. MOES, Die Apostelkirche als Ort geistlicher Erneuerung, 1984, S. 265. 128 J.F. MOES, a.a.O., S. 264 f. Da Moes den Nachlaß Stählins im Praktisch-theologischen Seminar nicht kannte, vermutete er, es gäbe keine schriftlichen Quellen dazu. 129 J.F. MOES, a . a . O . , S. 2 6 7 - 2 7 0 . 130 TAUFE, EUCHARISTIE UND AMT, 4 1 9 8 3 [ 1 9 8 2 ] , E u c h a r i s t i e II, S. 1 8 - 2 6 . D e m e n t s p r e -
chen die ausführliche Anamnese und Epiklese in der Lima-Liturgie, s. Frieder SCHULZ, D i e L i m a - L i t u r g i e , 1 9 8 3 , S. 1 6 - 1 8 .
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3.2.
3. Die bisherige Forschung
Z u r Stellung Stählins in der Jugendbewegung
Unbestritten gehört Stählin zu den bedeutenden Persönlichkeiten der Jugendbewegung während ihrer zweiten Phase (in der Zeit der Weimarer R e publik). Dies gilt auch abgesehen vom kirchlich-theologischen Kontext. In den von Werner KINDT herausgegebenen "Grundschriften der deutschen Jugendbewegung" nehmen drei Schriften Stählins in z.T. nur wenig gekürzter Form rund 100 der gut 5 0 0 Seiten umfassenden Textdokumentation ein. 1 3 1 In dem inzwischen klassisch zu nennenden Werk der Geschichtsschreibung der Jugendbewegung von Walter LAQUEUR hingegen wird Stählin nur vier Mal kurz erwähnt und das mit dezidiert kritischer Grundhaltung: " D i e führenden protestantischen Denker jener Zeit verloren bald das Interesse an der Jugendbewegung, und diejenigen, die mit ihr in Verbindung blieben - wie W. Stählin und Karl Bernhard Ritter hatten nicht ganz das gleiche Format: Einige fanden das allgemeine Durcheinander in der Bewegung ihrem eigenen Zustand intellektueller Unordnung recht geistesverwandt, hatten allerdings selbst nichts Fruchtbringendes beizutragen. Kein Protestant konnte sich mit dem Katholiken Romano Guardini messen." 1 3 2 Stählin und der 1919 auf Burg Lauenstein gegründete Zusammenschluß "Jungdeutscher Bund" erscheinen bei Laqueur wesentlich als Exponenten politisch rechter Gesinnung: U.a. unter Stählins Führung "merzte man einige der extremistischen Parolen aus, während die generelle Rechtsorientierung blieb." 1 3 3 Die kritische Beurteilung Stählins durch Laqueur ist sorgfältig zu registrieren, weil hier deutlich wird, wie Stählins Äußerungen abgesehen vom innertheologischen Gespräch zu stehen kommen können. Einige Akzente mögen auch aus der Tatsache zu erklären sein, daß Laqueur sein B u c h für englische und amerikanische Leser (in englischer Sprache) verfaßte, für welche vor allem die Entwicklung zum Zweiten Weltkrieg hin zu erklären war. Einiges geht evtl. (neben dem manchmal recht journalistischen Stil 1 3 4 ) a u f 131 E s handelt sich um: Der neue Lebensstil, 1918 (W. KINDT, Grundschriften, S. 3 0 3 3 2 1 ) ; Fieber und Heil in der Jugendbewegung, 1922 (a.a.O., S. 3 7 4 - 4 2 8 ) ; Die völkische Bewegung und unsere Verantwortung, 1924 (a.a.O., S. 4 4 6 - 4 6 7 ) . 132 W. LAQUEUR, Die deutsche Jugendbewegung, 1983 [ 1 9 6 2 ] , S. 86. Richtig bemerkt dazu Erich NESTLER, Der Beitrag Wilhelm Stählins zur Jugendbewegung, 1986, S. 35, Laqueur lasse den kirchlich-religiösen Aspekt der Jugendbewegung unberücksichtigt. 133 W . LAQUEUR, a . a . O . , S. 1 2 3 ; ä h n l i c h S. 1 3 8 .
134 Vgl. z.B. S. 131 über eine Verlautbarung der Freideutschen Jugend von 1919: "In dem desorientierten Deutschland von 1919 verfaßten Poeten, Dentisten und Postinspektoren im Ruhestand absonderliche Manifeste, doch in bezug auf bare Sinnlosig-
3.2. Zur Stellung Stählins in der Jugendbewegung
31
die Übersetzung zurück. Mißlich ist es jedoch, daß für die schlimmste Stählin zugeschriebene Äußerung keine Quellenangabe gemacht wird. Eine solche Stelle ist mir bei der Beschäftigung mit den Quellen und Veröffentlichungen nicht begegnet. Über 1918/19 heißt es, betr. die "Freideutsche Jugend": "Die Führer des rechten Flügels riefen ihre Mitglieder auf, sich am Kampf gegen die Rote Armee in den baltischen Ländern zu beteiligen. Gab es denn einen Kampf, der gerechter war, einen Kampf, der mit heiligerer Überzeugung gefuhrt werden konnte als dieser Kampf gegen den Bolschewismus? fragte Wilhelm Stählin, der Theologe und künftige Bischof. 135 Gedanken in dieser Richtung sind bei Stählin nicht ausgeschlossen, da er gern die Zeit als Feldgeistlicher in Mitau erwähnte 136 und 1917 sogar von der "Siedelung in Kurland" nach dem Krieg geträumt hatte. 137 Die Sätze von Laqueur jedoch stehen in dieser Form nur belastend da, weil sie kein Zitat enthalten und ein Verstehen im Zusammenhang unmöglich machen. Das Werk von Laqueur ist in bezug auf die großen Linien ansonsten von hohem Wert: Die Hebung der gesamten Musikkultur durch die Jugendbewegung 138 und die plastische Darstellung der Führungspersonen der Jugendbewegung 139 sind hier ebenso zu nennen wie die noch heute (bzw. heute wieder) zu bedenkende Einschätzung, daß das Deutschland der Weimarer Zeit gegenüber den angelsächsischen Ländern und Frankreich ein Defizit an demokratischer Tradition aufzuweisen hatte. 140
keit überragte das Jenenser Kredo alles." Ähnlich S. 126, Anm. 1 zum österreichischen Wandervogel. 135 W. LAQUEUR, a.a.O., S. 129. Dieses Zitat wird von H.E. KELLNER, Das theologische Denken Wilhelm Stählins, Anm. 180 auf S. 660 wiedergegeben ohne Kritik am Fehlen der Quellenangabe. 136 Vgl. Via Vitae, 1968, S. 139-156; besonders S. 147 und den selbstkritischen Rückblick S. 154. 137 S. dazu den Aufsatz "Siedelung in Kurland" im Rundbrief der Feldwandervögel 1917. Nicht unwichtig dürfte in diesem Zusammenhang sein, daß Stählin erst durch die Feldwandervögel im Baltikum mit der Jugendbewegung in Kontakt kam, vgl. W. MOGGE, Das Menschliche bewahren, 1976, S. 165. 138 W . LAQUEUR, a . a . O . , S. 3 0 .
139 Ebd., S. 160-167 zu Ernst Buske, S. 184-198 zu Eberhard Köbel. Die Beurteilung von Wilhelm Hauer auf S. 121 greift allerdings zu kurz, s. dazu das Kapitel über Hauer bei Hans BUCHHEIM, Glaubenskrise im Dritten Reich, 1953, S. 157-202. Hauers Buch "Deutsche Gottschau" von 1933 meinte nicht einfach den Glauben an Deutschland; 1932 hatte Hauer ein begeistertes Buch über Gandhi geschrieben. 140 "In Deutschland glaubten weite Kreise des Bürgertums, daß die politische Demokratie ein Fremdimport sei, für deutsche Verhältnisse ungeeignet, [...]." W. LAQUEUR, a.a.O., S. 198.
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3. Die bisherige Forschung
Speziell die evangelische Jugendbewegung behandelt die Bonner Dissertation von Hans Dieter TOBOLL (1971). Toboll beschränkt sich auf die Zeit von 1919 bis 1933 und untersucht den Bund Deutscher Jugendvereine (BDJ), dessen Bundesleiter Stählin von 1922 bis 1932 war 141 , und auf den Christdeutschen Bund. Toboll stellt die Entwicklungen der Fragestellungen in der Abfolge der (zunächst jährlichen) Bundestagungen 142 dar, u.a. die Frage des Verhältnisses zur Kirche, die Älterenfrage, das Verhältnis des Bundes zur Politik. Toboll konstatiert, daß sowohl BDJ als auch Christdeutscher Bund "Führerbewegungen waren, denen eine kleine Gruppe verantwortlicher Älterer und Ältester das Gepräge verlieh." 143 So gilt: "Hatte der BDJ Clemens Schultz die entscheidenden Anregungen zu seiner Gründung zu verdanken, so prägte die Persönlichkeit Wilhelm Stählins das Bild des Bundes in der Weimarer Republik." 144 Auch aus dem historischen Abstand heraus kommt Toboll zu dem Ergebnis, daß Stählin "neue Maßstäbe für die religiöse Grundlage" im BDJ gesetzt hat. 145 Dies wird grundlegend für Stählins Heidelberger Rede "Jesus und die Jugend" 146 festgestellt. In diesem Zusammenhang arbeitet Toboll u.a. aus Stählins Briefwechsel im Rahmen des BDJ das kirchenkritische Moment seines Verständnisses des Bundes heraus: Der erschütternde Zustand der Kirche machte es Stählin unmöglich, die Jugend einfach in die Kirche zu weisen. Noch 1930, also nach vier Jahren Lehrtätigkeit in Münster, betrachtete er den Bund als "nötige Form der Ersatzkirche" 147 . Und doch ergibt sich aus Tobolls Quellenstudien, daß Stählin schließlich mit einer gewissen Resignation die Führung des Bundes abgab. In einem Brief vom 18. März 1932 beklagte Stählin: "Alle meine Versuche, wirklich zu 'fuhren', sind an dem zähen Widerstand bestimmter Oppositionsgruppen und viel mehr noch 141 H.D. TOBOLL, Evangelische Jugendbewegung 1919-1933, 1971, S. 16-153. Unberücksichtigt bleibt an dieser Stelle die frühe Darstellung des BDJ (aus der Sicht des Bundes selbst) durch Walter UHSADEL: Freier Gehorsam, 1932. Diese Schrift, die in der von Stählin mit herausgegebenen Reihe "Jugend und Gemeinde" erschien, ist als Verstehenshilfe im Abschnitt 4.1. (zu Stählins Schriften in der Jugendbewegung) heranzuziehen. 142 Die Bundestagungen sind übersichtlich zusammengestellt in der Zeittafel bei W. UHSADEL, Freier Gehorsam, 1932, S. 142 f. 143 H . D . TOBOLL, a.a.O., S. 14. 144 H . D . TOBOLL, a . a . O . , S. 150. 145 H . D . TOBOLL, a.a.O., S. 64.
146 Jesus und die Jugend, Wülfingerode-Sollstedt 1921. 147 H.D. Toboll, a.a.O., S. 74, Anm. 31. Dies entspricht der herben Kritik Stählins an gemeindlicher Realität in der Veröffentlichung Jugend und Gemeinde, 1928, z.B. S. 137.
3.2. Zur Stellung Stählins in der Jugendbewegung
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an der inneren Unentschiedenheit der meisten Pastoren nicht einmal gescheitert; wären sie doch 'gescheitert'! Sie sind von einem Brei aufgesogen worden. An einem Brei kann man nicht scheitern." 148 Neben wichtigen Einzelheiten über Stählins Bundestätigkeit zeigt Tobolls Studie die große Bedeutung Stählins für die evangelische Jugendbewegung auch abgesehen vom Urteil der selbst von der Zeit Geprägten. Zugleich wird hier deutlich, wie die Beschränkung auf die Binnenperspektive "Evangelische Jugend" zu einer ganz anderen Wertung Stählins fuhrt als die übergreifende Arbeit von Laqueur. Dieses Phänomen bisheriger Forschung ist sorgfältig zu registrieren. Zeitlich nach den Arbeiten von Laqueur und Toboll und sachlich zwischen ihnen steht die Untersuchung von Hermann GlESECKE "Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend" aus dem Jahr 1981: Hier ist die leitende Fragestellung diejenige nach der Geschichte und nach der Konzeption gegenwärtiger Jugendarbeit, dies aber nicht beschränkt auf die evangelische Jugend. Giesecke arbeitet vor allem die Spannung zwischen pädagogischem und staatlichem Anspruch in bezug auf die Jugendarbeit heraus: Bereits das Kaiserreich erklärte in einem Erlaß vom 18. Januar 1911 die Jugendpflege als eine "nationale Aufgabe ersten Ranges" und als eine "unabweisbare Pflicht". 149 Der Erlaß prägte den Begriff "Jugendpflege" und suchte die "Herausbildung einer frohen, körperlich leistungsfähigen, sittlich tüchtigen, von Gemeinsinn und Gottesfurcht, Heimat- und Vaterlandsliebe erfüllten Jugend" zu fördern angesichts einer "Art der Arbeit, bei der viele oft nur ein ganz kurzes Stück des Weges vom Rohmaterial zum fertigen Erzeugnis überschauen." 150 Für die zweite Hälfte der Weimarer Zeit könne man gar nicht mehr von einer "Jugendbewegung" sprechen: '"Die Erfindungen' der Jugendbewegung waren gemacht; was übrig blieb, war eine massenhafte Organisation auf der Grundlage jener Erfindungen. [...] Nun wurde der Kampf der Erwachsenen um die Jugend allgemein, die Selbstbestimmung wird zur Integration benutzt." 151
148 Zitiert nach H D. TOBOLL, a.a.O., S. 109 f. Dies sind deutlich andere Töne als in Via Vitae, 1968, S. 310-313. 149 H. GIESECKE, Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend, 1981, S. 63. 150 H. GIESECKE, a.a.O., S. 65, aus Punkt 1. und 6. des Erlasses. Die 20 Punkte des Erlasses sind bei Giesecke auf S. 65-69 vollständig dokumentiert. Neben der allzu deutlichen Absicht der Förderung vaterländischer Gesinnung (Punkt 11.: Kriegsgeschichte in der Jugendpflege) steht auch ein gewisses pädagogisches Verständnis (Punkt 13.: Anteil der Jugend an der Leitung der Vereine). 151 H. GIESECKE, a.a.O., S. 141.
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3. Die bisherige Forschung
Stählin wird in Gieseckes Untersuchung nicht eigens herausgestellt, aber die Bündische Jugend und speziell der BDJ werden in das beschriebene Spannungsfeld eingeordnet, ihre politischen Auswirkungen sehr kritisch gewertet: "Die Mitglieder der Bünde waren ganz überwiegend Gymnasiasten und Studenten. [...] Die bündische Gemeinschaft wurde als Vorform einer späteren, besseren Gesellschaft verstanden. In ihr wollte man reif werden, bis das Volk ruft. Als politisches Erziehungsideal war diese Vorstellung irreal und gefährlich. [...] Die Bünde waren mehr oder weniger rassistisch und antisemitisch." 152 Die von Giesecke allgemein konstatierte soziale Schichtung trifft für den BDJ übrigens nicht zu. Aufgrund seiner Geschichte (Herkunft aus Konfirmiertenvereinen in Hamburger Arbeitergemeinden 153 ) war die Mehrzahl der Mitglieder Arbeiter oder Handwerker: 1922 62%, 1925 47,5%, 1928 57,5%. Unter den weiblichen Mitgliedern war die Mehrzahl Haustochter/Hausangestellte oder Arbeiterin: 1922 76%, 1925 57%, 1928 62,5%. (Insgesamt gehörten zum BDJ 1922 17.800 Mitglieder, 1925 16.332 und 1928 19.377.) Etwa zwei Drittel gehörten zu den 14-17-Jährigen, ein Drittel zu den 18-25Jährigen. Die Mitgliederzahl verteilte sich etwa gleichmäßig auf beide Geschlechter: Im Februar 1933 gehörten 10.140 Jungen/Männer und 10.405 Mädchen/Frauen zum BDJ. 154 Dies zeigt, wie die Arbeit von Giesecke einerseits in die größeren Zusammenhänge hineinführt und ein kritisches Instrument bei der Interpretation der Schriften Stählins zur Jugendbewegung darstellt; andererseits ist die Wirklichkeit im einzelnen doch wesentlich differenzierter zu beschreiben, als es Gieseckes Urteil über "die" Bünde erscheinen läßt. Bedenkenswert bleibt darüber hinaus Gieseckes These, daß die staatliche Jugendpflege mit dem dezidierten Interesse an einer "gesunden Jugend" und dem Feindbild von "Schmutz und Schund" und der "Verführung der Jugend" dazu beigetragen habe, "den Boden dafür zu bereiten, daß die 'moralischen Verderber' mit einer Minderheit - den Juden - später wirkungsvoll identifiziert wurden." 155 Diese (überspitzte) These ist nicht unwichtig für die Beurteilung der lebensreformerischen Anklänge in Stählins frühen Schriften. 152 H. GIESECKE, a.a.O., S. 96. 1 5 3 Vgl. dazu die sehr eindrückliche Schilderung bei Walter U H S A D E L , Freier Gehorsam, 1932, S. 8-63. Den Bundesgründern Clemens Schultz und Walter Classen ging es wesentlich um die Bekämpfung der Schäden der "sozialen Schuld", vgl. W. U H S A D E L , a.a.O., S. 2 6 . 154 Zahlen nach H D. TOBOLL, Evangelische Jugendbewegung 1919-1933, 1971, S. 111 f. 1 5 5 H . GIESECKE, a.a.O., S. 1 5 2 .
3.2. Zur Stellung Stählins in der Jugendbewegung
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Die Beurteilung von Stählins Schrift "Die völkische Bewegung und unsere Verantwortung" durch Klaus SCHOLDER, einen ausgewiesenen Kenner der Texte der "politischen Theologie" im "3. Reich" und dessen Vorfeld, läßt Stählin jedoch in eher gutem Licht dastehen. Scholder bescheinigt Stählin den "Versuch, politische Verantwortung wahrzunehmen, ohne einer politischen Theologie zu verfallen." 156 Mit seiner Rede von der unüberbrückbaren Verschiedenheit zwischen Christentum und völkischer Bewegung habe Stählin "den Kern der politischen Theologie" getroffen. 157 Scholder bilanziert: "Stählin ging hier den Weg, der fast als einziger möglich und denkbar erscheint, so unbefriedigt er auch heute noch läßt und vermutlich schon damals ließ." 158 Dieses differenzierte Urteil Scholders kann als Leitlinie zur Interpretation seiner politischen Stellungnahmen vor und nach 1933 dienen. Es sei schon hier vorweggenommen, daß sich der von Scholder formulierte zwiespältige Eindruck bei den meisten von Stählins völkischen und politischen Äußerungen bestätigt. Im einzelnen werden die Texte besonders im Abschnitt 4.2.1. zu behandeln sein. Die neueste Arbeit zu diesem Themenbereich ist zugleich die bedeutendste, da es sich um die erste Monographie zu Wilhelm Stählin handelt: Die Dissertation von Erich NESTLER, Der Beitrag Wilhelm Stählins zur Jugendbewegung, 1986159. Die Arbeit zielt auf die Einordnung von Stählins Schriften zur Jugendbewegung, daneben aber auch auf die Theologie des jungen Stählin. Die Bibliographie 160 ist für die zwanziger Jahre um Vollständigkeit bemüht, es liegen jedoch keine Archivstudien zugrunde. Nach einem biographischen Abriß (I, S. 5-30, wesentlich nach Via Vitae, 1968) und einer Skizze zum Bild der Jugendbewegung in der Literatur (II, S. 31-59) werden Jugendbewegung und Religion (III, S. 60-95), Stählins theologische Positionen (IV, S. 96-139) sowie seine pädagogischen Ansätze für eine christliche Jugendarbeit (V, S. 140-173) und schließlich seine didaktisch-methodischen Grundsätze für Erziehung und Unterricht (VI, S. 174-191) dargestellt. Wichtig sind vor allem die letzten beiden Kapitel, weil sie unmittelbare Vorarbeit für die Beschreibung von Stählins Praktischer Theologie leisten; besonders sorgfältig sind daneben die theoretischen Überlegungen zur Jugendarbeit und Jugendbewegung (S. 42-59 über die verschiedenen Phaseneinteilungen der Jugendbewegung, S. 60-95 u.a. reli156 157 158 159
K. SCHOLDER, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. I, 1985, S. 139. K. SCHOLDER, a.a.O., S. 138. Ebd. Es handelt sich um eine Arbeit an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth. Der Textteil umfaßt genau 200 Seiten. 160 A.a.O., S. 226-238. Die folgenden Seitennachweise werden in Klammern im Text vermerkt.
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3. Die bisherige Forschung
gionssoziologische und kulturgeschichtliche Aspekte zum Thema Jugendbewegung und Religion). Nestler grenzt die "Jugendbewegung" sachlich und zeitlich (1896-1933) von der "Jugendarbeit" ab (S. 32), aber auch von anderen Bewegungen (wie z.B. "Sturm und Drang", S. 36-40). Stählin habe eine dreiphasige Sicht der Jugendbewegung vertreten (Wandervogel - Anfang der bündischen Phase Kulturbejahung in zweiter bündischer Phase), ohne an dieser Frage besonderes Interesse gezeigt zu haben (S. 46). Nestler wertet die Entwicklung als soziologisch folgerichtig 161 , was Stählin noch nicht habe sehen können (S. 55 f.). Dem wird im wesentlichen zuzustimmen sein. Schon die Wandervogelgruppen hätten als letztlich den Normenkonsens stabilisierende Subkulturen fungiert (S. 70). Stählins Jugendarbeit sieht Nestler "ganz auf der Linie der Reformpädagogen." (S. 76) Das Besondere an Stählins Zuordnung von Jugendbewegung und Kirche liegt für Nestler darin, daß Stählin "[...] einen Ansatzpunkt in der Erfahrung der Jugendlichen fand, der es ihm ermöglichte, in einer verständlichen und für manche sicher einleuchtenden Weise das zu dolmetschen, was Kirche ist bzw. sein sollte." (S. 94) Das folgende Kapitel über Stählins theologische Positionen (S. 96-139) ist insofern nicht besonders ergiebig, da hier hauptsächlich auf Stählins Verwurzelung im Liberalismus rekurriert wird, ohne die sich in den zwanziger Jahren abzeichnenden Veränderungen stärker herauszuarbeiten. Ganz anders als in der noch zu besprechenden Monographie von Kellner ist hier von einer theologischen "Wende" nicht die Rede (worin übrigens Nestler gegen Kellner eher zuzustimmen ist, was sich im Verlauf dieser Untersuchung noch zeigen wird). Als Begründung für die christliche Erziehungsaufgabe bei Stählin werden drei Ansätze herausgearbeitet: Nächstenliebe, allgemeines Priestertum, Leib-Christi-Gedanke (S. 145 f.). Hier ist die Basis der einen herangezogenen Veröffentlichung Stählins allerdings zu schmal, und es werden sich noch andere Begründungen nachweisen lassen. Festzuhalten bleibt Nestlers Bilanz, daß Stählin ein besonderes Wirken Gottes im Erziehungsgeschehen annimmt und "Gott" nicht nur eine Chiffre für "Natur" ist (S. 154-158). Dies klingt zwar für einen Theologen wie eine Selbstverständlichkeit, wird aber von Nestler im Kontext des reformpädagogischen Denkens eigens herausgestellt; Stählins Erziehung aus dem Glauben hoffe auf eine "echte Wandlungsmöglichkeit" (S. 157). Auf den Begriff der "Wandlung" wird im Zusammenhang des Lebensbegriffs (s.u. 4.1.4.) in der Tat besonders einzugehen sein.
161 "Denn je größer eine Organisation wird, um so konformistischer muß sie den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen [...]" (S. 55 f.).
3.3. Stählin innerhalb von Berneuchen, Liturgik und Praktischer Theologie
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Interessant ist die religionspädagogische Einordnung Stählins durch Nestler: Da er "primär die indirekte Methode in der religiösen Verkündigung" bevorzuge (S. 174) und die Lebenswirklichkeit des Schülers thematisiert sehen wolle (S. 180), wird er Richard Kabisch zugeordnet, der damals hauptsächlich der "Evangelischen Unterweisung" gegenüberstand (S. 183). So kommt Nestler schließlich zu dem Urteil: "Jugendlichen, die dem kirchlichen Leben und vielleicht dem Christentum überhaupt innerlich entfremdet waren, wurde er zum Wegweiser auf Christus hin, weil es ihm gelang, die Zeit- und Lebensfragen junger Menschen aufzugreifen und deren Transparenz für den Glauben zu erschließen. Jahrzehnte vor der Erfindung des 'problemorientierten' schulischen Religionsunterrichts praktizierte Stählin eine 'problemorientierte' Jugendarbeit." (S. 192) Darauf wird später (s.u. die Abschnitte 5.1. und 5.2.) zurückzukommen sein. Etwas zu sehr an der Oberfläche bleiben hingegen die Urteile über Stählins völkische und politische Einstellung (S. 81, Anm. 22: "die gefährliche Denkschablone ('Blut', 'Boden', 'Volk' etc.) blieb erhalten.") 1 6 2 . Hier wird zu zeigen sein, daß Stählins - in der Tat zu Kritik Anlaß gebenden - Äußerungen demselben "problemorientierten" Bemühen um "Transparenz für den Glauben" entspringen, das Nestler am Schluß des Buches positiv bewertet (s.u. Abschnitt 4.2.1.). In jedem Fall jedoch hat Nestler eine Grundlage geschaffen für die Verhältnisbestimmung von Jugendbewegung und dem Denken des frühen Stählin.
3.3. Zur Beurteilung Stählins innerhalb von Berneuchener Bewegung, Liturgik und Praktischer Theologie Schon früh regte sich die Kritik am Berneuchener Buch: Rudolf Bultmann schrieb an Karl Barth am 26. Mai 1927:
162 Die Rückführung von Stählins politischen Irrtümern auf die Schöpfungstheologie und den Gegensatz zur Dialektischen Theologie (S. 171 f.) ist verfehlt, weil hier gerade das Eigentümliche in Stählins Theologie liegt. DaD Stählin eine "Theologie der Schöpfungsordnungen" vertreten habe (S. 194), gilt so seit 1933 nicht mehr (s.u. Abschnitt 4.2.1.). - Weiter ist kritisch anzumerken, daß Nestler zwar mehrfach "die Phänomenologie" als für Stählin bedeutend nennt (S. 11, 115, 148 Anm. 5), aber keinen philosophischen Gewährsmann nennt (s.u. den Exkurs zu Stählin und Max Scheler). - Kleine Ungenauigkeiten: Stählins Schrift "Der neue Lebensstil" erschien zuerst 1918, nicht 1919 (S. 1, Anm. 1); Stählins Dissertation wurde 1913,nicht 1914 veröffentlicht (S. 7); Stählin und Barth erhielten zwar tatsächlich beide 1925 den Ruf nach Münster, Stählin begann aber erst im Sommer 1926 dort zu lehren.
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"[...] das Ganze ist ein so elender Kitsch u. enthält so alberne Deklamationen, zeichnet sich aus durch eine absolute Ahnungslosigkeit von der Reformation [,..]" 163 Genau den sachlichen Kern der späteren Auseinandersetzungen traf schon 1 9 2 7 der junge Wolfgang TRILLHAAS mit seiner Besprechung des Berneuchener Buches in den "Theologischen Blättern": das Denken von "Symbol" und "Gleichnis" untergrabe das Eigentliche am christlichen Glauben: "Man sieht, alles Vergängliche wird 'symbolkräftig' und zum Gleichnis in dem Maße, als das Exzeptionelle der christlichen Botschaft, Wort und Sakrament, der Gehorsam unter die konkrete Verkündigung der Sündenvergebung sich in Allgemeinheiten verflüchtigt." 164 Genaueres zum Berneuchener Buch ist an dieser Stelle nicht auszufuhren. Merkwürdig und eigentümlich ist es jedoch für Stählin, daß er - anders als die Berneuchener insgesamt - zeitlebens an den Begriffen "Symbol" und "Gleichnis" festgehalten hat, als andere schon wieder davon abgerückt waren: Beide Begriffe tauchen noch in dem Titel des umfangreichen Aufsatzbandes "Symbolon. Vom gleichnishaften Denken" ( 1 9 5 8 ) auf. Unter 4 . 2 . 2 . wird die Stählinsche Begrifflichkeit in diesem Zusammenhang kritisch zu hinterfragen sein.165 Massiv wurde bald die Kritik an Stählins "Gottesjahr". Zum Jahrgang 1934 (Thema: Jesus Christus) bemerkte Werner RAU über die im Abendmahl betonten kosmischen Aspekte, hier werde die Sündentheologie verdrängt "zugunsten einer griechischen Sterblichkeits- bzw. Unsterblichkeitstheologie". 166 Stählins Artikel über die Heiligung des Brotes durch Christus grenze "an gnostisierende, mit der Anthroposophie verwandte Gedankengänge." 167 Rau, ein cand. theol. aus Tübingen168, hält schließlich schon die Absetzung
163 K . B A R T H / R . BULTMANN, B r i e f w e c h s e l 1 9 2 2 - 1 9 6 6 , 1 9 7 1 , S. 7 3 .
164 W. TRILLHAAS [Rez. zu:] Das Berneuchener Buch, ThBl 1927, Sp. 179. 165 Das berüchtigte "Barathrum" in den "Theologischen Blättern" erspürte schon damals (in demselben Heft, worin auch Trillhaas seine Besprechung plazierte) den Anteil TILLICHS am Begriff des "Symbols" im Berneuchener Buch: Es spottete über den "Symbolcharakter der Geschichte" (ThBl 6/1927, Sp. 181): "Hoc non a Reformatoribus, sed a Schellingio dedicisti." Zu der persönlichen Freiheit bei Luther nach dem Berneuchener Buch heißt es ebd.: "Evangelium illud quidem Martinus Lutherus revelavit, vitam autem personalem Johannes Muellerus invenit." Zu Müller, der in der Tat einige Zeit Einfluß auf Stählin ausgeübt hatte (s. Siedelung in Kurland, 1917, S. 4), vgl. 3 RGG Bd. IV, 1960, Sp. 1170 f. 166 W. RAU, Das Gottesjahr 1934, 1934, S. 182. 167 Ebd., S. 183. 168 Nach der Anschrift in MGKK 39/1934, S. 208. Nach einem Brief von Richard GÖLZ, Herausgeber der MGKK, an Stählin vom 9. 7. 1934 hatte Gölz selbst den Tübinger Kandidaten Rau um den Beitrag gebeten, weil er als Alpirsbacher (von Karl Barth
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des "Gottesjahres" von der dialektischen Theologie für eine Art Sakrileg, indem er anmerkt, daß "die Berneuchische 'christliche Heilsphilosophie' nicht den Vergleich wagen sollte mit einer Theologie, die [...] das Evangelium von Sünde und Gnade ausrichten möchte [...]". 169 Stählins Artikel "Das Blut Jesu Christi" im "Gottesjahr 1934" sei "nichts anderes als das, was in anderer Art bei den Deutschen Christen uns entgegentritt." 170 Die Auseinandersetzung zwischen Stählin und Gölz/Rau markiert die immer evidenter werdende Trennung der Berneuchener und Alpirsbacher liturgischen Bewegungen: "Zu unseren Alpirsbacher Wochen kommen immer Leute, die Entscheidendes dem theologischen Lehrer Barth verdanken. Einer der schärfsten Barthianer Württembergs, Pfarrer Schempp, wird uns in der Osterwoche das Hauptreferat halten." 171 Nicht ganz so vehement, aber theologisch ebenso schwerwiegend kritisierte 1937 Paul R E I N H A R D T das Stählinsche "Gleichnisdenken" (zum "Gottesjahr 1937", unter der Überschrift "Menschen unter Gott"). Stählins Rechtfertigungslehre mit der Betonung des Heiligungsprozesses erinnere an das Tridentinum. 172 Bei Stählin sei die "menschliche Sündhaftigkeit" nicht so beachtet, "wie es einer evangelischen Theologie wesentlich ist." 173 Letztlich gehe es hier um die analogia entis, indem das "Gottesjahr" versuche, "selbständig Gottes Ordnungen aus der Natur zu erschauen." 174 Diesen frühen Auseinandersetzungen kommt insofern ein wichtiger Stellenwert zu, als damit die Wahrnehmung Stählins und der gesamten Theologie der Berneuchener durch die von Karl Barth und seinen Weggenossen geprägte Theologie faktisch beendet ist. Von nun an firmiert Stählin wesentlich als Liturgiker. In den rund 10.000 Seiten von Barths "Kirchlicher Dogmatik" wird der ehemalige Münsteraner Kollege Stählin (dem Register zufolge)
beeinflußte liturgische Bewegung) "mit der Berneuchener 'Theologie' [...] nicht so recht mitkonnte und mitkann [...]. Ich hätte natürlich Manches nicht so ausgedrückt wie Werner Rau; aber im Ganzen ist das, was er sagt, auch mein Anliegen." Stählin waren Raus Artikel und Gölz' Brief "ein aufrichtiger Schmerz" und standen ihm für die "hoffnungslose Unfähigkeit [...], über ein enges Schienengeleise hinaus" zu denken (Brief ohne Datum, Briefwechsel betr. MGKK). 169 W. RAU, a.a.O., S. 183. 170 W. RAU, a.a.O., S. 186. Stählin reagierte mit dem Nachweis falscher Zitation durch Rau und in großer Wut: "[...] ich es auch ablehne, mich mit Rau zu unterhalten." (Noch einmal: "Das Gottesjahr 1934", 1935, S. 105.) 171 Brief von Gölz an Stählin vom 10. 4. 1935 (Briefwechsel mit MGKK). 172 P. REINHARDT, Gleichnisdenken?, 1937, S. 98. 173 P. REINHARDT, a.a.O., S. 99.
174 P. REINHARDT, a.a.O., S. 104 (Zusammenfassung).
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3. Die bisherige Forschung
nicht ein einziges Mal erwähnt, über die Berneuchener und das Berneuchener Buch gibt es je eine kritische Aussage. 175 Die liturgische Auseinandersetzung mit Stählin und den Berneuchenern führte schon früh Gerhard K U N Z E . Sein "Gespräch mit Berneuchen" 1938 war in der Tat ein - sehr sorgfaltiges - Gespräch mit der 1937 erschienenen "Ordnung der Deutschen Messe", die Stählin zusammen mit Karl Bernhard Ritter und Ludwig Heitmann im Auftrag des Berneuchener Kreises herausgegeben hatte. Diese Kritik wird später im Zusammenhang des Abschnitts 4.5. ("Liturgie") genauer aufzunehmen sein. An dieser Stelle ist jedoch schon auf die unterschiedlichen Standpunkte Stählins und Kunzes hinzuweisen. Dachte Kunze streng liturgiehistorisch und suchte die Formen der Alten Kirche und der Reformation wiederzugewinnen, so brachte Stählin den Impuls aus der Jugendbewegung mit, daß Ritualisierungen und damit auch die Liturgie gegenwärtigem Empfinden und Erleben Gestalt und nur so Richtung geben können. Dies führte in der Frühzeit der Berneuchener zu inzwischen sehr ungewohnten Mischformen von Gegenwartserfordernissen und kirchlicher Tradition, z.B. in Wochensprüchen wie "Güte muß Kanten haben" im "Gottesjahr". 176 Kunzes "Gespräch mit Berneuchen" markiert die Auseinandersetzung in der evangelischen Liturgik zwischen historisch bestimmten und von der Jugendbewegung beeinflußten Ansätzen, in welcher die jugendbewegten in der Entwicklung nach 1945 aus vielerlei Gründen das Nachsehen hatten. Die unterschiedlichen Ansätze hat Kunze schon 1935 in einem Beitrag für die "Pastoralblätter" zum Ausdruck gebracht. Stählins Äußerung, das Fasten vor Ostern sei auch physiologisch sinnvoll, weil "der Organismus nach den winterlichen Monaten einer Reinigung bedarf' 177 , bewertete Kunze folgendermaßen: "Ich habe immer gemeint, Fasten sei Askese; hier werde ich belehrt, es sei eine Diät! [...] noch einmal ganz von vorn, mit erwachtem Mißtrauen: 'Kein Zweifel, alles in Ordnung, hier ist ein Blitz aus heiterem Himmel, eine Reminiszenz an anthropologische Querschläger im BdJ oder so etwas. Lassen wir es ungesagt sein!' 175 K. BARTH, Kirchliche Dogmatik 1,1 [1932], S. 64, erwähnt ironisch "die feierliche Frage der Berneuchener" nach der "Symbolkraft"; Kirchliche Dogmatik IV,4 [1968], S. SO wird es abgelehnt, nach dem Zusammenhang von 1. und 2. Schöpfung vom Taufwasser her zu fragen: Es lohne nicht die "Auseinandersetzung mit van der Leeuw, mit den Berneuchenern und ähnlichen geistreichen Zeitgenossen!" 176 Vgl. dazu Via vitae, 1968, S. 359 und dazu Hans Carl v o n H A E B L E R , Geschichte der Evangelischen Michaelsbruderschaft, 1975, S. 220: "Bald merkte man, daß solche Worte wohl anregend und tiefsinnig waren, aber einer immer wiederholten Meditation nicht standhielten. An dem Versuch, mit eigenen Worten die Botschaft jedes Sonntags auszusagen, ist Stählin gescheitert. [...] Seit 1927 ist dieser Übergang zum Schriftwort sichtbar [...]". 177 Das Kirchenjahr. Eine Denkschrift, 1934, S. 48.
3.3. Stählin innerhalb von Berneuchen, Liturgik und Praktischer Theologie
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D. Stählin wird das nicht begreifen können, so wenig, wie er den 'Kandidaten Rau' begriffen hat, dem er neulich in der MGKK eine Abfuhr von geradezu professoraler Verständnislosigkeit erteilt hat [...] Man kann auch zu viel Weitschaft in der Aufnahme fremder, zu viel Bereitschaft zur Annahme wesensfremder Gedanken beweisen. Alles ist euer, gewiß; aber nicht alles frommt." 178 Ebenso kritisierte Kunze im "Gespräch mit Berneuchen" die um Gegenwartsnähe bemühte Fassung der "Deutschen Messe", etwa diejenige des "Opfergangs": "Bibelstellen, älteste liturgische Stücke und merkwürdig pädagogische Expektorationen allerneuester Provenienz stehen traulich beieinander." 179 In der Tat klingen die Formulierungen der "Ordnung der Deutschen Messe" inzwischen, nach über 50 Jahren, sehr merkwürdig ("Opfert Gott Dank/und bezahlet dem Höchsten eure Gelübde/Wohlzutun und mitzuteilen vergesset nicht/denn solche Opfer gefallen Gott wohl" 180 ; das Brot ist "Nahrung/für uns geopfertes Leben" und "der Wein empfängt in der Läuterung Kraft und F e u e r " 181) Die früh einsetzende Debatte um den liturgischen Ansatz der Berneuchener Ordnungen ist von großer Bedeutung für die Entwicklung der Liturgik nach dem 2. Weltkrieg bis heute. Konnten sich die "jugendbewegten" Anteile etwa in der "Ordnung der Deutschen Messe" nicht durchsetzen, so ist die große Bedeutung des Abendmahls in der Wirklichkeit der Gemeinden heute nicht mehr wegzudenken, die "Erneuerte Agende" enthält als Grundform I des Gottesdienstes eine Meßform, zu der ein kürzerer oder sogar besonders entfalteter "Opfergang" gehört. 182 Aufgrund der theologischen Gesprächslage im Kirchenkampf und nach dem 2. Weltkrieg wurde das Anliegen Stählins und der Berneuchener nach dem Einbeziehen der Natur in die Liturgie zunächst kaum mehr gehört. Breit gewürdigt als Theologe und als Liturgiker wird Stählin 1952 in dem von Liemar HENNIG herausgegebenen Buch "Theologie und Liturgie", das auf eine Anfrage aus Japan zurückgeht, wo der theologische Gesprächsfaden mit Deutschland seit 1938 praktisch abgerissen war. Der Beitrag über den Gottesdienst von Karl Ferdinand MÜLLER wuchs sich zu einer großen 178 Manuskript im Briefwechsel mit MGKK, S. 1/2. 179 G. KUNZE, Gespräch mit Berneuchen, 1938, S. 23. Kunze hielt die Wiedergewinnung des Offertoriums überhaupt für unmöglich, a.a.O., S. 29 f. 180 Ordnung der Deutschen Messe, 2 1937, S. 16. Wie schon Kunze, a.a.O., S. 23 anmerkte, ist dieser Satz aus Ps 50,14 und Hebr 13,16 gebildet. 181 Ordnung der Deutschen Messe, 2 1937, S. 17. 182 Erneuerte Agende, 1990, S. 38; S. 116 ff. wird die "Variante C2" beschrieben ("Besonderheit: Vorbereitung entfaltet").
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3. Die bisherige Forschung
Monographie aus als "Beitrag zur Frage nach den theologischen Grundlagen des Gottesdienstes und der liturgiegeschichtlichen Entwicklung in der Gegenwart" (so der Untertitel). 183 Müller beschreibt die kirchlichen Erneuerungsbewegungen (u.a. Berneuchen, Alpirsbach, Singbewegung und die liturgischen Erfahrungen im Kirchenkampf, S. 261-281) sowie die Neuordnungen der Gottesdienste und des Gesangbuches (S. 281-325). Der umfangreiche einleitende Teil (S. 208-260) aber steht unter der Überschrift: "Der Beitrag aus der gegenwärtigen Theologie unter besonderer Berücksichtigung von Karl Barth und Wilhelm Stählin". Hier wird nicht nur die Lehre vom Gottesdienst bei Barth und Stählin verglichen, sondern auch systematischtheologisch die Christologie. Müller entwirft folgende Skizzierung: Zur Lehre von der Gegenwart Christi (S. 208-231) Karl Barth
1. Person Jesu Die Person Jesu und die Zeit, S. 208-213 2. Kirche als Die Kirche als Leib Leib Christi Christi und das Zeichen, S. 218-222 3. Wort und Wort und Sakrament Sakrament als Zeichen der Verkündigung, S. 225227
W i l h e l m Stählin
Die Person Jesu und das Mysterium, S. 214-218 Die Kirche als Leib Christi und das Problem der Verleiblichung, S. 222-225 Wort und Sakrament als Erscheinungsformen des Mysteriums, S. 227-231
Unterschiedliche Akzente bei Barth/Stählin λογος/σαρξ Rangordnung/Verbundenheit von Christus und Kirche Oberbegriff "Verkündigung'VOberbegriff "Mysterium"
Müller geht aus von Barths analogia relationis, die dieser in der Schöpfungslehre von der analogia entis abgesetzt hatte, sowie von Barths Auslegung des Chalcedonense (S. 208 f.). Mit dem "unvermischt und ungetrennt" entgehe die Liturgie sowohl der Gefahr der Identität (analogia entis) von Form und Inhalt als auch dem Nebeneinander, d.h. der Mißachtung der Form (S. 212). Das liturgische Handeln in der Zeit gebe Anteil an Christus als der Mitte der Zeit (S. 213). Dem entspreche Stählins Rede vom Mysterium als der Rede vom göttlichen Geheimnis "in, mit und unter" den Dingen dieser Welt (S. 216). Die Konzeption Stählins habe "etwas nicht weniger Eindrucksvolles und Geschlossenes als die von Karl Barth": "Sowohl bei Barth wie bei Stählin ist alles Denken und Handeln von Christus her bestimmt und auf Christus bezogen. Allein die Gegenwart des gekreuzigten und auferstandenen Herrn ist die 183 K.F. MÜLLER, Die Neuordnung des Gottesdienstes in Theologie und Kirche, 1952, S. 197-339. Seitenzahlen in Klammern im folgenden Text beziehen sich auf diesen Beitrag.
3.3. Stählin innerhalb von Berneuchen, Liturgik und Praktischer Theologie
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Mitte und der Inhalt alles liturgischen Geschehens. Bei beiden ist der Gottesdienst ein ausschließlich eschatologisches und höchst reales Ereignis, durch das Gottes Wirklichkeit und Zeit in die irdische Geschichte hineinwirkt, sie formt und gestaltet." (S. 216) Der entscheidende Unterschied bestehe aber darin, daß bei Barth der Akzent mehr auf λογος liegt, bei Stählin stärker auf σαρξ, dies stellt Müller in genauen Textvergleichen zum Begriff "sakramental" bei Barth und Stählin fest (S. 216-218). Wesentlich bei Barths Ekklesiologie sei, daß das Verhältnis von Kirche und Christus unumkehrbar bleibe (Unterscheidung von gratia unionis und gratia adoptionis, S. 220). Stählins Hauptinteresse an der Kirche sei die Verleiblichung des Mysteriums: "Es gibt neben Barth kaum einen Theologen, dessen gesamtes Denken und Handeln so auf die Kirche ausgerichtet ist wie Stählin." (S. 223) Aufgrund seines Interesses an der Sinnenhaftigkeit der Kirche gehe es Stählin weniger um die Rangordnung von Christus und Kirche, sondern um die Verbundenheit von göttlicher und irdischer Wirklichkeit des Leibes Christi. Zusammenfassend fragt Müller, "ob Stählin die lutherische Formel des 'in, mit und unter' durch die altkirchliche des 'unvermischt' und 'unzertrennt' so zu sichern vermag, daß die Form mit der Sache nicht verwechselt werden kann, während die Frage an Barth ist, ob bei ihm die lutherische Formel in der altkirchlichen so aufgehoben ist, daß die Form auch praktisch ein so unveräußerlicher Wesensteil der Sache ist und mit ihr eine Einheit bildet, [...]." (S. 224 f.) Auch bei Wort und Sakrament ergebe sich eine analoge unterschiedliche Akzentsetzung: Auch Barth hebe anders als der Neuprotestantismus die Bedeutung des Sakraments hervor, indem Predigt wie Sakramente Gestalten der "Verkündigung" als Oberbegriff seien, der Akzent aber liege auf der Predigt, deren Botschaft das Sakrament als "Zeichen" beigeordnet sei (S. 225 f.). Bei Stählins "Mysterium" als Oberbegriff stehe die geheimnisvolle Verbundenheit Gottes mit dem (kultisch, leibhaftig verstandenen) Wort wie mit dem Sakrament im Vordergrund. Auch hier liege der Akzent wieder auf dem Ineinander und Miteinander von himmlischer und irdischer (leibhaftiger) Wirklichkeit (S. 228). Das ausführliche Gespräch mit Barth und Stählin sei gefuhrt worden, so Müller, "weil beide Männer eine entscheidende Bedeutung für die Theologie und Liturgie der Kirche haben", und weil von ihrer Christologie her "das Problem von Form und Inhalt, Gestalt und Gehalt" als Grundfrage der Liturgik in den Blick komme (S. 230). Im folgenden stellt Müller den Gottesdienst als "Opus Dei" bei Karl Barth und als "Lob- und Dankopfer" bei Stählin gegenüber (S. 231-246). Vor allem wird das Vorurteil abgewiesen, Barth habe gar kein Interesse an der
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3. Die bisherige Forschung
Gottesdienstgestaltung gehabt, denn auch für Barth sei der kirchliche Gottesdienst "das Wichtigste, Dringlichste und Herrlichste" gewesen, weil dort primär das Werk des Heiligen Geistes und kein Menschenwerk geschehe (S. 237). 184 Hierbei geht Müller vor allem von Barths Schrift "Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischem Verständnis" (1938) aus. 185 Auf Barths Gottesdienstverständnis nach Müller ist in diesem Zusammenhang nicht weiter einzugehen. Bemerkenswert ist auf jeden Fall die Vorgehensweise Müllers: Barth und Stählin werden wie sonst nirgends in der theologischen Literatur auf eine Stufe gestellt - was zunächst für Barth in bezug auf die Liturgik wundern mag, ebenso aber für Stählin in bezug auf die Systematische Theologie. Dort scheint Stählin grundsätzlich ein Unbekannter zu sein, sieht man vom engeren Kreis der Berneuchener 186 einmal ab. Auf Müllers Darstellung der Theologie Stählins als einer solchen, die von Christologie, Ekklesiologie und dem systematischen SchlüsselbegrifF "Mysterium" herkommt, wird bei der Beschäftigung mit Stählin nicht verzichtet werden können. An dieser Stelle ist aber noch die Liturgik Stählins nach K.F. Müller zu skizzieren. Müller geht noch einmal aus vom Gegenüber zu Barth: Was für diesen die Verkündigung als Lebenselement der Kirche bedeutet, "bedeutet für Stählin die Liturgie in umfassendem Sinn als Lebensform der Kirche" (S. 238). Stählin gehe es um das frühkirchliche, reformatorische und ökumenische Erbe im Gottesdienst. Das Verständnis des Gottesdienstes bei Stählin sei - christologisch - trinitarisch - sakrifiziell - eucharistisch - eschatologisch. Der "sakrifizielle" Aspekt, das Lob- und Dankopfer, nimmt in Müllers Darstellung als der gegenwärtig strittigste Punkt den breitesten Raum ein: "Die Opferfrage ist der neuralgische Punkt, an dem das Verhältnis von göttlichem 184 Friedemann MERKEL rechnete Barth 1986 sogar "unter die großen evangelischen Liturgiewissenschaftler". Barth habe nur etwas gegen die Meß tradition gehabt, sei aber nicht etwa gleichgültig gegenüber dem Abendmahl gewesen. Auch für Barth sei der Gottesdienst "die zentrale Mitte, das wirkliche und wirkende, Gemeinschaft stiftende und sie erhaltende Ereignis" gewesen (F. MERKEL, Karl Barth und der kirchliche Gottesdienst, 1992 [1986], S. 149-166, Zitate S. 165 und 159). 185 Es handelt sich um Vorlesungen Barths über das Schottische Bekenntnis von 1560, gehalten an der Universität Aberdeen 1937/38, vgl. dazu F.MERKEL, a.a.O., S. 155 f. 160. 166. 186 F. MERKEL, Liturgische Bewegungen im 20. Jahrhundert, 1992 [1983], S. 126, nennt als Systematiker aus den Berneuchenern Friedrich Karl Schumann und Adolf Köberle neben den in dieser Arbeit noch mehrfach zu nennenden Praktischen Theologen Leopold Cordier, Otto Haendler und Walter Uhsadel, daneben noch Heinz-Dietrich (nicht K.D.) Wendland.
3.3. Stählin innerhalb von Berneuchen, Liturgik und Praktischer Theologie
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und menschlichem Tun in der Liturgie am empfindsamsten zur Sprache kommt." (S. 241) Zentral sei bei Stählin, daß die Abendmahlsteilnahme im Gottesdienst einen aktiven Teil des Menschen an der "wirkkräftigen re-praesentatio" des Heilsgeschehens meine187, - nicht nur ein passives, gedachtes oder gefühltes Sich-Erinnern. Müller über Stählins Lehre vom Opfer: "Die Frage unserer Teilnahme am Kreuzesopfer im Abendmahl ist also nicht nur eine Glaubensbewegung des Herzens, die im Loben und Danken zum Ausdruck kommt, sondern auch im Handeln im Sakrament, d.h. in der Communio. Da das Opfer Christi, mit dem Er als unser Hohepriester uns allzeit vor Gott vertritt, als Kreuzesopfer im Sakrament vergegenwärtigt wird, hat das Sakrament somit in der Tat auch eine Gott zugewandte Seite, aber nicht durch uns, sondern allein durch Christus." (S. 243 f.) Insgesamt wird Stählin bescheinigt, daß er in reformatorischer Tradition im Laufe der Geschichte Vergessenes im Dialog mit Schrift und Bekenntnis neu belebt. Die breit angelegte Studie von K.F. Müller wird man ohne Frage als die bedeutendste und umfangreichste Auseinandersetzung mit Stählins Theologie (vor dem Buch von Hans Eduard Kellner, dazu s. unter 3.4.) bezeichnen dürfen. Die sorgfältige Interpretation, mit großer Sympathie, aber auch mit kritischen Anfragen an Stählin vorgenommen, und die zunächst überraschende Parallelisierung mit Karl Barth aufgrund des christologischen und ekklesiologischen Ansatzes setzen Marksteine für die Beschäftigung mit Stählin. Auf den von Müller bei Stählin zu Recht herausgestellten Begriff des Opfers wird dabei noch intensiv Bezug genommen werden müssen. Leonhard FENDT stellt dann 1954 in seinem Aufsatz "Die Berneuchener" Müllers Werk vor als eines, demzufolge Stählin Barth "nicht kopiert, sondern (ohne in höherem Grade Barthianer zu sein als die ganze gegenwärtige Theologie) überhöht." 188 In seinem gegenüber den Berneuchenern durchaus positiv eingestellten Artikel189 gelangt Fendt nach der Vorstellung der einzelnen Schriften zum christlichen Leben (u.a. zur Beichte, Trauung, Meditation, Gebete) zu dem Ergebnis:
187 Im einzelnen geht es hier um die Exegese von α ν α μ ν η σ ι ς und von τούτο ποιείτε (akt.!) in 1. Kor 11,24. S. dazu Friedemann MERKEL, Anamnesis - Eine liturgiewissenschaftliche Studie, 1992 [1989],
188 L. FENDT, Die Berneuchener, ThLZ 1954, Sp. 718 f. In Fendts Einführung in die Liturgiewissenschaft, 1958, werden zwar die Berneuchener Ordnungen erwähnt, nicht aber Stählin als Person. 189 "Einen geradezu großartigen Wurf bedeutet das Officium Hebdomadae Sanctae der B. [Berneuchener]; [...] Es ist eine Ordnung' geworden, die jedem Benutzer das Urteil auf die Zunge legt: 'So muß man Karwoche halten!'" (L. FENDT, a.a.O., Sp. 716.)
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3. Die bisherige Forschung
"Der Hintergrund des ganzen Werkes der B. [Berneuchener] ist die Theologie Wilhelm Stählins, eine Theologie, die der Glaubenswirklichkeit contra philosophisch-naturwissenschaftliche Wirklichkeit vertraut." 190 Bereits 1950 war der "Grundriss der Praktischen Theologie" von Alfred Dedo MOLLER erschienen, wie der spätere von Otto Haendler (s.u.) dem Selbstverständnis nach ein Entwurf im Kontext der Michaelsbruderschaft. 191 In der Liturgik wird die "Berneuchener Erneuerungsarbeit" (S. 153) als besonders wichtig herausgestellt. Darüber hinaus finden sich viele bei Stählin begegnende Punkte: Stählins Gleichnisbegriff (S. 42 f.), die Betonung des Laienamtes in Gottesdienst und Unterricht (S. 108-111), das Plädoyer für (Einzel-)Beichte und Meditation (S. 330-343) sowie für die Kirchenzucht (S. 344-348). A.D. Müllers Buch ist eine fast ungebrochene Übertragung Berneuchener Gedankengutes in den Kontext eines Kompendiums der Praktischen Theologie. Ein weiteres Lehrbuch der Praktischen Theologie aus dem Kreis der Berneuchener - und damit ein Lehrbuch mit häufiger Bezugnahme auf Stählin erschien 1957: Otto HAENDLERS "Grundriss der Praktischen Theologie". 192 Haendler, der schon Anfang der dreißiger Jahre zur Michaelsbruderschaft gehört und auf Berneuchener Freizeiten mitgearbeitet hatte 193 , bringt in den "Grundriss" seine Erfahrung mit Meditation 194 und Tiefenpsychologie ein zwei für die Praktische Theologie der fünfziger Jahre durchaus unzeitgemäße Perspektiven. Otto Haendler gilt zu Recht als der Vorreiter psychologisch orientierter Seelsorge, die sich dann zwanzig Jahre später als "Pastoralpsychologie" unter Einflüssien aus den USA und den Niederlanden durchzusetzen begann. 195 Haendler, der schon früh eine Lehranalyse absol190 L. F E N D T , a.a.O., Sp. 718. 191 So Oskar PLANCK, Die Evangelische Michaelsbruderschaft, o.J., S. 23, Anm. 27. Seitennachweise zu A.D. Müllers Buch im folgenden Absatz in Klammern im laufenden Text. 192 Seitenzahlen im Text beziehen sich im folgenden auf Haendlers "Grundriss" von 1957. 193 Hans Carl von HAEBLER, Geschichte der evangelischen Michaelsbruderschaft, 1975, S. 38; vgl. S. 60 u. 62. 194 Haendler leitete in den dreißiger Jahren Meditationen der Berneuchener besonders im ostdeutschen Raum, seit Anfang der fünfziger Jahre in Berlin, s. H.C. v. HAEBLER, Geschichte der evangelischen Michaelsbruderschaft, 1975, S. 215.195. 195 Richard R I E S S , Seelsorge, 1973, S. 189 f., urteilt, daß die Poimenik der Nachkriegszeit die Praxis nicht habe verändern können, weil sie trotz Haendlers Aufnahme der Tiefenpsychologie zu sehr dem kerygmatischen Konzept Thurneysens verhaftet blieb - und sei es in Absetzung davon. Klaus WINKLER, Die Funktion der Pastoralpsychologie in der Theologie, 1973, definierte dann die Pastoralpsychologie "als die unserer Situation entsprechende anthropologische Wahrnehmungsfunktion einer praxisbezogenen Theologie" (S. 120) mit der Aufgabe der "Ermöglichung eines persönlichkeitsentsprechenden Credos" (S. 118).
3.3. Stählin innerhalb von Berneuchen, Liturgik und Praktischer Theologie
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viert und bereits 1952 ein Buch unter dem Titel "Angst und Glaube" publiziert hatte 196 , ordnet Meditation und Tiefenpsychologie in seinem "Grundriss" aber nicht nur der Seelsorge zu, sondern entfaltet sie als "Zusätze" zum § 10: "Die Person des Amtsträgers" ausführlich auf 25 eng bedruckten Seiten (S. 119-143). Die grundsätzliche Bedeutung der Tiefenpsychologie sei neben der praktischen für den Theologen "universal" (S. 129). Dabei ist eine gewisse stärkere Sympathie gegenüber dem Ansatz C G. Jungs als gegenüber dem S. Freuds erkennbar. 197 Dies entspricht, wie wir noch sehen werden, dem Urteil Stählins. In großer Nähe zur Theologie Stählins formuliert Haendler (S. 135) den Grundsatz, die Seelsorge habe beizutragen zu der "Erkenntnis, daß Christentum und Kirche nicht leibfeindlich sind, sondern den Leib bejahen und deshalb in gesunden Ordnungen vor dem Verfehlen seines Sinnes schützen wollen." Die vom heutigen Standpunkt aus große Vertrautheit ("Leib bejahen") wie große Fremdheit dieses Gedankens ("gesunde Ordnungen") markieren den Ort Haendlers zwischen kerygmatisch und pastoralpsychologisch orientierter Seelsorge und Praktischer Theologie. Dieser Ort könnte nicht nur für die begrenzte Wirkung Haendlers 198 der Grund sein, sondern auch in analoger Weise für die sehr begrenzte Rezeption der Theologie Wilhelm Stählins. Explizit nimmt Haendler auf diese in seinem "Grundriss" mehrfach Bezug, die Literaturhinweise auf Stählins Schaffen sind zahlreich. Stählins Hauptschriften "Vom Sinn des Leibes" und "Vom göttlichen Geheimnis" werden im Zusammenhang der Meditation (S. 128) bzw. in dem Paragraphen "Das Feld der Kirche als Seins- und Wirkungsfeld" (S. 102) erwähnt. Zur (nicht analytischen) Religionspsychologie älterer bzw. überhaupt empirischer Art wird zustimmend Stählins Unterscheidung von Wahrheits/nteres.s'e und Wahrheitsge/iwwg der Religionspsychologie aufgenommen (S. 142). Zur Predigtvorbereitung werden ausdrücklich Stählins Predigthilfen empfohlen (S. 128 f.). Im homiletischen Kapitel bezeichnet Haendler Stählin (neben Paul Althaus, Dedo Müller, Helmut Thielicke) als "Meister" in der Form der "synthetischen" Predigt, während er Karl Barth, Eduard Thurneysen und Friedrich Gogarten als Meister der "dialektischen Predigt" apostrophiert (S. 265).
196 O. HAENDLER, Angst und Glaube, Berlin 1952 ( 3 1954). 197 Erst Joachim SCHARFENBERGS Habilitationsschrift "Sigmund Freud und seine Religionskritik als Herausforderung für den christlichen Glauben" (1968, 4 1976) brachte Freud auch als theologischen Gesprächspartner zur Geltung, indem Scharfenberg theologische und analytische Hermeneutik unter der Überschrift "Heilung durch Sprache" (S. 99-134) parallelisierte. Vorher hatte lange der Vorwurf des "Pansexualismus" die theologische Rezeption Freuds bestimmt, in vorsichtiger Abgrenzung von diesem Urteil auch noch O. HAENDLER, Grundriss, a.a.O., S. 135. 198 S. o„ Anm. 195.
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3. Die bisherige Forschung
Neben diesen Einzelheiten ist aber vor allen Dingen der Grundansatz von Haendlers Praktischer Theologie dem Anliegen Stählins und der Berneuchener entwachsen. So heißt der Leitsatz zu § 1 (S. 1): "Praktische Theologie kann nicht nur als Theorie der kirchlichen Praxis definiert werden, sondern ist infolge der unlöslichen gegenseitigen Durchdringung der Praxis mit dem Gesamtsein der Kirche erweitert als Strukturtheologie der gegenwärtigen Kirche zu verstehen." 199 Explizit grenzt Haendler sich ab gegen die seit Schleiermacher übliche Formel, Praktische Theologie sei "Theorie der Praxis" bzw. die Wissenschaft von der kirchlichen Praxis. 200 Hierbei drohe ein unverantwortlicher Praxiseifer, weil die unbewußten Leitbilder von Kirche nicht reflektiert würden (S. 2). Es müsse vielmehr "das ganze Bild der Kirche bis in seine Gründe hinein und nach allen Seiten hin" durchdacht werden. Denken sei dabei "nicht nur als theologisches Erfassen, sondern als organisches Erkennen zu verstehen." (S. 3) Was Haendler hier in naturhafter Begrifflichkeit beschrieben hat (wiederum ein deutlicher Einfluß Stählinschen Denkens), markiert in der Tat ein grundlegendes Problem der Praktischen Theologie. Jegliche Reflexion von Praxis in der Praktischen Theologie erfolgt notwendig von einem sehr konkreten Standpunkt in der Praxis der Kirche selbst her und steht damit vor dem Positivismusproblem. Die Praktische Theologie ist ein Teil der Praxis, die sie selbst reflektiert, und muß sich von daher selbstkritisch unter Ideologieverdacht stellen, um nicht die eigene Existenz und Kompetenz zum Maßstab kirchlicher Praxis werden zu lassen. Dies gilt für Praktischtheologische Überlegungen nicht nur an der Hochschule, sondern auch in Gemeinden und kirchlichen Gremien aller Ebenen. Haendlers Berneuchener Begrifflichkeit des "organischen Erkennens" von Kirche kann daran erinnern, daß das Phänomen des Leibes Christi in der Zeit nicht objektivierbar ist, gleichzeitig aber das überprüfbare Verstehen und Verändern dieses Phänomens eine der Praktischen Theologie auf allen Ebenen gestellte Aufgabe ist. 1965 berichtet Martin DOERNE über den gegenwärtigen Stand der Praktischen Theologie. Durch den Kirchenkampf sei die Theologie notwendig ganz nah an die kirchliche Wirklichkeit gerückt und so automatisch eine
199 Vgl. dazu schon an dieser Stelle die zu Anm. 3 genannte Definition Stählins. 200 Das klassische Zitat bei Friedrich SCHLEIERMACHER, Kurze Darstellung des theologischen Studiums, 1982 [1830], § 260, S. 100: "Die praktische Theologie will nicht die Aufgaben richtig fassen lehren; sondern indem sie dieses voraussetzt, hat sie es nur zu tun mit der richtigen Verfahrensweise bei der Erledigung aller unter den Begriff der Kirchenleitung zu bringenden Aufgaben." Ähnlich F. SCHLEIERMACHER, Die praktische Theologie, 1983 [1850], S. 31: Hier wird der "Werth der praktischen Theologie als Technik näher bestimmt" (Hervorhebung im Original).
3.3. Stählin innerhalb von Berneuchen, Liturgik und Praktischer Theologie
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"durchweg 'praktische' Theologie" geworden.201 Zweifelhaft erscheint Doerne die Bündigkeit des Begriffes "praktische Theologie", weil dieser "eine bloße Rahmenformel" für die zunehmend verselbständigten Einzeldisziplinen geworden sei (S. 72). Inhaltlich stellt Doerne fest, daß für "das neue Gesamtverständnis der praktischen Theologie" (nach 1933 bzw. nach 1945) die Theologie Karl Barths und seines Kreises zwar die stärkste, aber "nicht die allein zureichende Prägungsmacht" sei (S. 79). Doerne stellt dem die Berneuchener Theologie zur Seite: "Diese Gesamtschau war auf ein 'leibhaftes', geistlich realistisches, der befürchteten intellektuellen Substanzentleerung der reinen 'Wort'-Theologie kritisch entgegengesetztes Maßbild der Kirche und ihrer Ordnung, nach dem Urbild des Leibes Christi, angelegt. [...] Der stärkste und originellste Repräsentant dieses inkarnationstheologischen Kirchendenkens ist W. Stählin." (S. 79; Hervorhebung im Original) Die Grundrisse der Praktischen Theologie von Alfred Dedo Müller und Otto Haendler werden als von Stählins Theologie beeinflußt geschildert (S. 79 f.), daneben steht nach Doerne auch der Einfluß von Paul Tillich. Schließlich wird Stählin in der Literatur in die Geschichte der liturgischen Bewegungen dieses Jahrhunderts eingeordnet. 1970 schreibt Walter BIRNBAUM eine Monographie über die deutsche evangelische liturgische Bewegung dieses Jahrhunderts.202 Darin nehmen Stählin und die Berneuchener die erste Stelle ein.203 Die Voraussetzungen verortet Birnbaum schon am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Aufkommen des "organischen" Denkens. Das dominierende Stichwort des neuen Denkens sei das Epitheton "lebendig" gewesen (S. 20 f.), nicht erst der erste Weltkrieg sei für den Umbruch entscheidend gewesen (S. 20). Der Vitalismus in der Biologie um die Jahrhundertwende wie die Schülerbibelkreise und schließlich das Fest auf dem Hohen Meißner 1913 seien "dem Bild eines Organismus" verpflichtet gewesen (S. 22): 201 M. DOERNE, Zum gegenwärtigen Stand der praktischen Theologie, 1965, S. 76. Die Seitenzahlen im folgenden Text beziehen sich hierauf. 202 W. BIRNBAUM, Die deutsche evangelische liturgische Bewegung, 1970 (Bd. I, 1966, behandelt die deutsche katholische liturgische Bewegung). Terminologisch unterscheidet Birnbaum "Die liturgischen Bestrebungen des Kreises um Smend und Spitta" vor dem ersten Weltkrieg von der mit der Berneuchener Arbeit anhebenden "liturgischen Bewegung". Anders spricht Friedemann M E R K E L von der "älteren liturgischen Bewegung" (F. MERKEL, Der heutige evangelische Gottesdienst und die ältere liturgische Bewegung, 1992 [1971]); dem schließt sich ausdrücklich an Jochen CORNELIUS-BUNDSCHUH, Liturgik zwischen Tradition und Erneuerung, 1991, S. 45, weil bei Smend und Spitta "eine klare eigene liturgische Konzeption" vorliege. 203 W. BIRNBAUM, a.a.O., S. 25-38 u.ö. Seitenangaben im folgenden Text beziehen sich auf dieses Buch.
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3. Die bisherige Forschung
"Vor allem entdeckt man jetzt vom Organismus her in der Überwindung des sublimierten Intellektualismus, daß sich der Geist seinen Leib formt, daß zur Ganzheit des Menschen beide gehören. [...] Diese organische Bewegung ist auch der Mutterboden der liturgischen Bewegung - diese ist gewissermaßen ihre kultische Ausprägung." (S. 21.23) Birnbaums Sicht ist zwar nicht ganz präzise und etwas holzschnittartig (ist doch die Jugendbewegung nach 1918 deutlich vom "Wandervogel" zu unterscheiden, war der erste Weltkrieg doch ein fundamentaler geistesgeschichtlicher Umbruch und die liturgische Bewegung nach 1918 mehr als eine eigentliche kultische, nämlich eine Kirchenreformbewegung), doch hat er mit der Betonung des Organischen 204 und Leiblichen zentrale Aspekte des Denkens skizziert, denen auch Stählin zeitlebens verpflichtet blieb. Am Berneuchener Buch hebt Birnbaum zwei Gedanken hervor: das Gleichnisdenken und die Entdeckung des Leibes (S. 28 f.). "Zunächst: im Glaubensdenken wird alles 'Gleichnis' [...] Natur, Zeit, Raum, Geschlecht, Stand, Staat, Volk" (S. 28). Man wird urteilen müssen, daß die unpräzise Rede des Berneuchener Buches und Stählins selbst für diese Rezeption verantwortlich ist, die sich wie eine späte Rehabilitierung deutschchristlicher Gedanken liest. Damit weist Birnbaums Werk auf die notwendige kritische Klärung von Stählins Begrifflichkeit hin. Die oben geschilderte, frühe harsche Kritik von W. Rau und P. Reinhardt scheint folglich Schwachpunkte Stählinschen Denkens richtig erkannt zu haben. Die Entdeckung des Leibes hingegen hat Birnbaum erhellend so beschrieben (S. 29): "Will man iiberscharf pointieren, so wird immerhin die Frage möglich, ob diese leibhafte Kirchenauffassung hier, an ihrem An204 Kritisch zu Birnbaum ist zu bedenken, daß dieser als "Deutscher Christ" 1935 trotz sehr begrenzter wissenschaftlicher Fähigkeiten den Göttinger Lehrstuhl für Praktische Theologie erhielt und damals das "organische Denken" dem "Untergang der germanischen Bildung und Gesittung" entgegensetzte: zitiert nach Inge MAGER, Das Verhältnis der Göttinger theologischen Fakultät zur Hannoverschen Landeskirche während des Dritten Reiches, JGNKG 1987, S. 184 f. Unscharfes Denken und Formulieren findet sich bei Birnbaum an mancher Stelle: "Wenn ein modernes theologisches Lexikon [...] nur zu sagen weiß, daß man in diesem Kreis [um Spitta und Smend] den Gottesdienst als 'Feier' betrachtet habe, [...] so ist das Gewäsch." (Die deutsche evangelische liturgische Bewegung, 1970, S. 18.) Das inkriminierte Lexikon ist nicht einmal genannt. - Auf S. 27 bescheinigt Birnbaum dem "Berneuchener Buch" eine "konjunktive Dialektik" im Gegensatz zu Karl Barths "Römerbrief' von 1922, der seine "disjunktive Dialektik" "in die Form einer absterbenden Geisteshaltung, in einen zersetzenden Intellektualismus" gekleidet habe. Wenige Zeilen später wird das positiv gewertete "konjunktiv" dann auch noch mit "synthetisch" gleichgesetzt. - S. 113 ff. wird gar das "Feierbuch" der "Thüringer DC" (1939) als ein "Vorläufer der Gottesdienste in neuer Gestalt" apostrophiert!
3.3. Stählin innerhalb von Berneuchen, Liturgik und Praktischer Theologie
S1
fang, stärker von dem neutestamentlichen Urbild 'Leib Christi' oder stärker von der Jugendbewegung geprägt ist, ob man nicht zuerst den Leib und daher auch den Leib Christi entdeckt habe. " (Hervorhebung von mir) Der Zusammenhang von "Leib" und "Leib Christi" ist in der Tat prägend für die Stählinsche Theologie, wie unten zu zeigen ist (Abschnitt 4.3.). Stählins Theologie ist insofern eminent praktische Theologie, weil aus der Praxis seiner Jugendarbeit Kategorien gewonnen bzw. genutzt werden für die Formulierung einer situationsgerechten Lehre von der Kirche. Zu Recht weist Birnbaum auch auf die Parallelen zum Werk Romano Guardinis im Berneuchener Buch hin: Manches könnte von Guardini geschrieben worden sein, aber eine "Abhängigkeit voneinander anzunehmen wäre absurd" (S. 30).205 1983 schließlich erscheint Friedemann MERKELS Aufsatz über die liturgischen Bewegungen in der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert. Merkel stellt heraus, daß die Impulse von Berneuchen nach 1945 vielfach "liturgisches Allgemeingut der Kirche geworden" seien, während "manche anfechtbare theologische Meinungen in den Hintergrund getreten" seien.206 Merkel beschreibt Stählins Aufnahme der Kritik am Berneuchener Buch mit Recht als "lamentierend" (S. 124). Die von Merkel genannte Distanzierung Stählins vom Symbolbegriff (S. 126, Anm. 41) halte ich jedoch lediglich für vorläufig, was unter 4.2.2. intensiver zu diskutieren sein wird. In der jüngsten Liturgiewissenschaft wird Stählin zwar gelegentlich zu Einzelpunkten zitiert207, eine Gesamtwürdigung seiner - in der Ekklesiologie wurzelnden! - liturgischen Anschauungen oder gar seiner gesamten Praktischen Theologie findet sich nirgends.
205 Die Bemerkung Birnbaums, ihm sei "keine Spur" einer Abhängigkeit begegnet, ist zu relativieren durch Stählins Rezension zu Guardinis Buch "Liturgische Bildung" in CuW 1924, S. 94-95. Schon am 25. 4. 1922 sagte Stählin über Guardinis Schrift: "Ich weiß kaum ein Büchlein, das in der Jugendbewegung einen so starken Eindruck gemacht hat, wie das Büchlein von Romano Guardini 'Vom Geist der Liturgie', [...]". (Die Bedeutung der Jugendbewegung in Christentum und Kirche, 1922, S. 31.) 206 F. MERKEL, Liturgische Bewegungen in der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert, 1992 [1983], S. 126. Die ebd., Anm. 37 zufolge noch ausstehende monographische Darstellung Wilhelm Stählins wird hiermit vorgelegt. 207 Jochen CORNELIUS-BUNDSCHUH erwähnt Stählin ab und zu am Rande bzw. in den Fußnoten, ohne seinen Einfluß auf die liturgische Bewegung grundsätzlich zu bedenken (Liturgik zwischen Tradition und Erneuerung, 1991, S. 110. 113. 120 f. 124. 143, etwas ausführlicher S. 134; leider fehlt dem Buch ein Personenregister). - Manfred JOSUTTIS, Der Weg in das Leben, 1991, verfehlt in seiner kurzen Bemerkung Uber Stählin (S. 16 f.) gerade dessen Eigentümlichkeit, wenn er schreibt, bei Stählin sei die "Entscheidung über das sachgerechte [liturgische] Verhalten [...] auf die Ebene der inneren Einstellung verlagert." (S. 17) Der Aufsatz Stählins "Was heißt 'richtig' liturgisch handeln?", 1973 [1937] und der von Josuttis zitierte einzelne Satz können jedenfalls nicht für Stählins Liturgik insgesamt stehen.
52
3. Die bisherige Forschung
Der Überblick über die bisherige Rezeption Stählins ist nunmehr abzuschließen mit der Systematisch-theologischen Arbeit über Stählin von Hans Eduard Kellner.
3.4. Das theologische Denken Wilhelm Stählins nach Hans Eduard Kellner (1991) Bei Hans E. Kellners umfangreicher (709 Seiten langer) Darstellung der Theologie Stählins handelt es sich um ein Systematisch-theologisches Werk, das aber schon aufgrund von Stählins Ansatz von Praktischer Theologie für diese Untersuchung von Bedeutung ist. Kellner behandelt nicht die Auswirkungen von Stählins Denken auf seine Praktisch-theologische Konzeption und Lehrtätigkeit, sondern die "Genese und Systematik" im Zusammenhang' von Religionspsychologie, Jugendbewegung und Berneuchen. Gerade diese drei Einflüsse jedoch zeigen, daß Stählins Theologie zeitlebens von christlicher Praxis herkam und (bzw. oder) auf Praxis zielte und schon insofern auch abgesehen von einer genaueren Definition - "Praktische Theologie" war. Hierauf beruht die Wichtigkeit der Monographie Kellners, zumal darin bereits ein großes Stück Forschungsarbeit zu Stählin geleistet worden ist. 208 Kellner gliedert seine Darstellung in drei Hauptkapitel: Zunächst wird "das neuprotestantische Erbe" behandelt (S. 33-139), danach "die theologische Wende" (S. 140-314) und schließlich die "Theologie des Mysteriums" (S. 315-600). Im Zentrum des ersten Hauptteils stehen die Religionspsychologie sowie die Erfahrungen in England. Für die "Wende" in Stählins Theologie während und nach dem 1. Weltkrieg werden die Begegnung mit der Phänomenologie Max Schelers und mit der Jugendbewegung verantwortlich gemacht. Die Theologie des Mysteriums erwächst nach Kellner ebenfalls aus der Jugendbewegung und findet ihren ersten Niederschlag im Berneuchener Buch. Daneben werden die direkten und indirekten Einflüsse Karl Barths, Paul Tillichs und Dietrich Bonhoeffers sowie des Kirchenkampfes ausführlich untersucht (S. 464-552). Die grundlegenden theologischen Prägungen und Verbindungen liegen bei Stählin auf der Hand und sind von Kellner mit Recht in den Vordergrund gestellt: Religionspsychologie, Jugendbewegung, Berneuchen und Michaelsbruderschaft. Wichtiger und im einzelnen zu diskutieren sind die von Kellner innerhalb dieser Bezüge formulierten Grundlinien. Es handelt sich um folgende Thesen:
208 Das Buch entstand in gut zehnjähriger Arbeit (Vorwort, S. IX). Seitenangaben im folgenden Text beziehen sich auf Kellners Werk. Etwas unübersichtlich wurde der Text auf S. 1-609 gedruckt, es folgen S. 611-626 die Literaturangaben und S. 627709 die Anmerkungen.
3.4. Wilhelm Stählin nach H.E. Kellner (1991)
53
- die Konstatierung einer theologischen "Wende" vom Neuprotestantismus zur reformatorischen Theologie überhaupt und die Begründung hierfür im wesentlichen mit der Phänomenologie Max Schelers (besonders S. 210238); - eine u.a. daraus resultierende Unterscheidung Stählinscher, Tillichscher und anderer Einflüsse im "Berneuchener Buch" (besonders S. 478-520); - die durchgehend sehr kritisch bewertete politische und völkische Einstellung Stählins (z.B. S. 408. 535. 569); - die Herausstellung des Begriffes "Leben" als "Grundwort" Stählinscher Theologie (S. 584.600). Auf diese Forschungshypothesen wird in den einzelnen Abschnitten dieser Untersuchung zurückzukommen sein. An dieser Stelle sollen aber die Ergebnisse Kellners in kurzer Form referiert werden. Als ebenso interessant wie problematisch erweist sich die These vom grundlegenden Einfluß der Phänomenologie Max Schelers. Diese These soll bereits hier eingehend besprochen werden; obwohl damit der eigentliche Rahmen der Forschungsgeschichte überschritten wird, bietet Kellners Arbeit den angemessenen Bezugspunkt für diesen Aspekt.
Exkurs: Wilhelm Stählin und Max Scheler 1914-1923 Für Kellners These spricht, daß sich Stählins Theologie nach dem 1. Weltkrieg ohne Zweifel wandelt (Ende der Beschäftigung mit der Religionspsychologie, Hinwendung zur theologischen Deutung von Natur und Kirche). Dafür sprechen ferner einige Hinweise im Werk Stählins: ein Vortrag über Max Scheler (wahrscheinlich in Mitau) 19 1 7209, ein Zitat in einer ungedruckten Rezension 1916210 sowie ein früher (1923) und ein später (1968) Rückblick. Diese beiden Textstellen lauten: 209 Max SCHELER 1917. Es handelt sich um eine 4-seitige Skizze mit Stichwörtern und einzelnen Sätzen. 210 Vom jüngsten Tag, 1916, S. 6 wird Schelers Schrift "Idole der Selbsterkenntnis" [1911] zustimmend zitiert: Scheler zeige, "daß dieses krampfhafte Glaubenwollen dessen, dem die eigentlichen Gegenstände des Glaubens entschwunden sind, mit der allergrößten Sicherheit von dem Reich des wirklichen Glaubens ausschließt." Eine Umorientierung von der "fides qua" der religionspsychologischen Experimente (s. etwa die Forschungen zu Empfindungen bei religiösen Sätzen in: Experimentelle Untersuchungen über Sprachpsychologie und Religionspsychologie, ARPs 1914) zur "fides quae" ist deutlich. Diese allein auf die Lektüre Schelers zurückzuführen, isoliert jedoch einen Einfluß in einer Zeit allgemeiner Umbrüche. - Es handelt sich nicht um einen Vortrag (so H.E. K E L L N E R , a.a.O., S. 650), sondern um eine ungedruckte Buchbesprechung: Auf S. 1 findet sich ein Stempel "Abdruck nicht genehmigt. St. Genkdo. XI. A.K. Presse-Abt. Cassel, den 23. 6. 17." Auf S. 5 ist die Wendung "Krieg gegen den Krieg" angestrichen, u.U. kam das Manuskript deshalb nicht zum Druck.
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3. Die bisherige Forschung
"[...] daß diese Befreiung [von der Zerspaltenheit in Religion und Welterleben] heute von sehr verschiedenen Seiten her den Menschen geschenkt werden kann, so wie z.B. mir vor Jahren die Phänomenologie, zu der ich durch die Schriften von Max Scheler gefuhrt worden wir [sie!], diesen Dienst geleistet, mein wissenschaftliches Denken völlig revolutioniert und mir Tore zu ganz neuen Einsichten aufgestoßen hat." [1923]211 "Persönlich hatte ich es in jenem Herbst und Winter 1915/16 sehr gut. Ich war eifriger Leser der Naumannschen 'Hilfe', studierte so verschiedene Geister wie H.St. Chamberlain und Max Scheler, [...]." [ 1968]212 Gegen die These Kellners von der theologischen "Wende" durch Scheler spricht zunächst, daß Scheler von Stählin insgesamt kaum erwähnt wird, und zwar nach 1923 nur noch ein einziges Mal in der Autobiographie 1968 (s.o.). Entscheidend ist aber vor allem, daß in die Zeit des 1. Weltkriegs und danach die fundamentale Änderung in Stählins Leben und Denken durch die Begegnung mit der Jugendbewegung fällt. Von nun an ist nicht mehr die individuelle religiöse Empfindung Gegenstand wissenschaftlichen Interesses, sondern die gemeinsame christliche Gestaltung ist Gegenstand kirchenreformerischen Interesses: die Ekklesiologie verdrängt die Psychologie, und Stählins Theologie wird von der Theorie religiösen Erlebens213 zur Praktischen Theologie214. Damit ist auch Kellners Beschreibung unrichtig, wenn er von einer "Wende" vom "neuprotestantischen Erbe" zur "Metaphysik" spricht. Als gleichbleibend in allen Lebensphasen Stählins erweist sich seine Orientierung an christlicher Praxis als Quelle theologischen Denkens und Urteilens. 215 Die Systematische und auch die Historische Theologie blieben 211 Unsere religiöse Not, CuW 1923, S. 20, 1. Sp. 212 Via Vitae, 1968, S. 142. Das Personenregister ist an dieser Stelle fehlerhaft: Es nennt S. 135, wo von einem General Scheler in Roubaix die Rede ist, zu dessen Stab Stählin im Winter 1914/15 gehörte. 213 Man muß sich nur den Unterschied der experimentellen Untersuchungen 1914 und der Fragestellungen nach 1918 vor Augen führen: Befragte Stählin 1914 Freunde und Bekannte (etwa gleichen Alters und Standes, fast ausnahmslos aus dem Kreis des freien Protestantismus) nach ihren Eindrücken beim Hören religiöser Sätze, z.B. von Augustin, Fichte, Kierkegaard (Experimentelle Untersuchungen über Sprachpsychologie und Religionspsychologie, ARPs 1914, die Sätze S. 127-131), so geht es nach 1918 um ganz andersartige Themen: Die Not der Zeit, besonders die Not der Jugend, die Gestalt der Kirche (ab 1922 auch liturgische Fragen) treten in den Vordergrund. 214 S.o. Anm. 3. 215 Wolfgang T R I L L H A A S hält aus persönlichem Erleben wie aus literarischer Beschäftigung mit Stählin den Einfluß der Schelerschen Phänomenologie für sehr gering: Es sei undenkbar, daß Stählin sich zur Zeit der Jugendbewegung auf Scheler bezogen habe. "Ich kann mich nicht erinnern, daß er überhaupt großes Interesse an theoreti-
3.4. Exkurs: Wilhelm Stählin und Max Scheler
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Stählin zeitlebens fremd: So stand er mit den bayrischen "freier Gerichteten" und der Religionspsychologie im Gegensatz zum bayrischen Luthertum, mit der Jugendbewegung und Berneuchen im Gegensatz zur aufkommenden dialektischen Theologie und später in Opposition zur universitären Theologie überhaupt. (In diesen Zusammenhang gehört auch der bereits erwähnte Dissens mit Gerhard Kunze über die Bedeutung historischer Erkenntnisse für die Liturgie.) Aus dem Vortrag über Max Scheler von 1917 ergibt sich nunmehr, daß Stählin neben den damals verbreiteten Kriegsbüchern216 zentrale Schriften Schelers zur Kenntnis genommen hat: so das Hauptwerk "Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik"217 sowie die Schriften "Liebe und Erkenntnis"218 und "Vom Sinn des Leides"219. Leider ist aus den Stichworten der Vortragsskizze (Stenographie mit eigenen Kürzeln) kein eindeutiger Sinn zu entnehmen, welcher weitergehende Schlußfolgerungen erlaubt. Deutlich ist aber, daß Stählin zu Max Scheler durch dessen Kriegsbücher kam220 und Schelers Prinzip "Erkenntnis und Liebe" aufnahm.221 Handelt es sich bei den Erwähnungen Schelers durch Stählin in der Regel um bloße Lektürehinweise, so ist das im Vortrag von 1917 genannte Prinzip von "Erkenntnis und Liebe" in Stählins Aufsatz "Unsere religiöse Not" in modifizierter Form wiederzuerkennen. Stählin stellt die primäre Orientierung sehen Einsichten hatte. Er kam immer gleich wieder zum Lebensvollzug." (Gespräch mit dem Verfasser am 29. 7. 1992.) Trillhaas hatte zu Stählins Nürnberger "Mittwochkreis" gehört, in dem mit ca. 30 Jugendlichen u.a. Karl Barths Römerbrief gelesen worden war (W. TRILLHAAS, Aufgehobene Vergangenheit, 1976, S. 58 f.) und blieb Stählin bis zu dessen Tod 1975 verbunden. Trillhaas wie auch Gerhard von RAD kamen durch Stählins Einfluß zur Theologie (ebd.). 216 Das Buch "Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg" von 1915 "hat Scheler weit über den Kreis der philosophisch interessierten Geisteswelt hinaus bekannt gemacht", urteilt Wilhelm MADER, Max Scheler, 1980, S. 73. Scheler gewann hier dem Krieg einen kulturkritischen, Werte freilegenden Sinn ab. Daneben verfaßte Scheler 1915-1917 noch mehrere Kriegsschriften, die eine europäische Umkehr und Erneuerung als Aufgabe insbesondere der Katholiken formulierten (W. M A D E R , a.a.O., S. 70-82 und die Übersicht S. 147 f.). STÄHLIN erwähnt "Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg" in: Der Patriotismus Jesu, CuG 1917, S. 37, 2. Sp.: "Max Scheler hat in seinem sehr lesenswerten Buch über den 'Genius des Krieges' die Erörterung über Krieg und Christentum geradezu darauf gegründet, daß Jesus, wie Sch. sich ausdrückt, nicht die allgemeine Menschenliebe, sondern die Nächstenliebe geübt und gepredigt hat." (Hervorhebung im Original). Dies ist die damals geläufige Auslegung im Dienst der Kriegsrechtfertigung. 217 Bd. 2 der Gesammelten Werke Schelers, 2 Teile, veröffentlicht 1913 und 1916; das Werk war aber schon vor Kriegsbeginn abgeschlossen. 218 Geschrieben 1915, in Bd. 6 der Gesammelten Werke. 219 Geschrieben 1912, erstmals publiziert 1915, in Bd. 6 der Gesammelten Werke. 220 Vortragsskizze Max Scheler, 1917, S. 1: "Durch Kriegsbücher." 221 Ebd., S. 2: "Erkenntnis und Liebe: [...] alles Denken auf Liebe fundiert. [...] Liebe als Erfahrung eines wahren Wertes."
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3. Die bisherige Forschung
am "religiösen Erlebnis", wie sie Allgemeingut der liberalen Theologie zu Anfang des Jahrhunderts (und damit auch der von ihm selbst betriebenen Religionspsychologie) gewesen war222, infrage: Das Erlebnis wirft den Menschen auf sich selbst zurück und macht ihn einsam. Das "religiöse 'Erlebnis', einseitig betont und geschätzt, schließt nicht nur den Menschen von anderen Menschen ab, [...] [es] verfuhrt den Menschen schließlich, das Erlebnis wichtiger zu nehmen, als seinen Inhalt und 'an sein Erlebnis zu glauben', statt an Gott den Herrn des Himmels und der Erde. Hier liegt von neuem 'unsere religiöse Not'. Müde der 'Erlebnisse', [...] hungern wir nach religiöser Erkenntnis." 223 Der Aufsatz Stählins - dem das Alter von 70 Jahren kaum anzumerken ist! ist allerdings mit der Bezeichnung "die neu mögliche Metaphysik" bei H.E. Kellner 224 unglücklich charakterisiert. Von einer "Wende" Stählins zu sprechen, ist insofern unrichtig, da dieser in demselben Aufsatz beklagt, daß "das evangelische Christentum und insbesondere die evangelische Theologie den Anschluß an den deutschen Idealismus [...] weder gefunden noch auch nur ernstlich gesucht, vielmehr die Wahrheit, die sie zu verkündigen hatte, in einer geistigen Form ausgesprochen hat, die wesentlich zu den Menschen vergangener Jahrhunderte gehörte." 225 Stählin befurchtet schon wieder einen Rückschlag ins Objektive: "Kurz gesagt, wir sind schon wieder bedroht von einem neuen Intellektualismus, [...] als ob man religiöse 'Wahrheiten' wie irgendein Gedankending haben, sagen und mitteilen könnte. Religiöses Erlebnis und religiöse Erkenntnis sind nur zwei Seiten einer und derselben Sache." 226 Diese beiden Zitate - die nicht direkt auf Scheler Bezug nehmen! - belegen, daß eine gewisse Nähe zu dessen Gedanken besteht, daß jedoch von einer
222 So Alfred NIEBERGALL, Die neueste Theologie und die Praxis, PTh 1929, S. 14 über die eigenen Anfänge vor 40 Jahren: "Nun tauchten zwei Ausdrücke auf, die man bis zum Überdruß gebrauchte: Persönlichkeit und Erlebnis. Es kam uns vor allem darauf an, aus persönlichem religiösem Erleben heraus Erlebnisse zu wecken, die wieder auf solches hinführten. Solche neuen Erkenntnisse brachten wir mit Begeisterung auf die Kanzel." 223 Unsere religiöse Not, 1923, S. 19, 2. Sp. 224 H.E. KELLNER, a.a.O., S. 168. 225 Unsere religiöse Not, CuW 1923, S. 19, 1. Sp. 226 A.a.O., S. 20, 1. Sp.
3.4. Exkurs: Wilhelm Stählin und Max Scheler
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theologischen Wende zur "Metaphysik" 227 nicht gesprochen werden kann. Eine Koinzidenz zwischen Stählins und Schelers Denken besteht darin, daß der Gegensatz von strenger (dogmatischer, philosophischer) Erkenntnis und leibhaftem menschlichem Erlebnis aufgeweicht wird. Für Scheler wie für Stählin existieren - im philosophischen bzw. im religiösen Bereich - Erlebnis und Erkenntnis jeweils nur zusammen als ein untrennbares "Phänomen". Insofern ist Stählins Aufsatz "Unsere religiöse Not" von 1923 in der Tat "phänomenologisch", wenn auch das Gespräch mit der Philosophie Schelers oder anderer Phänomenologen nicht explizit geführt wird (was bei einem Gemeindeblatt wie "Christentum und Wirklichkeit" nicht verwunderlich ist). Abschließend sollen einige Gemeinsamkeiten von Stählin und Scheler kurz beleuchtet werden durch einen Blick auf Schriften Schelers, die von Stählin erwähnt werden. Damit soll trotz der vorgetragenen Kritik das Recht der Kellnerschen Hypothese gewürdigt werden. Wie für Stählin Erlebnis und Erkenntnis zusammengehören, so für Scheler Liebe und Erkenntnis. Mit Pascal und Spinoza wird dem "spezifisch modernen Bourgeoisurteil" entgegengetreten, als ob "Erkenntnis der Welt nur durch die äußerste Zurückhaltung der emotionalen Akte" möglich sei228. Von daher werden die griechische wie die indische Liebesidee als "schroff intellektualistisch" kritisiert. 229 Der Vorwurf des "Intellektualismus" durchzieht Stählins Äußerungen besonders zur Theologie Karl Barths und seiner Weggefährten. In der Schrift "Vom Sinn des Leides" findet sich bei Scheler eine ausfuhrliche Phänomenologie und Typologie des "Opfers" 230 und damit eine Kategorie, der wir bei Stählin immer wieder begegnen werden. Das "Opfer" ist für Scheler der "formalste und allgemeinste Oberbegriff, unter den alles
227 "Metaphysik" ist zudem als solche eine für die Theologie unpassende Kategorie, weil eine "unmetaphysische Theologie" ein Selbstwiderspruch ist wie eine "erkenntnisfeindliche Philosophie". Beides kann es nicht geben. Kellner meint offensichtlich die von Stählin selbst so benannte neue Betonung "religiöser Erkenntnis". - Vielleicht ist es auch kein Zufall, daß Scheler seine "Metaphysik" nicht vollendete: Nach seiner Abwendung vom Katholizismus und vom Theismus schrieb er 1924: "Ich sah das Renascimento des Katholizismus, das ich selbst zum großen Teil hervorgerufen. [...] ich war entsetzt über meine Neophyten des Katholizismus." (Zwei Blätter aus dem Nachlaß von Scheler, betitelt "Zum Sinn meiner Metaphysik", zitiert nach Wilhelm M A D E R , Max Scheler, 1980, S. 132.) - Die Habilitationsschrift von Karol W O J T Y L A (Papst Johannes Paul II.) befaßt sich übrigens mit Schelers Philosophie: K. Woityla, Primat des Geistes. Philosophische Schriften, Stuttgart 1980. 228 M. SCHELER, Liebe und Erkenntnis, 1985 [1913], S . 77. 229 A.a.O., S. 79. Der fundamentale Unterschied zu Stählin wird hingegen deutlich, wenn Scheler die Kirche zum Kriterium der Wahrheit erhebt und von der "Erkenntnispriorität der Kirche als Kirche vor dem einzelnen" als Konsequenz des Zusammenhangs von Liebe und Erkenntnis spricht (a.a.O., S. 91). 230 M. SCHELER, Vom Sinn des Leides, 1985 [1915], S. 40-53.
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3. Die bisherige Forschung
Leiden zu bringen ist."231 Das Phänomen des Schmerzes wird gedeutet als "Opfer des Teiles [...] für die Erhaltung des ganzen Organismus."232 Darum gilt: "Nur in den niedersten, periphersten Zuständen unseres sinnlichen Daseins gehen daher Schmerz und Lust weit auseinander. Je mehr wir in die Tiefe unseres Selbst hineingehen und uns zur Aktualität unserer Person sammeln, desto mehr durchdringen sie sich."233 Die Nähe zur katholischen analogia entis liegt hier auf der Hand: Das Geheimnis der Christusoffenbarung ist in der Tiefe des Selbst, also in einer Art natürlichen Offenbarung in der Person, rekonstruierbar. Auch der von Stählin in der Frühzeit so sehr geschätzte Nietzsche wird von Scheler in diesem Kontext in ganz spezifischer Weise aufgenommen. Nietzsche habe Recht gehabt, indem er die "Schwungweite" des Lebens zwischen Lust- und Schmerztiefen hervorhob. "Aber der 'Sinn' dieser Schwungweite ist das 'Opfer'. Und dies wußte Nietzsches [...] Geist nicht."234. Eventuell hat also die Beschäftigung mit Scheler tatsächlich zu einer neuen Sicht Nietzsches durch Stählin gefuhrt; doch hat sich Stählin hierzu nicht geäußert.235 Die seit Stählins Begegnung mit der Jugendbewegung nachzuweisende Betonung der Leiblichkeit schließlich stellt eine Hauptkategorie in Schelers wichtigem Werk "Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik" dar. Die Kantische Ethik will Scheler überwinden durch eine phänomenologische Ethik. In diesem Zusammenhang bilden der Leib und seine Emotionen ein anderes, "materiales" Apriori, das über Kants Formalismus im kategorischen Imperativ hinausgeht: Die "Identifizierung des 'Apriorischen' mit dem 'Formalen' ist ein Grundirrtum der Kantischen Lehre."236 Demgegenüber betont Scheler: "Auch das Emotionale des Geistes, das Fühlen, Vorziehen, Lieben, Hassen, und das Wollen hat einen ursprünglichen apriorischen Gehalt, den es nicht vom 'Denken' erborgt, und den die Ethik ganz unabhängig von der Logik aufzuweisen hat. Es gibt
231 A.a.O., S. 40, Hervorhebung im Original. 232 A.a.O., S. 44. 233 A.a.O., S. 47, Hervorhebung im Original. Unter "Aktualität" versteht Scheler die Ganzheit des erkennenden und emotional geprägten "religiösen Aktes". 234 A.a.O., S. 53. 235 Für die Frühzeit vgl. Stählins eigene Beschreibung: "Ich lebte damals mehr in Nietzsche als in der Bibel." (Via Vitae, 1968, S. 57.) Diese Bemerkung bezieht sich auf die Zeit des Studienabschlusses in Erlangen, als Stählin vor allem Probleme mit der Praktischen Theologie Walter Casparis hatte (ebd.). 236 M. SCHELER, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 1980 [1913/16], S. 73.
3.4. Exkurs: Wilhelm Stählin und Max Scheler
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einen apriorischen 'ordre du coeur' oder 'logique du coeur', wie Blaise Pascal treffend sagt." 237 Auf einer ähnlichen Linie schließlich liegt Schelers Spätschrift "Die Stellung des Menschen im Kosmos" [1928], Hier beschreibt Scheler - nach seiner Abwendung vom Katholizismus - eine Stufenfolge des Psychischen/Lebendigen von der Pflanze bis hin zum Geist des Menschen und zuletzt zum vom Menschen unabhängigen Geist. Gott kann nun nicht mehr qua Metaphysik beschrieben werden, er ist unzugänglich, da wie der Geist selbst prozessual. "Geist" und "Leben" sind nun die grundlegenden Kategorien. Der tiefste ontische Gegensatz ist eben der zwischen Geist und Leben. Der Geist ist die metaphysische Kategorie, welche im Leben des Menschen faßbar wird. Der Geist braucht das Leben und das Leben ist Gestaltwerdung des Geistes: "der Geist ideiert das Leben - den Geist [...] in Tätigkeit zu setzen und zu verwirklichen vermag das Leben allein." 238 Gott ist unfertig, im Werden, und allenfalls im menschlichen Selbst und Herz: "Sie sind der einzige Ort der Gottwerdung, der uns zugänglich ist - aber ein wahrer Teil dieses transzendenten Prozesses selbst. " 239 Es wird deutlich, wie weit diese - von Stählin nirgends erwähnte - Spätschrift Schelers, ein Versuch zwischen Vitalismus und Idealismus, jenseits von Theismus und Atheismus, von Stählin entfernt ist. Zum einen sind hier Entwicklungen unterschiedlich verlaufen, zum anderen lassen sich die Stählinsche Theologie und Schelersche Philosophie ebenso wenig vergleichen wie die Personen Stählin und Scheler. 240 Vor allem aber wird man die eine Äußerung Stählins über die Orientierung an Schelers Phänomenologie nicht überbewerten dürfen, wie Kellner es getan hat. Trotzdem bleibt es Kellners Verdienst, hiermit einen Hinweis auf die "geistige Großwetterlage" während und nach dem 1. Weltkrieg gegeben zu haben, als im Gegensatz zu Tod und Zerstörung lebensphilosophische Tendenzen die phänomenologische Philosophie wie Praktische Theologie in ähnlicher Weise beeinflussen konnten. Es besteht kein Anlaß, die Koinzidenzen weitergehend zu interpretieren. Handelt es sich bei Kellners These der "Wende zur Metaphysik durch Max Scheler" um die Überzeichnung einer schwach ausgeprägten Linie, so 237 A.a.O., S. 82, Hervorhebungen im Original. In der Erkenntnistheorie hingegen ging Scheler im wesentlichen von Kants "Denk- und Anschauungsgesetzen" aus; s. den Brief Schelers von 1906, zitiert bei Wilhelm MADER, Max Scheler, 1980, S. 33 f. 238 M. SCHELER, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1991 [1928], S. 81. 239 A.a.O., S. 92, Hervorhebungen im Original. 240 Aus der Lektüre von Wilhelm M A D E R S Manuskript "Die Leiden des Lebens und die Leidenschaft des Denkens bei Max Scheler", 1983, erhellt, daß kaum ein größerer Gegensatz denkbar ist als der zwischen der disziplinierten Persönlichkeit Stählins und der genialischen Schelers.
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3. Die bisherige Forschung
sind die Ergebnisse hinsichtlich der Vorgeschichte des Berneuchener Buches und insbesondere des Einflusses von Paul Tillich von größerer Bedeutung. Hier hat Kellner einen wesentlichen Forschungsbeitrag geleistet. Im Berneuchener Buch, so Kellner, sei, anders als bei Stählin, die geschichtliche Linie stärker ausgeprägt241: hier könnten Natur und Geschichte nur und ausschließlich von Kreuz und Auferstehung, von der Christologie her zu "Symbol" und "Gleichnis" werden (S. 451). Hierzu ist allerdings kritisch zu bemerken, daß auch Stählin schon früh christologisch argumentiert, wenn er die Natur als Gleichnis beschreibt. 242 Noch wichtiger ist nach Kellners Darstellung die zunehmende Verengung des Berneuchener Denkens auf den ekklesialen Bereich, die zwar durch den großen Abschnitt "Evangelisches Werk" im Berneuchener Buch 243 noch nicht deutlich erkennbar wird, aber 1930 von Tillich kritisiert wurde (S. 458). Tillichs Einfluß im Berneuchener Buch selbst sei unter anderem an den Begriffen "die in sich ruhende Endlichkeit", die Sprache des "gläubigen Realismus", an dem Dualismus bedingt - unbedingt und eben am Symbolbegriff (S. 479) erkennbar.244 Kellner arbeitet aus dem Protokoll der Berneuchener Konferenz 1925 heraus, daß Tillich schon damals davor gewarnt habe, "durch Korrektur der innerkirchlichen Form eine Form des Gesamtlebens zu schaffen" zu suchen (S. 480). Der von Tillich 1925 eingebrachte Kapitalismusbegriff, der die Öff241 Verfehlt ist hingegen die Bemerkung über das Berneuchener Buch: "Es fehlt die für Stählin so eigentümliche Phänomenologie [...]" (H.E. KELLNER, a.a.O., S. 448). Sie fehlt bei Stählin selbst, abgesehen von einigen vergleichbaren Denkansätzen! 242 So im "Gottesjahr" 1924 in dem Artikel "Das fromme Brot"(S. 129): "Ehret das Brot, denn es war Leben, das für uns gewachsen ist, für uns gemäht und geschnitten, für uns zermahlen und zerrieben, geopfertes Leben für uns. Darum mag es wohl ein Gleichnis sein Gottes, der sich uns gibt und opfert; wahrlich es ist Christus, aus dem das Brot seine Kraft hat. Ehret das Brot - ehret es also, daß ihr Christus ehret in Korn und Brot." 243 Den Schluß des Berneuchener Buches bildet der Abschnitt "Evangelisches Werk" (S. 135-181) mit den drei Teilen "Die Heiligung des Geschlechts" (S. 138-155), "Die Heiligung des Volkes" (S. 155-169) und "Die Heiligung der Arbeit" (S. 170-181). Tillichs kritischer Vortrag auf der Berneuchener Konferenz 1930 (Kirche und humanistische Gesellschaft [1930]) ist samt den Reaktionen von Stählin und Wilhelm Thomas dokumentiert in Tillichs Gesammelten Werken, Bd. IX, S. 47-81. 244 Hinzufügen läßt sich noch die Rede vom "dämonischen Anspruch[s]" von Natur, Leib und Volk und von der "dämonische[n] Sinnentleerung des Daseins" in bezug auf die Arbeit (Berneuchener Buch, S. 171). Tillichs Gegensatz von "Profanisierung/Dämonisierung" der Wirklichkeit wird von Stählin häufiger erwähnt, z.B. in der Vorlesung: Das menschliche Leben im Licht des christlichen Gottesdienstes, 1928, Bogen 4, b.c. - Im gleichen Jahr wie das Berneuchener Buch erschien Tillichs "Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte", Tübingen 1926 (Vortrag, Gesammelte Werke, Bd. VI, S. 42-71) sowie "Der Begriff des Dämonischen und seine Bedeutung für die systematische Theologie", ThBl 1926, Sp. 32-35 (Gesammelte Werke, Bd. VIII, S. 285-291). Leider fehlen bei Kellner solche hier exemplarisch gegebenen Nachweise.
3.4. Wilhelm Stählin nach H.E. Kellner (1991)
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nung vom Kultischen zum Gesellschaftlichen ermöglichen sollte, wurde auf der Konferenz abgelehnt (S. 482). Auf der Konferenz 1928, also zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Berneuchener Buches, wandte sich Tillich im Zusammenhang der Sakramentstheologie gegen eine "okkulte", geschichtslose Naturauffassung (S. 488-496). Die Natur sei nicht geschichtslos, so Tillich, die Naturelemente des Sakraments bekämen vielmehr erst im Rahmen der heilsgeschichtlichen Auffassung der Geschichte sakramentale Mächtigkeit (S. 490), die Natur selbst stehe im Prozeß der "Entdämonisierung" durch Christus als Mitte der Geschichte (S. 494). Weiter stellt Kellner dar, wie Tillich 1928 (6. Berneuchener Konferenz in Pätzig) zwischen "Symbol" und "Gleichnis" unterscheidet - anders als das Berneuchener Buch und Stählin in sämtlichen Publikationen: Das Symbol sei eine "echte Vertretung", während im Gleichnis "auf eine andere Sache" Bezug genommen wird (S. 499). Diese Unterscheidung ist wichtig für eine Kritik an Stählins Begrifflichkeit. Im Anschluß an die Wiedergabe der 1929 von Tillich vorgetragenen "Nominalismusthese" (S. 506-511), von der sich Stählin u.a. im Diskurs mit Gerhard Kunze beeinflußt gezeigt hatte 245, stellt Kellner abschließend die letzte Konferenz in Pätzig 1930 dar, auf der Tillichs These von der Abgabe kirchlicher Gehalte an die humanistische Gesellschaft kontrovers diskutiert wurde (S. 511-520). Hier wird im wesentlichen das in Tillichs Gesammelten Werken Nachlesbare246 referiert. Die hier kurz wiedergegebenen gut 40 Seiten bei Kellner zum Verhältnis von Tillich und Stählin sind der wichtigste Teil der Monographie, weil hier Stählins Verständnis von Natur, Gesellschaft, Sakrament sowie Symbol/Gleichnis im Gegenüber zu Tillich plastisch herausgearbeitet wird. Zudem sind die Protokolle der Berneuchener Konferenzen von 1923 - 1930 ausgewertet, so daß auf ein Korreferat in dieser Untersuchung verzichtet werden kann. Auf Kellners Ergebnisse in diesem Teil kann in der Darstellung zurückgegriffen werden. Die beiden anderen Hauptthesen^Kellners sind kürzer zu skizzieren. Zum einen handelt es sich um die sehr kritisch bewertete politische und völkische Einstellung Stählins durch Kellner. Dieser These ist nicht zu widersprechen, dieser Aspekt ist jedoch nicht Hauptgegenstand der vorliegenden Untersuchung. So wird die Überhöhung der Toten von Langemarck im 1. Weltkrieg herausgestellt durch Zitate aus den Jahren 1925 und 1932 (S. 205-209)247, 245 S.o. Anm. 122. 246 Paul TILLICH, Gesammelte Werke, Bd. IX, 1967, S. 47-81. 247 "Langemarck" war ein damals geläufiges Motiv zur Verarbeitung der Kriegsniederlage, vgl. Uwe-K. KETELSEN, "Die Jugend von Langemarck", 1985, S. 75: Hier kamen die drei Aspekte "Jugend - Opfer - Nation" zusammen, welche den "Vorrang des Opfertodes" propagierten (U.-K. KETELSEN, a.a.O., S. 78). Insofern erweist sich
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3. Die bisherige Forschung
ebenso werden die Kriegspredigten und -Schriften Stählins zwischen 1914 und 1918 äußerst kritisch beurteilt (S. 210-224). Eindeutig votiert Kellner für Bonhoeffer gegen Stählin in der Diskussion um die Ökumene 1932: Kellner zitiert zustimmend den Satz Bonhoeffers: "Die Wirklichkeit ist das Sakrament des Gebotes." (S. 535) gegen Stählins Konzept der Stufenordnung des geistlichen Lebens. Schließlich wird ein antijudaistischer Satz aus Stählins Hauptschrift "Vom göttlichen Geheimnis" (1936) zu Recht kritisiert (S. 569)248. Diese und andere Einzelheiten drängen sich bei der Lektüre Stählins an zahlreichen Stellen auf. Auch diese Untersuchung wird nicht an der Tatsache vorbeigehen können, daß Stählin an einem nationalkonservativen Gedankenstrom Anteil hatte, der für die Entwicklung zum "3. Reich" mitverantwortlich war. Hingegen wird zu prüfen sein, ob und inwiefern speziell bei Stählin theologische Defizite für politische Fehlurteile verantwortlich sind bzw. ob Stählins Theologie soweit biblisch fundiert ist, daß er zwischen eigenen politischen Vorlieben und dem Anspruch des Evangeliums klar zu unterscheiden vermag. 249 Unbestritten mit Recht hat Kellner schließlich den Begriff "Leben " als ein "Grundwort" Stählins markiert, das das gesamte Denken und Werk in allen Phasen durchzieht (S. 584). Insbesondere für die Frühzeit liegt nach Kellner (S. 606) der unspezifizierte Lebensbegriff vor, welcher Natur, Mensch und Kultur umfassen könne. Es wird sich im Verlauf dieser Untersuchung zeigen, daß der Lebensbegriff bei Stählin zugleich der häufigste wie auch unklarste ist. Gerade deswegen darf dem Terminus aber nicht ausgewichen werden. Es muß sich zeigen, ob durch die vorausgesetzten Oppositionen bei Stählin doch eine (durch Zeitumstände und theologische Akzente bedingte) innere Gliederung des Begriffs "Leben" nachweisbar ist, die zum Gespräch der Theologie mit den Herausforderungen der Zeit tauglich ist. Die Weite des Begriffes könnte ihn als Kategorie auch für die gegenwärtige Praktische Theologie geeignet machen, wenn die bei Stählin vermißten klaren Defini-
auch hier Kellners Schluß als verfehlt, Stählin gehe mit der Gleichsetzung "Opfer = Leben" von Scheler aus (H.E-. KELLNER, a.a.O., S. 209). Stählins Predigt zum Volkstrauertag (21. 2. 1932), die Kellner heranzieht, enthält nichts von Scheler, dafür aber die nationalkonservativen Klischees (neben Langemarck auf S. 10 wird auf S. 7 auch Walter Flex zitiert), der Predigttext 2. Kor 4,12 spielt im Sinne des Paulus keine Rolle. 248 Stählins Satz "Darum lastet auf dem Judentum, seit es Christus verworfen hat, der Fluch, [...]" (Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 28) kommentiert Kellner: "Angesichts dessen, was mit den Juden in dieser Zeit geschah und noch geschehen sollte, ein irritierender Gedanke." (S. 569) 249 So urteilt Wilhelm H. NEUSER , Die Evangelisch-Theologische Fakultät Münster im Dritten Reich, 1991, S. 93, daß für die Professoren der Fakultät im Dritten Reich theologische Defizite und Begeisterung für Hitlers Ideen zusammen auftraten bzw. eine fundierte Theologie zu Standhaftigkeit gegenüber den Versuchungen der Zeit führte.
3.4. Wilhelm Stählin nach H.E. Kellner (1991)
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tionen erarbeitet sind. Diese Frage des sechsten Abschnitts der Untersuchung steht bei der nun folgenden Darstellung der Praktischen Theologie Stählins im Hintergrund. 250
250 Der Ertrag von Kellners Monographie für die Beschreibung von Stählins Praktischer Theologie ist begrenzt. S. 270 und 277 weist Kellner auf die "Stufen religiöser Erkenntnis" hin (ähnlich S. 340. 389. 426, dort auch bezogen auf die philosophischontischen Stufen des Seins), die mit den kognitionspsychologischen Theorien von Fritz Oser und James W. Fowler parallelisiert werden könnten. S. 593 f. wird der Bezug auf C.G. Jung herausgestellt. Leider fehlt dem monumentalen Buch Kellners ein Register, hinzu kommen störende Mängel und Fehler in Form und Ausdruck.
4.
Leben, Leib und Liturgie als Schliisselkategorien
Schon bei einer biographischen Arbeit hat das oft genannte Prinzip zu gelten, einen Autor besser zu verstehen zu suchen als dieser sich selbst verstand. 1 Erst recht gilt dies bei einer werkbezogenen Darstellung, zumal wenn diese sich nicht darauf beschränken will, das Werk eines Autors in den historischen Kontext einzuordnen, sondern bemüht ist, vergangene Theoriebildung als Modell einer gegenwärtigen Verhältnisbestimmung von Deskriptivität und Normativität heranzuziehen. Für die Praktische Theologie gilt dies in besonderem Maße, wenn sie denn "Lehre vom Zeugnis der Kirche und Lehre von der Gestaltung der Kirche in der Welt" sein soll (so Stählins eigene Definition). 2 Auf den ersten Blick erscheint es am einfachsten, nun Stählins Praktische Theologie anhand dieser beiden Themenschwerpunkte zu entfalten: Lehre vom Zeugnis der Kirche (biblische und systematische Grundlagen, Homiletik, Katechetik, Poimenik) und Lehre von der Gestaltung der Kirche in der Welt (Ekklesiologie, Pastoraltheologie 3 , Liturgik) und dabei die Publikationen und Lehrveranstaltungen in Münster zu den Teildisziplinen auszuwerten. Dieser Weg wird aber hier nicht gewählt, weil so die spezifische "Textfarbe" 4 des Stählinschen Werkes unberücksichtigt bliebe und weil Stählin gerade dadurch Praktischer Theologe war, daß sein Wirken nicht auf die akademische Disziplin Praktische Theologie beschränkt war 1 Das Prinzip wurde schon von Schleiermacher propagiert: "Die Aufgabe ist auch so auszudrücken, 'die Rede zuerst ebensogut und dann besser zu verstehen als ihr Urheb e r ' . " (Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, zit. nach Stefan ALKIER, Der hermeneutische Ansatz Schleiermachers, 1991, S. 10.) Schleiermacher seinerseits zitiert Friedrich Schlegel (1772-1829). Das bedeutet nicht nur f ü r diese Arbeit über Stählin: Die Werkanalyse kann nicht von der Biographie absehen, muß aber gerade über die eigene Sicht des Autors von seinem Werk, etwa in der Autobiographie, hinausgehen. Hingewiesen sei hier noch einmal auf das Manuskript von Wilhelm MADER, Die Leiden des Lebens und die Leidenschaft des Denkens bei Max Scheler, 1983, in dem gegen die "Biographielosigkeit philosophischer Analysen" (W. MADER, a.a.O., S. II) die biographische Methode als philosophische Heuristik ins Spiel gebracht wird, ohne sich auf Selbstthematisierungen zu beschränken oder andererseits indezente Übergriffe auf einen nicht mehr lebenden Menschen zu wagen. 2 S.o. Anm. 3, S. 1. 3 Die "Pastoraltheologie" als die theologische Berufstheorie der Pfarrerinnen und P f a r rer ist ein notwendiger Teil der Praktischen Theologie und gehört stets zu Stählins Vorlesungen über "Praktische Theologie I", wenn dort die Lehre von Kirche, Pfarramt und Gottesdienst thematisiert wird. In diesem Zusammenhang ist es durchaus sinnvoll, daß es seit 1981 wieder die Zeitschrift "Pastoraltheologie" gibt, die von 1970-1980 nur "Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft" geheißen hatte. Das Januar-Heft 1981 mußte damals der Begründung der Rückkehr zum alten Titel dienen, s. u.a. Wolfgang STECK, Die Wiederkehr der Pastoraltheologie, 1981. 4 Diese homiletische Kategorie, welche vor zu schneller Vereinnahmung biblischer Texte durch "Lieblingsgedanken" warnt, kann auch im Zusammenhang des Werkes eines Autors analoge Funktion ausüben.
4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
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bzw. nach eigenem Selbstverständnis nicht einmal dort das Hauptgewicht hatte. 5 Aber auch ein anderer naheliegender Weg soll hier nicht eingeschlagen werden: die Darstellung anhand der Berneuchener Kategorien für kirchliches Handeln - μαρτυρία, λειτουργία, διακονία. 6 Diese Kategorien blenden die Frühzeit Stählins aus und damit die Auseinandersetzung mit der Erosion von Glaube und Kirchlichkeit in den zwanziger Jahren: Sie sind aus der kirchlichen Binnenperspektive der sich konsolidierenden Michaelsbruderschaft formuliert und beschreiben den Dienst der Kirche im Gegenüber zur Welt. Die Besonderheit seines Schaffens besteht aber gerade darin, daß Stählin durch die Jugendbewegung in den zwanziger Jahren die Kirche zum Teil aus der kritischen Perspektive der "Welt" sehen gelernt hatte und damit den Prozeß von Modernisierung und Individualisierung verarbeitete, wie er in der Weimarer Zeit bestimmend war. 7 Wenn Leben, Leib und Liturgie die Schlüsselbegriffe sind und die Jahre 1918 bis 1945 die entscheidenden, dann steht der Begriff "Leben" schwerpunktmäßig für die zwanziger Jahre, "Liturgie" für die dreißiger Jahre, während "Leib" durch die Spannung von Leiblichkeit (Jugendbewegung) und Leib Christi (Berneuchen) geprägt ist und damit beide Phasen umgreift. Daneben haben alle drei Kategorien im gesamten Lebenswerk Bedeutung, was die folgenden Darlegungen im einzelnen nachweisen werden. Zumindest das Denken in Begriffsdreiecken als solches entspricht übrigens Stählins eigenen Praktisch-theologischen Lehrveranstaltungen: So entfaltet er in der Vorlesung "Praktische Theologie I" im Wintersemester 1931/32 die "Grundformen des Zeugnisses" der Kirche in dem Dreieck "logos - ethos - cultus" 8 und in der Vorlesung "Homiletik" im Sommerse-
5 Es ist ein gewisses Kuriosum, daß Stählin seine Wirkung auf die Studenten - bei sonst wenig Mangel an Selbstbewußtsein - offenbar unterschätzt hat. Gilt er allgemein als besonders geschätzt unter Kollegen und Studenten (s.o. zu Anm. 85 auf S. 20; diesen Eindruck bestätigt ein Gespräch des Verfassers mit Pfarrer em. Heinz H E N C H E am 9. 2. 1993, der 1933-1935 bei Stählin studierte), so schreibt Stählin selbst in Via Vitae, 1968, S. 194 eher resigniert: "[...] mein Freund Koeberle meinte damals, durch die Lehrtätigkeit könnte ich meine Wirksamkeit vervielfachen, was sich dann freilich als ein Irrtum erwiesen hat." 6 Die Formel wurde nach Via Vitae, 1968, S. 317 von Oskar Planck geprägt; das Fehlen einer Quellenangabe dazu beklagt schon Friedemann M E R K E L , Liturgische Bewegungen im 20. Jahrhundert, 1992 [1983], S. 125, Anm. 35. Schließlich ist die Michaelsbruderschaft zu dem "Kräfteviereck" von Leiturgia - Diakonia - Martyria - Koinonia übergegangen. Dieses gliedert das Buch: Die Evangelische Michaelsbruderschaft, 1981; der Terminus "Kräfteviereck" dort S. 8. 7 Vgl. das in Via Vitae, 1968, S. 180 geschilderte kirchenkritische Gespräch mit Jugendlichen "unter einem Bogen der Neckarbrücke". 8 Vorlesung Praktische Theologie I, WS 1931/32, 3a (= Bogen 3, 1. Seite).
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlflsselkategorien
mester 1934 das Spannungsdreieck "Predigt - Leben - Bibel" 9 . In seinen Manuskripten hat Stählin dazu jeweils ein solches Dreieck gezeichnet: Predigt
logos
Stählins Dreieck logos - ethos - cultus ist zwar aussagekräftig für den Akzent seiner Praktischen Theologie, weil hier Dogmatik und Ethik in die Praktische Theologie hineingehören und diese ihren wesentlichen Akzent vom Kultus her erhält; für eine Gesamtdarstellung von Stählins Werk ist es aber zu wenig spezifisch und für eine gegenwärtige Rezeption wenig aussagekräftig. Die gewählten Schlüsselkategorien seien hier im Vorgriff auf die folgende Darstellung noch einmal zusammenfassend charakterisiert: - Sie ergeben sich zunächst aus Stählins Biographie und beziehen sich in unterschiedlicher Weise auf seine eigenen Arbeitsschwerpunkte und auf seine Entwicklungen; sie sind also nicht mit Arbeitsfeldern zu identifizieren und auch nicht streng zu trennen, weil es sich um drei heuristische Kategorien zum Verständnis seines Werkes handelt; - Alle drei Kategorien kreisen im Grunde um das eine zentrale Thema der Praktischen Theologie, um die "Lehre von der Gestaltung der Kirche in der Welt"; von daher gibt es gerade zwischen "Leib" und "Liturgie" Parallelen und Überschneidungen; - Die Darstellung anhand der drei Kategorien erfolgt auf dem Hintergrund der Hypothese, daß sich hiermit (nach einer Präzisierung und Aktualisierung) ein Spannungsdreieck für die Formulierung der Aufgabe gegenwärtiger Praktischer Theologie ergeben kann.
4.1. Leben Der Begriff "Leben" ist ein Grundwort Stählinschen Denkens in allen Schaffensphasen. Er wird bei Stählin nicht theologisch oder philosophisch definiert, sondern in deutlicher Anlehnung an einen breiten lebensphilosophi9 Vorlesung Homiletik, SS 1934, (Stählins eigene Notizen), 2a. - Ferner findet sich in Heinz Henches Nachschrift der Liturgik-Vorlesung aus dem WS 1934/35 das Dreieck "Lehre - Kultus - Verfassung" als das dreifache Handeln der Kirche (S. 1). Offensichtlich stehen diese Dreiecke ohne Bezug nebeneinander.
4.1. Leben
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sehen Denkstrom 10 mehr oder weniger bewußt ins Spiel gebracht. Dabei treffen unterschiedliche Einflüsse, wie z.B. durch Nietzsche, den freien Protestantismus, den Wandervogel und das Erleben des Krieges zusammen. 11 Besonders zahlreich ist das Vorkommen in Stählins frühen Schriften, die wesentlich im Zusammenhang der Jugendbewegung zwischen 1918 und 1926 entstanden sind. Zunächst sollen darum diese Schriften interpretiert werden, bevor Stählins Begriffsgebrauch mit Unterscheidungen verglichen wird, wie sie in bezug auf die Lebensphilosophie erarbeitet worden sind. Der Übersichtlichkeit halber seien hier wenige Anmerkungen zur Entwicklung dieses Terminus bei Stählin vorangestellt. Das Wort "Leben" ist - zumindest im Deutschen - in erster Linie durch die semantische Opposition zu "Tod'V'Totsein" definiert. Wenn es nicht nur formal gebraucht wird, d.h. als Synonym für das Dasein und Wirken eines Menschen ("mein Leben" oder "Leben und Werk"), steht das Wort in direkter oder übertragener Opposition zum Tod oder zum Toten. In metaphorischem Sinn ist das Tote das Langweilige, Erstarrte, Verfestigte, Abstrakte, Theoretische, Formale ohne Rücksicht auf das Leben des Einzelnen bzw. einer Gruppe. 12 Im zumeist übertragenen Sinn fordert der Gebrauch des Begriffes eine bestimmte Art von Wahrnehmung oder Aktion, kurz: "Leben" ist in der Regel ein erkenntnistheoretischer und/oder ethischer Kampfbegriff. Diese sehr allgemeinen Ausfuhrungen erweisen sich bereits als hilfreich, um die unterschiedlichen Akzente in Stählins Begriffsgebrauch herauszustellen; denn jeweils ist eine andere Opposition zum "Leben/Lebendigen" vorausgesetzt. - In der Frühphase bis 1920 steht die Lebendigkeit gelebter Religion und gelebten Lebens gegen die verfestigte Lehre und Begrifflichkeit bayrischen Landeskirchen- und Luthertums (Phase der Religionspsychologie); es bleibt davon ein lebenslanges Mißtrauen gegen theologische Terminologie. - Seit der Begegnung mit dem Wandervogel im Krieg und der folgenden Prägung durch die zweite Phase der Jugendbewegung steht das "Leben" gegen bestimmte Formen des Zusammenlebens in Kirche und Gesellschaft, die als "bürgerlich", "unlebendig" und "nicht jugendgemäß" scharf kritisiert werden; davon bleibt bis zum Schluß das Bemühen, der Begegnung mit dem einzelnen "lebendigen Menschen" Vorrang einzuräumen ge10 Dazu Otto Friedrich BOLLNOW, Die Lebensphilosophie, 1958, S. 8: "Es handelt sich [bei der Lebensphilosophie] vielmehr um eine allgemeine geistige Bewegung, die die verschiedenen Bereiche des geistigen Lebens in gleicher Weise durchdringt und sich nur im philosophischen Bereich in ihrer begrifflichen schärfsten Form ausprägt." 11 Wie dem Überleben des 1. Weltkrieges bei vielen ein emphatisches Bekenntnis zum Lebendigen folgte, habe ich am Beispiel Carl Zuckmayers gezeigt: Michael MEYERBLANCK, "Strahlend von Erden- und Himmelsliebe", 1989, bes. S. 403-407. 12 Ein Beispiel für Opposition im direkten Sinne ist das Motto "Kampf dem nassen Tod" der "Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft" (DLRG).
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlttsselkategorien
genüber einer bereits feststehenden Wahrheit und gegenüber institutionellen Rücksichten. - Die Gespräche in Berneuchen, die Berneuchener Bewegung und Michaelsbruderschaft setzen dann die Akzente des "lebendigen Gesprächs" und der "lebendigen Begegnung" sowie das Leben des Glaubens gegen den theologischen Streit um die Wahrheit, davon bleibt die große Dialogfähigkeit, insbesondere in bezug auf die evangelisch-katholischen Gespräche, aber z.B. auch auf die Wahrnehmung der Anthroposophie. - Die bedeutendste begriffliche und theologische Präzisierung erfolgt schließlich im Lebensbegriff selbst, indem die Zwiespältigkeit allen Lebens gegen den erkenntnistheoretischen und ethischen Optimismus herausgestellt wird: Damit ist (z.B. in der Hauptschrift "Vom göttlichen Geheimnis", 1936) der Begriff "Leben" christologisch gewendet. 13 Alle anderen Verwendungen der Kategorie "Leben" werden von hier aus kritisiert. Dieser christologisch-kritische Gebrauch des Lebensbegriffes stellt schon eine recht stark ausgeprägte Linie in den Schriften zur Jugendbewegung dar, insbesondere in der Beschäftigung mit dem Völkischen. Das durch Christus zu wandelnde Leben wird nun in seiner Zwiespältigkeit betont. Damit überholt der theologische Begriffsgebrauch den lebensphilosophischen, ohne diesen ganz zu beseitigen. "Wandlung" wird dann im übrigen eine wichtige Kategorie in der späteren Theologie des Mysteriums - gewissermaßen ein "lebensphilosophischer Rest" als Tiefenstruktur einer Christologie, welche besonders für das Gespräch mit der ostkirchlichen Theologie geeignet ist: Christus gibt Anteil an seinem Leben und wandelt die Menschenwelt zurück in die göttliche Ordnung. 14 Die vier Oppositionen des Lebensbegriffes sind nun zu skizzieren.
4.1.1. Lebendige Religion gegen verfestigte Lehre Wichtige Aussagen Stählins wurden schon in der biographischen Skizze im Hinblick auf die Religionspsychologie und auf die Kontroverse mit Hans Lauerer zusammengetragen. Dort hatte Stählin explizit gefordert, daß "das alte Evangelium religiös und nicht theologisch gefaßt" werden müsse. 15 Er setzte den Religionsbegriff gegen den Theologiebegriff, weil "Religion" für
13 Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 55: "Alles Leben, sobald es sich über die Schicht eines bloß naturhaften Daseins erhebt, erwächst nicht aus zeitlosen Kräften, aus dem ewigen Born des Lebens [...] Fortan nennen wir Leben im vollen und tiefsten Sinn des Wortes nur noch Sein [Christi] Leben, das uns ergreift, durchdringt und wandelt." 14 So z.B. Bruderschaft, 1940, S. 11. 15 H. LAUERER/W. STÄHLIN, "Altes" und "neues" Evangelium?, 1920, S. 26.
4.1. Leben
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ihn mit Lebenserfahrung gesättigt ist. Diese Position kann durch einen fünf Jahre älteren Vortrag erläutert werden. Auf einer Pfarrkonferenz im Krieg hält Stählin 1915 ein Referat zum Thema: "Religion als Lust und Last." Explizit als Religionspsychologe wirbt Stählin hier dafür, auch die lastvollen Aspekte der Religion zu akzeptieren: In der Wirklichkeit sei die Religion nicht nur Freude. Gerade vom Kultus müsse gelten: "Nirgends verbinden sich so sehr Last und Lust." 16 Allem Zwang (etwa zu religiösen Gefühlen) müsse zwar entgegengetreten werden, aber trotzdem behalte die Religion Anteile von Last. Dies aber sei nun gerade die Stärke der Religion - man wird noch einmal ergänzen dürfen: im Gegensatz zur Theologie daß sie damit ein Stück Leben ist: "[...] wir müßten die Menschheitswürde selber abschütteln, wenn wir die Last der Religion, wenn wir sie verspüren, abschütteln wollten. [...] So wie das Leben selbst da ist und uns zwingt zu leben [...], so ist die Religion eben da und fragt nicht, ob sie Lust oder Last sei. Darum ist es nun aber schließlich nicht möglich, die Freudigkeit zum Maßstab der Religion zu machen, und überall einen Mangel der Frömmigkeit zu argwöhnen, wo einem Menschen seine Frömmigkeit zur Last geworden ist. Religion ist Leben, Leben voll Last und Lust." 17 Das Erbe des 19. Jahrhunderts ist deutlich: Gegenstand des Interesses ist nicht die Wahrheit, sondern die Religion in der Gestalt der Frömmigkeit, welche empirisch (religionspsychologisch) beschreibbar ist. Gleichzeitig aber kündigt sich in der religionspsychologisch-lebensphilosophischen Begrifflichkeit doch eine theologische Denkweise an. Die "wirkliche" (am Leben orientierte) psychologische Betrachtung führt gerade nicht zur Rationalisierung von Religion, sondern zur Erfahrung der Anfechtung. Im oben zitierten Text erscheint "die Religion" als Subjekt, die da ist und nicht ignoriert werden kann; unmittelbar vor dem Zitat wird die Anfechtungserfahrung Luthers geschildert 18 , und der ganze Aufsatz endet mit dem Gebet des Jeremia "Sei nur Du mir nicht schrecklich, der Du meine Zuversicht bist!" 19 Wenn Stählin 16 Religion als Lust und Last, CuG 1915, S. 122, 2. Sp. 17 A.a.O., S. 124, 1. Sp.; Hervorhebung im Original. Seinerseits unpräzise ist das Urteil von H.E. KELLNER, Das theologische Denken Wilhelm Stählins, 1991, S. 203, bei Stählin herrsche "der emphatische, leicht ins Irrationale abdriftende Gebrauch des Lebensbegriff [sie]." Bei Stählin ist hingegen genau nach den gegenüberstehenden Oppositionen zu fragen. Hier stellt eine lebensfremde Theologie und Frömmigkeit (ohne die Erfahrung der "Anfechtung") das Gegenüber dar. Die Gleichung "Religion ist Leben" hat hier nicht ontologischen, sondern schlicht seelsorgerlichen Charakter. 18 Religion als Lust und Last, CuG 1915, S. 124, 1. Sp.: "Aber was Luther hier als Last empfindet, das ist nichts anderes als die Menschenwürde selbst;" (darauf folgt das Zitat im Text). 19 Ebd. (Jer 17,17).
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
dieses Jeremiawort hervorhebt, weil es wie kein anderes die "Doppelseitigkeit" und "das natürliche innere Verhältnis von Last und Lust in der Religion" ausspreche 20 , dann ist hier nichts anderes gemeint als die Glaubenserfahrung Luthers im Zwiespalt des deus absconditus und deus revelatus. Darüber darf die "freier gerichtete" Terminologie nicht täuschen. Man wird sogar behaupten können: Die gegen eine gesetzliche, anfechtungslose Frömmigkeit 21 ins Spiel gebrachte Gleichsetzung von "Religion" und "Leben" dient gerade dem eminent theologischen Anliegen, die Tiefe der Glaubenserfahrung Luthers und Jeremias zur Sprache zu bringen. Dieser Vortrag, noch in Roubaix gehalten 22 , steht vor der Begegnung mit dem Wandervogel im Baltikum. Diese Begegnung wird für Stählin zur großen Befreiung und bringt noch einmal ganz andere Töne in das Verhältnis von Religion und Leben: "Fromm sein heißt zugleich natürlich sein; und eine Frömmigkeit, die den Menschen unnatürlich macht, die ekelt uns an [...]" 23 , heißt es in einer Wandervogelpredigt 1918. Damit verstärkt sich die Tendenz gegen eine lebensferne Theologie. Wenn es 1918 apodiktisch heißt, der Glaube bestehe nicht in der Zustimmung "zu irgend welchen Bekenntnissen", sondern im "Haben der religiösen Einstellung" 24 , so wird man das zu "Religion als Lust und Last" Gesagte mithören müssen, um nicht durch die Begrifflichkeit in die Irre gefuhrt zu werden und eine "liberale Phase" mit einer folgenden "Wende" annehmen zu müssen. Bereits 1919 deutet Stählin gerade das Bekenntnis (wie 1915 die Religion) vom Lebensbegriff her. Es bleibt der kritische Ton, nie könne ein formuliertes Bekenntnis die göttliche Wirklichkeit erschöpfend zum Ausdruck bringen. Aber Bekenntnisse sind nötig für die religiöse Gemeinschaft: "Alle 'Bekenntnisse' sind ein Gestammel; aber wenn Bekenntnis nichts anderes ist als der Versuch, von Lebenstatsachen und Lebenswirklichkeiten, die sich uns aufgedrängt haben, in Worten und im Leben Zeugnis abzulegen, so sind 'Bekenntnisse' eine wesentliche Lebensäußerung religiöser Gemeinschaft." 25
20 Ebd. 21 Vgl. Via Vitae, 1968, S. 37.49, wie Stählin sich in der Jugend von der Frömmigkeit seiner Mutter und Familie löst und als Student froh ist, dieser "entronnen" (S. 49) zu sein. 22 Via Vitae, 1968, S. 134. 23 Eine Predigt (Ps 1,1-3), 1918, S. 189. 24 Über die Ungleichheit der Menschen, 1918, S. 91. Wenig später setzt Stählin die unmittelbare Erfahrung "der lebendigen Wirklichkeit Gottes" dem rationalistischen Schließen auf das Dasein Gottes entgegen (Gibt es unmittelbare Gotteserfahrungen?, CuG 1918, S. 112). 25 Religion von unten her und Religion von oben her, CuG 1919, S. 92, 1. Sp.
4.1. Leben
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Ausdrücklich kehrt sich Stählin in diesem Aufsatz "Religion von unten her und Religion von oben her" von der Religionspsychologie ab. Sie gehöre zu der "Religion von unten her", die nicht dem wahren Wesen der Religion entspreche. Statt Interesse an Gott habe die Religion von unten her nur Interesse an Frömmigkeit. "Dieser Sachverhalt findet wissenschaftlich seinen Ausdruck darin, daß man statt Dogmatik Religionspsychologie treibt, [...] So erscheint, von hier aus gesehen, das ganze stark ausgeprägte Interesse unserer Generation für Frömmigkeit als ein schmerzliches Eingeständnis eines Mangels, des Mangels an lebendiger Fühlung mit Gott." 26 Die Berufung auf die "lebendige Religion" steht in diesem Aufsatz sowohl gegen die Fixierung von Religion durch ein einzelnes formuliertes Bekenntnis als auch gegen die Verengung der Religion auf subjektive Erlebnisse. Wahre Religion ist wie das Leben: nicht berechenbar, weder deduktiv (von einem Bekenntnissatz) noch induktiv (religionspsychologisch) faßbar, weil "Gott die lebendige Wirklichkeit ist, der wir immer und überall gegenüberstehen, [,..]." 27 Bei diesem Text gilt in Analogie zu dem Vortrag "Religion als Lust und Last": Die liberal anmutende Terminologie bringt gerade eine zentrale theologische Kategorie zur Sprache - die Kontingenz Gottes unabhängig von bestimmten Sätzen oder Befindlichkeiten. Hier zeichnet sich bereits ab, worin Stählin den Ausweg zwischen objektivierter und subjektivistischer Religion sehen wird: in der "lebendigen Fühlung mit Gott" (s. Zitat oben), die er dann durch die Liturgie ermöglicht sehen wird. Deutlich ist hier die religiöse Gemeinschaft und nicht das religiöse Individuum die entscheidende Bezugsgröße. Der Lebensbegriff ist in diesen frühen Stellungnahmen zwar nicht definiert, aber er wird keinesfalls einfach "unspezifisch" gebraucht 28 , fast möchte
26 A.a.O., S. 91, 2. Sp. 27 A.a.O., S. 92, 2. Sp. Wie sehr sich bei Stählin eine lebensphilosophische Grundorientierung mit der Bekanntschaft mit Max Schelers "materialer Wertethik" mischt, belegt der Satz: "Religion lebt von dem Bewußtsein, [...] daß wir irgendwie eine Einsicht gewonnen haben in eine ewige Ordnung der Werte, die ganz unabhängig von allen zeitlichen Verwirklichungen besteht."(A.a.O., S. 92, 2. Sp.) Alle "religiösen Vorstellungen" hingegen sind nur "Wellen in dem dahinziehenden Strom alles Geschehens." (Ebd.) 28 Obwohl es auch das gibt, wenn es heißt (in: Wirklichkeitswelt und Weihnachtswelt, DV 1919, S. 360), die in Christus erschienene Weihnachtswelt sei "ein überströmendes Lebensgefühl, das unmittelbare Bewußtsein schöpferischer Kraft, der lebendige Zusammenhang mit dem Leben, [...]." Hier dürfte ganz einfach der in Stählin seit Studentenzeiten schlummernde, durch den Wandervogel neu erweckte Nietzsche sprechen.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
man sagen: Er gewinnt eine ideologiekritische Funktion, die die Theologie an ihre ureigenste Sache erinnert - an die tastenden Versuche, der Wirklichkeit des lebendigen Gottes nachzudenken.
4.1.2. Lebendiges Leben gegen die existierende Kirche und Gesellschaft Stählins unzählige Äußerungen zur Jugendbewegung kreisen hauptsächlich um die Auseinandersetzung mit dem "Lebens"-Begriff. Wurde im vorigen Abschnitt der Begriff "Leben" als kritische theologische Kategorie herausgearbeitet, so gilt für das Folgende: Zunächst richtet sich der Lebensbegriff in breiter Zustimmung zur Jugendbewegung gegen bestehende Institutionen und Lebensformen, dann aber entdeckt Stählin neu, daß das Leben selbst Formen braucht und kritisiert von daher den emphatischen Lebensbegriff selbst. In diesem Zusammenhang wird bereits der Optimismus des Lebensbegriffs überwunden von der Entdeckung des "Schuldgefühls" in der Jugendbewegung. 29 In Anknüpfung an den letzten Abschnitt kann Stählins Weg zur Jugendbewegung als folgerichtiger Schritt seiner Theologiekritik gewertet werden. Der "Mangel an lebendiger Fühlung mit Gott" gilt sowohl für das bayrische Luthertum als auch für den freien Protestantismus und die Religionspsychologie. Daneben tritt das Widersprüchliche kirchlicher Praxis. Einige Jahre später sieht Stählin den berechtigten Protest der Jugendbewegung so: "[...] an der peinlichen Lüge des Schulgebetes und der Konfirmation entzündete sich eine leidenschaftliche Kritik, die dann oft genug mit jugendlichem Fanatismus überhaupt nichts anderes als Lüge und Heuchelei mehr in Schule und Kirche sah." 30
29 Auf eine Definition und zeitliche Abgrenzung des mit "Jugendbewegung" zu Bezeichnenden wird hier bewußt verzichtet. Walter LAQUEUR, Die deutsche Jugendbewegung, 1983 [1962], S. 17, hält sowohl eine Begrenzung auf 1896-1914 als auch eine Dauer bis in die Gegenwart für denkbar. Stählin urteilte schon 1922, daß die Jugendbewegung "heute im großen und ganzen hinter uns liegt" (Die Bedeutung der Jugendbewegung in Christentum und Kirche, 1922, S. 2). Trotzdem wird hier Stählins Tätigkeit im BDJ und seine literarische Wirksamkeit, die hauptsächlich bis 1926 dauert, unter der Bezeichnung "Jugendbewegung" verbucht (vgl. auch den Artikel: Die pädagogische Bewegung. Über den gegenwärtigen Stand der Jugendbewegung, 1927). Die wichtige Unterscheidung von erster und zweiter Phase der Jugendbewegung (Wandervogelzeit vor 1918, Bündische Jugend in den zwanziger Jahren) ist für Stählin von untergeordneter Bedeutung, da seine Wirksamkeit sich auf die zweite Phase beschränkt. 30 Evangelische Kirche und Jugendbewegung, 1926, S. 553.
4.1. Leben
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E s gibt j e d o c h einen "Strom religiösen Lebens außerhalb der Kirche" 3 1 in der religiösen Jugendbewegung, w o v o n Stählin (neben anderem) a n g e z o g e n wird. 1 9 1 8 wird er aufgefordert, in Nürnberg einen Vortrag über den Lebensstil der J u g e n d b e w e g u n g zu halten. Er muß sich das dazu nötige Material n o c h aus Zeitschriften zusammensuchen, aber die eigene B e z i e h u n g zu den G e danken der J u g e n d b e w e g u n g läßt die Druckfassung Der neue Lebensstil. Ideale deutscher Jugend (1918) zu einer "Programmschrift der J u g e n d b e w e gung" w e r d e n . 3 2 Hier wird die J u g e n d b e w e g u n g mit dem Lebensbegriff begeistert gerühmt: "Es war v o n Anfang an eine Lebensbewegung-, verborgen in ihren Ursprüngen, grundsatz- und tendenzlos w i e das Leben selbst, aber ihrer selbst g e w i ß und ihres D a s e i n s froh w i e alles wahrhaft L e bendige." 3 3 D a s L e b e n der Jugend ist hier nicht nur Selbstwert - d a v o n wird auch die Erneuerung v o n Gesellschaft und Kirche erwartet. D i e ältere Generation hat nur die A u f g a b e , dieses Leben nicht zu hindern 3 4 und nicht zu vereinnahmen. D i e Parole "Wer die Jugend hat, hat die Zukunft" wird e b e n s o z u r ü c k g e w i e sen w i e die v o n Gustav W y n e k e n propagierte, v o n der Gesellschaft unabhängige "Jugendkultur". 3 5 Stählin bittet im N a m e n der Jugend:
31 Kirche und Religion, 1921, S. 1. Neben der religiösen Jugendbewegung nennt Stählin hier den Neupietismus und die Anthroposophie. In dem Vortrag ist bereits der Weg zur Liturgie klar erkennbar in den Stichworten: "Die repräsentativen Gefühlsträger. Der Sonntag. Der Altar. Das heilige Buch." (S. 4) 32 Via Vitae, 1968, S. 182. Die Schrift wird von Werner KINDT, Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, 1963, S. 303-321 (nach der 3. Auflage 1923) abgedruckt. Zitiert wird im folgenden nach der 1. Auflage 1918. 33 Der neue Lebensstil, 1918, S. 4, Hervorhebung dort. Kurz vorher wird die MeißnerFormel zitiert: "Die freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten [...]." Besonders die Wahrhaftigkeit bleibt für Stählin eine immer wieder erwähnte Maxime. 34 Hier beruft Stählin sich (a.a.O., S. 7) u.a. auf FICHTE. Die erwähnte 14. "Rede an die deutsche Nation" ist eindeutig von Rousseauschem Gedankengut geprägt, wenn es dort heißt: "Nicht die Natur ist es, die uns verdirbt, diese erzeugt uns in Unschuld, die Gesellschaft ists. Wer nun der Einwirkung derselben einmal sich übergibt, der muß natürlich immer schlechter werden, je länger er diesem Einflüsse ausgesetzt ist. [...] Euch Alte sonach [...] beschwören diese Reden [...]: helfen sollt ihr nicht, störet nur dieses einzige Mal nicht, [...] Lernt nur endlich einmal euch selbst erkennen, und schweiget." (Johann Gottlieb FICHTE, Reden an die deutsche Nation, 1978 [1808], S. 237 f.) Hier liegt eine der Wurzeln für Stählins gegen Alter und Institutionen gerichteten Gebrauch des Begriffs "Leben". 35 Der neue Lebensstil, 1918, S. 7. Zu Wyneken, der klar zum politisch linken Spektrum gehörte und u.a. die "freie Schulgemeinde" konzipierte, vgl. Ulrich HERMANN, Die Jugendkulturbewegung, 1985, S. 228-232.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien "[...] laßt hier wenigstens das Leben Leben sein, statt es schon einzuspannen in die Sklavenkette der Nutzhaftigkeit!" 36
Die große Schwäche dieser Schrift besteht nun aber aus heutiger Sicht darin, daß mit dem Lebensbegriff beurteilt wird, was "natürlich" und "gut" ist, ohne vorher den Begriff "natürlichen" Lebens definiert zu haben. Hier wird einfach behauptet: Das Kino bietet ein "verlogenes Zerrbild des Lebens" und wer häufig ins Kino geht, wird blind für die Natur "und er kann nimmer unser Freund sein". 37 In bezug auf die Sexualität wird das Wandern gerühmt, weil dort gar nicht aufkommen kann, "was in schwülen Sälen üppig wuchern darf." 38 Hingegen heißt es über den "Wanderer zwischen beiden Welten" von Walter Flex: "Das ist Gesundheit, Kraft, Reinheit, Freude und Freundschaft, das hohe Lied des Lebens, in das tausend und aber tausend mit ihrem ganzen Wesen einzustimmen begehren." 39 Das Naturerleben als ein Hauptinhalt der Jugendbewegung 40 wird von Stählin nun auch religiös gedeutet. In dem Bemühen, die "lebendige Religion" zu 36 Der neue Lebensstil, 1918, S. 7. 37 A.a.O., S. 13. 38 A.a.O., S. 18. Die Alkohol- und Tabakabstinenz wird S. 19 als selbstverständlich vorausgesetzt. Stählin erzählt schon von seinem Landpfarramt 1910-1914: "Daß ich dabei mehr aus Geschmack als aus Prinzip kein Bier trank, regte die Leute mehr auf als das, was ich sagte." (Via Vitae, 1968, S. 116) In einem Vortrag (Alkohol und Jugend, 1924) fordert Stählin das Thema "Wanderung ohne Wirtshaus" als eines der nötigsten "an jeder Lehrerbildungsanstalt" (S. 3). Zum "Kampf gegen die Zigarette" s. Farbenstudent und Jugendbewegung, 1922, S. 299. 39 Der neue Lebensstil, 1918, S. 21; S. 27 wird das berühmte Wort "rein zu bleiben und reif zu werden" zitiert. Diese Stelle findet sich gleichfalls im "Wanderer zwischen beiden Welten" (Walter FLEX, Werke, Bd. I, S. 96). Kaum ein Werk wie das von Flex kann uns die völlige Fremdheit damaligen und heutigen Empfindens vor Augen stellen. Nicht nur die mit Attributen übersättigte Sprache erscheint uns schwülstig ("[...] sah mit windheißen Augen in das flackernde Helldunkel der Sturmnacht, [...]", W. FLEX, Bd. I, S. 67), erst recht die Verherrlichung des Kriegstodes ist schlicht unbegreiflich. Die Mutter des gefallenen Titelhelden (ein Theologe, der mit Goethe, dem Zarathustra und dem Neuen Testament ins Feld zieht, a.a.O., S. 73) fragt beim Erhalt der Todesnachricht nur, ob ihr Sohn noch einen Sturmangriff mitgemacht habe: "Ich nickte mit dem Kopfe. 'Ja, bei Warthi.' Da schloß sie die Augen und lehnte sich im Stuhl zurück. 'Das war sein großer Wunsch', sagte sie langsam, als freue sie sich im Schmerze einer Erfüllung, um die sie lange gebangt hatte. Eine Mutter muß wohl um den tiefsten Wunsch ihres Kindes wissen." (A.a.O., S. 105) Wer vermöchte dies mit Stählin heute als "das hohe Lied des Lebens" zu titulieren? Gert SAUTERMEISTER, Vom Weither bis zum Wanderer zwischen beiden Welten, 1985, bescheinigt dem Werk u.a. das "Niveau pathetischer Komik", aber auch eine "bewußtlose Auflehnung" gegen den Krieg durch die Naturszenen (a.a.O., S. 466 f.). 40 Die Natur ist der Bundesgenosse der Jugend, den sie "mit dem Instinkt des Lebens" gefunden hat (Der neue Lebensstil, 1918, S. 9).
4.1. Leben
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entdecken, erscheint in der Schrift von 1918 tatsächlich die theologia naturalis in Reinkultur, wenn es heißt: "Die Natur ist eine große Offenbarerin und die Freundschaft eine schützende Heimstätte fur das zart und schüchtern sich regende Leben der Religion. [...] So wie diese Jugend die Natur als den Gesundbrunnen ihres Wesens gefunden hat, so steht sie auch an der Quelle, der einzigen Quelle, aus der die ewige Frische und Gesundheit alles menschlichen Lebens strömt. Aus ihr das Leben zu speisen, ist der heiligste Drang einer Jugend. Sie lebt ganz und gar in der Gesinnung des Jesusworts: 'Trachtet am ersten danach, daß Gott in euch herrsche, dann wird alles andere euch von selbst zufallen!'" 41 Man kann diese Stelle so interpretieren, daß hier Christus lediglich zur Krone des Naturerlebens wird und Stählin seinen Weg zur biblischen Theologie noch vor sich hat. Möglich ist aber auch die Deutung, daß Stählin den Umweg über die Natur zu Christus wählt, weil die angeblich direkten Wege (über die Lehre der Kirche und über das religiöse Bewußtsein des Christen) sich als kraftlos erwiesen haben. Somit wird ein eminent praktisch-theologisches Interesse ausgedrückt, das mit einem heutigen Terminus als Bemühung um "Enkulturation" des Evangeliums beschrieben werden könnte. Das "solus Christus" wird in dem obigen Zitat laut in der Form der analogia entis. Der methodische Ansatz bei der Natur steht neben dem sachlichen Primat Jesu Christi. Hier kündigt sich bereits Stählins spätere Lehre von der Natur als "Gleichnis" an: Das wahre Leben in Christus wird angeschaut "in, mit und unter" dem Leben von Menschen und Natur und hat in den Sakramenten die ureigenste Form. Der dieser Untersuchung zugrundeliegende Dreiklang von "Leben, Leib und Liturgie" findet sich bereits am Schluß dieser Schrift von 1918: "Überall tritt - oder soll treten - an Stelle einer öden Nützlichkeit ein geisterfulltes Leben, - dessen höchste Erscheinungsform uns in den religiösen Sakramenten gegeben ist. Dann wird nicht mehr die Seele verarmen, weil ihr Bestes keinen Ausdruck finden kann, und alles Leibliche wird genesen an seinem höchsten Beruf, ein Tempel des Geistes zu sein."42 Mit der Übernahme des kulturkritischen, naturromantischen Begriffs von Leben 43 gelingt es Stählin, in der Jugendbewegung Gehör zu finden. Der große 41 A.a.O., S. 23 f. 42 A.a.O., S. 27. 43 Genau 50 Jahre später verwendet Stählin den Begriff "Leben", um zu erklären, was "konservativ" ist: "Wer konservativ ist, wer sich also den Quellen des Lebens verpflichtet fühlt, steht darum ständig im Kampf gegen die krankhafte und krankmachende Vorliebe für das Ungesunde [...] Autorität ist nach seinem Wortsinn die
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Erfolg der Heidelberger Rede Jesus und die Jugend (1921) wurde bereits in der biographischen Skizze erwähnt. In der Kritik an der landläufigen Theologie, Christologie und Kirchlichkeit, an dem "Krampf und der Verschrobenheit" und in der Zustimmung zu der "Angst, selbst durch den Zwang der Verhältnisse und durch fremde und äußere Autorität verbogene und verkrüppelte Menschen zu werden" 44 ist Stählin mit der Jugend einig. Jesus bringt nicht bürgerliche Moral oder kirchliche Lehre, sondern die Schau des Lebens, seine Liebe ist "überströmendes Leben, helfende Kraft." 45 Aber hier fließt - mitbedingt durch den Kontext der Rede innerhalb des christlichen Jugendbundes BDJ - ein ganz neuer Ton mit in Stählins Äußerungen zur Jugend ein: Er spricht sehr deutlich von der Sünde. Gerade wer "allem Scheinwesen und aller verschraubten Unnatur unzugänglich" sei, könne nicht miteinstimmen in die allgemeine Lobrede "Der Mensch ist gut". 46 Auch wenn dies vielen fremd und unzugänglich sei - Jesus sehe in seiner Wahrhaftigkeit gerade die Sünde des Menschen: "[...] das weiß ich, daß die Feinsten und Tiefsten und Stärksten unter euch sehr wohl die Sache kennen, die jenes Wort meint: den bösen Wurm, der mitten in Freude und Gesundheit und Arbeitskraft alles verdirbt, den innerlichen Schaden, der mehr ist als ein Fehler, gegen den man tapfer ankämpft, eine ins Innerste gehende Verkehrtheit, von der man geheilt werden muß, um wahrhaft Mensch zu sein." 47 Damit tritt bei Stählin ein für alle Mal der reformatorische Sündenbegriff neben den optimistischen Lebensbegriff, ohne diesen jedoch zu verdrängen. Der Schluß der Rede weist auf die "zwei Sinnbilder" Kreuz und Brot hin, mit denen wir "vor letzten Geheimnissen, vor innersten Lebensgesetzen, vor den entscheidenden Kundgebungen Gottes" stehen. 48 Indem so der Lebens-
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Kraft, Leben zu wecken und Leben wachsen zu lassen." (Dankrede zur AdenauerPreisverleihung der Deutschland-Stiftung am 11. 5. 1968, in der Personalakte W. Stählin 1967-1981, Ev.-theol. Fak. Best. Nr. 58 II, Universitätsarchiv Münster.) Noch hier klingt deutlich der Nietzschesche Lebensbegriff nach; als Kontext wird man die Studentenunruhen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke (11. 4. 1968) berücksichtigen müssen. Jesus und die Jugend, 1921, S. 9 f. A.a.O., S. 31. A.a.O., S. 13 f. A.a.O., S. 14. Richtig hebt Erich NESTLER, Der Beitrag Wilhelm Stählins zur Jugendbewegung, 1986, S. 129 hervor, daß Stählin hier das liberale Jesusbild weit hinter sich läßt und den auferstandenen, gegenwärtigen Christus predigt. A.a.O., S. 34 f. Ähnlich heißt es dann 1922: Für die Jugend ist wichtig, "wie immer wieder alle ungebrochene Lebensfröhlichkeit durchs harte Zeichen des Kreuzes durchgestrichen und immer wieder in dieser Welt das Zeichen des Kreuzes aufgerichtet ist." (Rede am Beginn der Bundesversammlung, 1922, S. 14.) Ganz deutlich stellt Stählin heraus: "[...] ohne Christus ist die ganze Jugendbewegung sinnlos [...]"
4.1. Leben
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begriff ins Christologische und Sakramentale gewendet wird, ist klar der Weg zur Theologie des Mysteriums und zur Liturgie eingeschlagen. Das Bedeutsame an dieser Entwicklung besteht darin, daß Stählin sowohl den überschwenglichen Lebensbegriff 1918 wie auch den Sündenbegriff aus der Beobachtung der Jugendbewegung selbst ableitet. In den Jahren ab 1921 spielt die Neuentdeckung der Sünde durch den Kontakt mit der Jugendbewegung eine gewisse Rolle49, bis Stählin dann 1924 beide Linien zusammenfuhrt. Die Jugendbewegung selbst macht eine Entwicklung durch: "In ihrem unmittelbaren Lebensgefuhl, nicht mit Worten und Begriffen lernt sie erfassen, was die Bibel unter Schuld und Sünde versteht." 50 Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, daß diese Entdeckung nicht zuletzt für Stählin selbst von größter Bedeutung ist. Die im theologischen Studium und im landeskirchlichen Dienst, letztlich auch in der Religionspsychologie erlebte Diastase von theologischer Begrifflichkeit und "Lebensgefuhl" - hier ist sie einmal überwunden, und zwar nicht allein durch theologische Arbeit, sondern durch das Sich-Einlassen auf den Weg der Jugendbewegung und dessen theologische Deutung. Biblische Hermeneutik nimmt also den Umweg über das Verstehen des Lebensgefuhls der gegenwärtigen Jugend. Damit gelingt Stählin - nach Vollendung seines 40. Lebensjahres der theologische Durchbruch; das, was er als Jugendlicher selbst schmerzlich vermißt hatte, findet er erst jetzt endgültig: den Bezug der christlichen Begriffe und Inhalte zum eigenen Leben.
(a.a.O., S. 12). In der Predigt am 30. 7. 1922 geht Stählin den Weg von der Befindlichkeit der Jugendlichen zu Christus: "Solange unser Gewissen uns nur zu uns selber führt, so ist es noch das Ungewissen, nicht das Gewissen. Was sucht unser Gewissen? Es sucht die großen ewigen Gesetze des Lebens, es sucht den Sinn alles Seins, [...] es sucht Gott." Der Bund ist nicht auf Sympathie gegründet, sondern auf "die große Gemeinschaft des Gewissens, des ganz Gewissen [...] - daß wir alle etwas von dem Lichte des Herrn Jesus Christus gesehen haben, der das Licht der Welt ist." (Predigt, 30. 7. 1922, S. 40. 43.) 49 1922 sagte Stählin in einem Vortrag bei der Apologetischen Konferenz in Erlangen: "Aus dem Einheitserlebnis des Menschen, aus dem Hunger nach der Freiheit heraus, erwächst in den feinsten dieser jungen Menschen ein Sündengefühl [...]" (Die Bedeutung der Jugendbewegung in Christentum und Kirche, 1922, S. 40), und 1923 heißt es über die Jugendbewegung: das Naturerleben sei zentral, aber nicht naiv - es führe in die Sündenerkenntnis (Was will und kann die deutsche Jugend der Gegenwart leisten?, 1923, S. 156). 50 Das Schuldgefühl der modernen Jugend, 1925 [1924], S. 459.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Stählin beginnt seine bemerkenswerte kleine Studie Das Schuldgefühl der modernen Jugend51 mit der Feststellung, daß dieses Schuldgefühl anders ist "als dasjenige der christlichen Lehre und Praxis von ehedem."52 Der erste Schritt dazu sei der scharfe Blick für alles Unechte und Unlautere gewesen: für die Unaufrichtigkeit im Miteinander (etwa von Schülern und Lehrern) wie für "das hohle Pathos einer christlichen Predigt." 53 Die Jugend sei unerbittlich gegen alle Unnatur und Krampf, weil sie in der Natur den "Maßstab des gewachsenen Lebens der Schöpfung" 54 gewonnen habe und diesen der Konvention entgegensetze. Damit jedoch leiste die Jugend stellvertretend einen Dienst an der gesamten Gesellschaft und Kultur, welche "die Verbindung mit der geistigen Welt verloren hatte." 55 Dem entspreche das ganze neue Schuldgefühl: "1. [...] es legt den Maßstab an die Gesamthaltung des Lebens an, die als unecht, unfromm, asozial, akosmisch, gottlos empfunden wird. 2. Es ist nicht sowohl die persönliche Gesamthaltung einzelner Menschen, als vielmehr der Gesamtgeist der Zeit, in die wir hineingestellt sind, die als naturlos und gottentfremdet gefühlt wird [..•]"·* Doch dieses sei nur der erste Schritt einer Entwicklung gewesen, bei vielen noch "der reine Pharisäismus, das Andersseinmüssen, [...] der Versuch, aus einem Reinlichkeitsgefühl heraus die schuldbeladene Welt zu verlassen." 57 Dem sei jedoch die Erkenntnis der eigenen Verstrickung gefolgt, die Erkenntnis der eigenen Unwahrhafitigkeit und Entfremdung von der göttlichen Ordnung der Welt. Die Verarbeitung des Kriegserlebnisses sei dabei von besonderer Wichtigkeit gewesen:
51 Vortrag Stählins auf einer Jugendpfarrertagung in Stuttgart 1924, im folgenden zitiert aus der in vielen Bibliotheken vorhandenen "Evangelischen Jugendkunde" von L e o p o l d CORDIER, B d . 1 ( 1 9 2 5 ) , S. 4 5 6 - 4 6 0 .
52 A.a.O., S. 456. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 A.a.O., S. 457. Dies ist nichts anderes als die damalige pessimistische Kulturkritik, wie sie z.B. von Oswald Spengler und Albert Schweitzer ein Jahr vor Stählins Vortrag veröffentlicht worden war: O. SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes, 1990 [1923], S. 487 f.. "Nun zeigt die Geschichte der hohen Kulturen, daß 'Wissenschaft' ein spätes und vorübergehendes Schauspiel ist, [...] von der Lebensdauer weniger Jahrhunderte, innerhalb deren sich ihre Möglichkeiten erschöpfen." A. SCHWEITZER, Verfall und Wiederaufbau der Kultur, 1974 [1923], S. 23-31 nennt zuerst "Die Schuld der Philosophie an dem Niedergang der Kultur". 56 A.a.O., S. 457 f. 57 A.a.O., S. 458.
4.1. Leben
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"Der Krieg hat sein eigentümliches Schuldgefühl hervorgebracht. Er ist der Ausdruck der vollendeten Gottlosigkeit. Das Widereinanderleben ist ganz und gar wider den Sinn der Welt; also Weltschuld liegt hier zutage. [...] So lebten diese Menschen in der furchtbaren Spannung, daß sie das Ganze als eine ungeheure Schuld empfanden, an der sie teilnehmen mußten und der sie sich doch nicht entziehen konnten und wollten." 38 Hier wird - wiederum gewiß nicht zuletzt aus eigenem Erleben heraus - das Verhältnis zum 1. Weltkrieg als das Ineinander von Erb- und Tatsünde gedeutet. Es gebe nun verschiedene Versuche, "sich von der Schuldbefleckung des Krieges zu reinigen" 59 : den Siedlungsgedanken, den Pazifismus und die völkische Bewegung. Die letztere versuche, durch ein "nach außen gerichtetes Nationalbewußtsein [...] sich aus der Weltsolidarität der Schuld zu lösen." 60 Hier liegt der theologische Grund für die Tatsache, daß Stählin bei aller (heute so fremd gewordenen) Sympathie für das völkische Gedankengut die kritische Distanz zum Volkstum als religiöse Größe deutlich wahren wird. Hier bahnt sich der klare Widerspruch zur politischen Theologie von P. Althaus und E. Hirsch 1925 und zur späteren deutschchristlichen Theologie an. Am gegenwärtigen Punkt der Entwicklung steht nach Stählin die Auslegung der biblisch-theologischen Lehre von der Sünde durch das Erleben der Jugend, was die Führer und Älteren in den Bünden in eine große Verantwortung stelle: "Wir haben eine Wandlung erlebt: Man empfindet gar nicht mehr nur die Zeit, in der wir leben, als verkehrt und schuldbeladen, sondern überhaupt die Welt und die ganze Menschheit. Es ist eine tiefe Erkenntnis davon aufgegangen, was Teufel und höllische Macht heißt [...] Wir stehen vor einer Vertiefung des Schuldgefühls, das durch die Entwicklung der Jugendbewegung angeregt wurde. [...] Sie wächst über das individualistische Gefühl hinaus, dem auch die Kirche in den letzten Jahrhunderten entgegengekommen ist. Ihr Schuldgefühl ist nicht moralisches Urteil über
58 A.a.O., S. 458 f. 59 A.a.O., S. 459. 60 A.a.O., S. 459. Zur völkischen Einstellung Stählins s.u. Abschnitt 4.2.1., zum Pazifismus vgl. das in der Biographie zu den ökumenischen Beziehungen Ausgeführte, zum Siedlungsgedanken die romantisierende Schrift Stählins Siedelung in Kurland, 1917, S. 7: "[...] hier ist viel stärker der Selbstwert des Lebens im allgemeinen Bewußtsein geblieben."
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien einzelne Handlungen, sondern die Erfahrung v o n dem Abstand d e s M e n s c h e n v o n Gott." 6 1
D i e s e Schrift v o n nur fünf Druckseiten wurde hier so ausfuhrlich dargestellt, w e i l in ihr der t h e o l o g i s c h e Durchbruch Stählins greifbar wird. E s handelt sich z w a r nicht um eine "Wende", aber die Füllung d e s B e g r i f f s "Leben" w e i t e t sich durch das D e u t e n des Jugenderlebens zur reformatorischen T h e o l o g i e und ermöglicht Stählin künftig den Gebrauch traditioneller t h e o logischer Begrifflichkeit. V o r dieser t h e o l o g i s c h e n Interpretation der J u g e n d b e w e g u n g hatte aber schon 1921 eine deutliche, teilweise sehr scharfe Kritik an ihren A u s w ü c h s e n g e s t a n d e n in der Schrift Fieber und Heil in der Jugendbewegung61. Hier zieht Stählin g e g e n die "Wandervogel-Orthodoxie" 6 3 zu Felde und betont stattdessen die Wichtigkeit v o n Pflicht, Dienst, B e r u f und Familie. In d e m g r o ß e n Hauptabschnitt "Werden und Wollen" setzt er sich intensiv mit d e m optimistischen B e g r i f f v o n "Leben" auseinander. Zwar stehen am Anfang die S ä t z e "Leben ist eben Leben", "Das Leben hat keinen ' Z w e c k ' und es ist nicht mehr 'Leben', w e n n es einen Z w e c k hat" 64 , aber w e n i g später wird der
61 A.a.O., S. 459. Unzutreffend ist die Interpretation der Schrift durch Erich NESTLER, Der Beitrag Wilhelm Stählins zur Jugendbewegung, 1986, S. 86-90, der meint, Stählin habe das Schuldbewußtsein als notwendige Voraussetzung angesehen, um "für das Evangelium ansprechbar zu sein" (S. 86). Umgekehrt gilt: Das Erleben der Jugend wird für Stählin zum hermeneutischen Schlüssel theologischer Begrifflichkeit. Zwei Jahre später urteilt Stählin noch umfassender, das neue Schuldgefühl der Jugend lasse "zum erstenmal seit Jahrhunderten ein neues Geschlecht wirklich in der Fragestellung der Reformatoren vor den letzten Abgründen menschlicher Not" stehen (Evangelische Kirche und Jugendbewegung, 1926, S. 561). - Am Schluß dieser Entwicklung steht das Buch von Friedrich LANGENFAB, Die reformatorische Botschaft in der Jugendbewegung, 1929: Hier wird die Auswirkung der Lutherrenaissance auf die Jugendbewegung geschildert und die Reformation ebenfalls als "Jugendbewegung" (S. 34) beschrieben; insbesondere wird dem individualistischen Lutherbild "der idealistischen Philosophie" der "kirchliche Luther" entgegengestellt (S. 18 f.), Stählins "Schicksal und Sinn der deutschen Jugend" (1926) wird mehrfach zustimmend zitiert (S. 53-63). Innerhalb des BDJ gab es eine Auseinandersetzung um die Schrift von Langenfaß zwischen den Pastoren Ludwig Heitmann (Hamburg) und Richard Karwehl (Osnabrück), vgl. Horst Dieter TOBOLL, Evangelische Jugendbewegung 1919-1933, 1971, S. 70. 62 Im folgenden wird aus der 2. Auflage zitiert, in der "einige Schärfen des Urteils" beseitigt sind (Vorwort). Werner KINDT, Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, 1963, bringt die Schrift auf S. 374-428 auszugsweise zum Abdruck. 63 A.a.O., S. 5 (Einleitung). 64 A.a.O., S. 52. Auf S. 54 wird hinzugefügt, daß das "neue Leben" im Neuen Testament in Analogie dazu verstanden werden müsse als schöpferische Notwendigkeit des Geistes, dem gegenüber alles Bemühen "doch 'Sünde', unlebendiges, unechtes, unfruchtbares Bemühen" sei. Hier ist der Sündenbegriff noch nicht mit dem Schulderleben gefüllt.
4.1. Leben
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Glaube an das Recht der freien Entfaltung dann als "Dogma" kritisiert 65 , bis schließlich - in gänzlichem Widerspruch zur Schrift von 1918 - der harte Satz fällt: "Es wächst gar nichts von selber als das Unkraut." 66 Hier stehen eine Menge kleiner Bösartigkeiten gegen den Betrieb der Jugendbewegung ("Hütet euch vor den Gschaftlhubern der Jugendbewegung; das Leben braucht keine Geschäftsführer." 67 ). Wichtiger für diese Untersuchung ist jedoch, wie Stählin in dem Abschnitt "Der Wille zur Form" die Konsequenzen zieht durch die Erkenntnis: Die Form ist das "Gesetz alles höheren Lebens" 68 , das Leben braucht die Form wie der Saft des Baumes die schützende Rinde. Der Abschnitt "Der Wille zur Form" bringt über die Kritik am Lebensbegriff hinaus dessen Konkretion durch die hier erstmals deutlich hervortretenden Schlüsselkategorien Leib und Liturgie. "Alles innere Leben [...] schafft sich irgend eine Gestalt." 69 Mit der neuen Lehre von der Notwendigkeit der Form hat Stählin nun den Weg gefunden, kirchliche Gemeinschaft als Möglichkeit für das Suchen der Jugend anzubieten. 70 Den gemeinsamen Bezug auf die neue Freiheit des Lebens und des Leibes führt er weiter zur Form des Leibes Christi und seiner Liturgie. Folgende Zitatauswahl dient der Verdeutlichung: "Das größte Jubellied weiß nichts Größeres, als daß der Gottesgedanke 'Fleisch', 'Form' geworden ist. [...] 'Leiblichkeit ist das Ende aller Wege Gottes' [...]." "Gerade die Angst vor der Form hindert auch so viele von euch zu sehen, was die 'Kirche' eigentlich ist; ich meine nicht irgendeine besondere Kirche, sondern die Kirche überhaupt als eine Erscheinungsform des eine Gemeinschaft durchflutenden religiösen Lebens [...]."
65 A.a.O., S. 55. 66 A.a.O., S. 62. Auch hier wird als Argumentationshilfe das Buch von Henry DRUMMOND, Das Naturgesetz in der Geisteswelt, 1886 herangezogen: Das Leben brauche von außen Einflüsse "höherer Welten", sonst verkümmere und verwildere der Mensch. 67 A.a.O., S. 64. 68 A.a.O., S. 28. Sachlogisch gehört der Abschnitt "Der Wille zur Form" (S. 26-37) hinter "Werden und Wollen" (S. 52-71), dieser ist wohl als Begründung der am Anfang stehenden neuen These hinzugefügt. 69 A.a.O., S. 30. 70 Vgl. dazu Stählins Erzählung über seine Äußerung im Januar 1923: "Auf alle Fragen dieser jungen Menschen stehen die entscheidenden Antworten in Luthers Kleinem Katechismus, aber niemand würde uns verstehen, wenn wir versuchten, ihnen das zu sagen." (Via Vitae, 1968, S. 315.)
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
"Aber wenn ihr den Willen zur Form in euch tragt, [...] dann warten auf diesem Wege unerhörte Entdeckungen auf euch [...], und am Ende dieses Weges wartet auf euch - das Sakrament."71 Damit ist die Begrifflichkeit gefunden, mit der Stählin den Impuls der Jugendbewegung in Theologie und Kirche einbringen wird. Es ist nicht auszumachen, für wie viele Jugendliche tatsächlich der Weg vom freien Leben zum Leib Christi und damit zum Sakrament führte - für Stählins eigene Theologie, die damit zur theologischen Hermeneutik von der Jugendbewegung her, zur praktischen Theologie wurde, gilt dies jedenfalls. Damit ist schon Wesentliches für die Abschnitte 4.3. bis 4.5. ("Leib" und "Liturgie") vorweggenommen worden; es zeigt sich, wie die drei Schlüsselkategorien ineinander verwoben und nur um einer klareren Darstellung willen voneinander zu trennen sind. Zum Schlüsselbegriff "Leben" ist nun noch ein Blick auf Stählins letztes und umfangreichstes Buch zur Jugendbewegung zu werfen, auf Schicksal und Sinn der deutschen Jugend (1926).72 Nach seinen eigenen Worten versteht Stählin das Buch ebenfalls als den Versuch, die Fragen der Jugend theologisch zu deuten, das heißt "diese tiefste Not des vor Gott stehenden Menschen an jedem Punkt des heutigen Jugendschicksals aufzuzeigen und das Evangelium als die Antwort Gottes auf diese Not zu deuten."73 Im ganzen leidet die Schrift etwas daran, daß sie so etwas wie die "summa" von Stählins Sicht der Jugendbewegung darstellt und mit ihren 166 Seiten ein wenig langatmig wirkt. Alles soll gesagt werden: etwas zu Natur, Leib, Gemeinschaft, Bund, Volk, Liebe und Ehe und zur Stellung des Menschen 71 A.a.O., S. 33. 35. 37. Stählin beklagt, es gebe bisher nicht einen "neuen Willen zur Form", sondern einen "alten Willen zur neuen Form". (S. 29 f.) Ein Beispiel für Stählins kräftige Diktion in der Schrift: "Seelisches Landstreichertum, das an allen Hecken und Zäunen Unzucht treibt mit dem Geist, haßt alle Form." (S. 33) Man ist versucht, dieses Bonmot auch als Kommentar zur heutigen Beliebigkeit zu lesen. 1921 erschienen auch die Lebensformen von Eduard Spranger (1882-1963) in 2. Auflage C11914), ein klassisches Werk der an Diltheys Lebensphilosophie orientierten geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Hier hat das Individuum als "Form" Vorrang vor den kulturellen Systemen und Institutionen, vgl. Michael LÖFFELHOLZ, Eduard Spranger, 1979, bes. S. 262 f. 72 Das Buch wurde im Sommer 1925 abgeschlossen und geht ursprünglich zurück auf den Vortrag "Was will und was kann die deutsche Jugend der Gegenwart leisten?, Braunschweig 1921. Dort hatte Stählin u.a. zur Überwindung "unfruchtbare[r] Romantik" aufgerufen (Leitsatz 3). 73 Unser Schrifttum, UB 1926, S. 286. Im Rückblick sieht Stählin das Buch bereits im engen Zusammenhang mit Berneuchen: Via Vitae, 1968, S. 183. - Explizit hat Paul TILLICH, Systematische Theologie, Bd. I, 1958, S. 40 Systematische Theologie als auf die Fragen der menschlichen und geschichtlichen Situation antwortende Theologie definiert.
4.1. Leben
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vor Gott. Hier klingt vieles aus der Thematik des Berneuchener Buches und aus Stählins Schriften zur völkischen Bewegung und zur Leiblichkeit an. Was die Kategorie Leben betrifft, werden die früheren Linien noch einmal gebündelt. Ausdrücklich bekennt sich Stählin zu seiner Schrift vom "Neuen Lebensstil" 74 und stellt die "tausend Irrtümer" der Jugend als "die Irrfahrten eines sehnsuchtsvollen Suchens nach dem Leben" heraus. 75 Vom "Leben" wird gleichsam personal gesprochen: Es war das Verdienst der Jugendlichen, "daß in ihnen das Leben selber sich einen Ausweg suchte aus seinem Gefängnis, daß in dieser Generation der vergewaltigte 'Mensch' sich regte f...]." 76 Der optimistische Lebensbegriff kehrt unter dem Kapitel "Natur" wieder ("[...] hier, in der Natur, ist Leben, nichts als Leben, und in ihr darf auch der Mensch wieder leben, [...]" 77 ). In den hinteren Kapiteln "Die Lage des Menschen vor Gott" und "Das Evangelium" jedoch wird dem die seit 1921 heraustretende Linie fast schroff an die Seite gestellt: "Es sind ja lauter kranke Leiber, lauter verzerrte Gesichter, lauter verkrüppelte Gestalten. Und jede Romantik, es sei die Romantik der Natur, oder des Volkstums, oder des Staats, zerbricht an dem Willen zu dieser illusionslosen Ehrlichkeit. Aber gerade das Gericht, das in all dem erfahren wird, ist die Stimme Gottes. [...] Der Glaube an Christus ist die Gewißheit, daß wir eben hier auf dem Weg des Lebens sind." 78 Dies wird kritisch gegen die in der Jugendbewegung neu auftretende Religiosität gesagt. Stählin argwöhnt, hier werde gar kein Gegenüber gesucht, sondern nur das eigene Ich. Alle herangezogenen "Weltherrlichkeiten", auch die religiösen, dienten schließlich nur der Verherrlichung des Individuums selbst. 79 Bereits in einem Vortrag in Hamburg 1924 hatte Stählin bei der Jugend die völlige Ungewißheit konstatiert - welche nur an diesem einen Punkt durchbrochen werde: durch das eigene Ich. Die gegenwärtige Generation könne nicht einmal mehr ungehorsam sein: "Welcher Größe stünde dieses Geschlecht mit soviel Ehrfurcht gegenüber, daß es auch nur ungehorsam dagegen sein könnte?" 80 Aus heutiger Sicht ist man verblüfft über die Aktualität der damaligen Analysen, die genau der heute sprichwörtlichen "Subjektivierung der Wahrheit" in "postmoderner Religion" entsprechen, wenn es über die einzige Gewißheit in allem Ungewissen heißt: 74 "[...] könnte ich auch heute Wort für Wort ebenso sagen.": Schicksal und Sinn der deutschen Jugend, 1926, S. 31. 75 A.a.O., S. 25. 76 Ebd. 77 A.a.O., S. 30. Es folgen dann auf S. 37-43 Ausfuhrungen zur Natur als "Gleichnis" und "Symbol". 78 A.a.O., S. 148. 79 A.a.O., S. 136 f. 80 Vom Ungewissen und vom Gewissen, 1924, S. 16.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
"[...] sich selbst treu zu bleiben, das ist der letzte Ausweg, die letzte Rettung, der Felsen im Meer." 81 Diese kritische Sicht wird nun 1926 explizit gegen den LebensbegrifF gewendet. Ähnlich wie in der Rede "Jesus und die Jugend" 1921 optimistischer Lebensbegriff und Sündenbegriff letztlich unausgeglichen nebeneinander standen, tritt hier die Kritik am Leben des Individuums als Quelle religiöser Wahrheit neben den romantischen Lebensbegriff im Kontext der Natur (in den ersten Kapiteln von "Schicksal und Sinn der deutschen Jugend"): "O my own divinity! Die ungebrochene Lebensfreude, das selbstsichere Kraftgefuhl, die Bereicherung und Erhöhung des eigenen Ich durch die von allen Seiten einströmende Fülle des Lebens wird zu einem täuschenden Surrogat echter Religion." 82 Dem entspricht es, daß Stählin im vorderen Teil des Buches selbst die (von ihm im Zusammenhang der Meißner-Formel sonst so oft geforderte) "Wahrhaftigkeit" kritisiert. Es habe sich als Irrweg erwiesen, ausgerechnet "durch die Selbstherrlichkeit des einzelnen Menschen" und "das Wort von der inneren Wahrhaftigkeit" 83 nach neuer Gewißheit zu suchen, denn "Wahrhaftigkeit ist nicht das letzte Wort, sondern die Wahrheit, die unser Leben mitten in einer verkehrten und furchtbaren Welt bezeugt." 8 4 Die große Gefahr der individualisierten Persönlichkeitskultur sieht Stählin übrigens darin, daß künftig nicht höhere Bindungen eine neue Gemeinschaft ermöglichen, sondern stattdessen "der Rausch des Allgemeinen, Dumpfen und Unterbewußten gesucht wird, in dem das ich-betonte Denken und Leben untergehen kann!" 85 Sicher ahnte auch Stählin nicht, wie sehr er sieben Jahre
81 Ebd. - Die Parallelen etwa zu der Untersuchung von Heiner BARZ, Postmoderne Religion, 1992 liegen auf der Hand: Dort ist auf S. 134 unter der Überschrift "Die Subjektivierung der Wahrheit" die Äußerung zitiert: "Das Gesetz bin ich." Da es Autorität nicht (mehr) gibt, erfolgt Sinnkonstruktion durch "bricolage" zu einem "individuellen Religionscocktail" (a.a.O., S. 112 f.). Daneben steht "die pantheistische Lehre der Gleichsetzung von Gott und Natur, Gott und Leben" (S. 119). Die Nähe zu Stählins theologischen Anknüpfungen im Kontext der Jugendbewegung liegt hier auf der Hand. - Die Auseinandersetzung mit der Untersuchung von Barz kann hier nicht geführt werden, diese weist aber erhebliche methodische wie theologische Mängel auf; die wenigen Tiefeninterviews rechtfertigen kaum die weitreichenden Hypothesen, die Kategorie des "Häretikers" wird in den Fragestellungen fast suggestiv nahegelegt, und die Rede vom "christlichen, dualistischen Gottesbild" (S. 120) dürfte in keiner Oberstufenarbeit im Gymnasium durchgehen. 82 Schicksal und Sinn der deutschen Jugend, 1926, S. 137. 83 A.a.O., S. 55 (im Kapitel über "Trieb und Gestaltung"). 84 A.a.O., S. 73 (im Kapitel "Der Weg in die Wirtschaft"). 85 A.a.O., S. 86 (im Kapitel über "Spannung und Liebe").
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4.1. Leben
später Recht behalten sollte, als das Ich nichts mehr galt im dumpfen Rausch der Massenaufmärsche. 8 6 Blicken wir auf die Entfaltung des Lebensbegriffs in Stählins Schriften zur Jugendbewegung 1918-1926 zurück, so zeigt sich, wie der Begriff Stählin sowohl zur Klärung der eigenen theologischen Position verhilft als auch eine Annäherung an das Denken der Jugendlichen ermöglicht. Es ist die Gratwanderung zwischen biblischer Theologie und einer sich bis nahe an den Abgrund des Pantheismus vorwagenden Naturbetrachtung 8 7 , welche Stählin die vielfach geschilderte Wirkung auf die Jugend (zumindest im BDJ, aber auch darüber hinaus) ermöglichte. Um im Bild zu bleiben: Oft wäre einem beim Lesen wohler, wenn Stählin auf den gesicherten Talwegen biblischkirchlicher Tradition bliebe, und der schmale Weg scheint häufig keine rechte Verbindung zwischen reformatorischer und jugendbewegter Anthropologie zu finden. Wenn diese Verbindung aber an einzelnen Stellen überraschend sichtbar wird wie in der Deutung des Lebens von der Sünde (statt von den Sünden) her, dann wird schlagartig das Lohnende dieses Wagnisses transparent. Dies kann ein Ausschnitt aus einer "Feuer-Rede" Stählins erläutern, in der er das Vitalistische und Ambivalente des Feuers von Sünde und Gnade her zu erschließen sucht. Hier ist der Jugendprediger Stählin ungeschminkt greifbar: "Und am Feuer steht Stählin. Seine Stimme füllt den weiten Kreis: [...] Macht kein Spielzeug aus dem unheimlichen Element des Feuers! [...] Es brennt ein Feuer in der Welt, ein gewaltiges unheimliches Feuer zerstörerischer Kräfte [...] Abgründe der Not, Abgründe der Bosheit, Abgründe der Sünde brechen auf [...] Brüder und Schwestern, es ist ein ganz großer Glaube, daß wir hier stehen sollen, stehen dürfen um das große Feuer, daß wir stehen und bleiben dürfen angesichts der brennenden Not. Da ist unser 86 Wie auch gegenwärtig das Zerriebenwerden von Sozialität durch Intimität einerseits und Institutionalität andererseits die Gefahr eines neuen Gewaltpotentials geschaffen hat, beschreibt Bernhard DRESSLER, Extremismus und Schule, 1993, bes. S. 13 f. 87 "So ist die Natur, mit der die mystische Tiefe der Inbrunst in geheimem Einverständnis ist, [...] so ist unser Tanz und unser Spiel, so atmet die Heimaterde, und so wird der Gott in uns geboren." (Schicksal und Sinn der deutschen Jugend, 1926, S. 56.) Dies ist kein typisches Zitat, aber eine eben doch auch vorkommende Äußerung. Eine Seite weiter fragt Stählin dann im übrigen ("feministisch-theologisch"), ob die Frau nicht den "letzten Untergründen des Lebens, Blut, Natur, Gnade, Gott, näher benachbart ist?", weil sie "viel weniger als der Mann in ihrem Wesen zerteilt" sei. Dies ist nicht wesentlich verschieden von der gegenwärtigen feministisch-theologischen Forderung, "mit weiblichen Gottesbildern vom Gebären, Stillen, Nähren die noch nicht eingelöste Hälfte der Schöpfung lebendig zu machen." (Elisabeth MOLTMANN-WENDEL/Ina PRAETORIUS, A r t . : K ö r p e r d e r F r a u / L e i b l i c h k e i t , 224.)
1991,
S.
86
4. Leben, Leib und Liturgie als SchlQsselkategorien Platz. Dahin hat uns der Herr des Lebens gestellt. Und er will nicht, daß das Feuer uns verzehrt, daß der Abgrund uns verschlingt. Gott will, daß wir leben, [,..]." 88
In der Begegnung mit der Jugendbewegung wurzelt die Praktische Theologie Wilhelm Stählins 89 als das Bemühen, den Gehalt des Evangeliums in der Lebenswelt und dem Verstehensrahmen der Jugendbewegung aufzusuchen. Deutlich erkennbar bedient sich Stählin der vorkommenden religiösen Deutungsmuster 90 , was auf seine eigene Theologie auf Dauer nicht ohne Auswirkungen bleiben wird (und sich in breiter Front in der Theologie erst sehr viel später als die "Theologie des 1. Artikels" durchsetzen wird). Schon hier ist anzufügen, daß der spätere Stählin immer wieder einschärft, daß die Schöpfungslehre trinitarisch konzipiert werden muß. 91
88 Das Feuer, UB 1926, S. 328 f. 89 Das Buch "Schicksal und Sinn der deutschen Jugend", 1926 zeigt durchaus auch die Beschäftigung mit der Praktischen Theologie im grundsätzlichen Sinn; S. 64, Anm. 1 ist die Rede von dem "vortrefflichen Aufsatz" von Bruno D O E H R I N G , Die Jugendbewegung als Problem der praktischen Theologie, 1923, und mehrfach wird verwiesen auf Eduard SPRANGER, Psychologie des Jugendalters [1924] (S. 21: "vortreffliches Hilfsmittel"). Aus Sprangers Buch übernimmt Stählin auf Dauer die grundlegende These der deutlichen Differenzierung des Erlebens von Erotik und Sexualität im Jugendalter (E. SPRANGER, Psychologie des Jugendalters, 1957 [1924], S. 81-129): beide gehörten "verschiedenen Schichten der Seele" an, die These ist u.a. gegen den "Pansexualismus" Sigmund Freuds gerichtet (S. 103). - Bruno D O E H R I N G , Die Jugendbewegung als Problem der praktischen Theologie, 1923, S. 235 hatte als Aufgabe der praktischen Theologie formuliert, diese habe die Gemeindeleiter zu befähigen, "derartige Zustände geistiger Bewegung [wie die Jugendbewegung] aus dieser selbst heraus zu verstehen, um zu verhüten, daß sie der kirchlichen Technik zum Opfer gebracht werden, [...]." Gerade dieser Aufgabe sind die Schriften Stählins zur Jugendbewegung erkennbar verpflichtet. 90 Stählin leistet damit etwas zur "Transformation" von jugendlicher Religion; dies belegt klar, daß es sich bei der "Mitteilung des Glaubens" bzw. "Kommunikation des Evangeliums" nicht einfach um die Vermittlung von "Tradition und Situation" handeln kann, als stünden beide so einfach zur Verfügung. Es muß vielmehr darum gehen, die gegenwärtigen religiösen Sinnhorizonte von der biblischen Theologie her zu "transformieren" und dabei die biblische Tradition selbst neu zu erschließen, vgl. dazu Heinz S C H M I D T , Leitfaden Religionspädagogik, 1991, bes. S. 33-35 und 53-55. 91 Berneuchen antwortet, 1939, S. 22 f. wird das Trinitarische des Schöpfungsglaubens (im Zusammenhang der Abendmahlselemente) betont und vor einer Frömmigkeit des 2. Artikels gewarnt, "die sich um die Welt nicht mehr kümmert" (S. 23); a.a.O., S. 43 widerspricht Stählin der Kritik an der Epiklese in der Messe: Pneumatologie und Christologie dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden, und erst recht sei dies nicht lutherisch.
4.1. Leben
87
4.1.3. Lebendiges Gespräch gegen den theologischen Streit um die Wahrheit Die Art und Weise, im Kontext der Jugendbewegung von der Praxis her theologische Gedanken zu entwickeln, bleibt nicht ohne Folgen für Stählins Theologie überhaupt. In diesem Zusammenhang wird ebenfalls mit dem Lebensbegriff kritisch operiert. Die Kategorie "lebendig" wendet sich nicht mehr nur gegen die Lebensformen in Gesellschaft und Kirche allgemein, sondern auch ganz speziell gegen die rabies theologorum, gegen die vorwiegend literarische theologische Auseinandersetzung und Diskussion. Im Rückblick nennt Stählin 1963 neben dem "Gefühl für die Einheit und Ganzheit des lebendigen Menschen "92 und dem Verhältnis zur Natur 93 "die unbefangene Offenheit für den anderen in dem Verhältnis von Mensch zu Mensch"9* als entscheidende Prägung durch die Jugendbewegung. Schon das erwähnte Gespräch mit dem theologischen Kontrahenten Hans Lauerer wurde bewußt so geführt - nicht nur als literarische Kontroverse. Das Urteil über die Anthroposophie machte Stählin letztlich völlig abhängig von dem persönlichen Gespräch mit Rudolf Steiner.95 Das gemeinsame Gespräch auf den Berneuchener Konferenzen ist nun für Stählin wie auch für die anderen Beteiligten entscheidend und wird zum Maßstab der Beurteilung künftiger und auch bereits vergangener theologischer Gespräche. In der Tat kamen in Berneuchen Männer - Frauen waren nicht dabei unterschiedlichster Prägung zusammen. Eingeladen zur ersten Konferenz hatten neben Stählin der Führer des politisch weit rechts stehenden Bundes der "Christdeutschen", Leopold Cordier96 und der Wortführer des religiössozialen Neuwerkkreises, Hermann Schafft 97 ; der schillernde Leiter der Neupfadfinder, Martin Voelkel98 , und der DNVP-Abgeordnete Karl Bernhard 92 Rückblick nach 50 Jahren: Was bleibt, 1980 [1963], S. 16, Hervorhebung im Original. 93 A.a.O., S. 19. 94 A.a.O., S. 23, Hervorhebung im Original. 95 Via Vitae, 1968, S. 162. Nach Stählins Schilderung scheiterte das Gespräch auf ganzer Linie, weil Steiner nicht bereit war, Stählins Kritik zu hören, der anthroposophische Primat des Bewußtseins müsse "jede Unmittelbarkeit des Lebens stören oder zerstören" (ebd.). 96 Zum Bund der Christdeutschen vgl. den zweiten Teil der Arbeit von Horst Dieter TOBOLL, Evangelische Jugendbewegung 1919-1933, 1971. 97 Vgl. Emil BLUM, Die Neuwerk-Bewegung 1922-1933, 1973; zu Schafft bes. S. 33-35. Zum Neuwerkkreis gehörten auch Günther Dehn, Alfred Dedo Müller und Stählins persönlicher Freund Wilhelm Thomas (E. Blum, a.a.O., S. 33 f.). 98 Eine vernichtende Kritik an Martin Voelkel s. bei Walter LAQUEUR, Die deutsche Jugendbewegung, 1983 [1962], S. 154-159 ("Rausch der Phrasen und Symbole", a.a.O., S. 156). Ebenso hatte schon Stählin in einem Brief vom 2. 4. 1930 an Helmuth Kittel (Briefwechsel im Praktisch-theologischen Seminar Münster) Voelkels "Ideologie von Blut und Eros" als "Unsinn" bezeichnet (vgl. Via Vitae, 1968, S. 314
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Ritter"; Teilnehmer waren - im nachhinein als kaum extremer zu denkende Pole - Wilhelm Stapel 100 und Paul Tillich. Den Kairos von Berneuchen hat K.B. Ritter rückblickend so skizziert: "Hatten wir anfangs miteinander diskutiert, so wie man es gewöhnt ist, in Theologenkreisen zu diskutieren und Standpunkt gegen Standpunkt zu setzen und hartnäckig zu behaupten, so schmolz die Starre der gewohnten 'Auseinandersetzung' bald dahin, [...] Wilhelm Stählin erzählte mir einmal, wie er auf einer dieser Konferenzen sich plötzlich darüber ertappte, daß er in seinem Stenogramm nicht mehr notierte, wer das Einzelne gesagt hatte, weil ihm (und uns allen) das nicht mehr wichtig schien. Diese Erfahrung, daß miteinander reden nicht heißen muß, sich 'auseinanderzusetzen', sondern vielmehr, sich zusammenzufinden, ist uns fur alle nachfolgenden Jahre bedeutsam und richtunggebend geworden." 101 Im Vorwort des Berneuchener Buches wird dann auch das "beglückende Erlebnis" genannt, daß im Herbst 1924 trotz aller theologischen und politischen Differenzen "eine gemeinsame Schau des Lebens aufleuchtete", welche den Weg bis zum vorliegenden Buch ermöglichte. 102 Von daher wird auch der Theologiebegriff in spezifischer Weise akzentuiert, wie das bereits bei Stählins Kritik an Bekenntnisorthodoxie und Religionspsychologie 103 zu beobachten war. Es gebe keine objektive theologische Wahrheit, die f.). Anders als Stählin, Cordier, Schafft, Ritter und Tillich gehörten Stapel und Voelkel nicht zu den Unterzeichnern des Berneuchener Buches. 99 Ritter war zweitjüngster Abgeordneter der verfassunggebenden preußischen Landesversammlung 1918 und Mitglied des preußischen Parlaments bis 1924: K.B. RITTER, Aus einem Pfarrerleben, 1971 [I960], S. 214. 100 In einem Brief vom 5. 3. 1925 an Stählin (Briefwechsel im Praktisch-theologischen Seminar Münster) beklagt sich Stapel, bei den Vorüberlegungen zum Berneuchener Buch nicht gefragt worden zu sein; in einem Brief vom 1.11. 1925 zieht Stapel sich endgültig zurück - in der für ihn typischen bissigen Diktion: "Ich bin doch froh, daß ich, wie Paracelsus sich ausdrücken würde, meinem Achaeus gefolgt bin und mich von der Berneucher [sie] Konferenz zurückgezogen habe. Je weniger Gemeinschaft die Menschen miteinander haben, um so besser kommen sie miteinander aus. Gemeinschaft wirkt seelenzerstörend und sozial zersetzend. Dies ist meine neueste Erkenntnis. Altersweisheit." Sachlich ging es u.a. um einen Streit über die Stockholmer Weltkonferenz für Praktisches Christentum 1925. 101 Zitiert nach Hans Carl von HAEBLER, Geschichte der evangelischen Michaelsbruderschaft, 1975, S. 8 f.; vgl. K.B. RITTER, Nach einem Menschenalter, 1971 [1952/53], S. 190. Die Andachten veränderten sich dementsprechend vom Diskursiven zum Liturgischen (K.B. RITTER, a.a.O., S. 191 f.). 102 Das Berneuchener Buch, 1926, S. 10. 103 Explizit wird a.a.O., S. 89 auch noch einmal die "Psychologisierung" kritisiert: "Dieses aus dem Zusammenhang des Lebens gelöste, sein eigenes Innenleben betrachtende Individuum gibt es nur in dieser Welt wissenschaftlicher Gegenstände."
4.1. Leben
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"außerhalb der lebendigen Wechselbeziehung von Objekt und Subjekt, außerhalb des Lebens, in dem ich von der Wahrheit ergriffen und bestimmt werde, gesucht wird, [...]". 104 Das Ideal eines "lebendigen Gespräches" sucht Stählin künftig auch in seinen theologischen Kontroversen zu bewähren. Hier sei noch einmal an Stählins Erschrecken darüber erinnert, daß mit E. Hirsch im Streit um die Ökumene 1931 offensichtlich kein Gespräch mehr möglich war. 1939 beklagt Stählin, daß Gerhard Kunzes "Gespräch mit Berneuchen" gar kein wirkliches Gespräch gewesen sei, sondern doch wieder "eine literarische Diskussion" 105 : Stählin hatte ein Gespräch vorgeschlagen, Kunze hingegen eine Auseinandersetzung in Anlehnung an die alte Form der akademischen Disputation; eine öffentliche Auseinandersetzung müsse sein - schließlich sei auch die Berneuchener Ordnung der Deutschen Messe jedem zugänglich. Stählin verweigerte sich jedoch einer Disputation: "Wir reden dann nicht mehr wirklich miteinander, sondern wir reden, um vor den Zuhörern zu bestehen und ihnen Eindruck zu machen. Niemand kann sich, auch bei dem besten Willen, dieser unheimlichen Gesetzmäßigkeit einer Disputation entziehen. Wenn ich mit Ihnen streiten wollte, dann vielleicht ja; der alte Adam in mir hätte vielleicht eine gewisse Freude daran, in einem Rededuell unsere Arbeit gegen Ihre Thesen zu verteidigen. Aber das ist gerade das, was ich nicht will und wozu ich mich um der Kirche willen, die des Streites genug hat, nicht berechtigt fühle [,..]." 106 Hier finden sich die gleichen Maximen wieder wie in der Kontroverse mit Hans Lauerer 1920; die Einheit der Kirche darf nicht unnötigerweise aufs Spiel gesetzt werden. Sein Ideal des steten Bemühens um die theologische Wahrheit formuliert Stählin ein Jahr später in der Schrift "Bruderschaft". "Die Diskussion und die Disputation, in der man sich gegeneinander abgrenzt und diese Grenzbefestigungen gegeneinander verteidigt, ist innerhalb einer Bruderschaft unmöglich." 107 Bis ins hohe Alter kommt Stählin auf das Prinzip lebendiger Begegnung zurück: In der erwähnten, auf die Jugendbewegung zurückblickenden Rede appelliert er, "auch in dem anders Denkenden und anders Redenden den lebendigen Menschen [zu] suchen" 108 , und 104 A.a.O., S. 82, vgl. S. 89: Die Verkündigung müsse ein "lebendiges und lebenweckendes Zeugnis von dem lebendigen und gegenwärtigen Gott" sein. 105 Berneuchen antwortet, 1939, S. 8. Vgl. ähnlich Rez. zu G. Kunze, Gespräch mit Berneuchen, ThLZ 1939, Sp. 184 f. 106 Ebd. Am Schluß der Schrift heißt es noch einmal explizit: "Wieviel lieber hätten wir ein lebendiges Gespräch geführt, statt einer Disputation [...]." (A.a.O., S. 47.) 107 Bruderschaft, 1940, S. 81. A.a.O., S. 95 f. bemängelt Stählin die institutionellen Rücksichtnahmen bei ökumenischen Tagungen: Diese Taktik "lähmt das wirkliche Gespräch von Mensch zu Mensch in einer oft schmerzlichen Weise." 108 Rückblick nach 50 Jahren: Was bleibt, 1980 [1963], S. 26.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
1973 unterscheidet er betreffs der Einheit der Kirche "den echten Dialog von seiner abscheulichen Karikatur, die man Diskussion nennt, [...]. Keine Konfession kann und darf sich heute der Einsicht entziehen, wie begrenzt und ergänzungsbedürftig die eigene Position ist. "m Der unbedingte Wille zum Gespräch hat es Stählin an manchen Punkten schwer gemacht. So wird er daran gehindert, sich in der akademischen Theologie ganz heimisch zu fühlen. So gerät er im Kirchenkampf immer mehr ins Abseits, weil er den Gesprächsfaden mit DC-Pfarrern (etwa mit dem Gemeindepfarrer in Münster, Konfirmator der Tochter Hildegart) nicht abreißen lassen will 110 und die Gemeinschaft mit deutschchristlichen Theologen in der Michaelsbruderschaft weiterhin befürwortet. 111 Nach dem Krieg hat Stählin wesentlichen Einfluß auf das Zustandekommen des Dialogs mit Anthroposophie und Christengemeinschaft, und der Leiter der Delegation der Christengemeinschaft, Emil Bock, dankt Stählin für die Bemühungen, "unsere Besprechungen zu einem wirklichen Gespräch werden zu lassen." 112 Ein besonderes Verdienst nach 1945 stellen die Gesprächsinitiativen mit Vertretern der katholischen Kirche dar.
109 Die Frage nach der Einheit der Kirche, 1980 [1973], S. 199, Hervorhebung im Original. - Für den interreligiösen Dialog hat Paul F. KNITTER auf dem Hintergrund des Prinzips "Erst handeln, dann wissen" als Dialogregeln formuliert: Der Dialog muß "auf unerschütterlichen Wahrheitsansprüchen beruhen" und für die Möglichkeit einer echten Konversion offen sein (Paul F. KNITTER, Ein Gott - viele Religionen, 1988, S. 153.171; die drei Maximen S. 157. 158. 163). Knitters erste Dialogregel ist die stärkste Kritik an seinem eigenen Konzept: Es ist widersprüchlich, die Wahrheitsansprüche systematisch zu relativieren, um sie danach (!) in der Praxis wieder einzufordern. Vgl. dazu meine ausführliche Rezension 1992. 110 Hildegart MUMM, geb. Stählin im Gespräch mit dem Verfasser am 8. 3. 1993. 111 Vgl. Hans Carl von HAEBLER, Geschichte der evangelischen Michaelsbruderschaft, 1975, S. 44 f. In großer Offenheit erzählt Stählin von den Überlegungen im Frühjahr 1933, die Bruderschaft den DC anzugliedern (Via Vitae, 1968, S. 328-330). 112 Brief von Emil Bock an Stählin vom 2. 4. 1949 (Briefwechsel im Praktisch-theologischen Seminar Münster). Die Gespräche wären u.a. fast gescheitert wegen einer Bock hinterbrachten, von Stählin abgestrittenen Äußerung bei einer Kaffeegesellschaft in Münster, die Menschenweihehandlung sei "luziferisch" bzw. "dämonisch" (Brief Bocks vom 8. 2. 1949). Das Weitererzählen durch eine Frau, die sich Stählin gegenüber gar nicht als der Christengemeinschaft zugehörig gezeigt hatte, verglich dieser mit "GESTAPO-Methoden" (Brief Stählins an E. Bock vom 5. 2. 1949). 1953 erscheint dann der zurückhaltend kritische Band Evangelium und Christengemeinschaft. Hier kommt Stählin den Anthroposophen teilweise entgegen: Er schreibt, "Ätherleib und Astralleib" sollten uns "nicht abhalten zu prüfen, ob sich hinter solchen Vokabeln nicht solche Erkenntnisse von der Struktur des Menschen verstecken, gegen die unsere landläufige Psychologie [...] in gewissem Sinn materialistisch erscheint." (Fragen der Anthroposophie an die evangelische Kirche, 1953, S. 119.)
4.1. Leben
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4.1.4. Durch Christus gewandeltes Leben gegen den optimistischen Lebensbegriff Zwischen den beiden großen Schriften Stählins "Schicksal und Sinn der deutschen Jugend" und "Vom göttlichen Geheimnis" liegen exakt zehn Jahre (1926/1936). Die persönlichen und globalen Lebensumstände Stählins haben sich in diesen zehn Jahren grundlegend geändert. In Stählins Verwendung des Begriffs "Leben" hat sich die beschriebene, gegenüber jeglichen Romantisierungen kritische Linie durchgesetzt. Das "Leben" ist nun eine christologische Kategorie geworden, was sich in den Schriften zur Jugendbewegung schon mehr und mehr abzeichnete. Nun betont Stählin, daß "das geistlich-göttliche Leben nicht eine allgemeine zu allen Zeiten und in allen Völkern aufbrechende Blüte des Menschengeschlechts ist, sondern daß dies Leben in der geschichtlichen Erscheinung Jesu Christi seinen Ursprung gewonnen hat; ja, daß es nichts anderes ist, als die Auswirkung und Ausstrahlung dieses Christuslebens in der Geschichte der Welt. 'Das Leben ist erschienen.' 'In Ihm war das Leben.' Fortan nennen wir Leben im vollen und tiefsten Sinn des Wortes nur noch Sein Leben, das uns ergreift, durchdringt und wandelt." 113 An dieser Stelle wird von Stählin die Sakramentenlehre ins Spiel gebracht als die Verbindung von Natur(er)leben und Christusleben, als Konkretion der Christuswirklichkeit und als neue Schöpfung unter der Gestalt der ersten Schöpfung, kurz: als vorzüglicher locus des trinitarischen Christusglaubens. Oder mit der in dieser Untersuchung herausgearbeiteten Begrifflichkeit: Das neue Leben gewinnt leibhaftig Gestalt in der Liturgie und läßt so das Christus-lose Leben als überwundenes in den Blick kommen. Wahrscheinlich ist die Kritik an der Naturromantik nicht zuletzt auf dem Hintergrund des "3. Reiches" so formuliert worden: "Darum bedarf schließlich jene neue Betrachtung der Natur und des Kosmos, von der oben die Rede war, des Sakraments. Würde daraus eine allgemeine Naturphilosophie, eine Naturfrömmigkeit, die stolz darauf ist, Gott im deutschen Dom des Waldes ebenso oder besser zu finden als an christlichen Altären, und die sich rühmt, das letzte Mysterium in allen Lebensvorgängen und ihren Wundern zu finden und zu verehren, so könnte sich auch hier nur wieder das harte Wort bestätigen, daß der Pantheismus die höfliche Form des Atheismus sei. Ein Mysterium, das überall ist, ist nirgends. Aber in den Elementen, die bei dem Sakrament der
113 Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 55.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
christlichen Kirche dienen, ist die ganze Schöpfungswelt repräsentiert."114 Die Differenz zum LebensbegrifF in den frühen Äußerungen zur Jugendbewegung tritt klar hervor: Jetzt ist es das "verborgene(n) Leben Gottes", welches "den Kreislauf des irdischen Lebens sprengt"115. Deutlich benannt wird die Gefahr, "das göttliche Mysterium aufzulösen in ein allgemeines Geheimnis des Lebens und der Welt."116 Die aus der Natur entliehene Lebens-Begrifflichkeit steht nun metaphorisch für das neue Leben in Christus, wobei unten zu zeigen sein wird, daß Stählin die Metapher gerade nicht als "uneigentliche", "übertragene" Redeweise verstanden wissen will, sondern als der Sache entsprechende, unersetzbare Aussageform einer unteilbaren Wirklichkeit. Das geistliche Leben ist selbst ein im tiefsten unerklärbares Geheimnis, dessen Wachstum zwar beobachtet werden kann, "aber das Blut, das in dem lebendigen Leib das Wachstum nährt, rinnt in heimlichen Adern, und verborgen hinter schützender Schale steigt der Saft im Baum"117: Die alte Forderung, sich selbst zu erkennen, sei in diesem Zusammenhang falsch, weil es genüge, wenn Gott unser Geheimnis kennt. Das Mysterium Christi und das des geistlichen Lebens sind ineinander verwoben, so daß die Kraft Christi "eindringt und hineinwirkt in die Gestalt des Menschenlebens. Darum ist das geistliche Leben Teilnahme an dem Leben Christi. Es kommt dadurch zustande, daß das Leben Christi als der lebendige Gottesstrom zu uns dringt und die Wüstenei unseres Lebens in einen fruchtbaren Garten verwandelt; [...] dadurch, daß unser Leben ergriffen wird von dem Feuer, das Christus auf dieser Erde entzünden wollte und entzündet hat: lauter Bilder für jenen lebendigen Vorgang, den der Apostel Paulus gemeint hat, da er von der Austeilung des göttlichen Geheimnisses sprach. Dies neue Leben ist das Leben Christi. Darum ist es das Leben und Wirken der göttlichen Liebe im irdischen Raum."118 Damit gilt für das geistliche Leben in Christus schließlich zweierlei, in deutlicher Opposition gegen den jugendbewegten Lebensbegriff zum einen und gegen eine supranaturalistische Theologie zum anderen: "[...] das geistliche Leben ist so sehr etwas anderes als das Leben aus den Kräften der natürlichen Vitalität, daß die Bibel davon redet als von einer neuen Geburt." 114 A.a.O., 115 A.a.O., 116 A.a.O., 117 A.a.O., 118 A.a.O.,
S. S. S. S. S.
132. 31 f. 49. 52. 56.
4.1. Leben
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"Das Leben Christi hat seinen Ort in dem natürlichen Leben des Menschen auf dieser Erde. [...] Christus in uns: das heißt, in uns Menschen, die wir leiblich auf dieser Erde leben, ihren Gesetzen unterworfen, zu ihrem Dienst berufen und verpflichtet sind." 119 Eine ganz spezifische Färbung erhält der Begriff der Wandlung durch seinen Kontext in der Berneuchener Ordnung der Deutschen Messe. Dort ist er an den Schluß der umstrittenen Epiklese gestellt und meint nicht die Wandlung der Elemente wie in der römischen Messe, sondern die Wandlung derer, die die Messe feiern: "Und wie in der Kraft der Auferstehung Dein irdischer Leib verwandelt ist in himmlisches Wesen/so wandle uns, Herr und laß uns diese Gaben gereichen zu einem Brote des ewigen Lebens/und zu einem Tranke des immerwährenden Heils. Ja Herr, schaffe uns und diese Welt neu/nach Deiner Liebe." 120 Mit dem Gedanken der Wandlung des natürlichen Lebens durch das Leben Christi gelingt Stählin schließlich die Verbindung von erstem und zweitem Glaubensartikel, und zwar nicht so, daß Christus die Überhöhung der Natur wäre, sondern so, daß die erste Schöpfung als die durch Christus auf dem Wege zur zweiten, neuen Schöpfung in der kommenden Gottesherrschaft befindliche aufgedeckt und verständlich wird. Nicht die Natur ist als solche gleichnishaft, sondern die Natur, welche von Christus gewandelt wird. Dies gilt einerseits für das Leben des Menschen, das zum neuen Leben in Christus wird, und andererseits für die nichtmenschliche Natur, insofern sie Christuswirklichkeit trägt (Wasser, Brot, Wein in Taufe und Abendmahl) bzw. auf Neuschöpfung wartet: "Darum ist es so wichtig, darauf zu achten, daß nicht die Kreaturen in ihrer schönen Gestalt oder in ihrem abgeschlossenen Sein jene Rolle in Gleichnis und Geschichte spielen, sondern der Vorgang, die Bewegung, der Prozeß, die Wandlung. Die Elemente sind Christus zugeordnet, genau in dem Maße, in dem sie das Geheimnis dieser Wandlung abbilden und gleichnishaft verwirklichen. " 121 119 A.a.O., S. 62. 63. 120 Die Ordnung der deutschen Messe, 1937, S. 32. Ähnlich formuliert Manfred JoSUTTIS, Zur Hermeneutik des Abendmahls, 1991, S. 421, "daß es in der Abendmahlsagende nicht nur um die Konsekration der Elemente, sondern um eine Konsekration der Teilnehmer überhaupt geht." 121 Das Bild der Natur in der Heiligen Schrift, ZW 1939, S. 52, Hervorhebung von mir. Auch wenn damit schon auf den Abschnitt 4.2.2. vorausgegriffen wird, sei hier angemerkt, daß dies im wesentlichen den Gedanken von Christian L I N K , Die Welt als Gleichnis, 1976, S. 292 ff. entspricht: Die neutestamentlichen Gleichnisse sind nicht ontologisch auf das Sein Gottes, sondern eschatologisch auf das Kommen der Herr-
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Stählin dehnt den Gedanken 1939/40 dann auch aus auf die kirchliche Kunst und auf die leibliche Erholung: beide versteht er von der Wandlung in Christus her. So ist es die Aufgabe der christlichen Kunst, "jenes Mysterium der Wandlung abzubilden oder doch ahnen zu lassen, das die natürliche Gestalt bloß vitaler Kräfte in ihrer ganzen Hinfälligkeit und Nichtigkeit entlarvt, aber eben nicht durch die Pein bloßer Formzerstörung, sondern dadurch, daß sich an ihr die überschwängliche Herrlichkeit der göttlichen Welt offenbart." 122 Wie sehr Stählins Theologie des Mysteriums von der Beschäftigung mit dem LebensbegrifF der Jugendbewegung herkommt und diesen gleichzeitig kritisiert und weiterfuhrt, zeigt ein Aufsatz aus dem Jahre 1940, der die leibliche Erholung des Menschen in den Kontext der Wandlung durch Christus stellt. Erholung von Leib und Seele geschieht in der creatio als recreatio und gibt wenn sie echte Genesung durch Beichte und Kultus ist - Anteil an der Neuschöpfung: "Das innerste Geheimnis alles christlichen Kultus ist das Mysterium der Wandlung des 'natürlichen' - in Wahrheit unnatürlich gewordenen - Ich in das Bild Christi, das Geheimnis der Geburt in ein neues und höheres Leben hinein, die höchste und letzte Erfüllung dessen, was das Wort recreatio besagt." 123
schaft Gottes hin auszulegen (s. auch Chr. LINK, Schöpfung. Schöpfungstheologie angesichts der Herausforderungen des 20. Jahrhunderts, 1991, S. 380-383). 122 Über kirchliche Kunst, 1939, S. 311. Stählin unterscheidet im übrigen deutlich kirchliche von religiöser Kunst (a.a.O., S. 309): die kirchliche Kunst "empfängt ihr inneres Gesetz aus dem Gottesdienst; sie ist 'liturgisch' oder sie ist nicht." (S. 312) 123 Leibliche Erholung und seelische Gesundung, 1940, S. 94. Dieser Zusammenhang wird sonst eher in der katholischen Kirche gesehen: Vgl. Anselm GRON/Meinrad DUFNER, Gesundheit als geistliche Aufgabe, 1989. Hier wird bewußt vom Grundsatz "gratia supponit naturam" her (S. 39) eine "christliche Diätetik", die christliche Kunst gesunder Lebensführung, beschrieben (S. 11). Höchst bemerkenswert an dem Buch sind verschiedene Thesen: So heißt es, die sexuelle Energie dürfe nicht tabuisiert werden, denn "wenn sie auf Eis gelegt wird, lebt der Mensch nur halb" (S. 51; vgl. die herbe Kritik am Episkopat, S. 79). Klar wird ein zur Platitüde gewordenes psychosomatisches Kausalitätsdenken durchschaut: Man verlagere "heute die Schuld von der moralischen Ebene auf die psychologische." Die Krankheit kann nicht nur "Symptom" eines "psychischen Konflikts" sein, sondern "auch einfach der Ort, an dem uns Gott leibhaft begegnen [...] möchte." (S. 26) Eine Feststellung von Relevanz für die Seelsorge gegen das allzu schnelle laienhafte Aufdecken von "Verdrängungen"! - Wichtig ist auch - zumal in Zeiten religiös-"ganzheitlicher" Hochkonjunktur die Unterscheidung: Beim geistlichen Leben geht es um Gott, man darf es nicht "als Trick benutzen, der ein [sie] gesund hält." (S. 56)
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Hier umfaßt der Begriff "Leben" leibliches, geistliches und in Christus gewandeltes Leben. Ebenso ist im gleichen Jahr in der Schrift "Bruderschaft" die Rede davon, daß Christus Anteil an seinem eigenen Leben gibt, "um die Menschenwelt zu Gott zu fuhren, sie so zu wandeln, daß sie in die göttliche Ordnung zurückgebracht wird."124 Schließlich verwendet Stählin den Begriff der Wandlung 1944 in kosmischen Dimensionen. Angesichts der völligen Zerstörung schreibt er (sechs Wochen nach dem gescheiterten Hitler-Attentat) in einem Rundbrief an die Michaelsbrüder über "die priesterliche Aufgabe des Menschen", jenseits von schein-frommer Weltflucht und rationaler Weltbeherrschung: "Nur der mit Gott verbundene und zugleich seines priesterlichen Amtes bewußte Mensch ist davor bewahrt, ein Sklave oder ein Sklavenhalter der Erdenkräfte zu werden. Das Sakrament als Weltverwandlung aus den Kräften des auferstandenen Christus heraus ist das Urbild dieses priesterlichen Dienstes." 125 Damit ist die Entwicklung des Stählinschen Begriffes von "Leben" abgeschlossen, welcher sich in der Tat entsprechend seiner Einschätzung in der Autobiographie vom Nietzscheschen zum johanneischen Denken gewandelt hat126, während die Vorliebe für die Kategorie des "lebendigen Lebens" als solche konstant ist. Die als theologischer Durchbruch zu wertende Neuin124 Bruderschaft, 1940, S. 11. Hier beruft sich Stählin auf den Begriff der Versöhnung (καταλλαγη), welcher in der Tat bei Paulus einen vom Menschen aus passiven, von Gott verwirklichten Vorgang meint (vgl. Rudolf BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, 1977, S. 285-287). 125 Rundbrief an die Michaelsbrüder am 1. 9. 1944, S. 2 (zum Michaelisfest). Als Stählin diesen Brief aus Kohlgrub schreibt, steht sein Umzug nach Oldenburg unmittelbar bevor (19. 9. 1944, s. Via Vitae, 1968, S. 405-407), und eine Zeit schwerer Depressionen liegt hinter ihm: "Wie schrecklich vertraut ist uns die Anfechtung, daß wir uns vielleicht doch alles, woran wir zu glauben vorgaben, nur eingeredet und eingebildet haben, [...] daß wir uns mit unserer Hochschätzung des Sakraments etwa doch in etwas hineingesteigert haben, [...]", schrieb er im Rundbrief vom 15. 8. 1944, S. 2 (vgl. ebd.: "Meine 'Liturgik' niederzuschreiben, habe ich angefangen; aber ich habe keine Hoffnung, diese große Arbeit in den nächsten Monaten weiterzuführen oder gar vollenden zu können.") - Im Rundbrief August 1943 hatte er angesichts des Krieges von der notwendigen Bereitschaft gesprochen, "Buße zu tun und uns wandeln zu lassen" (S. 1). 126 "Ich lebte damals mehr in Nietzsche als in der Bibel. Einmal besuchte mich mein Schwager Gottfried Seiler in meiner Studenten'bude' und fand mich über dem Zarathustra, dessen Sprache mich berauschte. Seine Frage, warum ich nicht lieber das Johannes-Evangelium lese, beantwortete ich frech und ehrlich, weil mich das nicht interessiere. (Ich glaube mit meinen zwei Büchern über das Johannes-Evangelium ehrlich Buße getan zu haben für diese Sünde meiner Jugend, aber so stand es eben damals mit mir.)": Via Vitae, 1968, S. 57 f. Es ist die Kategorie "Leben", welche Stählin das bemerkenswerte Ineinander von Kontinuität und Diskontinuität ermöglicht.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
terpretation der Sünde von der Jugendbewegung her ermöglichte die Verbindung des Lebensbegriffes mit der Christologie. Durch diese Konzentration und den Bezug auf das Sakrament kann sich der Lebensbegriff in der Theologie des Mysteriums dann wieder weiten in kosmische Dimensionen. Biographisch-theologisch geht Stählin den Weg vom Naturerleben über die Sündenerfahrung zur Zusammenschau der ersten und zweiten Schöpfung; noch verkürzter gesprochen: vom ersten Glaubensartikel über den zweiten zur trinitarischen Sicht von "Leben". Dabei gilt sein besonderes Interesse dem Ineinander von ζωη und ζωη αιώνιος, welches er lokal in der Existenz des Leibes, aktual im Geschehen der Liturgie und medial in den Erscheinungsformen von "Symbol" und "Gleichnis" verwirklicht sieht. Während die Schlüsselkategorien "Leib" und "Liturgie" jeweils in einem neuen Abschnitt zu beschreiben sind, gehören Symbol/Gleichnis als Formen der christlichen Naturbetrachtung zu den Kontexten der Kategorie "Leben" (wie auch Stählins theologische Sicht des Völkischen). Am Schluß dieses Abschnitts soll jedoch noch Stählins Verwendung der Kategorie Leben mit dem Gebrauch in der Lebensphilosophie verglichen werden.
4.1.5. Zwischenschritt: "Leben" und Lebensphilosophie Folgendes muß hier zu Beginn nochmals wiederholt werden: - Stählins theoretisches Interesse an der Philosophie war gering127, bei ihm liegt eher die Beeinflussung durch einen breiten Denkstrom vor, wie sie sich in der frühen Nietzsche-Begeisterung äußert. - Die Lebensphilosophie eignet sich für einen Vergleich mit Stählin im Grunde nur für die allererste Phase seines Denkens, da der theologische (christologische) Begriff von Leben in der diesseitig orientierten lebensphilosophischen Methodologie keinen Platz haben kann (und ebenso wenig in der letztlich pantheistisch orientierten Tiefenstruktur). - Der einzige Philosoph, mit dem Stählin sich nach dem Studium nachweislich beschäftigt hat, Max Scheler, ist wegen seines apriorischen Denkansatzes (zumindest in der Erkenntnistheorie, aber im Grunde auch in seiner Wertontologie in der Ethik) gerade nicht der Lebensphilosophie zuzurechnen.128
127 S.o. die in Abschnitt 3.4. wiedergegebene Einschätzung von Wolfgang TRILLHAAS (S. 54 f., Anm. 215). 128 Dies gilt, obwohl Scheler schon 1913 (Versuche einer Philosophie des Lebens, 1972 [1913]) Nietzsche, Dilthey und Bergson als "Lebensphilosophen" zusammenfaßt und diese "Philosophie aus der Fülle des Lebens heraus" (a.a.O., S. 313) im wesentlichen als positiv und bahnbrechend würdigt.
4.1. Leben
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Die Lebensphilosophie ist im einzelnen historisch schwierig einzugrenzen, und auch die Zuordnung einzelner Denker zu ihr ist strittig. 129 Ein Überblick über die verschiedenen lebensphilosophischen Ansätze soll hier nicht gegeben werden. 130 Der Einfachheit halber greifen die folgenden Darlegungen im wesentlichen auf Dilthey und Nietzsche zurück, die um die Zeit des 1. Weltkriegs in Deutschland intensiv rezipiert wurden. Vor allem aber kommt es auf die grundlegenden Distinktionen an, die den beschriebenen Begriffsgebrauch von "Leben" bei Stählin aus der damaligen geistesgeschichtlichen Situation noch einmal anders beleuchten können. Zuvor ist aber noch ein Hinweis auf Johann Gottlieb FICHTE (1762-1814) angezeigt, da dieser in gewisser Weise ein Vorläufer der Lebensphilosophie war und Stählin sich 1919 auf Fichte berufen hatte 131 , d.h. in demselben Jahr, als er Wilhelm Stapel und Karl Bernhard Ritter kennenlernte. Beide waren nachweislich von Fichte beeinflußt. 132 Bei Fichte findet sich bereits die Verwendung des Lebensbegriffes gegen den Seinsbegriff als Prinzip des Philosophierens. Das Besondere ist der Kontext durch die "Reden an die Deutsche Nation" (1808): Die "Deutschheit" wird gerade daran festgemacht, nicht vom stehenden, festen Sein her, sondern vom Leben aus zu philosophieren. Die wissenschaftliche Anschauung des Menschen "[...] wird ihm gebildet durch sein Leben, und ist eigentlich die zur Anschauung gewordene innere, und übrigens ihm unbekannte Wurzel seines Lebens selbst. [...] Nun ist das innere Wesen des Auslandes, oder der Nichtursprünglichkeit, der Glaube an ir129 Anfechtbar ist es z.B., wenn Karl ALBERT, Art. "Lebensphilosophie", 1990, S. 581 die Beeinflussung durch Nietzsche zum Kriterium erklärend - Albert Schweitzer nicht zur Lebensphilosophie rechnet. Dessen oft wiederholtes ethisches Credo "Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will" ist gerade aus der Verbindung von Nietzsches Lebensbejahung mit einem erkenntnistheoretischen Pessimismus zu erklären: Die "Ehrfurcht vor dem Leben" ist bei Schweitzer oberste ethische Maxime, weil der Blick auf die Natur keinen Sinn, sondern die Zerstörung von Leben zeigt (A. SCHWEITZER, Kultur und Ethik, 1974 [1923], S. 380: "Die Welt ist das grausige Schauspiel der Selbstentzweiung des Willens zum Leben." A.a.O., S. 291-307 wird die Aufgabe der Ethik in Anlehnung an Schopenhauer und Nietzsche formuliert.). 130 Neben dem Artikel in der vorigen Anmerkung sei als älterer Überblick genannt: Otto Friedrich B O L L N O W , Die Lebensphilosophie, 1 9 5 8 . 131 Unsere Pflicht zum Radikalismus, 1919, S. 6. 132 Stapel wandte sich aufgrund des "Volkserlebnisses" 1914 Fichte zu (s. Heinrich KEBLER, Wilhelm Stapel als politischer Publizist, 1967, S. 23 f.); Ritter übernahm als DNVP-Abgeordneter nach 1918 Verantwortung in der Fichte-Gesellschaft (K.B. R I T T E R , A U S einem Pfarrerleben, 1971 [1960], S. 214). Stählin lernte Ritter wie Stapel bei der Gründung des Jungdeutschen Bundes im August 1919 kennen (Via Vitae, 1968, S. 178), der Vortrag "Unsere Pflicht zum Radikalismus" ist nicht sicher zu datieren (hs. Vermerk Stählins: "1919?").
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
gendein Letztes, Festes, unveränderlich Stehendes, an eine Grenze, diesseits welcher zwar das freie Leben sein Spiel treibe, welche selbst aber es niemals zu durchbrechen [...] vermöge." 133 Als "Ausländerei" gelten Fichte eine statisch und nicht organisch gedachte Sicht der Gesellschaft und eine dementsprechend dezisionistische Art des Philosophierens. Wilhelm D L L T H E Y (1833-1911) formuliert erstmals den Kampflegriff "Lebensphilosophie" gegen die akademische "Kathederphilosophie". 134 In der Vorrede zu seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften, die er selbst ursprünglich als "Kritik der historischen Vernunft" 133 bezeichnen wollte, schreibt Dilthey 1883 den später oft zitierten Satz: "In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit." 136 Dilthey fährt an gleicher Stelle fort: Er wolle stattdessen den ganzen Menschen in den Blick nehmen, allein die geschichtliche Entwicklung seines Wollens, Fühlens und Vorstellens könne die Grundfragen der Philosophie beantworten. Gegen Kants apperzeptives Apriori setzt Dilthey hier eine Art Apriori des geschichtlichen Lebens. Diltheys Lebensphilosophie begründet die Lehre vom Verstehen 137 geschichtlich gewordenen Lebens und steht mit ihrer Akribie der "Kathederphilosophie" vom Stile her wesentlich näher als dem gedanklich verwandten enfant terrible der Philosophie, Nietzsche. Bei Dilthey sind somit für die Kategorie "Leben" folgende Bestimmungen grundlegend: - "Leben" meint das menschliche Leben - "Leben" kann nur konkret-geschichtlich erfaßt werden. 138 133 J.G. FICHTE, Reden an die Deutsche Nation, 1978 [1808], S. 107 f. (7. Rede mit dem Titel: "Noch tiefere Erfassung der Ursprünglichkeit, und Deutschheit eines Volkes.") Zu Fichte und der Lebensphilosophie vgl. O . F . BOLLNOW, Die Lebensphilosophie, 1958, S. 13 f. 134 Vgl. K. ALBERT, Artikel "Lebensphilosophie", TRE 20, 1990, S. 583. 135 In der Widmung an den Grafen Yorck, Einleitung in die Geisteswissenschaften, 1990 [1883], S. IX, ferner S. 116. 136 A.a.O., S. XVIII. 137 Dieses "Verstehen" wird vom "Erklären" der Naturwissenschaften deutlich abgesetzt und begründet so das eigene Profil der Geisteswissenschaften. 138 A.a.O., S. 91: "Indem wir ein Vergangenes miterleben, durch die Kunst geschichtlicher Vergegenwärtigung, werden wir belehrt, wie durch das Schauspiel des Lebens selber"; ebd. werden geschichtsphilosophische Theorien verworfen, "welche in der Darstellung des Singularen einen bloßen Rohstoff für ihre Abstraktionen erblicken." Dieses Verfahren lasse "sowenig als die Physiologie das Leben" verstehen (S. 95). Damit wird der Philosophie Hegels und darüber hinaus der gesamten Tradition des deutschen Idealismus widersprochen, aber auch der Positivismus Comtes ist für Dil-
4.1. Leben
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Dieses wird von Dilthey religionsgeschichtlich139 begründet mit dem Vordringen des christlichen Glaubens in Europa: Die Philosophie des Christentums verdrängte den griechischen Geist. Während dieser gedankenmäßig und in Allgemeinbegriffen am Kosmos orientiert gewesen sei, habe sich die christliche Philosophie wegen ihres konkreten geschichtlichen Inhaltes durchgesetzt: "Denn sie trug eine machtvolle geschichtliche Realität in sich; [...] Damit ward nun Gottes Wesen, im Gegensatz gegen seine Fassung in dem in sich geschlossenen SubstanzbegrifF des Altertums, in geschichtlicher Lebendigkeit ergriffen. Und so entstand, das Wort im höchsten Verstände genommen, nun erst das geschichtliche Bewußtsein. Wir verstehen, indem wir aus unserem eigenen tiefen Leben dem Staube des Vergangenen Leben und Atem wiedergeben." 140 Hieraus ergeben sich zwei weitere grundlegende Bestimmungen für Diltheys Verwendung der Kategorie Leben: - "Leben" steht im erkenntnistheoretischen Kontext - "Leben" ist sowohl Subjekt als auch Objekt des Erkennens/Philosophierens. Dilthey begründet in der "Einleitung in die Geisteswissenschaften" deren Eigenständigkeit gegenüber der Naturwissenschaft wie gegenüber der Metaphysik als den erkenntnistheoretischen Standpunkt. Dies geschieht, indem die Metaphysik, "ihre Herrschaft und ihr Verfall" geschichtlich dargestellt wird. 141 . Erkenntnistheorie ist das eigentliche Interesse Diltheys als geisteswissenschaftliches Proprium. Im Rahmen der Erkenntnistheorie erhält nun die Kategorie "Leben" Schlüsselfunktion als positiver Ausgangs- und Zielpunkt innerhalb der "Kritik der historischen Vernunft". Das "Sein" ist weder naturwissenschaftlich noch metaphysisch faßbar, allein verläßlich ist der they "nur eine naturalistische Metaphysik der Geschichte" (a.a.O., S. 105), es ist "der Empirismus nicht minder abstrakt als die Spekulation" (a.a.O., S. 123). 139 Explizit grenzt Dilthey sein Verfahren vom theologischen ab: "Im Christentum erfährt der Wille seinen eigenen metaphysischen Charakter. Damit berühren wir die Grenze unserer hier dem Menschlichen, Geschichtlichen allein zugewandten Betrachtungsweise;" (a.a.O., S. 251, Hervorhebung im Original). Der Sohn eines nassauischen Hofpredigers kam von der Theologie her und schrieb 1859 eine preisgekrönte Abhandlung über Schleiermachers Hermeneutik: Ulrich HERRMANN, Artikel "Dilthey", TRE 8, 1981, S. 752 f. mahnt forschungsgeschichtlich gerade die vergessene Verhältnisbestimmung zwischen Philosophie, Theologie und Religion bei Dilthey an. 140 A.a.O., S. 253 f., Hervorhebungen im Original. 141 Überschrift des zweiten Buches, a.a.O., S. 123-408: "Metaphysik als Grundlage der Geisteswissenschaften, ihre Herrschaft und ihr Verfall." Den positiven Teil, die Entfaltung des erkenntnistheoretischen Standpunktes konnte Dilthey nicht mehr vorlegen.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
erfahrungswissenschaftliche Standpunkt: Leben erkennt Leben. 142 So heißt es auf den ersten Seiten der "Einleitung in die Geisteswissenschaften": "Ausschließlich in der inneren Erfahrung, in den Tatsachen des Bewußtseins fand ich einen festen Ankergrund für mein Denken, [...] Alle Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft, [...] Wir bezeichnen diesen Standpunkt, der folgerecht die Unmöglichkeit einsieht, hinter diese Bedingungen zurückzugehen, [...] als den erkenntnistheoretischen;" "So entsteht ein eigenes Reich von Erfahrungen, welches im inneren Erlebnis seinen selbständigen Ursprung und sein Material hat, und das demnach naturgemäß Gegenstand einer besonderen Erfahrungswissenschaft ist."143 Der hier exemplarisch aus Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften 144 erhobene erkenntnistheoretisch-geschichtliche Lebensbegriff ist bei Stählin durchaus wiederzufinden, auch wenn dieser Dilthey m.W. an keiner Stelle erwähnt und aufgrund anderer sachlicher Oppositionen einen grundsätzlich von Dilthey verschiedenen Gebrauch des Lebensbegriffs zeigt. Stählins Gegenüber sind eine supranaturalistische Theologie und eine erstarrte Kirche und Gesellschaft, während Dilthey als Philosoph die theologische Frage bewußt ausklammerte. 145 Dennoch stimmen Dilthey wie Stählin in einem wesentlichen Punkt überein: "Leben" ist für beide eine erkenntniskritische Kategorie, für Dilthey im
142 Formulierung von mir. In dieser - mir bei Dilthey selbst wie in der Sekundärliteratur - nicht begegneten Formel tritt eine gnostisierende Tiefenstruktur in Diltheys Erkenntnistheorie zutage, welche zu der (vermutlich über Schleiermacher rezipierten spinozistischen) Orientierung am Fantheismus in logischer Beziehung steht. O.F. BOLLNOW, Die Lebensphilosophie, 1958, S. 101-113 spricht von dem pantheistischen Untergrund, "der mit dem Wesen der Lebensphilosophie selber notwendig verbunden zu sein scheint." (A.a.O., S. 101) 143 A.a.O., S. XVII. 9. Dilthey fährt erläuternd fort, eine solche selbständige Wissenschaft sei nur zu bestreiten, wenn jemand Goethes Leidenschaft und dichterische Gestaltüngskraft besser aus dessen Körperbau und Gehirnphysiologie zu erklären vermöchte. 144 Auf die Heranziehung weiterer Schriften Diltheys wurde hier zugunsten einer knappen Darstellung verzichtet. Angemerkt sei jedoch, daß dieser Ansatz unmittelbare Konsequenzen für die Pädagogik hat, indem mit der Metaphysik auch eine "allgemeingültige pädagogische Wissenschaft, welche [...] absehend von allen Verschiedenheiten der Völker und Zeiten" Ziele formuliert, als eine "rückständige Wissenschaft" verworfen wird (W. DILTHEY, Pädagogik, 1986 [1933], S. 177). Folgerichtig behandeln drei Viertel des Buches die Geschichte der Pädagogik von den alten Völkern über Antike und Mittelalter bis zu Comenius (a.a.O., S. 13-164). Vgl. dazu Ulrich HERRMANN, Wilhelm Dilthey, 1979, bes. S. 80. 145 S.o. Anm. 139.
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Rahmen der Geisteswissenschaften gegen die Übergriffe der Metaphysik einerseits und der Naturwissenschaften andererseits, für Stählin im Rahmen theologischer Erkenntnis 146 gegen die gleichermaßen als rationalistisch erkannten supranaturalistischen wie religionspsychologischen Zugänge. Eine gewisse Koinzidenz 147 Stählinscher und Diltheyscher Gedanken liegt vor in der erwähnten Kontroverse mit Hans Lauerer 1920.148 Dort spricht Stählin sich gegen Lauerer aus, weil er dessen "ganze Einstellung als rational" empfindet. 149 In der Diskussion um die Präexistenz Christi entfaltet Stählin seinen Standpunkt im Gegensatz zum kausalen Denken (ohne allerdings die Kategorie "Leben" ins Spiel zu bringen): "Es handelt sich mir um den Gegensatz zur kausalen Betrachtung. Mit dem Begriff des Kausalzusammenhangs ist ja schließlich auch in der Geschichtswissenschaft ein grober Unfug getrieben worden. Der Kausalgedanke ist in der Naturwissenschaft als Arbeitsmethode notwendig und wertvoll; aber paßt er überhaupt auf religiöses Gebiet? Jedenfalls ist die Tragfähigkeit der kausalen Betrachtung gewaltig überschätzt worden; der geschichtliche Prozeß des Reiches Gottes kann nicht auf kausale Formeln gebracht werden. Jesus ist eben nicht irgendwie aus menschlichen geschichtlichen Voraussetzungen als Blüte der Menschheit zu 'erklären'; wenn ich gefragt werde, ob Jesus bei Gott präexistiert hat, so macht es mir darum nicht die geringste Schwierigkeit, diese Frage zu bejahen." 150 Die anderen Konnotationen des Diltheyschen Lebensbegriffes finden sich bei Stählin kaum: Für ihn beschränkt sich der Begriff weder auf das menschliche Leben noch wird die Kategorie der Geschichtlichkeit im Zusammenhang des Lebensbegriffes herangezogen, obwohl Stählin durchaus geschichtlich denkt. 151 Darüber hinaus ist evident, daß bei Stählin mehr und mehr der 146 Wobei der frühe Stählin durchweg von "religiöser Erkenntnis" spricht; vgl. Religiöses Erlebnis und religiöse Erkenntnis, 1922. 147 Also keine Kausalität im Sinne einer Abhängigkeit Stählins von Dilthey. 148 S.o., S. 12 f. 149 Hans LAUERER/Wilhelm STÄHLIN, "Altes" und "neues" Evangelium?, 1920, S. 37, ebd.: "Ich empfinde den Gegensatz als einen erkenntnistheoretischen." Den Unterschied in der Erkenntnistheorie nennt Stählin noch einmal in seinem Schlußwort (a.a.O., S. 56). 150 A.a.O., S. 39. Interessanterweise wendet sich Stählins Votum hier schließlich stärker gegen eine liberale Interpretation der Präexistenz als gegen Lauerers bekenntnisorientierte. Dies belegt Stählins Angabe, die "freier Gerichteten" seien nicht eigentlich "liberale Theologen" gewesen (Via Vitae, 1968, S. 158). 151 1928 ordnet Stählin das Aufkommen des geschichtlichen Denkens erst dem Erwachsenenalter zu. Jugendliche sähen die Gemeinde als zeitlos zu konstruierendes Idealbild und könnten die wirklich bestehende, geschichtlich gewordene Gemeinde nur schwer begreifen: "Wenn ein Mensch 'geschichtlich' denken gelernt hat, das
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
theologische Begriff von Leben dominiert, der einer lebensphilosophischen, ontologischen Sicht menschlichen Lebens die eschatologische Sicht von der in Christus anhebenden zweiten Schöpfung entgegenstellt und so zunehmend die Sündhaftigkeit132 des Lebens und dessen Wandlung in den Blick bekommt. Gleichzeitig umspannt Stählins Denken (über Diltheys erkenntnistheoretischen Ansatz vom Menschen als Subjekt und Objekt des Philosophierens hinaus) die ganze Schöpfung. Einen ganz anderen Stil von Lebensphilosophie findet man bei NIETZSCHE, trotz aller erkenntnistheoretischen Verwandtschaft (Primat des werdenden Lebens vor dem Sein153) mit Dilthey; denn Nietzsches Ausstrahlung auf die Jugendbewegung wie auf Stählin selbst beruht nicht auf seiner Erkenntnistheorie, sondern auf seiner radikalen Kritik am herrschenden Denk- und Lebensstil. Die appellative (man könnte auch sagen: berauschende) Sprache ist die augenfällige Erscheinungsform dieser noch mehr am "Lebendigen" als am Leben orientierten Philosophie. Vom Äußeren her (Sprache, Methodik, Argumentations - und Darbietungsstil) liegen Welten zwischen Diltheys erkenntnistheoretisch-geschichtlicher und Nietzsches vitalistisch-praktischer Lebensphilosophie.154 Auch hier ist es wieder sinnvoll, nach den Oppositionen von Nietzsches Lebensbegriff zu fragen. Am wichtigsten sind die folgenden Gegenüberstellungen, die unschwer den Einfluß auf Stählins Begriff von "Leben" deutlich werden lassen: - "Leben" steht gegen die "historische Krankheit" der Wissenschaft - "Leben" ist das Gegenstück zur Begrifflichkeit (als Lebenssurrogat) - "Leben" steht als erkenntnistheoretisches Fundament gegen die Metaphysik. Die ersten beiden Oppositionen finden sich unmittelbar nebeneinander in der zweiten der "Unzeitgemäßen Betrachtungen" (1874), die den Titel "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" trägt und auf die deutsche heißt gelernt hat, alles Wirkliche als ein Gewordenes [...] zu begreifen, daß alle Erneuerung immer nur innerhalb der engen Grenzen geschichtlicher Möglichkeiten sich vollzieht, [...] dann hat er schon den Schritt aus der Jugend in die Zeit der Reife vollzogen." (Jugend und Gemeinde, 1928, S. 141.) Analog entfaltet er die Lehre von der Kirche in der Vorlesung "Praktische Theologie I" im WS 1933/34 (Nachschrift von Heinz Henche/Münster, S. 3): Das Bekenntnis der Kirche "hat immer geschichtlichen Charakter, [...] Die Mißverständnisse des Traditionalismus und des Historismus sind zu vermeiden. Nicht alte Überlieferung und Ereignisse als solche referieren, sondern geschichtliches Verständnis heißt, das Sein als gewordenes zu verstehen." 152 Die Lebensphilosophie hat weitgehend einen lebensoptimistischen "Untergrund" (O.F. BOLLNOW, Die Lebensphilosophie, 1958, S. 142). 153 "Ein gewisser Heraklitismus liegt darum auf dem Boden jeder Lebensphilosophie." (O.F. BOLLNOW, a.a.O., S. 13.) 154 O.F. BOLLNOW, a.a.O., S. 40 unterscheidet Diltheys geschichtliche Lebensphilosophie von der ethisch gerichteten Nietzsches und der biologisch orientierten bei Henri Bergson (1859-1941). Bergsons Gegenüber war vor allem die Naturwissenschaft.
4.1. Leben
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Jugendbewegung vor und nach dem ersten Weltkrieg nachweislich eingewirkt hat.155 Explizit ruft Nietzsche am Schluß der zweiten "Unzeitgemäßen Betrachtung" zur Jugendbewegung, zur Mission der Jugend im Namen des Lebens auf: "So bedarf die Wissenschaft einer [...] Gesundheitslehre des Lebens [...] gegen die Überwachung des Lebens durch das Historische, gegen die historische Krankheit. [...] Und hier erkenne ich die Mission jener Jugend, [...] Ihre Mission aber ist es, die Begriffe, die jene Gegenwart von 'Gesundheit' und 'Bildung' hat, zu erschüttern und Hohn und Haß gegen so hybride Begriffs-Ungeheuer zu erzeugen; und das gewährleistende Anzeichen ihrer eigenen kräftigeren Gesundheit soll gerade dies sein, daß sie, diese Jugend nämlich, selbst keinen Begriff, kein Parteiwort aus den umlaufenden Wort- und Begriffsmünzen der Gegenwart zur Bezeichnung ihres Wesens gebrauchen kann, sondern nur [...] von einem immer erhöhten Lebensgefühle in jeder guten Stunde überzeugt wird."156 An gleicher Stelle macht Nietzsche eine klare Alternative auf: Entweder herrscht die Wissenschaft, das Erkennen über das Leben oder das Leben über das Erkennen. Unmißverständlich urteilt Nietzsche über diese "beiden Gewalten": "Niemand wird zweifeln, das Leben ist die höhere, die herrschende Gewalt, denn ein Erkennen, welches das Leben vernichtete, würde sich selbst mit vernichtet haben."157 Von hier aus ergibt sich unmittelbar der Zusammenhang von Erkenntnis und Leiblichkeit, von Geist und Physis158, welcher (vermittelt über die Jugendbewegung) ein zentraler Punkt in Stählins Denken wurde. Kultur bedeutet eine neue "Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen", eine neue verbesserte Physis und nicht die "Dekoration des Lebens"159. Die 155 Friedrich NIETZSCHE, Unzeitgemäße Betrachtungen, 1976 [1874], Nachwort von Alfred Baeumler, S. 629; s. schon Oscar SCHÜTZ, Friedrich Nietzsche als Prophet der deutschen Jugendbewegung, NJWJ 1929, S. 65 und Hermann GIESECKE, Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend, 1981, S. 14. 156 F. NIETZSCHE, a.a.O. (s. vorige Anmerkung), S. 192 f., Hervorhebungen im Original. 157 A.a.O., S. 192. 158 "Solange Geist nur im physischen Wesen vorkommt, gibt es begriffliche Synthesis nicht ohne physischen Impuls", formuliert Christoph TÜRCKE, Der tolle Mensch, 1989, S. 84. Auf dieses brillant geschriebene neue Nietzsche-Buch ist noch mehrfach zu verweisen. 159 F. NIETZSCHE, a.a.O., S. 195. Oscar SCHÜTZ, Friedrich Nietzsche als Prophet der deutschen Jugendbewegung, NJWJ 1929, S. 78 urteilt, daß Nietzsche in der
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
"Echtheit" g e g e n allen Schein wurde für Stählin v o n der J u g e n d b e w e g u n g her zu einer zentralen Maxime, und der K a m p f g e g e n alles nur D e k o r a t i v e durchzieht seine späteren Äußerungen zu Liturgie, Kirchenmusik und kirchlicher Kunst. D e r B e g r i f f "Leben" als erkenntnistheoretische Kategorie, konkretisiert als "der Wille zur Macht", wird in dem posthum z u s a m m e n g e s t e l l t e n gleichn a m i g e n H a u p t w e r k (konzipiert 1887) 1 6 0 herausgestellt. D e r Wille zur M a c h t äußert sich als Leben, und das Leben ist letztgültiger Wert, der nicht v e r z w e c k t w e r d e n darf: "Das L e b e n selbst ist kein Mittel zu etwas; es ist der v o n W a c h s t u m s f o r m e n der Macht." 1 6 1
Ausdruck
V o n d i e s e m Ausgangspunkt her wird eine neue Art der P h i l o s o p h i e und d e s Philosophierens propagiert, w e l c h e das Werden als s o l c h e s gegen jede Metaphysik setzt. Sobald wir eine tiefere Ursache hinter dem W e r d e n annehmen w i e G o t t oder Natur, "verderben wir uns die Unschuld des Werdens "162 D i e g e s a m t e idealistische Tradition wird apodiktisch verworfen: "Die g r ö ß t e Fabelei ist die v o n der Erkenntnis. M a n m ö c h t e w i s sen, w i e die Dinge an sich beschaffen sind: aber siehe da, es gibt keine D i n g e an sich!" 1 6 3
"religiösen Bejahung des Lebens, der 'Vergöttlichung des Leibes'" Lehrer und Prophet der Jugendbewegung gewesen ist. 160 F. NIETZSCHE, Der Wille zur Macht, 1980, S. 700 (Nachwort von Alfred Baeumler). 161 F . NIETZSCHE, a . a . O . , S. 4 7 6 .
162 A.a.O., S. 378, Hervorhebung im Original. 163 A.a.O., S. 380, Hervorhebung im Original. Zutreffend ist die Bemerkung von C. TÜRCKE, Der tolle Mensch, 1989, S. 125, der von Nietzsche Kant entgegengesetzte "Wille zur Macht" bestimme die Welt ebenfalls auf ihren intelligiblen Charakter hin und stelle trotz aller Absage an die Metaphysik seinerseits eine metaphysische These dar. - Die These von Türckes Monographie lautet: Nietzsches alles umstürzendes Denken habe ihn selbst in den Wahnsinn stürzen lassen müssen, an dem "tollen Menschen" Nietzsche ereigne sich stellvertretend der Wahnsinn der Vernunft der Neuzeit: "Der Sturz der Metaphysik ist ein unerhörter Eingriff in die Physis." (TÜRCKE, a.a.O., S. 26.) Scharfsinnig hält Türcke der philosophischen und theologischen Zunft vor, den Wahnsinn der Neuzeit immer weiter zu treiben: "Wenn moderne Theologen behaupten, der authentische biblische Gott habe mit Metaphysik, einer griechischen Erfindung, nichts zu tun [...], so heißt das verdolmetscht: Wir wollen uns weder den Regeln metaphysischer Argumentation verpflichten noch von Metaphysikkritik angesprochen fühlen, sondern von Gott reden, wie es uns paßt. Der nichtmetaphysische Gott freilich ist selbst nach theologischen Kriterien eine Null, taugt weder zur Schöpfung noch zur Erlösung der Welt. Physische Wesen sind dazu bekanntlich nicht in der Lage, ein Drittes zwischen physisch und metaphysisch aber ward nirgends entdeckt, [...]" (S. 21, Anm. 20); vgl. S. 32, Anm. 18: "Der faule Wortzauber, mit dem Heidegger die Metaphysik zu überwinden vorgibt, wird angesichts dieser Frage [wie man ohne Metaphysik dem Irresein entgeht] als magischer
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"Strenger: man darf nichts Seiendes überhaupt zulassen, - weil dann das Werden seinen Wert verliert und geradezu als sinnlos und überflüssig erscheint." 164 Der metaphysische salto mortale, mit dem Nietzsche seine Metaphysikkritik ans Ziel zu bringen sucht, ist dann die Welt als Kreislauf ohne Anfang und Ende, "ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt" 165 , eine dionysische Welt des sich-selber ewig schaffenden Willens zur Macht. Eine direkte Verbindung zu Stählins Denken besteht im Zusammenhang von "Leben" und "Leib". Ist das Leben Gegenstand der Philosophie (als Erkenntnisobjekt), so gehört dazu die Leiblichkeit des Philosophen (als des erkennenden Subjekts): "Man darf alle jenen kühnen Tollheiten der Metaphysik [...] zunächst immer als Symptome bestimmter Leiber ansehen; [...]" "Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen, [...] Wir sind keine denkenden Frösche, keine Objektivier· und Registrier-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden, wir müssen beständig unsere Gedanken aus unserem Schmerz gebären [...] Und was die Krankheit angeht: [...] Erst der große Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes, [...].' n66 Es ist deutlich, daß Nietzsche an diesem Punkt nicht als "Prophet der Jugendbewegung" zur Wirkung gekommen ist. Hier handelt es sich nicht um die optimistische Sicht der Leiblichkeit, hier kommt vielmehr (aufgrund von Nietzsches eigenem Erleben) die Leiblichkeit in ihrer Gebrochenheit - und gerade darin als Erkenntnisgrund - zur Sprache. Von hier aus ergibt sich aber sehr wohl eine Verbindung zu Stählins Sicht des Leibes jenseits aller Romantik, wie sie schon in "Schicksal und Sinn der deutschen Jugend" angeklungen war. 167 Abwehrzauber transparent." - Unmittelbar theologisch relevant ist Türckes sozialkritische Interpretation von Nietzsches "Wille zur Macht" (S. 125) als Formel, welche Ideologisierungen hinter modernen demokratischen Idealen aufdeckt; so kann Nietzsche elenchtische Bedeutung haben entgegen dem Hang zu billiger Gnade und vorschneller Harmonisierung. Aus ähnlichen Gründen dürften seinerzeit auch Rittelmeyer und Stählin auf Nietzsche zurückgegriffen haben. 164 F. NIETZSCHE, a.a.O., S. 479.
165 A.a.O., S. 697. Man ist versucht, hier die Symptome der manischen Psychose als Parallele aufzuzählen: Antrieb gesteigert, Verlust von Hunger- und Sättigungsgefühlen, Schlaflosigkeit mit gleichzeitigem Hochgefühl: der manische Patient verliert sich im Außenfeld (Klaus DöRNER/Ursula PLOG, Irren ist menschlich, 1980, S. 79 f.). 166 F. NIETZSCHE, Die fröhliche Wissenschaft, 1976 [1886], S. 6. 7f. (Vorrede). 167 Schicksal und Sinn der deutschen Jugend, 1926, S. 148.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Die grundsätzliche Verbindung von Nietzsches Lebensbegriff mit Stählins Denken dürfte aus dem Geschilderten bereits klar hervorgehen: Der Primat gelebten Lebens als solchen gegenüber der Überschätzung historischer Gegebenheiten und Begrifflichkeiten bleibt ein lebenslanger Impetus bei Stählin. Nietzsches erkenntnistheoretischem Einspruch als Philosoph gegen eine lebensunabhängige Metaphysik entspricht Stählins Einspruch gegen eine zeit- und personenunabhängige supranaturalistische Theologie. Ohne Parallele ist auch in der Frühzeit die Lehre Nietzsches von dem ewigen Kreislauf und von der metaphysischen 168 Qualität des Werdens, Willens zur Macht und Lebens, wenn auch manchmal bei Stählin quasi personal vom Leben gesprochen wird. Deutlich näher bei Nietzsche denn bei Dilthey liegt Stählin in der Art und Weise, aus den beschriebenen Gestalten von "Leben" unmittelbar Handlungsanweisungen abzuleiten (Ehrlichkeit/Echtheit trotz bestehender Konventionen, Parteinahme für die Jugend gegen bestehende Institutionen, Kampf gegen Begriffe als Instrument der Wahrheitsfindung, Einbeziehung der Leiblichkeit). Nietzsches unmittelbar praktische Lebensphilosophie entspricht Stählin weit mehr als die geschichtlich-erkenntnistheoretische Methode Diltheys. Dies paßt zu der breiten Nietzsche-Rezeption schon in der frühen Jugendbewegung. 169 Sehr deutlich ist aber auch, daß die beschriebene Entwicklung in Stählins Lebensbegriff als theologische Vertiefung in Nietzsches Schriften keinerlei Anhalt hat. 170 Hier hat Stählins Nachdenken wie geschildert mit der Jugendbewegung von Nietzsche zur Bibel geführt, ohne daß Stählin seine Anfänge einfach durchgestrichen oder gar verleugnet hätte. Stählin zitiert Nietzsche bei Gelegenheit immer wieder, ohne daß er auf dessen Gedanken dann näher einginge oder von ihnen her wesentliche Argumente bezöge. Einzig programmatischen Charakter hat seine Berufung auf Nietzsche und die Jugendbewegung in der Oldenburger Rede vor seiner Wahl zum Bischof 1945: "Es ist auch uns Theologen heilsam, uns an das Wort eines so ausgesprochenen Christus-Feindes wie Friedrich Nietzsche zu erinnern: 'Bleibt mir der Erde treu!' Es gibt eine Art von Chri-
168 Unbestreitbar ist Tttrcke zuzustimmen: Hier lehrt Nietzsche gegen die geäußerte Absicht Metaphysik (s.o. Anm. 163). 169 Bereits 1914 erschien die Schrift "Nietzsche als Erzieher" des Wandervogelführers Walter Hammer, s. Oscar SCHÜTZ, Friedrich Nietzsche als Prophet der deutschen Jugendbewegung, NJWJ 1929, S. 70. 170 Schon in Fieber und Heil in der Jugendbewegung, 1922, S. 89 heißt es: "Handeln ist immer Wille zur Macht; aber nur die Bereitschaft zum Opfer und die Treue bis in den Tod hat die Welt überwunden. 'Wer mir nachfolgen will, der nehme das Kreuz auf sich."' Hier klingt allerdings (in der Anspielung auf Offb 2,10) gängige Kriegspredigt in der Christologie nach.
4.1. Leben
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stentum und 'Geistlichkeit', die den B o d e n unter den F ü ß e n verloren hat [...]." 1 7 1 D i e anderen Stellen beschränken sich noch mehr auf einen N i e t z s c h e s c h e n "Zitatenschatz." 1 7 2 W a g t man es, aus heutiger Sicht, etwa ein g u t e s Jahrhundert nach D i l t h e y und N i e t z s c h e , eine B e w e r t u n g der Lebensphilosophie vorzunehmen, bleibt ein zwiespältiger Eindruck. Im ganzen herrschte hier trotz aller P h i l o s o p h i e kritik letztlich der Optimismus der Gründerzeit. A u f der B a s i s politischer und kulturell-wissenschaftlicher Selbstsicherheit erhob sich der Überbau einer Philosophie, die über die Metaphysik der Alten spottete und an deren Stelle "das Leben" als D i n g an sich setzte, ohne dessen Abgründe oder auch nur die materielle B a s i s des eigenen Intellektuellen-Lebens g a n z ernst zu nehmen. D e r Anspruch, alles zu "verstehen" 1 7 3 b z w . "das Leben" z u m Objekt philosophischer Kategorisierung machen zu können, ist aus heutiger Sicht allzu sehr mit dem Allmachtswahn der N e u z e i t behaftet, - kurz: die L e b e n s philosophie hatte Marxismus und Existenzphilosophie ( b z w . die alle Philosophie aushebelnde 1 7 4 Geschichte des 20. Jahrhunderts) n o c h vor sich. A n dererseits hat die Lebensphilosophie sicher gerade der uns heute selbstver-
171 Pflüget ein Neues!, 1963 [1945], S. 247. Ebd. kommt Stählin neben der Jugendbewegung auch auf das "echtefs] Anliegen" der "Deutschen Christen" 1933 zu sprechen. Unverkennbar ist auch hier das Bemühen um die Einheit der Landeskirche (Pfarrerschaft); s. auch a.a.O., S. 249. 172 Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 53 (ein Wort Nietzsches über die Beichte); Das Gebet der Kirche, 1937, S. 19 (Nietzsches Satz: "Wer sich selbst erniedrigt, will erhöht werden"); Die Zurüstung zum geistlichen Amt als Lebensaufgabe der Kirche, 1963 [1962], S. 204 (Warnung vor der Philologie in bezug auf die Bibel). In Stählins Nachlaß in Münster findet sich eine umfangreiche Seminararbeit (ohne Verfassername) über "Die Beurteilung der Reformation bei Friedrich Nietzsche". In Stählins Unterlagen für theologische Prüfungen ist ebenfalls als wissenschaftliche Arbeit (in Praktischer Theologie im 2. Examen!) vorgeschlagen: "Was ist aus Nietzsches Beurteilung der Reformation zu lernen?" (Nachlaßteile im Besitz von Hildegart MUMM, geb. Stählin.) 173 Richtig schreibt O.F. BOLLNOW, Die Lebensphilosophie, 1958, S. 107 dazu: "Es waren erst ganz andere Erfahrungen notwendig, bis die Grenzen des Verstehens als etwas grundsätzlich Unüberschreitbares in den Blick kommen konnten." 174 Gerade Nietzsches "Der Wille zur Macht" kann nicht ohne Gedanken an die Naziverbrechen gelesen werden (a.a.O., S. 175: "Die Gattung braucht den Untergang der Mißratenen, Schwachen, Degenerierten, [...]"; S. 246: "wenigstens scheint es zu Ende zu sein mit einer Art Mensch (Volk, Rasse), wenn sie tolerant wird, gleiche Rechte zugesteht und nicht mehr daran denkt, Herr sein zu wollen"; S. 490: "Eine Gesellschaft, die endgültig und ihrem Instinkt nach den Krieg und die Eroberung abweist, ist im Niedergang: sie ist reif für Demokratie und Krämerregiment [..·]".)· Zwar gilt auch hier: abusus non tollit usum - wir können Nietzsche jedoch nicht mehr mit der Unschuld jenseits des abusus lesen, zudem scheint der abusus doch auch ursächlich mit dem usus lebensphilosophischer Ethik zusammenzuhängen.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
ständlichen philosophischen Skepsis175 und Selbstkritik den Weg bereitet. Das erfahrungslose Sprechen von fremden Erfahrungen aus professoraler Distanz 176 erfolgt heute mindestens mit schlechtem Gewissen. Nimmt man eine - freilich künstliche - Unterscheidung von Erkenntnistheorie und Ethik vor, so kann gelten: die erkenntnistheoretischen Impulse der Lebensphilosophie, über dem System des Denkens das Leben der Denkenden nicht zu vergessen, sind von bleibender Bedeutung. Hier ergibt sich im übrigen eine direkte Parallele zur Praktischen Theologie: Viele Programme von Gemeindeaufbau und Gemeindepädagogik, seien sie kirchenreformerisch oder evangelikal, übertragen ein biblisches und/oder emanzipatorisches Gemeindebild auf die Praxis und gehen dabei über das Leben der verantwortlichen Hauptamtlichen - Familie, Ehe, Rollenfindung als Mann/Frau, christliche Prägung, Krisen, Krankheiten, Müdigkeit - souverän hinweg. An dieser Stelle hatten die alten Konzepte einer "Pastoraltheologie" durchaus etwas für sich. Die ethischen lebensphilosophischen Impulse hingegen können wir wenigstens zur Zeit nicht ohne den Kontext des faschistischen Abusus lesen. Die Willkür des naturalistischen Kurzschlusses, aus "dem Leben" ohne Ideologiekritik weitreichende Konsequenzen abzuleiten, steht uns mit ihren Konsequenzen im "3. Reich" bedrängend vor Augen. Analytisch jedoch stellt auch Nietzsches Philosophie die Theologie heute vor eine Aufgabe: sich den Abgründen des Lebens zu stellen, ohne der Versuchung diesseitiger Weltbeglückungsphantasien zu verfallen und das Evangelium der Aufklärung preiszugeben. Ebenso gilt freilich der kritische Satz: "Wer aber den Taumel in Nietzscheschen Abgründen als Rausch genießt, ist schon auf dem Trip in Richtung Katastrophe." 177 Dafür ist uns der Theologe Emst Wurche bei Walter Flex eine bleibende Warnung, wie auch die Tatsache, daß Stählin sich gleich vielen anderen fur diesen so zu begeistern wußte. 178 175 So z.B. Odo MARQUARD, Abschied vom Prinzipiellen, S. 18: "Das Prinzipielle ist lang, das Leben ist kurz; [...] Darum muß der endliche Mensch bis zu seinem Tod ohne prinzipielle Rechtfertigung leben [...] er muß kontingent und aus Kontingenzen heraus existieren [...]." Verrät dieser Satz große Offenheit zur Theologie, so die folgende Bemerkung Aufnahme der Tradition der Lebensphilosophie: "sterblichkeitsbedingt" sei "das Faktische das Apriori des Prinzipiellen" (a.a.O., S. 17). In dem Aufsatz "Inkompetenzkompensationskompetenz?, 1981, S. 32 heißt es bissig: "Der Dogmatismus nennt sich heutzutage Kritik [...]." 176 Vgl. Horst Georg PÖHLMANN, Nur wer lebt, versteht, 1992, S. 225. 177 Christoph TüRCKE, Der tolle Mensch, 1989, S. 7. 178 Volkstrauertag 1932, S. 7: "Ich schätze Walter Flex, der in seiner Dichtung und in seiner Person das Sinnbild jener Zeit geworden ist [...]." S. dazu auch Oscar SCHÜTZ, Friedrich Nietzsche als Prophet der deutschen Jugendbewegung, NJWJ 1929, S. 78 f. Mit dem Ja "zu allem, was heldisch oder stark ist" und zu den "heldischen Menschen" als Führern (a.a.O., S. 73) ist Schütz als ein Bindeglied zwischen Nietzsche und Nationalsozialismus deutlich erkennbar.
4.1. Leben
109
Der Lebensbegriff selbst muß heute den Denkweg des 20. Jahrhunderts mit berücksichtigen und ins Gesellschaftliche geweitet werden. Hier ist die sozialwissenschaftliche "Lebenswelt"-Diskussion zu berücksichtigen, weil eben "das Leben" als solches - anders als die Lebensphilosophie des 19. Jahrhunderts meinte - nur über sozial vermittelte Sinnhorizonte erfaßbar ist und von daher verstanden werden muß. Innerhalb dieser verschiedenen sozialen Verstehensrahmen kann der Lebensbegriff dann aber eine heuristische Funktion behalten, indem er auch das Zeitübergreifende, Individuelle und Konkrete gegen den (sozialwissenschaftlichen Theorien inhärenten) Trend zur Systematisierung ins Spiel bringt. 179 Ein sozialer Sinnhorizont der alten Lebensphilosophie (wie schon bei Fichte) war das Völkische als Erscheinungsform des Lebens. Diesem Aspekt wie dem Stählin eigentümlichen Symbol- und Gleichnisdenken ist nun innerhalb der ersten Schlüsselkategorie "Leben" noch nachzugehen.
179 Odo MARQUARD, Leben und leben lassen, 1984, nennt Diltheys Lehre vom immer gleichen Menschen eine "Wandlungsentschleunigungsformel" (S. 135).
4.2.
Kontexte zur Schlüsselkategorie "Leben": Das Völkische und das Symbol
4.2.1. Das Leben und das Volkische Es ist nicht die Aufgabe dieses Abschnitts, die politische Einstellung Stählins mit ihren Wurzeln und Querverbindungen zu untersuchen. Wohl aber kommt es auf das Völkische als eine Gestalt von Form an, von der Praktische Theologie nach Stählin auszugehen hat. So sieht er das Leben des Volkes in einem zweifachen Verhältnis zur Praxis der Kirche: - das völkische Leben ist einer der Orte, an denen das Zeugnis der Kirche verstanden werden kann (neben Natur, Leib, Ehe, Gemeinschaft) und hat von daher hermeneutische Bedeutung (es kann wie vieles zum "Gleichnis" werden); - das völkische Leben kann Ausgangspunkt der Gestaltung von Kirche in der Welt sein, wird aber durch das neue Leben in Christus gesprengt bzw. gewandelt wie alles Leben, es hat von daher eine begrenzte, vorläufige Bedeutung. Diese zweifache Bestimmung, welche hier in Anlehnung an Stählins grundlegende Aufgabenbeschreibung der Praktischen Theologie formuliert worden ist, findet sich zwar nicht explizit, wohl aber implizit in seinen Äußerungen zur Thematik des Völkischen. Wie bei allem Leben geht es Stählin auch hier um das durch Christus gewandelte Leben, gegen einen optimistischen Begriff des Völkischen. Am Anfang soll hierzu ein Vortrag Stählins aus den entscheidenden Monaten des Jahres 1933 analysiert werden, den er am Fronleichnamstag (15. 6. 1933) vor der Versammlung rheinischer Religionslehrer in Düsseldorf hielt zum Thema "Christlicher Religionsunterricht im nationalen Staat". Zu Beginn stellt Stählin heraus, daß der Religionsunterricht ein "Ausfluß des Lehramtes der Kirche"180 ist und von daher nur möglich in enger Bindung an das gottesdienstliche Leben der Gemeinde. Dann kommt Stählin auf das brennende Thema zu sprechen, wie im Religionsunterricht das Verhältnis von Glaube und Rasse, Volk und Staat darzustellen ist. Hier schließt er sich explizit Karl Barth an und bevorzugt dessen Begriff "Erhaltungsordnung" gegenüber dem der "Schöpfungsordnung", weil bei dem letzteren unklar bleibe, ob er sich auf die Ordnung des Urstandes beziehe oder eine Ordnung in der gefallenen Welt meine181: "Jedenfalls darf der Begriff der Schöp-
180 Christlicher Religionsunterricht im nationalen Staat, 1933, S. 33. 181 A.a.O., S. 36; S. 37 f. fordert Stählin eine Erziehung zu "leibhafter Gebärde" im Religionsunterricht und befürchtet, daß "künftig die ganze leibliche Erziehung vom Staat beansprucht und die Kirche auf eine rein geistige 'Verkündigung'" beschränkt
4.2. Kontexte zu "Leben": Das Völkische und das Symbol
111
fungsordnung nicht dazu mißbraucht werden, irgendwelche Ordnungen des natürlichen Lebens als solche mit einer göttlichen Würde zu umkleiden" 182 , diese seien auf Christus zu beziehen, was adäquat durch den Begriff "Gleichnis" geschehe. 183 Pädagogisch heißt das für Stählin, daß Blut, Boden, Rasse und Volk nicht einfach in Überschätzung des bewußten Denkens ignoriert werden können. Die gestellte Aufgabe ist hingegen positiv "die Einwurzelung der Christusbotschaft in dem Wurzelboden deutschen Volkstums, und die Durchdringung der deutschen Seele mit dem Gehalt christlicher Verkündigung." 184 Dies dürfe jedoch ebensowenig wie seinerzeit bei Luther bedeuten, die christliche Erkenntnis "um der nationalen Einigung willen auch nur im geringsten preiszugeben." 185 Konkret heißt das für Stählin zu Beginn des "3. Reiches": "Die notwendige weitere 'Eindeutschung' des Christentums darf nicht dazu fuhren, daß die natürlichen Anlagen unseres Volkes zum Richter über den Inhalt der Offenbarung gesetzt werden; daß als angeblich 'artgemäß' eine Religion des natürlichen Menschen und des unerlösten Blutes aufgerichtet wird; daß als 'artfremd' der Anstoß des Kreuzes selber ausgeschaltet und bekämpft wird; daß der Glaube an den in der Auferstehung Christi geschehenen Sieg in eine heroische Lebenshaltung zurückverwandelt wird." 186 Die hermeneutische wie die vorläufige Bedeutung des Völkischen für die Praktische Theologie sind hier - im Ernstfall der beginnenden Naziherrschaft - so formuliert, wie sie sich für Stählin im Laufe der zwanziger Jahre ergeben haben. Aus heutiger Sicht erscheint diese Position naiv, zumal Stählin werden solle. Hier sieht Stählin seinen im Zusammenhang der Jugendbewegung gewonnenen religionspädagogischen Ansatz im Kern gefährdet. 182 A.a.O., S. 36. 183 Der Gleichnisbegriff ist hier nicht zu vertiefen, es verdient aber festgehalten zu werden, daß Stählin (a.a.O., S. 36) die christologische "Erhaltungsordnung" und seinen christologisch gemeinten Gleichnisbegriff direkt parallelisiert. Nachweislich hat Stählin den Begriff der "Erhaltungsordnung" in der Diskussion mit Bonhoeffer bei der Konferenz der "Mittelstelle für ökumenische Jugendarbeit" vom 29./30. 4. 1932 in Berlin kennengelernt, als Bonhoeffer Stählins Argumentation mit der "Schöpfungsordnung" widersprach (s. Dietrich BONHOEFFER, Gesammelte Schriften, Bd. I, 1958, S. 128 f.; vgl. dazu ferner Christoph STROHM, Theologische Ethik im Kampf gegen den Nationalsozialismus, 1989, S. 35-39). An diesem Punkt hat Stählin also trotz des schwierigen Verhältnisses zu Bonhoeffer von diesem gelernt. 184 A.a.O., S. 41. 185 A.a.O., S. 42. 186 Ebd.
112
4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
nach eigener Aussage Hitler (nach der Lektüre von "Mein Kampf' im Jahre 1932) von Anfang an durchschaut hatte. 187 Offensichtlich rechnet Stählin aber doch damit, dem Evangelium im neuen Staat Gehör verschaffen zu können, vielleicht nimmt er die Wahl von Bodelschwinghs zum Reichsbischof (27. 5.) als gutes Zeichen (dessen Rücktritt sollte dann am 24. 6. erfolgen, 9 Tage nach Stählins Düsseldorfer Vortrag) - vielleicht ist er aber auch nicht unbeeindruckt von der Führungsstärke des neuen Regimes. 188 Verfolgen wir diese Linien zurück in die Weimarer Republik, so finden sich erste wichtige Aussagen zum Völkischen in dem noch nach allen Seiten hin offenen Vortrag "Unsere Pflicht zum Radikalismus" von 1919. Hier fühlt sich Stählin von einem stimmungsmäßigen Radikalismus ergriffen und hält dem Bürgertum das Unberechtigte des Fortschrittsoptimismus' und der Dolchstoßlegende vor. In diesem Zusammenhang trifft er eine Unterscheidung, die in der späteren Zeit der Weimarer Republik fatale Konsequenzen hatte, nämlich die zwischen Volk und Staat. "Während einer Schlacht ist es mir blitzartig zu Bewußtsein gekommen, daß nicht eigentlich die Völker, sondern die Staaten miteinander Krieg fuhren, [,..]" 189 Stählin argumentiert hier aber eher internationalistisch: der Krieg habe das Ende der Nationalstaatlichkeit gezeigt, jetzt müßten "irgendwie neue Formen der Menschheitsorganisation gefunden werden." 190
187 Via Vitae, 1968, S. 265. Nach Auskunft von Stählins Tochter Hildegart MUMM hat Stählin am 30. Januar 1933 geweint, was sonst eigentlich nie vorgekommen sei, dazu habe er gesagt: "Ich sehe zerstörte Städte." Den Begriff "Finis Germaniae" hingegen habe er nicht an diesem Tag, sondern irgendwann später gebraucht (Gespräch m i t d e m V e r f a s s e r a m 8. 3. 1 9 9 3 ) .
188 Ähnlich war es dem jungen westfälischen Pfarrer Martin Stallmann (1903-1980) ergangen, der - aus nationalkonservativem Pfarrhaus stammend, erst seit 1920 durch den Wandervogel republikfreundlich geworden war und dann das Vikariat bei Günther Dehn ableisten wollte (Edith STALLMANN, Martin Stallmann, 1989, S. 17. 25. 37. 62) - am 1. Mai 1933 begeistert von Hitlers Führungskraft in sein Tagebuch schrieb: "Abends Hitlerrede. Ich könnte der NSDAP beitreten." (A.a.O., S. 207.) 189 Unsere Pflicht zum Radikalismus, 1919, S. 2. - Kurz vor Hitlers Machtergreifung unterschied Emanuel Hirsch zwischen dem "Staatsvolk" der Weimarer Reichsverfassung und dem "verborgenen Suverän" des Volkes: der "Volkswille" sei nicht der an der Wahlurne festgestellte Mehrheitswille; s. Kurt NOWAK, Evangelische Kirche und Weimarer Republik, 1988, S. 235. Der Einfluß von Hirsch wird an diesem Punkt von Nowak jedoch überschätzt. Maßgeblich für die Unterscheidung von "Volk" und "Staat" war Wilhelm Stapels Schrift "Volksbürgerliche Erziehung", die der staatsbürgerlichen Erziehung programmatisch entgegengesetzt war und zwischen 1917 und 1942 vier Auflagen erreichte; vgl. dazu ein Zitat von Stapel: "Wir [...] geben dem Staat, was des Staates ist. Moralisch aber fühlen wir uns als Bürger des 'ewigen Volkes' [...]". (DV 8/1926, S. 254, zitiert nach Heinrich KEBLER, Wilhelm Stapel als politischer Publizist, 1967, S. 93, Hervorhebung dort). 190 Ebd., S. 9 heißt es: "Gerade wir Deutschen - und vielleicht wir allein - tragen in uns die Idee einer Menschheitsgemeinschaft."
4.2. Kontexte zu "Leben": Das Völkische und das Symbol
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1921 fordert Stählin die Erziehung zur Volksgemeinschaft auf allen Erziehungsfeldern, beklagt aber gleichzeitig, daß "die 'Volksgemeinschaft' zum Schlagwort geworden ist." 191 Man dürfe nicht die nationale Gesinnung mit "wirklich gesundem Volkstum verwechseln." 192 Hier wird also das "Volk" nicht dem "Staat" (wie später bei Hirsch), sondern gerade der "Nation" gegenübergestellt. Erziehung zum Volk beinhalte zunächst Rücksicht, Achtung vor fremder Arbeit, Opferbereitschaft, also vor allem "[...] das lebendige und im Leben bewährte Verständnis für die Grundlagen aller menschlichen und völkischen Gemeinschaft und für die Lebensnotwendigkeiten jeder staatlichen Ordnung." 193 Die Verbindung von völkischem Gedankengut, Theologie und Jugendarbeit ist mit dem Eintritt in die Bundesleitung des BDJ 1922 gegeben: Der Bund hatte sich bei der Tagung im Oktober 1918 in der neuen Satzung die Aufgabe gestellt, der männlichen und weiblichen Jugend zu helfen, "fromme, deutsche, weltoffene Menschen zu werden." 194 Auf der ersten großen Bundestagung nach dem Krieg im Sommer 1919 in Magdeburg beschloß der Bund seine Orientierung an der Jugendbewegung. Er wollte nicht nur "religiöse oder kirchliche Jugendbewegung, sondern Kulturbewegung der neudeutschen Jugend" 195 sein und bekannte sich explizit zu "Fichtes neudeutscher Erziehung". 196 Als 1924 die Diskussion um die Stellung der Kirche zur völkischen Bewegung zum Thema wird197, legt Stählin seine umfangreiche Schrift "Die völkische Bewegung und unsere Verantwortung" vor. 198 Auch hier meldet er sich
191 Unsere geistige Lage und die Aufgabe der Führer, 1921, S. 385. 192 A.a.O., S. 386. 193 A.a.O., S. 388. Hier empfiehlt Stählin Wilhelm Stapels "Volksbürgerliche Erziehung" (s.o. Anm. 189); a.a.O., S. 390 zitiert Stählin noch einmal Nietzsche. 194 Nach Walter UHSADEL, Freier Gehorsam, 1932, S. 69. Die Fortsetzung des Zitates: "Zugleich tritt er für ihr sittliches und soziales Wohl ein. Der Bund dient keiner kirchlichen oder politischen Partei." 195 A.a.O., S. 75. 196 A.a.O., S. 76. Vgl. Heinrich KEßLER, Wilhelm Stapel als politischer Publizist, 1967, S. 35 über den engen inhaltlichen und personellen Zusammenhang der Fichte-Gesellschaft und Stapels "Deutschem Volkstum". 197 Vgl. Klaus SCHOLDER, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. I, 1985, S. 133; a.a.O., S. 139: in der Mitte der zwanziger Jahre war das Verhältnis Kirche/völkische Bewegung noch ungeklärt. S. 137-139 wird Stählins Schrift ausführlich (positiv) gewürdigt. 198 Ursprünglich ein Vortrag auf der "Hohenecker Konferenz für Kirche und Jugendbewegung" im Mai 1924. Nach dem Hitler-Putsch (8./9. 11. 1923) waren KPD und NSDAP bis Frühjahr 1924 verboten, bei der 2. Reichstagswahl am 4. 5. 1924 war die DNVP stärkste Fraktion geworden.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
in einer wichtigen Frage im richtigen Moment zu Wort und findet breites Gehör.199 Die Auseinandersetzung mit der völkischen Bewegung ist für Stählin eine Form von Realitätswahrnehmung. Hier könne man nicht einfach Ja oder Nein sagen, auch wenn diese Position "aus Pflichtbewußtsein und Sachlichkeit" unbeliebt und unbequem sei.200 Die völkische Bewegung könne nicht "um des wüsten, anmaßenden und gewalttätigen Auftretens etlicher HakenkreuzJünglinge" oder "einer rohen, gemeinen und besinnungslosen Judenhetze" willen einfach verdammt werden: ein Urteil allein aufgrund der menschlichen Unerfreulichkeit könne auch in bezug auf das Christentum schlecht ausfallen.201 Vielmehr gelte es in Analogie zur Jugendbewegung auch hier wahrzunehmen, ob hier nicht "Schritte auf dem Weg zum echten und heilvollen Leben" gemacht würden und "wieder ein echter Ruf des Lebens gehört" werde.202 Hier klingt also deutlich der gegen kirchliche und gesellschaftliche Verfestigungen gerichtete Lebensbegriff von Stählins früheren Äußerungen zur Jugendbewegung nach. Wiederum in Anlehnung an Wilhelm Stapel wird das Volk als "Wesen eigener Größe und Ordnung" neben dem Staat (und neben den einzelnen Kameraden) beschrieben.203 Durch das Geschichtserleben besonders des letzten Jahrzehnts und durch die Fahrten der Jugendbewegung sei das Volkserleben gleichermaßen wirksam geworden. Die besondere Bedeutung für die christliche Verkündigung bestehe in der Tatsache der Bindung des Menschen entgegen dem verbreiteten Individualismus. Die völkische Bewegung "tut ihr Werk, indem sie hilft, den Menschentypus einer bindungslosen Willkür zu überwinden."204 Die Bindung an das Volk kann Verstehensvoraussetzung für die Bindung an Gott sein: "Wer sein Volk nicht ehrt, dessen Blut in seinen Adern rollt und dessen Geschichte in ihm lebt, wie kann der Gott ehren, den unsichtbaren Vater, in dem wir 'leben, weben und sind'?"205 Diese in Anspielung auf 1. Joh 4,20 und Apg 17,28 formulierte Passage zeigt deutlich das Bemühen Stählins und gleichzeitig dessen Problematik auf. Aus der praktisch-theologischen Verkündigungsaufgabe an die Jugend folgt die 199 Die Schrift wird von Werner KINDT, Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, 1963, S. 446-467 in Auszügen abgedruckt. 200 Die völkische Bewegung und unsere Verantwortung, 1924, S. 7. Stählins Kontakt zu den zahlreichen Arbeiterjugendlichen im BDJ belegt die Bemerkung, daß "die im harten wirtschaftlichen und geistigen Daseinskampf des Proletariats" Gebundenen sich wehren müssen "gegen jeden Rausch nationalistischer Phrase im Munde satter Menschen" (a.a.O., S. 6). 201 A.a.O., S. 14. 202 A.a.O., S. 11. 203 A.a.O., S. 15. 204 A.a.O., S. 22. 205 A.a.O., S. 24.
4.2. Kontexte zu "Leben": Das Völkische und das Symbol
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systematisch-theologische Umkehrung von Glaube und Werken, indem das Volkserleben zeitlich und damit auch sachlich zur Voraussetzung des Christusglaubens wird. Wird in 1. Joh 4 unter der Voraussetzung der geglaubten Gottesliebe die Liebe innerhalb der Gemeinde angemahnt, so folgt für Stählin aus der Bindung an das Volk die Bindung an Gott. Denkt man die Heranziehung von Apg 17 konsequent zu Ende, dann bekommt das Volkserleben göttliche Qualität: Christus wird im Volkserleben "unwissend verehrt" (Apg 17,23). Stählin würde sich durch diese Interpretation gewiß mißverstanden fühlen; denn er weiß in diesem Zusammenhang auch Deutliches zur Unterscheidung des Gefühls der '"schlechthinigen Abhängigkeit' von Gott" und der Bindung an Heimat und Volk zu sagen.206 Darum darf an dieser Stelle auch das folgende Zitat aus dem letzten (6.) Abschnitt der Schrift nicht fehlen: "Wer das Wort Gott ernst nimmt, der sieht in dieser Vergötterung der Nation einen Götzendienst. Dieses Heidentum ist uns dann am wenigsten unsympathisch und bedenklich, wenn es unverhüllt sich als solches bezeichnet und gebärdet. [...] Aber dieser Götzendienst der Nation wird dann zu einer geistigen Verwirrung, wenn er sich selbst in ein christliches Gewand hüllt und sehr naiv und sehr anspruchsvoll christlich und völkisch in eines setzt." 207 Es zeigt sich erneut, daß Stählin nicht nur das Volk dem Staat entgegensetzt (wie Wilhelm Stapel), sondern auch der Nation. Individualismus wie Nationalismus sind von der Bindung an das Volk zu unterscheiden. Diese Unterscheidung wird von Stählin allerdings nicht streng und auch nicht explizit durchgeführt, erst recht konnte sie von den Jugendlichen im BDJ kaum nachvollzogen werden. Letztlich unterlag Stählin damit - wie so viele - dem Irrtum, man könne die Bindung als Existential kultivieren und die Bindung an Gott davon profitieren lassen, ohne die Bindung an das Volk überhand nehmen zu lassen. Aber auch hier gibt es keine "fides qua creditur" ohne eine "fides quae creditur": Die Eigendynamik und Bindungsenergie des völkischen Glaubens wurde von Stählin - wie die Zukunft zeigte - doch falsch eingeschätzt. Dies ist von bleibender Aktualität für die Praktische Theologie: Die Begeisterung Jugendlicher z.B. (etwa für bestimmte Aktionen im Stadtteil oder für wichtige allgemein-politische Ziele) läßt sich nicht einfach auf die Begeisterung für das Evangelium übertragen. Sie läßt sich aber auch nicht unabhängig davon einfach behaupten. Hier ist das Bleibende an Stählins Bemühung, die Glaubensfragen unter den Fragen der Jugendlichen aufzusuchen und zur Geltung zu bringen. Wie sehr es sich um eine Gratwanderung zwischen Irrelevanz und Irrlehre handelt, macht gerade die Schrift über die völkische Bewegung 206 A.a.O., S. 23. 207 A.a.O., S. 55.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
deutlich. 208 Hinzugefügt werden muß, daß Stählin bei aller eigenen Sympathie für das Völkische 209 dieses nicht isoliert sieht, sondern als eine Form sozialen Lebens (neben Familie, Sippe, Stamm, Stand, Bund, Gemeinde). 210 Die "Gemeinde" - verstanden als die Lebensgemeinschaft wie etwa der Jugendbund, also nicht die Parochie - sei dabei die dem Jugendlichen entsprechende Form, weil dieser sich aus der Familie löst und zu den Institutionen Staat und Kirche (wie auch zum Volk) noch kein Verhältnis finden kann. 211 Die christliche Gemeinde nun habe dieser Lebensform einen konkreten geistigen Inhalt verliehen, so daß die Gemeinschaft am Leib Christi "in einer notwendigen Spannung mit jeder anderen menschlichen Gemeinschaft" 212 steht. Damit haben die Lebensgemeinschaften überhaupt und auch das Volk eine wichtige Funktion für die Ausrichtung des Zeugnisses der Kirche und eine vorläufige Funktion für die Gestaltung der Kirche. In Stählins späterer Begrifflichkeit 213 : "in, mit und unter" den Formen sozialen Lebens wird das Evangelium vernehmbar und gewinnt Gestalt. Für Stählin ist das Volk also eine Form von Verleiblichung, und seine Äußerungen zum Völkischen dürfen nicht isoliert und als "politische Theologie" interpretiert werden; sie stehen in ihrer durchaus anfechtbaren Form in einem eminent Praktisch-theologischen Interesse. Diese Linien setzen sich in den zwei wichtigen Veröffentlichungen 1926 fort: in "Schicksal und Sinn der deutschen Jugend" und im Berneuchener Buch. Hier sind die Sozialformen Gemeinschaft, Bund, Volk, Partnerschaft 214 beschrieben. Über die Begriffe "Form" und "Verleiblichung" bringt 208 Zwiespältig lesen sich aus heutiger Sicht auch Stählins Äußerungen über die Juden: Man müsse "gegen die offenbare und gegen die geheime Vorherrschaft jüdischer Interessen mit aller Energie" kämpfen (a.a.O., S. 44), andererseits sei es eine "Riesendummheit", wenn die Juden für die Verfallserscheinungen durch Industrialisierung und Materialismus verantwortlich gemacht würden: "Wir müssen, unbeirrt durch den Vorwurf, wir seien nicht völkisch, sondern heimliche Judenfreunde, gegen diese Verhetzung der Jugend, gegen diesen unbußfertigen Dünkel [...] kämpfen." (A.a.O., S. 47) 209 A.a.O., S. 35 vergleicht Stählin den von der NSDAP so verehrten Schlageter mit der Frau, die Jesus in Bethanien salbte (Menschen, die etwas tun mit "Blut und Herz") und denkt darüber nach, was er bei einer Schlageter-Gedächtnisfeier sagen würde. 210 A.a.O., S. 49. 211 A.a.O., S. 52 f. Dies entspricht klar den sozialen Perspektiven der Stufen 3 und 4 (Gruppen- bzw. Gesellschaftsstandpunkt), wie sie von Lawrence Kohlberg auf dem insgesamt "konventionellen", zweiten Niveau des "moralischen Urteils" postuliert werden; vgl. die Übersicht bei Heinz SCHMIDT, Religionsdidaktik, Bd. II, 1984, S. 38 f. 212 A.a.O., S. 53. 213 Ab der Schrift "Vom göttlichen Geheimnis", 1936. 214 Schicksal und Sinn der deutschen Jugend, 1926, S. 114-130 unter den Überschriften "Das Geschlecht - Leiblichkeit - Polarität - Liebe".
4.2. Kontexte zu "Leben": Das Völkische und das Symbol
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Stählin somit die soziale Dimension in die Überlegungen ein 215 und weitet damit die individualistische Betrachtung, die dem Lebensbegriff leicht innewohnt und oben in bezug auf die Lebensphilosophie kritisch angemerkt wurde. An dieser Stelle geht es aber vornehmlich um Stählins Sicht des Völkischen und des Volkes (zu den anderen Formen s.u. im Abschnitt 4.3. "Leib"). In "Schicksal und Sinn der deutschen Jugend' wird transparent, wie die Eigendynamik der völkischen Begeisterung auch auf Stählin nicht ohne Wirkung geblieben ist. Das Kapitel "Vom Volk" ist zwar nur eines unter vielen mit bescheidenen 8 Seiten Umfang (bei 166 Seiten der gesamten Schrift). Allein schon der Titel aber zeigt, daß es um mehr geht als um eine soziale Lebensform: Hier ist in Anlehnung an Fichte, Lagarde, Chamberlain, Stapel u.a. die Rede vom zukünftigen "Weltberuf des Deutschen Volkes" 216 . Die differenzierte hermeneutische Bemühung in "Die völkische Bewegung und unsere Verantwortung" scheint vergessen, wenn die Schrift euphorischpathetisch schließt: "Da ist dieser Weltberuf [des deutschen Volkes]: die gläubige Liebe, die jede Tiefe menschlicher Not in sich überwindet und zu einer Kraft der Tat wandelt; ein Weltbild, das nichts anderes ist als der neuerstandene Glaube an Christus. In dem Christusglauben wird Weg und Schicksal der deutschen Jugend seinen Sinn erfüllen. Deutschland, du heiliger/Ackerboden Gottes./ Aus deiner Pein drängt/Der Morgen der Welt." 217 Im Kapitel "Vom Volk" wird jedoch wieder analog wie 1924 unterschieden zwischen der nationalistisch-politischen und der metaphysisch-religiösen
215 Erstmals in dem Abschnitt "Der Wille zur Form" in: Fieber und Heil in der Jugendbewegung, 1922, S. 26-37. In dieser Schrift, zwei Jahre vor "Die völkische Bewegung und unsere Verantwortung", ist von Form, Gemeinde, Gemeinschaft und Ehe/Familie, aber noch kaum vom Volk die Rede. Zwar wird nur kurz die Selbstverständlichkeit der politischen Verantwortung betont, gleichzeitig aber vor dem "politischen Übereifer" gewarnt (a.a.O., S. 66). Dies zeigt noch einmal, daß für Stählin das Thema des Volkes eine der sozialen Lebensformen ist, die er ab 1924 thematisiert aufgrund der Diskussion in den Bünden. 216 Schicksal und Sinn der deutschen Jugend, 1926, S. 166. 217 A.a.O., S. 166. Das einleitende Kapitel zeigt, daß Stählin hier dem Kulturpessimismus des politisch rechten Spektrums folgt: das "Schicksal Deutschland" wird erlitten als "ohnmächtiger Scheinstaat", in welchem der "Masse" die "Weltgeschichte hinter einer widerlichen Stickluft von Alkohol, Fußball und Weibern verschwindet" (S. 10); dies wirft die Frage auf, ob "ein neuer weltgeschichtlicher Tag" ohne die Weltgestaltung durch die Abendländer kommt (S. 11; vgl. Oswald SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes, 1990 [1923]). Die Anfangs- und Schlußseiten der Schrift gehören zum Schwülstigsten, was Stählin je zu Papier gebracht hat.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
völkischen Jugend 218 . Letztere wird erneut mit der Hermeneutik der Bindung religiös gedeutet: "Hier ist also auch das Erleben des Volkes ein Eingangstor, durch das der nach neuer Bindung sich sehnende Mensch der Zeitenwende hineinschreitet in einen weiteren und heiligeren Bezirk des Lebens und sich einordnet in einen übergeordneten Sinnzusammenhang des Lebens." 219 Hier liegt übrigens eine der Textpassagen vor, an denen der Lebensbegriff nicht in Abgrenzung, sondern direkt positiv benutzt wird: Das Erleben des Volkes führt zum religiösen Leben und damit zum Leben im Vollsinn. Nun darf man diese - offensichtlich mit wenig Sorgfalt hingeworfene - Schrift nicht an Einzelpunkten überinterpretieren. Deutlich hat Stählin hier aber noch einmal auf einen optimistisch-lebensphilosophischen Begriff von "Leben" zurückgegriffen, den er eigentlich schon seit 1921/22 hinter sich gelassen hatte. Das Gemeinte wird man in Analogie zu der völkischen Schrift von 1924 sehen können: Die im Volk erlebte Bindung kann eine Verstehensmöglichkeit für die Bindung an Gott eröffnen. (Ebenso gesehen wird hier wie 1924 die Möglichkeit des Götzendienstes am Volk 220 , und der Gedanke an einen "Befreiungskrieg" wird als "ein Wahnsinn und ein Verbrechen" 221 verurteilt.) In ganz anderem Kontext steht nun der Abschnitt vom Volk im Berneuchener Buch. Dort befindet sich der Abschnitt "Die Heiligung des Volkes" innerhalb des letzten Gliederungspunktes im zweiten Teil ("III. Evangelisches Werk", Die Heiligung des Geschlechts, des Volkes, der Arbeit). Damit verläuft der Denkweg von der Not der Kirche über die Erkenntnis und die Form innerhalb der Kirche (II. im zweiten Teil ist überschrieben als "Evangelische Form", Das Gleichnis, Der Kultus, Der Bau der Gemeinde) zur Außenwirkung der Kirche. So ist schon terminologisch eine andere Sachlogik gegeben als die oben im Hinblick auf "Die völkische Bewegung und unsere Verantwortung" kritisch dargestellte. Hier wird vom Glauben (evangelische Erkenntnis und Form) zum Werk (evangelisches Werk) hin argumentiert. Die gemeinsame Arbeit bei den Berneuchener Konferenzen hat also zu einer angemesseneren Ordnung gefuhrt, als dies in Stählins Gelegenheitsschriften der Fall war. Sachlich sind die Akzente im Abschnitt über das Volk aber genauso gesetzt, wie wir es bei Stählin beschrieben hatten: 218 A.a.O., S. 106 unterscheidet Stählin "zwischen der völkischen Jugendbewegung und der völkischen Bewegung der Jugend". In der letzteren sieht Stählin die Jugend für politische Ziele mißbraucht. 219 A.a.O., S. 107. 220 A.a.O., S. 110. 221 A.a.O., S. 112. Der "extreme Pazifismus" und der "extreme Nationalismus" stimmen nach Stählin darin überein, daß sie "das Leben durch die Ausschaltung der Spannung vergewaltigen." (Ebd.)
4.2. Kontexte zu "Leben": Das Völkische und das Symbol
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"Das Volk ist nicht die einzige, aber die stärkste und sichtbarste Lebenseinheit, die vor dem Einzelleben da ist, [,..]." 222 Auch hier wird das "Nationalbewußtsein" deutlich abgehoben vom "Volksbewußtsein". 223 Die Verflechtung in Rasse, Blut und Sprache anzuerkennen gehört zum "Gehorsam gegen die Schöpfungsordnung" 224 (der Begriff der Erhaltungsordnung steht noch nicht zur Verfügung). Dies lehre schon die Erfahrung in der Mission. 225 Gleichzeitig wird aber der "Überschätzung der naturhaften Bindung an Rasse und Volkstum" ebenso widersprochen wie derjenigen der geschlechtlichen Vitalität. 226 Das Gericht auch über Volkstum und Staat müsse "unmißverständlich klar" 227 in der Kirche gesagt werden. So gehöre auch die "ökumenische Weitschaft" "wesentlich zu der Kirche des Evangeliums" 228 und weise über das eigene Volkstum hinaus. Auch hier wird wie bei Stählin dem Völkerhaß wie dem "utopischen Pazifismus, der die geschichtlichen Gegensätze der Völker leugnet", widersprochen. 229 Volk und Staat seien nicht heiligzusprechen, sondern "zu heiligen durch den Glauben." 230 Damit ist gegenüber der aufkommenden politischen Theologie klar Position bezogen. Trotz der gleichen Abgrenzungen wie bei Stählin fällt ein bedeutender Unterschied auf: Im Berneuchener Buch hat das "Erleben des Volkes" keine propädeutische Funktion für das Hören des Evangeliums. Dachte Stählin in seinen Schriften vom völkischen Erleben zur Offenheit für die Sache der Kirche hin, so geht das Berneuchener Buch den umgekehrten Weg von der Realität Kirche zur Einflußnahme auf das Volk hin. Zwei Jahre später hat Stählin dann aber mit Gal 3,28 der Überschätzung des Volkstums noch einmal klar widersprochen: Die Gemeinde ist eine "Querschichtung" zu allen Formen sozialer Verbundenheit: "Mitten durch eine Familiengemeinschaft hindurch, mitten durch die Reihen der Klassengenossen, mitten durch die Blutsgemeinschaft der Rasse und die Geschichtsgemeinschaft des Volkes hin-
222 223 224 225
Das Berneuchener Buch, 1926, S. 157. A.a.O., S. 155. A.a.O., S. 157. A.a.O., S. 158. Die Argumentation greift freilich zu kurz, weil die Stammesgebundenheit etwa eines afrikanischen Menschen nicht mit dem Volksgedanken z.B. eines Arbeiters in der Industriegesellschaft der Weimarer Republik einfach parallelisiert werden kann. 226 A.a.O., S. 161. Einem "germanischen Christentum" und einer "deutsch-christlichen Mischreligion" wird eine Absage erteilt (S. 165); schon die Verbindung "deutschevangelisch" beinhalte eine "gotteslästerliche Gleichordnung" wie die Synthese von "Thron und Altar" (S. 165). 227 A.a.O., S. 167. 228 A.a.O., S. 168. 229 A.a.O., S. 169. 230 Ebd.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
durch geht der unheimliche und abgründige Riß, da der eine Mensch innerhalb, der andere außerhalb der 'Gemeinde' steht." 231 Diese neutestamentliche Grundeinsicht sollte schon fünf Jahre später angesichts der Diskussion um den "Arierparagraphen" auf die Bewährungsprobe gestellt werden. Politisch versuchte der BDJ in den hochgradig politisierten letzten Jahren der Weimarer Republik232 einen Mittelkurs zwischen linkem und rechtem Extremismus zu steuern. 1931 plädierte Heinz-Dietrich Wendland dafür, sowohl dem Nationalismus als auch dem Sozialismus gegenüber ein kritisches Amt auszuüben, aber auch für die Wahrheit in beiden zu kämpfen. 233 Im Juni 1933 ruft Stählin dann die Mitglieder des Berneuchener Kreises dazu auf, sich den Jungreformatoren anzuschließen234, verhehlt aber nicht seine ursprüngliche Sympathie fur das Anliegen der "Deutschen Christen". Man müsse den Abschnitt über das Volk im Berneuchener Buch lesen, "um zu empfinden, wie sehr das Erbe der Jugendbewegung uns heute mit dem besten Wollen der Deutschen Christen verbindet." 235 Der Kampf gegen v. Bodelschwingh als Reichsbischof jedoch mache ein Zusammengehen mit ihnen gegenwärtig unmöglich. 236 Dazu wiederholt Stählin seinen in den zwanziger Jahren mehrfach formulierten theologischen Einspruch: "Wir erleben heute mit Beschämung, daß Diener und Führer der Kirche so reden, als gäbe es keine Sünde und keine dämonischen Mächte in den Kräften des Blutes und des Volkstums." 237 So wird man trotz der geäußerten Kritik am Ende dieses Abschnitts urteilen müssen, daß Stählin um der Verkündigungsaufgabe an Jugendliche willen dem Volkserleben zwar sehr weit entgegenkommt (weiter als das Berneu231 Jugend und Gemeinde, 1928, S. 134. 232 Vgl. Kurt NOWAK, Evangelische Kirche und Weimarer Republik, 1988, S. 210-215: "Die akute Politisierung des Pfarrerstandes" (ab 1929/30). 233 Heinz-Dietrich WENDLAND, Sozialismus und Nationalismus, UB 1931, S. 53. Wendland neigt dabei noch eher dem Sozialismus zu: den Vorwurf des Materialismus dürfe erst der erheben, welcher "die ganze Not der Fabrikarbeit verstanden hat." (S. 54) Skeptisch ist Wendland gegenüber den Grundsätzen des "positiven Christentums" in Punkt 24 des NSDAP-Programms: "[...] wenn man im Lande herumhört, klingt es ganz anders." (S. 56) Stählin sprach 1932 von den "Begriffsgötzen": "lebendige Menschen dienen dann mit voller Hingabe dem 'Fortschritt' oder der 'Entwicklung' oder der 'Internationale' oder dem 'Dritten Reich' [...] und werden [...] ungehorsam für den fordernden Ruf des wirklichen Lebens." (Menschenführung als Aufgabe der Kirche, 1932, S. 326.) 234 Rechenschaft, EvJ 1933, S. 103. 235 A.a.O., S. 104. 236 A.a.O., S. 103 bezeichnet Stählin Bodelschwingh als "Symbol für eine Kirche, die das Evangelium von Jesus Christus als das Evangelium der Armen verkünden und durch die Tat bezeugen will [...]." 237 A.a.O., S. 11.
4.2. Kontexte zu "Leben": Das Völkische und das Symbol
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chener Buch) und daß dieses Entgegenkommen durchaus auch der eigenen Neigung entspricht, daß er andererseits aber an keiner Stelle den Irrtümern der völkischen oder politischen Theologie verfällt (und Volk mit Kirche oder Schöpfung mit Erlösung verwechselt).238
4.2.2.
Das Leben als Gleichnis und Symbol
Nicht umsonst hat Stählin seinen drei zu Lebzeiten erschienenen Bänden mit gesammelten Aufsätzen den Titel "Symbolon" gegeben. Es handelt sich um einen bevorzugten Begriff, der mit dem Gleichnisbegriff abwechselt (vgl. den ganzen Titel des ersten Aufsatzbandes: "Symbolon - Vom gleichnishaften Denken"). Wie Leben, Leib und Liturgie die Schlüsselkategorien für Stählins Praktische Theologie darstellen, so sind Symbol und Gleichnis entscheidend für die biblischen und systematisch-theologischen Aspekte. Sind Lebensbegriff und Leiblichkeitserfahrung unmittelbar als Ergebnisse der Begegnung mit der Jugendbewegung erkennbar, so sind Symbol und Gleichnis in ihrer gehäuften Verwendung der Ausdruck für die zentrale Stellung von Natur und Schöpfungslehre in Stählins theologischem Denken. Anders als die alte Lebensphilosophie (vor allem Diltheys, aber auch Nietzsches) hat Stählin in der Kategorie des Lebendigen nicht allein menschliches Leben im Blick, sondern die ganze Natur. Auch darin ist der Einfluß der Jugendbewegung unmittelbar greifbar. Andererseits ist deutlich geworden, daß Stählins Bevorzugung des Lebensbegriffs in der Beschäftigung mit der "freier gerichteten" Theologie wurzelt. Dieses trifft nun auch für die Begrifflichkeit von Gleichnis/Symbol (Metapher, Bild, Zeichen) zu. Das Interesse, "das wirklich gelebte Leben des Glaubens" 239 genauer wahrzunehmen, führte zur Religionspsychologie, und die Abneigung gegen den Supranaturalismus, gegen das Denken in zwei Wirklichkeiten, zog das Bemühen nach sich, die eine Wirklichkeit religiöser Realität zurückzuführen auf die biblischen Anschauungsformen, auf die "Bildersprache des Neuen Testaments".240 Seit der religionspsychologischen
238 Bei Kriegsende hat sich an Stählins grundlegender Einschätzung nicht viel geändert: "Nicht nur das umstrittene Deutschland der letzten Jahre, sondern auch das deutsche Erbe, das wir so heiß lieben, ist zu einem Ende gekommen, [...]" (Predigt über Luk 11,1-2 am 6. 5. 1945, S. 1); in einem Brief zum Landes-BuD- und Bettag am 17. 6. 1945 an die Oldenburger Pfarrer schreibt er über die Deutschen: "[...] wir treiben auch Irrtümer und Fehler auf die Spitze und begehen alle Fehler mit einer berserkerhaften Konsequenz: die Verehrung der natürlichen und erdhaften Kräfte [.·.]" (S. 2). 239 Via Vitae, 1968, S. 125. 240 Ebd.; vgl. S. 105-106 und S. 123-126. Die Anregung, die Bildersprache des Neuen Testaments zu untersuchen, schreibt Stählin explizit Rittelmeyer (im Jahr 1906) zu,
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Dissertation 1913 sind die verschiedensten bildlichen Anschauungsformen in religiösen Aussagen (der Bibel, aber auch darüber hinaus) fur Stählin eine bevorzugte religiöse Denkform.241 Immer wieder wird später das bildliche Denken dem begrifflichen Denken der meisten Theologen antithetisch entgegengesetzt (wie im Untertitel zum ersten Band Symbolon, 1958). Da Stählin seine geplante Arbeit über die Bildersprache nicht abgeschlossen hat, mangelt es den verschiedenen Aufsätzen und verstreuten Äußerungen an terminologischer Eindeutigkeit: Metapher, Symbol, Zeichen, Gleichnis, Bild werden nur zum Teil unterschieden und nur unzureichend definiert. Der folgende Überblick geht von Stählins Versuch einer Begriffsbestimmung (1956) aus und folgt dann chronologisch den diversen Schriften zu diesem Thema. 1956 hält Stählin einen Vortrag beim deutschen evangelischen Kirchenbautag in Karlsruhe über Das Problem von Bild, Zeichen, Symbol und Allegorie,242 Zunächst wird die Gemeinsamkeit aller vier Phänomene darin gesehen, daß sie dem Bereich der sinnlichen Wirklichkeit angehören und "nicht rein 'geistiger' Natur" sind.243 Zeichen und Allegorie werden aus der theologischen Betrachtung "mehr oder weniger ausgeschieden"244, und zwar das Zeichen in seiner eindeutig-kausalen Funktion als "Symptom" bzw. als konventionelles Verständigungsmittel oder "Signal" (Noten, Stenographie, Verkehrszeichen). Solche Zeichen wollen erkannt, verstanden, beachtet werden.245 Das Typische an der Allegorie sei die Uneigentlichkeit: "Sie soll durchsichtig sein wie Fensterglas" und von sich weg auf etwas anderes weisen (wie die Tierfabel auf menschliche Probleme).246 a.a.O., S. 105; ebenso Friedrich Rittelmeyer, 1938, S. 4: Seitdem habe ihn die Bildersprache des Neuen Testaments nicht mehr verlassen. 241 Insofern ist Erich NESTLER, Der Beitrag Wilhelm Stählins zur Jugendbewegung, 1986, S. 7 zuzustimmen, daß die Bedeutung des Symbolbegriffs in Stählins Denken nicht erst auf die Begegnung mit Paul Tillich in Berneuchen zurückgeht; andererseits verwendet Stählin den Symbolbegriff verstärkt erst nach Erscheinen des Berneuchener Buches (1926). 242 In: Symbolon [Bd. 1], 1958, S. 318-344. 243 A.a.O., S. 318; dort auch der für Stählin typische Vergleich der landläufigen Theologie mit einem "Entsafter": Oben komme die bildhafte Redeweise von Bibel und Liturgie hinein, unten fließe der "klare Saft abstrakter Gedanken" heraus. 244 A.a.O., S. 320. 245 A.a.O., S. 320-323. Dem entspricht die Unterscheidung bei Paul TILLICH, Systematische Theologie, Bd. I, 1987 [1951], S. 277: das Zeichen ist "nicht notwendig verbunden [...] mit dem, worauf es hindeutet"; "Ein Zeichen kann willkürlich vertauscht werden, je nach Zweckmäßigkeit, aber Symbole nicht." Bd. II, 1987 [1957], S. 25 wird von Tillich "die nominalistische Voraussetzung - daß Worte nur konventionelle Zeichen sind" zurückgewiesen: Worte sind "nicht nur Zeichen, sondern auch Symbole" und nicht einfach ersetzbar (Hervorhebung im Original). 246 A.a.O., S. 323; S. 325 wird von daher auch die allegorische Auslegung der Gleichnisse Jesu abgelehnt.
4.2. Kontexte zu "Leben": Das Völkische und das Symbol
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Kennzeichnend für Bild und Symbol sei hingegen ein "tieferer Zusammenhang zwischen der sinnlichen Erscheinung und dem gemeinten Inhalt." 247 Ganz anders als das Zeichen will das Bild nicht erkannt, verstanden, beachtet werden - "das Bild will betrachtet werden". 248 Hier werden Bild, Abbild, Sinnbild und Kultbild unterschieden. Der zweite Teil des Aufsatzes ist dem Symbol gewidmet. Eine klare Grenze wird nur gegenüber der Allegorie gezogen, während "die Grenzen zwischen Zeichen, Sinnbild und Symbol fließend sind." 249 Konstitutiv für den Begriff des Symbols ist nach Stählin "eine Gemeinschaft von Menschen, für die dieses Symbol Träger und Verkörperung überpersönlicher Sinngehalte ist." 250 Im einzelnen konkretisiert Stählin dies nun wie folgt 251 : - sprachlich ist "die Lautgestalt als Symbol des Inhalts" ernst zu nehmen; - Namen und Geschichte haben Symbolcharakter; - Jesus Christus ist "das entscheidende Ur-Symbol des christlichen Glaubens"; - die Heilige Schrift ist ein "Sprach-Symbol"; - die Sakramente wie die Predigt sind symbola efFicacia; - Zahlen wie die Drei und Vier können Symbolwert haben; - das "mythisch-symbolistische Weltbild" der Bibel deutet die gesamte sichtbare Welt als "Erscheinungsformen einer hintergründigen Wirklichkeit"; - alle naturhaften Symbole sind zwiespältig (wie das Wasser als Element des Todes und der Belebung); - die Jungfrau Maria ist das Symbol "der von Gott heimgesuchten und begnadeten Erden- und Menschenwelt"; - die Sakramente sind darin besonders, daß sie nicht res, sondern actus sind ("non nisi in actu"). Ausdrücklich wird die Redeweise "nur ein Symbol" von Stählin "aufs entschiedenste" abgelehnt. 252 Im Gegenteil: Von Kindern, Künstlern und anderen "ursprünglicheren Menschen" wird erhofft, daß sie eine neue Hinwendung zu Zeichen und Symbolen ermöglichen und damit "eine notwendige Selbstkorrektur der Kirche, eine Abkehr von der Überschätzung verstandes-
247 248 249 250 251
A.a.O., S. 325. A.a.O., S. 326. A.a.O., S. 330. A.a.O., S. 332. A.a.O., S. 333-339, auf Einzelnachweise wird verzichtet, da die Spiegelstriche der Reihenfolge von Stählins Darstellung folgen. 252 A.a.O., S. 334. Auch dies entspricht Tillichs Systematischer Theologie: dort wird die negative Wertung des Symbols als des Nicht-Wirklichen zurückgewiesen (Bd. I, 1987 [1951], S. 279), die Redeweise "nur ein Symbol" beruhe auf der Verwechslung von Symbol und Zeichen (Bd. II, 1987 [1957], S. 15).
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
mäßiger Belehrung." 233 Sein Plädoyer für das symbolische Denken unterstreicht Stählin, indem er diesem am Schluß das Gegenbild des diabolischen Denkens, den "Geist der Zerspaltung" entgegenstellt. 254 Ganz offensichtlich läßt dieser Aufsatz in bezug auf terminologische Klarheit zu wünschen übrig. Deutlich ist letztendlich folgendes: - Zeichen und Allegorie werden als konventionelle uneigentliche Redeweisen von Bild und Symbol abgehoben, weil ihnen eine "nominalistische"255 Sicht von Sprache zugrundeliegt; - Bild und Symbol hingegen repräsentieren als solche eine andere (religiöse) Wirklichkeit und bilden diese nicht nur uneigentlich ab256; - als symbolisch, Symbole oder von Symbolcharakter geprägt können sprachliche (Namen, Zahlen, Bibel, Predigt), geschichtliche (Geschichte, Jesus Christus), naturhafte und aktuale (Sakramente) Phänomene gedeutet werden. Gerade der SymbolbegrifF ist sehr weit 257 - um nicht zu sagen: verschwommen - gebraucht. So wird nicht klar, ob mit der durch das Symbol repräsentierten "hintergründigen Wirklichkeit" eine religiöse, christliche oder einfach eine höhere geistige Wirklichkeit gemeint ist (was ja zumindest in bezug auf den Symbolcharakter von Sprache, Zahlen und Geschichte gelten muß, weil diese nicht per se religiös zu verstehen sind). Es gehen also Symbole und 253 A.a.O., S. 340. Mittlerweile sind die symboldidaktischen Entwürfe kaum mehr überschaubar, und Paul Ricceurs Konzept der "Zweiten Naivität" ist inzwischen eines, das "innerhalb der Symboldidaktik im besonderen und der Religionspädagogik im allgemeinen zu einem Schlagwort aufgestiegen ist, geradezu inflationär und in einem normativen Sinn verwendet wird", urteilt Anton BUCHER, Symbol - Symbolbildung - Symbolerziehung, 1990, S. 204. - Seiner Zeit voraus war Stählin auch mit der Feststellung, man könne nicht "durch eine intellektuelle Belehrung über Abendmahlslehren den Kindern den Zugang zu der Welt des Sakraments erschließen" (a.a.O., S. 340 f.); s. dazu die Dokumentation ABENDMAHL MIT KINDERN, 1983.
254 A.a.O., S. 344. 255 Diese Terminologie, die Stählin von Tillich übernommen hat (s.o. Anm. 245), erscheint in dem Aufsatz nicht, dürfte aber der negativen Bewertung des Zeichens wie auch der Allegorie zugrunde liegen. 256 In diesem Zusammenhang wird der Aufsatz zustimmend zitiert von Anton BUCHER, Symbol - Symbolbildung - Symbolerziehung, 1990, S. 141. 257 Insoweit liegt eine gewisse Nähe zum Symbolbegriff Ernst Cassirers (1874-1945) vor, der Mythos, Sprache, Wissenschaft, Kunst und Religion als "symbolische Formen" bzw. als "symbolische Bildungen" des menschlichen Geistes bezeichnete: Das Symbol leiste die Verschränkung von Sinnlichem und Geistigem und könne Bedeutungen nicht lediglich abbilden, sondern zuallererst bilden. Symbole bringen nach Cassirer das Wirkliche erst hervor, während Allegorien dieses deuten. Dazu s. die Darstellung bei A. BUCHER, a.a.O. (s. letzte Anmerkung), S. 75-107. Bücher gelangt im übrigen zu einer positiven symboldidaktischen Bewertung des Ansatzes von Cassirer, weil dieser die Aktivität des Menschen beim Symbolisieren und die Berücksichtigung der menschlichen Entwicklung einschärfe (S. 105-107).
4.2. Kontexte zu "Leben": Das Völkische und das Symbol
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symbolische Anteile von Phänomenen ineinander über, ferner sprachliche und nichtsprachliche Symbolisierungen. Dies führt dazu, daß ein "Bild" sowohl im Sinne der "Bildersprache des Neuen Testaments" als auch im Sinne eines Kunstgegenstandes (Andachtsbild, Ikone) gemeint sein kann. Dies setzt einen umfassenden SymbolbegrifF voraus, in welchem letztlich die Anschauungsformen der intelligiblen Welt als solche gemeint sein müßten. 258 (Eine weitere Verstehensmöglichkeit wäre eine - letztlich pantheistische - Wirklichkeit des Lebens als solchen, wie sie lebensphilosophisch plausibel wäre, aber von Stählin nie wirklich angenommen wurde.) Diese Unklarheiten legen als Unterscheidungen für die Darstellung von Stählins Schriften zu den Begriffen "Symbol" und "Gleichnis" die folgenden Leitfragen nahe: - Sind sprachliche oder nicht (nicht nur) sprachliche Symbolisierungen gemeint? - Repräsentiert die symbolische Anschauungsform eine biblisch-theologische oder eine allgemein-religiöse (geistige) Wirklichkeit? Ich habe hier den Oberbegriff "Symbolisierungen" gewählt, um dem weit gefaßten Stählinschen Begriffsgebrauch zu entsprechen und gleichzeitig die Phänomene Bild, Gleichnis, Metapher - wovon die Metapher in dem Aufsatz von 1956 gar nicht, das Gleichnis ein Mal genannt sind, beide aber für Stählin eine wichtige Rolle spielen - in die Betrachtung einbeziehen zu können. Einfacher wäre alles, wenn man sich auf Sprache und das Verstehen von Texten beschränkte, was Stählins Ausgangspunkt - die Bildersprache des Neuen Testaments - nahelegen könnte. Dann nämlich wäre das textuale "Bild" der Oberbegriff zu den Redeformen Metapher, Gleichnis und Symbol. 259 Dies würde aber den Begriffsgebrauch Stählins nicht in den Blick bekommen, weil bei ihm viele Phänomene "symbolkräftig" bzw. "gleichnishaft" verstanden werden können, wie es die Überschrift dieses Abschnittes andeutet: Das Leben überhaupt kann "Gleichnis" und "Symbol" sein.260 Eine wei-
258 Dies ist für den neukantianischen Ansatz von Cassirer in sich durchaus schlüssig: die "symbolischen Formen" können in Parallele zu Kants "transzendentaler Apperzeption" gesehen werden. 259 Vgl. Gero v. WILPERT, Sachwörterbuch der Literatur, 1969, S. 90 f. Auch Wilpert hebt die Allegorie als uneigentliche Redeform von den Bildern ab (S. 91). Die Stählinsche Abgrenzung in diesem Punkt ist also gleichermaßen unbestritten wie unspezifisch. 260 Stählin beklagt, daß "die Wege des Denkens und die Wege des unmittelbaren Erlebens gar nicht mehr zusammen gehen" (Schicksal und Sinn der deutschen Jugend, 1926, S. 36) und plädiert für das "ernsthafte und fromme Symboldenken", bei welchem die "Zweiheit einer gesetzmäßigen, aber sinnlosen Natur und einer gänzlich unanschaulichen geistigen Welt, die mit der Kreatur nichts mehr zu tun hat" überwunden werden könne (a.a.O., S. 39). Hier liegt die Nähe zum theosophisch-anthroposophischen Denken ebenso klar zutage wie die Annahme der Repräsentanz einer höheren geistigen Wirklichkeit durch die (symbolisch verstandene) Natur im Zuge des deutschen Idealismus. Anders als etwa bei Tillich liegt der biographische Ur-
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
tere Verstehensschwierigkeit besteht darin, daß Stählin z w i s c h e n "Gleichnis" und "Symbol" definitorisch und praktisch nicht differenziert. D i e s ist der Fall, seitdem ( v o m Zeitpunkt der Erarbeitung des B e r n e u c h e n e r B u c h e s 1 9 2 5 / 2 6 an) Stählin den Symbolbegriff verstärkt gebraucht. S o heißt e s z . B . 1926: "Wir m ü s s e n lernen, den B e g r i f f des Gleichnisses oder des S y m b o l s g a n z neu zu verstehen." 2 6 1 E b e n s o werden noch 3 0 Jahre später, in d e m zitierten Aufsatz, Symbol und Gleichnis in einem A t e m z u g genannt. 2 6 2 D i e s liegt darin begründet, daß Stählin in der Gleichnisauslegung den E i g e n w e r t der Natur, der "Bildhälfte" 2 6 3 besonders herausstellt. N i c h t u m s o n s t habe Jesus Samenkorn und Frucht, Brot und Weinstock, Feuer und Licht in seiner Gleichnisrede herangezogen. D e n n das "Christuswerk der erlösenden Wandlung" 2 6 4 betreffe die ganze Schöpfung. Jesus habe d i e s e irdischen D i n g e nicht willkürlich gewählt: "Diese R e d e w e i s e bleibt indessen g a n z an der Oberfläche; sie bleibt t h e o l o g i s c h g e s p r o c h e n im B a n n einer nominalistischen Skepsis." 2 6 5 Hier zeichnet sich wiederum eine g e w i s s e N ä h e zu der Verbindung v o n Christus und K o s m o s in der Anthroposophie ab. S o referiert Stählin auch 1953 mit erkennbarer Sympathie Rittelmeyers Kritik an Luthers Gleichnisauslegung:
sprung nicht im Philosophieren, sondern in der Jugendbewegung (wie denn die Zitate aus Stählins letzter großer Schrift zur Jugendbewegung stammen). 261 Schicksal und Sinn der deutschen Jugend, 1926, S. 37. Hier gebraucht Stählin - anders als 1956 - auch noch das "Zeichen" synonym mit "Symbol" und "Gleichnis", wenn das Symbol so beschrieben wird: "ein Ding, ein Laut, eine Farbe, ein Element wird zum 'Zeichen', das etwas bedeutet, auf etwas hindeutet, [...]" (a.a.O., S. 38). 1914 gebraucht Stählin den Symbolbegriff noch für sprachliche Phänomene, synonym mit "Metapher": es gehe darum, "diese Symbole als Sinnbilder lebendig zu halten, so daß sie nicht rein zu Bezeichnungen des Religiösen werden, [...]" (Experimentelle Untersuchnungen über Sprachpsychologie und Religionspsychologie, ARPs 1914, S. 185). Ebenso eher zufällig Jesus und die Jugend, 1921, S. 10: für das Verlangen nach "Echtheit des eigenen Lebens" der Jugend "gibt es in der ganzen Welt kein stärkeres Symbol als Jesus Christus." Ein unprogrammatischer Gebrauch auch in Fieber und Heil in der Jugendbewegung, 1922, S. 25: Dort ruft Stählin dazu auf, ohne große Worte "Vermittler der heiligsten Symbole" zu sein. 262 Das Problem von Bild, Zeichen, Symbol und Allegorie, 1958 [1956], S. 336 oben. Der Aufsatz: Was ist ein Symbol?, 1973 [1957] im 3. Band von Symbolon bringt sachlich wie terminologisch nichts Neues und nimmt z.T. wörtlich Textpassagen von 1956 auf. 263 Diese Terminologie ist Stählins Denken freilich gerade nicht angemessen, dient aber der schnellen Verständigung und ist seit Adolf Jülicher in der Gleichnisauslegung üblich geworden, s. Hans WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, 1984 [1978], S. 12. 264 Das Bild der Natur in der Heiligen Schrift, ZW 1939, S. 51. 265 Ebd. Wie weit Stählin seiner Zeit voraus ist, belegt die Bemerkung (a.a.O., S. 49 f.), die Bibel sehe den Menschen nicht nur in Beziehungen zu anderen Menschen, sondern auch in "Beziehungen, die den Menschen mit dem ganzen Kosmos verknüpfen."
4.2. Kontexte zu "Leben": Das Völkische und das Symbol
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"Luther habe sich noch nicht völlig gelöst von der okkamistischen Meinung, daß in den Gleichnissen Bild und Sache durch einen Akt souveräner Willkür miteinander verbunden seien, während doch in der biblischen Gleichnisrede vielmehr eine ursprüngliche Intention der Schöpfung auf Christus hin zum Ausdruck komme [...]." 266 Aus diesen einführenden Hinweisen dürfte bereits das Engagement Stählins hervorgehen, das ganze Leben 267 symbolisch und gleichnishaft zu verstehen und zum Inhalt evangelischen Glaubens zu machen; ebenso dürften die terminologischen Schwierigkeiten klar geworden sein. Nun sollen die Beobachtungen an je einem Hauptwerk zu "Metapher", "Symbol" und "Gleichnis" vertieft werden. In der (philosophischen) Dissertation Zur Psychologie und Statistik der Metaphern (1913) befleißigt sich Stählin einer später nicht mehr erreichten terminologischen Klarheit. Dies liegt - neben dem Genus Dissertation - an der Tatsache, daß er sich hier auf die Auslegung von Texten, auf sprachliche Phänomene beschränkt (s. die oben formulierte erste Leitfrage). Zudem wirkt sich Stählins damalige deutliche Unterscheidung von theologischer Wahrheit und empirischer Wirklichkeit aus. Es geht in der Arbeit weniger um Wahrheit, ja noch nicht einmal um Inhalte, es handelt sich um "Eine methodologische Untersuchung" (so der Untertitel) als Vorarbeit für die Untersuchung der Bildersprache im Neuen Testament. Die Arbeit beschränkt sich auf definitorische, sprachpsychologische und -statistische Fragen und berührt Biblisches und Theologisches nur ganz am Rande. 268 Im ersten Hauptteil 269 geht es in der Hauptsache um das "Bedeutungserlebnis" beim Hören von Metaphern: "Was geht in uns vor, wenn wir ge-
266 Fragen der Anthroposophie an die evangelische Kirche, 1953, S. 118. Eine Wende in der Gleichnisauslegung in Richtung der Einheit von "Bild" und "Sache" hat Hans WEDER eingeleitet: "Im Blick auf die Gleichnisse Jesu folgt daraus, daß die von Jülicher eingeführte [...] Unterscheidung von Bild- und Sachhälfte aufzugeben ist." (Hans WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, 1984 [1978], S. 64, Hervorhebung im Original.) Geht es Stählin jedoch um die geistige Realität in den Naturelementen, so Weder um die Realität des Evangeliums in der Redeform Gleichnis, oder in Stählins Terminologie: Er wendet sich gegen den Nominalismus in bezug auf die Natur, Weder gegen den Nominalismus in bezug auf den Sprechakt. Eine große Nähe zu Stählin besteht indessen wiederum in Weders Hinweis, die Gleichnisse seien nicht durch theologische Begriffe ersetzbar (a.a.O., S. 65). 267 Dazu beruft sich Stählin z.B. auf Luthers Formulierung "samt allen Kreaturen" aus dem Kleinen Katechismus: Das Bild der Natur in der Heiligen Schrift, ZW 1939, S. 49. 268 Zur Psychologie und Statistik der Metaphern, 1913, S. 97 f. wird Jülichers Unterscheidung von Gleichnis und Allegorie aufgenommen (tertium comparationis als Auslegungsprinzip der Gleichnisauslegung; Jülichers Buch: Die Gleichnisreden Jesu, I-II, war 1910 in 2. Auflage erschienen). 269 A.a.O., S. 14-63: Die Psychologie der Metaphern.
128
4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
hörte oder gelesene Metaphern verstehen?"270 Einer bewußt weiten Definition der Metapher werden Metonymie und Vergleichung/Gleichnis folgendermaßen gegenübergestellt: Metapher: Benennung eines Gegenstandes mit dem Namen eines anderen, ohne daß Wesensgleichheit von beiden gemeint wäre (S. 14); Metonymie: die beiden Gegenstände haben ein räumliches, zeitliches oder logisches Verhältnis (S. 87); Vergleichung/Gleichnis: enthält eine Vergleichspartikel, die Bild und Sache trennt (S. 95). Das "Bedeutungserlebnis" beim Hören einer Metapher ist psychologisch geprägt als die "Bewußtseinslage der doppelten Bedeutung" (S. 25-27). Beim metaphorischen Verstehen (S. 27-30) findet ein "Austausch der Merkmale, eine Vereinigung der beiderseitigen Sphären, eine Verschmelzung von Bild und Sache statt." (S. 28, Hervorhebung im Original.) Psychologisch ist der Vorgang derselbe bei richtigem und falschem Verstehen der Metapher.271 Auch in der Zusammenfassung betont Stählin als eines von vier Ergebnissen: "Das psychologische Wesen der Metapher liegt in der simultanen Verschmelzung von Bild und Sache." (S. 129) Was Stählin in seiner Dissertation psychologisch (vom "Erleben" der Bedeutung her) herausarbeitet, wird er später theologisch (vom Zusammenhang der Schöpfungslehre und Christologie her) in bezug auf das Symbol beschreiben: das reale (nicht nominale) Ineinander von natürlicher und religiöser Realität. Merkwürdig mutet an, daß die Begrifflichkeit der Metapher und des metaphorischen Verstehens später in theologischen Zusammenhängen kaum wieder auftaucht. Erst 1936 war Stählin dazu in der Lage, gegen Jülichers Gleichnisauslegung Stellung zu nehmen. In der Dissertation wird Jülichers Rede vom tertium comparationis aufgenommen (S. 97). 1936 heißt es dann über die reinen Vergleichungen im Neuen Testament: "[...] auf welche Jülichers klassische Behauptung ausnahmsweise zutrifft, daß in den Gleichnissen nur ein einziges tertium comparationis gesucht werden
270 A.a.O., S. 15. Seitennachweise werden im folgenden in Klammern im laufenden Text gegeben. 271 Als Beispiel erzählt Stählin, wie ein Gastwirtskind im Schulunterricht die Liedzeile "Der Sohn des Vaters, Gott von Art, ein Gast in der Welt hier ward" auf Jesu Essen und Trinken in Kana übertragen habe. Die metaphorische doppelte Bewußtseinslage (Jesus/elterliches Gasthaus) kongruiere nicht mit dem richtigen Verstehen der Metapher (S. 29 f.). Dem wird man allerdings entgegenhalten müssen, daß die Rede vom "Gast in der Welt" allenfalls im theologischen Kontext eine Metapher darstellt und daß die Auslegung des Kindes mit Joh 2 in diesem Zusammenhang durchaus zutreffend ist. Daß Kinder im Grundschulalter noch nicht in der Lage sind, das Phänomen der "doppelten Bewußtseinslage" zu durchschauen, hat mit zahlreichen Unterrichtsbeispielen kürzlich gezeigt Anton BUCHER, Gleichnisse verstehen lernen, 1990.
4.2. Kontexte zu "Leben": Das Völkische und das Symbol
129
dürfe." 272 Jülichers Konzept vom Gleichnis als Einkleidung einer allgemeinen begrifflichen Wahrheit widersprach Stählin zutiefst. Hingegen wird bereits in der Dissertation aus psychologischer Perspektive die seit dem Altertum gängige Auffassung der Metapher als einer uneigentlichen, übersetzbaren und ersetzbaren Redeweise 273 überwunden: "[...] weil die Metapher etwas anderes bedeutet, als irgendein Ausdruck, der einfach der Sachsphäre entnommen wäre, eben weil sich an die Metapher ein besonderes eigenartiges Bedeutungserlebnis anschließt, weil sie mit Notwendigkeit die Auffassung des ganzen Satzes verändert, eben und nur deswegen steht sie überhaupt da. " (S. 43, Hervorhebung im Original) "[...] es findet niemals ein Vergleichen statt, und ein tertium comparationis wird niemals gesucht - dann nämlich nicht, wenn die Metapher überhaupt verstanden wird." (S. 44, Hervorhebung im Original) Weiterhin wird die Metapher der "rhetorischen Sprache" zugerechnet, die nicht wunschlos berichten will; vielmehr sollen durch die rhetorische Sprache, zu der 90% unserer Alltagsrede gehören, "Gemüt und Willen in Tätigkeit versetzt werden." (S. 61) So wird der Metapher insgesamt ein unersetzbarer semantischer Wert zugeschrieben, und ihr Sinnüberschuß wird von Stählin in folgender Weise beschrieben: "Diese Veränderung der Sache selbst ist das eigentlich Wesentliche; [...] sie ist gerade das eigentlich Wertvolle, der Sinn und Zweck der ganzen Metapher. " (S. 47, Hervorhebung im Original) Es mag mit Stählins Abkehr von der Religionspsychologie nach dem ersten Weltkrieg zusammenhängen, daß er den hier eingeschlagenen Weg nicht weiter verfolgt. So bleibt es ihm versagt, vom Metapherbegriff her Jülichers Trennung in Bild und Sache zu überwinden, weil er durch die Zustimmung zur Kritik Jülichers an der allegorisierenden Gleichnisauslegung den großen Abstand zwischen dem eigenen und dem Konzept Jülichers zunächst nicht realisiert. Trifft dies zu, so ist damit mehreres erklärt: das fast völlige Verschwinden des Metapherbegriffs, die einzige sachliche Kontinuität im Zurückweisen der Allegorie und der unpräzise Gebrauch des Gleichnisbegriffs. 274 Nach der Abkehr von der Religionspsychologie verändert sich das Gleichnisrede und Gleichnisdenken, 1 9 5 8 [ 1 9 3 6 ] , S. 3 1 . S. Hans WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, 1 9 8 4 [ 1 9 7 8 ] , S. 6 3 f. 2 7 4 Auf den zweiten Teil der Dissertation (Die Statistik der Metaphern, S. 6 4 - 1 2 9 ) ist hier nicht näher einzugehen. Stählin untersucht, mit welchen Mitteln der Bildersprache religiöse Inhalte zum Ausdruck gebracht werden und legt dazu ein Schema von fünfmal fünf Bildkategorien vor (S. 7 5 - 7 8 , die fünf Bereiche: Allgemeines - Natur - der Mensch - der Mensch in kulturellen Beziehungen - der Mensch in sozialen 272 273
130
4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Denken Stählins in mehrfacher Hinsicht. Wie dargestellt wurde, wechselt das Interesse vom empirischen Beschreiben des "religiösen Erlebens" zum theologischen Umschreiben "religiöser Erkenntnis". 275 Der neue Schlüsselbegriff, der seit der Arbeit am Berneuchener Buch diesem Wechsel des Interesses Rechnung trägt, ist das "Symbol" (welches in der Dissertation nirgends genannt wird). Im Symbol geht es nicht mehr um die empirisch faßbare "Bewußtseinslage der doppelten Bedeutung", sondern um die geistlich zu umschreibende Wirklichkeit in natürlicher und christologischer Bedeutung. Eine ausführliche Definition des Symbolbegriffs findet sich erstmals in dem Vortrag "Evangelischer Kultus" vor der Nürnberger Pfarrkonferenz am 29. 10. 1924. Gegen einen rationalistischen und gegen einen magischen Symbolbegriff argumentiert Stählin: "das wahre Symbol aber ist 'bedeutend' in dem Sinn, daß es hindeutet auf etwas Anderes, Größeres, Umfassenderes, das doch in ihm selbst vorhanden und anschaulich gegeben ist. Auch das 'Wort' ist Symbol in diesem Sinn, freilich nicht die einzige Hülle, in die das göttliche Leben sich kleidet." 276 Es ist wenig sinnvoll, beim Berneuchener Buch die Entstehungsgeschichte und die Anteile der einzelnen Autoren unterscheiden zu wollen, zumal nicht bei der näheren Bestimmung des Symbolbegriffs: - Die Niederschrift erfolgte im Auftrag der Konferenz durch Ludwig Heitmann, Karl Bernhard Ritter und Stählin. 277 - Stählin identifizierte sich mit dem ganzen Buch und sah in der gemeinsamen Arbeit gerade einen alternativen theologischen Stil (s.o. den Abschnitt 4.1.3. "Lebendiges Gespräch gegen den theologischen Streit um die Wahrheit").
Beziehungen). Hinzu kommen Einteilungen nach dem Verhältnis von Bild und Sache, der verschiedenen Art doppelter Bedeutung und Häufigkeit (S. 79-94). Im Anschluß an die terminologische Klärung (Metapher/Vergleichung/Gleichnis/Allegorie, S. 95-101) wird die sprachstatistische Metaphernforschung auf einen jeweils genau 10.000 Wörter umfassenden Abschnitt aus Schleiermachers 4. Rede über die Religion und Löhes erstem der Drei Bücher von der Kirche angewandt. Das "stärkste religionspsychologische Interesse" (S. 121) bezieht sich dabei auf solche "unbewußte Metaphern", die gar nicht die Trennung von Bild- und Sachsphäre in sich tragen (S. 90, Beispiel: "Gott unser Vater"). 275 Vgl. Religiöses Erlebnis und religiöse Erkenntnis, 1922 und schon Religion von unten her und Religion von oben her, CuG 1919. 276Evangelischer Kultus, 1924, S. 15. Einen Monat vorher hatte Ludwig Heitmann auf der 2. Berneuchener Konferenz (13. - 15. 9. 1924) kritisch über Guardinis Symbolbegriff referiert: Dieser setze die analogia entis voraus. Stählin hatte das Referat als "antikatholisch" kritisiert (s. Hans Carl von HAEBLER, Geschichte der evangelischen Michaelsbruderschaft, 1975, S. 11). 277 Das Berneuchener Buch, 1926, S. 7 (Vorwort).
4.2. Kontexte zu "Leben": Das Völkische und das Symbol
131
- Der Symbolbegriff im Berneuchener Buch ist nicht terminologisch eingegrenzt oder definiert. 278 Der unspezifische Begriffsgebrauch von "Symbol" bzw. "Symbolkraft" und den entsprechenden Adjektiven geht aus der Übersicht deutlich hervor. Es handelt sich nicht um einen programmatischen Terminus - wie es die heutige Literaturflut zum "Symbol" vermuten lassen könnte - , sondern eher um eine Art unbewußten Berneuchener Soziolekt, welchen die Verfasser erst durch die scharfe Kritik richtig realisierten. 279 Die Tabelle zeigt, daß die Ausdrücke Symbolkraft/symbolische Kraft/symbolkräftig noch häufiger nachzuweisen sind als Symbol/symbolisch (in Zahlen: Symbol u.a. 25, Symbolkraft u.a. 31, andere 5 von 61 Belegen). Liest man die Stellungnahmen zu Symbolkraft/Symbol im Zusammenhang, dann liegt der Ton auf "Kraft"/"kräftig". So bringt das Wort "Symbol-" in den Komposita kaum einen semantischen Zugewinn: an den meisten Stellen könnte das Wort Kraft/kräftig auch allein dastehen. Dazu seien exemplarisch die jeweils ersten beiden Belege zitiert 280 : "Diese Sprache hat ihre Symbolkraft verloren." (S. 48; gemeint ist die theologische Begrifflichkeit.) "[...] die neue Symbolkraft der Verkündigung und des Gottesdienstes" ist wieder verkümmert (S. 50; gemeint ist: seit der Reformation). "Baustil [...] unter bewußtem Verzicht auf symbolkräftige Form überhaupt" (S. 53; gemeint ist der reformierte Kirchenbau). "[...] Sie [ernsthaft Glaubende] meinen, daß darum die Theologie am wenigsten die Sprache eines symbolkräftigen Zeugnisses habe, C ] CS. 73).
278 Hier gilt, was Hans U R N E R in bezug auf die Berneuchener liturgischen Ordnungen konstatierte: die "Unbekümmertheit" führt zum "Schillern der Begriffe" (Art. "Berneuchen", 3RGG Bd. 1, 1955, Sp. 1066). 279 "[...] dort fand man den gefährlichen Symbolbegriff, in dem man dann alsbald in der öffentlichen Meinung den theologischen Zentralbegriff der Berneuchener zu erkennen glaubte; man ist bei dieser sehr bequemen Meinung geblieben, auch als wir selbst auf diesen in sich vieldeutigen und mißverständlichen Begriff längst verzichtet hatten." (Berneuchen, 1938, S. 5.) Damit hat sich Stählin zwar vom Symbolbegriff "vorsichtig, aber deutlich distanziert" (Friedemann M E R K E L , Liturgische Bewegungen in der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert, 1992 [1983], S. 126, Anm. 41), verwendet jedoch den Begriff selbst weiter, ohne ihn klar einzugrenzen. 280 Seitennachweise im folgenden Text in Klammern.
132
4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
"Symbol'V'Symbolkraft" im Berneuchener Buch Symbol(e) bezogen auf 1. Kreuz und Auferstehung 2. Glaubensdenken 3. Wort
S. 21
46 90
4. Liturg. Zie- 98 rat, Kunst als Beiwerk (2x) 5. leibliches Handeln
101
6. Kirche (2x) 102 7.
Gemeinde
8. Kreuz 9. Schweigen 10. Deutung der indir. Lebensentwicklung 11. Leib 12. Liebe 13. Nationale Tatsachen 14. Neue Gemeindebildung 15. Gemeinde (2x) 16. Kultus
106 107 110 121
144 151 166
symbolisch bezogen auf 1. Gericht über reformatorische Kirchen 2. Bedeutung des Wassers 3. Leibliche Haltung als symb. Bekenntnis 4. Bedeutung des AT für den Zusammenhang Geschichte/Volk 5. Darstellung d. menschl. Aufgabe durch Technik 6. Haltung der Bedürfnislosigkeit
S. 69
Symbolkraft bezogen auf 1. Sprache
S. 48
symbolkräftig bezogen auf 1. Form des reformierten Kirchenbaus
S. 53
119 2. Verkündigung und 50 Gottesdienst 145 3. Form überhaupt 51
2. Sprache der Theologie 3. liturgische Form
73
160 4.
Sakramente
52
4.
154
175 5.
Kirche
55
5. völkische Bestimmtheit
180 6. außerkirchliche Formen 7. Kirchlicher "Werkeifer" 8. Verkündigung 9. Kirchl. Formen 10. mangelnde S.
56 63
6. Vermischung der 162 Rassen 7. Haltung der Kirche 165
64 65 72
8. Volk 9. geheiligte Arbeit 10. Arbeit
103 106 127
178
11. Kreatur 12. Predigt 13. Profaner Beruf d. Predigers 14. Kirchenverfassung
179
15.Liebe (2x)
180
16. technische Naturbeherrschung 17. Dasein der Einzelgemeinde
151 f. 175
Ehelosigkeit
108
159
167 174 177
131
178
Andere Ausdrücke: 1. "Symbolcharakter der Geschichte" wird wieder bewußt (S. 20) 2. "Zur symbolischen Kraft" ist die sichtbare Kirche nicht durchgestoßen (S. 53) 3. "an ihrer symbolischen Kraft für die göttliche Wahrheit" hat die Kirche "die Erscheinungsformen des geschlechtlichen Lebens" zu messen (S. 143) 4. "Symbolgehalt des geschlechtlichen Lebens" geht über Kinderzeugung hinaus (S. 148) 5. "von starker symbolischer Krafl" ist die Eingebundenheit in das Volk (S. 157) 6. "Symbolcharakter und [...] OfTenbarungscharakter" von leiblichem, geschlechtlichem, völkischem umd staatlichem Leben" (S. 170) 7. "Symboldenken, das [...] aus dem Vergänglichen ein Gleichnis des Ewigen" vernimmt (S. 176) 8. "Symbolcharakter der Arbeit" (S. 177)
4.2. Kontexte zu "Leben": Das Völkische und das Symbol
133
Ebenso wäre es möglich, statt Symbolkraft/symbolkräftig Stählins ältere Begrifflichkeit "lebendige Religion (Religiosität)"/"lebendig religiös" einzusetzen, mit der er sich schon früh gegen eine begrifflich-supranaturalistische, später auch gegen eine psychologisch-individualistische Theologie abgesetzt hatte. Das bedeutet: Die Begriffe Symbolkraft/symbolkräftig im Berneuchener Buch haben keinen hermeneutisch-programmatischen, sondern eher appellativen Charakter. Was die Begriffe Symbol/symbolisch angeht, ist das Adjektiv/Adverb an allen sechs Stellen redundant. Es erbringt keinen Sinnzuwachs. Dies sei mit dem ersten und letzten Beleg illustriert: "Dies [gegenwärtig erlebbare] Gericht findet seinen eindringlichsten, weil tiefgreifendsten symbolischen Ausdruck in dem Gericht, das über die Kirchen der Reformation ergeht." (S. 69) "Es wird immer wieder einzelne geben müssen, die durch bewußten Verzicht sich selber dieser Wahrheit [vom Vergehen dieses Aeons] als stellvertretende Träger zur Verfügung stellen; [...] nur in der bescheidenen Meinung, diese symbolische Haltung sei nötig, damit an ihr die Botschaft glaubhaft werde, daß das Wesen dieser Welt vergeht." (S. 180) Die Häufung von (z.T.superlativischen) Attributen läßt das Hinzufügen oder Entfernen eines "symbolisch" nicht stark ins Gewicht fallen. Beide Sätze wären kürzer, einfacher, lesefreundlicher zu formulieren, ohne an Präzision zu verlieren. 281 Demnach liegt ein unreflektierter Sprachgebrauch vor, bei dem durch das Überzeugtsein vom Symbolbegriff ab und zu ein entbehrliches "symbolisch" mit einfließt. Anders verhält es sich beim Substantiv "Symbol". Es sind vier verschiedene Bedeutungen voneinander zu differenzieren: 1. Das Symbol meint die grundlegenden christlichen Symbolisierungen Gottes im Sinne Tillichs282: Kreuz und Auferstehung (S. 21), Wort (S. 281 Offensichtlich wirkt der expressive Schreibstil der Jugendbewegung nach, den wir schon auf den Anfangs- und Schlußseiten von "Schicksal und Sinn der deutschen Jugend (1926) beobachtet haben (s.o. S. 117, Anm. 217) und für den Walter Flex ein abschreckendes Beispiel darstellt. Von daher wird das vernichtende Urteil Bultmanns ("alberne Deklamationen") über das Berneuchener Buch verständlich (s.o. S. 38, Anm. 163). 282 Vgl. Paul T I L L I C H , Systematische Theologie, Bd. I, 1987 [1951], S. 185: "[...] muß der Theologe den symbolischen Charakter aller Begriffe betonen, die er für die Beschreibung der göttlichen Selbstoffenbarung verwendet, und er muß versuchen, Begriffe zu gebrauchen, die anzeigen, daß ihre Bedeutung keine gegenständliche ist." A.a.O., S. 280: "Von Gott als dem Lebendigen müssen wir in symbolischen Begriffen reden." A.a.O., S. 281: "Nichts ist unangebrachter und geschmackloser als der Versuch, die konkreten Symbole der Bibel in weniger konkrete und weniger machtvolle Symbole zu übertragen."
134
4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
90); ferner das Denken des Glaubens selbst (S. 46). 283 2. Das Symbol meint einen Kunstgegenstand/Zier&t (S. 98). 3. Das Symbol meint - synonym mit Gleichnis - eine irdische Wirklichkeit, in der die Offenbarung aufscheint: alles Leben kann ein Symbol sein284: leibliches Handeln (S. 101), Kirche und Gemeinde (S. 102. 106), das Schweigen (S. 110), die Liebe (S. 151), aber auch das nationale Leben (S. 166; vgl. im einzelnen die tabellarische Übersicht). 4. Das Symbol meint die Liturgie als Symbolhandlung·. Deutung individuellen (S. 121) und gemeinsamen Lebens (S. 180)285. Gehören zur ersten Kategorie vier, zur zweiten einer, zur vierten zwei Belege, so sind neun der 16 Belege zur dritten Kategorie zu zählen.286 An mehreren der Belegstellen werden "Symbol" und "Gleichnis" nicht nur synonym verwendet, sondern auch direkt nebeneinander gestellt287: "Der Liebende steht mit Wissen und Willen in dem Ich-Du-Verhältnis, und eben dieses Verhältnis ist das stärkste irdische Gleichnis für unsere Lage vor Gott. Wer einem Menschen gegenüber dieses Verhältnis wirklich bejaht, lernt an diesem Symbol begreifen, um was es in der Begegnung des Menschen mit Gott geht." (S. 151) In dieser dritten Kategorie liegt die Verwendung des Symbolbegriffs vor, die der Theologie Stählins von nun an entspricht: Die Wirklichkeit des Lebens wird durchscheinend für die Wirklichkeit Jesu Christi. Die zentrale theologische Redeform "in, mit und unter" in bezug auf das ganze Leben, wenn auch bevorzugt in bezug auf das Sakrament, ist hier verwurzelt und liegt dann zehn Jahre später ausgearbeitet vor (Vom göttlichen Geheimnis, 1936). Da der Symbolbegriff der dritten Kategorie so sehr dem Denken Stählins entspricht und gehäuft im zweiten und dritten Abschnitt des zweiten Teils des Berneuchener Buches auftaucht (alle 9 Belege finden sich auf S. 101-179, in 283 S. 107 ist die Rede vom Kirchenraum, und es wird "das Kreuz als das Symbol der vollkommenen Offenbarung" genannt: hier kann "Symbol" sowohl systematischtheologisch als auch gegenständlich aufgefaßt werden. 284 Formuliert in Anspielung auf das in dem Zusammenhang viel genannte Goethe-Zitat (Faust II, 5. Akt): "Alles Vergängliche/Ist nur ein Gleichnis; Das Unzulängliche,/Hier wird's Ereignis; [...]". 285 Obwohl damit schon auf das Kapitel "Liturgie" vorausgegriffen wird, sei hier die genaue Formulierung der symbolischen Kasualtheorie zitiert: "Es bleibt der Dienst, den die evangelische Kirche dem einzelnen Menschen schuldig ist, daß sie den religiösen Sinn der individuellen Lebensentwicklung im Symbol darstellt und eben dadurch auf einer jeden Stufe die entscheidende Hilfe darbietet." (S. 121) 50 Jahre später nennt Werner JETTER, Symbol und Ritual, 1986 [1978], S. 100-103 "Darstellung und Durchdringung" als zwei Merkmale ritueller Kommunikation. 286 In meiner Übersicht die Nummern 5-7, 9, 11-15. 287 So S. 101. 102. 151; ferner S. 176 ("Symboldenken, [...] aus dem Vergänglichen ein Gleichnis des Ewigen zu vernehmen, [...]").
4.2. Kontexte zu "Leben": Das Völkische und das Symbol
135
2,11 "Evangelische Form", S. 97-134 und 2,111 "Evangelisches Werk", S. 135-181), könnte man sich zu der Hypothese veranlaßt sehen, Stählin habe diese Seiten ausgearbeitet. Aber zum einen können diese Beobachtungen auf Zufälle zurückgehen, zum anderen müßte man dazu ebenso präzise Kenntnisse der Schriften L. Heitmanns und K.B. Ritters haben. 288 Vor allem jedoch widerspräche solch eine Quellenscheidung der erwähnten Identifikation aller drei Autoren mit dem gesamten Berneuchener Buch. So wird man an diesem Punkt zurückhaltend sein müssen, gleichwohl aber den Gebrauch der Begriffe "Symbol" und "Gleichnis" insbesondere in der dritten der aufgestellten Kategorien Stählin zuschreiben können. Blicken wir auf die Dissertation von 1913 zurück, so ergibt sich in bezug auf Inhalt und Terminologie fast keinerlei Beziehung (was allerdings schon aufgrund der verschiedenen Genera, hier empirisch-methodische Qualifikationsschrift, dort appellative Programmschrift, kaum verwundert). Die begriffliche Präzision und das genaue sprachliche Interesse von 1913 scheinen vergessen zu sein. Begriffliche Kontinuität ist lediglich durch den beide Male eher am Rande verwendeten Gleichnisbegriff gegeben (der 1913 vom Metapher-, 1926 vom Symbolbegriff dominiert wird). Vergleichbar ist allenfalls das Interesse, zwei Wirklichkeiten ineinander zu sehen: in der Metapher das Verschmelzen von Bild und Sache im "Bedeutungserlebnis", im Symbol das Ineinander von Lebensrealität und Offenbarungsrealität. Inhaltlich hat das Interesse von der Bildersprache zur Realität von Kirche geführt (und wird dann noch weiterfuhren auf das Sakrament als Mitte der Kirche, wenngleich auch hier schon auf der Liturgie und dem Abendmahl großes Gewicht liegt, S. 104-116). Die Kontinuität ergibt sich jedoch wiederum durch den Lebensbegriff: Suchte Stählin 1913 die "lebendige Religion" über den Umweg sprachpsychologischer Erforschung des "Bedeutungserlebnisses" zu erfassen, so will das Berneuchener Buch mit dem "Symboldenken" den Anspruch des Evangeliums auf die widersprüchliche Lebensrealität der zwanziger Jahre ("Geschlecht - Volk - Arbeit") verstehbar machen. Als "Zeugnis
288 Auch bei Karl Bernhard RITTER, Die Kirche und ihr Kultus, 1971 [1931] heißt es: die Kirche "ist da im Symbol" (S. 12, ferner S. 16. 17. 18. 25). Anders als Stählin spricht Ritter jedoch von der symbolischen Existenz der Kirche in Kultus und Praxis, nicht vom Leben allgemein als Symbol und Gleichnis für das Himmlische (der Begriff "Gleichnis" erscheint in dem Ritter-Aufsatz nicht). In Ritters Satz "[...] als ein symbolisches Dasein, ist sie [die Kirche] praktisches und kultisches Zeugnis zugleich" (S. 12) ist schon der spätere Dreiklang von διακονία, λειτουργία und μαρτυρία präfiguriert. - Wenn Ritter den Kultus als "Lebensbewegung", als "Weg durch den Tod zum neuen Leben" (S. 21. 22) beschreibt, entspricht dies dem gegenwärtigen anthropologisch-liturgischen Ansatz von Manfred JOSUTTIS, Der Weg in das Leben, 1991.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
eines wirklichen Lebens" und "für das wirkliche Leben" 289 wurde das Berneuchener Buch denn auch von einigen aufgenommen. Was die beiden anfangs formulierten Leitfragen angeht, so ist im Berneuchener Buch die Ebene sprachlicher Symbolisierungen deutlich verlassen, und alle Erscheinungen des Lebens können zu Symbol und Gleichnis werden. Repräsentiert wird jedoch durchweg eine biblisch-theologische, keine allgemeine Wirklichkeit, da der "Anspruch des Evangeliums auf die Kirchen der Reformation" (so der Untertitel) den Verstehensrahmen des ganzen darstellt. An dem synonymen Gebrauch von "Symbol" und "Gleichnis", wie er im Berneuchener Buch vorliegt, hat Stählin zeitlebens festgehalten, obwohl die Diskussion im Berneuchener Kreis nach der Veröffentlichung des Buches weitergegangen war. 290 Der Begriff "Zeichen" hingegen spielt eine untergeordnete Rolle. 291 Der Gleichnisbegriff erscheint bei Stählin schon früh - was bei dem zentralen Vorkommen im Neuen Testament 292 nicht verwundert. Der Gleichnisgedanke (ohne den Begriff) wird bereits 1918 angedeutet, wenn Stählin das Verhältnis von Jugend und Alter in einer Art analogia relationis sieht: "Ist nicht das Verhältnis zwischen den Jahren der Jugend und der Zeit des reifen Schaffens ein ähnliches wie es in der Tiefe betrachtet zwischen dem irdischen Dasein überhaupt und dem, was jenseits folgen mag, besteht?" 293
289 Walther BUDER, Das Berneuchener Buch, PTh 1929, S. 12. 13. Ebenso Karl Ferdinand MÜLLER, Die Neuordnung des Gottesdienstes in Theologie und Kirche, 1952, S. 252 über das Berneuchener Buch: "Es geht darin um eine Erfassung der Ganzheit des Lebens, [...]." 290 Auf der Berneuchener Konferenz in Pätzig 1928 widersprach Tillich dem synonymen Gebrauch von "Symbol" und "Gleichnis": ein Symbol bezeichnet für Tillich im Gegensatz zum Gleichnis eine "echte Vertretung", so daß im "Wort 'Symbol' [...] etwas Unheimliches" liegt (Protokoll der Berneuchener Konferenz in Pätzig 1928, S. 73 f., zitiert nach Hans Eduard KELLNER, Das theologische Denken Wilhelm Stählins, 1991, S. 499). 291 Dabei scheint Stählin mehr an die Liturgie zu denken: So kann er vom "Sinn der heiligen Zeichen, mit denen wir das persönliche Leben von der Geburt bis zum Grabe begleiten" sprechen (Das Gottesjahr, 1924, S. 18) und "Wort und Zeichen" einander gegenüberstellen und hier Raum, Glocke, Musik, Handauflegung, Wasser, Brot und Wein nennen (Vorlesung: Das menschliche Leben im Licht des christlichen Gottesdienstes, SS 1928, Bogen 5, S.b.). 292 Vorkommen von παραβολή nur bei den Synoptikern und im Hebräerbrief, gehäuft in den Gleichniskapiteln Mt 13 und Mk 4. 293 Der neue Lebensstil, 1918, S. 8.
137
4.2. Kontexte zu "Leben": Das Völkische und das Symbol
Zwei Lebensalter können sich zueinander verhalten wie jetziges und vollendetes Leben: In dieser Relationalität sollen Jugend wie irdische Existenz überhaupt vom Ewigen her besondere Würde zugesprochen bekommen. 294 1920 beschreibt Stählin das Adventliche der Gegenwart damit, daß der Mensch wieder hinter das Materielle blicken wolle: "Wieder wird alles Vergängliche zum Gleichnis."293 1924 wird - wie in Abschnitt 4.2.1. nachgewiesen - die völkische Bindung zum Gleichnis der Bindung an Gott. 296 Im "Gottesjahr" 1924 kann bereits vieles "Gleichnis" sein: die Zeit und Raum verschwimmen lassende Mittagshitze Gleichnis für den himmlischen Lobgesang 297 , Mensch und Natur können zum Bild Gottes werden 298 , das Brot als geschnittenes, zermahlenes, zerriebenes Getreide kann "wohl ein Gleichnis sein Gottes, der sich uns gibt und opfert."299 Im Berneuchener Buch entfällt ein eigener Unterabschnitt auf "Das Gleichnis", worin der Begriff wie gezeigt synonym mit "Symbol" verwendet wird. 300 Nicht nur sprachliche, sondern alle Phänomene können Gleichnis sein, aus dem Kontext gelöst könnte man auch allgemein die höhere geistige Welt und nicht die Realität Christi symbolisiert sehen: "In der Gleichnisrede wird das Geschehen des Tages so gefaßt, daß aus ihm die ewig wirkende Wahrheit aufleuchtet. Es ist das Gespräch des Tages und doch die Kunde aus einer ewigen Welt. Das Alltägliche ist im Gleichnis zugleich das Unvergängliche und 294 Der Gedanke darf nicht logisch gepreßt werden: dann nämlich ergäbe sich Jugend (=a) und Reife (=b) und ewiges Lebens (=c) verhalten sich so: — = b c
- daraus
müßte ein guter Mittelstufenschüler c "ausrechnen" können — (c = b Η— ). a 295 Advent, 1925, S. 8 (Predigt über Luk 3,1-17 am 3. Advent 1920). 296 Die völkische Bewegung und unsere Verantwortung, 1924, S. 23 f.: "[...] daß ein jedes Volk sein besonderes Wesen von Gott bekommen hat [...] Weil diese Wahrheit die [sie] Menschen aus seiner selbstherrlichen Willkür in eine Ordnung bindet, so ist sie Gleichnis, Hilfe und selbst ein Stück Erfüllung zu dem, das wir brauchen und hoffen: der frommen Bindung des Menschen in die kosmische Ordnung." 297 Dreifaltigkeit, in: Das Gottesjahr, 1924, S. 101. 298 Von dem Christus des Johannes-Evangeliums, a.a.O., S. 113. Verwirrend beschreibt Stählin hier das "Bild" so wie sonst das "Gleichnis" und fügt hinzu: "'Bild' aber ist mehr als Gleichnis. Im Bild ist der verborgene Sinn selbst gegenwärtig." (ebd.) 299 Das fromme Brot, a.a.O., S. 129. Vgl. dazu nochmals Christoph TORCKE, Der tolle Mensch, 1989, S. 113 (über Nietzsches Bestimmung des Lebens als Ausbeutung): "Wird eine noch so rationelle Regelung des menschlichen Stoffwechsels mit der Natur diese Nietzscheschen Bestimmungen des Lebens ganz los? Stecken sie nicht schon in der harmlosesten Gewinnung der Lebensmittel, der Verwandlung von Getreide in Brot, [...] nicht ebenso in jedem Ernährungsprozeß [...]?" 300 Das Berneuchener Buch, 1926, S. 97-104, es handelt sich um den Teil 2,11 "Evangelische Form" mit den Teilen 1. Das Gleichnis, 2. Der Kultus, 3. Der Bau der Gemeinde (S. 97-134).
138
4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Heilige. Die Gleichnisrede läßt das göttliche Lebensgesetz erkennen, wie es sich immer aufs neue verwirklicht." 301 Aus diesem Zitat erhellt noch einmal die große Spannweite, oder besser: die mangelnde Präzision des Symbol-/Gleichnisbegriffs im Berneuchener Buch. Es soll "die ganze Weite des Lebens von der letzten Erkenntnis aus im lebendigen Gleichnis durchschaut werden." 302 Dies ist ein Stählin selbst genau entsprechender Präzisionsmangel. Von nun an setzt sich der Gleichnisbegriff in Stählins Schriften weiter durch: bestimmte Naturelemente sind "dazu 'prädisponiert', Gleichnis für die Erlösung durch Christus zu werden", weil sie auch das Todesschicksal der Natur repräsentieren (Wasser, Brot, Wein) 303 ; die Gleichnisse Jesu sind eine Form seiner Seelsorge, "er versenkt Bilder in die Seelentiefen" 304 ; am 18. 6. 1933 predigt Stählin über das Volk, das "gewürdigt ist, Bild und Gleichnis des 'Gottesvolkes', der heiligen Kirche Jesu Christi zu sein" 305 ; die Ernte kann Gleichnis sein 306 ; das menschliche Wort kann Gleichnis des Wortes Gottes sein, ist aber davon "selbst fundamental verschieden." 307 Im Zusammenhang thematisiert wird das Gleichnis in der Hauptschrift von 1930: Vom Sinn des Leibes in dem großen Kapitel "Der Leib als Gleichnis" 308 . Da diese Schrift im folgenden Abschnitt 4.3. ausfuhrlich zu besprechen ist, seien hier nur die Abgrenzungen Stählins zum Gleichnisbegriff thematisiert (es zeigt sich, wie eng die Schlüsselkategorien "Leben" und "Leib" zusammenhängen: der Leib ist Konkretion des Lebens in der Individualität, fuhrt zugleich wieder auf die Sozialität und kann in beiden Aspekten "gleichnishaft" verstanden werden.) 301 A.a.O., S. 83. Weitere Belege (die hier nicht untersucht werden sollen, da der Ton deutlich auf "Symbol/Symbolkraft" liegt) für "Gleichnis": S. 45 f. 50 f. 55. 60. 65. 7 8 . 8 2 . 8 6 f. 9 0 . 9 2 ff. 1 0 6 . 1 0 8 . 1 2 2 . 1 2 4 f. 1 2 9 . 1 3 2 f. 1 3 7 . 1 4 0 . 1 4 6 . 1 4 8 . 1 5 1 ff. 1 6 1 . 1 7 6 ff. 1 8 1 . 302 A.a.O., S. 50. 303 Der Leib Christi in den Sakramenten, 1931, Sp. 163. 304 Kirchliche Seelsorge, 1933, S. 156, 2. Sp. In dem Aufsatz rekurriert Stählin mehrfach positiv auf C G. Jung (S. 138. 147). Nicht ohne Grund nennt Eugen DREWERMANN seinen Markuskommentar, 1988, im Untertitel "Bilder von Erlösung" und schreibt über Mk 4,26-34 im Gegensatz zur Apokalyptik: "[...] anders, milder und geduldiger, ist dieses Bild, das Jesus gebraucht, wenn er vom Reich Gottes spricht." (S. 3 4 4 ) 305 Von der Erneuerung der Kirche, 1933, S. 15. Kritisch ins Spiel gebracht wird dort erneut der Begriff der Wandlung'. "[...] wehe, wenn die Kirche nur das Leben, wie es von Natur ist, heilig spricht!"; vielmehr gilt: "Alle Heiligung aber ist eine Wandlung" (S. 19). 306 Die Ernte als Gleichnis, 1936, passim. 307 Die Kirche Christi und das Wort Gottes, 1937, S. 18. 308 Vom Sinn des Leibes, 1930, S. 81-117. Auch in der zweiten und dritten Auflage wird dieses als drittes Kapitel von etwa gleichem Umfang beibehalten ( 2 1934, 3
1952).
4.2. Kontexte zu "Leben": Das Völkische und das Symbol
139
Drei Präzisierungen Stählins sind herauszufiltern, die u.a. wichtig sind, um seine problematische Rede "Das Reich als Gleichnis" von 1933 richtig einordnen zu können. Diese Präzisierungen entwickelt er im Gegenüber zu dem Goethe-Zitat "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis"309: - gegen Goethes "nur" dürfe man nicht beim Gleichnis das in der Welt Angeschaute "seiner unmittelbaren Wirklichkeit und seiner nächsten Bedeutung entkleiden"; 310 - gegen Goethes "alles" seien "ganz bestimmte Erscheinungen und Erfahrungen wie die Sonne oder das Licht überhaupt, Geschlechterliebe oder Schlaf und Tod zu allen Zeiten in besonderem Maß als Symbole des göttlichen Geheimnisses erfahren worden"; 311 - das Besondere der Offenbarung im Gleichnis sei die erst von Christus her aufgehobene Zwiespältigkeit, das "Gleichnis ist immer, indem es Offenbarung und Vergegenwärtigung ist, zugleich Hülle und Verhüllung" 312 und warne gerade so davor, "die ewige Wahrheit zu einem System sagbarer und verfügbarer Wahrheiten zu verfälschen." 313 Unmißverständlich wird der Christusbezug von Symbol und Gleichnis herausgestellt: "Ohne Christus bleibt wohl eine Fülle allgemeiner religiöser Symbolik; eine sehr zweifelhafte Symbolik, die uns immer im Zweifel läßt, ob sie Tod oder Leben, Heil oder Unheil bedeutet. Erst von Christus aus und in der steten Beziehung auf Christus fangt ein jedes Gleichnis an von der einen letzten Wahrheit zu reden." 314 Von der oben formulierten zweiten Leitfrage her ist festzustellen: Gleichnis und Symbol repräsentieren zwar eine allgemeine religiöse (geistige, höhere) Wirklichkeit, relevant wird diese allerdings "von Christus aus", also im Verstehenskontext Kirche, und "in der steten Beziehung auf Christus", also mit der Christologie als religionskritischer Grundlage. Die Vorwürfe der "natürlichen Theologie" Stählins315 sind von daher nicht zu halten. Eines ist 309 Vom Sinn des Leibes, 1930, S. 81-87. Zu dem Goethe-Zitat vgl. oben Anm. 284. 310 A.a.O., S. 83. 311 A.a.O., S. 85. 312 Ebd. 313 A.a.O., S. 86. 314 A.a.O., S. 87. Explizit wird Stählin sich ein Jahr später "gegen den Vorwurf des Pansymbolismus" abgrenzen: Der Leib Christi in den Sakramenten, 1931, Sp. 163. Ebd. kritisiert Stählin, Luther habe "sein 'realistisches' Verständnis des Sakraments 'nominalistisch' zu begründen" gesucht. 315 Hier ist auch der sonst so sorgfältigen Interpretation von Karl Ferdinand MOLLER, Die Neuordnung des Gottesdienstes in Theologie und Kirche, 1952, S. 254 zu widersprechen, der meint, in Vom Sinn des Leibes, 1930, S. 81-87 werde "der Todescharakter und die Gebrochenheit der Schöpfung nicht so erkennbar, wie es wohl nötig wäre." Das Zitat im Text zeigt, daß Stählin dies sehr wohl sieht - wie weit die Einzelausführungen dazu in sich stimmig sind, ist dann freilich eine andere Frage. -
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
j e d o c h e b e n s o klar: Der christliche Glaube v o n seiner Form her ist für Stählin e b e n s o eine Gestalt v o n Symbolisierung w i e Religion und Sinnkonstruktion überhaupt und gewinnt erst im "Leben" aus dem Christus-Symbol ("von...aus"/"in B e z i e h u n g a u f ' ) seine Eindeutigkeit, eine These, die im K o n t e x t v o n Karl Barths Religionskritik auf entschiedenen Widerspruch s t o ß e n mußte. 3 1 6 W e n n auch nicht v o n unmittelbarer Relevanz für die Praktische T h e o l o gie, so ist auf j e d e n Fall v o n großer zeitgeschichtlicher und biographischer B e d e u t u n g Stählins R e d e am 18. Januar 1933 Das Reich als Gleichnis. Mit dieser R e d e steht Stählins Denken, w e n i g e Tage vor Hitlers Ernennung z u m Reichskanzler, im nachhinein auf dem Prüfstand der Geschichte. E s gilt j e d o c h dabei Entsprechendes w i e bei der R e z e p t i o n der P h i l o s o p h i e N i e t z s c h e s : Wir lesen heute die R e d e v o m "Reich" n o t w e n d i g mit d e m Vorverständnis des abusus durch die Verbrechen des "3. Reiches". 3 1 7 Im S o m m e r 1 9 3 2 fand die 16. B u n d e s t a g u n g des B D J in Weimar statt. N a c h langem Suchen fand Stählin die L o s u n g "Woll'n predigen und sprechen v o m heil'gen deutschen Reich". D e r Hauptgrund für die L o s u n g war nun gerade, daß das Wort "Reich" (im Gegensatz z . B . zu "Volk") "noch nicht entleert und mißbraucht" 3 1 8 war. Für Stählins R e d e "Das R e i c h als Gleichnis" 3 1 9 sind z w e i Verstehenshorizonte maßgeblich: Einleuchtend ist K.F. Müllers Fazit (a.a.O., S. 255), die Stählinsche Beziehung zwischen Christus und dem Symbol ("αδιαιρέτως") und diejenige der Barth-Schüler ("ασυγχυτως") müßten einander begegnen. 316 Der berühmte § 17 aus der "Kirchlichen Dogmatik" erschien erst mit Band 1,2 1937 ("Gottes Offenbarung als Aufhebung der Religion"). 317 Ähnliches gilt für die damals geläufige Rede von den "Führern" (etwa im Vorwort des Berneuchener Buches u.a. für Karl Barth) und von dem in der Jugendbewegung verbreiteten "Heil"-Gruß (Fieber und Heil in der Jugendbewegung, 1922, S. 16. 36): Die Sprachverstümmelung durch das Naziunwesen ist offensichtlich ein dauerhafter Folgeschaden. Es bleibt der fatale Triumph Hitlers, daß Geschichte wesentlich danach beurteilt wird, ob sie auf ihn hinführt oder nicht. 318 Woll'n predigen und sprechen vom heil'gen deutschen Reich, UB 1932, S. 78. Die Front sieht Stählin hier nicht politisch links oder rechts, sondern im Säkularismus und Rationalismus ("verkörpert im Amerikanismus einerseits, im Bolschewismus andererseits", S. 77). Keinesfalls gehe es um die Frage "Republik oder Reich?" Strikt wird der Gedanke verworfen, "als ob wir - lächerliche Vorstellung! - zum Kampf gegen die Republik aufrufen wollten." (S. 78) Dies klingt angesichts der Stimmengewinne der NSDAP (Wahlen zu 5 Landtagen am 24. 4. 1932) ebenso naiv wie die Distinktion, nicht das Reich, sondern vom Reich sei zu predigen (S. 79); auch ohne die neuen Forschungen zum "selektiven Hören" der Predigt hätte Stählin von seiner selbst vertretenen Einheit von Form und Inhalt her ahnen müssen, daß er 1932/33 notwendigerweise das Reich predigte. 319 Weder in der Seminarbibliothek noch in Stählins Nachlaß in Münster findet sich ein Exemplar der Rede, so daß Wilhelm H. N E U S E R vermutete, es gäbe kein Exemplar mehr (Die Evangelisch-Theologische Fakultät Münster, 1991, S. 75, Anm. 23). Im Universitätsarchiv konnte die Rede jedoch noch gefunden werden. In Via Vitae,
4.2. Kontexte zu "Leben": Das Völkische und das Symbol
141
-
sein politischer Konservativismus, greifbar 1 9 3 2 / 3 3 b e s o n d e r s in der B e schäftigung mit dem mittelalterlichen Reichsgedanken im L u d u s de Antichristo 3 2 0 ; - sein Symbol- und Gleichnisdenken. Stählin ist durch Wilhelm Stapels Veröffentlichung 3 2 1 auf den Ludus de A n tichristo g e s t o ß e n und hat diesen im Januar 1 9 3 2 mit katholischen und evang e l i s c h e n Studenten in Münster aufgeführt. 3 2 2 D a s für Stählin über Jahrz e h n t e bleibend Wichtige ist das Antichristliche der L o s u n g pax et securitas. 3 2 3 D a s politisch Brisante (und biblisch-theologisch Kritisierbare!) d e s L u d u s liegt z w e i f e l l o s in der Adaption der biblischen Apokalyptik 3 2 4 für eine
1968, wird sie nur kurz erwähnt (S. 265: Thematisch habe es sich zwar um ein Bekenntnis zum nationalen Aufbruch gehandelt, inhaltlich aber um eine Absage an die "nationalsozialistische Karikatur" des Reiches). Hans Eduard KELLNER, Das theologische Denken Wilhelm Stählins, 1991, S. 550 f. geht knapp und äußerst kritisch auf die Rede ein. 320 S. den Text: Der Antichrist, 1970, S. 89-155. Klaus AICHELE, Das Antichristdrama des Mittelalters, der Reformation und Gegenreformation, 1974 beschreibt für diesen Zeitraum 43 Antichristdramen, wovon der Tegernseer Ludus das älteste ist (a.a.O., S. 27-33). 321 Via Vitae, 1968, S. 231. Stapels Reihe "Aus alten Bücherschränken. Eine Sammlung vergessenen und gefährdeten deutschen Volksgutes" erschien in 15 Bänden 19221930; s. Heinrich KEßLER, Wilhelm Stapel als politischer Publizist, 1967, S. 309. 322 Via Vitae, 1968, S. 232. S. dazu oben, S. 21 mit Anm. 87. 323 Der Antichrist, 1970, S. 154 f.: Die Könige huldigen: "Aller Reiche Rechte beschlossen sind in Frieden." ("Pace conclusa sunt cuncta iura regnorum.") Der Antichrist: "Nach dem Fall jener, die sich verführen ließen, Friede und Sicherheit alles zumal beschließen." ("Post eorum casum, quos vanitas illusit, pax et securitas universa conclusit ") Stählin gibt ein ausführliches plastisches Referat des Ludus (Das Spiel vom Antichrist, 1958 [1954/55], S. 484-492) und führt pax et securitas auf ειρηνη και ασφαλεια in 1. Thess 5,2 f. zurück (S. 491). Die genaue Beschäftigung mit dem Stoff erhellt aus den - für Stählin ungewöhnlich zahlreichen - 23 Anmerkungen in dem Aufsatz. Daneben hat Stählin auch häufiger die AntichristErzählung von Solowjew erwähnt, jedoch ohne eine Veröffentlichung dazu vorzulegen (Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 18-20. 138 ff., dort unter expliziter Ablehnung, die Rede vom Antichrist auf eine "gegenchristliche Glaubensbewegung" zu beziehen (S. 141); ferner: Was sind "katholisierende Neigungen"?, 1946, S. 25, 2. Sp. und: Die Frage nach der Einheit der Kirche, 1980 [1973], S. 195. Zu Solowjews Erzählung "Der Antichrist" s. die ausführlichen Erläuterungen in der Ausgabe von Ludolf Müller. 324 Hier verbinden sich spätalttestamentliche Apokalyptik (Mal 3,23) und die urchristliche Überlieferung (Vorläufer Elia: Mk 9,11-13). In den synoptischen Apokalypsen ist von Verführern die Rede, Mt 24,24 und Mk 13,22 auch von ψεοδοχριστοι. In der Offenbarung ist der Antichrist als Drache/Tier symbolisiert (Kap. 12-14, dort auch der für die Berneuchener zentrale Michaelskampf Apk 12,7-12). Der Terminus α ν τ ί χριστος selbst erscheint hingegen nur 1. Joh 2,18. 22. 4,3 und 2. Joh 7 und nicht in LXX. Im Neuen Testament verschmelzen die beiden Traditionen vom Antichristen
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
zeitgeschichtliche Deutung: Der deutsche König und Kaiser leitet das Eschaton ein. Er wird noch einmal die ganze Welt (das ganze römische Reich) regieren und nach dieser Herrschaft voller Segen sein Szepter und seine Krone im Tempel in Jerusalem niederlegen. Dann erscheint der Antichrist. Dieser überzeugt bzw. unterwirft die Könige mit Ausnahme des deutschen Königs: "Mit Blut zu wahren ist des Vaterlands Ehre. Des Vaterlands Kraft vertreibt des Feindes Heere. Recht, von List verraten, durch Blut ist zu erlangen. So zurückgewinnen wir kaiserliches Prangen." 325 Während sich der französische König durch Geschenke blenden läßt ("solchen Herrn gehorchen ist Herrlichkeit und Ehre. [,..]" 326 ), glaubt der König der Deutschen erst nach zwei Wunderheilungen und einer Totenerweckung durch den Antichrist. 327 Nachdem sich die Synagoge (durch den Auftritt der Propheten Henoch und Elia) bekehrt hat zu Christus (vgl. Rom 11,25), stirbt sie den Märtyrertod mit den Propheten 328 , und der Antichrist hält Hoftag mit allen Königen, die ihn anbeten. Dann erscheint Christus, der Antichrist stürzt und die Abgefallenen werden von der Kirche wieder aufgenommen. Die mittelalterliche Einheitsschau von Weltgeschichte und Endgeschichte, von neutestamentlicher β α σ ί λ ε ι α und dem "Heiligen Römischen Reich deutscher Nation" gerät 1932/33 in den Kontext des antiwestlichen Ressentiments am Ende der Weimarer Republik. 329 Bei Wilhelm Stapel ist das "Reich" "eine Vorbedingung der Erscheinung Christi " 330 , das Ziel der Ge-
als tyrannischem, gottlosem Herrscher bzw. als falschem, verführerischem Propheten (vgl. Georg STRECKER, Die Johannesbriefe, 1989, S. 343). 325 Der Antichrist, 1970, S. 139. 326 A.a.O., S. 133. 327 A.a.O., S. 141. 328 A.a.O., S. 153. Auch der Märtyrertod der Synagoge erscheint nach 1945 in erschreckendem Licht: "Unseres Irrens uns gereut, zum Glauben wir uns kehren. Dem, was der Verfolger dräut, erduldend wir nicht wehren." sind ihre letzten Worte. 329 Zur Rezeption s. die von Gerhard Günther gesammelten Urteile über den Ludus de Anrichristo, in: Der Antichrist, 1970, bes. S. 260 f. 330 Wilhelm STAPEL, Der christliche Staatsmann, 1932, S. 228, Hervorhebung im Original. Es ist merkwürdig, daß in der historischen Arbeit über Religion und Politik von Irmtraut Götz von OLENHUSEN, Jugendreich, Gottesreich, Deutsches Reich, 1987 Wilhelm Stapel - als der einflußreichste konservative Publizist der Weimarer Republik - nicht einmal erwähnt wird. Ebenso unpräzise ist die verkürzende Einschätzung, für Stählin sei die Jugendbewegung an sich religiös und "biologistisch-metaphysisch" zu verstehen (a.a.O., S. 255).
4.2. Kontexte zu "Leben": Das Völkische und das Symbol
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schichte ist das "Imperium teutonicum", die Franzosen können Europa nicht fuhren. 331 Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich aus heutiger Perspektive eine fundamentale Maxime fur christliches Verkünden und Lehren: Wenn Symbole und Vergleiche nicht machbar sind, sondern durch historische Gegebenheiten Plausibilität erlangen, so muß gerade diese Plausibilität vom neutestamentlichen Zeugnis her ideologiekritisch hinterfragt werden. 332 Gerade dies aber ist bei Stählins Rede am 18. 1. 1933 unterblieben. Dem Kasus entsprechend knüpft er bei der "Sehnsucht nach dem Reich" an. 333 Der Reichsgedanke trennt "uns Deutsche von den westlichen Nationen" (S. 5). Anders als Stapel spricht sich Stählin nach dem Hinweis auf den Ludus de Antichristo (S. 6) jedoch explizit gegen "eine politische Romantik" aus, die von einem neuen deutschen Imperium träumt: "die Übernahme mittelalterlicher Begriffe und Symbole" sei eine "gefährliche Sache" (S. 7). Unter Berufung auf den Kampfruf der Neupfadfinder Martin Völkeis ("Hie Ritter und Reich") plädiert Stählin dafür, daß "das Reich als religiöses Symbol, das Reich als Gleichnis" verstanden werden müsse (S. 9, Hervorhebung dort). Ausgehend vom Neuen Testament werden dann Gleichnis, Vergleichung, Allegorie und Beispielerzählung unterschieden (S. 9 ff.). Das echte Gleichnis schaue in der Wirklichkeit "einen symbolischen Sinngehalt" (S. 12). Darum sei das Gleichnis "nicht mehr ein sprachwissenschaftlicher, sondern ein theologischer Begriff' (S. 12). Wie an anderer Stelle wird die Meinung, als handele es sich um austauschbare Sprachbilder, als "nominalistisch verderbtes Denken" bezeichnet. Ebenso verhalte es sich mit der Rede vom Reich: "In den Umkreis dieser echten Gleichnisse gehört die Bildrede vom Reich." (S. 13) Genau an dieser Textpassage nun verläßt die Rede die Denkvoraussetzungen der Predigt Jesu und des Neuen Testaments. Ist die β α σ ί λ ε ι α dort ein
331 A.a.O., S. 246-273 (Schlußkapitel). S. 261: "der Franzose hält nieder, der Deutsche waltet." (Hervorhebung im Original). Frankreich "wird durch sein Kolonialreich zur Einbruchstelle des Niggertums in Europa." (S. 253) "Nur ein von Deutschen geführtes Europa kann ein befriedetes Europa werden." (S. 255) Wichtig ist, daß Stapel sich im Vorwort explizit auf die "Entsprechung zwischen irdischem Leben und himmlischem Leben" und "die großen Gleichnisworte des Johannes-Evangeliums" bezieht (S. 7, Hervorhebung dort). 332 Dem Vorlesungsverzeichnis zufolge war an der Fakultät Münster vom 29. 10. - 1. 11. 1932 eine Studentenfreizeit mit dem Thema: "Das Reich als politische Aufgabe und das Reich Gottes" geplant. Darüber habe ich bei Stählin jedoch nichts finden können. 333 Das Reich als Gleichnis, 1933, S. 3, unter Berufung auf Moeller van den Bruck (Artur Moeller van den Bruck, Das Dritte Reich, Berlin 1923). Seitennachweise zu Stählins Rede im folgenden Text in Klammern.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlttsselkategorien
eschatologischer, herrschaftskritischer Begriff 334 , so ist bei Stählin das Reich Inbegriff innerweltlicher (deutscher) Hoffnung. Die Merkmale irdischer Herrschaft bilden für Stählin die Art und Weise der Herrschaft Gottes ab, das (deutsche Reich) repräsentiert gleichnishaft das Gottesreich, während in der Predigt Jesu Natur- und Alltagsphänomene die Durchsetzung der Gottesherrschaft abbilden. Kurz: Bei Stählin repräsentiert die Geschichte ("Reich") die "Natur" Gottes (Herrschen, Gefolgschaft), im Neuen Testament repräsentiert die Natur (Senfkorn, Sauerteig, Mt 13) die Geschichte von Gottes Herrschaft. Die Kategorien sind gewissermaßen vertauscht:
Stählin Mt 13
Bild/Kategorie Reich (Geschichte) Senfkorn (Natur/Alltag)
Sache/Akzent Reich Gottes/Gefolgschaft und Gehorsam Reich Gottes/Ausbruch und Durchbruch
Die Berechtigung dieser idealtypischen Gegenüberstellung erhellt aus folgendem Zitat: "All die Merkmale, die wir vorhin an dem 'Reich' gefunden haben, entsprechen aufs genaueste dem, was die Gleichnisrede des Neuen Testaments, des Urchristentums, von dem Reich Gottes, dem Reich der Himmel besagen." (S. 13) "Indem das politische Herrschaftsverhältnis, das Herzogtum, das Königtum, das Reich, als religiöses Gleichnis gebraucht wird, fällt ein neuer Schein metaphysischer Würde auf dies irdische Gebilde, das Reich, zurück. [...] Das Reich ist Gleichnis. [...] [Dies ist] der Protest gegen einen rein innerweltlichen säkularen StaatsbegrifF, der Glaube an einen göttlichen Beruf und die ewige Bedeutung auch der Nation und ihrer geschichtlichen Gestalt." (S. 17) Das Verfehlte dieser Sicht besteht nicht in der Unklarheit der Begrifflichkeit, auch nicht in der Symbolisierung einer allgemeinen idealistisch-"höheren" Wirklichkeit, sondern in der Wahl des Bildes/Gleichnisses selbst, welches im Neuen Testament so nicht begegnet.335 Wenn Stählin 1939 die Natur nicht mehr ontologisch, sondern eschatologisch-prozessual gleichnishaft versteht (im Kontext seines Begriffes der "Wandlung" durch Christus), dann ist er sehr viel näher am Neuen Testa-
334 Vgl. Mt 3,2 ηγγνκεν η βασίλεια των ουρανών und Mt 4,8 δεικνυσιν αυτω πασας βασιλείας του κοσμου τουτοο. 335 Mt 18,23-33 geht es nicht um die Herrschaftsstruktur Königreich, sondern um das Schuldverhältnis; Mt 22,1-14 steht die Einladung und ihre Ablehnung im Vordergrund, nicht das Königreich. Als Verstehenszusammenhänge haben auch hier Alltagsgeschichten zu gelten.
4.2. Kontexte zu "Leben": Das Völkische und das Symbol
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ment. 336 Hier jedoch zieht der falsche Grundansatz in Verbindung mit dem Kasus ("Reichsgründungsfeier") und der Voreinstellung fatales nach sich: - der Losung "pax et securitas" aus dem Ludus wird "das bereitwillige Ja zu dem Führer, der da ist, weil Gott ihn gesandt hat" entgegengestellt (S. 18); 337 - "Die Sehnsucht nach dem Reich" und "die Sehnsucht nach Erlösung" werden zwar noch unterschieden, aber doch auch zusammengeschaut und logisch verknüpft (S. 19). Es muß allerdings hinzugefügt werden, daß Stählin am Schluß der Rede den eschatologischen Vorbehalt ausdrücklich einbringt (S. 21-23): "Jedes Gleichnis wird 'gesprengt'; [...] das ist das Entscheidende - die irdische Wirklichkeit wird ganz wirklich und höchst konkret gesprengt durch das Hereinbrechen der Sache, deren Gleichnis sie ist; [...] Weil das Reich Gleichnis ist, darum ist es nie vollendet und kann nie vollendet werden." (S. 21) In diesem Zusammenhang weiß Stählin durchaus klare Worte und Gedanken anzufügen, die uns schon mehrfach begegnet sind: - es besteht ein "Widerstreit zwischen jedem Reich, auch dem Heilgen Deutschen Reich und dem Reiche Gottes." (S. 22); - die Idee des Reiches steht gegen die Irrwege der Profanisierung und der Dämonisierung irdischer Größen (S. 23); - er warnt davor, daß "Rasse oder Volk oder Reich auf den Götzenthron" gehoben werden (S. 23). Die Frage ist nur, ob diese Warnungen und Abgrenzungen am Schluß noch gehört werden konnten, nachdem einmal das Deutsche Reich mit "metaphysischer Würde" ausgestattet war aufgrund der Kategorienvertauschung im Gleichnis. Sicher zu verneinen ist die Frage in bezug auf die Drucklegung und Rezeption der Rede in den Monaten nationaler Euphorie im Jahre 1933.
Weiterführung von Stählins
Begrifflichkeit
Abgesehen von diesen konkreten Auswirkungen läßt sich von der Rede aus gut die kritische Würdigung von Stählins Symbol- und Gleichnisdenken überhaupt entwickeln. Dabei kommt es auf einen klaren Begriffsgebrauch
336 Das Bild der Natur in der Heiligen Schrift, ZW 1939, S. 52: Nicht die Natur der Kreaturen ist gleichnishaft, "sondern der Vorgang, die Bewegung, der Prozeß, die Wandlung." 337 Noch einmal: Für uns ist die Vokabel "Führer" ganz anders belastet als dies noch 1933 der Fall war. Trotzdem mußte Stählin am 18. 1. 1933 wissen, wer da als Führer bereitstand.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
von Symbol, Gleichnis, Zeichen, Bild, Metapher an, welcher einerseits die Stählinschen Intentionen aufzunehmen, seine Aporien jedoch zu vermeiden sucht. Sinnvoll ist hierbei zunächst die Unterscheidung von sprachlichen und nichtsprachlichen "Symbolisierungen".338 Um der einfacheren Unterscheidung von Sinnbild, Andachtsbild/Ikone willen kann dann der Begriff "Sprach-Bild" als Oberbegriff gewählt werden und der literaturwissenschaftlichen Definition zufolge Gleichnis, Vergleich und Metapher umfassen. Im Rückbezug auf die neutestamentliche Theologie dürfte es ferner der Klarheit dienen, den Begriff "Gleichnis" nur fur die Gleichnisse Jesu zu gebrauchen. Im kirchlichen Bereich halte ich es ferner für sinnvoll, wenn als christliche Symbole Dinge bezeichnet werden, die zum einen sieht- und greifbare Gegenstände (Handlungen) sind, zum anderen aber einen liturgischen Sitz im Leben der Kirche haben (von der zweiten Bestimmung her ergibt sich auch ein Zusammenhang mit dem Glaubensbekenntnis als verbindendem symbolon der Kirche).
A. Sprach-Bilder allgemein: Metapher Vergleich neutestamentlich: Gleichnis
Symbolisierun een B. Christliche SymC. Allgemeine Symbole bole Leben (der Natur, des einzelnen liturgisch-biblisch: Menschen, der Gemeinschaft, ...) Kreuz Leib desMenschen Wasser Ehe/S exualität/Fortpflanzung Brot Wein Bilder (Symbolbezeichnungen), MuLicht sik, Tanz, Kunst Symbolhandlungen: Sakramente (elevatio) Handauflegung signatio crucis redditio/confessio symboli fidei
Die von Stählin genannten zahlreichen Phänomene aus dem Bereich des Lebens in Natur sowie menschlicher Individualität und Sozialität gehören in den Bereich der Schöpfung. Da diese mit Stählin von Christus her trinitarisch auf die Vollendung hin zu denken ist, kann jedes Schöpfungswiderfahrnis zum Symbol der Treue Gottes werden und damit die Erfahrung des dreieinigen Gottes widerspiegeln. Diese allgemeinen Symbole sind jedoch 338 Wie bereits vermerkt, ist hier "Symbolisierung" als möglichst formaler Oberbegriff ohne theologische, linguistische oder psychologische Füllung verwendet, im Sinne von In-eins-Setzung von zwei Wirklichkeiten oder semantischen Bereichen.
4.2. Kontexte zu "Leben": Das Völkische und das Symbol
147
von den neutestamentlichen Gleichnissen und von den liturgischen Symbolen dadurch unterschieden, daß sie die Christusoffenbarung voraussetzen, während christliche Symbole und Gleichnisse die Christusoffenbarung repräsentieren bzw. neue Christuserfahrung ermöglichen. Auf diese Weise ist es möglich, Stählins Weite in der theologischen Deutung von Lebensphänomenen aufzunehmen, ohne in Pansymbolismus (oder Panparabolismus) zu verfallen und die jesuanische Gleichnisrede mit Gegenwartsphänomenen (wie damals mit dem ersehnten "Reich") auf eine Stufe zu stellen. 339 Ebenso wie
339 An seinem gefährlich weiten Gleichnisbegriff hat Stählin zeitlebens festgehalten. 1933 stellt er summarisch fest: "Die biblische Rede von Gott ist Gleichnisrede; das biblische Denken ist Gleichnisdenken." (Gleichnisrede und Gleichnisdenken, 1958 [ 1 9 3 6 ] , S. 3 1 . ) Die Schlußfolgerung, den Gleichnisbegriff auf die Bibel zu beschränken, wird jedoch gerade nicht gezogen. Im Gegenteil: Stählin urteilt 1958, die neutestamentlichen Gleichnisse seien "einerseits ein zu enger Raum, um jenes Gleichnisdenken als Ganzes daraus abzuleiten, andererseits umfassen sie manches, was es überhaupt nicht mit der Beziehung der Schöpfungswelt zu den Geheimnissen des Reiches Gottes (und also auch zu dem menschlich-personalen Leben überhaupt) zu tun hat." (Über die Natur, 1 9 7 3 [ 1 9 5 8 / 5 9 ] , S. 1 2 5 . ) Stählin geht es also erkennbar um eine "analogia creationis", nicht um die neutestamentliche "analogia finalis" (Terminologie von mir). Schon 1937 hatte Paul Reinhardt Stählins Gleichnisdenken die analogia entis vorgeworfen und diese mit Karl Barth als "die Erfindung des Antichrist" (!) bezeichnet (P. REINHARDT, Gleichnisdenken?, 1937, S. 100, K. Barth, KD 1,1, 1932, S. VIII zitierend; Hervorhebung bei Reinhardt). Richtig hatte Reinhardt, a.a.O., S. 102 schon angemerkt, analogisch könne nur geredet werden, "wenn die Einzigartigkeit der Gleichnisse Jesu gewahrt bleibt." Die Kritik ignorierte Stählin ebenso wie schon diejenige des jungen Werner Georg Kümmel. Dieser hatte gegen Stählins Weimarer Rede vom "heiligen deutschen Reich" öffentlich protestieren wollen, dann aber zusammen mit Hermann Maass mit Stählin korrespondiert. Am 17. 3. 1933 schrieb Stählin an beide, auch er habe "Bedenken gegen den Stapeischen Begriff des imperium teutonicum" (Bl. 2, Vorders.), er habe jedoch unter "außerordentlich starkem Eindruck" des Ludus de Antichristo gestanden und stehe jetzt noch darunter (ebd.). In bezug auf Hitlers Machtergreifung müßte jetzt jedoch mehr gegen die Dämonisierung als gegen die Profanisierung gesprochen werden als in Weimar oder als am 18. 1. 1933 (Bl. 3, Rücks.): "Ich stehe unter dem erschütternden Eindruck einer unbußfertigen Selbstherrlichkeit, die sich gänzlich dem Gericht Gottes entzieht." (Ebd.) Am 7. 5. 1933 nimmt Kümmel dann noch einmal Bezug auf die Rede vom 18. 1. in Münster. Sein Bedenken ist zunächst terminologischer Natur: "Wäre es nicht besser zur Vermeidung großer Mißverständnisse, Gleichnis für das biblische π α ρ α β ο λ ή zu erhalten, und Euern Begriff etwa mit Sinnbild oder Symbol oder sonstwie wiederzugeben?" Die Rede Jesu dürfe "nicht im Sinne einer Naturmystik umgebogen werden". Das Reich sei "wie alles Menschliche geschichtliche, damit eine unter Gottes wechselndem Handeln stehende Größe, nicht aber eine naturhafte Analogie wie die Welt der Pflanzen." (Hervorhebung bei Kümmel). - Meine Weiterführung der Stählinschen Begriffe versucht u.a. dieser zentralen Kritik Rechnung zu tragen. - Die Zeitungsberichte über Stählins Rede am 18. 1. 1933 (Ev. Gemeindeblatt Münster vom 5. 2. 1933 und Münsterscher Anzeiger vom (?) Januar 1933, Ausschnitte im Nachlaß Münster) beschränken sich jeweils auf ein
148
4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
die Liturgik präzise von christlichem Gottesdienst spricht340, deutet die Unterscheidung von allgemeinen und christlichen Symbolen darauf hin, daß christliche Symbolik nicht eindeutig defmitorisch von allgemeiner Symbolik geschieden werden kann, daß aber umgekehrt die definitorische Aufgabe mit diesem Zusammenhang als eine dauernde gegeben ist. Die schwerpunktmäßige Einordnung des Symbolischen in die Liturgie und des Gleichnisses in die Auslegung ermöglicht darüber hinaus eine Konzentration der Symboldidaktik bzw. die begründete Kritik an religionspädagogischen Konzepten, die von einem theologisch unspezifischen Symbolbegriff ausgehen. Für unterrichtliche (diskursive, sprachliche) Prozesse erscheinen mir Metapher und Gleichnis zudem erst einmal näher zu liegen als die Symbole, wenngleich andererseits aufgrund einer klaren vorhergehenden Profilierung die Verbindung von Liturgik und Didaktik für beide Bereiche von großem Gewinn sein kann. Hierauf ist jedoch an dieser Stelle nur zu verweisen; primär ging es darum, die Stählinsche Zuordnung von Leben, Gleichnis und Symbol kritisch weiterzufuhren, ohne deren Offenheit für die Praktische Theologie durch völlige Ablehnung zu gefährden. Die Einbeziehung des gesamten Alltagslebens in die religiöse Rede und Deutung ermöglicht der Praktischen Theologie die notwendige Transformierung religiöser Sinnhorizonte. Die Klarheit des Begriffsgebrauchs ist dabei jedoch Voraussetzung, damit das Transformierende (nach Stählin: das Wandelnde) nicht vom zufälligen Sinnhorizont (wie dem "Reich") ausgeht, sondern vom Evangelium. Damit ergeben sich auch Lösungen für die terminologischen Unscharfen im Berneuchener Buch und in Stählins sonstigen Schriften, in denen das Symbol eine wichtige Funktion einnimmt. Darüber hinaus darf vermutet werden, daß die Beziehung von Liturgie und christlichen Symbolen Stählin selbst eingeleuchtet haben würde.
Referat; deutlich spürbar ist die Schwierigkeit der Schreiber, die Rede zu verstehen und somit der Verzicht darauf, eigene Gedanken zu formulieren. 340 So etwa Wilhelm HAHN, Gottesdienst und Opfer Christi, 1951, passim und Christian GRETHLEIN, A b r i ß d e r L i t u r g i k ,
2
1 9 9 1 , S. 2 6 - 4 7 .
4.3.
Leib
Die ausfuhrliche Darstellung der Schlüsselkategorie "Leben" kann als Interpretationshilfe auch für die nun zu beschreibende Kategorie "Leib" dienen. Beide hängen gleichermaßen mit Stählins Bemühen zusammen, theologische Wahrheiten im Verstehenshorizont von Jugendlichen aufzusuchen und von daher einen anderen Zugang zur theologischen Tradition zu finden. Kurz: "Leben" und "Leib" stehen für den Versuch, Theologie von der Jugendarbeit (Jugendbewegung) her als praktische Theologie zu entwerfen. Vieles, was für die Kategorie "Leben" bei Stählin beschrieben wurde, ließe sich hier zu "Leib" wiederholen. Innerhalb der unter 4.1. ausgeführten grundlegenden Oppositionen treffen zahlreiche Definitionen analog auch auf den Begriff "Leib" zu. Er steht ebenso gegen eine theologische Lehre und gegen eine Kirchlichkeit, die das "lebendige Leben" vernachlässigen, in diesem Fall den Leib als den einzig möglichen Ort, an welchem Denken und Glauben geschehen können. Der Leibbegriff richtet sich in gleicher Weise gegen den Primat theologischer Begrifflichkeit wie der Lebensbegriff und betont das Konkrete und Situationsgebundene theologischen Redens. Ebenso wird der Leibbegriff selbst wie der Lebensbegriff theologisch kritisiert, um einer Vergötzung von Gesundheit, Schönheit, Rasse etc. die Doppelsinnigkeit des Leibes (unter Gottes Güte und Gottes Zorn) entgegenzusetzen. Auf der anderen Seite jedoch erfüllt der Leibbegriff bei Stählin eine andere Funktion in der Bemühung, Theologie von der Praxis her zu konstruieren: Trotz der genannten Parallelen ist der Begriff Leib nicht so sehr von der Opposition her zu erschließen, sondern von der Position (während die Liturgie dann die für Stählin entscheidende Konkretion von Kirche und Theologie darstellt). Der Terminus "Leben" ist grundlegend theologie- und ideologiekritisch. Beim "Leib" hingegen steht die Gestaltwerdung bzw. die Gestaltung des Glaubens und der Kirche im Vordergrund. In der Liturgie sieht Stählin dann zunehmend die Identität der Praktischen Theologie. 1 Das Positive bzw. Positionelle an Stählins Leibbegriff besteht in einer dreifachen Verbindung von jeweils zwei Denkhorizonten: - "Leib" ist für Stählin eine Kategorie, die die von der Jugendbewegung wie auch die von der Michaelsbruderschaft geprägte Zeit bestimmt (biographische Verbindung). - Der entscheidende Akzent Stählins liegt auf dem Versuch, die Leiblichkeit des Menschen und den Leib Christi zusammenzudenken (theologische Verbindung).
1 Vgl. dazu schon an dieser Stelle die in Anhang 2 aufgelisteten Praktisch-theologischen Lehrveranstaltungen Stählins an der Fakultät Münster; bereits ab 1926 liegt das Schwergewicht des Angebots auf Gottesdienst, Kirchenjahr und Kirchenmusik.
150
4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
- Am Leibphänomen zeigt Stählin sowohl das Einzelleben des Menschen wie seine naturhaften und menschlichen Zusammenhänge auf (Verbindung von Individualität und Sozialität). Die Gliederung der folgenden Darstellung geht von der entscheidenden theologischen Verbindung von Leib und Leib Christi aus und steht unter der doppelten Leitfrage: - Worin besteht der Zugewinn beim Verstehen menschlicher Leiblichkeit, wenn diese in Verbindung mit dem Leib Christi (bzw. von diesem her) gesehen wird? - Worin besteht der Zugewinn bei der Gestaltung von Kirche in der Welt, wenn die Leiblichkeit der Menschen im Leib Christi besonders herausgestellt wird? Dem theologischen Denkweg Stählins entsprechend soll nun zunächst seine Sicht des Leibes, dann diejenige des Leibes Christi beschrieben werden. Dabei soll jeweils die andere Seite so weit wie möglich berücksichtigt werden, um die theologische Verbindung im Leibbegriff in den Vordergrund zu rücken. Die biographische Verbindung im Leben Stählins ist Voraussetzung, die Verbindung von Individualität und Sozialität wird aus den darzustellenden Schriften Stählins deutlich hervorgehen. Zuvor ist aber noch der Begriff der "Form" zu analysieren, weil er in der Hauptschrift "Vom Sinn des Leibes" eine wichtige Rolle spielt und darüber hinaus auch sonst in sehr verschiedenen Kontexten begegnet (und zugleich für Stählins Zuwendung zur Liturgie zentral ist).
4.3.1. Form Die frühe Jugendbewegung (Wandervogel) hatte gegen die gesellschaftlichen Sitten die Unmittelbarkeit menschlichen Lebens gesetzt und war von daher eminent konventions- und formkritisch. Dies betraf Umgangsformen, Kleidung, Genußmittel (Alkohol- und Tabakabstinenz gegen die Sitten z.B. in studentischen Verbindungen) und die Bestimmung des Alltags durch Institutionen (Familie, Schule und Kirche). Gegen gesellschaftliche Norm und Form wurden eigene Bestimmung und Verantwortung sowie innere Wahrhaftigkeit und Freiheit gesetzt 2 , also Prinzipien von Individualisierung, wie es in heutiger Terminologie heißen würde. 2 Vgl. die berühmte Meißner-Formel von 1913: "Die freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung vor eigener Verantwortung mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein." (Zitiert nach Hermann GIESECKE, Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend, München 1981, S. 22.) H. Giesecke urteilt im übrigen, diese Formel habe "kein Programm, sondern eher ein Lebensgefühl zum Ausdruck" gebracht (ebd.). Demgegenüber meint Frank TROMMLER, Mission ohne Ziel, 1985, S. 37, angesichts damaliger allgemeiner Parolen sei die Meißner-Formel gar nicht so abstrakt: Es ging "um die Schaffung ei-
4.3. Leib
151
Insofern nimmt Stählin eine klare Kehrtwendung vor, wenn er 1922 ein längeres Kapitel "Der Wille zur Form" in "Fieber und Heil in der Jugendbewegung" schreibt. 3 Stählin kritisiert: "[...] diese natürliche Auflehnung gegen die Form als solche ist heute in den Kreisen, die zu der Jugendbewegung gehören, ganz ungeheuer gesteigert und verbunden mit einem leidenschaftlichen Wahrheitsfanatismus. Ihr wollt ganz echt sein und habt eine große Angst, eure Wahrhaftigkeit zu beflecken durch irgendwelche Formen, [...] Lange Hosen und steifer Kragen, [...] der Briefstil mit seinen üblichen Anreden und Schlußformeln, die Satzungen eines eingetragenen Vereins und die parlamentarische Ordnung einer Versammlung, [...] Symbole des religiösen Kultus wie Händefalten, Knien oder der feierliche Rhythmus einer Liturgie - alle diese, in sich so verschiedenartigen Dinge sind euch unerträglich, [ ...]."< Stählin wirft der Jugend vor, im Negativen verhaftet zu bleiben: Man werfe alle Formen einfach beiseite, ohne neue an ihre Stelle setzen zu können. Die Formlosigkeit habe zwar die edle Wurzel in "der ernsten Verantwortung vor dem eigenen Ich" 5 , aber tatsächlich sei der alte Wandervogel an der Unfähigkeit zur Gemeinschaft und an der Formlosigkeit zerbrochen. In grundsätzlicher Übereinstimmung mit der Institutionenkritik und der Tendenz zur Individualisierung kritisiert Stählin nun doch beide und appelliert an einen neuen Willen zur Form, denn: "Das hohe und strenge Bild der eigenen Verantwortung ist für sehr viele zu einem Aushängeschild ihrer rücksichtslosen Selbstsucht geworden." 6 Ohne Formen und Institutionen 7 bleibe nur Individualismus und Egoismus. Gerade das propagierte unmittelbare Leben brauche die Form. Hier ist auf
3 4 5 6 7
nes Identifikationscodes, mit dem man sich jenen des Nationalismus und Sozialismus bzw. der Parteien entzog und sein Andersseinwollen öffentlich signalisierte." Stählin warnt vor der Überschätzung der Formel: Rückblick nach SO Jahren: Was bleibt, 1980 [1963], S. 15 f. Fieber und Heil in der Jugendbewegung, 1922, S. 26-37. A.a.O., S. 26 f. A.a.O., S. 37. A.a.O., S. 38. Hier liegt ein Grundproblem der Ekklesiologie, welche sich in dieser Welt notwendig zwischen den Extremen von Überschätzung und Verachtung der Institutionen und Formen bewegt. Schon für die paulinische Ekklesiologie ist dies von Ernst Käsemann in der Spannung von "Schwärmertum" und "Frühkatholizismus" beschrieben worden. Käsemann setzt den paulinischen Charismenbegriff gegen den frühkatholischen Amtsbegriff, schließt jedoch mit den skeptischen Fragen: "[...] kann man das allgemeine Priestertum aller Gläubigen proklamieren und üben, ohne alsbald dem
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
das zu "Leben" Ausgeführte aus dem Kapitel "Der Wille zur Form" zu verweisen: Mit dem Begriff der "Form" gelingt Stählin die Aufnahme des Impulses der Jugendbewegung, indem er die Berufung auf Leben und Leib weiterführt zum neuen Leben im Leib Christi, der seine Gestalt vornehmlich in der Liturgie hat. Der Geist braucht Form, wobei hier wie im Neuen Testament 8 der Geist des Menschen und der Geist des Herrn zugleich gemeint sind: '"Leiblichkeit ist das Ende aller Wege Gottes', das ist, theologisch ausgedrückt, der Glaube an den ewigen Weg des Geistes zur Form. Nur der Wille zur Form bewahrt die Seele vor einer gänzlich unfruchtbaren 'Innerlichkeit' und den Geist vor dem Nebel mystischer Gefühle und Erlebnisse und sich selbst geniessender Träumereien. - Dem Menschen, der nur 'geistig' leben will, und der nicht vor allem seinen eigenen Leib zu einem Ausdruck und Gefäß der geistigen und sittlichen Würde geweiht hat, ist auch in seinen geistigen Ideen nicht zu trennen [sie, richtig wahrscheinlich : nicht zu trauen]".9 Für Stählin ist der Leib die Form menschlichen Geistes und der Leib Christi Form des Geistes Christi. Beide Gedanken sind mit dem Begriff der Form und mit dem später wiederkehrenden OETINGER-Zitat "Leiblichkeit ist das Ende aller Wege Gottes" 10 zum Ausdruck gebracht. Im Berneuchener Buch 1926 ist ein Teil (II, 2) mit dem Titel "Evangelische Form" überschrieben 11 und enthält die Punkte: 1. Das Gleichnis, 2. Der Kultus, 3. Der Bau der Gemeinde. (Zum Gleichnisbegriff s.o. Abschnitt 4.2.2.) Ersetzt man im Berneuchener Buch die Überschrift "1. Das Gleichnis" durch "1. Der Leib",
8
9 10
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religiösen Individualismus zu verfallen und Kirche als Kirche preiszugeben? [...] Sollte es so sein, daß Paulus, der Zeit seines Lebens das Schwärmertum bekämpft hat, kirchliche Tradition nicht zu begründen, sondern nur zu zersetzen vermag, weil er den Christen und die kirchliche Gemeinschaft überfordert und darum doch auch seinerseits zum Schwärmertum anleitet?" (Ernst KÄSEMANN, Amt und Gemeinde im Neuen Testament, 1970 [1949], S. 134.) Der Geist Gottes ist als αγιον πνεύμα vom menschlichen πνεύμα zu unterscheiden. Als anthropologischer Begriff meint πνεύμα etwa bei Paulus nicht ein höheres Prinzip, sondern einfach das Ich des Menschen (vgl. Rudolf BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, 1977 [1958], S. 206 ff.). Fieber und Heil in der Jugendbewegung, 1922, S. 33. Religionsunterricht für Erwachsene Nürnberg 1923/24, S. 52. - Das Zitat (s. auch oben S. 81) lautet präzise: "Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes, wie aus der Stadt Gottes klar erhellet Offenb. 20." (F. Chr. OETINGER, Biblisches und Emblematisches Wörterbuch, 1776, S. 407.) Martin Brecht danke ich für den Hinweis auf den Fundort. Vgl. auch Murrhardter Evangelienpredigten, 6 1973 [1780], S. 27. Stählins Form des Zitats findet sich ohne Quellenangabe auch bei Karl BARTH, KD I, 1, S. 138 und KD II, 1, S. 300. Offensichtlich handelte es sich um eine Art Bonmot. Das Berneuchener Buch, 1926, S. 97-134.
4.3. Leib
153
dann wird deutlich, daß hier im wesentlichen das von Stählin 1922 in "Schicksal und Sinn der deutschen Jugend" (und später in "Vom Sinn des Leibes", 1930) Ausgeführte wieder begegnet. Der Begriff "Form" umgreift damit wie bei Stählin den Leib des Menschen, den Leib Christi und die Liturgie der Kirche. Auch hier wird bestritten, daß die Formlosigkeit die Lebendigkeit fördere: "Die Formlosigkeit soll die Innerlichkeit und Lebendigkeit gegen jede Erstarrung sichern, aber sie pflegt dabei nur die schlechte Form, nämlich die Form des selbstherrlichen Individuums und der Willkür, die sich jeder festen Bindung entziehen." 12 Der Schwerpunkt bei den Begriffen der Form und des Leibes liegt - aufgrund des Inhaltes des Buches ("Vom Anspruch des Evangeliums auf die Kirchen der Reformation") - auf kirchlichen Formen und Gestaltungsaufgaben. Durch die Begrifflichkeit ist aber die Leiblichkeit des Menschen überhaupt mit angesprochen. Hier ist der Ertrag der Jugendbewegung eindeutig greifbar: "Alle irdische Wirklichkeit aber ist leibhaft; der Geist wird wirklich nur, indem er seinen Leib schafft. Leib aber ist gestaltetes Sein; Form zu haben und Form zu sein gehört zum Wesen des Leibes. Jedes Handeln ist ein Gestalt-geben, jede Entwicklung ein Werden und Sich-wandeln von Gestalten. Darum ist das Ringen um die Form eine notwendige unentbehrliche Seite der Aufgabe, die uns aus dem Evangelium selbst erwächst." 13 Trotz des ekklesiologischen Kontextes sind hier auch anthropologische Phänomene mit dem Begriff "Leib" angesprochen. "Gestalt-geben" und "Sichwandeln von Gestalten" bezeichnen dabei aktive und passive Anteile, die einander durchdringen. Diese Denkfigur ist für Stählins Schriften ebenfalls leitend: Die Form ist vorgegebene Gestalt wie Gestaltungsaufgabe zugleich, und dies trifft auf den Leib des Menschen wie auf die Kirche zu. Der Mensch soll seinen Leib als vom Schöpfer gestaltete Form und als Gestaltungsaufgabe zugleich ansehen. Damit entfallen sowohl ein dinglich-instrumentelles Verständnis wie eine romantische Überhöhung des Leibes. Ebenso ist die Kirche mit ihrer Liturgie sowohl vorgegebene, sich wandelnde Form und Gestalt als auch Gestaltungsaufgabe. Damit ist einem geschichtslosen Gegenwarts-Aktivismus und einem historisierenden Traditionalismus in bezug auf kirchliche Form widersprochen. Hier liegt ein gedanklicher Zugewinn in der zweifachen Verwendung des Leibbegriffes: Auch die kirchliche Form ist lebendiges, gewachsenes Gegenüber wie der eigene Leib, auch der Leib ist eine im Glauben zu gestaltende Form wie die Liturgie. 12 A.a.O., S. 97. 13 A.a.O., S. 97 f.
154
4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
So ist einer der zentralen Abschnitte in der Hauptschrift Vom Sinn des Leibes überschrieben mit "Der Leib als Form".14 Hier bezeichnet der Begriff Form die individuelle Komponente menschlicher Leiblichkeit, während die soziale Komponente unter der Überschrift "Der Leib als Glied" steht.15 Das heißt konkret: "Mein Leib ist die Form meines individuellen Daseins."16 "[Mein Leib] ist nicht nur die Form meines Daseins, sondern er ist zugleich das Band, durch das ich mit dem Ganzen der irdischen Wirklichkeit verbunden bin."17 Der Leib des Menschen ist eine zu gestaltende Form und eine einmalig geformte Gestalt zugleich. Er ist mehr als nur Lebensmittel, Material; "der Leib ist gerade der Ort und die Form, in der der Sinn des Lebens offenbar werden will."18 Entsprechend dem ekklesiologischen Ineinander von Form und Formung, von Gestalt und Gestaltung heißt es nun zusammenfassend über den Leib im anthropologischen Sinne: "Der Leib ist die Form des Menschen; darum kann durch leibliche Übung der Mensch selber geformt und gebildet werden. Aber in dem eigensten Wesen des Leibes liegt die Warnung vor der Gefahr dieses Weges. Leicht gewöhnt sich der Mensch an feste Form und wird durch solche feste Form geprägt nach der erwünschten Regel und Norm. [...] Aber jeder Menschenleib ist ein Einmaliges und Unvergleichbares, [...] es ist eine bleibende Aufgabe, die dem
14 Vom Sinn des Leibes, 3 1952, S. 58-76. Zitiert wird im folgenden in der Regel nach der dritten Auflage, da sie am ausführlichsten ist und das Gegenwartsinteresse zudem eher an der im Abstand von der Jugendbewegung vorgelegten Fassung haftet als an der frühen Fassung von 1930. Die zwei Vorkriegsauflagen sollen aber mit herangezogen werden, vgl. dazu die Synopse. 15 A.a.O., S. 77-89. 16 A.a.O., S. 58. 17 A.a.O., S. 77. 18 A.a.O., S. 55. Hier ist auch an die aristotelische Unterscheidung von Form und Materie zu denken, in der die Wesenheit als Wirklichkeitsprinzip (Form) und das sinnlich Wahrnehmbare (Materie) gegenübergestellt sind. Zwar rekurriert Stählin nirgends hierauf, von daher ergäbe sich aber eine (im philosophischen Sinne) metaphysische Qualität des Leibes als intelligibles Prinzip (als "Form"). Für Aristoteles ist die Form "das innere Prinzip der Bewegung, durch das die Seienden zu ihrer Vollendung hinstreben [...]; durch sie erfüllen die Seienden ihre Lebensfunktionen und erheben sich schließlich durch das Denken zu göttlichem Tun. Die Form ist die Natur, sie ist die Seele." (Charles WERNER, Die Philosophie der Griechen, 1966, S. 123.)
4.3. Leib
155
Leben eingewurzelt ist: Der Leib als Form, als Form eines einmaligen, eigentümlichen und nie wiederholten Menschenlebens." 19 Der Begriff der Form leistet im ganzen also in der Tat etwas für die theologische Verbindung von Anthropologie und Ekklesiologie, wie sie durch die zweifache Bedeutung des Leibbegriffes gegeben ist. Der Zugewinn besteht in der anderen Sicht kirchlicher Gestaltung. Es gehört nach Stählin zum geistlichen Leben, der Formfrage einen wichtigen Platz einzuräumen. 20 Dies stellt eine entscheidende praktisch-theologische Maxime mit unmittelbaren Auswirkungen für die Ausbildung zum Pfarramt dar.
4.3.2. Relationen des Leibes - Übung des Leibes Form und Formung des Leibes, Gestalt und Gestaltung des Leibes bestimmen auch das Buch "Vom Sinn des Leibes" als grundlegende Denkbewegungen. Dies läßt sich in der Gliederung deutlich erkennen (s. die nachfolgende Übersicht). Der Leib als gegebene Form und Gestalt des Menschen ist der konkrete Ort, an welchem die Relationen des Menschseins erfahrbar werden: die Relation zur Natur ("Der Leib als irdische Wirklichkeit" sowie "Der naturhafte Zusammenhang" im Abschnitt "Der Leib als Glied" 21 ), die Relation zu anderen Menschen ("Der menschliche Zusammenhang" im Abschnitt "Der Leib als Glied"), die Relation zu Gott (Kap. III "Der Leib als Gleichnis").
19 Vom Sinn des Leibes, 3 1952, S. 76. In der ersten Auflage 1930 war in dem Abschnitt "Der Leib als individuelle Form" (S. 56-68) noch konkreter von Körpersprache, tänzerischem Ausdruck und leiblicher Übung die Rede. Selbst die Warnung vor übertriebener Formung leiblichen Ausdrucks klang damals noch sehr viel euphorischer: "Darum darf es ja nicht der eigentliche Sinn dieser leiblichen Lockerung sein, daß wir nun uns ganz und gar leiblich ausdrücken und aussprechen, sondern vielmehr, daß wir Gehorsam lernen gegen die tiefen Ordnungen und Gesetze des Lebens selbst, daß wir auf den inneren Rhythmus unseres Leibes lauschen lernen, [...]" (a.a.O., S. 68). Hier deutet sich die Ambivalenz des Formbegriffs nur schwach an und der metaphysische, optimistische Lebensbegriff der Jugendbewegung klingt nach. In der zweiten Auflage 1934 findet sich dann exakt der gleiche Schlußabsatz wie der hier zitierte von 1952. 20 Dazu s. auch: Die Bedeutung der Form für das geistliche Leben, 1938. Hier ist sowohl von der Notwendigkeit der Form als auch von der Grenze der Form die Rede ("Form ist innerweltlich, darum vergänglich und sündhaft.", S. 4). 21 In der dritten Auflage 1952 ist die Relation zur Natur in den Abschnitt 11,2 "Der Leib als Glied" eingearbeitet, so daß sich ein noch deutlicheres Gegenüber von Individuum und Beziehungen ergibt ("1. Der Leib als Form. 2. Der Leib als Glied"). Hier fehlt der einleitende Abschnitt "Der Leib als irdische Wirklichkeit".
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Die drei Auflagen "Vom Sinn des Leibes" (1930, 1934, 1952) im Überblick Bibliographische Angaben
Gliederung
Besondere Akzente/Bedeutung für die Praktische Theologie
1. Auflage Stuttgart 1930, 126 S. (= Wege zur Wahrheit, Evangelische Antworten auf Gegenwartsfragen, hrsg. von H. Waldenmaier in Verbindung mit K. Dick, Karl Heim, Walter Künneth, K. Schweitzer, Bd. 2)
I Die Möglichkeiten (12-50) Der Leib als Werkzeug/als Feind/als der eigentliche Mensch II Der Sinn des Leibes (51-80) Der Leib als irdische Wirklichkeit/als individuelle Form/als Glied III Der Leib als Gleichnis (81-117) Die Doppelsinnigkeit des Leibes/Der Leib in der christlichen Botschaft/Der Leib als Bekenntnis IV Körperkultur? (118-124)
Kritische Auseinandersetzung mit der Körperkultur der Jugendbewegung: Kap. I und IV Relationalität des Leibes - Naturbeziehung ("irdische Wirklichkeit"): Kap. 11,1 - Individualität ("Form") und Sozialität ("Glied"): Kap. II, 2.5. Gottesbeziehung ("Leib als Gleichnis"): Kap. III - Atmen, Essen, Trinken als Konkretionen des Zusammenhangs von Natur, Leib und Liturgie: Kap. II, 3
2. Auflage Stuttgart 1934, 175 S. (= Wege zur Wahrheit, Evangelische Antworten auf Gegenwartsfragen, hrsg. von H. Waldenmaier in Verbindung mit Karl Heim, Walter Künneth, K. Schweitzer, Bd. 2)
I Der Widerstreit der Meinungen (16-55) Der Leib als Werkzeug/als Feind/als der ei- - Relationalität (s.o.) gentliche Mensch II Der Sinn des Leibes (56-87) Der Leib als irdische Wirklichkeit/als Form/als - Leibliche Übung als eine MögGlied lichkeit "Evangelischer Exerzitien" III Der Leib als Gleichnis (88-131) Das Gleichnis/Die Doppelsinnigkeit des Leibes/Der Leib in der christlichen Botschaft/Der Leib als Bekenntnis Leibliche Übung (132-172) Grundlegung/Beispiele: Hemmung und Lösung, Hinwendung und Verschlossenheit, Selbstbehauptung und Hingabe/Schluß
3. Auflage Stuttgart I Der Widerstreit der Meinungen (14-51) 1952, 173 S. (ohne Der Leib als Feind/als der eigentliche Reihenzugehörigkeit) Mensch/als Werkzeug - Relationalität (s.o.) II Der Sinn des Leibes (52-89) Der Leib als Form/Der Leib als Glied III Der Leib als Gleichnis (90-136) - Die Einheit geistlichen und leibliDas Gleichnis/Die Doppelsinnigkeit des Lei- chen Lebens bes/Der Leib in der christlichen Botschaft/Leibhaftes Bekenntnis IV Leibliche, geistliche Übung (137-172) Grundlegung/Beispiele: Spannung und Lösung, Hinwendung und Verschlossenheit, Selbstbehauptung und Hingabe/SchluB
4.3. Leib
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Schon aus dieser Aufzählung der Relationen ergibt sich, daß der im Abschnitt 4.2.2. kritisierte Begriff "Gleichnis" mindestens an dieser Stelle überflüssig ist. Ohne den Gleichnisbegriff käme der Gedankengang sogar klarer zum Ausdruck: Relation des menschlichen Leibes Überschrift Stählins: zu: Der Leib als Form sich selbst Natur/Schöpfung Der Leib als Glied - der naturhafte Zusammenhang anderen Der Leib als Glied - der menschliche Zusammenhang Der Leib als Gleichnis Gott Die Formung und Gestaltung des Leibes werden vor allem in dem Schlußkapitel behandelt, das Stählin für die zweite Auflage neu verfaßt hatte (während in der ersten Auflage nur ein kurzer Schlußabschnitt zur Auseinandersetzung mit der Forderung nach "Körperkultur" gestanden hatte). Die folgende Darstellung der Schlüsselkategorie "Leib" bei Stählin wird sich an die im Abschnitt "Form" erhobene zweifache Denkbewegung anlehnen und zunächst die Relationen des Leibes, danach die Übung des Leibes entfalten. Dabei wird von der Hauptschrift Vom Sinn des Leibes ausgegangen und innerhalb der Unterpunkte jeweils auf die eine oder andere weitere Äußerung Stählins Bezug genommen.
Der Leib und die Relation des Menschen zu sich selbst Da Stählin für diese Relation die Überschrift "Der Leib als Form" wählt, sind hier nunmehr die Ausfuhrungen des einleitenden Abschnitts über die Form zu spezifizieren. Stählin ist für seine theologische Deutung des Leibes vom eigenen Erleben im Rahmen der Jugendbewegung ausgegangen. Hier ging es um "[...] ein ganz elementares Ergriffensein von dem Schicksal des leiblichen und leibhaften Menschentums und ein freudiges, jubelndes, besinnungsloses Ja zu diesem Schicksal, einen Leib zu haben, ein Leib zu sein. Wer dieses Erleben nicht selbst als sein eigenes Schicksal erfahren hat, kann sich kaum vorstellen, wie sehr dadurch das ganze Lebensgefuhl verändert wird." 22
22 Schicksal und Sinn der deutschen Jugend, 1926, S. 45.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlttsselkategorien
Dieser positive Ausgangspunkt ist der Anfang der späteren differenzierten theologischen Deutung. An dieser Stelle 23 bezieht Stählin sich auf die beiden Schriften von Max T E P P : Vom Sinn des Körpers, 1920 und Die Vernunft des Leibes, 1922. In diesen Schriften sind der optimistische Leibbegriff und eine euphorische Sicht der Leiblichkeit unmittelbar greifbar. Die Nietzsche-Begeisterung der Jugendbewegung - allerdings ohne Bezug auf Nietzsches Akzente von Schmerz und Krankheit des Leibes 24 - hat Max Tepp zweifellos die Feder geführt. Der Sinn des Körpers bringt als Vorrede die vierte der Reden Zarathustras "Von den Verächtern des Leibes". 25 Statt der Gleichsetzung von Sprechen und Denken plädiert Tepp für ein Denken mit dem Körper 26 , für "das heilige Wollen des Körpers" 27 , das er vor allem im religiösen Tanz verwirklicht sieht. 28 In der zweiten Schrift Von der Vernunft des Leibes sind diese Gedanken noch entschieden breiter - auf 101 eng bedruckten Seiten - niedergelegt. Als "Vernunft des Leibes" werden u.a. Atmung, Erröten, Schlaf, Erregung beschrieben, also psychosomatische Zusammenhänge. Eine besondere Rolle spielt die Körpersprache. 29 Dem Leib, nicht dem Geist eignet nach Tepp eine ontologische Qualität: "Die Geburt des Schöpferischen geschieht aus der Vernunft des Leibes, nicht aus dem Bewußtseinskreis des Geistigen, Intellektuellen." 30 In der modernen (Großstadt-)Kultur werde die Vernunft des 23 A.a.O., S. 46. 24 S. dazu oben den Zwischenschritt zu "Leben" und Lebensphilosophie im Abschnitt 4.1. 25 Max TEPP, Vom Sinn des Körpers, 1920, S. 3-5. 26 Max TEPP, a.a.O., S. 8 Dazu paßt das von Yorick SPIEGEL, Bilder vom neu erstandenen Leben, 1984, S. 7 zitierte Wort: "Think with your body and dance with your mind", dessen Quelle Spiegel mit "Aus der therapeutischen Szene" angibt. 27 Max TEPP, a.a.O., S. 19. 28 Vgl. a.a.O., S. 21: der Tanz "wird als eine religiöse Kraft das Flehen der Menschen wandeln zum Glauben. Tanz ist Gebet." 1922 erschien auch Tepps Schrift Tanz. Ein Bekenntnis zum Menschen. Dort lauten die Schlußsätze (S. 16): "Der uralte Mythos vom sterbenden und wieder auferstandenen Gott, der in Christus und im Ursinn des Dramas lebt, muß auch in uns wieder lebendig werden. Wir gehen unter in der Gerechtigkeit und werden wieder auferstehen in der Liebe: Rhythmus. Flamme steige empor, daß du mich verbrennst." Hier drängt sich der bereits zitierte Satz auf: "Wer aber den Taumel in Nietzscheschen Abgründen als Rausch genießt, ist schon auf dem Trip in Richtung Katastrophe." (Christoph TÜRCKE, Der tolle Mensch, 1989, S. 7.) 29 "[...] du wirst den Redner besser verstehen, oder gar ihn durchschauen, wenn du ihn nicht hörst (nicht den Vokabeln, wohl dem Klange nach), sondern ihm zusiehst." (Max TEPP, Die Vernunft des Leibes, 1922, S. 6.) 30 A.a.O., S. 11. Hier gibt es gewisse Parallelen zum lebensphilosophischen Ansatz von Ludwig KLAGES (1872-1956), für den der Geist das schlechthin lebensfeindliche Prinzip war (s. den Titel des Hauptwerkes: Der Geist als Widersacher der Seele, 3 Bde., Leipzig 1929-1933). Schon früher hatte sich Klages mit der Frage des Aus-
4.3. Leib
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Leibes unterdrückt zugunsten von sekundären Fähigkeiten. 31 Stattdessen ruft Tepp die Leser emphatisch auf: "Es wird Zeit, daß wir wieder mit dem Leibe denken lernten! [...] Alles nicht mit dem Körper gedachte ist Gebärde ohne Kraft." 32 Inhalt wie Titel von Stählins Buch Vom Sinn des Leibes zeigen, daß er bei der Abfassung von den Schriften Max Tepps ausgegangen ist. Für ein theologisches Buch - zumal aus dem Jahre 1930! - sind sowohl der Titel als auch der Inhalt äußerst ungewöhnlich, und zu Recht hat Ludwig HEITMANN es als Beispiel dafür gewertet, daß richtige Theologie praktische Theologie sei.33 Anders als Max Tepp jedoch schreibt Stählin kein begeistertes Bekenntnis zur Leiblichkeit. Vielmehr werden im Teil I drei verschiedene Möglichkeiten, sich zu seinem eigenen Leib zu verhalten, gleichermaßen als Irrwege skizziert: Der Leib kann als Werkzeug, als Feind oder als der eigentliche Mensch angesehen werden. Wenn der Mensch seinen Leib als Feind betrachtet, dann bedeutet das: "Es wird zur Ehrensache und erhöht das Gefühl des eigenen Wertes, aus dem Körper das Letzte an Kraft und Leistung herauszuholen und ihm dabei so wenig als möglich Beachtung zu schenken, [...] Es gilt, sich körperliche Gesundheit und Kraft zu erhalten, Müdigkeit zu überwinden und Schmerzen zu ertragen, es gilt Hunger und Durst auszuhalten und erst recht der sexuellen Begehrlichkeit unnachgiebig zu widerstehen und dabei von alledem möglichst wenig zu reden. [...] der Leib soll behandelt werden, wie ein Weißer in den Kolonien seinen eingeborenen Diener behandelt: er ist gerecht, nicht unfreundlich und unbillig, [...] aber
drucks beschäftigt (Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, Leipzig 1913). Der Name Klages wird von Tepp ohne nähere Beschreibung am Rande erwähnt (a.a.O., S. 9: "Klages ist in seinen Schriften tote Wissenschaft geworden."). 31 A.a.O., S. 32: "Von Jugend an wird die kleine Vernunft gepäppelt, gestärkt, nach ihr wird ausgelesen, gesondert und ist doch die dümmste Auslese der Welt. Die Vernunft des Leibes wird unterdrückt, bis sie zur Dirne wird, [...]." Daraus folgt: "Schulen, Parlamente, Vereine sind Einrichtungen der kleinen Vernunft und eitel Dekoration wie ein Jahrmarktsorden. Die Vernunft des Leibes hat andere Organe: Ehe, Freundschaft, Kameradschaft." (S. 38 f.) Auch über Luther heißt es: "Die Vernunft des Leibes ergreift ihn; er ist willenlos. Hier stehe ich, ich kann nicht anders, [...]" (S. 51). 32 A.a.O., S. 90. 33 Ludwig HEITMANN, Rezension zu "Vom Sinn des Leibes", in: EV. Jugendführung 3/1931, S. 29 f., zitiert nach Erich NESTLER, Der Beitrag Wilhelm Stählins zur Jugendbewegung, 1986, S. 133.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlttsselkategorien
[...] er wahrt seinen Abstand und hütet sich wohl, sich mit ihm auf gleich und gleich zu stellen f . . .] ."34 Zu Recht wird diese leibfeindliche Grundanschauung auf die ausgehende Antike zurückgeführt, die besonders im geschlechtlichen Leben die gefährliche Macht des Leibes "wie in einem Hauptquartier konzentriert" 35 gesehen hatte. Von hier werden die Linien über Gnosis und Kirchengeschichte bis in die Gegenwart gezogen: gegenüber den in bürgerlicher Ordnung "mit einem heimlichen schlechten Gewissen" befriedigten "sexuellen Bedürfnissen" habe die Sinnlichkeit und Leibesverherrlichung des "alten und neuen Heidentums" etwas Gesünderes und Heilsameres. 36 Aber auch der Verherrlichung des Leibes ("Der Leib als der eigentliche Mensch") wird eine klare Absage erteilt. Hier sind in den drei Auflagen die Akzente zeitbedingt unterschiedlich gesetzt. 1930 bildet das Gegenüber die emphatische Sicht des Leibes, wie sie exemplarisch bei Max Tepp begegnete. Stählin kritisiert: "Man schaut sich um nach den Einfallstoren, durch die das Göttliche hineinströmt in unser menschliches Dasein. Daß die verfluchte ratio nicht den Weg zu Gott eröffnet, das pfeifen die Spatzen von den Dächern, und jeder blasierte Jüngling, jede überkultivierte höhere Tochter rechtfertigt damit die eigene Denkfaulheit. Da wird der Leib neu entdeckt als der eigentliche Tempel der Gottheit, der Kultus des Leibes als der moderne Mysterienkult, durch den der Mensch göttlicher Kräfte teilhaftig wird." 37 In der zweiten Auflage 1934 hingegen steht die Auseinandersetzung mit der deutschchristlichen Theologie als Form von Leibverherrlichung im Vordergrund. Dem Enthusiasmus des schönen Leibes hätten stets nur wenige angehangen (wie Stefan GEORGE), "aber dem Kultus des Blutes und der Rasse strömen Tausende und aber Tausende zu." 38 Kirche und Christentum zögen daraus die falsche Konsequenz: "Und schließen nicht heute unzählige Vertreter der Kirche, aus einem Extrem ins andere fallend, einen heimlich-offenen Bund mit
34 Vom Sinn des Leibes, 3 1952, S. 19, nahezu wörtlich übereinstimmend mit '1930, S. 24 und 2 1934, S. 27 f. 35 Vom Sinn des Leibes, 3 1952, S. 21 = '1930, S. 26 = 2 1934, S. 30. Im folgenden werden nur Auflage/Jahr und Seite als Nachweise angegeben. Das Zitat im Text jeweils genau nach der dritten Auflage von 1952. 36 3 1952, S. 31 = ^930, S. 38 = 2 1934, S. 41. 37 '1930, S. 47. Es erscheint nicht ganz abwegig, in dem gegenwärtigen Boom der Sehnsucht nach "Ganzheitlichkeit" eine aktuelle Parallele zu sehen. 38 2 1934, S. 53.
4.3. Leib
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dem heidnisch-frommen Glauben an die göttliche Würde der Rasse?" 39 In der dritten Auflage 1952 wird sowohl auf die Leibverherrlichung durch NIETZSCHE40 als auch durch Stefan GEORGE41 bereits wie auf ferne Vergangenheit zurückgeblickt. Und überraschend selbstkritisch fällt Stählins Erinnerung an die Zeit des "3. Reiches" aus (trotz der deutlichen Worte in der zweiten Auflage). Damals habe man "in dem Zusammenhang von Blut und Rasse Würde und Verantwortung des leiblichen Lebens gesucht und gefunden [...]. Heute sehen wir nüchterner und deutlicher, als es damals den meisten unter uns erkennbar war, daß damit die in ihrem Kern materialistische Denkweise keineswegs überwunden, sondern nur sozusagen in einem anderen Maßstab entfaltet [...] war." 42 Ebenso wie die Leibfeindlichkeit und die Leibverherrlichung wird schließlich in allen drei Auflagen auch die Sicht vom "Leib als Werkzeug" kritisiert. Hier werde der Leib auf seine medizinischen Funktionen reduziert, für welche lediglich ärztliches Fachwissen benötigt werde. Der Arzt gelte als der Sachverständige des Lebens, einzig dessen Rat befolgt werde; in allen anderen Lebensfragen fühle sich der moderne Mensch berechtigt, "auf eigene Faust drauflos zu stümpern". 43 Die Schlaglichter auf die Akzentuierungen der drei Auflagen zeigen, daß Stählin mit seiner einleitenden negativen Analyse ein Schema entwickelt hat, das bis heute hilfreich ist, um unterschiedliche (christliche) Sichtweisen des Leibes zu beschreiben. In einer spätindustriellen Gesellschaft, die auf Warenfluß und Konsumtion angewiesen ist, tritt die Betrachtungsweise des Leibes als eines Feindes mehr und mehr in den Hintergrund (wenngleich das 39 2 1934, S. 55. 40 3 1952, S. 40: "Es ist der Kultus des Gottes Dionysos, der durch Nietzsches trunkene Hymnen die Seelen eines jungen Geschlechtes bezauberte; [...] Aber, so werden wir gefragt, ist dies alles nicht schon wieder gänzlich vergessen?" 41 3 1952, S. 40 f.: "Die Sache, nämlich die inbrünstige, gläubige, heidnisch-gläubige Verherrlichung des Leibes, ist nicht erstorben, auch wenn niemand mehr Stefan George läse. Denn Stefan George war der Künder und Sänger dieser neuen Gläubigkeit, die 'den Leib vergottet und den Gott verleibt'." Stählin bezieht sich auf G E O R G E S (1868-1933) Figur des Maximin aus dem Gedichtzyklus "Der siebente Ring" (Bd. VI/VII der Sämtlichen Werke in 18 Bänden): In diesem Text wird der mit 16 Jahren 1904 verstorbene Münchener Schüler Maximilian K R O N B E R G E R als Gott gefeiert. Dazu Michael W I N K L E R , Der Jugendbegriff im George-Kreis, 1985, S. 491: hier werde "die Erlösung durch die Jugend als dem Garanten der leiblichen Lebenswirklichkeit des Göttlichen verkündet." 42 3 1952, S. 38. 43 3 1952, S. 47. In der dritten Auflage steht der Abschnitt "Der Leib als Werkzeug" am Schluß von Teil I, wahrscheinlich als die damals geläufigste Sichtweise.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
moderne Schlankheitsideal bis hin zur Magersucht/Bulimie und die neue Fastenmode klar erkennbare Anteile neuer Leibfeindlichkeit haben). Gegenwärtig fordert eine entstandardisierte Erwerbsarbeit44 zunehmende Flexibilität und Kompatibilität des Einzelnen: somit ist die Sicht vom Leib als (möglichst multifunktionalem) Werkzeug eine Folge der modernen Produktion. Der hygienisch wie konsumtiv erforderliche Gegenpart im Reproduktionsbereich hat demgegenüber eine neue Welle von Leibverherrlichung zur Folge. Deren doppelter Charakter als Förderung von Gesundheit und als Konsumanreiz ist in der Werbung, aber auch in einem über alle Maße gesteigerten Bedürfnis nach gesunder Ernährung erkennbar.43 Somit gehört es zur Aufgabe gegenwärtiger Praktischer Theologie, mit Hilfe solcher Analysen in Predigt, Unterricht und Seelsorge Unterscheidungsmöglichkeiten anzubieten. Mindestens fur die ab Mitte der fünfziger Jahre Geborenen, die ihre Pubertät während und nach der "sexuellen Revolution" um 1970 erlebten, dürfte die Leibfeindlichkeit keine vordringliche Gefahr mehr darstellen. In dem Verlangen nach "Ganzheitlichkeit"46 droht eher eine theologische Überhöhung der Leiblichkeit, welche das Hygienum zum Heil hypostasiert. 47 Dies ist ohne Zweifel die große Gefahr feministischer Theologien. 48 Erst nach der Beschreibung der Irrwege im Verhältnis zur Leiblichkeit thematisiert nun Stählin unter der Überschrift "Der Leib als Form" die Relation des Menschen zu sich selbst. Hier weist die Reflexion der Leiblichkeit 44 Mit Ulrich BECK, Risikogesellschaft, 1986, S. 220-248. Seit Beginn der achtziger Jahre geht es nach Beck darum, den "systematisch produzierten Arbeitsmangel neu zu verteilen. " (A.a.O., S. 228, Hervorhebung dort.) 45 Dazu Vom Sinn des Leibes, 3 1952, S. 49: "Die Menschen sind gewiß nicht gesünder geworden, seit sie sich mit so viel nervöser Angst um ihre Gesundheit kümmern." 46 Es wäre eine wichtige Aufgabe, die verschiedenen Implikationen des epidemisch grassierenden Begriffes von "Ganzheitlichkeit" in der religionspädagogischen Gegenwartsliteratur zu differenzieren; dabei wird an hygienisch-anthropologische, methodisch-pädagogische und soteriologisch-theologische Momente zu denken sein. Vgl. dazu Michael KÜNNE, Ganzheitlich lernen?, 1992, S. 30-32. 47 Auch hierzu bereits Stählin in Vom Sinn des Leibes, '1930, S. 48: Der Mensch, "der wieder ganz das schöne Tier, ganz eins mit der Allmutter Natur geworden ist, hat er nicht, gerade er, erfahren, was Erlösung ist? [...] Ist das nicht wirklich eine der vielen Ersatzreligionen, in denen eine tiefe Sehnsucht nach Erlösung einen Ausweg sucht?" 48 Der von Elisabeth MOLTMANN-WENDEL, Das Land, wo Milch und Honig fließt, 1985, S. 155-169 zugrunde gelegte Satz "Ich bin gut. Ich bin ganz. Ich bin schön." birgt auf jeden Fall diese Gefahr in sich, der Moltmann-Wendel selbst (u.a. durch die Unterscheidung von männlicher und weiblicher Form der Sünde, a.a.O., S. 168 f.) jedoch nicht erliegt. Auch hier müßte präzise die Generation feministischer Theologinnen bedacht werden. Das Sündenverständnis bei den ab ca. 1955 geborenen Frauen wird noch einmal ganz anders sein als das der Generation von Moltmann-Wendel (geb. 1926), die gegenwärtig einen Großteil feministisch-theologischer Publikationen stellt.
4.3. Leib
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auf die Unvertretbarkeit des Menschen durch andere. Da der Mensch keinen Leib hat, sondern Leib ist49, gilt der bereits zitierte Satz: "Mein Leib ist die Form meines individuellen Daseins." 50 Leben gibt es nicht allgemein - hier verweist Stählin auf den Universalienstreit - , sondern jedes lebendige Wesen ist ein einzelnes: "es ist ein Einzelnes, weil es einen Leib hat." 51 Als Leib ist der Mensch für sich und geht nicht fließend in andere(s) über. Hier herrscht vielmehr das "große Gesetz der Individuation, dem alles Lebendige unterworfen ist." 52 Bereits der Leib als solcher führt dies vor Augen: "Gedanken mögen wir mit anderen teilen, 'im Geiste' mögen wir mit anderen völlig eins werden, aber gerade unser leibliches Leben müssen wir ganz und gar für uns leben. Hier tritt wirklich kein anderer für uns ein; kein anderer Mensch kann fur uns atmen, essen, verdauen, schlafen, nicht einmal sehen, hören, fühlen." 53 Diese Selbstverständlichkeit hat nun für Stählin (religions)pädagogische Konsequenzen. Er geht davon aus54, daß der Leib der Ausdruck des Wesens eines Menschen ist. (Um dies zu verdeutlichen, habe er Kinder gebeten, sich vorzustellen, mit anderen den Leib zu tauschen. 55 ) Hier stellt Stählin einige (u.a. von Max Tepp bereits beschriebene) Phänomene dar: die im Lebenslauf in ihrem Wesen gleichbleibende Körpersprache, Stimme und Handschrift; die Scham des Menschen, seinen nackten Leib vor anderen zu zeigen als Ausdruck der Scham, sein Verborgenes bloßzustellen (die Bemühung, an das Nacktsein zu gewöhnen, verkenne gerade das Geheimnis des Leibes) 56 ; die ungestörte Einheit des Inneren und Äußeren beim Kind, das noch nicht vornehmlich vom denkenden Verstand aus lebt (von Stählin als "Anmut" bezeichnet); die Unterdrückung individueller Körpersprache durch korrekt-uniformes sich-Benehmen und sich-Bewegen in Analogie zur Kleidung. Stählin zieht hieraus als erstes die Konsequenz, das Verhältnis des Menschen zu seiner individuellen Leiblichkeit und Ausdrucksfähigkeit bewußt zu 49 Dies entspricht paulinischer Redeweise: "der Mensch hat nicht ein σωμα, sondern er ist σωμα." (Rudolf BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, 1977, S. 195.) 50 Vom Sinn des Leibes, 3 1952, S. 58 = >1930, S. 56 = 2 1934, S. 61. 51 Ebd. 52 3 1952, S. 59 = ^930, S. 57 = 2 1934, S. 62. 53 3 1952, S. 59 = ! 1930, S. 58 = 2 1934, S. 63. 54 3 1952, S. 60-70 = >1930, S. 58-68 = 2 1934, S. 63-72. Die folgende Darstellung nach der dritten Auflage, wo die pädagogischen Konsequenzen in erweiterter Fassung vorliegen (S. 68-76). 55 In der literarischen Bearbeitung dieses Motivs hat Thomas MANN in seiner Erzählung "Die vertauschten Köpfe" aus dem Jahre 1940 gerade diese Problematik meisterhaft illustriert. 56 Vgl. dazu Ulf Erdmann ZIEGLER, Nackt unter Nackten, 1990. Hier handelt es sich also um eine explizite Kritik Stählins an der Nacktkultur innerhalb der Jugendbewegung, die sich bereits in der ersten Auflage findet ζ 1 1930, S. 62).
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
fördern. Ziel ist die "Anmut", bei der "die leibliche Form ganz von innen her, von einer lebendigen Seele" geprägt ist. 57 Darum ist es nötig, "die Ausdruckskraft des Leibes bewußt zu pflegen und zu üben und durch solche leibliche Übung auf den Menschen selbst zu wirken." 58 Damit ist Stählin bei dem Grundsatz angelangt, welcher für seine Sicht von Jugendarbeit, Religionspädagogik, Pfarrerausbildung und die liturgischer Bildung ab Mitte der zwanziger Jahre als typisch angesehen werden muß. Lange habe man geglaubt, daß man "einen Menschen 'erziehen', in seiner Entwicklung fördern, in seinem Gesamtleben klären und bilden könne nur dadurch, daß man sein Denken und durch das Denken seinen Willen beeinflußt. Aus den richtigen Gedanken und Erkenntnissen müßten dann mit innerer Notwendigkeit die richtigen Verhaltensweisen erwachsen. Gehört eine intellektualistische Pädagogik, welche von dieser Meinung gänzlich erfüllt und geprägt war, wirklich nur einer überwundenen Vergangenheit an? Es ist aber ein Grundirrtum, zu meinen, daß der Weg der Bildung nur von innen nach außen und nicht, zum mindesten im gleichen Maß, von außen nach innen führe." 59 Im Vorgriff auf das Kapitel "Leibliche, geistliche Übung" beschreibt Stählin bereits an dieser Stelle die praktischen Folgerungen: Atemübungen, Übung des rechten Singens und bestimmte körperliche Ertüchtigung als Einflüsse auf das Innere des Menschen. Hier würdigt Stählin insbesondere die lockernde Wirkung der Gymnastik, wie sie die Jugendbewegung als Bildungselement üblich gemacht habe. Durch die Gymnastik solle der Körper im eigentlichen Sinne Leib werden, was beim Kind noch automatisch der Fall sei. Ferner erwähnt Stählin die Arbeit der Atemschulen, durch die auch seelische 57 58
3 3
1 9 5 2 , S. 6 8 . 1 9 5 2 , S. 6 8 .
59 3 1952, S. 70. Den pädagogischen Grundsatz "von außen nach innen" erwähnt Stählin mehrfach: so in dem Vortrag: Die Bedeutung der Form für das geistliche Leben, 1938 und in dem Aufsatz: Form und Gebärde in Gottesdienst und Gebet, 1940, S. 12. In dem Rundbrief An die Brüder (der Michaelsbruderschaft) Nr. 1/1941, S. 8 empfiehlt Stählin das Büchlein von Martin Hermersdorf "Vom rechten Schreiben", um eine schöne und richtige Handschrift zu entwickeln, weil "außen und innen, Form und Wesen miteinander zusammenhängen." Von Schreibübungen in der Sakristei der Apostelkirche Münster hat mir auch Pfarrer i.R. Heinz Henche berichtet (Gespräch am 9.2.1993, vgl. Johann Friedrich MOES, Die Apostelkirche als Ort geistlicher Erneuerung, 1984, S. 271). Vor allem aber gilt das Prinzip "von außen nach innen" in der liturgischen Erziehung: "Die Liturgie kann und will niemals in diesem Sinn die Form subjektiver Innerlichkeit sein; [...] Aber um so stärker kann hier das Außen nach Innen wirken. Die Gebärden und Haltungen, die wir zunächst einfach mitvollziehen, wirken zurück und formen den Menschen auch in dem Bilde seines inwendigen Wesens." (Liturgische Erziehung, 1963 [1959], S. 193.)
4.3. Leib
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Fehlentwicklungen positiv beeinflußt werden könnten 60 , und die Übung des rechten Schreibens nach Martin Hermersdorf. 61 Am Schluß des Kapitels weist Stählin jedoch gleichzeitig auf die Gefahr aller solcher Übung hin, die Einzigartigkeit des Individuums wiederum zu uniformieren. Offensichtlich ist das ganze Kapitel "Der Leib als Form" unter bewußtem Verzicht auf die theologische Sicht geschrieben worden. Stählin verbleibt auch in der 3. Auflage, also als Bischof von Oldenburg - hier zunächst ganz im Horizont der Impulse aus der Jugendbewegung bzw. im Rahmen der nichttheologischen Anthropologie und allgemeinen Pädagogik. 62 Die Sorgfalt im Umgang mit der eigenen Leiblichkeit gehört damit nicht länger in den Bereich der Adiaphora (bzw. des überhaupt nicht Bedachten), sondern erhält den Rang einer Propädeutik, welche auch abgesehen vom christlichen Glauben wichtig ist, aber für christliche Praxis genauso wenig vernachlässigt werden darf. Stählin hat damit bezüglich der Relation des Menschen zu sich selbst Linien aus früheren Schriften ausgezogen bzw. gebündelt. Bereits in Schicksal und Sinn der deutschen Jugend hatte Stählin im Kapitel über den Leib eingeschärft, "alle unseren notwendigen leiblichen Haltungen, Stehen und Schreiten, Atmen und Schlafen als Gesamthaltungen unseres Menschenwesens, die zugleich tief in unser Inneres hineinwirken, zu verstehen" 63 und in diesem Zusammenhang auch die Alkohol- und Tabakabstinenz besonders hervorgehoben (der Hinweis darauf fehlt in der dritten Auflage des Buches "Vom Sinn des Leibes" völlig). 60 3 1952, S. 74 nennt Stählin die Atemschule Schlaffhorst-Andersen, weil er diese unmittelbar kennengelernt habe. Diese Atemschule kennt fünf "Regenerationswege", auf denen eine Wechselwirkung von Atem, Stimme und Bewegung angestrebt wird: Kreisen - Schwingen - rhythmische Bewegung - Atmen - Tönen. Der Weg ist die Eutonisierung der Muskulatur, insbesondere der AtemmuskulatuT. Die Konsequenzen für liturgisches Singen und Sprechen sowie die Chorerziehung liegen auf der Hand. Über diese Methode von Clara Schlaffhorst (1863-1945) und Hedwig Andersen (1866-1957) s. Margarete SAATWEBER, Die Arbeitsweise Schlaffhorst-Andersen, 1990. 61 3 1952, S. 75, vgl. dazu die vorletzte Anmerkung. 62 Damit handelt es sich um eine gewisse Parallele zu dem Konzept "christliche Diätetik", das Anselm GRÜN und Meinrad DUFNER, Gesundheit als geistliche Aufgabe, 1989 vorgelegt haben und das im Katholizismus eine breite Tradition hat. 63 Schicksal und Sinn der deutschen Jugend, 1926, S. 46. Auch im Berneuchener Buch heißt es in der typischen Diktion: "Der Leib aber ist eine notwendige Seite meines eigenen Wesens, die Form meiner irdischen Sendung überhaupt. Der Leib ist das entscheidende Symbol für die Sendung des Menschen in die irdische Wirklichkeit;" (S. 144). A.a.O., S. 103 wird die Scham als Ausdruck der Erlösungsbedürftigkeit des Leibes gewertet.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Die theologische Verbindung der Relation des Menschen zu seinem eigenen Leib und zum Geschehen im Leib Christi ist aber erst in der Schrift Vom göttlichen Geheimnis 1936 konsequent durchgeführt. Dort spricht Stählin am Schluß davon, wie das im Leib Christi Geschehende hinauswirkt in die Alltagswelt und nennt den Leib des Menschen als ein Beispiel. Auch hier wird die Kategorie der Wandlung (die für Stählins Schrift insgesamt zentral ist) herangezogen. Durch die Teilhabe am Mysterium Christi ist auch der Leib des Menschen verändert: er wird durch Taufe, Abendmahl, Hören, Singen, Schreiten, Händefalten "einbezogen in das Geheimnis des wahren Lebens."64 So ergibt sich in der Tat ein Zugewinn beim Verstehen menschlicher Leiblichkeit überhaupt: "Nun gehören alle unsere Glieder, unsere Sinne und unsere Triebe, unser Atmen, Essen und Trinken, unser Schreiten und unser Singen nicht mehr uns selber; sie sind auch nicht mehr nur Glieder in der Kette eines irdischen Blutszusammenhangs, sondern die Auswirkung der göttlichen Geheimnisse will hindurchgehen durch diese physische Gestalt unseres Menschenwesens. Unser Leib wird nicht heilig gesprochen, aber er wird geheiligt, [...]65 Damit ist schon die entscheidende Relation des Leibes zu Gott benannt, weil sich die Relationen gerade aufgrund der theologischen Verbindung von Leib und Leib Christi bei Stählin durchdringen. Der Leib und die Relation des Menschen zur Natur Ohne diesen Punkt besonders ausführlich darzulegen, setzt Stählin hier einen Akzent, der in der theologischen Diskussion erst 50 Jahre später - im Zuge der Erkenntnis der ökologischen Krise - zum Durchbruch kam: Der Mensch kann sich nicht der Natur gegenüberstellen66, weil er "samt allen Kreaturen" geschaffen ist. Die Menschen sind "wirklich Geschwister der Tiere und der Blumen, aus dem Stamm eines gemeinsamen Lebens entsprossen."67 Diese Aussage darf allerdings nicht romantisierend interpretiert werden. Zunächst bedeutet dies, daß der Mensch als Leib nichts anderes an Stofflichkeit ist als die Natur und damit der Unerbittlichkeit, Grausamkeit und Gleichgültigkeit 64 Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 122 (kaum verändert in Mysterium, 1970, S. 190-192). 65 Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 122. Gerade diese Textpassage ist in Mysterium, 1970 gestrichen. 66 Vom Sinn des Leibes, 3 1952, S. 53 = U930, S. 52 = 2 1934, S. 57. Dazu vgl. Gerhard LIEDKE, Im Bauch des Fisches, 1979, S. 35-61, wo das neuzeitliche Denken in der Folge der cartesianischen Spaltung kritisiert wird ("Die außermenschliche Schöpfung als untermenschliches Material des Menschen"). 67 Ebd. (s. vorige Anm.)
4.3. Leib
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der Natur unterworfen ist. Erst danach ist alles andere über den Menschen zu sagen. Der naturhafte Zusammenhang des menschlichen Leibes wird besonders im Atmen erfahrbar, weil die Kunst des Atmens gerade kein Tun, sondern ein Geschehenlassen sei (was verstärkt durch die Hautatmung klar werde). 68 Dies sei von religiöser Tragweite: "Geöffnet sein und strömen lassen", damit predige der Leib das Entscheidende, "was zum Leben und Menschsein nottut". 69 Offensichtlich spricht Stählin hier allgemein von Religion und Menschsein, ohne den christlichen Glauben besonders davon abzuheben (er nennt die Bedeutung des Atems in den religiösen Termini atman, mach, pneuma, animus). Hieraus spricht klar Stählins Meditationserfahrung (dazu s. unter 4.4.1.). Als zweiten Punkt der Relation zur Natur fuhrt Stählin Essen und Trinken an. Hier rekurriert er nochmals auf den Lebensbegriff in der christologischen Zuspitzung: alles Gegessene und Getrunkene "ist ein Leben, das für uns gegeben und geopfert wird. Indem wir essen und trinken, nehmen wir Anteil an dem Opfergeheimnis alles Lebens [...]. Explizit nennt Stählin dazu den Kontext des Sakraments. Die Relation zur Natur ist in ihrer Konzentration auf zwei Phänomene besonders eindrücklich, weil hier die denkbar alltäglichsten Lebensvollzüge mit Bezug zum Gottesdienst (der Atem hängt eng mit Singen und Sprechen zusammen) beschrieben werden. Damit wird die Relation des Menschen zur Natur zum Beispiel dafür, wie Leib und Leben auf die Liturgie verweisen und ihrerseits von dort her in neuem Licht erscheinen. So ist die Beziehung zu allen Kreaturen und zum Kosmos auch das dritte Beispiel Stählins dafür, wie die Realität des göttlichen Geheimnisses in die Realitäten dieser Welt hineinwirkt und diese wandelt. 71
Der Leib und die Relation des Menschen zu anderen Die leibliche Begegnung ist nach Stählin die realste Form menschlicher Gemeinschaft. So sehr der Leib die Unvertretbarkeit des Menschen durch einen anderen zu Bewußtsein bringt, so sehr ist der Leib auch der stärkste Ausdruck menschlicher Beziehungen. Hier sind vor allem Freundschaft, Liebe und Kampf zu nennen. Menschliche Beziehungen sind leiblich: 68 3 1952, S. 78 = U930, S. 69 f. = 2 1934, S. 75 f. 69 3 1952, S. 79 = ^ 9 3 0 , S. 71 = 2 1934, S. 77. An die theologische Zunft richtet sich der Zusatz ebd.: "Man soll nicht sofort angsterfüllt oder vorwurfsvoll schreien, hier werde der Sauerstoff mit dem heiligen Geist verwechselt [...]." 70 3 1952, S. 81, etwas anders 4 9 3 0 , S. 73 und 2 1934, S. 80. 71 Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 126-130. (Ebenso Mysterium, 1970, S. 196-202 "Das Mysterium im Kosmos".)
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
"Wie kann der Handschlag des Freundes oder die Hand des Priesters, die sich segnend und fürbittend auf unser Haupt legt, eine tiefe und geheimnisvolle Verbundenheit nicht etwa nur andeuten und ausdrücken - nein eben nicht nur ausdrücken! - , sondern erst recht stiften und befestigen [...]." 72 Erst recht aber sind die urgewaltigen Begegnungen und Berührungen in Liebe und Kampf wesentlich bedeutender als die meisten fein abgestimmten menschlichen Beziehungen. Die Urform menschlicher Relationalität sieht Stählin in der Liebe der Geschlechter. Sexualität und Zeugung stehen für die Beziehung zum anderen Menschen und fuhren die Verbundenheit mit den vorangehenden und nachfolgenden Generationen vor Augen: "Eben da, wo mein Leib am allerstärksten als mein Leib und als mein Leben von mir erfahren wird, ist mein Leib nicht mehr mein Leib, sondern hineingerissen in einen Lebenszusammenhang, über den ich nicht mehr Herr bin und nicht mehr Herr sein soll, sondern in dem ich selbst mit meinem Leib nur noch Werkzeug eines übergreifenden Lebenswillens bin." 73 Auch an dieser Stelle klingt noch deutlich der quasimetaphysische Lebensbegriff der Jugendbewegung nach, den diese u.a. in ihrer Nietzsche-Rezeption in den Vordergrund gestellt hatte (s.o. das unter 4.1.5. zur Lebensphilosophie Ausgeführte). Die Formulierung der dritten Auflage 1952 "Werkzeug eines übergreifenden Lebenswillens" - erinnert darüber hinaus an SCHOPENHAUERS Bestimmung des "Willens zum Leben" als metaphysisches "Ding an sich". 74 Wahrscheinlich ist die Formulierung Stählin aber eher en passant unterlaufen 75 bzw. hat er damit Anteil an einem Vokabular, das auf die Schopenhauerschen Wurzeln in Nietzsches umlaufenden Gedankensplittern zurückgeht. Eine explizite Berufung Stählins auf Schopenhauer ist mir in seinen Äußerungen nirgends begegnet.
72 3 1952, S. 84 = >1930, S. 76 = 2 1934, S. 82. Der deklamatorische Stil dieses Zitats ist noch vom Pathos der Jugendbewegung geprägt. Auch in der dritten Auflage 1952 wurde hieran nichts geändert. 73 3 1952, S. 87 f., etwas anders '1930, S. 79 und 2 1934, S. 85. 74 Arthur SCHOPENHAUER, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, 1982 [1818], S. 171: "Dieses Ding an sich [...] aber ist des Menschen Wille." (Hervorhebungen im Original), a.a.O., S. 385: "Was war? Was ist? - Der Wille, dessen Spiegel das Leben ist [...]". Gerade im Leib treffen für Schopenhauer Vorstellung (der Leib als unmittelbares Objekt von Erkenntnis) und Wille zusammen: "Die Aktion des Leibes ist nichts anderes als der objektivierte, d.h. in die Anschauung getretene Akt des Willens." (A.a.O., S. 158.) 75 In der ersten und zweiten Auflage endete der Satz jeweils so: "[...] in dem ich selbst mit meinem Leib nur noch ein dienendes Glied bin." ( 1 1930, S. 79 = 2 1934, S. 85).
4.3. Leib
169
Grundlegend fur Stählins Denken insgesamt ist in jedem Falle, daß über den Leib und die Sexualität die Sozialität des Menschen in den Blick genommen wird. Von daher ist die (leibliche) Gemeinschaft von Mann und Frau bzw. die Ehe die am meisten thematisierte Art von Gemeinschaft. Wie im Abschnitt 5.2. zu zeigen sein wird, stellt dies auch ein bevorzugtes Thema in Stählins Religionsunterricht für Erwachsene dar. Sexualität und Ehe sind der eindrücklichste Beweis fur die Relation des Menschen nicht nur zu den Lebenden, sondern auch zu den vorangehenden und kommenden Generationen: "Wir sind gerade als leibliche Wesen und in unserem leiblichen Sein Erben und Ahnen zugleich. Hier wird alles bloße Für-sichsein-wollen vollends als tiefes Mißverständnis und Mißbrauch des Leibes entlarvt. Der Leib ist keine Privatsache." 76 An diesem Punkt hat sich die Beeinflussung Stählins durch die Jugendbewegung offensichtlich am stärksten gehalten. Wie jede Jugendkulturbewegung (vom "Sturm und Drang" bis zur "Studentenrevolte" 1968) hatte auch die Jugendbewegung vor und nach dem 1. Weltkrieg Anteile von sexueller Befreiung. Dies hängt mit dem Protest gegen die Institutionen Familie, Schule und Kirche unmittelbar zusammen und ist ein Aspekt der emphatischen Berufung auf die Unmittelbarkeit des Lebens. Wenn die Sexualität im Wandervogel auch zunächst eher im Namen der "reinen Jugend" erneut tabuisiert wurde 77 , so kam nach 1918 vor allem vom linken Flügel in Wandervogel/Freideutscher Jugend ein deutlicher Impuls zum vorehelichen Geschlechtsverkehr. Hier ist vor allem Alfred KURELLA78 mit seinen beiden Veröffentlichungen Körperseele und Die Geschlechterfrage der Jugend zu nennen. Hier wurde die "bürgerliche Regel [...] die erste Hingabe verpflichtet fürs Leben" als Verlogenheit herausgestellt 79 : Die Frage müsse vielmehr die sein, ob das "Körpererlebnis hinterher auch die lebendige Rechtfertigung der Dauerver76 3 1952, S. 86 = '1930, S. 77 f. = 2 1934, S. 84. 77 Man denke noch einmal an das "Rein bleiben und reif werden [...]" des Ernst Wurche (Walter FLEX, Gesammelte Werke I, 1925, S. 96) und die homoerotisch gewendete Sexualitätsbewältigung im Wanderer zwischen beiden Welten überhaupt. Summarisch urteilt Ulrich LINSE, "Geschlechtsnot der Jugend", 1985, S. 269: "Es steht außer Frage, daß die bewußte oder unbewußte Infantilisierung der bürgerlichen Jugendbewegten, ihre Neutralisation zu asexuellen Wesen vor dem Ersten Weltkrieg im großen und ganzen erfolgreich war." Die materialreiche, ausführliche Studie von Linse ist eine Fundgrube für Literatur zur Jugendbewegung und Sexualität. 78 Alfred Kurella hatte ein kleines Büchlein über das Lautenspiel geschrieben. Bald wurde er Mitglied der Kommunistischen Partei und lebte von 1934 bis 1954 in Moskau. Schließlich war er Leiter der Kulturabteilung beim Zentralkomitee der SED in Ostberlin, s. Walter LAQUEUR, Die deutsche Jugendbewegung, 1983 [1962], S. 117119. 79 Alfred KURELLA (Hrsg.), Die Geschlechterfrage der Jugend, 2 1920, S. 13.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
einigung bringt."80 Die gegenwärtig herrschende Körperauffassung sei jedoch eine "asketisch-liberale"81 . Bei Kurella steht die Sexualität offensichtlich auch für ein revolutionäres Potential. Stählin hingegen verbleibt zeitlebens im Rahmen der an die Ehe gebundenen Sexualethik. In dem Kapitel "Der Verkehr der Geschlechter" in Fieber und Heil in der Jugendbewegung plädiert er eher für ein kameradschaftliches Miteinander von Jungen und Mädchen, bei dem "jene schwüle Weichlichkeit" nicht aufkommt, "an der sich das Fieber der Sexualität mit besonderer Stärke entzündet."82 Kurellas Briefe über die Körperseele (in denen Mädchen und Jungen über Sexualfragen schrieben) seien nicht inhaltlich falsch gewesen, sondern deswegen, weil es "eine Dummheit ist, über diese Dinge mit Mädeln zu reden oder Briefe zu wechseln."83 Hingegen lassen sich die Worte über den Wert der Ehe in der gleichen Schrift kaum mehr überbieten: "Wen wir lieben, in dem lieben wir immer Gott, und wir lieben ihn immer in Gott"84, dies gilt ebenso wie der negativ formulierte Satz: " Wer in der rechten Ehe lebt, ist für den Teufel verloren."95 Im Rahmen der Ehe kommt nach Stählin nun auch der leiblichen Gemeinschaft ein besonders hoher Stellenwert zu: "Ehe ist ein Bekenntnis zur Sinnlichkeit; ein Bekenntnis zu der Notwendigkeit, Schönheit und Freude des geschlechtlichen Lebens. Ihr könnt keine Ehe gründen auf geistige Gemeinschaft allein. Wenn nicht dein Leib ja sagt zu der Körperlichkeit dieses Mannes, dieses Weibes, so kannst du mit ihm keine Ehe schließen. Wenn die sinnliche Nähe des einen Menschen [...] dich ungestüm dahin reißt, nicht nur in Worten, sondern in völliger körperlicher Vereinigung die Freude an ihm, an seinem Leib und 80 Ebd. 81 A.a.O., S. 21. Dies führt Kurella ebd. u.a. auch auf Paulus zurück: "Das religiöse Erlebnis sollte ein rein geistiges sein." Den Ausweg sieht Kurella in einer vergeistigten Sexualität mit Hilfe afrikanischer und altindischer Körperlehren. Das europäische Denken hingegen sei bis auf wenige Höhepunkte ("etwa in Plato, Eckehardt, Schopenhauer und Nietzsche, [...]") oberflächlich (a.a.O., S. 22 f.). 82 Fieber und Heil in der Jugendbewegung, 1922, S. 45. 83 Ebd., vgl. S. 46: "Es ist doch [...] dieses ewige Reden von geschlechtlicher Not selbst nichts anderes als eine in ihrem Selbstbetrug besonders raffinierte Art des geschlechtlichen Genießens." 84 A.a.O., S. 83. 85 A.a.O., S. 85, Hervorhebung im Original. Der Satz bezieht sich auf die DoktorFaustus-Überlieferung. Den Satz setzt Stählin auch als einen seiner nichtbiblischen Wochensprüche über die 2. Novemberwoche 1924 (Das Gottesjahr 1924, S. 15). Ebenfalls an dieses Zitat knüpft die Predigt "Von der rechten Ehe" am 22. Sonntag nach Trinitatis 1921 an (Advent, 1925, S. 94-103). Eheliche Liebe heißt, im Partner "das schlummernde Gottesbild" zu lieben, "das, was aus ihm werden kann und werden soll." (S. 99)
4.3. Leib
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an seiner Seele ebenso zu erfahren wie auszudrücken, dann sollst du dich dessen nicht schämen, [...]". 86 In dieser Schrift wirbt Stählin geradezu fur die Ehe und kritisiert die Bindungsangst bei den Älteren in der Jugendbewegung: "wer immer ein 'Bub', immer ein 'Mädel' bleiben will, der soll nicht heiraten; aber die Ehe ist nicht das Einzige, wozu er nicht taugt." 87 , denn: "die Angst vor der Form ist die Angst vor der Bindung, f...]." 88 Demgegenüber hebt Stählin "die erlösende Kraft einer rechten Ehe" 89 hervor. Der Kontext zeigt, daß dies nicht im eigentlichen Sinne theologisch gemeint ist, sondern sich zunächst auf das Erwachsenwerden des "ewigen Jugendlichen" bezieht. Aber der erwähnte notwendige Ausgleich zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe sowie die beiden oben zitierten Sätze ("Wen wir immer lieben, in dem lieben wir immer Gott" usw.) zeigen: in der Ehe ist für Stählin die Gottesbeziehung bereits mitgesetzt und die Erlösung, die Mann und Frau einander in der leiblichen Gemeinschaft verschaffen können, hängt zusammen mit der durch die Gemeinschaft des Leibes Christi gegebenen Erlösung. Folgerichtig erwähnt Stählin die Ehe auch als zweites Beispiel dafür, wie das Leben "von Christus her durch den Dienst der Gemeinde geweiht und gewandelt und zu einer Stätte des göttlichen Geheimnisses geheiligt" wird in seiner Hauptschrift Vom göttlichen Geheimnis 1936.90 Im Anschluß an Eph 5,22-32 wird die Ehe als einzigartige Form menschlicher Gemeinschaft herausgestellt, "weil sich in ihr wie in keinem anderen Bereich unseres irdischen Lebens das göttliche Geheimnis selbst auswirken und darstellen will." 91 Das bedeutet: "in, mit und unter" dem Eros zwischen Mann und Frau soll die Agape als göttliches Geheimnis Gestalt gewinnen. In Analogie zur consubstantiatio (nicht transsubstantiatio) durchdringt die Agape Christi den ehelichen Eros. Damit strebt die Ehe nicht nach reiner Geistigkeit in Christus oh86 87 88 89
A.a.O., S. 77. A.a.O., S. 72. A.a.O., S. 73. A.a.O., S. 80, Hervorhebung dort. Stählin warnt hingegen auf der gleichen Seite, daß "ihr euch nicht verwirren lassen dürft durch das Gerede, das heute in ungezählten Schriften zu euch dringt, das Geschlechtserleben selbst sei das große mystische Wunder, [...]." 90 Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 122-125 (das erste Beispiel war der Leib, S. 121 f., das dritte die Beziehung zu "allen Kreaturen" und zum Kosmos, S. 126-130). Im wesentlichen unverändert: Mysterium, 1970, S. 190-202: "Der Leib - Das Geschlecht - Das Mysterium im Kosmos." 91 Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 123. Befremdlich ist ebd. die explizite Zustimmung zu der Sinnstiftung der Ehe "in der Erzeugung und Aufzucht gesunder Kinder für das Volksganze." Wenig später sollte der militärische Hintergedanke dieser Zweckbestimmung zutage treten.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
ne leibliche Sinnlichkeit. Aber in der menschlichen leiblichen G e m e i n s c h a f t ist das Geheimnis Christi gegenwärtig: "[...] e s strahlt hinein in diesen persönlichen B e r e i c h u n s e r e s menschlichen L e b e n s und erhebt die Liebe, die sich M a n n und Frau erzeigen, zu der Würde eines wahrhaft geistlichen A m t e s . " 9 2 D a m i t ist für Stählin die E h e der entscheidende Verbindungspunkt v o n Leib und Leib Christi: D i e E h e kann in aller Leiblichkeit nur v o n Christus (und seinem Leib im Sakrament) her ganz verstanden werden; die Gemeinschaft d e s L e i b e s Christi wird in der E h e in einzigartiger W e i s e konkret. D e m z u f o l g e ist die kirchliche Trauung auch in der evangelischen Kirche als Brautm e s s e mit Herrenmahl zu feiern. 9 3 In dieser g e w i c h t i g e n t h e o l o g i s c h e n Füllung der E h e gelingt es Stählin, die n e u e B e d e u t u n g der Leiblichkeit aus der J u g e n d b e w e g u n g mit der Sak r a m e n t s t h e o l o g i e der Michaelsbruderschaft zu verknüpfen - unter klarer A n l e h n u n g an katholische Ehelehre. 9 4 Inwieweit diese Sicht in damaliger und g e g e n w ä r t i g e r Kasualpraxis hilfreich ist, steht dabei auf einem anderen Blatt. D i e g r o ß e Fremdheit vieler Brautpaare gegenüber der Kirche als im Leib Christi konstituierter Gemeinschaft und die Scheu, gegenüber kirchlichen
92 A.a.O., S. 125. - Unverkennbar von Stählin geprägt ist auch das Kapitel 111,1 im Berneuchener Buch: Die Heiligung des Geschlechts (S. 138-155). Nötig sei vor allem die "Verkündigung über den Sinn des Leibes" (S. 142), und "gerade der Leib ist dazu geschaffen, Ausdruck und Zeuge der Wahrheit zu sein" (S. 145). Die geschlechtliche Vereinigung gilt als "ein Gleichnis dafür, daß dem Menschen Anteil verheißen ist an der Schöpfermacht Gottes" (S. 146). Aber es gilt auch: "Nur im Blick auf das jüngste Gericht ist die Bejahung des Leibes wirklich gerechtfertigt." (S. 149) Der Hauptakzent liegt damit auf der Gottesrelation, die Ehe bekommt Offenbarungsqualität, und zwar besonders in ihrer Leiblichkeit. Darin liegt das für Stählin Eigentümliche. Darum schreibt er z.B. am 20. 1. 1941 einen wütenden Brief an den Schriftleiter des Eckart, weil Manfred Hausmann dort etwas über die Mühen der Ehe publiziert hatte, was Stählin als "Verrat an der Ehe" wertet (Bl. 2). In einer Predigt am 1.1.1945 in Oldenburg-Osternburg (über Gal 3,23-29. 4,1-5) spricht Stählin in bezug auf die Ehe über "die heilige Liebe, in der einer des anderen Christus wird und wo die beiden miteinander zu dem neuen Menschentum in Christus heranreifen" (S. 3). 93 Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S.125. Ebenso Bruderschaft, 1940, S. 79. Auch dort heißt es explizit, Bruderschaft als "Verwirklichung der Kirche als des Leibes Christi" und Ehe als "irdisch-leibliches Abbild des höchsten Liebesgeheimnisses" seien aufeinander angewiesen.. 94 A.a.O., S. 124 stimmt Stählin dem Gedanken aus der katholischen Lehre vom Sakrament der Ehe ausdrücklich zu, daß Mann und Frau in der leiblichen Vereinigung (als materia) einander das Sakrament der Ehe spenden. - Andererseits hatte Stählin schon 1925 auch Positives an der Jungfräulichkeit gefunden und als mögliche Form neben dem Verzicht auf die geschlechtliche Liebe auch die "Gottesminne" innerhalb der Ehe genannt: "in einem feinen und tiefen Sinn kann und muß auch die Gattin und Mutter 'Jungfrau' bleiben ": Von der Jungfräulichkeit, CuW 1925, S. 298.
4.3. Leib
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Amtsträgern über die eigene Situation ( - Leiblichkeit! -) zu sprechen, nicht zuletzt auch einfach die Abendmahlsscheu stellen gewichtige Gründe dagegen dar. Andererseits ist hiermit gerade die Aufgabe einer Theologie der Kasualie "Trauung" herausgestellt, wenn diese nicht einfach als Wortgottesdienst gedeutet werden soll.95
Der Leib und die Relation des Menschen zu Gott Weil die Beziehung des Menschen zu Gott für Stählin nicht abstrakt ist, sondern nur in seiner Leiblichkeit erfahrbar und verstehbar wird, ist Wesentliches darüber schon in bezug auf die anderen Relationen des Menschen gesagt: das Gewichtigste in bezug auf die Ehe, in der für Stählin Leib und Leib Christi, Sexualität und Sakrament, Gottes- und Menschenrelation sowie Individualität und Relationalität überhaupt wie durch ein Brennglas konzentriert erfahrbar sind. Theologische Anthropologie wird von der in Christus gesehenen Ehe her konstruiert. Gleichwohl wird in der Hauptschrift Vom Sinn des Leibes nun die Gottesrelation in einem erneuten, eigenständigen Argumentationsgang entfaltet in dem Kapitel "Der Leib als Gleichnis", das in der dritten Auflage den Umfang von fast 50 Seiten angenommen hat. In der Zusammenschau von Leib und Gleichnis befinden wir uns fraglos im Zentrum der von christlicher Praxis her entworfenen Theologie Stählins. Trotzdem folgen wir hier terminologisch nicht der Darstellung Stählins, weil das Nötige bereits im Abschnitt 4.2.2. ausgeführt wurde, und lassen den einleitenden Abschnitt "Das Gleichnis"96 unberücksichtigt. In diesem Abschnitt entwirft Stählin eine kleine Glaubenslehre vom Leib her und schreitet dabei wieder den für ihn charakteristischen Weg ab: von der grundlegenden Leiberfahrung der Jugendbewegung über die Sicht des Leibes in der christlichen Botschaft hin zur praktisch-theologischen Konkretion im Kultus, in dem die Gegenwart des geopferten Christusleibes zum leibhaften Bekenntnis und zum dienenden Opfer im Alltag befreit und damit das Leben des Glaubenden in die Wandlung zur neuen Schöpfung einbezieht. In diesen Formulierungen wiederholen 95 Dazu vgl. etwa das kasualtheoretische Konzept von Theophil MÜLLER, Konfirmation, Hochzeit, Taufe, Bestattung, 1989, wo der Gottesdienst zur Trauung gänzlich von der Situation abhängig gemacht und der Segen in reformierter Tradition als Segensbitte verstanden wird (a.a.O., S. 66 f. 113 f.). 96 3 1 9 5 2 , S. 9 0 - 1 0 0 ; U 9 3 0 , S. 81-87; 2 1 9 3 4 , S. 88-97. Ausdrücklich betont Stählin hier
( 3 1952, S. 90 f.) die Synonymität von "Symbol" und "Gleichnis", weil in beiden eine vorder- und hintergründige Wirklichkeit zusammengesehen werden und verweist auf seine Rede "Das Reich als Gleichnis", 1933. Die oben begründete Kritik an der Begrifflichkeit ist aufrechtzuerhalten, wenngleich Stählin hier präzise abgrenzt: die Gleichnisschau sei nicht "phänomenologische Wesensschau", sondern die Offenbarung des Lichtes "von einem anderen Ort aus" ( 3 1952, S. 96).
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlttsselkategorien
sich implizit bereits viele der bereits ausgeführten Gedanken, weshalb die folgende Darstellung - in Anlehnung an die dritte Auflage von 1952 - kurz gefaßt werden kann. Stählin grenzt sich zunächst wiederum vom optimistischen, emphatischen Verständnis des Leibes ab und betont die "Doppelsinnigkeit" des Leibes. Der Mensch hat im Leib nicht nur Anteil an der "unmittelbaren und ungehemmten Daseinsfreude alles Lebendigen" 97 , sondern ist zugleich der Bedrohung und Hinfälligkeit ausgesetzt: der eigene Leib kann uns "ein fremdes und feindseliges Wesen werden, das wir hassen [...]". 98 Der Leib ist Hinweis auf die Schöpfermacht Gottes, läßt aber zugleich den "Zorn Gottes und den Fluch, der auf aller irdischen Wirklichkeit liegt", erfahren. 99 Der Abschnitt Der Leib in der christlichen Botschaft betont noch einmal die biblische Sicht gegenüber der (angeblich christlichen) gnostisch-antiken Leibfeindlichkeit. Eine psychoanalytische Sehfähigkeit spricht hier aus Stählins Seelsorgeerfahrung, daß bei manchen Menschen der Geist und nicht der Leib der eigentliche Feind sei.100 Die Leiblichkeit des Lebens und Wirkens Jesu wird besonders betont. Jesus zerstört die Werke des Teufels, "nicht indem er dem menschlichen Geiste Gedanken vermittelt, sondern indem er auch in der Sphäre des Leibes die Macht des Lebens gegen die Macht des Todes stellt." 101 Entscheidende Qualität für das Verstehen des Todes Christi wird - in langer frömmigkeitsgeschichtlicher Tradition - dem Blut Jesu Christi zugesprochen: "Dieses Blut, der eigentliche Träger des leiblichen Lebens, ist der entscheidende Ausdruck der Hingabe Gottes in das Leibesleben, auch in seine Not und sein Todesschicksal." 102 97 3 1952, S. 102. "Jugendbewegt" heißt es noch '1930, S. 90: "Darf nicht der Mensch in der kraftvollen und doch leichten Bewegung, in dem Wohllaut der Stimme, in dem beschwingten Rhythmus des Tanzes das berauschende Fest seines eigenen Daseins feiern?" 98 3 1952, S. 103 = 4 9 3 0 , S. 91 = 2 1934, S. 101. Es handelt sich also um eine ursprüngliche Kritik am Leib-Optimismus der Jugendbewegung und nicht um eine Folge der Krisenjahre Stählins (Depressionen 1943/44 in Kohlgrub, Tod des jüngsten Sohnes und der Ehefrau 1945). 99 3 1952, S. 104 = 1 1930, S. 92 = 2 1934, S. 102. 100Nur 3 1952, S. 110: "Wir können nicht mehr alles nachsprechen, was in der Zeit der Jugendbewegung, zum Teil sehr enthusiastisch, über die 'Vernunft des Leibes' gesagt worden ist; aber wir Seelsorger haben bisweilen bei manchen Menschen den Eindruck, daß ihr Leib das Vernünftigste oder das einzig Vernünftige an ihnen sei, weil dieser Leib vor dem Engel Gottes niederfällt und den Dienst versagt, während der 'Herr' dieses Leibes unvernünftig auf dem Wege seiner Verkehrtheiten weiterrennen möchte." 101 3 1952, S. 113 = 4 9 3 0 , S. 98 = 2 1934, S. 108.
4.3. Leib
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Hieraus könnte u.a. Stählins Vertrautsein mit Choral und Kirchenmusik sprechen, wird dort doch die Heilsbedeutung des Blutes Christi in besonderer Vielfalt besungen103, während sowohl liberale, dialektische (als auch gegenwärtige) Kreuzestheologie wenig oder nichts darüber sagen. An diesem Punkt zeigt sich, wie Stählins Betonung der Leiblichkeit der Erlösung den Blick für die Gefahr eines modernen Doketismus schärfen kann. Eine Wiedergewinnung des Aspektes "Blut" unter neuem Vorzeichen könnte durch den Einfluß der feministischen Theologie möglich werden (wenngleich die nationalsozialistische Verherrlichung von "Blut und Boden" und die deutschchristliche Irrlehre eine erneute Annäherung noch lange erschweren werden). Das entscheidende Wort ist damit aber noch nicht gesprochen: erst die Verkündigung der Auferstehung rückt das bisher vom Sinn des Leibes Gesagte ins rechte Licht; alles leibliche Leben des Christen wird damit "zu einem Versuch, die Hoffnung der Auferstehung zu bezeugen." 104 Hiermit leitet Stählin über zu dem dritten Unterabschnitt über die Relation des menschlichen Leibes zu Gott: ein leibhaftes Bekenntnis läßt den theologischen Sinn des Leibes in Alltag und Kultus Gestalt gewinnen. Auch hier folgen noch einmal Gedanken, die uns schon mehrfach begegneten: die Freude am Leib, das Offenbarwerden der Herrlichkeit Gottes auch am kranken Leib, die Opferbereitschaft der Christen als sichtbare Entsprechung zum Opfer Christi, die Durchdringung von Leib und Leib Christi, deren Konkretion im Kultus und innerhalb dessen wiederum die Wandlung des Menschen durch den im Sakrament gegenwärtigen Leib Christi. Dies soll nun nicht nochmals im einzelnen referiert werden. Wir fragen vielmehr wieder im Sinne der beiden Leitfragen, inwiefern die aus der Jugendbewegung ererbte Betonung menschlicher Leiblichkeit neue ekklesiologische Aspekte erbringt bzw. inwieweit die Leib-Christi-Lehre etwas zum Verständnis des von seiner Leiblichkeit her gedeuteten Menschen beiträgt. Ein entscheidender Gedanke ergibt sich wiederum vom Opfer her. Hier wird im Anschluß an Rom 12,1 (παραστησοα τα σώματα υμων θ υ σ ι α ν ζωσαν) die grundlegende Bestimmung menschlicher Leiblichkeit in bezug auf andere und auf Gott gesehen. Das bedeutet: eine theologische Anthropologie läßt sich nicht ohne Bezug auf Gemeinde und Liturgie entwerfen. In 102 3 1952, S. 115 = U930, S. 99 f. = 2 1934, S. 110. 1031m Evangelischen Kirchengesangbuch gibt es gut 35 Stellen, an denen vom Blut Christi die Rede ist: dieses ist für uns vergossen, ist Grund unserer Gerechtigkeit, Kraft unserer Heiligung, Bürgschaft unserer Seligkeit und begegnet im Abendmahl (vgl. Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch, Bd. 1,1, 1953, S. 18). 10431952, S. 120. In der ersten und zweiten Auflage ^1930, S. 101-103, 2 1934, S. 111114)) ist an die Auferstehung gleich der ekklesiologische Aspekt angeschlossen: "Das einzige, was das Neue Testament über den Leib des auferstandenen Christus wirklich zu sagen wagt, ist dies, daß die Gemeinde der Leib des Christus sei." ( 4 9 3 0 , S. 101 = 2 1934, S. 112.) In der dritten Auflage findet sich dies unter "Leibhaftes Bekenntnis" ( 3 1952, S. 130-132).
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
der Opferbereitschaft der Christen wird die befreite Relationalität menschlicher Leiblichkeit anschaubar, wie sie dem Opfer Christi als Besiegelung der Relation Gottes zur Welt entspricht. Einfacher formuliert: Stählins Anthropologie der Leiblichkeit hat gerade nichts zu tun mit individualistischer Selbstfindung oder Selbstvervollkommnung. Die Opferbereitschaft hat vielmehr den Sinn, "daß der Mensch auch im leiblichen Leben und gerade in seinem leiblichen Leben aus seinem 'Für-sich-sein' erlöst und [...] in den neuen Lebenszusammenhang des Gottes-Dienstes und der Liebe eingegliedert wird. Diese Heiligung des Leibes im christlichen Opfer bedeutet also, daß der Leib nicht getötet, sondern gerade im höchsten Sinn lebendig gemacht wird."105 "Das leibhafte Bekenntnis des Leibes vollendet sich in dem Opfer des Leibes."106 Damit, so wird man Stählin ergänzen dürfen, zeigt sich, daß die leibliche Realität zwar noch in der grundsätzlichen Doppelsinnigkeit verbleibt, aber im Leib Christi bereits einbezogen ist in den Prozeß der Wandlung der Realität, wie sie durch das im Herrenmahl repräsentierte einmalige Opfer Christi verbürgt ist. Nochmals einfacher formuliert: Der Leib des Menschen unterliegt nicht nur (medizinisch) dem Prozeß der Alterung, sondern vor allem (theologisch) dem Prozeß der Neuschöpfung, welche nun sozial Gestalt gewinnt. Diese - bewußt verkürzend einfach formuliert! - positive, "optimistischere", weil von der Erlösung herkommende Sicht menschlicher Leiblichkeit gilt nun ebenso für den Leib Christi, die Kirche. Die neutestamentliche Rede von der Kirche als dem Leib Christi "ist nicht nur eine kühne Meta* pher". 107 Es handelt sich vielmehr um einen Protest gegen die rein "geistige" Auffassung der Wirksamkeit Christi: "Sowenig wie die Bibel den Leib als den schmachvollen Kerker ansieht, in dem die Seele als edler Gefangener schmachtet, sowenig ist für den christlichen Glauben die Kirche etwa die immer nur kümmerliche und immer fragwürdige Erscheinungsform einer Idee, sondern vielmehr der Leib, an dem Christus das Haupt ist. [...] Darum wird der Begriff einer 'unsichtbaren Kirche' niemals dem gerecht, was die Kirche für den Glauben bedeutet. [...] dieser Leib ist der Leib Christi, die 'Form', die von ihm geprägt und be105 3 1952, S. 128 = 4 9 3 0 , S. 108 f. = 2 1934, S. 121. 106 3 1952, S. 129 = 4 9 3 0 , S. 109 f. = 2 1934, S. 122. 107 3 1952, S. 130 = 4 9 3 0 , S. 101 = 2 1934, S. 112. Dies ist übrigens eine der ganz wenigen Stellen, an welchen der Metapher-Begriff nach der Dissertation von 1913 wieder erscheint, und zwar in deutlich beiläufiger Verwendung.
4.3. Leib
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seelt ist und die ihn, nichts als ihn, in der Welt verleiblichen und darstellen will." 108 Um hier das Entscheidende herauszuhören, muß an die beiden beschriebenen Aspekte des Formbegriffes gedacht werden: wie der Leib des Menschen vorgegebene Form und Gestalt sowie zu bildende Form und Gestalt in einem ist, so unterliegt auch der Leib Christi in dieser Welt immer noch dem Prozeß der Verleiblichung und Darstellung. Der Leib Christi ist nicht fertig. Über den Formbegriff kommt damit die Denkfigur lebendigen Lebens aus der Jugendbewegung in die Ekklesiologie hinein. Hier hat Walter Birnbaum in der Tat richtig gesehen, daß man in der liturgischen Bewegung nach 1918 zuerst den Leib und danach den Leib Christi entdeckt hat. 109 Nachdem der Leib Christi als gegebene und als zu formende Gestalt in dieser Weise beschrieben ist, wendet sich Stählin dann auch am Schluß des Abschnitts "Leibhaftes Bekenntnis" der Liturgie zu, dem "Leib im Kultus". Auch hier begegnet wieder der schon vertraute Gedanke, daß der Kultus den Leib und das Leben der Christen mit hineinzieht in die in Christus voranschreitende Wandlung der Welt: "Der Leib darf Anteil nehmen an dem Kultus der Kirche, in dem alle Lebensgebiete in das Licht und den Wirkungsbereich Christi gerückt und dadurch geheiligt werden." 110 Dieser Tatsache soll das leibhafte Verhalten im Gottesdienst entsprechen. Es kommt nicht nur darauf an, "mit dem Herzen dabei" zu sein, sondern auch darauf, mit dem Leib dabei zu sein. Hier schreibt Stählin das, wofür er sich in allen seinen Beiträgen zur Liturgik eingesetzt und wofür er in seiner akademischen Lehrtätigkeit besonderes Engagement gezeigt hat: "Die Nachlässigkeit und Schlamperei, mit der der Leib 'sich gehen läßt', während der Mensch vor Gott steht, zerstört die Andacht. [...] Liturgie ohne liturgische 'Haltung' ist etwas Schreckliches und Widersinniges, ein schlechtes Erbstück aus dem intellektualistischen Mißverständnis des Glaubens. [...] es gibt keine Form-losigkeit, es gibt nur gute, d.h. sachgemäße, und schlechte, d.h. der Sache unangemessene 'Formen'." 1 1 1
108 3 1952, S. 130 f. = i ^ O , S. 102 = 2 1934, S. 113. Dazu vgl. den exegetischen Spitzensatz von Ernst KÄSEMANN, Amt und Gemeinde im Neuen Testament, 1970 [1949], S. 113: "In unsern Leibern bemächtigt sich der Kosmokrator jener Welt, die seine Herrschaft vordem nicht anerkannte, und der Christusleib ist die Realität konkreter Weltherrschaft Christi vor der Parusie. " (Hervorhebung von mir.) 109 W. BIRNBAUM, Die deutsche evangelische liturgische Bewegung, 1970, S. 29, vgl. oben Abschnitt 3.3. (Die bisherige Forschung). 110 3 1952, S. 132, anders H930, S. 110 und 2 1934, S. 123. 111 3 1952, S. 133 = ^930, S. 111 ff. = 2 1934, S. 124.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Damit ist die entscheidende Konsequenz angesprochen, die sich aus der leiblichen Sicht der Gottesrelation ergibt. Praktische Theologie hat wesentlich mit dem konkreten körperlichen Verhalten112 des Menschen zu tun, weil so das Zeugnis der Kirche und dessen Gestaltung in der Welt Realität werden. Dies ist ausfuhrlich im Zusammenhang der Schlüsselkategorie "Liturgie" weiter zu bedenken. Hier seien jedoch noch einmal die entscheidenden anthropologischen und ekklesiologischen Zugewinne rekapituliert, die sich aus der leiblichen Sicht der Gottesrelation ergeben. Anthropologisch wird durch die "Doppelsinnigkeit des Leibes" die Erfahrung, unter dem Evangelium als simul iustus et peccator dazustehen, in die Schöpfungslehre und in die Heilsgeschichte hineingeholt. 113 Die Rechtfertigung ist nicht auf die Innerlichkeit beschränkt, sondern ist erfahrbar, indem der eigene Leib dem Vergehen des alten und dem Kommen des neuen Äons unterliegt. Die Erlösung muß also - gerade in ihrer Vorläufigkeit, Verborgenheit und Widersprüchlichkeit - in leiblichen Kategorien sagbar, vertretbar und verstehbar werden. 114 Dies ist von großer Wichtigkeit für eine helfende klinische Seelsorge und für die Diakonie. Darüber hinaus bleibt festzuhalten, daß eine theologische Anthropologie, welche von der Leiblichkeit ausgeht, nicht von Gemeinde und Gottesdienst absehen kann, weil hier die entscheidenden Relationen zu Gott und zum Nächsten Gestalt gewinnen. Ekklesiologisch gilt das diesem Sachverhalt Entsprechende: weil der Leib des Menschen erst im Leib Christi von seinem für-sich-Sein zu seiner Le-
112 Vgl. dazu Manfred JOSUTTIS, Der Weg in das Leben, 1991, eine Liturgik, welche explizit "auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage" (so der Untertitel) konzipiert ist. Jedes Kapitel (Gehen, Sitzen, Sehen usw.) beginnt leitmotivisch: "Alles Leben verhält sich - einiges Leben verhält sich manchmal nach der Agende." 113 Wie wenig Stählin eine unreformatorische analogia entis vorzuwerfen ist, erhellen zwei Äußerungen von 1928: "Wir leben, theologisch gesprochen, in einer gefallenen Welt, in der ebenso der menschliche Leib wie die außermenschliche Natur [...] zur bloßen gottentfremdeten 'Welt' werden kann." (Pädagogik des Glaubens, CuW 1928, S. 43.) Auch dies wird leiblich konkret: "Es gibt eine bekenntnishafte leibliche Haltung; [...] an ihr wird sichtbar, ob der Leib als sündlose Natur oder als ein Ort dämonischer Zweideutigkeit und Zwiespältigkeit erlebt wird." (Lebensgestaltung als Bekenntnis, UB 1928, S. 203.) 114 Die Offenheit von Stählins Konzept zur Psychoanalyse wurde schon angedeutet und kann durch explizite Bezugnahmen Stählins auf die Tiefenpsychologie bestätigt werden (Menschenführung als Aufgabe der Kirche, 1932, S. 322. 327. 333, wo u.a. das Theologiestudium in Analogie zur Lehranalyse gesehen wird; Christlicher Religionsunterricht im nationalen Staat, 1933, S. 38, wo das tiefenpsychologische Denken in Bildern gegen das begriffliche Denken gesetzt wird - man denke dazu nur an Eugen DREWERMANNS Kommentar zum Markusevangelium, der den Untertitel "Bilder von Erlösung" trägt; Über den Begriff der Meditation, DtPfBl 1939, S. 776, wo dem Traum große Bedeutung zugemessen wird). Dabei neigt Stählin deutlich C.G. Jung zu und nicht S. Freud, dessen Gedanken er durch einen einwöchigen Aufenthalt bei Oskar Pfister 1922 kennengelernt hatte (Via Vitae, 1968, S. 176).
4.3. Leib
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bendigkeit erlöst wird, darum hat die Erlösung notwendig soziale Gestalt. Weil es sich bei dieser Gestalt aber um Christus und um seine Gestaltwerdung in der Welt handelt, darum kann von Kirche und Gemeinde nicht abfällig oder nachlässig geredet werden. Christusliebe und Christusglaube können konkret werden in der Liebe zu seinem irdischen Leib und in dem Glauben an seine weitere Gestaltwerdung in der Welt - trotz allem, was in diesem Äon dagegen spricht. Insgesamt ergibt diese Zusammenschau von Leib und Leib Christi demnach: Erlösung gibt es nicht ohne den Leib, die Erlösung des Leibes gibt es nicht ohne den Leib Christi und der Leib Christi ist darin lebendig, daß in ihm die neue Schöpfung leibhaftig anschaubar wird (wenn auch erst vorläufig, in Martyria, Liturgia und Diakonia). Eine Bestätigung hierfür findet sich in den ekklesiologischen Äußerungen Stählins, die in einem weiteren Gedankengang zu analysieren sind. Zuvor ist aber noch das Kapitel IV Leibliche geistliche Übung aus der 3. Auflage des Buches Vom Sinn des Leibes zu erwähnen. Zumindest ergeben sich daraus Anregungen für christliche Praxis, wenn nicht sogar Aspekte für die Praktische Theologie.
Übung des Leibes In dem ausführlichen Kapitel115 beschreibt Stählin gemäß seinem erwähnten Prinzip "von außen nach innen" (s.o. Anm. 59) die Formung des menschlichen Geistes und Leibes durch leibliche Übungen. 116 Dies wird einleitend religionspädagogisch begründet. Die religiöse Jugenderziehung habe vor allem kultische Erziehung zu sein und könne nicht vom Primat des Verstandes und der Begriffe ausgehen. Als Beispiel nennt Stählin einen evangelischen und einen katholischen Schulkatechismus. Der evangelische frage als erstes nach der Bibel. Damit könne ein Kind aber kaum etwas anfangen. Dagegen beginne der katholische Katechismus sachgemäßer: "Was
115 Es umfaßt in der dritten Auflage 35 Seiten und geht auf eine Arbeitsgemeinschaft mit Gymnastiklehrerinnen zurück ( 3 1952, S. 137). In der ersten Auflage hatte Stählin nur in einem kurzen Anhang "eine wahrhaft christliche Körperkultur" gefordert ( 1 1930, S. 123), den allgemeinen Ruf nach Körperkultur bejaht, aber noch einmal einer naturalistisch-optimistischen Anthropologie widersprochen: "Der Leib des Menschen wird zum Götzen, auf dessen Altären das Leben selbst geopfert wird. Körperkultur wird zum Körperkultus und damit zu einer unserer vielfachen Ersatzreligionen." (' 1930, S. 122). Abgesehen von dem Terminus "Körperkultur" könnte das Zitat auch aus unseren Tagen stammen! 116 So schon: Von Frömmigkeit und leiblicher Übung, 1925. Hier definiert Stählin auch den Leib in Abgrenzung zum Körper: "Körper ist jedes in sich geschlossene, Raum erfüllende Stück Stofflichkeit; wir reden von mathematischen Körpern [...], Leib aber ist der lebendige Körper" (S. 40).
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
bist du? Ich bin ein Christ. Woran erkennt man, daß du ein Christ bist? Daran, daß ich mich segne mit dem heiligen Zeichen des Kreuzes."117 Daran anknüpfend nennt Stählin seine religionspädagogischen Erfahrungen aus der Jugendarbeit: Leibhafte Gestaltung, Spielen, Singen, Fahrt und Fest waren zentrale Arbeitsformen und nicht etwa "unwichtiges Außenwerk"118. Dies habe der nationalsozialistische Staat gut begriffen, als er die kirchliche Jugendarbeit "zwang, sich auf 'die zentrale Aufgabe der religiösen Verkündigung' zurückzuziehen."119 Demgegenüber geht es Stählin um die heilsame leibliche Übung - um evangelische Exerzitien im positiven Sinn. Vor einer genauen Abstimmung bestimmter Übungen auf die "Bedürfnisse" bestimmter Menschen ist dabei jedoch eher zu warnen: "der gesunde Organismus wächst und reift, der kranke Organismus ordnet und erholt sich" bei dem, was sich seit Jahrhunderten bewährt hat, und die "unvergleichliche Menschen-formende Kraft des Kultus hängt gerade daran, daß er nicht 'pädagogisch' ist, und daß er [...] gänzlich darauf verzichtet, den Einzelnen in einer spezifischen Weise zu beeinflussen."120 Daraus erhellt bereits Stählins Verständnis der Liturgie: Entspricht die Absetzung der Liturgie von der pädagogischen Funktionalisierung der älteren und neueren liturgischen Bewegung, so ist für Stählin der Kultus nicht vornehmlich zu gestaltende Form, sondern eher eine als Gegenüber begegnende, geformte Gestalt. Unter den drei folgenden Überschriften (A. Spannung und Lösung - B. Hinwendung und Verschlossenheit - C. Selbstbehauptung und Hingabe) werden nun Übungen unter der Maßgabe beschrieben, daß - entsprechend meinem Kategorienschema - Leben, Leib und Liturgie jeweils zusammenhängen. Das heißt, die geistliche Übung soll auch ihre positive Auswirkung auf die leibliche Gesundheit haben, die liturgischen Gebärden sollen nicht vom Alltag losgelöst werden, damit sie die Kraft behalten, "den 'profanen'
117 3 1952, S. 139. Stählin verweist hier auf das Buch Urzahl und Gebärde von Hugo KOKELHAUS, in dem der "Glaubenssatz 'Leben ist Gestalt'" in bezug auf das Handwerk bedacht wird (Vorwort, o.P.). Kükelhaus greift u.a. auf Handhaltungen von Priestern auf Bali zurück (S. 15) und bedenkt die Geheimnisse von Zahlen und geometrischen Figuren: "Die Wahrheit und das zum Leben Notwendige wird sich auch in Zukunft dem Menschen nur nach der Maßgabe erschließen, wie er es versteht, sich den großen Mächten des Lebens, ohne sie zu zerpflücken, offen zu halten." (S. 9.) Es steht zu vermuten, daß Stählin durch seinen Freund, den Architekten Gerhard Langmaack (vgl. Via Vitae, 1968, S. 181) an das Buch von Kükelhaus gekommen ist, weil dort u.a. über Kirchenbau gehandelt ist. 118 3 1952, S. 141. 119 Ebd. 120 3 1952, S. 146.
4.3. Leib
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Alltag zu durchdringen und zu heiligen."121 "Leibliche geistliche Übung" ist nach Wilhelm Stählin geradezu die Verbindung von (Alltags-)Leben und Liturgie für den Menschen, der mit demselben Leib und denselben Übungen in beiden Bereichen beheimatet sein kann. Dem Ausgleich von Spannung und Lösung dienen Übungen der Lockerung und Entspannung des Atems und der Muskulatur. Hier geht es um die Übung des Sich-Loslassens und eine daraus folgende unverkrampfte Art des Sprechens und Singens und körperlicher Haltung überhaupt, wobei die Meditation nur kurz erwähnt wird. 122 Die Lösung und Entspannung ist aber nicht nur für die leibliche Gesundheit, sondern auch für den Gottesdienst wichtig, weil der protestantische Gottesdienst unter der Vorstellung leidet, "wir müßten hier ständig zum mindesten eine geistige Arbeit vollbringen." 123 Gehört das Verhältnis von Spannung und Lösung zu der Relation des Leibes zu sich selbst, so das Verhältnis von Hinwendung und Verschlossenheit zu den Relationen des Leibes zur Schöpfung und zu anderen Menschen. Steht für ersteres der Wechsel von Ein- und Ausatmen, so für letzteres derjenige von Wachen und Schlafen. Als praktische Übung der Hinwendung nennt Stählin genaues Beobachten 124 , "er-fahren" einer Landschaft und die ganz bewußte Begehung 125 eines Raumes, das Schreiten, welches zur leiblichen Erfahrung des gottesdienstlichen Raumes fuhrt. Eher noch wichtiger aber seien Übungen zur Verschlossenheit und Abkehr, wobei die Übung des Schweigens als wichtigste zu nennen sei, aber auch die Askese im engeren Sinne, das Fasten. 126 Das dritte thematisierte Verhältnis von Selbstbehauptung und Hingabe fällt insofern etwas aus dem Rahmen, als Stählin hier zwar den ihm wichtigen Gedanken vom Opfer als Geheimnis des Heilsgeschehens wie des Lebens überhaupt wiederholt, dies aber nicht überzeugend auf leibliche Übungen zu beziehen weiß (es heißt lediglich, daß "der junge Mensch lernen muß, seinen Eigenwillen zu opfern" 127 ). Die Relevanz dieses Verhältnisses im liturgischen Sinne besteht darin, daß die Gebetsgebärde der Hingabe an Gott genau be121 3 1952, S. 148. 122 3 1952, S. 153. Dazu ausführlicher s.u. Abschnitt 4.4.1. 123 3 1952, S. 154. Wohl nicht zufällig spricht Stählin hier vom "protestantischen" und nicht vom "evangelischen" Gottesdienst, wie auch auf S. 138 der "protestantische" Schulkatechismus gegenüber dem katholischen kritisiert wurde. 124 3 1952, S. 159: "Das alte Pfadfindertum war erfinderisch in Übungen scharfer Beobachtung. Wenige Augenblicke müssen genügen, um mit wachen Sinnen aufzunehmen, was alles in einer Stube ist, [...]." 125 Über die religionspädagogische Relevanz dieser Kategorie s. Christoph B I Z E R , Die gestaltete Begehung, 1993. 126 3 1952, S. 162-165. Dazu vgl. auch: Evangelische Askese, 1936, S. 34 f.: Nicht unevangelische Überschätzung solcher Übungen sei die Gefahr, sondern "daß solche Übung ganz und gar unterbleibt." (Hervorhebung im Original.) 127 3 1952, S. 169.
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dacht und geübt sein will. Damit wird die leibliche geistliche Übung am Schluß noch einmal gegen den Vorwurf der "Selbsterlösung" verteidigt, indem in der Gottesrelation Hingabe und "Selbsterfullung" eines seien, was in der als "Opferschale" verstandenen Orante-Haltung beim Gebet zum Ausdruck komme. 128 Auffällig an den beschriebenen Übungen ist, daß sie sämtlich von der Liturgie her gedacht sind bzw. auf die Liturgie hinfuhren. In diesem Zusammenhang fällt weiterhin auf, daß nirgends vom liturgischen Tanz gesprochen wird. Zu vermuten ist, daß Stählin den Enthusiasmus eines Max Tepp ("Tanz ist Gebet") hinter sich gelassen hat und sich an der Berneuchener Art von Liturgie (die bekanntlich zur Agende I hinführt) orientiert ( - wie neue Bewegungen liturgischen Tanzes damals noch nicht bekannt sind.129). Klares Indiz für die Abwendung von der Sicht des Leibes in der Jugendbewegung ist auch die Tatsache, daß an keiner Stelle die Alkohol- und Tabakabstinenz angesprochen wird, die in früherer Zeit eine große Rolle gespielt hatte. 130 Immer wieder erwähnt wird hingegen die Bedeutung des Atems 131 , weil dieser mit Meditation, Singen und Sprechen und dadurch unmittelbar mit der Liturgie zusammenhängt. Blicken wir auf die Relationen des Leibes und die Übung des Leibes nach der Hauptschrift und einzelnen anderen Stellungnahmen zurück, so muß nicht mehr eigens begründet werden, daß der gesamte Argumentationsgang auf die Liturgie hinstrebt: In ihr ist für Stählin die jugendbewegte Leiblichkeit aufgehoben - bewahrt, überwunden und zu ihrer eigentlichen Bestimmung weitergeführt. Der Sinn des Leibes ist die Bezeugung der voranschreitenden Heilsgeschichte durch die Partizipation am Kultus. Dieser formt den Menschen neu und zielt damit auf die gänzliche Neuschöpfung. Anthropologie braucht die Ekklesiologie, Ekklesiologie braucht die Leiblichkeit des Menschen, und alle diese Fäden laufen in der Liturgie zusammen. 128 3 1952, S. 171. 1940 empfiehlt Stählin u.a. die Orante-Haltung beim Sursum corda: Form und Gebärde in Gottesdienst und Gebet, 1940, S. 5 f. Knapp wiederholt er dabei: Das Kind kann noch gar nicht ohne Leib denken (S. 6). 129Dazu s. z . B . Maria-Gabriele WOSIEN, Sakraler Tanz, 1988. 130 Vgl.: Der neue Lebensstil, 1918, S. 19: "verwüstend" wirkt die "Alkoholgewohnheit (die aufs Ganze gesehen gefährlicher sein mag als offenbare Trunksucht)." Die Anregung zum Meißnerfest 1913 war von abstinenten Studenten ausgegangen. Im Briefwechsel mit Stählin mokierte sich Wilhelm Stapel süffisant über dessen Abstinenzbefürwortung: "Die Antialkoholiker sind in Gärung geraten. Jede Post bringt mir die antialkoholischen Gärungsprodukte ins Haus. Sind Sie auch böse über meinen entsetzlichen Alkoholartikel?" (Brief von Stapel an Stählin vom 22. 8. 1925.) Obwohl Stählin dieses Thema immer weiter hinter sich ließ, heißt es noch 1940: "[...] wer keine Verhandlungen führen kann, ohne sich eine Zigarre anzuzünden, [...] den kann man in einer Bruderschaft nicht brauchen" (Bruderschaft, 1940, S. 75). 131 Vgl. Menschenführung als Aufgabe der Kirche, 1932, S. 324; Die ausgesonderten Tage, 1954, S. 81; Michaelsbruderschaft, 1980 [1961], S. 32.
4.3. Leib
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Bevor diese Schlüsselkategorie Stählinscher Praktischer Theologie beschrieben wird, ist aber nun noch umgekehrt auf Stählins im engeren Sinne ekklesiologische Schriften einzugehen, besonders auf die Konzeption des Leibes Christi nach der zentralen Schrift Vom göttlichen Geheimnis und nach der Schrift Bruderschaft.
4.3.3. Mysterium und Bruderschaft: Der Leib Christi In diesem zweiten Gedankengang gehen wir Stählins Äußerungen zur Ekklesiologie in chronologischer Abfolge nach und haben dabei gemäß der theologischen Verbindung von Leib und Leib Christi wiederum die Leitfrage im Hintergrund, inwiefern die aus der Jugendbewegung übernommene Orientierung an der Leiblichkeit einen ekklesiologischen Gedankenfortschritt erbringt. Kam im ersten Gedankengang über die Relationen und über die Übung des Leibes u.a. die Anthropologie von der Ekklesiologie her in den Blick, so liegt der Schwerpunkt hier auf der umgekehrten Fragerichtung. Überschneidungen der beiden Darstellungsgänge und Vorgriffe auf die Schlüsselkategorie Liturgie sind - aufgrund des Themas, d.h. der theologischen Verbindung von Leib und Leib Christi sowie der Liturgie als vorzügliche Lebensform des Leibes Christi - notwendig und unvermeidbar. Wir beginnen mit Stählins eindrücklichster und kraftvollster Schrift aus den zwanziger Jahren, mit Fieber und Heil in der Jugendbewegung. Seinem geschilderten Ansatz vom Erleben der Jugendlichen her entsprechend begründet er hier die Notwendigkeit der Gemeinde vom Erleben der Gemeinschaft her. In dem Kapitel "3. Gemeinschaft"132 wird zunächst das emphatische Reden von "Gemeinschaft" an dem gemeinschaftsschädigenden Verhalten in der Realität gemessen.133 Gerade die Gemeinschaft sei aber ein zu hohes Ideal, an dem die Jugend - zumal unter der Wirkung des Ideals individueller Freiheit - nur scheitern könne. Was sie in Wirklichkeit suche, sei nicht die Gemeinschaft, sondern die Gemeinde. Eine Gemeinschaft sei konstituiert durch die sämtlichen Beziehungen der einzelnen untereinander, darstellbar durch Einzelpunkte mit unzähligen Verbindungslinien. Nun erklärt Stählin den jugendlichen Lesern stattdessen Gemeinde . "nun löscht alle diese vielen einander durchquerenden Verbindungen aus, und verbindet dafür alle diese Punkte mit einem gemein132Fieber und Heil in der Jugendbewegung, 1922, S. 37-43. Es handelt sich also um ein - etwa im Vergleich zu "6. Jugendbewegung und Ehe", S. 71-85 - eher kurzes Kapitel. 133 A.a.O., S. 38: "Das Reden von hohen Idealen eines neuen Lebensstils und einer wahren Gemeinschaft wirkt lächerlich, wenn die gleichen Menschen geliehene Bücher verschlampen, die Zeit der anderen verschwenden und in Geldsachen eine erstaunliche Großzügigkeit beweisen."
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
samen Mittelpunkt, so sind sie zugleich alle miteinander verbunden [...]". 134 Dieser Gedanke (der sich gut mit dem Bild vom Haupt und den Gelenken und Bändern in Kol 2,19 verbinden ließe) wird nun aber nicht christologisch, ja nicht einmal vornehmlich theologisch, sondern vom gemeinsamen Erleben her begründet: Natureindrücke, Fahrt, Lied, Feier, Bücher, Menschen, aber auch die "gemeinsam geschaute Wahrheit" kann solch ein Gemeinde bildender Mittelpunkt sein.135 Daraus folgt dann erst, daß jede Gemeinde "Bekenntnis- und Kultusgemeinschaft" ist und daß "der echte Kultus jeden Einzelnen von sich selber befreit und vor Gott stellt".136 Ohne diese kurze Darlegung überzubewerten, zeigt sich darin jedoch eine für Stählin typische, induktive theologische Denklinie vom gemeinsamen Erleben über die Gemeinde und den Kultus in die Relation coram Deo. Diese frühe induktive Ekklesiologie geht vom leibhaften Gemeinschaftserleben aus, greift dazu jedoch nicht auf den Leib-Christi-Gedanken zurück. Gleichzeitig bestätigt, aber auch ideologiekritischer wird diese Konzeption in Schicksal und Sinn der deutschen Jugend gesehen. Zunächst lobt Stählin, daß in der Jugendbewegung nicht nur die "Gemeinschaft", sondern auch die "Gemeinde" neu entdeckt worden sei und bekennt, "daß mir und vielen anderen das Wesen der 'Gemeinde' nicht auf dem Boden der sogenannten Kirchen-Gemeinden, sondern im Kreis der Jugend zum erstenmal lebendig und gegenwärtig geworden ist." 137 Dann aber wird die Gefahr der induktiven Theologie vom Gemeinschaftserlebnis her klar benannt: So mancher wollte sich in der Jugendbewegung gern für einen frommen Menschen halten, weil er sich in Gemeinschaft und Gemeinde erlebt hatte, obwohl er "zu Gott kein Verhältnis hatte und sich für Christus nicht interessierte". 138 Die Gefahr sei,
134 A.a.O., S. 39. 135 A.a.O., S. 40. 136 Ebd. Einen guten Einblick in Stählins wirkungsvolle Redeweise vermittelt folgendes Zitat: "Darum ist die Gemeinschaft am festesten da gegründet, wo weniger von der Gemeinschaft als dem Dienst - 'Gottes-dienst' - die Rede ist; nirgends fühlen wir uns enger verbunden und verschwistert, als wenn wir im Kreis ums Feuer stehend, einander nicht mehr sehen und nicht mehr anschauen, sondern nur die Flamme, [...]" (a.a.O., S. 41, Hervorhebung dort). Das "verschwistert" zeigt ferner, wie die heute geforderte "inklusive Sprache" für Stählin durch die Mädchen und Frauen im BDJ selbstverständlich war. 137 Schicksal und Sinn der deutschen Jugend, 1926, S. 82. Es ist in Rechnung zu stellen, daß Stählin bei Abfassung der Schrift 20 Jahre Tätigkeit in Kirchengemeinden hinter sich hat! 138 A.a.O., S. 83.
4.3. Leib
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"daß hier das Gemeinschaftserlebnis selbst sozusagen mit einem religiösen Vorzeichen versehen und unmittelbar als die oder doch eine Form des Gotteserlebens selbst empfunden und gefeiert wird." 139 Der theologischen Gefahr verbunden ist gleichzeitig die pädagogische: daß der andere in seinem Anderssein gar nicht mehr ernstgenommen wird, daß man "hineintaucht in den Strom eines allgemeinen Erlebens, und der Einzelwille zerfließt in der 'Bewegung', [,..]." 140 Vieles, was "Liebe" oder "Mystik" heiße, sei nur "Lebensschwäche des Ich und ein feiger Versuch, dem realen Gegensatz zu den anderen Menschen und zu den dämonischen Kräften der Welt zu entfliehen."141 An dieser Stelle zeigt sich der ekklesiologische Erkenntniszugewinn durch das Ausgehen von der Jugendarbeit. Hier nämlich ist man genötigt, zwischen vorläufiger, infantiler und selbständiger, durch die Ichwerdung hindurchgegangener Gemeinschaftsbildung zu unterscheiden. Nicht jedoch nur bei Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen kann der Gemeindeaufbau in konventioneller Anpassung an herrschende Gruppenüberzeugungen ohne individuelle Reflexion erfolgen und damit zur Ich-Schwächung beitragen. 142 Im Rückgriff auf die vier Jahre später erschienene Schrift "Vom Sinn des Leibes" ist daher zu ergänzen: Die Sicht des einzelnen "Leibes als Glied" im Leib Christi darf nicht darauf verzichten, ihn auch als für sich existierendes Individuum ("Leib als Form") ganz ernstzunehmen. In dieser Hinsicht müs-
139Ebd., Hervorhebung im Original. Stählin erwähnt an dieser Stelle die in der Jugendbewegung vertretene Meinung, daß nun dem "Zeitalter des Sohnes" dasjenige des Geistes folge. Diese u.a. auf Joachim di Fiore (1130 (?)-1202) zurückgehende Lehre wird z.B. auch von Ernst BLOCH, Das Prinzip Hoffnung, Bd. I, 1959, bes. S. 590-598 um ihrer utopischen Implikationen willen herangezogen. - Gegenwärtig könnte die Lehre vom "Zeitalter des Geistes" große Plausibilität erlangen, da mit zunehmender Individualisierung die Personalität Gottes in dem einen Menschen Jesus immer mehr zum Anstoß wird. 140 A.a.O., S. 85. Leider sollte Stählin wenige Jahre später Recht bekommen mit seiner Befürchtung, daß sich viele Jugendliche "'hin-reißen' lassen von irgend einer stark wirkenden Bewegung [...]" (ebd.). 141 Ebd. 142 Dies ist in Anlehnung an die "stages of faith" von James W. Fowler formuliert, der den entscheidenden Schritt zum Erwachsenwerden im Übergang von der 3., "synthetisch-konventionellen" zur 4., "individuell-reflektierenden" Glaubensstufe sieht: "In einer typischen Gemeinde sind viele Personen am ehesten der synthetischkonventionellen Glaubensstufe" zuzuordnen (James W. FOWLER, Glaubensentwicklung, 1989, S. 123). Kirchen haben nach Fowler mit dem individuellen Typ Mensch am meisten Probleme (a.a.O., S. 130), und in einigen fundamentalistischen Gemeinden wird noch nicht einmal die "mythisch-wörtliche" Stufe 2 erreicht (a.a.O., S. 119).
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sen gerade emanzipatorische und missionarische Gemeindeaufbauprogramme kritisch befragt werden.143 Andererseits fällt die Kritik Stählins an der normalen Kirchengemeinde auch noch zwei Jahre später aufgrund seiner positiven "Gemeinde"-Erfahrung im Jugendbund vernichtend aus. Die Kirchengemeinde läßt in der Regel die "Lebensäußerungen und Lebensbeziehungen" der Gemeindeglieder unberücksichtigt. Sie ist wie ein "Verein, der seine Mitglieder zu einem bestimmten Zweck, nämlich der gemeinsamen Befriedigung religiöser Bedürfnisse zusammenruft, aber sie im übrigen, außerhalb dieses einen Zweckes, vollkommen ihre eigenen Wege gehen läßt und gehen lassen muß."144 Darum nimmt der Jugendbund fur Stählin den Charakter der Ersatzgemeinde an: In der Kirchengemeinde selbst kann der Jugendbund oft keine Heimat finden. Viele Kirchengemeinden sind "so gänzlich leblos, [...] daß Jugend wirklich nur darüber lachen oder daraus fliehen kann."145 Damit verdankt Stählin nach eigener Einschätzung jedoch seiner Zeit im Jugendbund die neue Entdeckung dessen, was Gemeinde sein kann; jenseits der übersteigerten Berufung auf die Gemeinschaft und jenseits der Festlegung auf die Institution Kirche1*6, welche nach Stählins Einschätzung die Entfaltung "lebendiger Religion" oft mehr behindert als fördert. Stählin war seinerseits aufgrund dieser Neuentdeckung dazu in der Lage, Jugendlichen das nahezubringen, was die Kirche nach dem Neuen Testament sein kann: eine Gemeinde von Menschen, deren geistige und soziale Unterschiede nicht naiv übersprungen werden, sondern gerade als solche in den Dienst der Gestaltwerdung des Christusleibes gestellt sind.147 Die terminologische gegenseitige Bezugnahme von "Verleiblichung"148 (in der Jugendbewegung) und "Leib Christi" ist jedoch auch im Berneuchener Richtig spricht Karl Ernst NIPKOW, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, 1 9 9 0 , S. 9 6 - 1 0 5 von "ethischer Problemverlagerung" als Gefahr des emanzipatorischen und von "dogmatischer Problemreduktion" als Gefahr des missionarischen Gemeindeaufbaus. - Gleichermaßen sind hier die individuellen Bedenken und Blockaden vernachlässigt. 144 Jugend und Gemeinde, 1928, S. 137. 145 A.a.O., S. 147. Noch 1930 betrachtete Stählin den Bund als "nötige Form der Ersatzkirche" (Horst Dieter TOBOLL, Evangelische Jugendbewegung 1919-1933, 1971, S. 74, Anm. 31). 146Jugend und Gemeinde, 1928, S. 129: die Jugendhabe das Wort Gemeinde gewählt, weil es "nicht so abgegriffen und nicht so sentimental wie das Wort 'Gemeinschaft' und nicht so belastet wie das Wort 'Kirche'" war. 147 Vgl. dazu die beiden treffenden Zitate von Erich NESTLER, S.O. S. 36 f. 148 Wie sehr sich Stählin in diesen Jahren mit der Kategorie "Leib" beschäftigte, zeigt der Satz: "Die Dinge sind unser erweiterter Leib, unser Leib aber Ausdruck unserer Sendung in der Welt." (Religionsunterricht für Erwachsene, Nürnberg 3. 12. 1925, 143
4.3. Leib
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Buch nur angedeutet. Hier begegnen zwar viele der Aussagen über den Leib des Menschen, die wir im vorigen Abschnitt kennenlernten 149 , auf die Kirche wird der Leibgedanke jedoch nicht programmatisch bezogen. So heißt es nur allgemein, daß alle irdische Wirklichkeit leibhaft ist: "der Geist wird wirklich nur, indem er seinen Leib schafft" 150 , daß die Wahrheit in die irdische "Sphäre der Leiblichkeit gestaltend hineinwirkt", wobei Gottesdienst und Alltag genannt werden 151 , und daß der Glaube die "leibhafte Darstellung" in der Bereitschaft zur ökumenischen Gemeinschaft fordert. 152 Der Begriff des Leibes Christi jedoch ist im Bemeuchener Buch an keiner Stelle genannt, was bei einer ÄT/rcAewreformschrift einigermaßen verwundert. Kehren wir zu Stählins eigenen Schriften zurück, so nennt er 1930 u.a. die Gemeinschaft am Leib Christi als Begründung für pädagogisches Handeln aus dem Glauben153, wobei dies nur eine nebengeordnete Argumentationsfigur ohne Wirkung auf die Ekklesiologie bleibt. Entscheidende Bedeutung hingegen hat - wie oben in der biographischen Skizze geschildert - das Werden der Bemeuchener Bewegung und der Michaelsbruderschaft. Hierin schlägt sich für Stählin die zweite Erfahrung von Gemeinschaft und Gemeinde nieder, dieses Mal zudem nicht an "zu fuhrenden" Jugendlichen orientiert, sondern an einer Gruppe Erwachsener mit etwa gleichen Interessen (viele Gründungsmitglieder der Michaelsbruderschaft hatten die Erfahrung der Jugendbewegung hinter sich154). Fundamental sind dabei zwei Aspekte: die Transformation des jugendbewegten Primats der Leiblichkeit in die Feier des Sakraments (Herrenmahls) und des Jugendbundes in die Erwachsenenbruderschaft. Damit werden die Zentralbegriffe Stählinscher Ekklesiologie erreicht: Mysterium und Bruderschaft. Beide zusammen ergeben die Bedeutungsvielfalt des im Neuen Testament mit σωμα Χρίστου Gemeinten. Die soziale und die sinnliche Komponente der durch S. 2, zum 7. Gebot.) Aus diesem Zitat spricht eine gewisse Nähe zur Denkweise der Phänomenologie, indem dort der eigene Leib Ausgangspunkt der Erkenntnis ist (etwa in Max Schelers "ordo amoris"). 149Das Gotteswort ergeht im Leib (Das Bemeuchener Buch, 1926, S. SO. 86); die geschlechtliche Leiblichkeit ist in diesem Zusammenhang von hervorgehobener Bedeutung (a.a.O., S. 60 f., 142 ff.); der Leib ist "Gleichnis" (a.a.O., S. 102 f., 148 f.); wichtig ist ein leibhaftes Bekenntnis (a.a.O., S. 100 f.); der Leib ist das "Symbol" der Sendung des Menschen in die Welt (a.a.O., S. 144). 150 A.a.O., S. 98 (Anfang des Teils "Evangelische Form"). 151 A.a.O., S. 111 (im Abschnitt "Der Kultus"). In unserem Zusammenhang fällt auf, daß der Leibbegriff in dem Abschnitt "Der Bau der Gemeinde", S. 116-134 an keiner Stelle auftaucht. 152 A.a.O., S. 168 (im Abschnitt "Die Heiligung des Volkes"). 153 Erziehung aus dem Glauben, 1930, S. 27. Daneben sind die Nächstenliebe und das allgemeine Priestertum weitere Begründungen. 154 Einige äußerten auch Bedenken, daß dem BDJ durch die Gründung des Bemeuchener Kreises ein "Aderlaß" zugefügt worden sei: Horst Dieter TOBOLL, Evangelische Jugendbewegung 1919-1933, 1971, S. 68, Anm. 7.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
die Jugendbewegung wichtig gewordenen Leiblichkeit gehen über in die Bruderschaft, die sich vom Mysterium her versteht. Damit wird die eigene Erfahrung auf die neutestamentliche Ekklesiologie rückbeziehbar und Leib und Leib Christi können einander von mehreren Sinnhorizonten her erklären. Es kommt für Stählin von nun an vor allem darauf an, in der Bruderschaft um das Mysterium des Leibes Christi selbst Leib Christi zu sein und erst von daher Kirche zu reformieren.155 Dieses Ineinander von Leib Christi als sakramentalem und ekklesiologischem ist bei Stählin in ausgebildeter Form erstmals 1931 - also im Jahr der Gründung der Michaelsbruderschaft greifbar. Im März 1931 hält Stählin auf der Britisch-deutschen Theologenkonferenz in Chichester einen Vortrag: Der Leib Christi in den Sakramenten. Darin heißt es am Schluß: "Der Leib Christi aber ist gegenwärtig in der Gemeinde, in die der Mensch durch das Sakrament 'einverleibt' wird und die sich selbst in dem sakramentalen Mahl darstellt und erneuert."156 Die doppelte Bedeutung von "Leib Christi", d.h. die sakramentale und die ekklesiologische, geht Stählin neu auf, indem er die communio sanctorum vorwiegend neutrisch und als genitivus obiectivus versteht: Die communio sanctorum ist ein "Anteil-Gewinnen und Anteil-Haben", indem die Sakramente dem einzelnen Menschen "Anteil geben an dem Opfer Christi, ihn einbeziehen in das Geheimnis von Tod und Auferstehung und ihn eingliedern in die Kirche als den Leib Christi."157
155 So heißt es in der Urkunde der Evangelischen Michaelsbruderschaft, I, 2: "Wir können an der Kirche nur bauen, wenn wir selber Kirche sind. [...] Die Kirche ist der Leib Christi, durch den Christus sein Werk in der Welt tut." (Die Evangelische Michaelsbruderschaft, 1981, S. 13.) Die Verpflichtung beim Eintritt in die Bruderschaft lautet u.a.: "Ich füge mich gehorsam ein in die Ordnung der Bruderschaft zum Dienst an der Kirche." (A.a.O., S. 17.) 156Der Leib Christi in den Sakramenten, 1931, Sp. 164; Hervorhebung dort. Hier finden sich mehrere, für Stählin charakteristische Gedanken: Das Abendmahl soll den Charakter dankbarer Freude als Eucharistie haben (Sp. 161), wichtig ist der Opfergedanke (ebd.), Wort und Sakrament sind ein "sinnlich-leibhaftes Geschehen" (Sp. 162, Hervorhebung dort). Dazu s. schon: Die Stellung der Elemente in der Abendmahlsliturgie, 1926, S. 63: Die verba testamenti seien nur verstehbar von Jesu "Gleichnissprache naturhafter Wachstums- und Lebensvorgänge" her. Für Stählin ist auch die Sprache selbst "Leibwerdung und Erscheinungsform eines geistigen Geschehens." (Die Kirche Christi und das Wort Gottes, 1937, S. 17.) Ähnlich ist der "Leib der Sprache" genannt in Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 35. 157Der Leib Christi in den Sakramenten, 1931, Sp. 164. Wie der maskuline Gen. subj. und der neutrische Gen. obj. zusammenhängen, zeigt materialreich Albrecht PETERS, Kommentar zu Luthers Katechismen, Bd. 2, 1991, S. 215 ff. Als "geistliche Keimzelle" sieht Peters, a.a.O., S. 215 das "sancta sanctis" aus Cyrills mystagogischen
4.3. Leib
189
Bereits 1930 hatte Stählin von daher die neue "Lebensordnung" der preußischen Landeskirche kritisiert, weil diese an Bestandssicherung qua Kirchenzucht (und eben nicht an der communio sanctorum) orientiert sei. Wenn etwa die Konfirmation "von einer konstatierten inneren Reife" abhängig gemacht werde, sei "die Substanz der evangelischen Kirche angegriffen [...] und der Weg zur Sekte beschritten."158 Daraufhin kommt es 1931 zu einer Kontroverse mit dem Pfarrer Friedrich Flemming im Westfälischen Pfarrerblatt. Flemming hatte scharf zwischen Volkskirche und "Kerngemeinde" (bzw. "Bekenner-Kirche"159) getrennt, sich dafür auf Luther berufen und somit der neuen Lebensordnung der Landeskirche zugestimmt. In diesem Zusammenhang hatte Flemming geschrieben, wer aus der Landeskirche austrete, trenne sich damit auch vom Leib Christi. Dazu Stählin: "Gegen diese Sätze kann nur der schärfste Widerspruch erhoben werden. Das wagt nicht einmal das katholische Dogma in bezug auf die römisch-katholische Kirche zu sagen. Bei allem Willen zur Kirche, zur sichtbaren, verfaßten Kirche, [...] wer zu dem Leib Christi gehört und wer nicht, können wir Menschen schlechterdings nicht nach dem äußeren Verhältnis zu irgendeiner sichtbaren Kirche auf Erden beurteilen."160 Man wird diese beiden Äußerungen zum Leib Christi aus dem Jahr 1931 so interpretieren dürfen, daß hier die "Leiblichkeits"- und "Lebendigkeits"-Erfahrung der Jugendbewegung ekklesiologisch klärend wirkt. Der Leib Christi Katechesen an, welches in der Berneuchener Ordnung vor dem Agnus Dei als "Einladung zum Mahl" steht (Die Ordnung der Deutschen Messe, 1937, S. 34). Dazu s. auch: Sancta Sanctis, 1963 [I960], Den Gemeinschaftscharakter der communio sanctorum betont Stählin in: Menschenführung als Aufgabe der Kirche, 1932, S. 318; 1933 heißt es hingegen, "daß unser heutiger Begriff von Gemeinschaft ein völlig unbiblischer Begriff ist und daß das Wort koinonia vielmehr mit dem Genitiv objektivus ein gemeinsames Anteil haben an etwas bezeichnet" (Kirchliche Seelsorge, 1933, S. 139, 2. Sp.). Dies schärft Stählin auch den Studenten ein: Protokoll des Homiletisch-liturgischen Seminars vom 15. 11. 1933, 4. S. (o.P.) und Protokoll der Homiletisch-liturgischen Sozietät vom 29. 11. 1933, 3. S. (o.P.). 158Die neue "Lebensordnung" der preußischen Landeskirche, ChW 1930, Sp. 469. Trügerisch sei der Versuch der Kirche, sich sichern zu wollen und "das freie Wagnis lebendigen Lebens in ein System von Paragraphen zu verwandeln" (Sp. 471). Entsprechend seinen jugendbewegten Abneigungen spottet Stählin über die pastorale Feierlichkeit und das Juristendeutsch der Ordnung als "stilistische Kreuzung von Zion und Moabit" (Sp. 461). - Auch der junge Martin Stallmann übte scharfe Kritik an der Ordnung und dem folgenden Agendenentwurf: Edith STALLMANN, Martin Stallmann, 1989, S. 136-142. 159 Flemming wurde später Vertrauensmann in der Bekennenden Kirche Westfalens, s. Edith STALLMANN, Martin Stallmann, 1989, S. 137. 160Noch einmal: Zur Kritik der Ordnung des kirchlichen Lebens, 1931, S. 76. Damit ist Stählins grundlegender Konflikt mit dem "Dahlemer Flügel" der Bekennenden Kirche deutlich präfiguriert.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
ist nicht unsichtbar, aber seine Sichtbarkeit wird nicht organisatorisch greifbar, sondern im ("lebendigen") Geschehen des "Anteil-Gewinnens" am Heiligen. So versucht Stählin, angesichts des Schwindens volkskirchlicher Sitte und angesichts von Kirchenaustritten an der reformatorischen Erkenntnis festzuhalten, daß die Kirche allein in Wort und Sakrament ihre Sichtbarkeit hat. Nicht die organisatorische Abgrenzung einer wahren Kirche fördert das Leben des Christusleibes, sondern die Gestaltwerdung des Heiligen im Mysterium und der Heiligen in der Bruderschaft. Der lebendige Leib des Christus ist die innere Kraft der Organisation Kirche. Insofern könnte man im Gegenüber zu Bonhoeffers Konzept "Kirche für andere" bei Stählin von einem Konzept "Kirche für Kirche" sprechen. Die Linien vom Leib Christi in der Gestalt der Kirche und in der des Sakramentes laufen aber erst endgültig in dem Hauptwerk Vom göttlichen Geheimnis 1936 zusammen. Nach Stählins eigenem Bericht geht die Verbindung der beiden Bedeutungen von "Leib Christi" nun gerade auf äußere Umstände zurück: Sein Freund Ludwig Heitmann hatte ihn zu einem Vortrag über den inneren Zusammenhang von Sakrament und Kirchengestalt aufgefordert. Dabei ersetzte Stählin den unbiblischen Begriff des Sakraments durch "Mysterium", und dies erwies sich als dermaßen fruchtbar, daß der Vortrag zu einem Buch wurde, das Stählin dann für sein "eigentliches theologisches Bekenntnis" hielt.161
161 Via Vitae, 1968, S. 369. Wie aus dem Briefwechsel mit den Michaelsbrüdern hervorgeht, entstand das Buch 1935/36, wobei zwischen der Abfassung des Teils "Grundlegung" und "Das göttliche Geheimnis der Kirche, I" (Wort und Sakrament), also den ersten SO Seiten des vorliegenden Buches und dem Rest fast ein halbes Jahr Pause lag (Brief Stählins an K.B. Ritter, L. Heitmann und O.v. Gablentz vom 19. 3. 1936). Stählin schickte die fertigen Teile jeweils mit der Bitte um Rückmeldung in einem Umlaufverfahren an die Freunde. Karl Bernhard RITTER reagierte am 31. 3. 1936 sehr zustimmend und erwartete den "erbitterten Widerstand vornehmlich der Theologen der BK" und ein gleichzeitiges Aufatmen der Laien. Heinz-Dietrich WENDLAND nahm am 1. 5. 1936 Anstoß an der apostolischen Sukzession und bat um Streichung des Satzes, daß die Sakramentslehre in Spannung zur Rechtfertigungslehre stehe (der Satz findet sich im Buch tatsächlich nicht). Auf Christhard MAHRENHOLZ' Anregung hin (Brief vom 25. Mai 1936) wurden positive Bemerkungen über die Arkandisziplin getilgt: Mahrenholz apostrophierte diese als mehr romantisch-freimaurerisch denn als urchristlich. Auch Mahrenholz äußerte in seinem Brief - von 7 Seiten - Bedenken gegen die Betonung der Sukzession. Für die Übersendung des fertigen Buches dankte Odo CASEL am 19. 12. 1936: Die Grundidee der Gegenwart Christi in der Kirche entspreche "so sehr dem, was auch der Kern unseres Lebens ist, daß man sich beständig bei Ihnen auf heimatlichem Boden befindet." (Casel hatte übrigens schon 1922 geschrieben, die "jetzt schnell voranschreitende Teilung der Menschheit in Christen und Ungläubige" werde die Arkandisziplin vielleicht wieder zu Ehren bringen (Die Liturgie als Mysterienfeier, 1922, S. 141). - Eine genaue Rückmeldung zu sprachlichen Details und den Rat, das Buch mit Quellennachweisen zu versehen, gab Wilhelm THOMAS am 24. 8. 1936; am 19. 5. 1937 schrieb er
4.3. Leib
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Wie wir schon im letzten Darstellungsgang über die Relationen des menschlichen Leibes sahen, gehören in dieser Hauptschrift aber auch Leib und Leib Christi zusammen. Das Sakrament ist Mysterium, die Kirche ist Mysterium 162 , aber auch der Leib des Einzelnen ist Mysterium 163 , insofern der in der Kirche lebendige Christus das einzelne Glied des Christusleibes auf die Vollendung hin wandelt. In diesem Zusammenhang wird nun auch auf Kol 2,19 angespielt, ohne freilich die Stelle selbst zu zitieren. 164 Vielmehr formuliert Stählin über das Geheimnis Christi das folgende, in der für ihn typischen Begrifflichkeit: "Er ist das Haupt seines Leibes, von dem aus das Ganze mit einer bestimmten Lebensmächtigkeit durchströmt und in einen bestimmten Formwillen geordnet wird. [...] Das göttliche Geheimnis ist das Geheimnis einer leibhaften Wirklichkeit, einer geschichtlichen Gestalt." 165 Blicken wir auf den gesamten bisher zurückgelegten Weg der Darstellung zurück, auf das, was zu den Schlüsselkategorien "Leben" und "Leib" ausgeführt wurde, so läßt sich sagen: 1936 hat Stählin die Endform seiner Theologie erreicht, indem er die anthropologischen Kategorien "Leben" und "Leib" und darüber hinaus die lebensphilosophische Tiefenstruktur der Jugendbewegung in die Christologie und Ekklesiologie einfließen läßt. Religionsphilosophisch betrachtet ist Stählins Mysterienlehre die Projektion der Lebensphilosophie in die Theologie, speziell in die Praktische Theologie: "Das ganze Sein der Kirche mit allen ihren Lebensformen ist eine Welt des Mysteriums. Es atmet diese Luft, es ist in diesen Strom getaucht und von ihm ganz und gar durchtränkt. Es sind nicht so sehr einzelne Handlungen, die im besonderen als Mysterien oder Sakramente beschrieben werden, sondern vielmehr eine alles durchflutende, durchleuchtende und nährende Kraft des göttlichen Geheimnisses. Einerlei, ob es sich um die Lesung der Heiligen Stählin die Quellenangabe zu der Formel "in, mit und unter", welche in dem Buch trotz vielfacher Verwendung schlicht fehlt. 162 "Wer von dem Mysterium Christi redet, muß auch reden von dem Mysterium der Kirche.": Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 30. Ebd. bezeichnet Stählin Christologie und Ekklesiologie als "zwei kommunizierende Röhren", deren Stand sich in der Geschichte immer auf gleich hohem oder niedrigem Niveau bewegt habe. 163 A.a.O., S. 12: "Wenn der Mensch mit dem göttlichen Geheimnis in Berührung kommt, so wird er mit seiner ganzen Existenz, auch mit der Wirklichkeit seines Leibes und seines Blutes in einen neuen Zusammenhang eingefügt." Ebenso warte die ganze Schöpfung auf die Neuwerdung (ebd., Stählin verweist auf Röm 8,21). 164U.a. diese Stelle mag Wilhelm Thomas gemeint haben, als er am 24. 8. 1936 an Stählin schrieb, die zahlreichen biblischen Anspielungen ohne Stellenangabe würden Nicht-Theologen verwirren. 165 A.a.O., S. 23.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Schrift, um das Gebet, um den Dienst an den Kranken und Sterbenden, um die Unterweisung der Katechumenen handelt [,..]." 166 Man könnte Stählins Sicht auf die einfache Formel bringen: Das Leben des lebendigen Christusleibes.167 Die Schrift befaßt sich demnach hauptsächlich (S. 29-144) mit dem "göttlichen Geheimnis der Kirche", wobei eine kurze Grundlegung über "Das göttliche Geheimnis und seine Lebensform" (S. 923) und "Das göttliche Geheimnis Christi" (S. 23-28) vorangestellt ist. Eine tragende Rolle zur Verknüpfung des eucharistischen und ekklesiologischen Leib-Christi-Gedankens übernimmt die klassische Formel "in, mit und unter" aus der lutherischen Abendmahlslehre.168 Sie ist gewissermaßen das Scharnier zur Verbindung von Abendmahlslehre und Stählins eigenstem theologischen Denken, welches "Vom Sinn des Leibes" herkommt: Das leibhafte Mysterium wirkt im Leib Christi auf den Leib des Menschen. Die lebensphilosophische Denkstruktur wirkt sich dabei so aus, daß die vitale, von bewußter menschlicher Durchdringung unabhängige Mächtigkeit des Heiligen besonders herausgestellt wird: "'Wer mir nahekommt, der kommt dem Feuer nahe', lautet ein apokryphes Herrenwort. Man kann Ihm nur nahen mit der Bereitschaft, sich mit seinem Feuer taufen zu lassen; das heißt mit der ehrlichen Bereitschaft, alles das geschehen zu lassen, was dieser Feuerbrand an uns vollbringt. Es ist gefährlich, nein es ist tödlich, ohne solche Bereitschaft in der Nähe des Feuers zu verweilen." 169
166 A.a.O., S. 44. Dies ist zwar im Rückblick auf die alte Kirche formuliert, aber gerade so von Stählin durchaus normativ gemeint. 167 Vgl. dazu die Formulierungen über das johanneische Bild vom Weinstock (Joh 15,18 - auch hier fehlt der Quellennachweis): "[...] in jedem einzelnen Zweiglein, in jeder einzelnen Blüte des heiligen Baumes gewinnt das verborgene Leben immer neue sichtbare Gestalt." (A.a.O., S. 31) Wenn Adolf von Harnack eine Dogmatik unter dem Thema "Das Leben der Kinder Gottes" schreiben wollte und Karl Barth diese Formulierung über den § 18 seiner Kirchlichen Dogmatik (Bd. 1,2 [1937], S. 397504) setzte, so hätte Stählin eine Dogmatik eben unter dem Titel "Das Leben des lebendigen Christusleibes" schreiben können. Die Realität der Versöhnung ist "ganz und gar gebunden" an das "leibhafte Opfer des Christus. Das göttliche Geheimnis ist leibhafte Wirklichkeit." Gegen diese Einmaligkeit des göttlichen Geheimnisses "hat sich alles natürliche menschliche Denken von den Athenern bis zur Deutschen Glaubensbewegung immer empört." (A.a.O., S. 11.) 168 A.a.O., S. 14-17; S. 63-71 (in "Das Geheimnis des geistlichen Lebens"); S. 130-137 (in "Die Gestalt der Kirche"). Die Formel findet sich in der Solida Declaratio in der Konkordienformel, VII., Vom heiligen Abendmahl, BSLK, S. 983, 15 ff. (Hervorhebung dort): "Unter dem Brot, mit dem Brot, im Brot." Mit ihr wird die Transsubstantiation verworfen, die Formel wird an der Stelle bereits als eine geläufige vorausgesetzt. 169 A.a.O., S. 28. Auch hier wird die Herkunft des apokryphen Wortes nicht angegeben. Es lautet vollständig: "Wer mir nahe ist, ist dem Feuer nahe; wer mir fern ist, ist
4.3. Leib
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Damit kann das geistliche Leben lebensgefährlich werden: Es besteht die Möglichkeit, daß der Mensch "zum Mörder wird an dem Leben des Gotteskindes, das in ihm erwachen und wachsen will." Doch indem wir das göttliche Leben in uns "erwürgen", zerstören wir uns selbst: "Das Mysterium ist auch in der Gestalt des ganz persönlichen Lebens gefahrlich."170 Die heiligen Kräfte sind "wie ein mit ungeheurer Spannung geladener Stromkreis", von dem man auch erschlagen werden kann.171 Wort und Sakrament, "in denen Gottes heilende Gnade die leib-seelische Ganzheit der Menschen durchströmen will, haben wirkliche Macht aus Gottes wirklicher und wirkender Macht empfangen."172 Das Sakrament ist leibliche Realität - so will die Taufe Denken, Wollen, Fühlen, Sehen, Hören, Gehen und Handeln, den ganzen Leib des Menschen durchdringen.173 Demgegenüber wird nun gerade qua Umkehrschluß festgestellt, daß der Teufel keinen Leib hat. Der Teufel bindet sich nicht an konkrete Gestalten, er bleibt immer außerhalb und ist "zwischen" den Dingen: "Es gibt keinen 'leibhaften' Teufel; und es ist wie ein grimmiger Hohn, daß er, der tausend Gestalten, aber nicht eine Gestalt hat, 'der Leibhaftige' genannt wird."174 Es ließen sich noch weit mehr Belege anfuhren, die zeigen: Stählin stellt die Realität Christi und des geistlichen Lebens bevorzugt in leiblichen Kategorien dar. (Gerade die Bemerkung über den Teufel ist dabei angesichts einer neuen Wirksamkeit des Okkulten und des Interesses an Satanskulten unter Jugendlichen von direkter religionspädagogischer (homiletischer) Konsequenz. Die Frage, "ob es einen Teufel gibt", kann in deutlichem Gegenüber zur Christologie so beantwortet werden: Zwar gibt es viele Auswirkungen des Teufels, dieser selbst ist aber nicht faßbar, weil er nicht zur Leiblichkeit dem Reiche fern." und gehört zu den einzeln überlieferten, versprengten Herrenworten: s. Edgar HENNECKE, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. I, 3 1959, S. 55. 170 A.a.O., S. 79. Auf das Reden vom "göttlichen Kind in uns", das aus mystischer Tradition stammend gegenwärtig besonders von Eugen DREWERMANN wirkungsvoll vertreten wird (vgl. ders., Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. I, 1991 [1984], S. 502-529), sei hier nochmals verwiesen. 171 A.a.O., S. 21. 172 Ebd. 173 A.a.O., S. 77. 174 A.a.O., S. 19. Stählin unterscheidet ebd. genau zwischen dem Antichristen, in dem sich "der Zerstörungswille des Widersachers zusammenballt", und dem Teufel selbst, der sich nicht an Personen bindet. Es gibt also keine "Inkarnation des Teufels." Man wird dies als Konsequenz der Christologie so deuten können: Die Inferiorität des Teufels kommt nicht vornehmlich in der geringeren Mächtigkeit, sondern gerade umgekehrt in der Unfähigkeit zur Erniedrigung zum Ausdruck. Die Torheit des Teufels erhellt erst gänzlich aus der als Weisheit geglaubten Torheit des Kreuzes (1. Kor 1,18).
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
fähig ist. Teufelskult wie Verteufelung von Einzelnen sind darum keine realen Möglichkeiten.175) Erst mit dieser Schrift wird darum ganz verständlich, was Stählin über die Relationen des menschlichen Leibes sechs Jahre zuvor in "Vom Sinn des Leibes" geschrieben hatte. Im ersten Darstellungsgang dieses Abschnittes hatten wir deshalb schon mehrfach aus der Schrift "Vom göttlichen Geheimnis" zitiert, so daß wir uns im folgenden auf einige ergänzende Hinweise zur Wirkung des eucharistischen und ekklesialen Leibes Christi auf den Leib des einzelnen Menschen beschränken können. Hier bezieht Stählin Position gegen eine nur forensische Rechtfertigungslehre176, welche das Reden von der Heiligung des Lebens und von realen Auswirkungen der göttlichen Gnade dem Pietismus und den Sekten überlasse. Demgegenüber gehe es um "eine reale Kraft, der man sich hingeben und anvertrauen kann, und die, wenn man sich ihr hingibt, die erstaunlichsten Wirkungen und Wandlungen in unserem ganzen Leben hervorbringt."177 Viele Hemmungen des geistlichen Lebens beruhen auf unserem leiblichen Leben, in dem wir "auch das Tier als ein Teil unseres unerlösten Selbst in uns tragen". 178 Wichtig ist darum eine leibliche Realität geistlichen Lebens. Diese kann sich u.a. bei der Meditation eines Inhaltes ereignen, indem dieser "mir auf den Leib rückt, ja, in mich selber eindringt, so daß ich seine Gegenwart bis in leibliche Empfindungen erfahre."179 Damit ergeben sich Meditation, Gebet und Askese als die drei Formen des geistlichen Lebens, welche das Mysterium der göttlichen Gegenwart hüten. Stählin allegorisiert (!) hier den Kirchenraum: Die Meditation ist der innere Raum, das Gebet der Chor gegen Osten und die Askese die nach Westen gerichtete trutzige Wand.180 1751m Rückblick ist man versucht, Stählins Satz "wir trinken das Gift der Hölle aus goldenen Bechern" (a.a.O., S. 19, Stählin rekurriert wieder auf das "pax et securitas" aus dem Ludus de Antichristo) auf das Jahr der Entstehung der Schrift zu beziehen: 1936 stand das "friedliche" "3. Reich" mit der Ausrichtung der Berliner Olympiade in weltweiter Anerkennung. 176 An die Erstfassung dieser Textpassage könnte H.D. Wendland in seinem kritischen Brief vom 1. 5. 1936 gedacht haben (s.o. Anm. 161). 177 A.a.O., S. 67. Stählin bezieht sich hier auf die Oxford-Bewegung, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts u.a. das geistliche Amt in apostolischer Sukzession, die Realpräsenz Jesu Christi im Sakrament und schließlich die Wiederherstellung des asketischen christlichen Gemeinschaftslebens herausstellte, also sämtlich Theologoumena, denen auch Stählin Sympathie entgegenbrachte (vgl. Martin SCHMIDT, Art. "Hochkirchliche Bewegung I", 3RGG, Bd. 3, 1959, Sp. 376-378). 178 A.a.O., S. 76. 179 A.a.O., S. 74. 180 A.a.O., S. 77.
4.3. Leib
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Am Schluß dieser Zusammenstellung sei noch einmal daran erinnert, daß das geistliche Leben nach Stählin aufgrund der Formel "in, mit und unter" gerade nicht im Gegensatz zur weltlichen bzw. leiblichen Realität verstanden werden darf. Der Leib ist nicht heilig und nicht sündig, sondern unterliegt der Zwiespältigkeit und der schon jetzt anhebenden Heiligung und Vollendung. Am Schluß seiner Schrift verweist Stählin darum nochmals auf sein bevorzugtes Beispiel der Ehe, in der Eros und Agape nicht im Kontrast zueinander interpretiert werden dürfen: "Ist es zu kühn gesagt, daß der natürliche Eros hier die gleiche Rolle spielen darf wie die naturhaften Elemente im Sakrament, die eben nicht aufhören, so erdenwirklich zu sein wie zuvor?"181 Mit der Leiblichkeit argumentiert Stählin auch bei seinen konkreten Vorschlägen zur Gestaltung der Kirche. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf den kirchlichen Ämtern. Die Orientierung am Leibbegriff hat jedoch nicht die demokratische, basisorientierte Sicht der Ämter- und Charismenvielfalt zur Folge (wie sie etwa nach der theologischen Erklärung von Barmen, Satz III gegenwärtig vertreten wird), sondern die hierarchische. Darin ist die vom Führerprinzip geprägte Erfahrung des Jugendbundes BDJ über Berneuchen182 und die Michaelsbruderschaft bis in Stählins ekklesiologische Visionen hinein wirksam geworden. Formung, Gliedschaft und Ordnung sind die heuristischen Leitlinien, welche zu der bleibenden Betonung des "lebendigen Lebens" in unübersehbarer Spannung stehen. Die gegen die Auswüchse der Jugendbewegung 1922 in "Fieber und Heil in der Jugendbewegung" entwickelte Einsicht, daß das Leben Form benötige, hat sich im Laufe von eineinhalb Jahrzehnten zur Propagierung bestimmter - hierarchischer - Formen hin entwickelt. Stählin schickt eine christologische Begründung voran: die Rede von der "unsichtbaren Kirche" sei Doketismus, der den Versuch, die Kirche auf Erden als leibhafte Wirklichkeit zu finden oder zu gestalten, als Schwärmerei verdamme. Beim Arianismus in bezug auf die Kirche werde diese nicht mehr
181 A.a.O., S. 135. Schon 1929 hatte Stählin die "religiöse Sinnbildlichkeit des geschlechtlichen Lebens" genannt, weil hier "einer der Orte ist, wo der Mensch aufgerufen wird, sich vertrauensvoll hinzugeben einem übergreifenden Lebenswillen [...]": Das Sexualproblem der Gegenwart, 1929, S. 2 f. (Vortragsmitschrift) A.a.O., S. 6 sprach er sich für die Möglichkeit einer Ehescheidung in beiderseitigem Einverständnis bei Zerrüttung der Ehe aus. 182 An die Mitglieder des Berneuchener Kreises schrieb Stählin während der Drucklegung im Juni 1936 über "Vom göttlichen Geheimnis", "daß ich diese Schrift als eine abschließende Zusammenfassung der Erkenntnisse und Gedanken empfinde, die meine Freunde und mich in den letzten Jahren bei der Besinnung auf die Not unserer Kirche und ihre Überwindung erfüllt haben." (Der Brief, EvJ 1935/36, S. 156.)
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
als Geheimnis verstanden, sondern als "die edelste B l ü t e menschlicher Kultur" und Gottesahnung. 1 8 3 N a c h fünf Seiten hin entfaltet Stählin sodann die c o m m u n i o sanctorum, die er früheren Ä u ß e r u n g e n g e m ä ß nun mit "Gemeinschaft d e s g ö t t l i c h e n Geheimnisses" übersetzt 1 8 4 : 1. D i e Gemeinschaft entsteht nicht durch weltliche Gemeinsamkeiten, sondern durch das Wort und das Herrenmahl im Gottesdienst. 2. D i e Gemeinschaft steht in Spannung zu anderen Gemeinschaften (Bsp.: Familie/Haus, V o l k / N a t i o n ) . 3. D i e Gemeinschaft braucht die Beichte des Einzelnen und der G e m e i n d e s o w i e die Kirchenzucht. 4. D i e Gemeinschaft umfaßt auch die seligen und v o l l e n d e t e n Gläubigen im Himmel.185 5. D i e Gemeinschaft braucht neben der leiturgia die diakonia in Fürbitte und Tat (die Trias unter Einschluß der martyria ist hier n o c h nicht ausgebildet). Gerade diese w e i t e Sicht v o n Gemeinschaft am Leib Christi erfordert aber nach Stählin eine klar gegliederte Form der Kirche und damit die " V o l l m a c h t des Amtes". D i e s e setzt Stählin als Repräsentation des M y s t e r i u m s Christi explizit ab v o n "der späteren A u f l ö s u n g des geistlichen A m t e s durch die Herrschaft eines demokratischen Gemeindeideals" 1 8 6 . Anstatt die A r g u m e n 183 A.a.O., S. 83. - Ganz entsprechend hat auch Otto WEBER, Grundlagen der Dogmatik, Bd. II, 1977 [1962], S. 269 f. den "pneumatologischen Doketismus" und den "pneumatologischen Subordinationismus" als zwei Grundgefahren der Lehre vom Heiligen Geist genannt (Stählin wird in beiden Bänden der Dogmatik an keiner Stelle erwähnt). 184 A.a.O., S. 89-97. - Die Bemerkung über die Arkandisziplin (S. 86) verweist aufgrund der Kritik von Mahrenholz (s.o. Anm. 161) auf die Gefahr eines Romantizismus hin, der die Heimlichkeit mit dem Geheimnis zu verwechseln drohe. 185 Dies wird später ausführlich dargelegt von Peter BRUNNER, Zur Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde, 1993 [1954], S. 168-180. Stählin geht es u.a. um eine schriftgemäße (er verweist auf Eph 2,19) Heiligen-Lehre ohne kirchlichen Machtanspruch. 186 A.a.O., S. 99. Stählin beruft sich ausdrücklich auf Friedrich Julius Stahl (18021861), der als Kirchenjurist im Verständnis der Kirche als Gemeinschaft ein negativ zu wertendes Analogon zur Volkssouveränität sah. Stählin zeigt sich deutlich beeinflußt von den lutherischen Theologen im 19. Jahrhundert, die das Gegenüber von Amt und Gemeinde betonten (Theodor Kliefoth, Wilhelm Löhe, August Fr. Chr. Vilmar). Dazu s. schon: Wilhelm Löhe, 1908: "Der Grundzug seiner praktischen Frömmigkeit war die Liebe zur Kirche." Wie die bisherige Darstellung bereits gezeigt hat, könnte dieser Satz des damals 25-jährigen auch über dem gesamten Lebenswerk von Stählin stehen. Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 105 bezeichnet sich Stählin als dankbaren Schüler von Vilmar und Löhe, kritisiert aber deren Vernachlässigung der Beziehung des Amtes auf die Gemeinde. - Andererseits hatte er als junger Hilfsprediger in Steinbühl auch geschrieben: "Laßt euch nicht von den Priestern knechten!" (Allgemeines Priestertum, 1907).
4.3. Leib
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tation hier im einzelnen zu referieren, seien Stählins praktische Vorschläge zum kirchlichen Amt zusammengestellt 187 : - Geistliche Auslese unter den Bewerbern zum Pfarramt 188; - Grundsätzliche Herleitung und praktische Übertragung des geistlichen Amtes durch das für das Mysterium repräsentative Bischofsamt in apostolischer Sukzession189; - Spezialpfarrämter ohne Bindung an eine Gemeinde und ihren Gottesdienst sind abzulehnen - das gilt auch für Professoren der Theologie; - die Zusammenschau des apostolischen Wortamtes und der vielen Ämter in einer Gemeinde als "Erscheinungsformen des einen geistlichen Amtes" 190 durch einen gemeinsamen liturgischen Dienst, 187 A.a.O., S. 99-120. Auf Einzelnachweise wurde verzichtet, da die Reihenfolge der Spiegelstriche Stählins Darstellung folgt. - Bis 1926 spielen ekklesiologische Fragen in Stählins Manuskripten und Publikationen eine sehr untergeordnete Rolle. Programmatisch ist dann aber der Vortrag: Priester und Pfarrer, 1926, mit dem sich Stählin als Ordinarius beim Westfälischen Pfarrerverein vorstellte und einstimmiges "Schweigen der ganzen Gesellschaft" erntete (Die Zurüstung zum geistlichen Amt als Lebensaufgabe der Kirche, 1963 [1962], S. 207). Stählin hatte u.a. von "priesterlichen Menschen" gesprochen: diese trügen "die Not und die Sünde ihrer Brüder als Krankheit, Wunde, Aussatz an ihrem eigenen Leib" (Priester und Pfarrer, 1926, S. 73, 2. Sp.). 188 Stählins Vorschläge hierzu klingen auch heute noch revolutionär (Zur Erneuerung des Pfarrerstandes in der deutschen evangelischen Kirche, 1933): Der Bischof soll eine beschränkte Anzahl von Anwärtern aufnehmen (a.a.O., S. 2), aber auch bewährte ältere Gemeindeglieder sollen Zugang zum Pfarramt erhalten "ohne einen allzu langen Vorbereitungsweg" (S. 3). Während des Studiums sollen die Theologen zu einer festen Gemeinschaft gehören und u.a. gründlich sportlich gebildet werden (S. 4). Sie sollen durch Arbeitslager "zu einer asketisch-kämpferischen Lebenshaltung" erzogen werden, nicht zu einem "bürgerlichen Beruf' (S. 6). Das spätere Gehalt soll sich nach dem Bedarf, nicht nach dem Rang richten: Grundgehalt mit Aufwandsentschädigung und steil gestaffelte Kinderzulagen (S. 7). 189 Offensichtlich aufgrund der Briefe von H.-D. Wendland und Chr. Mahrenholz (s.o. Anm. 161) ist die Gefahr des verdinglichten Mißbrauchs kritisch erwähnt (S. 104). Gleichwohl war es den Michaelsbrüdern wichtig, daß ihr Ältester vom Abt zu Loccum eingesegnet wurde, weil dieser "sein Amt in ununterbrochener Amtsfolge bis in das frühe Mittelalter zurückverfolgen konnte." (Michaelsbruderschaft, 1980 [1961], S. 30.) Positiv zur successio apostolica ferner: Die Kirche Christi und das Wort Gottes, 1937, S. 31 und: Die Zurüstung zum geistlichen Amt als Lebensaufgabe der Kirche, 1963 [1962], S. 199. Stählins Beharren an diesem Punkt wird als Projektion des Leibgedankens in die Historie zu deuten sein, wobei die romantisierende Sicht des Mittelalters in der Jugendbewegung besonders wichtig ist. Man denke dabei an so verschiedene Geister wie Romano Guardini, Wilhelm Stapel und Martin Voelkel, die an diesem einen Punkt übereinstimmten. 190 S. 110. Stählin zählt die urchristlichen Ämter auf: Diakon, Akoluth (Begleiter des Priesters), Exorzist, Lektor, Ostiarier (Türhüter, der über die Wahrung des Mysteriums wacht). Dies ist zum einen praktisch unvorstellbar (s. die praktischen Vorschläge S. 116) und steht zum anderen als eine Art von Heimlichkeits-Romantik im kla-
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
- die missio canonica für Theologieprofessoren, Kindergottesdiensthelfer und Religionslehrer, ebenso für Kirchenmusiker und Chormitglieder; - die Vertretung der ganzen Welt in der Feier des Mysteriums und die Austeilung des Mysteriums ("oikonomia tou mysteriou"191) an die ganze Welt in missionarischer Funktion. Wie der Eintritt des göttlichen Geheimnisses in die Geschichte etwas im Ganzen der Welt verändert hat, so soll seine "Austeilung" durch das Leben des Leibes Christi in diese Welt vordringen. An dieser Stelle der Schrift folgen die Auswirkungen des im Leibe Christi gegenwärtigen Mysteriums auf den Leib des Einzelnen, auf die Ehe und den Kosmos, welche wir schon im ersten Darstellungsgang herangezogen hatten. Blicken wir auf beide Wege (vom "Leib" herkommend mit Seitenblick auf den "Leib Christi" und vom "Leib Christi" herkommend mit Seitenblick auf den "Leib") zurück, damit gleichzeitig auch auf wesentliche Inhalte der beiden Hauptschriften Stählins, so wird geurteilt werden müssen: Die gegenseitige Erklärung von Leib und Leib Christi ist da am überzeugendsten, wo die Auswirkungen des Glaubens auf das Leben des Menschen in den verschiedenen Relationen bedacht werden. Der umgekehrte Weg hingegen, vom Leibgedanken her ekklesiologische Konsequenzen zu ziehen, bleibt eher befangen unter Stählins Grundprinzip, daß der korporative Leibgedanke notwendig mit Autorität, Hierarchie und (Unter-)Ordnung zu tun habe. Dabei geht die Erfahrung des Jugend/üArers unbewußt in die Ekklesiologie ein und findet im Gegenüber von Haupt und Gliedern in den Deuteropaulinen (nicht in der Charismenlehre des Paulus) ihren biblischen Beleg. Dies zeigen der Wunsch nach der geistlichen Auslese unter den Theologen, nach der missio canonica und schließlich die (auf breites Unverständnis stoßende) Befürwortung der apostolischen Sukzession.192 Die positiven Erfahrungen von "Verleiblichung" des Glaubens in der Jugendbewegung schlagen auch hier wieder zu Buche im Primat der Liturgie. ren Widerspruch zur öffentlichen Wortverkündigung und zur Kirche als Körperschaft öffentlichen Rechts. - Stählin lobt hier die reformierte Ämtervielfalt, deutet deren demokratisches Verständnis mit F.J. Stahl aber als Entartung (S. 113 f.), während das lutherische ministerium verbi divini zwar positiv die Einheit repräsentiere, aber zur Fastorenkirche geführt habe (S. 112 f.). 191 Auf diesen einzig Eph 3,9 begegnenden Ausdruck kommt Stählin in der Schrift immer wieder zurück. 192 Wahrscheinlich hätte Stählin der Interpretation zugestimmt, er habe die Geschichte nicht nominalistisch als menschliche Interpretation von Geschehnissen verstehen wollen, sondern realistisch als Wirkungsgeschichte zugrundeliegender heiliger und dämonischer Kräfte. Damit ist Stählin doch stets von einer idealistischen Grundstruktur des Denkens geprägt gewesen, was seiner großen Jugendliebe zu Schleiermacher entspricht. Wie H.E. K E L L N E R herausgearbeitet hat, ist in bezug auf das hierarchische Denken auch Max Scheler als Verstehenshilfe heranzuziehen (s.o. den Exkurs S. 53-59).
4.3. Leib
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Das geistliche Amt in seiner Einheit und Vielfalt ist nur in der Bindung an den Gottesdienst konstituiert, weil jedes kirchliche Amt an dem dort gegenwärtigen Mysterium Anteil hat. Ist dies allgemein-theologisch über die Kirche überhaupt gesagt, so ist nun noch die spezielle "Kirche für Kirche" zu bedenken, die Bruderschaft, von der aus auch alles über das Mysterium gedacht und geschrieben wurde. Hier hat Stählin 1940 bilanziert, was in der Michaelsbruderschaft seit einem Jahrzehnt gelebt und gedacht wurde. Das Buch beschreibt "Bruderschaft" geschichtlich, grundsätzlich und praktisch auf der Grundlage des oben formulierten Prinzips "Kirche für Kirche": "Die Kirche Jesu Christi ist als Bruderschaft gestiftet. Sie ist Bruderschaft oder sie ist nicht. [...] Damit es Bruderschaft in der Kirche gebe, gibt es Bruderschaften in der Kirche." 193 Grundsätzlich ist Bruderschaft das Lebensprinzip des Leibes Christi, indem der Bruder "die leibhafte Verkörperung" des von Christus Empfangenen ist, der vicarius Christi: "was ich ihm getan habe, habe ich an dem Leib Christi getan; was ich an ihm versäumt habe, habe ich an dem Leib Christi versäumt und gefehlt." 194 Die Bedeutung von Bruderschaften ist durch den Kontakt mit Jugendlichen neu deutlich geworden, weil diese "nach leibhafter Verwirklichung statt nach tiefsinnigen Gedanken verlangten, und diese unmittelbare Empfindung verband sich in uns selbst mit einem wiedererweckten Wissen um die Kirche als Verleiblichung Christi."195 Aber auch für die Bruderschaft gilt nicht nur das Prinzip gleichberechtigter Nebenordnung, sondern auch das der Überordnung, der Hierarchie, was Stählin 1961 explizit formuliert hat.196 Im einleitenden Teil I nennt Stählin 1940 vier Merkmale einer Bruderschaft: Bindung an eine bestimmte geschichtliche Situation, an die Person des Stifters, an eine begrenzte Aufgabe und an eine bestimmte geordnete Form. 197 Für die Form wichtig ist das "Gesetz der konzentrischen Kreise", in 193 Bruderschaft, 1940, S. 19. 194 A.a.O., S. 13. 195 A.a.O., S. 64. 196Michaelsbruderschaft, 1980 [1961], S. 28: Das. Schlagwort "Hierarchie" deutet "die kreuzförmige Ordnung im Raum des Heiligen an, die sich immer in einer Überordnung und einer Nebenordnung zugleich verwirklichen muß." Bezeichnenderweise hatte Stählin 1933 das Reich ganz genauso beschrieben: Als Widerspiel von Tyrannis und Hierarchie sei das Reich Hierarchie, "die die Menschen nicht nur nebeneinander, sondern übereinander ordnet, das Tatbekenntnis zu Befehl und Gehorsam als einer echten und wesentlichen Form menschlicher Gemeinschaft." (Das Reich als Gleichnis, 1933, S. 4.) 197 Bruderschaft, 1940, S. 26-29.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
dem Stählin offenbar das der Anteilnahme am Heiligen entsprechende Ineinander von Neben- und Überordnung sieht: Das Gesetz entspreche den zwölf Jüngern, deren Kreis sich bei der Verklärung auf drei Jünger konzentriere und bei der Aussendung (nach Lk 10,1) auf 70 ausweite 198 . Dieses Gesetz spielt für Stählin an mehreren Stellen eine wichtige Rolle. So schreibt er an die Michaelsbrüder im August 1943: "Das Kraftfeld Christi verwirklicht sich in konzentrischen Kreisen: es gibt eine Peripherie, an der die tragende Mitte noch nicht - oder nicht mehr - sichtbar ist; aber wenn es keinen innersten Kreis, kein Leben am Altar und im Mysterium gibt, dann reißen an der Peripherie die zentrifugalen Kräfte alles ins Gestalt- und Wesenlose." 199 Das Gesetz der konzentrischen Kreise bedeutet praktisch, daß nicht immer an die ganze Gemeinde gedacht werden darf. Es muß kleine Kreise geben, die stellvertretend für die Kirche wichtige Dinge tun. Dies gilt für intensive Erfahrungen mit der Bibel, für die Erziehung zum Sakrament und für neue liturgische Gestaltungen: "Kleine Kreise, die wirklich mit der Bibel und mit der Kirche leben, sind wichtiger als volksmissionarische Vorträge." 200 Dabei können alle Funktionen - auch die Wortverkündigung - von Laien ausgefüllt werden, welche Anteil am geistlichen Amt haben; nur die Verwaltung des Altarsakraments und die Spendung des Segens und der Absolution sind für Stählin an die Ordination gebunden. 201 Im Teil II über Bruderschaft in der evangelischen Kirche wird das evangelische Recht von Bruderschaft sachlich und geschichtlich begründet. Dabei ist die Wurzel der Kritik an tatsächlichen Kirchengemeinden in den jugendbewegten Prinzipien Lebendigkeit und Verleiblichung klar auszumachen. Die Gemeinde heute ist "Nicht ein reich gegliederter Organismus, in dessen Organen und Funktionen der Leib Christi sich darstellt und wachstümlich verwirklicht; sondern ein ungegliederter Haufe von Predigthörern und Objekten kirchlicher Unterweisung und Seelsorge, gänzlich angewiesen auf Vorbildung, Begabung und Fleiß ihres Predigers [ ]" 202
198 A.a.O., S. 20-22. - Stählins Denkspruch für die 4. Augustwoche 1924 hatte geheißen: "Unser Leben ist die Lehrzeit für die Erkenntnis, daß in jedem Kreis ein weiterer gezogen werden kann" (Kalendarium im Gottesjahr 1924). 199 Rundbrief an die Michaelsbrüder, August 1943, S. 10. 200Unsere kirchliche Aufgabe, 1944, S. 3 f. 201 Das Amt des Laien in Gottesdienst und kirchlicher Unterweisung, 1947, S. 9. Dieses Amt ist dem Mann vorbehalten (a.a.O., S. 6). 202Bruderschaft, 1940, S. 47.
4.3. Leib
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Die Monopolstellung solcher "Gemeinden" - die in Wirklichkeit nur Verwaltungseinheiten seien - müsse überwunden werden durch reales geistliches Leben. Analog dazu, wie Stählin in den zwanziger Jahren den BDJ als "Ersatzkirche" den Parochien entgegensetzte, so jetzt verschiedene Formen - "konzentrische Kreise" - von Bruderschaft, wobei die Michaelsbruderschaft eben nur eine besondere Gestalt darstellt. 1940 geht es jedoch nicht mehr um eine Ersatzkirche, sondern um Kirche für die Kirche, um Zentren, an denen das Mysterium lebendig repräsentiert ist. Dies wird in Teil III über die Ordnung der Bruderschaft dargestellt, indem zunächst sechs Sätze einer christlichen Lebensordnung mitgeteilt werden. Diese vermitteln eine Art Liturgie des Alltagslebens und sind nicht direkt an die Mitgliedschaft in einer Bruderschaft gebunden. Die sechs Selbstverpflichtungen beinhalten: - die Treue zu einer solchen Lebensordnung - das tägliche Lesen der Heiligen Schrift - das tägliche Gotteslob, Bitte und Fürbitte - die Teilnahme am Gemeindeleben (an Wort, Sakrament und Dienst) - das Bemühen, das Leben in Haus und Beruf Gott zu unterstellen - die Bereitschaft, Seelsorge und "brüderliche Zucht" anzunehmen.203 Die Bruderschaft selbst ist geprägt von gemeinsamer und persönlicher Zeit für das gottesdienstliche Leben, von einer an den drei Mönchsgelübden orientierten Lebensführung204 und von Ordnung und Zucht in der Gemeinschaft. Schließlich sind hier "zwei Voraussetzungen" erwähnt, die für den zurückgelegten theologischen Weg Stählins typisch sind: das episkopale Prinzip der "monarchisch-hierarchischen Leitung205 und die Verwirklichung der Ordnung in "leibhaftem Zusammenleben".206 In der Beurteilung des monarchischen Episkopats wird man einerseits zu berücksichtigen haben, daß dieser in der Michaelsbruderschaft das Ergebnis langjähriger Erfahrungen darstellt (die nicht auf einen Ort beschränkte Mi203 A.a.O., S. 70. Die sechs Sätze könnten auch heute als Grundlage für die Strukturierung geistlichen Lebens dienen, etwa in einem volkskirchlichen (nicht pietistischen) Kreis junger Erwachsener. 204 Es gehe in einer evangelischen Bruderschaft selbstverständlich nicht darum, diese Gelübde aufzuerlegen, aber darum, den Glauben auf Reichtum, Beglückung, Ehre zu beziehen, weil wir hier am festesten mit der "Welt" verbunden seien (a.a.O., S. 76). Hier wird wiederum die Ehe des Bruders zum Prüfstein dafür, ob die Bruderschaft sein Leben hilfreich durchdringt, "oder ob sie bloß die Zahl gefährlicher Selbsttäuschungen um eine neue, besonders hochtönende Phrase vermehrt hat." (S. 78) 205 A.a.O., S. 85 f. Über die Entwicklung zum monarchischen Episkopat und die Ämter der Michaelsbruderschaft s. Michaelsbruderschaft, 1980 [1961], S. 27-30. Über die Gliederung der Bruderschaft 1981 s. Die evangelische Michaelsbruderschaft, 1981, S. 129. 206 A.a.O., S. 86: Nicht theologische Differenzen, sondern vornehmlich Entfremdung durch Mangel an Begegnung sei meistens der Grund für den Austritt eines Bruders.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
chaelsbruderschaft benötigte das zusammenhaltende Engagement eines Leiters207). Andererseits ist es auch nicht überraschend, daß die von Ritter und Stählin geprägte Bruderschaft gerade diesen Weg nahm.208 Im abschließenden Teil IV wird der kirchliche Dienst der Bruderschaft auf dem Gebiet der Lehre, des Kultus und in der Ordnung der Gemeinschaft herausgestellt. Dabei wird die dienende Funktion der Bruderschaft zunächst klar benannt. Während die Kirche als Leib Christi keinen irdischen Zweck hat - "die Verwirklichung und Entfaltung der Lebenskräfte Christi ist Selbstzweck, letzter Inhalt des Liebesratschlusses Gottes selbst"209 - ist bei einer Bruderschaft als Selbstzweck "alles verkehrt".210 Die Bruderschaft hat den Zweck, fur die Kirche das zu wagen, was diese als Landeskirche oder Parochie nicht wagen kann. Die Bruderschaft kann in ihrer Mitte Gedanken, Worte, Formen, Dinge haben, worüber die anderen den Kopf schütteln. Auf allen Gebieten kann sie so Anteil nehmen an dem dreifachen kirchlichen Amt in martyria, leitourgia und diakonia.211 Da die liturgischen Fragen im folgenden Abschnitt 4.5. zu behandeln sind, sei hier vor allem der Dienst der Bruderschaft für die Ordnung, speziell fur das kirchliche Amt herausgestellt. Besonders wichtig ist Stählin die Theologenausbildung, die "geistliche Erziehung der Theologen".212 Seiner sich zunehmend verschärfenden Kritik an der Theologenausbildung kann er einige praktische Schritte zur Verbesserung durch die Bruderschaft an die Seite stellen. Bereits 1932 hatte Stählin eine Jungbruderschaft gegründet, nachdem ihm ein Student erzählt hatte, er und seine Kommilitonen hätten keinerlei Praxis in bezug auf Bibellese, Gebet und Abendmahlsteilnahme - trotz allen im Seminar vorgetragenen theologischen Eifers.213 207 Stählin war Ältester der Bruderschaft von 1942-1946. 208 Die Abneigung gegen demokratische Traditionen erhellt aus dem noch 1961 wiederholten Widerspruch gegen die demokratisch-presbyterianische Verfassung, weil sie dem Wesen einer geistlichen Gemeinschaft widerstreite (Michaelsbruderschaft, 1980 [1961], S. 29). 209 A.a.O., S. 89. 210 Ebd. Die Bruderschaft dürfe keine Form des "Kirchenersatzes" werden. 211 A.a.O., S. 91 findet sich damit die Trias, die bei dem Gegenüber von leitourgia und diakonia 1936 (Vom göttlichen Geheimnis, S. 95) noch nicht auftauchte. Dazu paßt die Auskunft von Hans-Christoph SCHMIDT-LAUBER, Die Zukunft des Gottesdienstes, 1990, S. 39 f., daß Oskar Planck die Trias "wohl im Jahr 1935 auf einer Probebrüderwoche der Evangelischen Michaelsbruderschaft" erstmals verwendet hat. 212 So die Formulierung im Inhaltsverzeichnis, a.a.O., S. 121. 213 Via Vitae, 1968, S. 324. Ebd. berichtet Stählin, wie er durch Erwin Rousselle darauf kam, die sieben Weihen der römisch-katholischen Kirche zum Priesteramt als Schema des geistlichen Weges für Theologiestudenten anzusehen. Daraus resultieren die vereinzelten Vorschläge Stählins, Theologen sollten sich erst als Akoluthen, Ostiarier, Lektoren und Diakone betätigen, bevor sie zum ordinierten Amt Zugang erhalten. Dazu s.: Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 111 f.: "nicht einmal der künftige Priester muß etwa - was an sich sinnvoll wäre - diese Dienste eine Zeit lang wirk-
4.3. Leib
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Den Dienst der Bruderschaft für die Heranbildung zum geistlichen Amt beschreibt Stählin nun mit folgenden Einzelheiten 214 : - Hilfen zum geistlichen Leben der künftigen Theologen (liturgisches Singen, sakramentale Gewöhnung, Ordnung des persönlichen Lebens, individuelle Seelsorge); - geistliche Übungen im engeren Sinn (Schweigen, Meditation); - Rüstwochen für Ordinanden; - Übung in geistlicher Disziplin durch Unterstellung unter einen einzelnen Bruder; - Gewöhnung an die (Möglichkeit der) Einzelbeichte; - das Durchlaufen des Stufenganges geistlicher Ämter (vom Türhüter, Lektor, Diakon an). 215 Schließlich plädiert Stählin für die Erweiterung des Verständnisses vom geistlichen Amt: Das Miteinander von Theologen und Nicht-Theologen im geistlichen Leben einer Bruderschaft relativiere die Bedeutung des Theologiestudiums. Darum müsse es auch den Zugang zum geistlichen Amt für bewährte Nicht-Theologen, etwa aus einer Bruderschaft, geben. 216 Überhaupt könne die Zukunft der Kirche von solchen "geistlichen Laien" abhängig sein. Auf jeden Fall sei es die größte Gefahr, "wenn die Träger des geistlichen Amtes nichts als ihr theologisches Studium als den Grund ihrer Vollmacht aufweisen können." 217 Dieses Urteil signalisiert die wachsenden Selbstzweifel des Ordinarius für Praktische Theologie an seinem akademischen Lehramt und damit an seiner beruflichen Existenz. Die Parochien sind nach seinem Urteil kein reich gegliederter Organismus, in dem sich der Leib Christi darstellt; und das theologische Studium ist so fern vom Mysterium des Leibes Christi im Herren-
lich ausgeübt haben, sondern er erhält nur in einer sinnlosen und unwürdigen Schnelligkeit nacheinander alle diese 'Weihen'; eine auch von einschlägigen katholischen Liturgikern schmerzlich beklagte Entartung." Seinen Wunsch nach einer sinnvollen Alternative hat Stählin jedoch nicht verwirklicht, trotz der Bruderschaft, 1940, S. 108 geschilderten Ansätze hierzu. 214 Bruderschaft, 1940, S. 102-111. Die folgende Zusammenfassung geht ohne Einzelnachweise an dieser Darstellung entlang (Stählins Gliederung "a - d" ist hier allerdings verwirrend: die Vorschläge für Theologiestudenten und Pfarrer gehen ineinander über). 215 S.o. die vorletzte Anmerkung. 216 Ein Beispiel hierfür ist Oskar Hammelsbeck (1899-1975), der als studierter Philologe mit Volkshochschulerfahrung 1937 Referent für Fragen des kirchlichen Unterrichts beim Bruderrat der Altpreußischen Union wurde und 1944, aufgrund von Sondergutachten ordiniert, in Falkenhagen/Lippe als Pfarrverweser arbeitete (vgl. Gottfried ADAM, Oskar Hammelsbeck, 1989). 217Bruderschaft, 1940, S. 111.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
mahl und gemeinsamem Leben218, daß die universitäre Ausbildung diesen Mangel immer weiter verschärft. Zunehmend setzt Stählin die bruderschaftliche Bildung des Pfarrers gegen die universitäre Bildung durch das Theologiestudium. Diese Diastase findet ihren Niederschlag in einem immer stärkeren Arbeitseinsatz für den Berneuchener Dienst und die Michaelsbruderschaft und in einem immer stärkeren Leiden an der Lehrtätigkeit in Münster.219 Indem Stählin also den Leib Christi von seiner Prägung durch die Jugendbewegung her als Mysterium und als Bruderschaft auffaßt und dieses konsequent ernstnimmt, entzieht er sich selbst mehr und mehr die Arbeitsgrundlage. Bereits am 26. Mai 1936 bittet Stählin den Minister in Berlin um seine Pensionierung, um die Leitung eines Freizeitenhauses der Michaelsbruderschaft bei Melsungen zu übernehmen.220 Er schreibt, sein Wunsch sei "in keiner Weise durch irgend welche Ereignisse oder Schwierigkeiten der letzten Jahre veranlaßt."221 Vielmehr müßten "für die künftigen Pfarrer andere und wirksamere Formen der Ausbildung" gefunden werden, welche in dem zu erwerbenden Haus in der Gestalt von Freizeiten unter seiner Leitung erprobt werden sollten222: Nur von "Stätten echter geistlicher Erfahrung" sei eine Erneuerung der Kirche "in dieser großen geschichtlichen Stunde unseres Volkes" 223 zu erwarten. 218 Mehrmals erwähnt Stählin Dietrich Bonhoeffers Schrift: Gemeinsames Leben (1939), und zwar grundsätzlich zustimmend bei einer gewissen Kritik an mangelnder Konkretion (Bruderschaft, 1940, S. 60, Anm. 10; S. 82, Anm. 17; S. 111, Anm. 28). 219 Eine wichtige Rolle spielte für Stählin die Lektüre der Wittenberger Artikel von 1536 (s. Via Vitae, 1968, S. 372), in denen eine verpflichtende Lebensordnung, fromme Übungen und Vertrautsein mit dem Gottesdienst neben das wissenschaftliche Studium der Theologie gestellt sind. Stählin bringt den betreffenden Art. XV lateinisch und in eigener Übersetzung zum Abdruck: Bruderschaft, 1940, S. 52-53. 220 Auch die Bemühung um dieses Haus für die Bruderschaft hatte wie mehrere andere vor 1945 keinen Erfolg: Via Vitae, 1968, S. 572. 221 Brief an den Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 26. 5. 1936, Bl. 1 (Pers.-Akte Kurator, Universitätsarchiv Münster, dort paginiert als S. 65-68). Gerade Ende Mai jedoch meldeten sich die 14 Studenten aus Stählins beiden Seminaren wegen des Prüfungskonfliktes ab (Via Vitae, 1968, S. 304; Wilhelm NEUSER, Die Evangelisch-Theologische Fakultät Münster im Dritten Reich, 1991, S. 84 f.). Am Schluß des Briefes an den Minister kommt Stählin auch auf die Schwierigkeiten zu sprechen: Die gegenwärtigen Kämpfe bedrohten die Zusammenarbeit mit den Studenten (Bl. 3/S. 67). Offensichtlich suchte Stählin durch die Nachricht von den (der NS-Obrigkeit stets unangenehmen) "kirchlichen Kämpfen" sein Pensionierungsgesuch positiv zu beeinflussen. - Der Brief stimmt mit Via Vitae, 1968, S. 373 f. nicht ganz überein: Dort ist undatiert von einem Pensionierungsgesuch die Rede und von der Möglichkeit, im Sommer 1936 eine kirchliche Ausbildungsstätte in Ilsenburg zu gründen, welche Stählin aber aufgrund der dortigen Gegebenheiten ablehnte. 222Brief vom 26. 5. 1936, Bl. 1/S. 65. 223 A.a.O., Bl. 3/S. 67.
4.3. Leib
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Immer deutlichere Worte findet Stählin dann über seine Verzweiflung am Theologiestudium in seinen Briefen an die Michaelsbrüder während der Kriegszeit. Es gehe nicht darum, ehrwürdige Traditionen weiterzupflegen, sondern "rücksichtslos kühn" zu sein, "in der Abkehr von alter Fehlentwicklung." 224 Falsch sei es auch, daß der junge Theologe vorher in keinem normalen Beruf gearbeitet habe: dies widerspreche der Grundordnung des Priestertums. "Der Priester kann nur diejenigen solidarisch vor Gott vertreten, mit denen er in wirklicher Schicksalsverbundenheit steht; der akademisch gebildete Religionslehrer und Religionsbeamte kann von außen her sagen und tun, was seines Amtes ist [...]." 22S Nach Überwindung der Depression der Jahre 1943/44 und nach der Übersiedlung nach Oldenburg schreibt Stählin - offensichtlich angesichts eines erfüllenden Neuanfangs in der praktischen kirchlichen Tätigkeit - einen vernichtenden Rückblick auf sein Lehramt in einem Brief an den Alttestamentler und Fakultätskollegen Johannes Herrmann. "Aber ich habe in allen diesen Jahren gewußt, daß ich an einem falschen Platz stehe und wenige Menschen ahnen, wie sehr ich darunter gelitten habe. An einem falschen Platz nicht nur im Sinne des persönlichen Schicksals - da kann man sich ja auch schrecklich täuschen - sondern in dem tieferen Sinne, daß an diesem Platze etwas objektiv Falsches geschieht. [...] Man kann nicht durch Vorlesungen und Übungen junge Männer, die z.T. gar kein eigenes Verhältnis zum kultischen und sakramentalen Leben der Kirche haben, in die Liturgie einfuhren, auch nicht in das Wesen der Predigt oder des kirchlichen Amtes; und die intellektuelle Vorausnahme persönlicher Erfahrungen ist eine große seelische Gefahr. Ich habe eine sehr genaue Vorstellung davon, wie die Ausbildung der Träger des kirchlichen Amtes vor sich gehen müßte; ich habe eine sehr hohe Meinung von der Rolle, die wissenschaftliche Theologie dabei spielen muß, aber der Rahmen da-
224 Rundbrief an die Michaelsbrüder, August 1943, S. 9. 225Rundbrief an die Michaelsbrüder, Michaelis 1943, S. 1. (Schon im Berneuchener Buch, 1926, S. 126 hatte es geheißen, daß das Pfarramt als ein den Lebensunterhalt sichernder Beruf ein Notbehelf sei.) - Im Erntedank-Rundbrief 1943 dankt Stählin für die Glückwünsche zu seinem 60. Geburtstag (am 24. 9. 1943) und kommentiert den Hinweis einiger Brüder auf eine normalerweise übliche Festschrift zum 60. Geburtstag mit der Bemerkung, daß "da ein bestimmter Weg zu Ende gegangen und das Neue noch nicht sichtbar geworden ist." (S. 1)
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
fur wird und muß ein ganz anderer sein als unsere bisherigen Fakultäten." 226 Wenn hier auch aufgrund der Situation - gänzlicher Zusammenbruch der Fakultät und der Stadt Münster - gewisse Überzeichnungen vorliegen (was Stählin in diesem Brief an einer Stelle selbst andeutet), ist doch konsequent und ungeschützt ausgesprochen, was auch aus den früheren Äußerungen hervorgeht: Stählin dachte an eine bruderschaftliche Form von Theologenausbildung unter Beteiligung von Professoren, aber mit dem Schwergewicht auf geistlicher Einübung, mit einer Form von "lebendiger Religion", wie er es früher ausgedrückt hatte, mit Anteilnahme am Leib Christi in der zweifachen Bedeutung und mit der Orientierung an der Vielfalt liturgischer und diakonischer Ämter, wie er sie in den Weihen zum katholischen Priesteramt fand. Obwohl er in dem Brief an Herrmann "eine sehr genaue Vorstellung" von einer anderen Ausbildung nennt, ist diese über die geschilderten literarischen Ansätze - von praktischen ganz zu schweigen - nicht hinausgekommen. Damit steht Stählin bei Eintritt in die kirchenleitende Tätigkeit vor einer klaren Aporie seiner Praktischen Theologie, jedenfalls soweit es die akademische Disziplin der Praktischen Theologie und insbesondere der "Pastoraltheologie" betrifft. Seine Wirkung als Praktischer Theologe konzentriert sich damit weiter auf das Gebiet, welches bereits länger ins Zentrum gerückt war: auf die Liturgik. Als Liturgiker wird Stählin dann auch weitgehend eingeordnet. Wenn im folgenden die Schlüsselkategorie "Liturgie" entfaltet wird, so handelt es sich - anders als bei "Leib" und "Leben" - um eine konkrete, begrenzte Unterdisziplin der Praktischen Theologie. Von daher ist der Forschungsgegenstand begrenzter und konkreter als bei den Kategorien "Leben" und "Leib", die den Weg von den entscheidenden Erfahrungen mit Jugendlichen hin zu einer eigenen, induktiven Theologie beschreibbar machten. Dabei sind im Rückblick zwei gegenläufige Bewegungen konstatierbar. Eröffnete die Neuinterpretation der Lebenskategorie den Weg von den liberalen Anfängen über die Jugendarbeit zur biblischen, insbesondere johanneischen Theologie ("von Nietzsche zu Johannes"), so führte das Ernstnehmen des Leibgedankens zwar zu einer für damalige Zeiten sehr bemerkens226Brief an Johannes Herrmann vom 24. 11. 1944. - Eine Theologie ohne geistliche Erfahrungen vergleicht Stählin mit "Gletscherwasser": Dieses sei gefährlich, weil es nicht durch die Erde hindurchgegangen sei, ebenso sei es, "wenn das Wort der Wahrheit nicht durch uns hindurchgegangen ist und sich nicht mit unserem eigenen Sein verbunden hat." (Die Zurüstung zum geistlichen Amt als Lebensaufgabe der Kirche, 1963 [1962], S. 204.) - Schon früh während seiner Tätigkeit in Münster hatte Stählin kritisiert, daß die praktische Anleitung im Studium zu kurz komme. Mindestens aber gehöre die Praktische Theologie in die Fakultät, damit von Anfang an der Blick auf Kirche und Pfarramt gerückt werde (Vorlesung Praktische Theologie I, WS 1931/32, Bogen 1, S. a; dort kritisiert Stählin die Marburger Thesen zur Reform des Theologiestudiums in ThBl 1931, Sp. 197 f.).
4.4. Kontexte zu "Leib": Meditation und Freizeiten
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werten theologischen Anthropologie (unter positiver Einschätzung insbesondere der Sexualität), aber auch durch das Empfinden großen Mangels an Mysterium und Bruderschaft wiederum zu einer zusehends schärferen Kritik an kirchlicher (besonders parochialer und akademisch-theologischer) Wirklichkeit. Insofern läßt sich ansatzweise sagen: Die Entwicklung der Lebenskategorie bei Stählin markiert den Weg hin zum Bekenntnis der Kirche, die Leibkategorie markiert den Weg zurück zur frühen Kritik an der existierenden Kirche. Die "Liturgie" hingegen markiert für Stählin einen gänzlich konsequenten Weg, von der frühen Kritik an Kirche und Bekenntnis über die Anregungen in der Jugendbewegung hin zu dem Geschehen, wo Kirche "lebendig" und "leibhaftig" ist und von der und für die auch Praktische Theologie als ganze vornehmlich zu reden hat. Bevor dieser Weg nachgezeichnet wird, soll noch Stählins Engagement für die Meditation und für die Freizeitarbeit geschildert werden. Diese beiden Kontexte zur Schlüsselkategorie "Leib" stellen gleichzeitig eine passende Überleitung zur Liturgie dar.
4.4.
Kontexte zur Schlüsselkategorie "Leib": Meditation und Freizeiten
4.4.1. Meditation Die besonders auch zur Vorbereitung auf das Pfarramt in der Schrift Bruderschaft 1940 empfohlene227 Meditation war von Stählin schon seit Anfang der dreißiger Jahre erprobt und bedacht worden. 228 Ab 1932/33 erwähnt Stählin die Meditation in seinen Publikationen. Gegen die Tendenz zur "Aktivierung der Gemeinde" setzt Stählin Schweigen und Meditation. Der Mensch könne in der Meditation entdecken, "wie jenseits seines bewußten Denkens Tiefenschichten in ihm aufbrechen, er um heimliche Wege seiner Seele zu wissen anfängt und wie in den vertrautesten und vielleicht abgegriffensten Wor-
227Bruderschaft, 1940, S. 103. 228 Einen Überblick über die Geschichte der Meditation in der Michaelsbruderschaft gibt Hans Carl von HAEBLER, Geschichte der evangelischen Michaelsbruderschaft, 1975, S. 214-217. Carl Happich (s.u.), K.B. Ritter und Stählin begannen 1932 mit Meditationen im Rahmen von Gemeinde, Bruderschaft und Freizeit. Ritter entwickelte Meditationen der bis zum Priesteramt führenden Ämter, woran als an einer geistlichen Stufenordnung Kritik laut wurde. Gerade Stählin suchte dabei nach einer Ergänzung aus Literatur und Kunst. 1962 wurde die Ämter-Meditation in Stufen welche Ritter auch mit Weihehandlungen verbunden hatte - durch die Meditation des Priestertums aller Gläubigen ersetzt (H.C. v. HAEBLER, a.a.O., S. 216).
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
ten der kirchlichen Sprache eine unheimlich lebendige Wirklichkeit, erschütternd und tragend, uns ergreift."229 Die Meditation hat zunächst Bedeutung für die Selbsterkenntnis des Menschen, sie fördert das "Aktivwerden heilsamer Kräfte." Darüber hinaus definiert Stählin: "Meditation ist eine solche Beschäftigung mit den Inhalten und Bildern unseres christlichen Glaubens, bei der wir nicht mehr über sie nachdenken, sondern ihnen Gewalt über unsere Seele geben; eben diese Gewalt gewinnen die Bilder viel mehr als die Begriffe, wenn wir ihnen Raum geben."230 Die beiden Zitate zeigen, daß Stählin (im Rahmen der Michaelsbruderschaft) zwar etwas Neues entdeckt hat, damit aber gerade seinen eigenen Ansätzen treu bleibt. Die Meditation stellt eine Möglichkeit dar, am eigenen Leibe die altbekannte kirchliche Sprache als eine "unheimlich lebendige Wirklichkeit" zu erfahren. Dies entspricht der Beschäftigung mit der Religionspsychologie zwei Jahrzehnte vorher. Auch hier gilt der Primat des Erlebens vor der theologischen Begrifflichkeit wenigstens in methodischer, von der Praxis her dann aber auch in sachlicher Hinsicht. Auch hier handelt es sich wieder um eine Form von induktiver Theologie, welche theologische Inhalte in der Praxis aufsucht, in diesem Fall in der konkreten, der eigenen Leiblichkeit. Erneut zeigt sich Stählins Praktische Theologie damit als der Weg von der religiösen Praxis zur neuen Deutung von theologischen Inhalten und Traditionen. Zwar ist Stählin durch den Darmstädter Arzt Carl Happich, der die Meditation psychotherapeutisch einsetzte und ebenfalls Michaelsbruder war, zur eigenen Meditation gekommen, aber schon früher hatte sich Fr. Rittelmeyer mit der Meditation befaßt und noch 1940 weist Stählin auf dessen Buch hin.231 Praktisch lernte Stählin die Meditation dann aber von Happich an Ostern 1931 und 1932 auf der Westerburg: "Umfassende Kenntnisse der meditativen Erfahrung des Ostens und des deutschen Mittelalters, eigene Forschun229Menschenführung als Aufgabe der Kirche, 1932, S. 336. 230Kirchliche Seelsorge, 1933, S. 157, 2. Sp. 231 "Auch an das verdienstvolle und hilfreiche Buch von Fr. Rittelmeyer 'Meditation' (1929) zu erinnern, ist eine Pflicht der Dankbarkeit." (Bruderschaft, 1940, S. 103, Anm. 25.) Die konzeptionelle Nähe geht z.B. aus Rittelmeyers Bemerkung hervor, die Meditation und der Kultus seien "Gegenmittel gegen die hereinbrechende Neurasthenie" (Friedrich RITTELMEYER, Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner, 1928, S. 37). Stählin selbst hatte sich schon früh auf die Tradition der Mystiker berufen: Wo der rationalistisch Denkende auf Gott schließen wolle, stünden wir "schon der lebendigen Wirklichkeit Gottes unmittelbar gegenüber." (Gibt es unmittelbare Gotteserfahrungen?, CuG 1918, S. 112). Schon im Bemeuchener Buch, 1926 heißt es dann: "Die Anleitung zu wirklicher Meditation kann eine vortreffliche Bereitung auf diesem Wege [zum Gebet] sein." (S. 114, ferner S. 107. 111. 115.)
4.4. Kontexte zu "Leib": Meditation und Freizeiten
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gen und reiche Erfahrungen in seiner ärztlichen Praxis machten ihn zu unserem berufenen Lehrer und Meister [,..]."232 Carl Happich hat in seiner 1938 geschriebenen, zunächst noch ungedruckten Anleitung zur Meditation seine Prinzipien und Übungen veröffentlicht. Gleich im Vorwort widerspricht er einer verbreiteten Kritik: Keineswegs gehe die Meditation davon aus, "daß der Mensch sich selbst erlösen könne; er soll sich bereiten." 233 Ebenso müsse besonders in bezug auf Erziehung und Jugendarbeit "jede Meditation [...] vorher verstandesgemäß scharf durchdacht sein."234 Happich beginnt mit Übungen zur Entspannung und nennt dann sieben Stufen der Meditation235, deren Zeitdauer betrage "nicht Tage, Wochen und Monate, sondern ein ganzes Leben."236 Die sieben Stufen sind: 1. Meditation von Naturerlebnissen. Wege auf eine Wiese, einen Berg, zu einer Kapelle. 2. Meditation von Zeichen, Symbolen, Gegenständen (Kreuz, Kerze, Baum). 3. Meditation von einzelnen Worten und Sätzen (nicht von längeren Texten, etwa Bibeltexten!). 4. Meditation von Feiern und Kulthandlungen. 5. Meditation des eigenen Ich. 6. Meditation einzelner Seiten Gottes. 7. "Constantia" 237 Daneben nennt Happich konkrete Details238: Negative Dinge/Texte/Symbole dürfen nicht meditiert werden, denn mit Symbolen und Gegenständen gelte es sich zu identifizieren. Meditieren solle man im bequemen Sitzen, nicht im Liegen, weil das hilflos mache; Meditation könne nicht allein, sondern nur von einem persönlichen Lehrer und Führer gelernt werden. Theologisch-inhaltlich könne dabei nur von der Gnade ausgegangen werden. 239 232 Carl Happich zum Gedächtnis, 1947, S. 1. In Via Vitae, 1968, S. 321 sind die Ostertagungen 1930 und 1931 genannt; die Angabe von 1947 ist wegen der größeren Nähe und wegen der Veröffentlichungen Stählins 1932 und 1933 (s.o.) wahrscheinlicher. 233 Carl HAPPICH, Anleitung zur Meditation, 3 1948 [1938], S. 5. 234 A.a.O., S. 10: Der Europäer habe "wenig Ordnung in seinem Bildbewußtsein." 235 A.a.O., S. 17-29. 236 A.a.O., S. 28. 237 A.a.O., S. 29. Dahinter setzt Happich den Satz: "Nach jeder Stufe Entschluß zur Tat." 238 A.a.O., S. 30-34. 239 A.a.O., S. 57: "Wer könnte Gottes Zorn zu meditieren beginnen? Nur wer vorher sich gereinigt hat und der Gnade gewiß sein darf." Das eigene Erleben von Happichs drei Übungen auf Stufe 1 (der Gang auf die Wiese, auf die Höhe und in die Kapelle) unter dessen persönlicher Anleitung schildert Friso MELZER, Innerung, 1977 [1968], S. 166-178. Wenige Wochen vor Happichs Tod war Melzer 1947 bei diesem in Darmstadt zu Gast. Happich "setzte sich hinter den Übenden, legte die Fingerspitzen an die Schläfen (Schlagadern) des Übenden und spürte, ob dieser schaute oder dachte (beim Denken, sagte er mir, ströme das Blut rascher, beim Schauen langsamer).
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Nach der Einfuhrung durch Happich leitete Stählin im Rahmen der Jungbruderschaft selbständig Meditationen an; die Bruderschaft hielt seit 1934 jährlich eine geistliche Woche zu Ostern.240 Bei diesen Meditationen ging Stählin den bis heute gebräuchlichen Weg über die Entspannung, den Ort, das Empfinden des eigenen Atems und des Bodenkontaktes hin zu kurzen biblischen Inhalten (etwa von den umgebenden Mauern der Westerburg hin zu Ps 139,5). 241 Drei ausgeführte Meditationen von Stählin über die Symbole des heiligen Geistes (Feuer - Hauch - Kraft des Höchsten) teilt K.B. Ritter mit.242 Bei diesen ausführlichen Meditationen handelt es sich jedoch schon eher wieder um Betrachtungen, die Stählin sonst gerade nicht als Meditation ansieht bzw. um stark gelenkte, geführte Meditationen, in denen die vom Leiter gesetzten Impulse stark ins Gewicht fallen (gegenüber den inneren Bildern der Übenden). Bei den Anleitungen legt Stählin den Ton wiederum auf den Leib: "Das Feuer Jesu Christi [...] ergreift unsern Leib [...]"; "Der auferstandene Herr [.. .] lebt und atmet als ein leibhafter Mensch. Ein Hauch geht aus seinem Munde."; "Die Kraft des Höchsten wird in Dich eingehen."243 Mit einer Art Zwischenbilanz tritt Stählin 1938/39 an die Öffentlichkeit in einem Aufsatz im Deutschen Pfarrerblatt und vor allem mit dem Gottesjahr Dieses Verfahren kann niemand erlernen oder nachahmen." (A.a.O., S. 169) Melzer gibt Happichs Anleitungen z.T. wörtlich wieder. Dabei ist die innere Freiheit, die Happich dem Übenden läßt, besonders eindrücklich geschildert (beim Gang zur Kapelle und zum Gebet, S. 172). Über Friso Melzer reicht die Tradition Happichs also bis in die Meditationspraxis unserer Tage hinein. Melzer begann schon früh zu schreiben, vgl. Stählins positive Rezension des Buches: Die Sprache vor Gott, in: ThBl 1942, S. 26-27. - Auf die Anfrage nach Meditationsliteratur nennt Stählin in einem Brief am 20. 2. 1956 "an erster Stelle die Bücher von Friso Melzer", diese seien "wirklich belehrend und hilfreich". 240 Via Vitae, 1968, S. 326: "Wir haben dort sehr eifrig Meditationen gehalten·[...]." 241 Gespräch mit Heinz HENCHE/Münster am 9. 2. 1993. Außerdem ließ Stählin jeweils zwei Brüder Nachtwachen mit dem Beten von Psalmen in der dunklen Kirche halten. - Über liturgisch-meditative Übungen für Studenten in der Apostelkirche Münster (also keine Meditationen!), ebenfalls nach Schilderungen von Heinz Henche, s. Johann Friedrich MOES, Die Apostelkirche als Ort geistlicher Erneuerung, 1984, S. 271. 242 Karl Bernhard RITTER, Über die Meditation als Mittel der Menschenbildung, 1947, S. 73-75. Auch Ritter geht von C. Happich aus (vgl. Friso MELZER, Innerung, 1977 [1968], S. 168 f.). K.B. Ritter, a.a.O., S. 17-25 setzt sich u.a. mit der Meditation des Ostens auseinander und grenzt sich klar von C.G. Jung ab: "Für uns jedoch handelt es sich nicht darum, den Anschluß an die Erbmasse [das "kollektive Unbewußte"] wieder zu gewinnen [...] Vielmehr sollen bestimmte, und zwar religiöse Inhalte [...] dem Zentrum des Menschen zugeführt werden." (A.a.O., S. 31) Nichts dürfe Meditation jedoch mit Suggestion oder gar Hypnose zu tun haben (S. 36). 243 N a c h K . B . RITTER, a . a . O . , S. 7 3 - 7 5 .
4.4. Kontexte zu "Leib": Meditation und Freizeiten
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1938 unter dem Thema "Geistliche Übung". Jahrelang habe er sich gescheut, das Thema überhaupt anzufassen, schreibt Stählin im Vorwort. 244 Die Notwendigkeit geistlicher Übung wird zunächst seelsorgerlich begründet; dahinter stehe die Erfahrung, "mit den Mitteln eines allgemeinen Zuspruchs nicht helfen zu können." 245 Theologisch werde der Mensch weiterhin mit dem Bewußtsein verwechselt (evangelisch wie katholisch) 246 , verliere so "die Beziehung zu den vitalen Rhythmen und Kräften", und als Krankheit mache "die zerstörte Ganzheit ihren Anspruch geltend." 247 Aus heutiger Sicht klingen diese Aussagen sehr vertraut, ebenso wie die in der Zeit der ökologischen Krise ab 1970 zum Allgemeingut gewordene Anschauung: "Die 'gigantischen' Leistungen des menschlichen Willens rufen die Dämonen auf den Plan; [...]: um angeblich das Leben zu erhalten und zu steigern, werden die Quellen des Lebens verschüttet, die Ur-Sachen zerstört." 248 Ebenso modern wie charakteristisch für Stählins Theologie, die sich von der Jugendbewegung her zum "Mysterium" entwickelte, ist das zugrundeliegende Prinzip, "daß das zerbrochene Menschenwesen wirklich geheilt würde zur Ganzheit, daß die Wirklichkeit Gottes unser Lebensganzes heilend und heiligend durchdringe." 249 (Hier ist ein kleiner sprachlicher Unterschied im Vergleich zur gegenwärtigen Hochschätzung "ganzheitlichen" Lernens von Bedeutung: Stählins Verständnis von Ganzheit ist theologisch-eschatologisch. Die Heilung durch Anteil am Mysterium zieht hinein in die anhebende endgültige Wandlung zur neuen Schöpfung, während das viel beschworene Ziel der "Ganzheit//cMe/7" offensichtlich einer romantischen Ursprünglichkeit des Menschen als solcher Heilswirkung beimißt.)
244Das Gottesjahr 1938, S. 5. Dieser Jahrgang mußte aufgrund nationalsozialistischer Eingriffe ohne Kalendarium erscheinen und war zugleich der letzte Band des Gottesjahres: Deutlich herauszulesen ist die Kunst, "einen erzwungenen Verzicht als sinnvolle eigene Entscheidung zu frisieren." (Via Vitae, 1968, S. 360.) In der zweiten Auflage seines Buches "Vom Sinn des Leibes" ist von der Meditation nur in einer Aufzählung die Rede, in der das Positive von Exerzitien gegen die jesuitische Form abgegrenzt wird ( 2 1934, S. 142). 245 Geistliche Übung (Das Gottesjahr 1938), S. 8. 246 Auch hier benutzt Stählin diese beiden Begriffe ganz bewußt nicht und spricht stattdessen davon, daß "protestantische Orthodoxie und Jesuitismus" darin übereinstimmen (a.a.O., S. 9). 247 A.a.O., S. 9. 248 A.a.O., S. 10. 249 A.a.O., S. 11.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Gegen die Mißverständnisse wird nun bei Stählin geistliche Übung von Luther her hauptsächlich passiv bestimmt: Wir werden von Gott geübt, vornehmlich durch Leiden; keinesfalls könne eine menschliche Technik Gott herbeizwingen, weder Schweigen, Fasten, Wallfahren noch andere Aktivitäten. Doch gerade an dieser Stelle dreht Stählin die Kritik an der Meditation um. Gerade weil es darauf ankomme, mit der Reformation von der Aktivität des Menschen nicht zuviel zu erwarten, darum müsse das passive theologische Denken in der Meditation dem aktiven theologischen Denken in begrifflicher Diskussion entgegengesetzt werden.250 Hierzu ist allerdings kritisch anzumerken, daß die Rechtfertigung ohne menschliche Werke eine theologische und keine methodische Kategorie darstellt. Passive Meditation kann im theologischen Sinne durchaus menschliches Werk sein, wenn die Heilung von der Methode als solcher erwartet wird. Diese Gefahr ist bei der theologischen Diskussion in der Tat weitaus geringer, da von ihr niemand das Heil erwarten wird, sondern lediglich die denkerische Aneignung der Verheißung. Hier unterscheidet Stählin nicht klar genug. Das kann an dem Bemühen liegen, den ungewöhnlichen Weg der Meditation gegenüber einer von der dialektischen Theologie geprägten kirchlichen Öffentlichkeit zu begründen. Es könnte aber auch an der induktiven Theologie Stählins liegen, die sich mit jener Gefahr verbindet, die mit der Meditation als solcher gegeben ist: den Weg nach innen mit dem Weg zu Gott gleichzusetzen, methodische Stufen mit soteriologischen zu verwechseln und einen Endpunkt anzunehmen, an dem die Trennung des Menschen von Gott außer Kraft gesetzt ist. Demgegenüber bleibt die reformatorische Einsicht in Kraft: Der Mensch bleibt auch im Stande des Gerechtfertigten der Sünde unterworfen, und die Versenkung in die eigenen Tiefen in der Meditation kann den Weg des gerechtfertigten Sünders mit Gott ganz anders erfahren lassen, aber nicht zur Heiligkeit als qualitas fuhren. An diesem Punkt steht freilich die gesamte Theologie Stählins zur Disposition, da die Orientierung an der leibhaften Anteilnahme am Mysterium gerade die nur forensisch verstandene Rechtfertigung überwinden will zugunsten einer sich konkret in Leib, Ehe und Kosmos251 auswirkenden Heiligung. Die Theologie des Mysteriums steht tendenziell in der Gefahr einer Spielart von Spiritualismus, wie umgekehrt die wesentlich forensisch verstandene Rechtfertigung in der von Stählin immer wieder genannten Gefahr des Intellektualismus steht. Die Meditation ist damit ein Sonderfall der von religiöser Praxis her konzipierten Theologie Stählins. Insgesamt jedoch ist Stählin den erwähnten Gefahren auch bei der Meditation nicht erlegen, jedenfalls gilt dies in bezug auf seine erhaltenen Äußerungen. Um der Praxis willen hat Stählin sich auch im Gottesjahr 1938 weit 250 A.a.O., S. 15. 251 In diesem Zusammenhang sei erinnert an: Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 121130 (Mysterium, 1970, S. 190-202).
4.4. Kontexte zu "Leib": Meditation und Freizeiten
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vorgewagt zugunsten der östlichen Meditationstradition. In einem Briefwechsel "Ost und West" mit Gerhard Rosenkranz252 hatte dieser die östliche Tradition aus christlicher Sicht kritisiert. Für den Christen gelte, daß die Spaltung, unter der er leidet, zur Spannung geworden sei, die er bejahe, während die östlichen Religionen durch Meditation die Spaltung überwinden und zum Einssein mit dem Absoluten fuhren wollten.253 Es komme für Christen nicht auf Versenkung, sondern auf Versöhnung an, nicht auf Meditation und Konzentration, sondern auf Gehorsam und Entscheidung. Stählin plädiert in seiner Erwiderung dafür, auch die östlichen Erfahrungen mit zu berücksichtigen - der abendländische wie der asiatische Mensch hätten "Teilgebiete des menschlichen Wesens zu besonderer Leistungskraft emporgesteigert und haben zugleich Fähigkeit und Verständnis fur andere Seelenkräfte eingebüßt."254 An dieser Stelle wird man Stählin gegen Rosenkranz rechtzugeben haben, weil hier anthropologisch-methodisch argumentiert wird und Rosenkranz zentrale Theologoumena (Vertrauen, Versöhnung, Entscheidung) ohne Reflexion realer Schwierigkeiten gegen östliche Methoden setzt. Stählin als Praktischer Theologe denkt hier weiter, ist offener, wenn auch nicht unkritisch und argumentiert methodisch mit einer Parallele aus der Seelsorge: "Ich möchte keinen Illusionen verfallen über die Bedeutung der modernen Tiefenpsychologie, sondern glaube sehr nüchtern zu sehen, wo die Grenze ihrer Möglichkeiten liegt; aber empfinden nicht sehr viele Menschen mit richtigem Instinkt, daß man dort zunächst die Wirklichkeit des Menschen ernstnimmt und in diesem wirklichen Seelenraum Verstrickungen lösen, eingefrorene Lebensvorgänge wieder auftauen und die Zerspaltenheit des Menschen überwinden kann, während der seelsorgerliche Zuspruch der Kirche sich oft damit begnügt, im Namen der frohen Botschaft gerade das dem Menschen zuzumuten, wozu er eben nicht fähig ist!"255 Ebenso gelte es, den "ungeheuren Abstand" östlicher Meditation wahrzunehmen, diese aber deswegen nicht einfach abzulehnen, sondern auch die
252Das Gottesjahr 1938, S. 17-26. 253 A.a.O., S. 21. 254 A.a.O., S. 25. 255 Ebd. Die weitere Entwicklung von Stählins Ansichten über die Praktische Theologie Otto Haendlers bis zur Seelsorgebewegung als Beispiel der Integration humanwissenschaftlicher Fragen in die Theologie wurde in der Forschungsgeschichte angedeutet (s.o. S. 46 f.).
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Nähe zu reformatorischer Theologie zu sehen, welche für Stählin in seiner Lieblingszeile Luthers "Dir uns lassen ganz und gar" greifbar ist.256 Eine weitere grundsätzliche Stellungnahme mit ähnlichen Argumenten veröffentlicht Stählin 1939 im Deutschen Pfarrerblatt: Über den Begriff der Meditation. Auch in diesem Artikel wird das meditative Denken gegen das angestrengte Denken gesetzt und betont, daß der Kampf gegen die "Werkerei" konsequent zur Meditation führe. U.a. wegen des Denkens in Bildern sei "meditative Schulung eine noch kaum geahnte, geschweige denn erschlossene Quelle fruchtbarer Exegese." 257 Vier Jahre später gibt Stählin dann doch praktische Anweisungen Über die Meditation von Bibeltexten.258 Unter Berufung auf C. Happich und F. Melzer erwähnt Stählin in Kurzform die drei ersten Stufen Happichs (Natur, Zeichen, Worte) 259 und führt Beispiele zu Mk 7,31-37. Joh 12,24. Eph 2,19 näher aus. An den Beispielen wird deutlich, daß Stählin doch wieder im Rahmen recht traditioneller Betrachtungen verbleibt (besonders bei Eph 2,19 handelt es sich eher um Predigtgedanken). Dieser Charakter ist hier noch stärker ausgeprägt als in den drei von Ritter mitgeteilten Meditationen Stählins.260 (Zur wirklichen Meditation würden sich am besten die ersten Worte von Joh 12,24 eignen.) Befremdlich erscheint, daß Stählin nun doch in so kurzer Form beschreibt, was für Happich ein langer Weg ist und zudem noch mindestens einen wesentlich zu langen Text (eine ganze Perikope!) als Beispiel anführt. Offensichtlich ist Stählin 1943 schon auf dem Weg, die Erwartungen an die Meditation wieder zu reduzieren auf eine Hilfe zum Gebet und auf geistliche Betrachtungen. So heißt es in dem Leipziger Vortrag Gespräch, Meditation, Gebet261 1944:
256 Ebd. Auch hier gibt Stählin keine Quelle an. Es handelt sich um eine Zeile aus Luthers trinitarischer Litanei "Gott der Vater steh uns bei" von 1524 (EKG 109). Die Zeile steht dort in allen Strophen im Mittelteil. Stählin beruft sich mehrfach auf diese Zeile: Der Leib Christi in den Sakramenten, ThBl 1931, Sp. 162; Kirchliche Seelsorge, 1933, S. 157, 1. Sp.; Der Altar im gottesdienstlichen Handeln, KuKi 1938, S. 8. 257 Über den Begriff der Meditation, DtPfBl 1939, S. 784. Wiederum enthält dieser Text die Warnung: Meditation sei kein Rezept, "sich selbst fromm zu machen" (S. 784) und dürfe nicht als individuelles Experiment ohne Anleiter betrieben werden (S. 785). 258DtPfBl 1943, hier zitiert nach Symbolon 1, 1958, S. 400-410. 259 A.a.O., S. 403-405. Abgelehnt wird der Begriff der "Predigt-Meditation" (S. 400), zurückgewiesen der Vorwurf der Werkgerechtigkeit (S. 402). 260 S.o. Anm. 243. 261 Hier zitiert nach Symbolon 1, 1958, S. 389-399.
4.4. Kontexte zu "Leib": Meditation und Freizeiten
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"Meditation ist noch kein Gebet. Aber ich kann mich meditierend üben in einer seelischen Haltung, die uns die Pforte des Gebetsheiligtums erschließt." 262 1954 schließlich schreibt Stählin, daß die anfangliche "Entdeckerfreude" bei der Meditation größerer Zurückhaltung gewichen sei. Auf den Freizeiten sei er von eigentlichen Meditationen zu "Betrachtungen" übergegangen, die sich an die innere Anschauung wenden. 263 Innerlich seien dies noch eher Meditationen als das, was unter dem Namen gedruckt erscheine. Stählins Kenntnis der Materie verrät die Bemerkung "wirkliche Meditationen kann man überhaupt nicht drucken!" 264 Im ganzen jedoch zeigt Stählins vorsichtige Annäherung und daran anschließende Absetzung von der Meditation sein Bemühen, die Realität der Menschen einschließlich ihrer Leiblichkeit genau wahrzunehmen und für das Anteilgewinnen am Mysterium Christi nutzbar zu machen. Die Meditation ist damit ein Kristallisationspunkt seiner induktiven, Praktischen Theologie. Die formulierten kritischen Bedenken belegen gerade, was Praktische Theologie zu leisten hat. Sie kann sich nicht darauf beschränken, die "Anwendung" theologischer Erkenntnisse methodisch-praktisch sicherzustellen, noch darauf, an die Stelle "theoretischer" Theologie nun die "ganzheitliche", therapeutische Form religiöser "Erfahrung" zu setzen. Praktische Theologie ist der doppelten Verstehensbemühung verpflichtet, wie sie an Stählins Beschäftigung mit der Leiblichkeit deutlich wurde: von der biblischen Wahrheit her ein neues Verständnis menschlicher Leiblichkeit zu erschließen ( - mit durchaus therapeutischen Aspekten wie in der klinischen Seelsorge und Meditation - ) und umgekehrt von menschlicher Leiblichkeit her neu zu verstehen, was communio sanctorum, Leib Christi ist.
4.4.2. Freizeiten ("Geistliche Wochen") Einen Sonderfall sozialer "Leiblichkeit" stellen für Stählin gemeinsame geistliche Wochen dar. In ihnen ist das geistliche Leben nicht mehr ein Sektor des Lebens, sondern durchdringt den Alltag. Auf Freizeiten hat Stählin
262 A.a.O., S. 396. 263 Die ausgesonderten Tage, 1954, S. 69. 264 Ebd. Inzwischen dürfte aber den meisten klar sein, daß das schriftliche Genus "Predigtmeditation" und die vom eigenen Leib ausgehende geistliche Übung "Meditation" zwei unterschiedliche Dinge sind, die nicht um einen Namen streiten müssen. - Eine zusätzliche Entfernung von eigentlicher Meditation spricht aus der Bemerkung von 1965, meditative Betrachtung eines Textes setze die Exegese voraus (Meditative Predigt als Lebenshilfe, 1973 [1965], S. 209). Dies gilt für die eigentliche Meditation gerade nicht, ist aber auch für die Predigtvorbereitung eine eher überwundene, deduktive Reihenfolge.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
seine Meditationserfahrungen gesammelt und selbst im Rahmen der Jungbruderschaft Meditationen angeleitet. Wie in der Meditation die Relation des Menschen zu seinem eigenen Leib besonders angesprochen ist, so in der Freizeit die Gesamtheit aller Relationen, die Stählin in dem Buch "Vom Sinn des Leibes" als wichtig herausgestellt hatte: die Relation zur Natur durch einen ausgewählten Ort, zu anderen durch die Gemeinschaft, zu Gott durch die Inhalte und die die Tage strukturierenden Gebetszeiten, die Relation zum eigenen Leib durch Ruhe und Stille (bzw. Meditation), aber auch durch Gesang, Gymnastik und Atemübungen. Diese Verbindung aller Relationen menschlicher Leiblichkeit265 hat Stählin in der Jugendbewegung gelernt, bereits in der eigenen Konfirmandenarbeit praktiziert und dann schließlich in Michaelsbruderschaft und Jungbruderschaft eingebracht. Daneben hat er bis ins Alter hinein vom Berneuchener Dienst frei angebotene geistliche Wochen geleitet. Erneut wird die zweifache Bedeutung von Leiblichkeit transparent: Bei den geistlichen Wochen geht es ekklesiologisch um eine Alternative zum Parochialprinzip. Hatte Stählin in den zwanziger Jahren den Jugendbund als Gemeindeersatz ansehen können266 und 1940 das Prinzip der Bruderschaft den örtlichen Kirchengemeinden entgegengesetzt267, so schreibt er noch in seiner Schrift Die ausgesonderten Tage 1954, das "verderbliche Gemeindeprinzip" sei dafür verantwortlich, daß es kaum Orte gebe, an denen man geistliche Wochen abhalten könne.268 Damit wäre der Abschnitt, in dem es u.a. um Stählins Ekklesiologie ging, ohne den besonderen Hinweis auf die "geistlichen Wochen" unvollständig.269 Um der Konkretion willen seien noch einige Einzelheiten über "Sinn und Praxis geistlicher Wochen" (so der Untertitel) genannt, wie sie Stählin, im Alter von gut 70 Jahren bilanzierend, in der Schrift Die ausgesonderten Tage beschreibt.270 Die Teilnehmerzahl beträgt im Idealfall 40, höchstens 60 Personen (S. 25; Stählin gibt S. 23 ff. eine genaue finanzielle Kalkulation). Der Leiter der Woche soll sich auf Ansprachen, Gottesdienste und seelsorgerliche Gespräche beschränken (S. 31). Statt pietistischer Frömmigkeits265 Die Formulierung wurde bewußt so gewählt, um das belastete Wort "Ganzheit(lichkeit)" zu vermeiden. 266 Jugend und Gemeinde, 1928, S. 148. 267Bruderschaft, 1940, S. 47. 268Die ausgesonderten Tage, 1954, S. 15. 269 Über die Bezeichnung ist Stählin nicht zu einer endgültigen Entscheidung gelangt. Der Begriff "Freizeit" war ihm zu unspezifisch, das englische "retreat" im Deutschen nicht recht wiederzugeben und die römisch-katholischen "Exerzitien" klangen ihm zu methodisch (Die ausgesonderten Tage, 1954, S. 7-11). Wesentlich sei vielmehr das Außerordentliche der Situation (a.a.O., S. 11), daher der Titel der Schrift von 1954. Noch in Via Vitae, 1968, S. 343 heißt es, es gebe keinen ganz treffenden Begriff für die "Sache, die als solche klar ist". 270 Seitennachweise zu dieser Schrift in Klammern im laufenden Text.
4.4. Kontexte zu "Leib": Meditation und Freizeiten
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pflege geht es eher um objektive Ordnungen (S. 33 f.). Die geistliche Woche lebt von der Messe und dem Stundengebet (S. 34). Das feste Gerüst des Tages hat dabei Vorrang: 'Kein Vortrag darf die Stunde des Gebets überschreiten; die Aussprache wird abgebrochen, auch wenn noch manche Fragen unerledigt bleiben; die Freude am Singen erlaubt nicht, die Glocke zu überhören, die zum Gebet ruft [...]. Diese unverbrüchliche Ordnung ist das Bekenntnis zu der alles überragenden Wichtigkeit des Gebets, das keiner anderen Sache untergeordnet werden darf." (S. 34) Im Laufe von gut drei Jahrzehnten ist damit zum Abschluß gekommen, was in "Fieber und Heil in der Jugendbewegung" 1922 unter dem Stichwort "Der Wille zur Form" begonnen hatte. 1954 scheint die Form als solche zum Garanten "lebendiger Religion" (wie der junge Stählin äußerte) geworden zu sein. Das Stundengebet soll aber in schlichter Form, ohne liturgische Kleidung, u.a. von Laien gehalten werden (S. 36). Die theologischen Vorträge der Woche sollen einen Zusammenhang bilden; insgesamt sollen Vortrag, Gruppenarbeit und Fragenbeantwortung nicht mehr als drei Stunden täglich dauern (S. 51). Seelsorge übt die ganze Freizeitgemeinde aneinander, weniger der leitende Geistliche (S. 58). Ausdrücklich warnt Stählin vor der Anleitung von Meditationen durch Personen, die davon nicht "von irgend einer urteilsfähigen und glaubwürdigen Instanz bevollmächtigt" sind (S. 67). Hier ist Stählin im Verlauf zweier Jahrzehnte sehr viel vorsichtiger geworden; dies entspricht auch gegenwärtiger Praxis in der Beauftragung mit öffentlich angebotenen Meditationsanleitungen. 271 Was den "Stil" betrifft, warnt Stählin vor einer Vertraulichkeit, wie sie in der Jugendbewegung üblich war ("romantische Verirrung", S. 79), aber ebenso vor "übertriebener Feierlichkeit", vor einer "verkrampften Frömmigkeit" und vor christlichem "Mief' (S. 80). Morgens sollen möglichst Gymnastik und/oder Atemübungen angeboten werden; anstelle der lauten Unterhaltungen bei Tisch soll vorgelesen werden - am besten aus Grimms Märchen, "zu denen wir immer wieder gegriffen haben." (S. 83) Diese kurzen Zitate veranschaulichen, wie Stählin seine Erfahrungen gemeinsamen Lebens aus der Jugendarbeit in späteren Jahren verändert hat. Die Wiederentdeckung der "Liturgie gemeinsamen Lebens" zeigt aber zugleich die Gefahr, die besonders in bezug auf die dritte Schlüsselkategorie "Liturgie" im Auge behalten werden muß: die Formalisierung. Aus dem Abstand von fast vier Jahrzehnten geurteilt erscheint es kaum mehr vorstellbar, 271 So etwa im "Loccumer Arbeitskreis Meditation" (LAM), der Gelegenheit gibt, einzelne Meditationspraktiken vorzustellen, kritisch zu erproben und dann als öffentliche Veranstaltung (meistens Wochenenden) auszuschreiben.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
wie sich Teilnehmer einer minutiösen Ordnung von Tag und Woche (s.S. 77 f.) willig fugten. Mindestens das Prinzip "keine Diskussion darüber, ob man dieses oder jenes anders machen sollte" (S. 78) wäre aus heutiger Sicht mit keiner Gruppe von Jugendlichen oder Erwachsenen denkbar. Daraus wird erneut deutlich, wie auch Formen geistlichen Lebens zeitgebunden sind; fast möchte man fragen, ob die Zeit dieser Form nicht auch schon 1954 überholt war. So hat Leonhard Fendt das Buch "Die ausgesonderten Tage" als "ein Büchlein voller Gesundheit" beschrieben272, aber denselben Artikel mit einer nahezu prophetischen Warnung in bezug auf die Berneuchener beschlossen: Immer mehr verlange man in der Kirche nach "kirchennotwendigen" Ordnungen, und die Berneuchener rückten ihnen immer näher: "Dann, wenn die B.[erneuchener] erst recht 'offiziell' geworden sein werden, ist es mit ihnen an das Ende gekommen - natürlich an ein schönes und würdiges Ende, aber eben 'das Ende'." 273
272 Leonhard FENDT, Die Berneuchener, ThLZ 1954, Sp. 718. 273 A.a.O., Sp. 720.
4.5. Liturgie Erst in diesem Abschnitt können die bisherigen Linien gebündelt werden und so in ihrem Zusammenhang Konturen gewinnen. Stählins induktive, Praktische Theologie, die von den Denk- und Erfahrungsprämissen der Jugendbewegung her Theologie und Kirche neu zu bestimmen sucht, findet in der Liturgie ihr bevorzugtes Arbeitsfeld. Sind "Leben" und "Leib" Verstehenskategorien zur Transformation aktueller Sinnhorizonte in biblisch-theologische Deutungstraditionen, so ist die Liturgik als eine Unterdisziplin der Praktischen Theologie der Versuch der Umsetzung und Einlösung dieses Konzepts Praktischer, induktiver Theologie. Bereits früher hatten wir die Schlüsselkategorien so zugeordnet, daß die Kategorie Leben von der jeweiligen Opposition Stählins her zu füllen ist, während die Kategorie Leib die eigenständige Position seiner Theologie erkennen läßt. Demgegenüber stellen Liturgie und Liturgik die Konkretion von Stählins Praktisch-theologischem Denkweg dar. Insofern ist die Bewertung Stählins als "Liturgiker" (bzw. von Berneuchen als "liturgischer Bewegung") vollkommen sachgemäß, wenn diese Einordnung nur weit genug gefaßt und Liturgik nicht als ästhetisierendes Spezialgebiet für bestimmte kirchliche Kreise mißverstanden wird. 1 Die Liturgie ist die Konkretion einer von Leben und Leib her konstruierten Theologie; an ihr wird deutlich, was Kirche ist und was in ihr das Spezifikum des ordinierten Amtes ausmacht. Dies sei eingangs mit einigen Zitaten illustriert, bevor Entwicklung und Gestalt Stählinscher Liturgik sowie spezielle liturgische Bereiche dargestellt werden. An Gerhard Kunze als neuen Schriftleiter der "Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst" schreibt Stählin 1936, daß "[...] die Liturgie nicht eine Angelegenheit zweiten Ranges, neben den primär wichtigen theologischen Fragen ist, sondern daß die Liturgie die eigentliche und repräsentative Form ist, in der sich
1 Gegen solche Mißverständnisse wollte Stählin die Berneuchener Arbeit gar nicht als "liturgische Erneuerungsbewegung" verstanden wissen. Dabei werde "nur allzu leicht die grundlegende Erkenntnis vergessen, daß die Liturgie so tief mit dem gesamten Leben der Kirche verflochten ist, daß man sich nicht um liturgische Formen bemühen kann, ohne an der Gesamtgestalt der Kirche zu arbeiten." (Brief an Dr. Josef Casper 1940 [kein genaues Datum angegeben, Stählin hat nur nachträglich die Jahreszahl vermerkt], S. 2.) Es gelte vielmehr, "die tiefe Zusammengehörigkeit dogmatischer Besinnung und liturgischen Lebens nach allen Seiten zu erkennen." (A.a.O., S. 3.) - Freilich gilt für jeden praktisch-theologischen Ansatz, daß er Dogmatik und insbesondere Ekklesiologie im Blick haben muß, um auf breitere Resonanz zu stoßen. Dies ist in bezuf auf die "Seelsorgebewegung" der siebziger Jahre wie auf die sich in den achtziger Jahren konsolidierende "Gemeindepädagogik" gleichermaßen zu fordern.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
das Wesen und Leben der Kirche ausspricht. Der Gottesdienst ist das Schicksal der Kirche."2 Das Leben der Kirche hat seine Form (s. dazu den Abschnitt 4.3.1. "Form" ) in der Liturgie. Hier ist das wahre Leben repräsentiert: das menschliche Leben in seiner Widersprüchlichkeit, jedoch hineingezogen in die Wandlung zum höheren und vollendeten Leben, wie es im Mysterium bereits real präsent ist.3 Auch die Liturgie ist nicht vor allem von dem gedanklichen Gehalt, sondern von dem realen, leibhaftigen Mysterium her zu beurteilen: "Dieses wirkliche Geschehen der echten Liturgie bewegt sich, wie der leibliche Organismus dem Rhythmus von Ausatmen und Einatmen unterworfen ist, immer in dem unaufhebbaren und unzerteilbaren Wechselspiel von Empfangen und Wiedergeben, von sacramentum und sacrificium [...]. Es ist alles immer reines Geschenk der göttlichen Gnade; aber indem wir dieses Geschenk mit Leib und Seele empfangen und annehmen, bringen wir eben damit zugleich das Lobopfer unseres Dankes. Darum gehören [...] Liturgie und Diakonie so nah zusammen [...]. Gehört nicht dieses Ineinander von Lehre, Kultus und Liebe zu den Grundordnungen, in denen sich der Leib Christi auf Erden verwirklichen will? Diese gottgewollte Leibhaftigkeit, nicht etwa irgend welche ästhetischen Rücksichten, treiben uns dazu, alle sinnlichen Elemente, die leibliche Gebärde, Stimme, Klang und Form, bis hin zu Raum, Zahl und Zeit ganz ernst zu nehmen [...]. Die Einheit dieses lebendigen und umfassenden Geschehens wieder zu gewinnen und unsere Gemeinde hinauszuführen über eine gottesdienstliche Gewöhnung, die sich nur an Denken und Willen wendet, aber den Menschen nicht in seiner Ganzheit mitnimmt und hineinzieht in das Leben des Leibes Christi: dies scheint uns wichtiger, dringlicher, freilich auch schwerer zu sein als alle Reformen im einzelnen."4 Diese Zeilen enthalten in nuce sämtliche Hauptgedanken der Liturgik Stählins als Konkretion der ausgereiften Gestalt seiner Theologie: Liturgie wird als leibhaftes Geschehen und in Analogie zu leiblichen Vorgängen verstanden; dabei dürfen der Opfergedanke und das Diakonische nicht vernachlässigt werden, weil der Leib Christi so wirklich ist. Auch hier gilt wieder, was bereits im letzten Abschnitt festgestellt wurde: Stählin orientiert sich am Le-
2 Brief an Gerhard Kunze vom 4. 11. 1936. 3 Dazu vgl. das längere Zitat aus: Leibliche Erholung und seelische Gesundung, 1940 (s.o. S. 94 mit Anm. 123). 4 Brief an J. Casper (s.o. Anm. 1), S. 3 f., Hervorhebungen dort.
4.5. Liturgie
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ben des lebendigen Christusleibes5 - und dieses Leben ist real in Liturgie und Diakonie. Damit hat die Liturgie zugleich eine zentrale Bedeutung fur das Amt und die Persönlichkeit des Pfarrers. Er realisiert im Vollzug der Liturgie leibhaftig, was den priesterlichen Dienst ausmacht: "Indem die Liturgie den Liturgen zwingt, unter Verzicht auf unmittelbare pädagogische Wirkung sich von den Menschen 'wegzuwenden', hilft sie ihm so, wie er das allein tun darf, nämlich von Gott her, zu den Menschen zu kommen."6 Damit wird die Liturgie zur Quelle Systematisch-theologischer Einsicht; nicht nur die Dogmatik muß bei liturgischen Entscheidungen befragt werden. Vielmehr gilt ganz real: In der Liturgie fallen Entscheidungen über den Menschen. In der Diktion des jungen Stählin könnte man sagen: In der lebendigen Religion, nicht in der Lehre geht es um das wahre und falsche Leben, um Leben und Tod. Stählin formuliert diese These 1944 folgendermaßen: "Weil in der Liturgie wirklich etwas geschieht, darum ist sie umlauert von Gefahren und wird zu einer tödlichen Bedrohung für den, der die Wahrheit in Wahn verfälscht [...]. So fallen in der Liturgie echte Entscheidungen, und sie haben eine unerhörte Tragweite; hier geschieht etwas, was tief eingreift in das Gesamtgefüge des irdischen Lebens; [...] Diese communicatio bedeutet immer eine Entscheidung, die tief in unser eigenes Leben zurückund durch uns hindurch in das Ganze der Welt hineinwirkt. Ob wir an den Mysterien Gottes oder an den Mysterien des Widergottes Anteil haben, diese Frage ist ein Stück der heimlichen Geschichte der Welt."7 Die Wahrheitsfrage wird liturgisch, nicht theoretisch - also auch nicht dogmatisch - entschieden. Damit ist der Endpunkt von Stählins "realistischem" Verständnis von Liturgie erreicht, das er immer wieder gegen ein "nominalistisches" absetzt. Die folgende Einzeldarstellung weicht in einem Punkt von dem bisherigen Vorgehen ab. Da Stählin den Plan einer eigenen Liturgik in Buchform nicht verwirklichen konnte und damit eine Gesamtdarstellung fehlt, wird in diesem Abschnitt bereits auf eine sorgfältig nachgeschriebene Vorlesung Liturgik (WS 1936/37) zurückgegriffen (s. ansonsten 5.1.). Dieses Jahr erweist sich 5 6 7
S.o. S. 1 9 2 mit Anm. 1 6 7 . Die Bedeutung der Liturgie für das Amt und die Persönlichkeit des Pfarrers, MGKK 1930, S. 166, Leitsatz 6d, Hervorhebung im Original. Liturgie als Entscheidung, MuK 1944, S. 4 f. Offensichtlich meint Stählin mit den "Mysterien des Widergottes" nicht die nationalsozialistische Führerverehrung (dazu s. Werner REICHELT, Das braune Evangelium, 1990), sondern jede Form falschen Gottesdienstes.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
insofern als vorteilhaft, als Stählins Theologie mit der Schrift "Vom göttlichen Geheimnis" (1936) als im wesentlichen abgeschlossen zu betrachten ist. Zudem erschienen 1935 die Ordnung der Deutschen Messe der Berneuchener ( 2 1937) und die Ordnung der Einzelbeichte. Somit ergibt sich mit dem Jahr 1936/37 eine klare Zäsur, weshalb zunächst die Entwicklung von Stählins Liturgik bis 1930, sodann die systematische Gestalt darzustellen sind. Schließlich folgt mit der Analyse von Kirchenmusik, Kirchenbau, Kirchenjahr und Kasualgottesdiensten Stählins spezielle Liturgik. Insgesamt geht es hierbei wiederum hauptsächlich um die Genese von Stählins Liturgik, welche wesentliche Impulse der Jugendbewegung zu verdanken hat. Für die Systematik bietet die in der Forschungsgeschichte vorgestellte Darlegung von Karl Ferdinand Müller wichtige Anhaltspunkte.
4.5.1. Die Entwicklung von Stählins Liturgik bis 1930 Was die Terminologie angeht, so spricht Stählin in klarer Anlehnung an Schleiermacher8 von "Kultus" und Liturgie, wobei "Kultus" der Oberbegriff ist, welcher Liturgie, Predigt, Musik und Kunst als das Ensemble übergreift. Andererseits kann auch - entsprechend der Trias Martyria, Leitourgia, Diakonia - die Liturgie fur das gesamte gottesdienstliche Handeln der Kirche stehen. Der Begriffsgebrauch schwankt demnach - was auch darin begründet liegt, daß Stählins Äußerungen oft auf öffentliche Vorträge zurückgehen, bei
8
Schleiermacher definiert "Kultus" als die "öffentliche Mitteilungsweise religiöser Lebensmomente" und sieht ihn damit in Verbindung mit der "christlichen Sitte" (Friedrich SCHLEIERMACHER, Kurze Darstellung des theologischen Studiums, 1982 [ 3 1910, 2 1830], S. 64 f., §§ 168-171, ferner S. 103 f., § 269 und S. 122, § 318). In Schleiermachers Praktischer Theologie (aus dem Nachlaß) wird in Konsequenz seines theologischen Ansatzes überhaupt definiert: "Der Zwekk des Cultus ist die darstellende Mittheilung des stärker erregten religiösen Bewußtseins." (Friedrich SCHLEIERMACHER, Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche, 1983 [1850], S. 75, Hervorhebung dort. ) Ebd. sind als "die wesentlichen Bestandtheile des Cultus" genannt: "'religiöse Rede Gesang und Gebet" (Hervorhebung dort). Die Liturgie stellt für Schleiermacher somit einen Teil des Kultus dar; über die Liturgie sagt er, daß "dies Element im Cultus nothwendig ist" (a.a.O., S. 156). Nur in ganz kleinen Gemeinden könne ein Gottesdienst ohne liturgische Elemente bestehen (S. 157). Den Zusammenhang von Schleiermachers Gottesdienstverständnis mit der Herrenhuter Brüdergemeinde (Auffasssung der Gemeinde als Gemeinde der Bekehrten, Verzicht auf bildende Kunst und Architektur, Ablehnung der Beichte als Zulassungsvoraussetzung zum Abendmahl), aber auch mit Aufklärung und Romantik hat Christian GRETHLEIN, Abriß der Liturgik, 1991, S. 60-64 herausgearbeitet.
4.5. Liturgie
223
denen ihm das Thema "Liturgie" durch die Veranstaltung bereits vorgegeben war. 9 Bereits 1924 hat sich Stählin das Thema "Evangelischer Kultus" für einen Vortrag auf der Nürnberger Pfarrkonferenz gewählt. Hierin begründet er das Kultische als Kategorie gerade auch für die evangelische Kirche. Wenn die Gefahr im Katholizismus der Selbstzweck des Religiösen ohne Alltagsbezug sei, so sei die protestantische 10 Gefahr, daß "aus Angst vor Überschätzung des Kultischen" die besondere Hervorhebung des religiösen Verhaltens unterbleibe, "die Religion geht in dem Gesamtleben auf, aber statt das Ganze durch seine Kraft zu durchdringen, wird sie vielmehr von dem Ganzen verschlungen." 11 Der Begriff "Kultus" steht damit wiederum für Stählins Konzept, die Realität "lebendiger Religion" (für die Frühzeit), des "Mysteriums" (ab Mitte der dreißiger Jahre) zu betonen gegen den Primat des Gedachten und Gelehrten. Den Begriff Liturgie definiert Stählin 1930 auf dreifache Weise - im weitesten, engeren und engsten Sinn. Liturgie bezeichnet - "den zeugnishaften Dienst schlechthin", in kultischer und profaner Gestalt (weitester Sinn); - "den (kultischen) Gottesdienst nach seiner formalen Seite" (engerer Sinn); - die festen Teile des Gottesdienstes, abgesehen von der Predigt (engster Sinn).12 Das fragmentarische Manuskript zu Stählins nie geschriebener Liturgik (entstanden in Kohlgrub 1943/44) enthält folgerichtig beide Begriffe im Titel: "Liturgik. Die Lehre vom kultischen Amt der Kirche in der Welt." Liturgie und Liturgik sind die kirchlichen und Praktisch-theologischen Verständigungsbegriffe, die vom Terminus "Kultus" her eine spezifische Prägung erhalten. Damit liegt bereits ab 1924 (s.o.) eine gezielte Nähe zum Katholizismus vor, welche persönlich in der Begegnung mit Romano Guardini und Odo Casel, sachlich in dem Denkweg von der "lebendigen Religion" zur Theologie begründet ist.13 1944 schreibt Stählin, daß "Kultus und Liturgia
9 So z.B.: Die Bedeutung der Liturgie für das Amt und die Persönlichkeit des Pfarrers, ^ 1930, als Vortrag auf einer liturgischen Konferenz. 10 Auch hier liegt wieder die schon mehrfach konstatierte Unterscheidung vor: protestantisch ist für Stählin die verfehlte, evangelisch die sachgemäße Gestalt reformatorischer Kirchlichkeit. 11 Evangelischer Kultus, 1924, S. 14. 12 Die Bedeutung der Liturgie für das Amt und die Persönlichkeit des Pfarrers, 1930, S. 165 (Leitsatz 2). 13 Der Zusammenhang wird bereits an den Titeln von Odo CASELS Büchern transparent: Die Liturgie als Mysterienfeier, 1923 und Das christliche Kultmysterium, 1935 [1932],
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
ihrem Wesen nach völlig ein und dasselbe sind."14 Liturgia ist der Gott geleistete Dienst, das lateinische colere Deum als Ausdruck der Gott zugewendeten Haltung ist damit identisch. Im allgemeinen Sprachgebrauch habe der Begriff "Liturgie" jedoch diese Weite verloren. In der Regel werde vergessen, "daß die Liturgie eigentlich der gesamte gottgewendete Dienst der Kirche ist. Wir ziehen es deshalb vor, vom Kultus und vom kultischen Amt der Kirche zu reden, einfach darum, weil das Wort Kultus seine ursprüngliche Bedeutungsweite treuer bewahrt hat als das Wort Liturgie." 15 Aus gegenwärtiger Perspektive wird man Stählins Anliegen durchaus unterstützen, das Mittel der Terminologie jedoch als dafür kaum geeignet einschätzen müssen: Die Gleichsetzung von "Liturgie" mit dem Kyrie und Gloria ist allgemein verbreitet16, das Pejorative allen "Kultus" hat jedoch mit dem Brüchigwerden von Institutionalisierungen überhaupt in den vergangenen 50 Jahren eher noch zugenommen (bei gleichzeitig wachsender Hochschätzung von "Kultur" und "Kulturpolitik" als Merkmale der Freizeitgesellschaft). Als einzig sinnvoller Weg erweist es sich, die Termini "Liturgie" und "Liturgik" weiter zu gebrauchen und zu verdeutlichen, daß damit mehr gemeint ist als einzelne Formen. Dabei muß andererseits bedacht werden, daß ein weit gedehnter Begriffsgebrauch die Gefahr des Unspezifischen in sich birgt: Ohne Schwierigkeit läßt sich die gesamte kirchliche Arbeit sowohl als "Verkündigung", als "Seelsorge" (cura animarum generalis et specialis), als "konfirmierendes Handeln"17 und eben auch als "Liturgie" (Dienst gegenüber Gott und den Menschen18) deuten. Demgegenüber ist zu definieren: "Liturgie" umfaßt alle sinnlich wahrnehmbaren Hinwendungen von Gliedern des Leibes Christi zu dem dreieinigen Gott, vor allem solche Hinwendungen, die wiedererkennbare Formen haben.19
14 Liturgik. Die Lehre vom kultischen Amt der Kirche in der Welt, 1944, S. 15. 15 Ebd. Als Indiz gibt Stählin an, "daß es groteskerweise auch Gottesdienste ohne 'Liturgie' gibt." (Ebd.) 16 In der geläufigen Redeweise: "Pfarrerin X singt 'die Liturgie', Pfarrer Y spricht 'die Liturgie', weil er nicht singen kann." 17 Dazu s. Michael MEYER-BLANCK, Wort und Antwort, 1992, S. 252 f. und S. 26^2 264. 18 Durch das Gegenüber von Leitourgia und Diakonia (bzw. die spätere Trias Martyria, Leitourgia, Diakonia) erliegen Stählin und die Berneuchener der Tendenz zu unspezifischer Weite allerdings nicht. 19 Entsprechend wäre präzise zu definieren: Verkündigung als intentionale und verifizierbare Ausrichtung des Evangeliums; Seelsorge als zielgerichtete Zuwendung zum einzelnen im Raum der christlichen Gemeinde; Konfirmierendes Handeln als die lebensbegleitenden, an Taufe und Segen orientierten Gottesdienste (s. dazu M. MEYER-BLANCK, Wort und Antwort, 1992, S. 269-279).
4.5. Liturgie
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Von Anfang an wird Stählins Orientierung an den Kategorien "Leben" und "Leib" in der Jugendbewegung begleitet von einem liturgischen Interesse. Schon in dem Vortrag "Volkskirche" aus dem Jahr 1918/19 20 , in dem in vertrauter Weise die religiöse Bildersprache dem "Kultus der Worte" entgegengesetzt wird und das "Denken in Symbolen" den "Worten und Begriffen" 21 , wird - in gewisser Anlehnung an anthroposophische Denkmuster 22 die Bedeutung der Liturgie hervorgehoben: "Es ist ein Zeichen einer neuen Zeit, daß wir uns in kleinen religiös gestimmten Kreisen über den Wert der Liturgie für den heutigen Menschen unterhalten und daß wir in unseren alten Gotteshäusern neue Gottesdienste halten, in denen sich edle Musik mit den gelesenen Worten der Bibelweisheit und frommer Dichtung zu einem künstlerischen Ganzen verbindet. Nur daß auch hier nicht ein krampfhaftes Bemühen Erlebnisse machen will! [...] Andacht, nicht Erlebnisse, denn damit ist keinem Herzen geholfen, daß man es auf sich selbst zurückweist zu dem Genuß seiner eignen Stimmungen, sondern damit, daß man es in Berührung bringt mit den verborgenen Herrlichkeiten des Lebens [...]. Es ist die Berührung mit der Christuswelt, in der aller Hunger einer Menschenseele gestillt werden kann. [...] Und eine Kirche, der es vergönnt ist, in ihren Formen und Feiern lebendige Sinnbilder des Christus zu schaffen, steht fest in dem Herzen ihres Volkes." 23 In der Terminologie der "freier gerichteten" Theologie und in den anthroposophischen Anklängen ("Bibelweisheit", "Christuswelt") deuten sich schon 20 Der Vortrag trägt weder Überschrift noch Datum. Stählin hat nachträglich handschriftlich darauf vermerkt: '"Volkskirche' 1918/19 Nürnberg?" Das Manuskript kann frühestens vom September 1918 stammen, da es auf der Rückseite von halbierten Blättern einer "Zeichnungs-Einladung der Neuland A.G., Berlin" vom 1. 9. 1918 geschrieben ist. Der Vorschlag, in Bayern einen Landesbischof zu installieren (S. 21), setzt das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments im November 1918 voraus. Der Vortrag könnte im Winter 1919/20 verfaßt worden sein (s. dazu die folgende Anmerkung). 21 A.a.O., S. 15. An dieser Stelle ist die Rede von den Jugendlichen, unter denen "viele nach alten oder neuen Formen [suchen], in denen ihr innerstes Leben sich ausdrückt und mitteilt." In die Zeit der Kontroverse mit Hans Lauerer im Winter 1919/20 paßt die Bemerkung, in Zukunft werde es vielleicht nur noch zwei Konfessionen geben: die einen, die "in einem Bekenntnis den Ausdruck für die einzige Wahrheit und in ihrer religiösen Organisation die Darstellung des Reiches Gottes" sehen und die, die "überall wo wahres Leben ist, die Spuren der gleichen ewigen Kraft [...] erblicken." (A.a.O., S. 23.) Hier stehen wieder lebendiges Leben und lebendige Religion gegen die verfestigte Lehre in der existierenden (bayerischen Landes-)Kirche. 22 Das Jahr seiner Begegnung mit Rudolf Steiner vermag Stählin nicht anzugeben (Via Vitae, 1968, S. 162). 23 Volkskirche, 1918, S. 16.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
die späteren Linien an: Neben der hohen Bedeutung der Liturgie als solcher ist bereits die Abwendung von der neuprotestantischen "Erlebnis"-Religion erkennbar sowie die spätere Ekklesiologie präfiguriert. Was später die Anteilnahme an dem kultisch repräsentierten (und damit realen) Mysterium Christi ist (communio sanctorum), wird noch eher kulturprotestantisch-aktivistisch benannt ("lebendige Sinnbilder des Christus zu schaffen"), ohne in praxi auf etwas anderes hinauszulaufen: auf ein Engagement fur die Liturgie.24 Der Weg zur Liturgie ergab sich in der christlichen Jugendbewegung schon allein aus der einfachen Frage, wie die Distanz der Jugendlichen aus den Bünden zu den Kirchengemeinden und deren als unlebendig erlebten Formen aufzunehmen sei. In Anlehnung an Stählins Heidelberger Rede "Jesus und die Jugend" (1921) wurde bereits in Brieg 1922 (10. Bundestagung des BDJ) über "neue Form und Sprache [...] für die Christusbotschaft an unsere Jungen"25 diskutiert. Wie bereits oben geschildert, suchte Stählin in seiner Schrift "Fieber und Heil in der Jugendbewegung" ebenfalls 1922 für einen neuen "Willen zur Form" zu werben. Damals ging Stählin davon aus, daß jegliche Form und damit auch die Liturgie für Jugendliche zunächst "unerträglich" seien.26 In derselben Schrift weiß Stählin jedoch auch davon, daß viele Jugendliche "sehnsüchtig nach der katholischen Messe schauen", auf die höchste Vollendung der "Form", "die vollkommene Verschmelzung des höchsten übersinnlichen und übermenschlichen Gehalts mit der brausenden Fülle aller Schönheit in Licht und Farbe und Klang und Gebärde."27 Der Sprachduktus belegt, daß Stählin ebenso "sehnsüchtig" nach der Messe schaut wie viele der Jugendlichen und daß er wiederum nicht nur um der Jugendlichen willen nach neuen Formen sucht (als Vehikel für die "Sache"), sondern daß er selbst nach einer Verleiblichung "lebendiger Religion" sucht, da die Christuswahrheit eine andere als die diskursive Gestalt braucht. 24 Richtig stellt Erich NESTLER, Der Beitrag Wilhelm Stählins zur Jugendbewegung, 1986, S. 102 in der Bewertung der Lauerer-Kontroverse fest, hier zeichne sich ab, "was Stählins Denken immer mehr bestimmen wird: der Rückbezug auf die Glaubenserkenntnis und -praxis, wie sie sich im liturgischen Handeln der Kirche ausdrückt." 25 Jörg ERB, Die Frage eines Älteren-Bundes im BDJ, 1922, S. 22, Hervorhebung dort. "Wir wissen, daß es in aller erster Reihe, die toten, unjugendlichen Formen sind, vor denen die Jugend zurückschreckt und flieht, daß ihr so das Lebendige und die Kraft unbekannt und unerkannt bleibt. Wir suchen darum in aller Wahrhaftigkeit nach neuen Worten und Formen für das Religiöse im Gottesdienst, im Bundabend und in unseren Aussprachen, halten Morgen- und Abendfeiern." (Ebd.) Vgl. dazu: Horst Dieter TOBOLL, Evangelische Jugendbewegung 1919-1933, 1971, S. 73 f. 26 Fieber und Heil in der Jugendbewegung, 1922, S. 27, s. dazu oben das Zitat auf S. 151.
27 A.a.O., S. 31.
4.5. Liturgie
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So erscheint es nur konsequent, daß - ebenfalls 1922 - in St. Lorenz in Nürnberg die liturgischen Stücke im Gottesdienst wieder eingeführt werden. 28 Stählin begründet dies mit der Aporie der religiösen Erlebniskultur wie der Individualisierung. Die Sicht auf die psychologische Seite der Religion sei notwendig gewesen, habe aber zu der Gefahr geführt, "daß wir unsere eigenen Erlebnisse bespiegeln" und die eigene Frömmigkeit mit der Ehre Gottes verwechseln. 29 Jetzt suchten viele Menschen jedoch gerade Befreiung von sich selbst: "Das ist der eigentliche und innerste Sinn der Liturgie, daß wir hier uns selbst verlieren und vergessen in der Hinwendung zu dem heiligen und barmherzigen Gott. Alle An-dacht ist zugleich ein Weg-denken von dem eigenen Ich."30 Der neue Zugang zur Liturgie ist für Stählin in einem dreifachen Verlangen der Menschen begründet: nach Schönheit (statt Nüchternheit), nach Form (statt individueller Art), nach Anbetung ("statt des verliebten Bespiegeins eigener Erlebnisse" 31 ). Diese Predigt markiert deutlich den Übergang von einer psychologisch motivierten Liturgik zu einer kultisch verstandenen. Es ist zwar nicht mehr die Rede von der Kirche, die selbst in Formen und Feiern "Sinnbilder des Christus" schafft wie 1918, sondern die Liturgie ist bereits wie später das Gegenüber, das objektiv Gewordene, das nicht der bedürfnisorientierten Machbarkeit des Augenblicks unterliegt. Aber eben diese Ob28 Anbetender Gottesdienst, CuG 1922 (März). Es handelt sich um eine Predigt "aus Anlaß der Wiedereinführung der Liturgie bei St. Lorenz" (CuG 1922, S. 44, Anm. 1 - man vergleiche dazu das oben zu Stählins Kritik an der gängigen Terminologie Ausgeführte!). 1850 war vom bayerischen Konsistorium eine reichere liturgische Gestaltung angeboten worden, wogegen sich besonders in Nürnberg heftiger Widerstand regte. Nur die Heilig-Geist-Kirche in Nürnberg machte damals von der neuen Möglichkeit Gebrauch. Das damit gegebene Problem der Identität evangelischen Gottesdienstes im katholischen Umfeld geht aus einer Anekdote hervor, die Christian Geyer aus seiner Landpfarrerzeit in Altdorf (1887-1889) erzählt. Die Bevölkerung war dort traditionell liturgiefeindlich, trotz jahrzehntelangem Feiern der Liturgie: "Eine alte Frau, die sich bei mir einschmeicheln wollte, sagte einmal: 'Herr Pfarrer, mir geht nichts übers Wandeln.' Sie meinte damit die Liturgie, die sie ohneweiteres der katholischen Messe gleichsetzte." (Chr. GEYER, Heiteres und Ernstes aus meinem Leben, 1929, S. 109.) - Trotz "aller Verehrung für Steiner" habe er (Geyer) den Weg in die Anthroposophie später nicht eingeschlagen, weil er "deren eigentliches Herzstück, nämlich den Kultus, [...] ablehnte" (a.a.O., S. 254). 29 Anbetender Gottesdienst, CuG 1922, S. 44, 2. Sp. 30 Ebd. 31 A.a.O., S. 45, 1. Sp. Im folgenden erklärt Stählin den Sinn der liturgischen Stücke; an dieser Stelle wird die Abfolge von Kyrie und Gloria noch psychologisch motiviert (als Erleben von Demut und Gnade), was Stählin später immer wieder als völliges Mißverständnis kritisiert; z.B.: Die Bedeutung der Liturgie im evangelischen Gottesdienst, ZEvKM 1929, S. 119: Die Einleitungsformeln zu Kyrie und Gloria seien der falsche Versuch, die Paradoxien des Glaubens in Stimmungen zu verwandeln.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlttsselkategorien
jektivität wird noch mit der aktuellen Subjektivität begründet, mit dem Bedürfnis des der Selbstbespiegelung müden Individuums nach Schönheit, Form und Anbetung. Diese Einschätzung ist noch weit entfernt von der im einleitenden Überblick erwähnten Sicht von 1944, daß in der Liturgie Entscheidungen über Leben und Tod fallen. Im Rahmen dieser Denkvoraussetzungen bewegt sich auch der - im Zusammenhang der Terminologie bereits zitierte - Vortrag Evangelischer Kultus vor der Nürnberger Pfarrkonferenz 1924. Darin wird der Kultus gewissermaßen pädagogisch begründet als die notwendige "Pflege des heiligen im Gegensatz zu dem profanen Leben."32 In Analogie zum Alltagsleben überhaupt gilt: "So wie jede Seite des Lebens von Zeit zu Zeit aus dem Gesamtleben herausgehoben werden muß [...], so bedarf auch unser Verhältnis zum Heiligen, daß es in bestimmter geprägter Form als ein besonderes Verhalten in die Erscheinung tritt." 33 Darüber hinaus geht aus diesem Vortrag an mehreren Punkten die Bekanntschaft mit den liturgischen Schriften Romano Guardinis von 1918 und 192334 hervor. Zwar darf dies nicht im Sinne einer monokausalen "Abhängigkeit" verstanden werden, doch hat Stählin von Guardini - wie damals viele35 - erkennbar wichtige Anregungen erhalten. Daneben haben Stählin wie Guardini Anteil an den Erfahrungen der Jugendbewegung und bringen diese in eine von der Liturgie her gedeutete Theologie ihrer jeweiligen Konfession ein. Was bereits zu den Schlüsselkategorien "Leben" und "Leib" gesagt wurde, spielt dabei eine besondere Rolle. Die Übereinstimmung von Stählins Vortrag 1924 und Guardinis Schriften36 erhellt aus der folgenden Übersicht.
32 Evangelischer Kultus, 1924, S. 14. 33 Ebd. 34 Romano GUARDINI, Vom Geist der Liturgie, 1920 [1918] und ders., Liturgische Bildung, 1992 [1923], 35 Guardini "war damals zweifellos der populärste Führer der liturgischen Bewegung." (Walter BIRNBAUM, Die deutsche katholische liturgische Bewegung, 1966, S. 40). So schreibt Heinz-Dietrich WENDLAND, Wege und Umwege, 1977, S. 88: "Mir eröffneten die Schriften des jungen Guardini zum allerersten Mal den inneren Zugang zum 'eigentlichen' Sinn der römischen Messe." 36 Die genauen bibliographischen Angaben s. in den voranstehenden Anmerkungen bzw. im Quellen- und Literaturverzeichnis.
4.5. Liturgie
W. Stählin, Evangelischer Kultus, Vortrag 1924
1. Pädagogische Begründung ("unser Verhältnis zum Heiligen" muß gepflegt werden, S. 14) 2. "Es wird nicht nur geredet, nicht nur ein geistiger Gehalt irgend wie [sie] mitgeteilt [...]" (S. 14 f.) 3. "[...] alles Geistige drängt in die Form und schafft sich im Leib sein Symbol." (S. 15)
4. Das wahre Symbol deutet hin auf etwas "Umfassenderes, das doch in ihm selbst vorhanden und anschaulich gegeben ist." (S. 15) 5. "Kultus ist nicht zweckhaftes, sondern sinnvolles, zweckfreies Handeln." (S. 15) 6. In dem Begriff "christlich-sittlich" wird "verkannt, daß der Logos vor dem Ethos steht". (S. 16)
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R. Guardini, Vom Geist der Liturgie, 1918 (= "Geist") Liturgische Bildung, 1923 (= "Bildung") 1. In der Liturgie geht es "vor allem um Bildung, das Wort in seinem wesentlichen Sinn genommen." (Bildung, S. 24) 2. "In der Liturgie geht es nicht um Wissen, sondern um Wirklichkeit." (Bildung, S. 24) 3. "Ein Symbol entsteht, wenn etwas Innerliches, Geistiges seinen Ausdruck im Äußerlichen, Körperlichen findet. [...] So ist der Leib natürliches Symbol der Seele, [...]." (Geist, S. 53, ähnlich Bildung, S. 34 ff.) 4. Im Symbol [...] ist Inneres derart an Äußeres geknüpft, daß [...] eines auf Grund innerer Notwendigkeit wirklich zum anderen gehört." (Bildung, S. 34 f.) 5. "Die Liturgie hat keinen 'Zweck', [...] sondern [ist] bis zu einem gewissen Grade mindestens Selbstzweck." (Geist, S. 64) 6. "Der Primat des Logos über das Ethos" (Geist, S. 88-99, Überschrift des Schlußkapitels); geht das Ziel erzieherischer Arbeit "Auf Tun hin oder auf Sein?" (Bildung, S. 103)
Die gedanklichen Übereinstimmungen mit Guardini in diesem kurzen Vortrag Stählins 37 sind frappierend und lassen sich in anderen Schriften
37 Er umfaßt in dem Protokoll lediglich drei - allerdings sehr eng handschriftlich beschriebene - Seiten. Zu Beginn der Konferenz hatte übrigens Christian G E Y E R über Emil Brunner, Die Mystik und das Wort und über Karl Barth referiert (S. 1).
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Stählins mühelos vermehren. In dem Abschnitt über "Liturgisches Beten" legt Guardini Wert darauf, daß das Gebet aus der dogmatischen Wahrheit kommt, dies befreie "von der Knechtschaft des Gemütes, von der Verschwommenheit und Tätigkeit des Gefühls." 38 Dem entsprechen die Ausführungen Stählins in "Anbetender Gottesdienst" aus dem Jahr 1922. Daß die Kerze, "die sich brennend verzehrt", die "Gesinnung des Opfers" symbolisiert 39 , finden wir bei Stählin später immer wieder. 40 Auch für Guardini war es 1923 eine entscheidende Frage an die Jugendbewegung, "ob jenes hervordrängende Leben sich zur Liturgie erhöht und damit hereingezogen wird" in den Leib Christi41, diese Frage stellt sich als eine Hauptfrage von Stählins theologischem Denkweg. Ebenso wie Stählin eine abstrakte theologische Begrifflichkeit zeitlebens als einen Kardinalfehler der Kirche brandmarkte, kritisiert Guardini an der Neuzeit als solcher, sie bewirke "eine der furchtbarsten Verwechslungen, die je den Abfall menschlich-ganzheitlicher Haltung gerächt haben: Sie suchte 'Rein-Geistige' und geriet ins Abstrakte. Verleiblichung damit das Symbol wurden abgelehnt, unmerklich aber schob an die Stelle des 'Geistigen' das Abstrakte, der Begriff." 42
von das und sich
Stattdessen muß es nach Guardini um eine "wirklich liturgische Haltung" gehen, um das Beten auch mit dem Leib, darum, wieder "symbolfähig" zu werden. 43 Hier insistiert Guardini u.a. auf der Körperbildung durch Wanderung und Leibesübung sowie auf Werkarbeit neben der Kopfarbeit. Dies belegt ein weiteres Mal, wie Stählin einen geläufigen Denkstrom aufnimmt und die Liturgie die Konkretion jugendbewegter und reformpädagogischer Impulse darstellt, wie sie anhand der Kategorien "Leben" und "Leib" entfaltet wurden. Neben den Kongruenzen gibt es am Schluß von Stählins Vortrag Evangelischer Kultus auch deutliche Abgrenzungen gegenüber der Liturgik Guardinis (der mit keinem Wort erwähnt wird) und der katholischen Kirche insgesamt. Bei allem Primat des Logos vor dem Ethos sei "evangelischer Gottesdienst niemals nur ruhende Betrachtung, nur feierndes Genießen der göttlichen Wahrheit, sondern ein Hören auf den Ruf, eine Bereitschaft zum Dienst, die göttliche Deutung 38 39 40 41
Romano GUARDINI, Vom Geist der Liturgie, 1920 [1918], S. 8. A.a.O., S. 55, in dem Abschnitt über "Liturgische Symbolik" (S. 48-57). So z.B. Das Gottesjahr 1934, S. 59 und Vorlesung Liturgik 1936/37, S. 72. Romano GUARDINI, Liturgische Bildung, 1992 [1923], S. 27. Guardini rekurriert hier auf Eph 4,15. 42 A.a.O., S. 36. 43 A.a.O., S. 43. Gerade das "Beten mit dem Leib" hebt Stählin in seiner Rezension des Buches positiv hervor, welche im übrigen die tatsächliche Bekanntschaft Stählins mit der Schrift belegt. (Rez. zu: Romano Guardini, Liturgische Bildung, CuW 1924, S. 94. Die Rezension erschien im April.)
4.5. Liturgie
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des 'Kairos', des gegenwärtigen Augenblicks. Das eschatologische Moment tritt stärker hervor, als es der Reformation bekannt und bewußt war." 44 Die Betonung des Objektiven und der Wahrheit darf nach Stählin nicht dazu fuhren, das geschichtlich Gewordene der Liturgie mit der lebendigen, gegenwärtigen Wahrheit einfach zu identifizieren. Die Gegenwart des Eschaton stellt das Gewordene vielmehr immer wieder in Frage, wofür der von Tillich übernommene "Kairos"-Begriff steht. 45 Ebenso kritisiert Stählin, daß die Gemeinde im katholischen Kultus keine reale Bedeutung habe. Das Wesentliche am Kultus sei jedoch gerade, daß ein Kreis von Menschen ihn trägt. 46 Noch deutlicher wird Stählin am Schluß seiner Rezension von Guardinis Büchlein "Liturgische Bildung". Bei Guardini liege trotz allem Richtigen ein "ungeheurer Irrtum" vor, wenn dieser den Menschen zur "objektiven Haltung" erziehen wolle durch die gehorsame Aneignung der Formen der Kirche. So bleibt Stählin dem Protest der Jugendbewegung gegen die Anpassung an gesellschaftliche und kirchliche Formen treu. Er hält daran fest, "daß vielmehr eine Zeit vollkommener Formlosigkeit eine geringere Gefahr für die Seele ist als jenes gehorsame Hinnehmen von überlieferten Formen." 47
44 Evangelischer Kultus, 1924, S. 16. 45 1922 war Tillichs Aufsatz "Kairos" in der Zeitschrift "Die Tat" (14. Jg. 1922, S. 330-350) erschienen (= Ges. Werke Bd. VI, S. 9-28). Carl-Heinz RATSCHOW, Paul Tillich, 1978, S. 316 konstatiert bei Tillich für die zwanziger Jahre eine intensive "Zuwendung zum Leben" und "den drängenden Atem der eschatologischen Ergriffenheit" (a.a.O., S. 317). Eben dieses Denken kulminiert im Kairos-Begriff. 46 Evangelischer Kultus, 1924, S. 16. 47 [Rez. zu:] R. Guardini, Liturgische Bildung, CuW 1924, S. 95. - Katholisches Selbstbewußtsein und Seitenhiebe auf die evangelische Kirche fehlen bei Guardini keineswegs: so wird "der Protestantismus" "der Kirche" gegenübergestellt (R. Guardini, Vom Geist der Liturgie, 1920 [1918], S. 43). Der Protestantismus hat "die feste religiöse Wahrheit schrittweise aufgegeben" und subjektiviert (a.a.O., S. 94; man denke hierzu jedoch an das Urteil Karl Barths, daß in der katholischen Kirche trotz der Irrtümer "die Substanz irgendwie besser erhalten ist als bei uns", das aus der Münsteraner Zeit stammt; s. Eberhard BUSCH, Karl Barths Lebenslauf, 1975, S. 182). - 1925 hat Guardini eine weitere Schrift publiziert: Vom liturgischen Mysterium. Hierin ist terminologisch wie sachlich das Buch von Odo CASEL, Die Liturgie als Mysterienfeier, 1923 [1922] vorauszusetzen. (Auf Casels Schriften wird unten im Zusammenhang der ausgebildeten Liturgik Stählins einzugehen sein.) Guardini ringt 1925 mit dem Problem der Geschichtlichkeit, mit dem Verhältnis der Einmaligkeit des Kreuzesopfers und der realen Vergegenwärtigung im Meßopfer. Diesen Überlegungen liegen letztlich die Denkvoraussetzungen der analogia entis und der Transsubstantiation zugrunde. So betont Guardini zwar, daß die Unwiederholbarkeit zu Wesen und Würde der Geschichte gehört (Vom liturgischen Mysterium, 1992 [1925], S. 120), lehrt aber gleichzeitig ein "wirkliches Aufstehen des gleichen Ge-
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlttsselkategorien
Am Schluß des Vergleichs des Nürnberger Vortrags mit den Thesen Guardinis aus den zwanziger Jahren sei noch einmal die einleitende Bemerkung aufgenommen, daß Stählin hier noch die Objektivität mit der Subjektivität begründet. Wurde diese Begründung eine pädagogische genannt, so ist sie von grundsätzlich anderem Charakter als Guardinis Interesse an der "liturgischen Bildung". Guardini geht es darum, daß der einzelne zu "jener Weise religiös-kultischen Verhaltens gefuhrt" wird, die das "Wesen liturgischen Lebens" ist. 48 Dies ist fur Stählin eine verfehlte Anpassung an überlieferte Formen. Sein pädagogischer Ansatz geht von dem Verhältnis zum Heiligen aus, das in bestimmter geprägter, aber nicht in bestimmter überlieferter Form gestaltet werden soll. Kurzum: Bei Stählin gestaltet die Gemeinde den Kultus*9, bei Guardini bildet die Liturgie den Einzelnen und die Gemeinde. Stählins Konzept findet seinen Niederschlag in den frühen Berneuchener Versuchen, die von großer Experimentierfreude gekennzeichnet sind. 50 Nachweislich haben sich die Berneuchener auf ihrer zweiten Konferenz (13. - 15. 9. 1924) mit Guardinis Symbolbegriff auseinandergesetzt. 51 schehenen; Identität des realen Ereignisses." (A.a.O., S. 121.) Guardini hilft sich mit dem thomistischen Begriff des "Aeviternum" (S. 142-150) als der Weise, in der das Ewige dem Zeitliche koexistiere (als zeitliche Parallele zur Ubiquität, S. 147). Explizit wird der Begriff "aevitern" gegen den historistischen und idealistischen Glauben gesetzt (S. 147). Guardini setzt voraus, daß es eine kultisch-liturgische Realität "außer der historisch-konkreten und der psychologisch-vorgestellten" gibt (S. 127). Der Gedanke des Aeviternum verdiente auch in lutherischer Dogmatik bedacht zu werden, da er wie die Ubiquität die Konsequenz der Realpräsenz (letztlich der Inkarnation) darstellt. Nur muß dieser Gedanke an die versammelte Gemeinde (und nicht an den ordnungsgemäßen Vollzug des Priesters) gebunden sein, um den Primat der Verheißung gegenüber der Verfügbarkeit sicherzustellen. 48 R. GUARDINI, Liturgische Bildung, 1992 [1923], S. 24. 49 Guardini spricht durchgängig von "Liturgie" und "Liturgik", nicht vom "Kultus". Stählin und Guardini sind einander auch persönlich begegnet (Via Vitae, 1968, S. 213. 247. 390-392). Nach einem kritischen Brief Stählins (über die Weihe der Diözese Rottenburg an Maria) an Guardini riß der Kontakt ab (a.a.O., S. 392). Der Brief datiert vom 19. 1. 1944 (Best. Pers. XVIII Stählin, Nr. 108, Landeskirchliches Archiv Nürnberg). 50 Via Vitae, 1968, S. 359. 365 f. Die Entwicklung zur liturgischen Tradition hielt Stählin "für ein kirchengeschichtliches Unglück, weil vergangene Formen, Traditionen, die einmal abgebrochen sind, nicht künstlich wieder belebt werden können." (A.a.O., S. 366.) 51 Dazu s.o. S. 130 mit Anm. 276. Der so kritisch über Guardini referierende Ludwig Heitmann trennte sich 1945 von der Michaelsbruderschaft, weil er sie unter Stählin und Ritter auf dem Weg in die katholische Kirche sah (Hans Carl v. HAEBLER, Geschichte der evangelischen Michaelsbruderschaft, 1975, S. 70-72. 155-159; Via Vitae, 1968, S. 568-570). Heitmann hatte drei etwas weitschweifige Bücher über "Großstadt und Religion" (insgesamt über 950 Seiten) geschrieben, in denen u.a. auch Luther als inkonsequent kritisiert wurde: "Luther war und blieb Theologe, Pro-
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Über den in der Jugendbewegung zurückgelegten liturgischen Weg - u.a. mit Studien Guardinis - schreibt Stählin summarisch in Schicksal und Sinn der deutschen Jugend 1926 in dem Kapitel "Gemeinschaft". Man habe erst begreifen müssen, daß die Bemühung um den Kultus der äußerste "Gegenpol jenes strömenden Lebens der einzelnen Seele"52 ist. Dazu sei der Umweg über jene liturgischen Experimente nötig gewesen, in denen die Jugend zunächst versuchte, auch hier "den Ausdruck ihres eigenen und wechselnden Seelenlebens sprechen und tönen zu lassen."33 Erst danach bildete sich der Blick auf das Objektive heraus, das Studium der lutherischen und benediktinischen Liturgie, Romano Guardinis und der Christengemeinschafit. Im Jahr seines Wechsels vom Pfarramt ins akademische Lehramt bilanziert Stählin damit auch seinen eigenen bisherigen Weg mit der Liturgie als einen der Abkehr vom optimistischen Lebens- und Leibbegriff hin zur Leiblichkeit vor Gott: "Sicherlich aber haben alle, die diesen Weg in irgendeiner seiner besonderen Ausprägungen gegangen sind, das eine begriffen, daß Gemeinschaft unter Menschen da ihre letzte leibhafte Verwirklichung findet, wo Menschen in gemeinsamer leiblicher Haltung miteinander vor Gott stehen und sich mit Leib und Seele hineingeben in die feierliche Ordnung, die nichts anderes ausdrücken will als die Lage des Menschen vor Gott [...]."54 Erneut läßt sich hier der bereits vertraute Weg induktiver Theologie nachweisen: Der Wunsch nach Ausdrucksformen für individuelle und gemeinsame Leiblichkeit führt zur Liturgie, und gerade in diesem objektiven Geschehen wird enthüllt, was die letzte Verwirklichung von Gemeinschaft ist, eben das Stehen vor Gott. Und was der individuelle Mensch ist, geht erst aus dem Verzicht auf individuell-augenblicklichen Ausdruck, aus der Teilhabe an der Liturgie hervor. Damit ist das Wichtigste in Stählins liturgischem Denken benannt, und darüber hinaus wird sein theologischer Denkweg insgesamt sichtbar, der von "Leben" und "Leib" in der Jugendbewegung zum Leben des lebendigen Christusleibes55 und seiner Liturgie fuhrt. In klarer Abgrenzung wird hier nochmals der Katholizismus erwähnt: Verlockend an ihm sei "die Einbeziehung der gesamten Wirklichkeit in die religiöse Betrachtung" und die objektive Haltung in Dogma und Kultus56, insgesamt handele es sich aber um den gefährlichen Irrweg, den Kultus zu isolieren und "eine neue und
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fessor [...]. So ist Luthers religiöse Reform an vegetativer Unterernährung verkümmert. [...] Von ihrem herrlichen volkstümlichen Ansatz blieb bald nur die Kirche des 'Wortes' nach, [...]" (L. HEITMANN, Großstadt und Religion, 3. Teil, 1920, S. 6.) Schicksal und Sinn der deutschen Jugend, 1926, S. 78. Ebd. A.a.O., S. 79, Hervorhebungen dort. Zu dieser Formel s.o. S. 192. A.a.O., S. 138.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
heilige Welt in die unheilige Welt" hineinzubauen. 57 An diesem Punkt zeichnet sich Stählins letztes Buch zur Jugendbewegung durch größere Klarheit als bei anderen Themen aus. Im gleichen Jahr berichtet Stählin auch über den Stand der liturgischen Erfahrungen im BDJ. Bei den Gottesdiensten in den letzten 3-5 Jahren sei ein starkes "Verständnis für das Wesen eines liturgischen Aufbaues gewachsen", oft finde sich aber auch noch das Springen von einem Gedanken zum anderen 58 , problematisch sei das "Sprechen aller möglichen Gedichte durch jugendliche Sprecher und Sprecherinnen" 59 , welches aber eine notwendige stilistische Erfahrung sei. Aus Stählins eigener Praxis erhellt noch einmal der fundamentale Unterschied zum Liturgieverständnis Guardinis (und auch der späteren Berneuchener Ordnungen). Für Stählin hat sich das "Bedürfnis nach einem festen Rahmen" im Laufe der Gestaltung von 43 Jugendgottesdiensten in Nürnberg (im wesentlichen mit dem gleichen Vorbereitungskreis) von selbst, "mit zwingender Notwendigkeit", eingestellt. 60 Liturgiedidaktisch erwartet Stählin nicht die Bildung des Menschen durch die vorgegebene, objektive Liturgie, sondern umgekehrt die Reform von Liturgie und Kirche durch die Jugendarbeit: "Ich glaube freilich nicht, daß die einfache Übernahme überlieferter kirchlicher Ordnungen das letzte Ziel ist, glaube vielmehr zu sehen, daß aus den in jahrelangen eigenen Versuchen geschulten 'Älteren' die rechten Mitarbeiter für die dringend notwendige liturgische Reformarbeit innerhalb der Kirche selbst erwachsen." 61 Der Weg, in einer Gemeinde erst das festzustellen, was die Chöre können und dieses dann zu einer Ordnung zu erweitern, sei "grundverkehrt", vielmehr müßten langsam Ordnungen aufgebaut und die Chöre darauf verpflichtet werden. 62 Damit wählt Stählin den anspruchvollsten Weg, indem liturgi57 A.a.O., S. 150. 58 Verhältnis zu Christentum und Kirche, UB 1926, S. 61. Stählin nennt ein solches verfehltes Beispiel einer Abfolge: "Der Herr ist mein Hirte" - "Sich'res Deutschland, schläfst Du noch?" - "Dennoch bleibe ich stets bei Dir" - "Wir weihen Wehr und Waffen" usw., es folgt u.a. noch das Kyrie (ebd.). 59 Ebd. 6 0 A.a.O., S. 6 2 . Der Auskunft von Wolfgang T R I L L H A A S zufolge ließ Stählin den beteiligten Jugendlichen hier große Freiheit (Gespräch mit dem Verfasser am 29. 7. 1992). Vgl. dazu Jugend und Gemeinde, 1928, S. 142: "wir wissen zum Teil auch aus Erfahning, daß junge Menschen nur auf dem Umweg über diese [zuvor erwähnten] verfehlten Experimente zu einem eigenen Verständnis der überlieferten Form des Gottesdienstes sich durchringen konnten." 61 A.a.O., S. 62. 62 Ebd. Bereits hier wirbt Stählin eindringlich und ausführlich für den Choral des 16. und 17. Jahrhunderts und warnt: "Man kann wirklich nicht in einem Gottesdienst singen: 'Ich singe dir mit Herz und Mund' und 'Schlingt um ihn die Jüngerkette'."
4.5. Liturgie
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sehe Ordnungen aus der Praxis erwachsen sollen, jedoch weder auf historisierende noch auf zufällige Art und Weise. Im Vorjahr hatte Stählin dementsprechend die ihm vorbildlich erscheinende Ordnung eines Morgengottesdienstes abgedruckt und kommentiert. 63 In diesem Gottesdienst zum Erntedankfest 1924 unter dem Thema "Ihr seid reich in allen Dingen" manifestiert sich bereits deutlich der Weg zur späteren Agende I: Dem Introitus folgen Kyrie und Gloria, Verkündigungsteil mit dreimal zwei Lesungen ("irdische Dinge" - "geistige Dinge" - "letzte Dinge") und Ansprache 64 , ausgeprägter Gebetsteil (Stillgebet - Magnificat Sursum corda (!) - Präfation (!) - Sanctus (!) - Gratias), Morgensegen. Befremdlich erscheint aus heutiger Perspektive lediglich der Schlußteil, in dem liturgische Stücke aus der Abendmahlsliturgie stehen, ohne daß das Mahl folgt und in dem Fürbitte und Sendung fehlen (etwas überladen wirkt der lange Verkündigungsteil, an dem allerdings sechs Jugendliche beteiligt sind und in dem fünf Gemeinde- bzw. Chorlieder vorkommen). Von Stählins Ordnungen der Jugendgottesdienste ist leider keine erhalten, aber gerade diese Berliner Ordnung entspricht genau Stählins damaligen Vorstellungen, wie aus den notwendigen Experimenten eine sachgemäße Liturgie zu entstehen habe: Dieser Gottesdienst ist "in seinem Aufbau und seiner Gliederung so vorbildlich [...], daß ich gern diese Ordnung dem ganzen Bund mitteilen möchte. [...] Selten habe ich an einer Ordnung so sehr empfunden, wie weit diese Entwicklung gereift ist, wie an dieser Berliner Ordnung." 65 Man wird also davon ausgehen können, daß Stählins Jugendgottesdienste in den letzten Nürnberger Jahren sich von dieser Ordnung anregen ließen bzw. sich sogar daran anlehnten. Wesentlich vorsichtiger war Stählin (angemessenerweise, aufgrund des völlig anderen Umfelds) in seinen liturgischen Vorschlägen für Schulgottesdienste. diese sollten anfangs in der Form sehr einfach sein (in lockerem Anschluß an die Ordnung von Mette oder Vesper), aber immerhin Wechselgesänge nach Psalmtönen(l) enthalten; es sollen auch außerbiblische Lesungen vorkommen (z.B.: Auslegung des 1. Gebotes aus Luthers Großem Katechis(Ebd.) Damit deutet sich bereits die Entwicklung an, die auf breiter Front nach 1945 zum Evangelischen Kirchengesangbuch (EKG) führte. 63 Ein Gottesdienst, UB 1925, S. 82-85. Es handelte sich um einen Gottesdienst bei einer Landesverbandstagung des BDJ in der Marienkirche in Berlin unter Leitung von Pfarrer Lie. Dr. Curt Horn. 64 Es handelt sich folglich um eine Vorform dessen, was als "Variante Bl" in der Erneuerten Agende vorgeschlagen ist (Erneuerte Agende, 1990, S. 107-109). Die dort gegebenen "Hinweise für die Gestaltung in offener Form" - nichtbiblische Texte, "Gegentexte" - gehen über die gänzlich biblisch geprägte BDJ-Ordnung von 1924 weit hinaus. Dort fehlt hingegen das Glaubensbekenntnis. 65 Ein Gottesdienst, UB 1925, S. 82.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
mus oder Matthias Claudius, An meinen Sohn66), vor allem aber dürfe die Jugend nicht nur "angepredigt werden", sondern müsse "zur Mitarbeit herangezogen" werden. 67 Den Zusammenhang der drei Schlüsselkategorien Leben, Leib und Liturgie enthält in konzentrierter Weise das Berneuchener Buch 1926. Allerdings mangelt es gerade in dem Abschnitt "Der Kultus" 68 an Konkretion. Die Begriffsunklarheiten ("Symbol/Gleichnis", s.o. unter 4.2.2.) und der appellative Stil sind vorherrschend. 69 Weil hier die später von Stählin erarbeitete "Doppelsinnigkeit des Leibes" und der Begriff des "Mysteriums" als Einbruch der wandelnden Realität Christi in die Welt noch nicht zur Verfügung stehen, bleibt es bei einer im negativen Sinne "ganzheitlichen" Bemühung, Kultus und Alltag, Liturgie und Leben über die Leiblichkeit zusammenzudenken: Leib und Leben sind noch keine christologisch durchgebildeten Kategorien, so daß die Liturgie in den semantischen Sog jugendbewegter Körperkultur gerät: "Eine liturgische Bildung, die das ganze übrige Gebiet leibhafter Gestaltung in Haltung, Ernährung, Kleidung ungeheiligt läßt [...], ist eben nicht wirklich liturgische Bildung. [...] Darum stehen wir immer notwendig unter der Sorge, es möchten diese gottesdienstlichen Formen etwas fur sich sein wollen und dadurch gerade den Gleichnischarakter alles Lebens verdunkeln. [...] Es kommt eben überall, im Gottesdienst wie im täglichen Werk, darauf an, daß die Wahrheit in die irdische Wirklichkeit, also auch in die Sphäre der Leiblichkeit gestaltend hineinwirkt. Alles, was über liturgische Form im einzelnen und was über Leibhaftigkeit, Körperkultur und Lebensreform überhaupt zu sagen ist, ist nur eine weitere Ausführung dieser Linie." 70 Hier wird emphatisch mehrfach eingeschärft, daß "der evangelische Gottesdienst den Gleichnischarakter alles Lebens offenbart." 71 Trotz der Nähe zu Stählins Schriften durch die Verbindung der drei Schlüsselkategorien ist das 66 Vorschläge für Schulgottesdienste, 1924, S. 15. 67 A.a.O., S. 11. - Daß es bei Schulgottesdiensten um mehr geht als um interessante liturgische Versuche, vielmehr um die Wahrnehmung des komplexen personalen und institutionellen Lernensembles "Schule", zeigen Elsbe GoßMANN/Reinhard BÄCKER, Schul-Gottesdienst, 1992. 68 Das Berneuchener Buch, 1926, S. 104-116, im Teil 2,11, Evangelische Form, zwischen den Kapiteln "1. Das Gleichnis" und "3. Der Bau der Gemeinde". 69 Abneigung und Spott der "dialektischen Theologen" verwundern nicht, wenn Uber die Konsequenz des Gottesdienstes gesagt wird: "Damit wird der Gleichnischarakter des gesamten Lebens offensichtlich und das gesamte menschliche Leben zur Offenbarungsstätte Gottes geweiht." (A.a.O., S. 110.) 70 A.a.O., S. 110 f. Hier klingt deutlich Guardinis Schrift von 1923 an. 71 A.a.O., S. 112, Hervorhebung im Original.
4.5. Liturgie
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Berneuchener Buch nicht nur von Stählins späterer, ausgebildeter Theologie noch weit entfernt, sondern ebenso von dessen kleinen liturgischen Beiträgen jener Jahre, die sich zumindest teilweise durch Konkretheit und nüchterne Sprache auszeichnen, was aus den oben angeführten Zitaten deutlich hervorgegangen sein dürfte. Der für das Berneuchener Buch typische Soziolekt erscheint auch später bei Stählin nicht mehr. Nüchtern und kritisch fällt desgleichen Stählins Bericht über die erste liturgische Konferenz Niedersachsens (vom 27. - 31. 5. 1926 in Lübeck) aus. Darin bemängelt er, daß die Konferenz letztlich nur ein Gesprächsforum gewesen sei, während es angesichts der "chaotischen liturgischen Versuche" 72 um eine grundsätzliche theologische Durchdringung gehe. Stählin nennt demzufolge vier theologische Grundfragen, die seiner Auffassung nach entscheidend fur die gegenwärtige Liturgik seien. Diese Fragen bilden gewissermaßen einen ersten Endpunkt von Stählins liturgischen Überlegungen. Zum Zeitpunkt der Formulierung hat Stählin gerade sein erstes Semester als Professor in Münster hinter sich.73 Die Fragen lauten: "In welchem Sinn ist die evangelische Kirche die Kirche des Wortes? Welchen Sinn hat die leibhafte Haltung und die künstlerische Gestaltung? Was ist Symbol nach evangelischem Verständnis? Was bedeutet der erste Glaubensartikel für die Gestaltung des Gottesdienstes?" 74 Damit sind noch einmal die Fragen aus der Jugendbewegung (und aus Berneuchen) im Hinblick auf die Liturgie formuliert: Wie verhalten sich die Realitäten von Leben (Symbol, 1. Artikel) und Leib zu ihr? Bevor diese Fragen etwa 10 Jahre später in dem Konzept der vom Mysterium her gedachten Liturgie ihre Antwort finden, äußert sich Stählin zwischen 1928 und 1930 noch mehrfach grundsätzlich zur Liturgie. Dabei treten die Linien allmählich klarer hervor, bevor nach 1930 die Veröffentlichungen (und auch die Vorträge im Nachlaß) abreißen. Seine im Gegenüber zu Jugendbewegung, historisierender Belebung alter Formen und Katholizismus (Guardini) formulierten liturgischen Prinzipien bringt Stählin 1927/28 auf den Begriff als das Verhältnis von Pietät und Kritik in der Liturgik 75 Eine reine Pietät in der liturgischen Bewegung berge die Gefahr, 72 Bericht über die erste liturgische Konferenz Niedersachsens in Lübeck, MGKK 1926, S. 2 5 4 . Ausführlich zitiert wird Stählins Kritik von Jochen CORNELIUS-BUNDSCHUH, Liturgik zwischen Tradition und Erneuerung, 1991, S. 120 f., Anm. 86. 73 Der Bericht erschien in der Juli/August-Nummer der MGKK: 74 A.a.O., S. 254 f., Hervorhebungen von mir. 75 MGKK 1928, S. 7-9. Es handelt sich um Leitsätze eines am 12. 10. 1927 in Hannover gehaltenen Vortrages.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
"daß die Schönheit gottesdienstlicher Formen mit ihrer Zeugniskraft, ihr Alter mit dem Zusammenhang des Lebens, ihre Katholizität mit ihrer Christlichkeit verwechselt wird." 76 Richtig betont Stählin die Zeit-, Orts- und Gemeinschaftsgebundenheit von Formen. Liturgische Formen können nicht isoliert gepflegt werden "ohne Zusammenhang mit dem Gesamtgebiet der Lebensformen [...] Es gibt keine 'absoluten Symbole'." 77 Wegweisend ist hier Stählins (vom Lebensbegriff herstammender) Realitätssinn, mit dem er die Lebenswelt vieler Menschen zu berücksichtigen sucht. Für "große Kreise" sind "bestimmte außerkirchliche Lebensformen (Feier, Kreis, Sing-Gemeinde)" wichtiger als die kirchliche Liturgie. 78 Wie die "Pietät" (ein nicht eben glücklicher Ausdruck, gemeint ist das Geschichtsbewußtsein) nicht überzogen werden darf, so auch nicht die Kritik: das wäre Subjektivismus. Gut evangelisch wird der Maßstab nicht im Subjektiven (der von Stählin hinter sich gelassene Neuprotestantismus), aber auch nicht im Objektiven (die bildende Form im Katholizismus - Guardini) gesehen, sondern in der "objektiven Wahrhaftigkeit." Es geht um die "Frage, ob die einzelnen Formen der echte Ausdruck evangelischer Verkündung [sie] und evangelischen Glaubens sein können. Diese Frage ist in der deutschen Reformation nur negativ, aber nicht positiv gestellt worden [...]." 79 Stählin verläßt hiermit - nochmals sei betont: völlig sachgemäß - ein zwar nicht systematisch begründetes, aber doch faktisch bestehendes breites Fundament: die Rückführung liturgischer Entscheidungen auf Entscheidungen Luthers. Sachgemäß ist Stählins Axiomatik deswegen, weil evangelische Liturgik nach dem biblischen Evangelium und seiner Gestaltwerdung zu fragen hat; dieses Evangelium ist durch die Theologie Martin Luthers und der Reformation in besonderer Weise neu ans Licht getreten, was aber nicht die Orientierung an damals plausiblen liturgischen Gestaltungen impliziert. In ähnlicher Weise benennt Stählin in dem Marburger Vortrag "Die Bedeutung der Liturgie im evangelischen Gottesdienst" (20. 7. 1928) als entscheidendes Kriterium den "Zeugnischarakter der liturgischen Formen". 80 Das bedeutet eine dreifache Orientierung, nämlich 76 A.a.O., S. 8. 77 Ebd. Es hätte zur Präzisierung beigetragen, wenn Stählin den Symbolbegriff hauptsächlich - wie hier - im liturgischen Kontext verwendet hätte. Dazu s.o. S. 145 ff. 78 Ebd. 79 Ebd. Schon 1924 hatte Stählin ohne "Pietät" Luther kritisiert: "Was Luther von der Meßordnung übrig ließ, hat er unter dem zweckhaften Gesichtspunkt der religiösen Volkserziehung zusammengefaßt." (Evangelischer Kultus, 1924, S. 15.) 80 Die Bedeutung der Liturgie im evangelischen Gottesdienst, 1928, Leitsatz 6. Abgelehnt werden damit "Feierlichkeit", "Stimmungsechtheit" und "psychagogische Wirksamkeit".
4.5. Liturgie
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- "die Frage nach dem durch die Sache geforderten 'Ausdruck'" - "die Frage nach der Verständlichkeit" - "das Ernstnehmen alles dessen, was in dem Gottesdienst an Wort, Lied, Haltung oder sinnlichem Symbol geschieht." 81 Auch in diesem Text schlagen Stählins Erfahrungen aus der Jugendarbeit deutlich zu Buche: Neben der Orientierung am Evangelium von Jesus Christus (was zweifellos mit der "Sache" gemeint ist) bleiben die Orientierung an den Mitfeiernden ("Verständlichkeit") und an dem gemeinsamen Tun ("Haltung") wichtig. 82 Für den Druck in der "Zeitschrift für evangelische Kirchenmusik" hat Stählin den Vortrag erweitert und umgearbeitet. 83 Dabei widerspricht er der Einschätzung, daß Gottes Wort und die Antwort der Gemeinde auf verschiedene Elemente des Gottesdienstes aufzuteilen wären, als ob Gott in der Predigt rede, die Gemeinde in der Liturgie (am Anfang des Vortrags hat Stählin den engsten BegrifFsgebrauch, wenn auch bedauernd, eingeführt). Daraus resultiert das hermeneutische Axiom: "Der evangelische Gottesdienst als Ganzes ist menschliches Zeugnis von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Er ist immer und in allen seinen Teilen menschliches Handeln; er kann nicht als ein Handeln Gottes, ebensowenig als 'Verkehr der Gemeinde mit Gott' beschrieben werden." 84 Diese betont anthropologische Weise, die Liturgie zu deuten, mag durch den Hörerkreis ("freie Theologenschaft") bedingt sein, zeigt aber auch, daß Stählin hier noch von der Theologie des Mysteriums und der von daher "realistisch" gedeuteten Liturgie entfernt ist. Später hätte er dem Zitat gewiß hinzugefugt: Ebenso wie als Ganzes menschliches Handeln ist der evangelische Gottesdienst als Ganzes göttliches Handeln; "in, mit und unter" dem menschlichen Handeln gewinnt das Mysterium Gestalt, indem es die han81 A.a.O., Leitsatz 6. und 7. Wiederholt wird hier das Begriffspaar "Pietät und Kritik". 82 Dazu vgl. die drei von Christian GRETHLEIN, Abriß der Liturgik, 1991, S. 26-48 ausgeführten "systematischen Implikationen": Er nennt als konstitutiv die "Christusbezogenheit", die "Verständlichkeit und Gemeinschaftsdienlichkeit" sowie den "Lebensbezug christlichen Gottesdienstes". 83 Die Bedeutung der Liturgie im evangelischen Gottesdienst, ZEvKM 1929, S. 115122; dort steht als Untertitel: "nach einem vor der freien Theologenschaft in Berlin und Marburg gehaltenen Vortrag" (S. 115). 84 A.a.O., S. 117. Eine Abgrenzung gegen die Wort-Gottes-Theologie nimmt Stählin ebd. vor, indem er "den Gebrauch des Ausdrucks 'Wort' als Metapher für die göttliche Offenbarung" definiert. Es handelt sich um eine der wenigen Stellen, an denen nach der Dissertation (1913) der Metapher-Begriff wiederkehrt. Anders formuliert Stählin den gleichen Sachverhalt, indem er beide Seiten des Geschehens benennt in: Die Bedeutung der Singbewegung für den evangelischen Kirchengesang, 1928, S. 37: Im ganzen Gottesdienst redet Gott mit uns, ebenso ist der ganze Gottesdienst menschliches Zeugnis. FÜT die menschliche Aufgabe ist Zeugnis Stählin zufolge "der entscheidende Begriff' (ebd.).
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
delnden Menschen hineinzieht in die Wandlung der Welt, die sich vom Mysterium des Leibes Christi her in konzentrischen Kreisen vollzieht. Doch davon ist 1929 noch nichts zu lesen. Hingegen wird hier besonders der eschatologische Charakter allen Gottesdienstes herausgestellt: Dieser sei "wie unser ganzes christliches Leben etwas Vorläufiges" 85 , in der Kirche beschränke man sich aber weithin "auf die Pflege einer innerweltlichen Frömmigkeit" und überlasse die Verkündigung des Endes den Sekten. 86 Gerade hierin zeigt sich eine bei dem späteren Stählin deutlich schwächer ausgeprägte Linie, und die Kritik an der Theologie des Mysteriums wird gerade von hier geführt werden müssen: Zum göttlichen Geheimnis gehört auch das Geheimnis der Parusie Christi, zur Wandlung auch die letztgültige Erlösung des Leibes und die Überwindung dieses Äons (Rom 8,22-24). Der bereits (in bezug auf die Terminologie) zitierte Vortrag Die Bedeutung der Liturgie für das Amt und die Persönlichkeit des Pfarrers (19. 5. 1930) zeigt Stählin eindeutig auf dem Weg zum "sakramentalen Denken". Zwischen diesem und dem Marburger Vortrag hatte die wichtige 6. Βerneuchener Konferenz (1.-5. 10. 1928) u.a. mit dem Thema "Natur und Sakrament" 87 stattgefunden. Dazu paßt, daß Stählin nun betreffs der Haltung des Liturgen nicht nur Einordnung in die Kirche und Wahrhaftigkeit fordert, sondern auch "cm meditatives ('sakramentales') Empfinden und Weitergeben des Wortes" und "die Bereitschaft zu vollkommener Hingabe und Opferung, ohne die es kein kultisches Handeln gibt." 88 Dies soll auch auf Amt und Person des Pfarrers wirken: "Die Kraft der selbstlosen Liebe entzündet sich an der in der Liturgie gültigen Opferhaltung,"89 Damit deutet sich das Begriffspaar an, mit dem Stählin in seiner ausgebildeten Liturgik das Ineinander von Gottes- und Menschenhandeln bezeichnet: sacramentum und sacrificium, das Selbstopfer Christi und das Lobopfer der Menschen in der Feier des Sakraments. Gerade der Opferbegriff, der mit dem umstrittenen "Opfergang" in der Berneuchener "Deutschen Messe" 90 eng zusammenhängt, ist ein Spezifikum von Stählins Theologie und damit auch seiner Liturgik,
85 A.a.O., S. 120. 86 Ebd. Der eschatologische Charakter des Vaterunsers sei durch den formelhaften Gebrauch für die meisten kaum bewußt. - Stählin regt übrigens als Weg zu liturgischer Erneuerung an, "im Konfirmandenunterricht und vor allem in einem überall einzurichtenden kirchlichen Unterricht für Erwachsene" zum Verständnis der gebrauchten liturgischen Ordnungen anzuleiten (a.a.O., S. 122). 87 S. Hans Carl von HAEBLER, Geschichte der evangelischen Michaelsbruderschaft, 1975, S. 12 und Hans Eduard KELLNER, Das theologische Denken Wilhelm Stählins, 1991, S. 488-496: Paul Tillich hatte über "Natur und Sakrament" referiert. 88 Die Bedeutung der Liturgie für das Amt und die Persönlichkeit des Pfarrers, 1930, S. 165 f., Hervorhebungen dort. 89 A.a.O., S. 166, Hervorhebungen dort. 90 Die Ordnung der deutschen Messe, 1937, S. 16-24, dazu gehören Aufforderung, Gabenbereitung und Credo.
4.5. Liturgie
241
die sich nunmehr vor allem praktisch (im Rahmen der 1931 gegründeten Michaelsbruderschaft) weiter entwickelt. 91 Da für die Zeit nach 1930 keine Vorträge und Aufsätze zur Aufgabenbestimmung der Liturgie vorliegen, wenden wir uns nun der reifen Liturgik ab 1936/37 zu.
4.5.2.
Stählins Liturgik in ihrer ausgeformten Gestalt (ab 1936/37)
In der folgenden Darstellung ist hauptsächlich von der Liturgik-Vorlesung 1936/37 und dem Fragment der geplanten Liturgik von 1944 auszugehen. Die Gliederung erfolgt wiederum nach den für Stählin zentralen Kategorien: Leben und Opfer, Leib und Leib Christi, Mysterium. Zuvor sei daran erinnert, daß für Stählin die Lebensform Bruderschaft den entscheidenden persönlichen und sachlichen Hintergrund aller liturgischen Arbeit darstellt. In diesem Zusammenhang sind drei Hauptpunkte aus der Schrift "Bruderschaft" von 1940 wichtig: - in der Bruderschaft haben "alle theologischen Überlegungen den allerengsten Zusammenhang mit einer kultischen Lebensordnung und dem Dienst am Altare"; 92 - in der Bruderschaft wird "eine Schar von Männern in liturgischer Gewöhnung geschult und geübt"; 93 - in der Bruderschaft wird "das unauflösliche Ineinander des liturgischen und des diakonischen Dienstes" bedacht. 94 Im Leben der Bruderschaft ist das Mysterium Christi damit in zweifacher Weise "verleiblicht": in der kultischen Gestalt der Eucharistie und Liturgie und in der sozialen Gestalt der Diakonie aneinander und an anderen. 95 Dieser Zusammenhang darf bei der folgenden Konzentration auf die Liturgie nicht aus dem Blick verloren werden.
91 Einen selbstkritischen Rückblick zu der raschen liturgischen Entwicklung in der Michaelsbruderschaft gibt Stählin in einem Rundbrief an die Brüder der Konvente West und Süd am 14. 2. 1944 (aus Kohlgrub): "Ich glaube, daß gerade wiT Berneuchner [sie] hier Anlaß zu einer sehr ernsten Selbstprüfung haben. Denn es ist mit dem reichen Erbe der Väter genau so wie mit den herrlichen Domen. Man kann sich auch in dieser Hinsicht mit einem erborgten Festgewand schmücken, das man gar nicht wirklich zu tragen vermag. [...] Viele unserer Brüder, die der Entwicklung unserer liturgischen Arbeiten und Versuche nur zögernd oder widerstrebend gefolgt sind, waren hier gewiß von einer echten Sorge gelähmt, der Sorge, daß wir uns darin 'über-heben' [...]." (S. 2.) 92 Bruderschaft, 1940, S. 96. 93 A.a.O., S. 98. 94 A.a.O., S. 61, dort bezogen auf Wilhelm Löhe und Gerhard Uhlhorn. 95 In der Selbstdarstellung (Die Evangelische Michaelsbruderschaft, 1981) ist die Gliederung Leiturgia - Diakonia - Martyria - Koinonia gewählt.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Leben und Opfer Am Schluß der Nachzeichnung von Stählins theologischer Entwicklung im Hinblick auf die Schlüsselkategorie Leben hatten wir herausgestellt, wie schließlich das Ineinander von Schöpfung, Erlösung und Vollendung als Ineinander von ζωη und ζωη αιώνιος gedacht wird, welches sich im Geschehen der Liturgie verwirklicht. Das Verhältnis von geistlichem und natürlichem Leben bildet von daher die Grundlage auch für Stählins theoretische Liturgik. Durch das veränderte Verständnis von "Leben" und durch den Begriff des "Mysteriums" (als Einbruch des neuen Lebens in das natürliche Leben) hat sich nun auch für die Liturgik ein fundamentaler Perspektivenwechsel ergeben. Grundlegendes Axiom ist nicht mehr das "lebendige Leben", sondern das lebendige Leben des Christusleibes, vornehmlich im Sakrament. Liturgik und Praktische Theologie überhaupt werden nun nicht mehr hauptsächlich induktiv, vom Alltagsleben her, sondern auch (und z.T. hauptsächlich) deduktiv, von der Realität des Mysteriums her konstruiert. Nicht mehr das "lebendige Leben" steht gegen die existierende Kirche, sondern die im Kultus lebendige Kirche durchdringt die existierende Kirche. Stählins aus der Jugendbewegung aufgenommenen Kategorien werden nun völlig vom kultischen Denken "aufgesogen". Das in der Liturgie repräsentierte Mysterium ist der Hauptpunkt theologischen Interesses.Pointiert läßt sich formulieren: Der "Kultus" als reales, "lebendiges" Gegenüber des Menschen ist die für Stählin mögliche Form einer jugendbewegten Christologie. Damit werden Kirche und Liturgie biblisch s&chgemäR-christologisch begriffen; der Preis dafür ist aber eindeutig der Verlust von Lebensbezug (im Sinne des menschlichen Alltagslebens) in Stählins ausgeformter Liturgik. Die Blickrichtung hat sich geändert: es wird nicht mehr vom Alltagsleben her Theologie gedacht, sondern vom kultischen Leben her wird das natürliche Leben neu bestimmt. Leben ist nun vor allem das Leben des Christusleibes im Mysterium des Kultus: "Das göttliche Geheimnis ist der Lebensgrund und das Lebenselement der Kirche. Das gilt zunächst und vor allem von dem Gottesdienst im engsten und eigentlichen Sinn, von dem Kultus der Kirche. Der Kultus ist die eigentliche und eigentümliche Lebensform der Kirche. Alles andere, was die Kirche in der Welt tut, empfangt von diesem einen Punkt, von diesem heiligen Bezirk her sein Leben und seine Kraft; [...] in dem Kultus erneuert sich das Leben der Kirche aus seinem innersten Daseinsgrund. Sie atmet ein die Luft, in der sie allein leben kann, und läßt sich nähren mit der Speise, von der sie allein Leben und Kraft empfängt."96
96 Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 32 f.
4.5. Liturgie
243
Auffallig ist wiederum, wie die Kirche in Analogie zur menschlichen Leiblichkeit gedacht ist: Kultus und Sakrament sind Luft und Nahrung für den Leib Christi, der ohne diese die Lebendigkeit nicht erhalten kann. Die im Abschnitt 4.3.3. dargestellte Ekklesiologie hat ihren Brennpunkt in der Liturgie, weil dort die Christuswirklichkeit präsent ist. Seine Fragment gebliebene Liturgik beginnt Stählin darum ebenfalls mit der Ekklesiologie. Dabei soll aber "nicht die Kirche als ein Lehrstück der Dogmatik" 9 7 beschrieben werden. Das "Wesentliche über die Kirche" soll stattdessen "in der Bildersprache des Neuen Testamentes" aufgesucht werden. 98 Stählin führt hierzu das Bild vom Weinstock Joh 15 und das paulinische Bild vom Leib Christi ("der animalische Organismus anstatt des Pflanzlichen [sie]" 99 ) an. So stehen die "beiden organologischen Bilder" 100 an erster Stelle, weil es sich um "zwei Bilder aus dem Bereich des organischen Lebens (!)" 101 handelt. Daneben werden Haus, Braut Christi/Mutter 102 , Familie, Volk (und mit Einschränkungen die Rede von der β α σ ί λ ε ι α ) als bildhafte Beschreibungen von Kirche genannt. Stählin lehnt es ab, aus diesen Bildern eine Lehre von der Kirche abzuleiten, betont aber die Lebendigkeit, die er dann als Trias von μ α ρ τ υ ρ ί α , λειτ ο υ ρ γ ί α und δ ι α κ ο ν ί α beschreibt. Die Kirche darf nicht wesentlich historisch verstanden werden: "vielmehr ist in allem und jedem der Ursprung gegenwärtig, als das prineipium, das vor allem und in allem lebendig ist. Die 'Realpräsenz Christi' ist nicht nur das Geheimnis des Sakraments, sondern der ganzen Kirche in allen ihren Lebensäußerungen." 103 So wird die Kirche "durch den schöpferischen Odem Gottes immer neu ins Dasein gerufen und mit Leben erfüllt"; sie ist "ein lebendiges Geschehen; ein Ereignis mehr als ein Zustand", bei dem "ihr Lebenszusammenhang mit Christus" fundamental ist, denn "sie empfangt ihre Lebensgesetze nicht aus 97 Liturgik, 1944, S. 1. 98 Ebd. Stählin hat - wie bereits erwähnt - bis kurz vor seinem Tod das Buch über die Bildersprache fertigstellen wollen. Schon in seiner Arbeit: Auslegung sowie historische und theologische Würdigung von 1. Kor 15,1-20, 1907, S. 78 hatte Stählin geschrieben, Paulus nehme seine Metaphern besonders "aus dem Gebiete des physischen Lebensprocesses" und er hoffe, "diese These bald eingehend begründen zu können." 99 Liturgik, 1944, S. 4. 100 Ebd. 101 A.a.O., S. 3 (das Ausrufezeichen steht im Original). 102 Ausführlich geht Stählin (S. 6 f.) auf Gal 4,26 ein und nimmt die besonders in katholischer Auslegungstradition betonte Rede von der "Kirche als Mutter" auf. Wie Gal 4,31 belegt, ist dies durchaus im Sinne des Paulus, wenngleich das Thema in 4,21-31 eindeutig der νομος und nicht die Ekklesiologie ist. 103 A.a.O., S. 10.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
dieser Welt, sondern aus dem Leben Christi." 104 Leider ist das Fragment der Liturgik nicht wesentlich über diesen Grundsatzteil hinausgekommen (es folgen noch einfuhrende Bemerkungen zum dreifachen Amt der Kirche (wie μαρτυρία, λειτουργία und διακονία aufeinander angewiesen sind105). Die bevorzugte Stellung der Liturgie innerhalb des triadischen Amtes erhellt jedoch schon aus dem obigen Zitat. Die sakramentale Lebendigkeit des Christus ist die liturgische Realität, welche die vielgestaltige Lebendigkeit des Christusleibes integriert und gültig repräsentiert. Dem Plan zufolge sollte der Kultus danach als "repraesentatio Christi und als repraesentatio mundi" bestimmt werden; dann war die Verhältnisbestimmung von Ekklesiologie und Liturgie vorgesehen unter der Überschrift "Das Wesen der Kirche in seiner kultischen Verwirklichung". Ansatzweise sind diese Aspekte in der Vorlesung von 1936/37 bereits ausgeführt, nämlich "inwiefern der Wesensinhalt der Kirche im Kultus repräsentativ zur Darstellung kommt." 106 Stählin beantwortet die Frage dogmatisch, geschichtlich und vom Leib-Christi-Gedanken her. Dabei legt er dogmatisch besonderen Wert auf den Zusammenhang von 1. und 2. Glaubensartikel, was vor allem ein Ernstnehmen des kreatürlichen Lebens impliziert. "Die Kreatürlichkeit ist nicht wegzudenken von dem kultischen Geschehen." "Also Glaube nicht an den 'ganz anderen', sondern den, der eingegangen ist in unsere Erdenwelt, das 'incarnatus est' steht in der Mitte des Glaubensbekenntnisses." 107 Weil wir Menschen in die Natur eingebettet sind, sind auch "alle die kreatürlichen Momente, die im Kultus eine Rolle spielen, [...] Ausdruck dieses trinitarischen Glaubens." 108 Die der Theologie des Mysteriums zugrundeliegende Inkarnation, die in der Abendmahlsformel "in, mit und unter" besonders zum Ausdruck kommt, 104 A.a.O., S. 9 f. 105 A.a.O., S. 11-25. 106 Vorlesung Liturgik 1936/37, S. 9. 107 Ebd. Dort auch die Randnotiz: "(der Leib nicht nur ein Transportmittel, um die Seele unter die Kanzel zu bringen!)" 108 Ebd. - Bereits 1926 (also noch vor der Berneuchener Konferenz über "Natur und Sakrament" 1928) hatte Stählin die Kreatürlichkeit der Abendmahlselemente hervorgehoben: "Nur auf dem Grund, daß die Predigt Christi von dem tiefen Zusammenhang der kreatürlichen und der geistlichen Welt zeugt und das Geheimnis des Reiches an der Gleichnissprache naturhafter Wachstums- und Lebensvorgänge veranschaulicht, sind die verba testamenti zu verstehen." (Die Stellung der Elemente in der Abendmahlsliturgie, 1926, S. 63.) Dementsprechend forderte Stählin schon damals ein ausdrückliches Deutewort zu Brot und Wein, welches dann später in der Deutschen Messe steht (Ordnung der Deutschen Messe, 1937, S. 16-19, Gabenbereitung). Ebenso findet sich die Gabenbereitung in der Lima-Liturgie unter der Bezeichnung "Vorbereitung" (Frieder SCHULZ, Die Lima-Liturgie, 1983, S. 17 f.).
4.5. Liturgie
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ist damit für den Grundansatz von Stählins Liturgik bestimmend. 109 Demzufolge spricht er von "dem inneren Lebensvorgang des evangelischen Kultus" 110 und definiert diesen als reale Begegnung, als "eine Begegnung nämlich zwischen Gott und Menschen, zwischen Himmel und Welt." 111 Anders als in dem Vortrag "Die Bedeutung der Liturgie im evangelischen Gottesdienst" 1928 ist jetzt der Gottesdienst nicht mehr vornehmlich als menschliches Handeln verstanden, sondern als "Ereignis, Bewegung, Begegnung [...], in der Gott das primär handelnde Sujekt [sie] ist." 112 Der Mensch hält der Begegnung mit Gott stand, indem er sich einladen läßt, auf den Anruf Gottes antwortet und die für ihn bereiteten Gaben ißt. (Auch hier warnt Stählin vor dem Mißverständnis, Anruf und Antwort auf Predigt und "Liturgie" im Gottesdienst verteilt zu sehen.) Unter expliziter Berufung auf die Konzile von Ephesus und Chalcedon benennt Stählin darum das Inkarnatorische des gesamten Kultus: "So kann in dieser Begegnung zwischen Gott und Welt nun nicht mehr geschieden werden: Hier redet Gott, und hier redet der Mensch, sondern das Wort von Luther bezeichnet zwei Seiten einer und derselben Bewegung, das ineinander und widereinander Strömen eines lebendigen Vorgangs." 113 Alle Teile im Gottesdienst seien sowohl Verkündigung als auch Antwort des Menschen, wenngleich in der Predigt das Gotteswort, im Bekenntnis die Antwort 114 den Schwerpunkt bilde, während es in den Gebeten um die Hinwendung zu Gott gehe. Dieser Begegnung entspricht auf der Seite des Menschen wiederum eine doppelte Bewegung: "Die Doppelheit, die wir in unse109 Dazu vgl. die kritische Frage von Karl Ferdinand MÜLLER, Die Neuordnung des Gottesdienstes in Theologie und Kirche, 1952, S. 224 f., ob bei Stählin nicht das Inkarnatorische zur Verwechslung von Form und Sache in der Liturgie führen könne (s.o. S. 43). 110 Vorlesung Liturgik 1936/37, S. 24, Hervorhebung dort. 111 Ebd., hier noch einmal polemisch gegen die Rede von Gott als dem "ganz anderen": "Dann hat der Gottesdienst den Sinn, daß hier auf Erden geredet wird von dem, was nicht hier ist." 112 Ebd. 113 A.a.O., S. 25. Gemeint ist das vielzitierte Wort Luthers bei der Einweihung der Torgauer Schloßkirche am 5. 10. 1544 (WA 49, S. 588), in diesem Haus solle nichts anderes geschehen, "dann daß unser lieber Herr selbs mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederumb mit jm reden durch Gebet und Lobgesang." (Zit. nach Hans-Christoph SCHMIDT-LAUBER, Die Zukunft des Gottesdienstes, 1990, S. 364, wo eine "erstaunliche Konvergenz" von Luthers Liturgik und der Liturgiekonstitution des Vaticanum II festgestellt wird.) Stählin zitiert die Torgauer Schloßpredigt häufig - und zwar immer ohne Jahres- und Quellenangabe. 114 A.a.O., S. 26. In bezug auf das Bekenntnis bei der Konfirmation habe ich das Gegenüber von Wort und Antwort als Verstehensgrundlage genutzt: M . M E Y E R BLANCK, Wort und Antwort, 1992, bes. S. 253-261.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
rem Atem erleben [...] als der lebendige Wechsel von Empfangen und Nehmen" sind für den Menschen auch unauflöslich verflochten "in dem lebendigen Geschehen des Kultus." 115 An dieser Stelle fuhrt Stählin nun den fur ihn so wichtigen Gedanken des Opfers ein, des offertoriums als Ausdruck dieser doppelten Lebensbewegung von Empfangen und Geben. Die Stellung des Menschen im Gottesdienst als eines Empfangenden dürfe - in Folge der historisch bedingten Kampfstellung in der Reformation - nicht verabsolutiert werden: "Darüber darf nicht die andere Seite vergessen werden, daß der empfangende Mensch zugleich der opfernde Mensch ist. Frage, ob die reformatorische Bekämpfung und Ausrottung des Offertoriums nicht einen wesentlichen Teil, eine wesentliche Seite des Kultus verdunkelt hat. Es geht nicht darum, ob es in der Messe ein Offertorium geben darf, sondern darum, ob die Haltung des Opfernden aus dem christlichen Kultus ganz ausgemerzt werden darf. Hier ist mit großem Nachdruck zu sagen, daß der Mensch nie anders als ein Opfernder im Kultus stehen kann. [...] das eigentliche christliche Opfer ist die Selbstdarbringung, die 'oblatio sui' [...]." 116 Typisch für Stählins Weg zu diesen Aussagen ist die an dieser Stelle gegebene doppelte Begründung. Für das Ineinander von Geben und Empfangen im Kultus spreche zum einen die leibliche Geste der ausgebreiteten Hände, in der das Nehmen und sich-selbst-Gott-Opfern dargestellt sei (auch hier verweist Stählin erneut auf seine Lieblingszeile "Dir uns lassen ganz und gar", EKG 109). Zweitens ist "das sakramentale und das sakrifizielle Moment des Kultus [...] als das lebendige Hin und Wieder eines strömenden Lebens" anzusehen. 117 "Leib" und "Leben" haben als grundlegende Denkkategorien eine folgenreiche liturgische Konsequenz. Daran ist vorläufig positiv zu werten, daß nicht einzelne liturgische Stücke als Offertorium gefordert bzw. bewertet werden (wie die Orientierung am Meßopfer und an dem konkreten Moment der Wandlung in der mittelalterlichen Tradition es nahelegen), sondern das Sakrifizielle des Kultus überhaupt bedacht wird. Andererseits liegt in diesem Punkt gerade die Gefahr der Vermischung von Anthropologie und Soteriologie (schärfer: von Werk und Glaube) nahe, wenn es heißt:
115 Vorlesung Liturgik 1936/37, S. 26. 116 A.a.O., S. 26 f. 117 A.a.O., S. 27.
4.5. Liturgie
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"Ohne diese Opferstellung empfängt der Mensch nichts. Nur der, der sich selbst Gott darbringt im Kultus, [...] nur dem werden die leeren Hände gefüllt und er geht beschenkt nach Haus." 118 Als pädagogischer, liturgiedidaktischer mag dieser Satz vertretbar sein, im Kontext der massiven theologischen Termini jedoch droht die reformatorische Grundeinsicht in der Tat verloren zu gehen. Andererseits kann Stählin an gleicher Stelle wieder ganz sachgemäß vom solus Christus her argumentieren: "Wir lassen uns hineinnehmen in das sacrificium Christi: Gott opfert uns durch Christus, Christus bringt uns mit sich selbst Gott zum Opfer dar. Es ist sacrificium und sacramentum zugleich." 119 Durch das Subjektsein Christi in dieser Vorstellung ist ein Synergismus ausgeschlossen, insofern nicht an einen soteriologischen Zusammenhang gedacht wird, sondern von der Theologie des Mysteriums her an die kultische Realität des Heilsgeschehens, die den Menschen in die Versöhnung hineinzieht. Kurzum: Ohne Opferterminologie ließe sich statt "Christus bringt uns mit sich selbst Gott zum Opfer dar" auch formulieren: Das Geschehen der Rechtfertigung wirkt sich aus in der Heiligung des daran Anteil nehmenden Menschen. Damit ist liturgisch ausgedrückt, was in der Schrift "Vom göttlichen Geheimnis" dogmatisch als Kritik an der nur forensisch verstandenen Rechtfertigungslehre vorgebracht ist.120 Hieraus wie aus der einleitend zitierten Briefstelle an J. Casper 1940 geht hervor, daß Stählin die Liturgie in Analogie zu Lebensvorgängen und Phänomenen der Leiblichkeit als Ineinander von Gottes- und Menschenhandeln begreift und von daher zur Notwendigkeit des Opfers auch in bezug auf den Menschen gelangt. Man wird Stählin so verstehen müssen, daß sich die Inkarnation Christi auswirkt als ein kultisches Miteinander von Gottes- und Menschenhandeln, indem sich das
118 Ebd. 119 Ebd. 120 Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 67. In der systematischen Einleitung der Vorlesung heißt es: "Beides gehört zusammen, Inkarnation und Opfertod und Auferstehung: Weihnachten und Ostern und Karfreitag. Darum kann jeder christliche Gottesdienst immer nur eine Vergegenwärtigung des Opferhandelns Christi und des auferstandenen Herrn sein." (Vorlesung Liturgik 1936/37, S. 10, unter "Kultus als Ausdruck des Glaubensinhaltes der Kirche".) Bereits im Gottesjahr 1934 unter dem Thema "Ich glaube an Jesus Christus" zieht Stählin die Opferterminologie ausgiebig heran. In den Wirren der Gegenwart entdeckten viele das Kreuz neu, sie "finden sich als Brüder und Schwestern an den Altären, an denen das Brot des Lebens gebrochen und der Trank des Opferblutes gespendet wird." (Das Gottesjahr 1934, S. 29; eine Formulierung nahe an der Transsubstantiation!) Ebenso (S. 78) ist die Rede von der Versöhnung durch das "Opferblut der Liebe" und von den joh Ich-bin-Worten als "die Flamme seines Opfers" (S. 59, zum Licht) und als "Leben der Erde als ein Opfer" (S. 60, zum Brot).
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Opfer Christi "inkarniert" in das sacrificium des M e n s c h e n . S o t e r i o l o g i s c h e Qualität hat nur das Opfer Christi, aber die σ ω τ ή ρ ι α ist im sacrificium d e s M e n s c h e n realisiert. Insgesamt findet sich bei Stählin ein dreifacher Sprachgebrauch d e s Opferbegriffs: D a m i t ist das Opfer Christi als das H e i l s g e s c h e h e n gemeint, ferner das kultische Ineinander v o n sacrificium Christi/hominis und schließlich n o c h die menschliche Haltung der Opferbereitschaft, w e l c h e mit der soteriol o g i s c h e n und kultischen mehr oder weniger stark zusammenhängt. 1 2 1 D i e D i s k u s s i o n um den liturgischen Opferbegriff w u r d e bald heftig g e fuhrt. 1937 hatte Stählin das Gebet als eine "Opferhandlung" beschrieben: "Es ist darum ein Opfergang, weil wir im Gebet uns nicht nur in Gedanken v o n der Welt ab- und Gott zuwenden, sondern wirklich uns selber Gott z u m Opfer bringen." 1 2 2
1211m letzten Sinne heißt es bereits in der Fredigt "Die Geburt Gottes in der Seele": "Fruchtbar sein heißt immer tragen und opfern." (Advent, 1925, S. 19, über Lk 2,19 am 26. 12. 1920). Über Jesus sagt Stählin am Reminiszere 1922: "es gibt nur einen Priester, das ist der, der sich selbst als Opfer gibt. Priester und Opfer, die müssen eines sein." (A.a.O., S. 31, über Hebr 2,10-18; vgl. a.a.O., S. 43, über Judas.) Vom "heldenhaften Leben des Kampfes und des Opfers" für Deutschlands Zukunft konnte Stählin auch gänzlich untheologisch sprechen (Die völkische Bewegung und unsere Verantwortung, 1924, S. 5), während im Berneuchener Buch, 1926, S. 151-153 die "Kraft der opferwilligen Liebe" in der Ehe durch die Gliedschaft am Leib Christi ermöglicht gesehen wird. - Daß Stählin um das Problematische des von Christus und Kultus gelösten Opferbegriffes gewußt haben muß, zeigt sein Brief an Wilhelm Stapel vom 24. 11. 1931 über den "Fall Dehn": Nach Stählin ging es in der Polemik gegen Dehn vor allem "um die Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Opfers", die dessen pazifistische Äußerungen mißachtet hätten. Stählin selbst weist die Gleichsetzung von Opfertod im Krieg und Opfer Christi explizit zurück (in einer ansonsten ausgesprochen vaterländischen Predigt, die u.a. Walter Flex und den Mythos "Langemarck" rühmt): Volkstrauertag, 1932, S. 13. Religionspädagogisch votiert Stählin allerdings dafür, vom "Symbol der Toten von Langemarck" her "darüber zu sprechen, warum das innerste Mysterium des christlichen Glaubens von einem Opfertod [...] redet." (Christlicher Religionsunterricht im nationalen Staat, 1933, S. 40; ebd. heißt es, bei allen drei Glaubensartikeln gehe es um eine "Theologie des Blutes"). In einer Predigt über 1. Petrus 2,1-10 am 18. 6. 1933 über die Erneuerung der Kirche wird über die Kraft des Opfers in der Liturgie gesprochen: "Nach solchen Opfern verlangt die Welt; nicht nur nach heldischem Einsatz, heldenhafter Hingabe des Lebens." (Von der Erneuerung der Kirche, 1934, S. 23. Aufgrund von V 5 hat der Opferbegriff in der Predigt zentrale Bedeutung.) Dieser bei weitem nicht vollständige Überblick belegt, daß Stählin in der genannten dreifachen Weise vom "Opfer" spricht, wobei das Opfer fürs Vaterland nicht nur eine Nebenrolle spielt. 122 Das Gebet der Kirche, 1937, S. 11. Ebenso in Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 72: "[...] darum ist jedes echte Gebet ein Opfergang, [...]." Ferner: Die ausgesonderten Tage, 1959, S. 45: "Gebet als Opfer" als Vortragsthema auf einer Freizeit.
4.5. Liturgie
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Zur Auseinandersetzung kommt es aber erst, als Gerhard Kunze den "Opfergang" in der Ordnung der deutschen Messe massiv angreift. Nach der Ordnung 123 soll die Gemeinde "Gaben" (u.a. die Kollekte zum Altar) bringen und dabei den Altar umschreiten; nach Betrachtungen zu Brot und Wein, u.a. nach Joh 6,35 und 15,5 folgt ein zweiteiliges Opfergebet, in dem es u.a. heißt: "Nimm an das Opfer unseres Dankes: Nimm, was wir haben und sind/Wir bringen Dir dar unseren Leib und unsere Seele/und alle Kräfte unseres Gemütes." 124 Es folgt ein de tempore wechselnder Teil des Opfergebetes (wofür im Anhang 26 Gebete formuliert sind)125, darauf Credo, Sursum corda, Sanctus, Verba testamenti, Anamnese, Epiklese, Vaterunser, Mahl, Dank. 126 In Gerhard Kunzes Kritik an der Berneuchener deutschen Messe 127 steht der Opfergang im Zentrum: "Bibelstellen, älteste liturgische Stücke und merkwürdig pädagogische Expektorationen allerneuester Provenienz stehen traulich beieinander." 128 Die Worte über Brot und Wein (u.a. das Brot als "für uns geopfertes Leben") erklärt Kunze aus "analogischem Konstruktivismus" 129 und damit fur eine reflektierte Spätform von Liturgie, die "autochthon Berneuchener Stücke[n]" sind "indiskutabel". 130 In liturgiehistorischer Einzelanalyse sucht Kunze nachzuweisen, daß die Berufung der Ordnung auf die alte Kirche unberechtigt ist (so sei die Darbringung der Gaben in der alten Kirche schlicht die Darbringung von Brot und Wein für die Eucharistie, der Dank für Brot und Wein in Anlehnung an die Didache sei dort auf das Sättigungsmahl, nicht auf die Eucharistie bezogen) und gelangt zu dem Fazit, nach den "liturgiegeschichtlichen Fehlleistungen" sei der Opfergang "weder liturgisch noch theologisch zu halten." 131 Kunze faßt seine Kritik so zusammen: "Die Sache 'Opfer' aber ist an sich eben doch zu belastet mit außer- und unterchristlichen Vorstellungen, als daß es gelingen 123 Die Ordnung der deutschen Messe, 1937, S. 16-19. 124 A.a.O., S. 18 f. 125 A.a.O., S. 66 f., Thema ist durchgängig die Heiligung durch die Anteilnahme am Mahl. In 9 Gebeten ist dabei der Opfergedanke - meistens im Sinne des menschlichen Opfers - leitend (z.B. "So nimm in Gnaden auf das Opfer unseres Willens", für die Fastenzeit). 126 A.a.O., S. 19-38. 127 Gerhard KUNZE, Gespräch mit Berneuchen, 1938, S. 23-30. Der Titel ist insofern irreführend, als sich die ganze Schrift (von 50 Seiten) nur mit der Ordnung der deutschen Messe auseinandersetzt. 128 A.a.O., S. 23. 129 A.a.O., S. 24. 130 A.a.O., S. 25. 131 A.a.O., S. 29.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
könnte, sie auf irgendeinen, bestimmt gewählten und umschriebenen Sinn zu beschränken." 132 Die Unklarheit liege auch in der Terminologie. Alles, was im christlichen Gottesdienst Opfer heißen könnte, gehe in der Ordnung durcheinander. Das Opfer könne geschichtlich das Gebet, das ganze christliche Leben, das Bekenntnis der Lippen, die Darbringung der Elemente, der Vollzug der eucharistischen Handlung oder der Weihrauch sein, wobei die beiden letzteren Verständnisse immer mehr die Oberhand gewonnen hätten. 133 Kunzes Analyse erweist sich historisch-philologisch als äußerst gelehrt, trifft aber die Ordnung dennoch nicht. Es geht klar aus ihr hervor, daß nicht Gaben oder gar Christus von den beteiligten Menschen geopfert werden. Das Schwanken des Begriffsgebrauchs liegt im Rahmen der bei Stählin anzutreffenden deutlichen Unterscheidbarkeit von sacrificium Christi und des Menschen (da Gebet, Bekenntnis, ganzes Leben als Gestalten der Antwort nicht qualitativ verschieden sind). Die Bedeutung des Opfers im Sinne der eucharistischen Handlung oder gar des Weihrauchs kommt nicht vor. Die Berufung auf die alte Kirche ist fur die Ordnung nicht zentral. Ein ähnliches Urteil muß über Kunzes Kritik an der Anamnese 134 gefällt werden: Er weist zwar eine wörtliche Übereinstimmung mit der römischen Messe nach, zugleich jedoch, daß die eigentliche Opfervorstellung ("offerimus") ersetzt wird durch "verkündigen wir" 135 und räumt ein, daß "eine wirkliche Vertiefung der Communio" vorliege. 136 Stählin bekräftigt in seiner Antwort an Kunze zweierlei zum Opfergang. Zunächst gehe es darum herauszustellen, daß die Gaben nicht "unser Geschenk an Gott, ein von uns gebrachtes 'Opfer', vielmehr Gottes Gaben sind." 137 Dann sei "die fromme Besinnung" zu diesen "sichtbaren Zeichen" selbst wichtig. 138 Stählin geht es letztlich "um das trinitarische Verständnis der Schöpfungswelt." 139 Die gegenwärtige Gefahr sei gerade eine Isolierung des 2. Glaubensartikels. Darüber hinaus dürfe der Opfer-Begriff nicht aus dem Kultus verbannt werden - der ganze Hebräerbrief, Eph 5,2 und Rom 132 Ebd. 133 A.a.O., S. 29 f. 134 A.a.O., S. 30-33. 135 A.a.O., S. 31 f. 136 A.a.O., S. 33. Die ausführliche Kritik an der Epiklese (S. 33-43) gipfelt in dem Vorwurf, hier sei die Christologie zugunsten der "Pneumatologie östlicher Provenienz" preisgegeben (S. 38), die Konsekration geschehe hier durch die Epiklese, nicht durch die Einsetzungsworte (S. 41). Aus heutiger Sicht wird man auch in dieser Kritik "das Erbe einer spätmittelalterlich-westlichen Fixierung der Blickrichtung auf die Elemente und die Wandlung" sehen müssen (Hans-Christoph SCHMIDTLAUBER, Die Zukunft des Gottesdienstes, 1990, S. 69). 137 Berneuchen antwortet, 1930, S. 21. 138 Ebd. 139 A.a.O., S. 22.
4.5. Liturgie
251
12,1 stünden g e g e n die zeitbedingte Polemik Luthers ab 1520. D a s Schriftprinzip impliziere auch die Sorge, daß nichts "aus der Fülle der heiligen Schrift g a n z verloren g e h e n möchte." 1 4 0 Ohne die Einzelauslegung der Ordnung und der umfang- und historisch detailreichen Schriften K u n z e s und Stählins weiterzutreiben, kann in b e z u g auf Stählins liturgische K o n z e p t i o n f e s t g e s t e l l t werden: Seine Orientierung am Lebens-Begriff fuhrt in z w e i f a cher W e i s e zur Begründung des Opferganges. Zum einen ist e s das in Anal o g i e z u m L e b e n verstandene Ineinander v o n G o t t e s - und Menschenhandeln, z u m anderen die Einbeziehung des Schöpferglaubens in die Eucharistie. 1 4 1 D a n e b e n steht Stählins Prinzip "Fülle der Heiligen Schrift" g e g e n K u n z e s "Klarheit der liturgiehistorischen Herkunft." D i e komplementäre Betrachtungsweise, v o m Opferbegriff d e s G o t t e s dienstes her V o r g ä n g e im Alltagsleben zu deuten, läßt sich bei Stählin ebenfalls finden. D e r politisch w i e t h e o l o g i s c h (Kriegspredigten im 1. Weltkrieg) viel gebrauchte B e g r i f f des Opfers erscheint j e d o c h bei ihm äußerst z w i e spältig: R u f t er zum Lebensopfer für das Vaterland auf oder z u m Widerstand g e g e n den Nationalsozialismus? B e i d e s läßt sich aus seinen A u f s ä t z e n herauslesen. 1 4 2 Schließlich kann Stählin auch v o n dem "Opfercharakter d e s
140 A.a.O., S. 27. 141 Dieses Anliegen vertritt Stählin bereits im Gottesjahr 1924, S. 129, wenn dort das Brot als "heiliges Leben, das für uns geopfert ist" bezogen ist auf Gott, der sich für uns opfert. A.a.O., S. 112 stellt Stählin schon fest (zu Joh 14,6): "darum gibt es keine andere Feier des Sakraments, als daß wir selber von Christus verwandelt werden und uns selber opfern als einen Weg, den Gott beschreiten will." Nur stand damals der Begriff Mysterium noch nicht zur Verfügung, der dieses Geschehen zur Mitte des Liturgieverständnisses und der Theologie insgesamt machen sollte. Ähnlich wie im Gespräch mit Kunze heißt es in Vom Begehen der Passion, 1938, S. 10, das Heilige Mahl sei "ein reales Geschehen, bei dem wir hineingezogen werden in das Opferhandeln Christi, mit Christus geopfert werden und also wirklich den Weg der Passion als den Weg unseres Heiles begehen." Als charakteristisches Merkmal für Stählins ausgebildete Theologie muß insbesondere die Formulierung "hineingezogen werden" betrachtet werden. 142 "Daß es uns nur selbst nicht fehle an der Bereitschaft zum wirklichen Opfer, wenn der letzte Einsatz von uns gefordert wird! Daß es nur uns selber nicht fehle an dem 'blutigen Ernst' auf dem Kampfplatz, auf den wir gestellt sind! Resistez!" (Zum Heldengedenktag, EvJ 1938/39, S. 56.) In dem Straßburger Vortrag: Das christliche Opfer in Gottesdienst und Leben ([1943], Best. XVIII Personen Stählin, Nr. 90, Landeskirchliches Archiv Nürnberg) heißt es zwar, nicht jeder Getötete habe sich geopfert. "Aber wieviel wirkliches Lebensopfer, wirkliche lautere Hingabe um der Brüder willen ist in diesem unermeßlichen Sterben enthalten! [...] Hier ist die Ebene, auf der wir zu realem Opfer aufgerufen sind. Es ist eine wahrhaft tödliche Gefahr, wenn wir hier versagen, während wir uns unserer neuen theologischen und liturgischen Erkenntnisse rühmen." (S. 7) In Symbolen 1, 1958, S. 352 ist der Gedanke rückblickend auf den Krieg im wesentlichen unverändert. Hier heißt es zu Röm 12,1 wiederum: "Das kultische Opfer als die Vergegenwärtigung des Opferto-
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
geistlichen Amtes" sprechen und die Handauflegung bei der Ordination als "Opferung" (dedicatio ad Deum) deuten. 143 Hingegen lehnt er es ab, Naturvorgänge mit der Bezeichnung "Opfer" zu belegen, weil dort "von freiwilligem Verzicht und von liebender Selbsthingabe nicht die Rede sein kann." 144 Blickt man aus heutiger Perspektive auf Stählins vom Offertorium her konzipierte Liturgik und auf die gegenseitige Durchdringung der Kategorien Opfer und Leben zurück, so wird man zunächst mit Karl Ferdinand Müller feststellen dürfen, daß das Sakrament in der Tat auch eine Gott zugewandte Seite hat: Wir bringen dar, was wir empfangen haben. Diese "Bewegung des Menschen, die nur insofern eine Eigenbewegung ist, wie sie von Gott verursacht wird, ist das evangelische Verständnis des offere." 145 Es handelt sich um ein Zurückbringen des Empfangenen ("gratiam referre"). An keiner Stelle ist bei Stählin die reformatorische Erkenntnis der alleinigen Heilswirksamkeit des Opfers Christi gefährdet. Daß der christliche Gottesdienst aber nur vom Opfer Christi her zu verstehen ist, hat 1951 Wilhelm Hahn gezeigt. Die Frage nach der Bedeutung des Gottesdienstes für das Leben der Gemeinde führte ihn exegetisch dazu, das Verhältnis von Gottesdienst und Opfer Christi als liturgisches "Zentralproblem" anzusehen. 146 Für das Verständnis von "Leib Christi" sei entscheidend "der geschichtliche Kreuzesleib Christi, der auf Golgatha geopfert am dritten Tage wieder aufersteht." 147 Der urchristliche Gottesdienst sei zwar kritisch gegenüber jedem irdischen Kultus, aber gleichzeitig "dem himmlischen absoluten Kultus zugewandt." 148 Im Neuen Testament werde nicht der alttestamentliche Kultus abgelöst, vielmehr werde "Gottes Opfer und Gottes Kult, den er selbst in seinem Sohn veranstaltet, zur Achse der Welt." 149 Insofern stehe eben doch das Opfer im Mittelpunkt des christlichen Gottesdienstes, aber des Christi will uns hineinziehen in eine Gesamtgestalt des Lebensopfers, die bis zum leiblichen Tod zum Opfer bereit und willig ist." 143 Die Zurüstung zum geistlichen Amt als Lebensaufgabe der Kirche, 1963 [1962], S. 210.
144Über die Natur, 1973 [1958/59], S. 135.
145 K.F. MÜLLER, Die Neuordnung des Gottesdienstes in Theologie und Kirche, 1952, S. 243.
146 W. HAHN, Gottesdienst und Opfer Christi, 1951, S. 9 (Vorwort). Bei seiner großen Studie 1952 hatte K.F. Müller das wichtige Werk von Hahn noch nicht vorgelegen. 147 W. HAHN, a.a.O., S. 73. Dieser Einschätzung stimmt auch zu Peter BRUNNER, Zur Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde, 1993 [1954], S. 148 f., Anm. 81. - Explizit stimmt Hahn (unter Verweis auf das Buch von 1936) Stählin zu, daß "im christlichen Gottesdienst überhaupt ein Mysterium enthalten ist." (S. 110, Hervorhebung dort; vgl. S. 137.) - 1952 wurde Hahn zunächst als Nachfolger Stählins zum Oldenburger Bischof gewählt, trat aber wegen des Streits, der auch schon zu Stählins Rücktritt geführt hatte, das Amt nicht an (Via Vitae, 1 9 6 8 , S. 6 8 5 f.). 148 W . HAHN, a . a . O . , S. 1 3 1 .
149 A.a.O., S. 132.
4.5. Liturgie
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nicht das von Menschen dargebrachte, sondern das von Gott selbst vollzogene Versöhnungsopfer. Priester ist Christus allein. Ähnlich wie Stählin kann Hahn schließlich - aus exegetischer Sicht - formulieren: "Der christliche Gottesdienst selbst ist Sakrament. Er ist es auch, wenn weder Taufe noch Abendmahl in ihm gefeiert werden. [...] Diese Gegenwart Christi geschieht 'in, mit und unter' dem Zeichen der sich sammelnden Gemeinde [
] "150
Stählins Betonung des Opfers im Kultus kann vor diesen Ergebnissen durchaus bestehen, wenn bei ihm der Ton auch anders als bei Hahn auf dem Ineinander des sacrificium Christi et hominis liegt. An keiner Stelle jedoch wird die alleinige soteriologische Qualität des einmaligen Christusopfers in Frage gestellt. 151 Zudem ist in der neueren Diskussion klar geworden, daß das Verhältnis von Opfer Christi und Opfer der Kirche in der Tat auf irgendeine Weise bestimmt werden muß und nicht einfach in konfessioneller Polemik das Opfer Christi gegen das Meßopfer gesetzt werden kann. Hier haben die ökumenischen Gespräche weitergeführt. 152 1983 ist zwischen römisch-katholischen und evangelischen Theologen eine gemeinsame Formulierung entstanden, die ganz auf der Linie Stählins liegt: "Unser Opfer als Glieder seines hingegebenen Leibes ist die Selbsthingabe mit Jesus Christus an den Vater." 153 So läßt sich die reformatorische Ablehnung des sacrificium hominis ebenso wie die römisch-katholische Isolierung des Opfermotivs (aus der insgesamt als anamnetisch zu verstehenden Eucharistie) gleichermaßen als "nominalistische Trennung von Sakrament als Zeichen und Heilshandeln Gottes" erklä-
150 A.a.O., S. 137 f. 151 Überscharf ist die Kritik Hahns, a.a.O., S. 132 f., Anm. 1 an K.B. Ritters Formulierung, daß bei Paulus der Kultus "eine reale Kommunikation mit den Mächten und Kräften der himmlischen Welt herstellt." Wie bei Stählin ist nicht an das Subjekt Mensch als "Hersteller" gedacht, sondern an die sakramentale Kraft des christlichen Kultus als Ineinander von Gottes- und Menschenhandeln - eben an das, was Hahn, a.a.O., S. 137 (s. Text zur letzten Anmerkung) selbst betont. Stählin formulierte an anderer Stelle übrigens sachgemäßer, daß nach Paulus im Kultus "eine reale Kommunikation mit den Mächten und Kräften der himmlischen Welt geschieht." (Liturgie als Entscheidung, MuK 1944, S. 4, Hervorhebung von mir.) 152Dazu s. Edmund SCHLINK, ökumenische Dogmatik, 1983, S . 511-513. Aus psychologischen Gründen votiert Manfred JOSUTTIS, Der Weg in das Leben, 1991, S. 279 ff. für die Meßopfertheologie und fragt unter der Überschrift "Schlachtung", ob die reformatorische Kritik nicht auch durch "neuzeitliche Aggressionszensur" geprägt sei. Umgekehrt wird Josuttis gefragt werden müssen, inwiefern um der Durcharbeitung von Aggressionen willen gänzlich unbiblische Theologoumena tragbar sind, über die die römisch-katholische Kirche inzwischen selbst hinausgekommen ist. 153 Das Opfer Jesu Christi und seine Gegenwart in der Kirche. Kontroversen und Klärungen zum Opferbegriff, hrsg. von Karl L E H M A N N und Edmund S C H L I N K , Freiburg/Göttingen 1983, S . 237, zit. nach E. SCHLINK, a.a.O., S . 513.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
ren.154 Im Begriff des "Memorial" in den Lima-Texten ist die hebräische Denkstruktur (zakar) aufgenommen, so daß das einmalige Opfer Christi die feiernde Gemeinde in die Realität des Opfers "hineinzieht", wie Stählin sagen würde. Dort ist die Rede von der "Verwandlung": "Die Eucharistie ist das große Lobopfer, durch das die Kirche für die ganze Schöpfung spricht. [...] Christus vereint die Gläubigen mit sich [...], so daß die Gläubigen verwandelt und ihre Gebete angenommen werden. Dieses Lobopfer ist nur möglich durch Christus, mit ihm und in ihm. [...] So bezeichnet die Eucharistie, was die Welt werden soll: Gabe und Lobpreis für den Schöpfer, eine universale Gemeinschaft im Leibe Christi [...]."155 Stählins trinitarische und ökumenische Weite, die ihn vom Lebensbegriff her156 auf dem sacrificium hominis insistieren ließ, erfährt damit durch die Lima-Texte eine Bestätigung. Das Opfer Christi wirkt sich aus in unserem Tun und ist "in, mit und unter" diesem gegenwärtig.157 Für Stählin ist der Opfergedanke ein - wenn auch besonders gewichtiger - Aspekt der in Analogie zu Lebensphänomenen verstandenen Liturgie. Problematischer als der seinerzeit zu Unrecht angegriffene Opfer-Begriff ist dabei Stählins idealistisches Ontologisieren in bezug auf reale Mächte im Kultus. Auch abgesehen von Christus haben Sprache, Zeichen, Kultus magische Qualität und können dämonische Wirkung entfalten. Dies ist als Folge des Kampfes gegen die "nominalistische" Entleerung des Gottesdienstverständnisses verständlich und eine weitere Gestalt der Konstruktion der Theologie von der Realität von Religion her, gefährdet aber die Erkenntnis, daß liturgische Realität nur von der Selbsterniedrigung des "Liturgen" Jesus Christus158 und nicht von der Selbstmächtigkeit des Kultischen als solchen her begriffen werden darf. Die von Wilhelm Hahn so scharf gezogene Grenze 154 So Hans Christoph SCHMIDT-LAUBER, Die Zukunft des Gottesdienstes, 1990, S. 338 f. 155 Taufe, Eucharistie und Amt, 1983 [1982], S. 19 (Eucharistie 4). Zum Begriff Memorial s. Eucharistie 5-8 und den Kommentar zur Überwindung der Kontroversen um das Meßopfer. Hier spricht Gottfried VOIGT, Eucharistie in den Limatexten, 1984, S. 14 von der legitimen Möglichkeit, neu über den Sinn des römisch-katholischen Meßopfers nachzudenken. 156 Dazu erinnere man sich noch einmal an Friedrich NIETZSCHE, dessen Gedanken bei Stählin offensichtlich unbewußt wirksam blieben: "Leben lebt immer auf Unkosten anderen Lebens - wer das nicht begreift, hat bei sich noch nicht den ersten Schritt zur Redlichkeit gemacht." (Der Wille zur Macht, 1980, S. 251.) Der Opfergedanke ist die positive Umkehrung dieses Axioms. 157 Vgl. Hans-Christoph SCHMIDT-LAUBER, Die Zukunft des Gottesdienstes, 1990, S. 340 zum menschlichen Opfer in der Eucharistie: "Christus schenkt sich in, mit und unter dem Handeln der Kirche - eigentümlicherweise nur so, nie ohne dies. Das Opfer Christi wird im Handeln der Kirche gegenwärtig." 158Dazu s. M. MEYER-BLANCK, Von der Demut des Liturgen, PTh 1993, S. 160 f.
4.5. Liturgie
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zwischen Kultus und "christlichem Gottesdienst" 159 wird bei Stählin nicht immer deutlich. In diesen Zusammenhang gehört zunächst die Rede vom "liturgischen Plasma", die Stählin in Analogie wiederum zu Hugo Kükelhaus' Gedanken über das Handwerk formuliert hat: "Dieses 'Plasma', diese schöpferische Keimkraft, ist den Hormonen im Aufbau eines Organismus zu vergleichen: [...] wer dem Leben Genüge tun will, muß das in Rechnung stellen [...]. Wir sind so sehr entwurzelt [...] von dem liturgischen Plasma, [...] daß wir überhaupt kaum imstande sind, eine große und reiche liturgische Ordnung in der rechten Weise zu gebrauchen und mit lebendigem Leben zu durchdringen." 160 Einleuchtend erscheint es, wenn damit Grundstrukturen wie Hören und Antworten, Empfangen und Opfern, Hinwendung zu Gott und Hinwendung zur Welt gemeint sind161; an die frühen Anleihen bei der Lebensphilosophie erinnert jedoch der Satz "Das Plasma ist lebendiges Gesetz, weil es das Gesetz des Lebens selbst in sich trägt." 162 In der Liturgik-Vorlesung 1936/37 wird das Phänomen Sprache eingeführt, indem - u.a. unter Verweis auf Nietzsche und Stefan George - die "magische Mächtigkeit der Sprache" als grundlegend herausgestellt wird. 163 Über den rationalen Bedeutungsgehalt hinaus habe "lebendige Sprache" 164 solche Mächtigkeit: es gebe gute und böse Mächte, weiße und schwarze Magie: "Die magische Wirklichkeit [...] umgibt uns von allen Seiten." 165 Von der Zauberformel im Kult der Eingeborenen her kommt Stählin dann zu einer durchaus anfechtbaren These über die Sprache im Kultus. Es geht darum, "das, wovon geredet wird, zu vergegenwärtigen, hier aktuell, nämlich handelnd erscheinen zu lassen. In dem Medium des Wortes ist jenes Urphänomen der Offenbarung: daß Gott selber redet, zu verwirklichen." 166 Im nächsten Satz heißt es zwar schon wieder, im Kultus gehe es darum, daß Gott redet durch menschliche Sprache. Dennoch ist bei Stählin die Reihen159 So immer wieder die Terminologie in: Gottesdienst und Opfer Christi, 1951. 160Das Plasma, 1958 [1941], S. 314 f. 161 A.a.O., S. 316. 162 A.a.O., S. 317. Gemeint ist damit wahrscheinlich - der Kontext ist nicht ganz klar das Geheimnis der Kirche und ihres Amtes. 163 Vorlesung Liturgik 1936/37, S. 30. 164 Ebd. 165 A.a.O., S. 31. Wenn Stählin hier von vielen spricht, die heute "der Verzauberung und der Besessenheit erlegen sind, [...]", so könnte damit ein Hinweis auf die NSHerrschaft gemeint sein. 166 A.a.O., S. 33.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
folge umgedreht und der Akzent falsch gesetzt: der Anmarschweg über die Magie läßt den Menschen zum Subjekt des Kultus und Gott zum Objekt ("erscheinen zu lassen") werden. Im Kampf gegen die "Entleerung der Sprache" 167 und gegen die Übermacht der Begriffe in der Theologie wird die Sprache des Kultus nicht von der Christologie, sondern von der Magie her definiert. Auch wenn in einem weiteren Argumentationsgang die kultische Sprache als zwischen den Extremen von Zungenrede und BegrifFssprache angesiedelt erklärt wird168, ist noch nicht die Rede von Inhalten des christlichen Gottesdienstes. So drohen die schöpferische Kraft des Gotteswortes und die Fleischwerdung des Wortes auf den Spezialfall der Magie des Wortes reduziert zu werden, eine offensichtlich untergründig wirksame Spätfolge des vitalistischen Ausgangspunktes. 169 Eine Parallele zum magischen Sprachverständnis in der Liturgik-Vorlesung ist die Rede von der "unmittelbaren Mächtigkeit bestimmter Zeichen" bzw. von der "magischen Mächtigkeit der Symbole".170 An diesem Punkt, so Stählin, wisse er sich "von der heute herrschenden Theologie am stärksten geschieden." 171 Überhaupt sei beim modernen Menschen das "Erschauern unter der Mächtigkeit naturhafter Symbole" unterdrückt und verdrängt, was die Tiefenpsychologie aufgedeckt habe.172 So sei es "zweifellos die Frage, ob ein Mensch für diese ganze Dimension des Lebens überhaupt ein Organ hat oder nicht" 173 . Wer dieses "unmittelbare Symbolerleben" erfahren habe, stehe ratlos vor den Menschen, die dazu keinen Zugang haben: "er weiß, daß sie blind sind bei aller Gescheitigkeit." 174 Das Assoziative dieser Vorlesung
167 Ebd. 168 A.a.O., S. 34 f. 169 Sachgemäßer heißt es in: Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 41 über die Liturgie, die Gemeinde bereite sich betend "dem Mysterium des Wortes zu begegnen, ohne daran Schaden zu leiden." Hier eignet dem Wort die Mächtigkeit, nicht der Sprache, abgesehen von Christus als dem einen Wort, welches allein die Mächtigkeit liturgischer Sprache im christlichen Gottesdienst ausmacht. Anders ist auch Stählins Vorschlag einzuordnen, wenn niemand zum Gottesdienst erscheine, solle der Pfarrer "allein in der leeren Kirche, seine Andacht, seine Bibellesung, sein Gebet mit lauter Stimme" halten (Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 108). Hier wird nicht von der "Magie der Sprache", sondern von der priesterlichen Stellvertretung her gedacht. 170 Vorlesung Liturgik 1936/37, S. 70, Hervorhebung dort. 171 A.a.O., S. 69. 172 A.a.O., S. 70. Ohne Namensnennung lehnt sich Stählin hier eindeutig an C.G. Jungs Regel der Amplifikation an, wenn er feststellt, daß man in der Analyse auf "genau die gleichen Symbole [...], wie sie bei ganz primitiven Menschen gelten", stoße (a.a.O., S. 70 f.). 173 A.a.O., S. 71. 174 Ebd. In diesen Zusammenhang gehört Stählins Erzählung vom Beginn des "3. Reiches". Was ihn "in jenen Monaten ganz krank machte, war das Hakenkreuz." Er habe gewußt, "daß solchen Symbolen eine eigentümliche Mächtigkeit" innewohnt; in den "aufwühlenden Krallen" des Hakenkreuzes habe er bereits früh von dem unab-
4.5. Liturgie
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fuhrt diese Gedanken nicht mehr weiter (es folgen recht geläufige Auslassungen über die Kerze im christlichen Gottesdienst als Gestalt des Symbols "Feuer" und über die liturgischen Farben). Die theologischen Gefahren dieser (hier offensichtlich vorläufig und ungeschützt formulierten) Symboltheorie liegen auf der Hand: Das "Symbolerleben" wird zur Voraussetzung, am wirklichen Leben Anteil zu gewinnen, die "Tiefe des Symbols" droht die unter dem Kreuz verborgene Realität des neuen Lebens zu verdrängen. Stählin ist nicht zur Unterscheidung und Korrelation seiner theologischen und tiefenpsychologischen Gedanken vorgedrungen und gerät damit in die Gefahr, das Symbolerleben mit dem Heilsgeschehen zu identifizieren. Auch dabei handelt es sich um eine Folge des eingeschlagenen Wegs über das religiöse Phänomen, ähnlich wie bei der "Magie der Sprache." Am Schluß dieses Darstellungsgangs, der das Zentrum von Stählins Liturgik zum Thema hatte, bleibt ein zwiespältiger Eindruck. Einerseits führt die Orientierung an der Schlüsselkategorie "Leben" zur Deutung der Liturgie als einer "Lebensbewegung" in Analogie zum Ein- und Ausatmen und damit zu einem theonomen Ineinander175 von Wort und Antwort, von sacrificium Christi et hominis. So wird die Weite der biblischen Sicht wieder gewonnen, indem die Fixierung des Blicks auf den Moment der Konsekration überwunden wird durch den Blick auf die gesamte Liturgie, in der der einmal geopferte Christus die Gemeinde in seinen geopferten und auferstandenen Leib "hineinzieht" und so die neue Schöpfung anhebt. Mit der Einbeziehung der Schöpfung (durch die Deutung von Brot und Wein) ist nicht nur zur römisch-katholischen, sondern auch zur ostkirchlichen Tradition die Tür weit aufgestoßen. Stählins Sicht der Liturgie als eines unteilbaren trinitarisch-eucharistischen Lebensvorganges (unter Einschluß von Gabenbereitung, Anamnese und Epiklese) erweist sich durch die Lima-Texte und durch die neue evangelisch-katholische Diskussion als eindrücklich bestätigt, während die gelehrte historische Kritik eines Gerhard Kunze in ihrem konfessionalistischen Standpunkt eher überholt ist.
wendbaren Verderben "'gewußt' in jener Tiefenschau, in der es keine rationalen Gründe und darum auch keine Unsicherheit gibt." (Via Vitae, 1968, S. 266 f.) Dies ist ein Beleg für Stählins magisches Symbolverständnis (von der historischen Frage einmal ganz abgesehen). Wesentlich reflektierter als in der Liturgik-Vorlesung 1936/37 wird hier jedoch der Bezug zur Christologie hergestellt: alle Natursymbole seien grundsätzlich ambivalent. Durch das Erscheinen Christi aber müsse das ambivalent Dämonische, "wenn es sich nicht der Macht Christi unterwirft und also 'getauft' wird, zum feindselig Dämonischen werden" (S. 266). Hier kommt die magisch-realistische Denkweise im Gegenüber zur nominalistischen besonders zum Tragen: Stählin hat bis ins hohe Alter daran festgehalten. 175 Hier liegt eine Parallele dazu vor, wie Rudolf B O H R E N das Verhältnis von heiligem Geist und menschlicher Rede in der Predigt als "theonome Reziprozität" bestimmt: "Der Geist spricht und ich rede." (R. B O H R E N , Predigtlehre, 1974, S. 82.)
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Andererseits zeigt die Bewertung der Sprache und Symbole als "magische" Realitäten ein undurchschaubares Konglomerat von Lebensphilosophie, Antinominalismus, Tiefenpsychologie und allgemeinem Religionsbegriff, welches die Christologie verdrängt zugunsten eines religiösen Vitalismus und eines magischen "Urerlebens". Es dominiert noch die "lebendige Religion" aus der Frühzeit, und das Fehlen von Stählins sorgfaltig durchdachter Liturgik in Buchform wird schmerzlich bewußt. Bei aller in der Tiefe wirksamen Orientierung an der Kategorie Leben ist eines in Stählins Liturgik jedoch überraschend wenig berücksichtigt: der Lebensbezug des Gottesdienstes im Sinne des Alltagslebens176, im Sinne des menschlichen Lebenszyklus177 und der liturgischen Lebensbegleitung. 178 Wie wir bereits gesehen hatten, denkt Stählin mehr funktional denn intentional, indem er durch das im Kultus wirksame Mysterium das Leben des Leibes, der Ehe und des Kosmos verändert und geheiligt sieht.179 Intentional wichtig für die Gestaltung von Liturgie und für die Liturgiedidaktik ist jedoch wiederum der Sinn des Leibes.
Leib und Leib Christi Da sich Stählins Liturgik nicht aus dem Gesamtrahmen seiner Theologie lösen läßt, sind wichtige Aspekte dieses Unterpunktes bereits in den Abschnitten 4.3. und 4.4. beleuchtet worden. Jetzt muß es in erster Linie darum gehen, welche Maximen für die Gestaltung und für die Didaktik von Liturgie sich aus dem "Sinn des Leibes" und aus dem Prinzip sozialer Verleiblichung ergeben. In der Liturgik-Vorlesung 1936/37 (die u.a. mit dem bereits erwähnten typischen Bonmot "der Leib nicht nur ein Transportmittel, um die Seele unter die Kanzel zu bringen" beginnt )180 wird die Bedeutung der leiblichen Haltung im Kultus eigens herausgestellt. Der umfangreichste Teil der Nachschrift unter dem Titel "II. Die Formelemente des Kultus" 181 behandelt die 176 Vgl. Christian GRETHLEIN, Abriß der Liturgik, 1991, S. 43-46. 177 Vgl. Joachim MATTHES, Volkskirchliche Amtshandlungen, Lebenszyklus und Lebensgeschichte, 1975, und Peter CORNEHL, Frömmigkeit - Alltagswelt - Lebenszyklus, 1975. 178 Vgl. M. MEYER-BLANCK, Wort und Antwort, 1992, S. 227-280, ferner den Titel von Karl Ernst NIPKOWS religionspädagogischer "Summa": Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, 1990. 179 Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 121-130 und Mysterium, 1970, S. 190-202. 180 Vorlesung Liturgik 1936/37, S. 9. 181 A.a.O., S. 27-94; die Nachschrift ist wahrscheinlich unvollständig, da die letzte Vorlesung am 25. 1. 1937 mitten in der Behandlung des Kirchenjahres abbricht. Dem Plan für die begonnene Liturgik von 1944 zufolge war als Teil III "Die Struktur des Kultus" vorgesehen mit den Themen Messe, Predigtgottesdienst, Tagzeitengebet,
4.5. Liturgie
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Sprache allgemein, Predigt, gebundene Rede (Gebete), Lesungen und Kirchenmusik, danach die Gebärde im Kultus, die Symbole und Zeichen und schließlich unter "Raum und Zeit" Kirchenbau (besonders Altarbau), Gebetszeiten und Kirchenjahr.182 Hier setzt Stählin die für ihn charakteristischen Akzente, die in der Form der unüberarbeiteten Nachschrift u.a. seinen Vorlesungsstil gut erkennen lassen. So heißt es über den persönlichen Charakter der Predigt: "Der Prediger soll nicht Gletscherwasser verabreichen, er soll nicht - grob gesagt - eine Kanalröhre oder Dachrinne sein, aus der das herausströmt, was irgendwo hineingeschüttet ist, sondern der Mensch soll Erdreich sein, fruchtbares Erdreich, das sich aufgetan hat, um den Regen des göttlichen Geistes zu empfangen und ihn lange in sich getragen hat, daß er nun endlich herausbrechen muß."183 Neben solchen Vergleichen legt Stählin Wert auf genaue Hinweise für die leibliche Gestaltung der Liturgie. So darf nicht wie bei einer Mitteilung gelesen werden ("liturgischer Unfug"). Die Vorstellung eigenen Empfangens ist dabei leitend: "Alle gebundene Rede im Gottesdienst dient der Meditation und nichts anderem."184 Eben dies fordere eine streng gebundene Rede- und Sprechweise: "Das kann bis ins Körperliche gehen. Beim Atmen die Luft in sich hineinnehmen, einatmen. Das kann man nicht bei einer freien Rede, wohl aber bei einem Lied, einer gebundenen Rede. Dann klingt die Stimme; Vorstellung, daß ich selber empfange."185 Andererseits ist gerade auf die Monotonie des Sprechens beim liturgischen Lesen zu achten: die meisten Lesenden seien zu eitel, erlägen der Versuchung so zu tun, als läsen sie eigenes vor oder läsen wie Schauspieler. Es
Kasualien sowie einer Einleitung über das "Wesen der liturgischen Struktur überhaupt" (Inhaltsverzeichnis, S. 4). Die von Heinz HENCHE 1934/35 nachgeschriebene Liturgik-Vorlesung enthält als Teil III "Die Geschichte des christlichen Gottesdienstes" und behandelt die römische Messe, Liturgien der Ostkirche, reformatorische Gottesdienstordnungen und schließlich gegenwärtige Fragen der Gottesdienstgestaltung. 182 Nicht ohne zeitgeschichtlichen Bezug ist der letzte nachgeschriebene Satz der Vorlesung, welcher (in bezug auf das Kirchenjahr) die Eschatologie gegen die kreisförmig verstandene Zeit setzt: "Je tiefer die Schatten der Geschichte sich auf die Völker herabsenken, desto notwendiger ist für den christlichen Kultus die ganz klare Ausrichtung auf das, was jenseits dieses Weltgeschehens ist, auf ein wirkliches telos." (S. 94) 183 A.a.O., S. 38. 184 A.a.O., S. 40. 185 A.a.O., S. 40 f.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlttsselkategorien
gehe um die "Entpersönlichung der gebundenen Rede, die Bewahrung vor der Gefahr eigener Deklamation."186 Analog zu Sprache und Symbol/Zeichen bestimmt Stählin - unter Berufung auf Augustin und Luther - auch die Musik als "eine sinnlich-geistige Erscheinungsform geistiger Wesenheiten, Kräfte und Mächte."187 Damit ist die romantische (Musik als Ausdruck von Empfindungen) wie die artistische ("Kirchenkonzert") Auffassung der Musik scharf abgelehnt. Nach Luther könne man in der sinnlichen Gestalt der Musik gegen den Teufel kämpfen und die Geschichte von David vor König Saul sei "eigentlich ein ganz lutherisches Bekenntnis zu der Magie der Musik."188 Weder sei die Musik nur als Dienerin des Wortes aufzufassen noch sei jede Musik gottesdienstfähig: es gibt "auch eine dämonische Musik, durch die werden wir böse, zerfahren, begehrlich [,..]."189 Gegen das Pathos in der Kirchenmusik wie beim liturgischen Sprechen helfe das Singen und liturgische Lesen in der leeren Kirche190; für die Kirchenmusik gelte in besonderer Weise die "Polarität von Empfangen und Opfern". 191 Für den Altargesang sei ein sehr musikalischer Pfarrer eine größere Gefahr als ein mäßig begabter. Dieser sei nicht in der Gefahr, "schön" singen zu wollen: "Das liturgische Singen ist eine ganz streng objektive Gestalt, ganz unromantisch und unsentimental. Es ist mehr ein Sprechen als ein Singen. Die gehobene und überschwengliche Art des Sprechens, aber nicht ein pathetisches Singen."192 Wie wichtig Stählin die leibliche Gestaltung der Liturgie nimmt, zeigt sich daran, daß er sich nicht auf genaue Anweisungen zum Sprechen und Singen (Musizieren) beschränkt, sondern auch einen eigenen Abschnitt "Die Ge186 A.a.O., S. 42, Hervorhebung dort. In diesem Kontext erwähnt Stählin die Art des Lesens in Maria Laach: Dort gehen zwei Priester zur Lesung, einer liest, der andere zeigt auf Anfang und Ende der Stelle. "Das ist natürlich eine äußerliche Gebärde, es kommt darin aber sehr schön zum Ausdruck, daß der Lesende hier liest, was für diesen verordnet ist." (Ebd.) Später hat Stählin vorgeschlagen, daß Gemeindeglieder während der Schriftlesung dem Liturgen die (schwere Altar-)Bibel halten (Das Amt des Laien in Gottesdienst und kirchlicher Unterweisung, 1947, S. 8). 187 A.a.O., S. 52. 188Ebd., Hervorhebung dort. 189 Ebd. Musik und Gesang in der Liturgie nehmen mit 14 von gut 90 Seiten (S. 50-64) breiten Raum in der Vorlesung ein. Die Bewertung steht klar im Zeichen der Wiederentdeckung der Gregorianik und Abwertung des 19. Jahrhunderts: "Überall Erweichung, Abschwächung durch den Leitton." (S. 57) 190 A.a.O., S. 55 f. Dieses gehörte zu Stählins liturgischen Übungen an der Fakultät (Auskunft von Heinz HENCHE, Münster). 191 A.a.O., S. 55. Dazu vgl. Gustav A. KRIEG, Die gottesdienstliche Musik als theologisches Problem, 1990, S. 216-219 ("Gottesdienstliche Musik als sacrificium laudis"). 192 A.a.O., S. 62.
4.5. Liturgie
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bärde im Kultus" einfugt.193 Er meint damit "alle jene Möglichkeiten und Formen leiblicher Bewegung, Haltung, Gesten, und zwar sowohl auf der Seite des Liturgen als auf der Seite der Gemeinde, die im Gottesdienst vorkommen." Auch wer dies für belanglos halte, habe irgendeine Form von Haltung und Gang, und die Nachlässigkeit des Liturgen könne die Gemeinde sehr stören. Es gehe aber nicht um ästhetische, sondern um theologische Fragen bei der liturgischen Gebärde: "Wir stellen die These auf, daß immer die leibliche Haltung dem gemäß sein soll, was sachlich hier geschieht." (Hervorhebung im Original) Diese These wird dann auf die vier Haltungen Stehen, Sitzen, Knien, Schreiten folgendermaßen bezogen194: Das Stehen ist die Haltung der Bereitschaft, des Hörens auf eine Weisung und des Bekennens. Darum sei es widersinnig, Lieder des Gelöbnisses oder der Anbetung sitzend zu singen. Stehen solle man fest mit beiden Beinen, nicht mit "Spielbein". Das Sitzen ist die Haltung des Zuhörens und Betrachtens. Das heißt: aufrecht sitzen, vor allem nicht als Liturg mit übergeschlagenen Beinen. Das Knien ist die Haltung des demütigen sich-Beugens und Empfangens. Leider spiele dies in den Gemeinden durch die allgemeine Verarmung der Gebärden kaum mehr eine Rolle. In einer "bürgerlichen Sicherheit und Harmlosigkeit" verschwinde das Knien. Den Gemeinden müsse wieder Mut dazu gemacht, Anleitung gegeben und die technische Möglichkeit dazu geschaffen werden. Das Gehen von einem Ort zum anderen ist Ausdruck einer inneren Bewegung (etwa zum Altar als zum Heiligen). Sinnvoll ist diese Bewegung als Schreiten·. "Der Liturg darf nie Eile haben!" Dies gelte jedoch auch für das Gehen der Gemeinde. Von daher habe auch die Prozession ihren guten Sinn, und es sei ein Irrtum, diese als "katholisch" anzusehen. Auch bei Konfirmation und Trauung handele es sich um eine Prozession. Das Besondere der Prozession außerhalb der Kirche sei der damit dargestellte Herrschaftsanspruch Christi über alle Lebensgebiete: "der Herr, dem wir dienen, erhebt den Anspruch, Herr und König dieses Weltenraums zu sein." Schließlich seien auch bestimmte Handhaltungen wichtig zu nehmen (auch "der liturgisch gleichgültigste Pfarrer schnallt nicht seine Arme ab und läßt nicht seine Hände in der Sakristei"). Der Liturg soll über die verschiedenen Gebetshaltungen Bescheid wissen und diese Gebärden "sinnvoll und
193 A.a.O., S. 64-67. Die folgende Wiedergabe geht in der Reihenfolge des Textes an diesem entlang und verzichtet auf Einzelnachweise. 1 9 4 Manfred JOSUTTIS gliedert seine verhaltenswissenschaftlich ansetzende Liturgik (Der Weg in das Leben, 1991) in die Kapitel: Verhalten; Gehen; Sitzen; Sehen; Singen; Hören; Essen; Gehen; vgl. ferner A. Ronald SEQUEIRA, Gottesdienst als menschliche Ausdruckshaltung, 1987.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
ordentlich" vollziehen können, aber auch im Sitzen, Gehen, Stehen auf die Hände achten. Auch bei den Gemeindegliedern sei Verständnis dafür zu erwecken, "weil darin die Ganzheit zum Ausdruck kommt, die gefordert ist im liturgischen Handeln, die Ganzheit des vor Gott gestellten Menschen." An diesem Punkt wird die Grenze des Genus Vorlesung bei dem Thema "Gebärden in der Liturgie" spürbar, und es spricht für Stählin, daß er neben diesen Hinweisen praktische Hilfen in seinen liturgischen Übungen an der Fakultät gegeben hat. Mittlerweile ist das Nachdenken über diesen Aspekt fortgeschritten - vor allem im Katholizismus195; wiederholt sei hier nur die Feststellung, daß Stählin auf das - u.a. durch ökumenische Impulse zunehmende - Element des liturgischen Tanzes gar nicht eingeht; evtl. ließ ihn die Gleichsetzung von Religion und Tanz in Teilen der Jugendbewegung (s. die Schriften von Max Tepp)an diesem Punkt zurückhaltend sein. Es liegt auf der Hand, daß dieser damals ungewöhnliche und für Stählin typische Akzent eng mit seiner gesamten Theologie zusammenhängt und wiederum aus den Impulsen der Jugendbewegung hervorgegangen ist. Schon 1924 hatte Stählin hervorgehoben, daß im Kultus nicht nur geredet werde, sondern leibhaft gestaltet und in der sinnlichen Sphäre dargestellt196, und 1925 hatte er geschrieben, "daß es Kultus nicht geben kann ohne leibliche Haltung als leibhaftes Sinnbild."197 In diesen Kontext gehört auch, was im Abschnitt 4.3. über den Leib und die Relation des Menschen zu Gott nach dem erstmals 1930 erschienenen Buch "Vom Sinn des Leibes" ausgeführt wurde.198 In dem ebenfalls 1937 publizierten Aufsatz Was heißt "richtig" liturgisch handeln? hatte sich Stählin zwar gegen die Vorstellung einer psychologisch-pädagogisch "richtigen" Liturgie ebenso gewandt wie gegen 195 Neben dem Titel von Sequeira (s. vorige Anmerkung) ist an dieser Stelle zu nennen Anselm GRÜN/ Michael REEPEN, Gebetsgebärden, 1988. Ähnlich wie bei Stählin heißt es: Unser Leib "ist ehrlicher als unser Verstand." (S. 7) Gebärden werden hier noch differenzierter als bei Stählin beschrieben: Es gibt drei Arten des Sitzens, Thronen, Meditieren, Sitzen in Asche als Zeichen der Reue (S. 48-53). Einleuchtend ist die Arbeit mit Gebärden an biblischen Texten, die nicht als "Bibliodrama" gedacht ist (S. 57-64). Aus alledem spricht die reichere Frömmigkeitstradition des Katholizismus. "Protestantisch" wirkt der Hinweis, die signatio crucis wirke nicht aus sich, sondern nur durch Christus (S. 41), gänzlich fremd erscheint hingegen der positiv bewertete Kuß auf Altar, Evangelienbuch, Stola als "Träger der göttlichen Gegenwart" (S. 55). In gewisser Nähe zu Guardinis "liturgischer Bildung" heißt es programmatisch: "Nicht ob ich die Gebärde richtig mache, ist entscheidend, sondern ob ich durch die Gebärde richtig werde [...]." (S. 12) 196 Evangelischer Kultus, 1924, S. 14 f. 197 Von Frömmigkeit und leiblicher Übung, 1925, S. 40, 1. Sp. Dort heißt es explizit, in der Jugendbewegung sei der Leib zu naiv als gut angesehen worden: "Die Jugendbewegung hat geahnt, aber nicht verstanden; in ihrer Ahnung lag ihre Größe und ihre Gefahr." (S. 40, 2. Sp.) 198 S. Vom Sinn des Leibes, 3 1952, S. 132-134, im Inhaltsverzeichnis dazu die Überschrift "Der Leib im Kultus".
4.5. Liturgie
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agendarische Korrektheit 199 und stattdessen auf die "Sache" der Realität des Mysteriums Christi in der Liturgie verwiesen200, zugleich aber auf die Wichtigkeit "soliden handwerklichen Könnens (z.B. in liturgischem Sprechen und Singen oder in der Ausmalung der Kirche)" Wert gelegt. 201 Hierin liegt ein Spezifikum von Stählins akademischer Tätigkeit. Aber auch in den Gemeinden regte er die religiöse Erziehung, etwa über Gebetsgebärden, an: das Kind könne noch nicht abgesehen von seinem Leib denken: "Nur das tritt ihm wirklich nahe, was ihm in leibhafter Gestalt begegnet." 202 Darum gelte es, die Kinder teilnehmen zu lassen an der Formenwelt des gottesdienstlichen Gebetes. Leibliche liturgische Erfahrungen stehen für Stählin am Anfang der Liturgik, nicht historische Forschungen und daraus folgende Abgrenzungen. Gerade weil im Kultus das Mysterium als reales Christusgeschehen gegenwärtig ist, kann die sachgemäße Form des Kultus - einschließlich der leiblichen Vorgänge - nicht historisch-deduktiv, sondern nur praktisch-induktiv erschlossen werden. Diese Überlegungen faßt Stählin 1942 im Gespräch mit Martin Doerne 203 zusammen. Als die drei wichtigsten liturgischen Streitfragen nennt er die Frage nach dem Verhältnis von Schöpfungsreich und Christusreich, die Frage nach den humanistischen und occamistischen Einflüssen auf Luther und schließlich die Frage nach der Praxis. Es sei "ein sehr tiefgreifender Unterschied", ob man aus grundsätzlichen Überlegungen vorsichtig Konsequenzen ableite, "oder ob man sehr viel mehr aus liturgischen Versuchen, Übungen und Erfahrungen an einen Punkt gefuhrt wird, wo man sich auch bestimmten grundsätzlichen Erkenntnissen nicht länger verschliessen kann. [. . .] Hier also werden wir uns über den Ort der Theologie im Gesamtgefüge kirchlicher Aufgaben, über die Bedeutung der Meditation und des Singens, auch über die Reichweite ganz konkreter liturgischer Übungen verständigen müssen." 204 Auch in der Liturgik verfährt Stählin also nach der induktiven Weise, Theologie von der Praxis her zu konstruieren. Wieder pointiert ausgedrückt: Es ist Folge von Stählins Orientierung an der Kategorie "Leib", daß die leibli199 Was heißt "richtig" liturgisch handeln?, 1973 [1937], S. 220 f. 200 A.a.O., S. 222. 201 A.a.O., S. 229. 202Form und Gebärde in Gottesdienst und Gebet, 1940, S. 6. Stählin empfiehlt darin u.a. die Orante-Haltung, die auch bei bibeltreuen Reformierten üblich sei. 203 Zu "Grundlagen und Gegenwartsfragen evangelischen Gottesdienstes", MuK 1942, S. 134 f. 204 A.a.O., S. 135. Die Meditation (s.o. Abschnitt 4.4.1.) als leiblich-geistliche Übung gehört auch in diesen Kontext, wurde aber als Kontext zur Schlüsselkategorie "Leib" behandelt, da sie ihren Ort nicht im (öffentlichen) Gottesdienst hat, sondern im geistlichen Leben von Gruppen.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
che Haltung über die theologische Wahrheit entscheidet. Gemeinden haben dafür ein Gespür: Sie sind toleranter gegenüber Irrlehren als gegenüber liturgischen Neuerungen. "Wer heute die säkular-barock-bürgerliche Amtstracht des protestantischen Pfarrers, der Weisung der Bekenntnisschriften gemäß, durch die liturgische Gewandung ersetzen will", wird mehr beunruhigen als ein theologisch ungewöhnlicher Prediger. 205 Letztlich stimmt Stählin dieser Sicht von Gemeindegliedern zu. Es entspricht seiner Theologie des Mysteriums, daß er die theologische Wahrheit in der Liturgie "inkarniert" sieht. Die Liturgie ist die leibhafte Realität der Wahrheit: "Die Sorge um die Reinheit der Lehre ist keine Sorge um eine theoretische Wahrheit; verkehrte und törichte Dinge sind in der Welt viel gesagt, verkündigt und gelehrt worden, ohne wesentlichen Schaden anzurichten; sondern es ist im Grunde eine liturgische Frage: Mit welchen Inhalten verbinden wir uns in der Liturgie? Wovon werden unsere gottesdienstlichen Räume erfüllt? An welche Dinge geben wir uns hin? Welche Speise nehmen wir als Nahrung in uns auf?" 206 Wie in der Einleitung dieses Kapitels erwähnt, ist hiermit der Endpunkt von Stählins Entwicklung zum realistischen, antinominalistischen Liturgieverständnis erreicht. Die Liturgie ist die Verleiblichung des Mysteriums Christi - oder des Antichristen. Wenn dieses realistische Gottesdienstverständnis durchaus dem Neuen Testament entspricht 207 , so muß die Polemik gegen die "theoretische Wahrheit" vom Neuen Testament her als unberechtigt bezeichnet werden. Über die Wahrheit wird nicht nur im Kultus entschieden, weil Christus den Unterschied von heilig - profan aufhebt und Herrschaft über die gesamte Realität beansprucht. Die Wahrheit steht nicht nur kultisch auf dem Spiel, sondern auch individuell (Rom 10,10), in der Lehre (Rom 12,7, 1. Kor 12,28 f.) und im Alltag (1. Kor 5-6). Andererseits wird man sich daran erinnern müssen, daß gerade der schärfste Paulusbrief wegen einer kuliisch-leiblichen Realität geschrieben wurde: der Abfall von der Wahrheit war die Annahme der Beschneidung (Gal 5,7). In diesem Zusammenhang muß noch daran erinnert werden, daß für Stählin die "sachgemäße" Liturgie auch eine Frage der sachgemäßen sozialen Verleiblichung des Leibes Christi ist. Wie bereits gezeigt, ist das Leben in der Bruderschaft sachlicher und persönlicher Hintergrund für Stählins Liturgik, und erst im Rahmen von Freizeiten/"geietlichen Wochen" kann sich
205 Liturgie als Entscheidung, MuK 1944, S. 3. 206 A.a.O., S. 4. 207 "Das bewußte Fernbleiben vom Gottesdienst ist ein Nein zum Geist und schließt deshalb auch von Christus aus. In diesem Sinne eignet der Teilnahme am Gottesdienst Heilsnotwendigkeit." (Wilhelm HAHN, Gottesdienst und Opfer Christi, 1951, S. 137 in bezug auf die neutestamentliche Gemeinde).
4.5. Liturgie
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die Wirksamkeit liturgischen Lebens entfalten. Für den normalen Gemeindegottesdienst hat Stählin darum auch vorgeschlagen, das "Amt des Laien" darin wichtig zu nehmen: "Nicht der Pfarrer, sondern die Gemeinde 'hält' den Gottesdienst." 208 Alle Gemeindeglieder tragen Mitverantwortung am gottesdienstlichen Leben, u.a. durch "leibhaftige Anwesenheit" und "durch den bewußten und sinngemäßen Vollzug leiblicher Gebärden."209 Darüber hinaus soll durch viele Funktionen "der innere Reichtum des Leibes Christi als eines vielgegliederten Organismus" zum Ausdruck kommen.210 Hierbei denkt Stählin an Teile des Küsterdienstes, den Altarschmuck, Kirchenmusik und kleine liturgische Handreichungen, Kerzen anzünden, Bibel halten bei der Lesung, Brot und Wein zum Altar bringen, Handtuch zureichen/Buch halten bei der Taufe.211 Ebenso können (nach nötiger Vorbereitung) Gemeindeglieder als Lektoren Lesung und Predigt halten.212 Nur Altarsakrament, Absolution und Segen sind an die Ordination gebunden.213 Den engen Zusammenhang von Leib und Leib Christi in bezug auf die Liturgie hat Stählin 1959 ein weiteres Mal beschrieben in dem Aufsatz Liturgische Erziehung. Für die Pfarrerausbildung dürfe die "handwerkliche" Ausbildung nicht unterschätzt werden, da ein Mangel hier viel rascher und störender auffalle als theologische Mängel. 214 Dies gelte aber ebenso für die Gemeinde, da "man Gott nicht mit irgendeiner Stümperei oder Unvollkom-
208 Das Amt des Laien in Gottesdienst und kirchlicher Unterweisung, 1947 [1941], S. 6. Dazu paßt der Titel des Buches von Werner REICH und Joachim STALMANN: Gemeinde hält Gottesdienst, 1991. 209 Ebd. 210 A.a.O., S. 7. 211 A.a.O., S. 8. 212 A.a.O., S. 9. Mittlerweile ist dies mit Lektorenbeauftragten in vielen kirchlichen Bereichen (Kirchenkreis, Landeskirche) eine besonders geförderte Selbstverständlichkeit geworden. 213 Ebd. Daß Stählin hier die Taufe unerwähnt läßt, zeigt zum einen die damalige Praxis, diese als "Kasualie" ohne Bezug zum Gemeindegottesdienst zu sehen, zum anderen eine - bei Stählins Orientierung an menschlicher Leiblichkeit auffallende Vernachlässigung dieses Sakraments überhaupt. Auch in der Berneuchener Theologie insgesamt spielt die Taufe kaum eine Rolle, und "das Sakrament" steht oft einfach für das Herrenmahl. (S. aber die kurze Erwähnung in: Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 47 f.) Das dürfte darauf zurückzuführen sein, daß die damals selbstverständliche Kinder- (Säuglings-)Taufe wenig Möglichkeiten gemeinsamer Erfahrung, etwa in der Bruderschaft, bot (so fehlt das Stichwort Taufe völlig in der Eigendarstellung: Die Evangelische Michaelsbruderschaft, 1981). Im Zuge der Vielfalt von Taufpraxis und Taufzeitpunkten ist die Taufe neu als liturgische Chance und als Kristallisationspunkt für Gemeindeentwicklung in den Blick genommen (vgl. Reiner BLANK/ Christian GRETHLEIN, Einladung zur Taufe - Einladung zum Leben, 1993). 214Liturgische Erziehung, 1963 [1959], S. 183.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
menheit recht ehren kann."215 Der (leiblichen) Erziehung zur Liturgie entspricht die (leibliche) Wirkung durch die Liturgie. An diesem Punkt gilt nun: "Liturgie ist ein leibhaftiges Geschehen, und liturgisches Handeln heißt leibhaft handeln. [...] Wer in der Liturgie beheimatet ist und sie nicht nur in Gedanken, sondern mit allen Sinnen miterlebt und mitvollzieht, kann niemals mehr zurückfallen in jene Leibfeindschaft und jene Leibfremdheit, die das Bild des biblischen Christentums so sehr entstellt und verzerrt haben."216 Die Liturgie bildet aber eben nicht den Leib als Individuum, sondern als Glied des Leibes Christi: "[...] vielleicht wichtiger als dieses alles übt die Liturgie einfach dadurch eine eminente bildende und tragende Kraft, daß sie den Menschen aus seiner Vereinzelung herausreißt und ihn einem Gesamtleben eingliedert. [...] Vielleicht ist gerade dieses für viele, die nicht von ihrem Ich loskommen und vielleicht gar nicht loskommen wollen, in der Liturgie eine so schwierige Sache; aber diese Schwierigkeit bedeutet zugleich eine heilsame, ja rettende Wandlung [,..]"217 Vom Ineinander der beiden Bedeutungen von Leib Christi her kann Stählin 1962 den Gottesdienst als Teilhabe und als Teilnahme beschreiben: "Es ist eines und dasselbe, ob wir sagen, daß wir den Leib Christi in uns aufnehmen, oder ob wir sagen, daß der Leib Christi uns in sich selbst aufnimmt; eines nicht ohne das andere."218 Wenn an dieser Stelle hinzugefügt wird, daß wir selbst durch solche Teilnahme "konsekriert werden"219, dann wird von der Theologie des Mysteriums her davon ausgegangen, daß die Liturgie nicht nur die Realpräsenz Christi verbürgt, sondern auch Leib und Leben der Feiernden wandelt und hineinzieht in die neue Schöpfung. Auf die Auswirkungen der bereits geschilderten Theologie des Mysteriums (s.o. den Abschnitt 4.3.3. Mysterium 215 A.a.O., S. 184. Explizit warnt Stählin allerdings vor einer isolierten äußerlichen liturgischen Erziehung (S. 189: technische Perfektion als "Gehäuse ohne innewohnendes Leben") und spricht im zweiten Teil des Aufsatzes (S. 189-194) über die "bildende Kraft" der Liturgie. 216 A.a.O., S. 191 f. 217 A.a.O., S. 192. Dies entspricht der eingangs erwähnten Entdeckung Stählins 1922: An-dacht ist "Weg-denken von dem eigenen Ich." (Anbetender Gottesdienst, CuG 1922, S. 44, 2. Sp.) 218 Gottesdienst als Teilnahme, 1963 [1962], S. 157. 219 Ebd. - Terminologisch fällt im übrigen auf, daß der Begriff "Kultus" in den vier Symbolon-Bänden wieder ganz zugunsten von "Liturgie" zurücktritt. Damit lehnt sich Stählin an das Geläufige an ("Liturgische Bewegung", "Lutherische Liturgische Konferenz" etc.).
4.5. Liturgie
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und Bruderschaft: der Leib Christi) auf Stählins Liturgik ist nun noch einzugehen. Mysterium Geht das Hauptwerk Vom göttlichen Geheimnis 1936 auf einen Vortrag über den inneren Zusammenhang von Sakrament und Kirchengestalt zurück, so ist auch sachlich die Wurzel von Stählins ausgebildeter Theologie in der liturgischen Realität der Eucharistie gegeben. Wenn Stählin mit dem Begriff Mysterium das "göttliche Geheimnis in Wort und Sakrament" meint220, so gelingt ihm sachlich ein dem Neuen Testament durchaus entsprechender Oberbegriff für das gesamte Geschehen christlichen Gottesdienstes, welcher nun allerdings terminologisch im Neuen Testament - aufgrund der Unterscheidung von den Mysterienkulten? - gerade nicht begegnet. Das Mysterium ist für Stählin die im Kultus als ganzem real wirksame Christusrealität: "Alles, was zum Gottesdienst gehört, das leibhafte Zusammenkommen und die leibliche Gebärde, die freie Rede und die gebundene Lesung, das Singen und Beten, der Klang der Glocken und das Spiel der Orgel, ist ein reales Geschehen, in dem die göttlichen Geheimnisse zu uns kommen und sich uns mit-teilen wollen. [...] Die Austeilung der göttlichen Geheimnisse ist das Amt der Kirche, und sie erfüllt dieses Amt vor allem in ihrem kultischen Dienst."221 Wort und Sakrament gehören dabei gleichermaßen der "geheimnisvollen Wirklichkeit"222 an, und es gelinge nicht, einen der beiden Begriffe auf den anderen zurückzufuhren, denn: "Beides, Wort und Sakrament, sind Formen der Vergegenwärtigung des göttlichen Geheimnisses."223 Die Epiklese bei der Eucharistie ist dabei der Ausdruck des demütigen Glaubens, daß die Kirche nicht triumphalistisch über die Geheimnisse Gottes verfugt, sondern immer wieder darum bitten muß.224 So verstanden sind die Sakramente jedoch "die letzten stehengebliebenen Texte aus einer Welt des Mysteriums"225, welche seit der alten Kirche in Mittelalter, Humanismus und 220 Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 32-50 (Überschrift des ersten Abschnitts im Hauptteil "Das göttliche Geheimnis der Kirche.") 221 A.a.O., S. 33. 222 Ebd. 223 A.a.O., S. 34. 224 A.a.O., S. 48. 225 A.a.O., S. 49.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Aufklärung immer weiter zurückgedrängt worden sei. Darum seien die Sakramente besonders wichtig zu nehmen; das göttliche Geheimnis selbst sei jedoch "viel größer und weiter [...] als das Geheimnis der Sakramente."226 Diese Sicht kann sich in der Tat auf das Neue Testament berufen, weil dort der Gottesdienst als ganzer die Anwesenheit des erhöhten Herrn und die Anteilnahme am Durchbruch des (im Christusgeschehen bereits gegebenen) neuen Äons verbürgt.227 Andererseits wird im neuen Testament gerade nicht der Begriff μυστηριον dafür gebraucht: Dieser hat vielmehr kerygmatischen und nicht kultischen Charakter; das Geheimnis ist die theologia crucis (1. Kor 2,1.7), Christus selbst (Kol 1,27; 2,2; 4,3) bzw. die Offenbarung Christi (Rom 16,25; Eph 3,8.9, die von Stählin oft zitierte Stelle wegen der οικονομία του μυστήριου). Der Begriff begegnet in den Evangelien nur Mk 4,11 par; in den paulinischen und deuteropaulinischen Briefen ist er eindeutig christologisch gemeint.228 Beziehungen zu den Mysterienkulten bestehen in den neutestamentlichen Texten nicht: "Wo solche Beziehungen erkennbar sind (wie z.B. in den Sakramentstexten), findet sich der Begriff nicht; wo er aber begegnet, fehlen sie."229 Erst in der alten Kirche bürgert sich der - in den antiken Mysterienkulten übliche - kultische Begriffsgebrauch wieder ein: Bei Justin und Tertullian werden Sakramente und heidnische Mysterien verglichen, seit dem 4. Jahrhundert finden sich in den Texten über Taufe und Abendmahl MysterienTermini.230 Die Stählinsche Mysterientheologie begegnet terminologisch nicht im Neuen Testament, sondern z.B. bei Ambrosius, der die Gläubigen durch die Mysterien-Liturgie in die Erlösung hineingezogen231 sieht. Sachlich wird man Stählin jedoch nicht widersprechen können, daß Taufe und Abendmahl Anteil am Christusgeschehen geben (Rom 6,1-11; 1. Kor 11,26 f.), daß das Wort den neuen Aon antizipiert und rettet (Rom 10,8-13) und daß beides ganz eng zusammengehört. Fraglich bleibt nur, ob der religionsgeschichtlich so belastete Begriff des Mysteriums geeignet ist als Oberbe226 A.a.O., S. 50. 227 Wilhelm HAHN, Gottesdienst und Opfer Christi, 1951, S. 137 in seinen zusammenfassenden exegetischen Thesen: "3. Der Gottesdienst enthält ein Mysterion, das sich nur der glaubenden Gemeinde erschließt. [...] 5. Der christliche Gottesdienst selbst ist Sakrament." 228 Darüber hinaus können auch die Zukunft Israels (Röm 11,25), die Verwandlung bei der Parusie (1. Kor 15,51), die Ehe (Eph 5,32) oder auch Apokalyptisches (die Hure Babylon, Apk 17,5.7) als μυστηριον bezeichnet werden. Für Stählin, der eine besondere Vorliebe für den Epheserbrief hatte, ist Eph 3,1-7 nicht unwichtig: hier ist das Geheimnis durch den Geist nicht der Gemeinde, sondern "seinen heiligen Apostelfl und Propheten" aufgedeckt (απεκαλύφθη, 3,5). 229 Günther BORNKAMM, Art. μυστηριον, 1942, S. 831. 2 3 0 G. BORNKAMM, a . a . O . , S. 8 3 2 f.
231 Ambrosius, De Mysteriis, § 27: "ubi est ecclesia, ubi mysteria sua sunt, ibi dignatur suam impertire praesentiam" (zit. nach G. BORNKAMM, a.a.O., S. 833, Anm. 191).
4.5. Liturgie
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griff, zumal er in liturgischer Verwendung das Christusgeschehen unnötig nahe an die Mysterienkulte heranrücken läßt. 2 3 2 (Insofern war der zurückhaltende Titel " V o m göttlichen Geheimnis", 1936 angemessener als "Mysterium", 1 9 7 0 . ) D i e s zeigt sich deutlich an der Liturgik des Mysteriums d e s Benediktiners O d o CASEL, den Stählin persönlich gekannt hat und v o n dem er n a c h w e i s l i c h beeinflußt wurde. 2 3 3 Bereits 1922 erschien d e s s e n Schrift Die Liturgie als Mysterienfeier, in der er die damals virulenten - allerdings s c h o n w i e d e r abnehmenden 2 3 4 - Einflüsse der religionsgeschichtlichen Erforschung d e s N e u e n T e s t a m e n t s auf die Liturgik übertrug. In erkennbarer Sympathie für die Griechen als "die v o r z ü g l i c h s t e n Träger der antiken Kultur" 2 3 5 wird die Zeit des Hellenismus als b e s o n d e r s " ö k u m e nisch" h e r v o r g e h o b e n (S. 10); sie habe dem Christentum "vorzuarbeiten" g e w u ß t und vor allem in der Form des Gottesdienstes "Anregung und Vorbilder" g e b e n können: darauf beruhe der " a b s o l u t e Wert" des hellenistischrömischen Zeitalters (S. 11, Hervorhebung dort). Casel zieht das Fazit, im
232Stählins Bemerkung, Tertullians Übersetzung "sacramentum" sei ein "verhängnisvoller Einfall" gewesen (Via Vitae, 1968, S. 370), trifft das Problem insofern nicht, als das Neue Testament den Begriff ganz anders gebraucht als Stählin und als Tertullian, während diese in der Sache, nicht in der Terminologie weitgehend übereinstimmen. Daß Mysterium und Sakrament über den Gedanken der Verpflichtung ("Eid") außerdem sehr eng zusammenhängen, zeigt Günther BORNKAMM, Art. μυστηριον, 1942, S. 833 f. 233 Via Vitae, 1968, S. 579; Mysterium, 1970, S. 8. Casel (1886-1948) war der bedeutendste deutsche katholische Liturgiewissenschaftler in der ersten Hälfte des Jahrhunderts und gab 1921-1941 das Jahrbuch der Liturgiewissenschaft heraus. Zu Casel vgl. Walter BIRNBAUM, Die deutsche katholische liturgische Bewegung, 1966, S. 9398. 234 Schon 1911 (!) hatte Albert Schweitzer festgestellt, "daß die Mystik des Heidenapostels sich auf historisch-eschatologische Tatsachen gründet, während die der Mysterienreligionen ihrem Wesen nach geschichtslos ist." (A. SCHWEITZER, Geschichte der paulinischen Forschung, 1911, S. 176.) Dazu hatte er eines seiner typischen Bilder gesetzt: "Ein bezeichnendes Bild bittet, daß man ihm seine Geschmacklosigkeit zugute halte. In den Mysterienreligionen steigen die Einzelnen auf einer Treppe stufenweise zur Vergottung hinauf; im Paulinismus springen sie miteinander auf den in Bewegung befindlichen Aufzug, der sie in eine neue Welt bringt. Die Treppe können alle versuchen; den Aufzug dürfen nur die benutzen, für welche er bestimmt ist." (S. 175) Zwar stimmt hier nicht der angenommene Automatismus, aber die eschatologische Prägung des paulinischen Sakramentsverständnisses ist gegen die Annahmen Reitzensteins prägnant formuliert. - Casel wurde gerade vorgeworfen, daß er dem Einfluß Reitzensteins und der religionsgeschichtlichen Schule erlegen sei (W. BIRNBAUM, a.a.O., S. 96).
235 Odo CASEL, Die Liturgie als Mysterienfeier, 1923 [1922], S. 4. In Plato habe die Religionsgeschichte "durch die Verbindung echt wissenschaftlichen Ernstes mit dem Schwünge und der Beschaulichkeit einer hochgeistigen Mystik" einen Höhepunkt erreicht (S. 5). - Seitennachweise zu Casels Schrift im folgenden im laufenden Text.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlttsselkategorien
Christentum sei der Wunsch Piatos nach der Verbindung von Innen und Außen verwirklicht: ''Das Christentum ist zugleich eine Mysterien- und Geistesreligion." (S. 125, Hervorhebung dort.) Die christlichen Mysterien seien aber nicht einfach eine Fortsetzung der antiken, vielmehr seien die Mysteriengedanken ursprünglich christlich und heidnische Ausdrücke später als geeignete Interpretamente hinzugetreten. 236 (S. 101) Der Unterschied der Mysterien Christi zu den heidnischen Mysterien liege vor allem in der "innigen Vereinigung von Sittlichkeit und Mystik", während dort der äußere Vollzug der religiösen Akte genüge (S. 98). Für das Christentum wichtig gewesen sei aber die "reich ausgebildete Liturgie" in den Mysterien (S. 22), der Universalismus (gegenüber Frauen und Sklaven, S. 41) und die Aussonderung der Geweihten aus der Welt (Schweigegebot, Arkandisziplin, S. 42 f.). Inhaltlich seien die heidnischen Mysterien zwar Zeugnisse des unfreien, unerlösten Menschen (S. 43 )237, liturgisch jedoch stünden klar "die Analogien jedem vor Augen" (S. 96): "Auf beiden Seiten haben wir einen Kult, der auf dem Wege liturgischer Mystik die Menschen zur innigsten Gottesgemeinschaft führen soll. Ja die Analogie der antiken Mysterien lehrt uns viele der christlichen Wahrheiten erst tiefer erkennen und durchschauen. [...] Wenn die antiken Mysterien eine in ihrer Art wundervoll ausgebaute liturgische Mystik darstellen, so ist demgemäß auch das christliche Mysterium wesentlich Kultusmystik." (S. 96. 97, Hervorhebung dort) Die Nähe zu Stählins 15 Jahre später ausgebildeter Liturgik liegt zunächst einfach darin, daß das Mysterium zum Zentrum der Theologie und die Liturgie zu dessen praktischer Gestaltwerdung erklärt werden. Daneben ist auch für Casel die Einbeziehung der Natur in die Erlösung wichtig: Die Auferstehung Jesu, "dessen Leib verklärt leuchtet, ist zugleich das Evangelium der erlösten und geheiligten Natur." (S. 132) Ebenso wird dem romantischen Individualismus eine Absage erteilt (S. 129).238
236 Günther B R I N K M A N N , Art. μυστηριον, 1942, S. 833, gibt als Zeitpunkt das 4. Jahrhundert an. 237 A.a.O., S. 43: "Man kommt sich vor wie ein Wanderer in tropischer Landschaft. Ihn erfreut die üppige Fruchtbarkeit, die bunte Pracht der Blumen und Vögel. Aber sein Fuß bricht oft im Moder ein; schwüle Düfte verwirren seine Sinne; im Dickicht lauert das Raubtier und züngelt die Giftschlange." 238 "Der Romantiker dagegen sieht alles in dem schillernden, trüben Spiegel seines eigenen Ich an; was ihn fesselt, ist nicht die Wahrheit und Wirklichkeit als solche, sondern der Eindruck, den sie auf ihn macht." Für einen katholischen Ordensmann sind diese Sätze nicht verwunderlich. Bezeichnend für die damalige Geisteslage ist es jedoch, daß auch Stählin 1922 von der Liturgie her den Individualismus kritisierte (Anbetender Gottesdienst, CuG 1922).
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4.5. Liturgie
Vollkommen anders als Stählin kann Casel jedoch das Meßopfer in massiver Opferterminologie preisen: "Es folgt dann auf den Opferakt das Opfermahl; alle treten hinzu, um von dem göttlichen Sakramente zu essen und sich auf diese Weise der gnadenvollen Früchte der Opferhandlung zu vergewissern." (S. 65) Dieses an der Transsubstantiation orientierte sakramentale Denken ist weit von dem entfernt, was Stählin vom sacrificium laudis in der Liturgie zu sagen weiß. 239 In der allgemein häufiger zitierten Schrift240 Das christliche Kultmysterium (1932) hat Casel diese Gedankengänge grundsätzlich wiederholt und mit wenigen neuen Akzenten versehen. Insgesamt ist die Nähe zu Stählins Theologie und Liturgik eher größer geworden, wenn das Mysterium trinitarisch gefaßt wird (Mysterium ist zunächst Gott in sich, Christus ist das persönliche Mysterium, nach der Erhöhung ist Christus in den Kultmysterien zu finden241), die Heilung der Welt durch das Mysterium betont (S. 20) und dieses als "voll von Leben und Kraft" gegen ein "theologisches Lehrsystem" gesetzt wird (S. 27). Ein neuer Akzent ist die pneumatisch-anamnetische Fassung des Opfers im Kultmysterium: "Nicht als ob der pneumatische Herr jetzt ein neues Opfer mit der Kirche darbrächte: er hat durch das eine Opfer das Opferziel erreicht und sitzt als verklärte Opfergabe ewig zur Rechten des Vaters. Aber die noch nicht endgültig vollendete Kirche wird nun in sein Opfer hineingezogen [...]." (S. 28) Die Hervorhebungen (von mir) zeigen die Nähe zu Stählins Schrift "Vom göttlichen Geheimnis" 1936 und die Offenheit für den ökumenischen Dialog gleichermaßen.242 Einige weiterführende Präzisierungen finden sich auch in dem religionsgeschichtlichen Kapitel III "Antike und christliche Mysterien". 243 Wiederum
239 Ebenso bedenklich ist Casels Berufung auf den locus classicus katholischer Firmtheologie Apg 8,15 ff., wenn die Gabe des heiligen Geistes von der Übertragung durch einen "bevorzugten Geistesträger" abhängig gemacht und dinglich vorgestellt wird. Die Trennung von Taufe und Geistempfang ist trotz dieser Lukasstelle bekanntlich keineswegs urchristliche Praxis gewesen (vgl. Ernst KÄSEMANN, Die Johannesjünger in Ephesus, 1970 [1952], S. 165-167). 240 So von Karl Bernhard RITTER, Die liturgische Aufgabe heute, 1971 [1955], Anm. 4 (S. 223) und ders., Kirche des Wortes und Kirche des Sakramentes, 1971 [1957], Anm. 28 (S. 226) und von Hans-Christoph SCHMIDT-LAUBER, Die Zukunft des Gottesdienstes, 1990, S. 304 f. 2 4 1 O d o CASEL, D a s c h r i s t l i c h e K u l t m y s t e r i u m , 1 9 3 5 [ 1 9 3 1 ] , S. 1 6 - 1 9 .
Seitennachweise
im folgenden im Text. 242 Anders dazu auch S. 39: Eigentliche Hingabe ist der Mensch selbst, er allein ist "Opfergabe, die in dieser Weise Gott noch nicht gehört." Andererseits kann es über die Kirche wieder heißen: Sie "opfert ihren Bräutigam und sich mit ihm." (S. 42)
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
wird vom antiken Mysterium ausgegangen, das sich im Hellenismus als "Gemeinschaftsmystik" ausgeprägt habe und die "göttliche Krone im Christentum fand." (S. 98) Im Kult vollzieht sich die rettende Tat Gottes immer wieder neu: "Das Mysterium umfaßt demnach den weiten Begriff des rituellen 'Gedächtnisses' (αναμνησις, commemoratio), d.h. der rituellen Begehung und Gegenwärtigsetzung irgendeines göttlichen Werkes, auf dem das Dasein und Leben einer Gemeinschaft beruht." (S. 101, Hervorhebungen von mir) Mag die religionsgeschichtliche Fragestellung hier nicht weiterverfolgt werden244 - in jedem Fall ist hiermit das Tor zum biblischen Denken weit aufgestoßen: Durch den Begriff der α ν α μ ν η σ ι ς ist die Geschichtlichkeit gegenüber der Zeitlosigkeit herausgestellt, durch das göttliche Werk ist das Mißverständnis menschlicher Verfugung über das Heilige ausgeräumt, und durch die Bindung an die Gemeinde (Volk Gottes, εκκλησία) der Bezug zum altund neutestamentlichen Sitz im Leben des Kultus gewahrt. 245 Ebenso bedeutend ist an dieser Stelle Casels Überwindung der auf das Meßopfer bzw. den Moment der Wandlung verengten Betrachtung: Über den Begriff des Mysteriums bekommt er das Ganze der göttlichen Heilstat in Christus, von der Inkarnation bis zur Erhöhung, in den Blick: "Das 'Pascha des Herrn', Tod und Erhöhung umfassend, ist daher das eigentliche Erlösungsmysterium, der Gipfel des Heilsplanes Gottes." (S. 109) Kehren wir zu Stählins Liturgik zurück, so sind die Konvergenzen nicht zu übersehen. Zwar hat er Odo Casel in der Schrift "Vom göttlichen Geheimnis" 1936 an keiner Stelle erwähnt, die Übersendung seines Buches an ihn 243 Dieses war bereits 1927 publiziert worden (S. 7). "Das christliche Kultmysterium" ist eine auf Anregung von Abt Ildefons Herwegen zusammengestellte Aufsatzsammlung Casels. 244 Casel wurde u.a. vorgeworfen, die Mysterien seien wesentlich am einzelnen Mysten, nicht an der Gemeinschaft orientiert gewesen, und sie hätten es mit Vegetationsrhythmen, nicht mit historischen Vorgängen zu tun gehabt (W. BIRNBAUM, Die deutsche katholische liturgische Bewegung, 1966, S. 96). 245 Damit ist der zitierte Satz noch weniger mißverständlich als der von Casel explizit als "Definition" (S. 102) eingeführte Satz "Das Mysterium ist eine heilige kultische Handlung, in der eine Heilstatsache unter dem Ritus Gegenwart wird; indem die Kultgemeinde diesen Ritus vollzieht, nimmt sie an der Heilstat teil und erwirbt sich dadurch das Heil." Hier fehlt der Anamnesecharakter zugunsten des rituellen, und die lutherische Tradition der iustificatio passiva muß sich mit dem "erwirbt sich dadurch das Heil" schwertun. Diese Definition hat Casel "unzählige Male" wiederholt (W. BIRNBAUM, a.a.O., S. 95). Sehr viel ökumenischer ist hingegen die Formulierung: "das Mysterium ist mysterium ßdei, Glaubensmysterium; nur der Glaube sieht die virtus sacramenti, [...]." (S. 115, Hervorhebungen dort.)
4.5. Liturgie
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gleich nach Fertigstellung 246 macht die Kenntnis von Casels Schriften jedoch sehr wahrscheinlich. Erst in "Mysterium" (1970) bezieht Stählin sich auf Casel und verteidigt ihn gegen den Vorwurf, der Begriff Mysterium drohe das Evangelium im Sinne des Hellenismus zu verfälschen. Demgegenüber betont Stählin, das christliche Mysterium sei "Erlösungsmysterium", weil es nur in Christus und nicht in naturhaften Prozessen Erlösung gibt. Wie Casel stellt Stählin fest, daß "das Mysterium Christi das erfüllt und vollendet, was die hellenischen Mysterien meinen, aber nicht bewirken können." 247 In dem Abschnitt über "Das Mysterium im Gottesdienst" 248 spricht Stählin erneut vom "Gottesdienst als dem entscheidenden und zentralen Mysterium der Kirche." 249 Erkennbar ist hier nicht nur das Gespräch mit Casel, sondern die neuere ökumenische Diskussion insgesamt, wenn der ganze Gottesdienst als epikletisch verstanden wird: "Darum ist die Bitte um das Kommen des Heiligen Geistes nicht nur als Epiklese bei der Feier der Eucharistie [...], sondern für jeden Gottesdienst ein unentbehrliches Zeichen dafür, daß die Kirche ihr Handeln als ein Geheimnis versteht, dessen sie selbst nicht mächtig ist, und das im Grunde nicht ihr, sondern Gottes Handeln in ihr ist." 250 Am Schluß des Buches bezieht sich Stählin in der eschatologisch-trinitarischen Akzentuierung seiner Theologie auf die ostkirchliche Tradition und auf Odo Casel gleichermaßen, wenn er betont, daß das Mysterium nicht nur das Schicksal der Menschen, sondern auch das Schicksal des Kosmos betrifft: "In der Verklärung und Wandlung der Welt vollendet sich das Mysterium des Heils." 251 Daß die Berneuchener sich eindeutig von Casel anregen ließen, zeigen zwei Aufsätze von Stählins engstem Gefährten Karl Bernhard Ritter von 1955 und 1957, die zugleich den Weg zur gegenwärtigen liturgischen Diskussion ankündigen. 1955 betont Ritter, daß die ganze Liturgie als Anamnese und Epiklese zu verstehen ist und daß die Anamnese etwas anderes bedeutet als ein bloß subjektives ins-Gedächtnis-Rufen: "In der Liturgie wirkt das Mysterium des Erlösers in der Zeit fort. In ihr wird der Leib Christi, die 246 Aus dem Brief Casels an Stählin vom 19. 12. 1936 ist zu entnehmen, daß Stählin das Buch am 3. August mit einem Brief an Casel geschickt hatte. In dem Brief schreibt Casel auch über die Angriffe gegen seine Theologie: "Es ist ja so merkwürdig, daß die Menschen glauben, sie müßten im Auftrage Gottes gegen die Gaben Gottes ankämpfen." 247 Mysterium, 1970, S. 37. 248 A.a.O., S. 109-115. 249 A.a.O., S. 114. 250 Ebd. 251 A.a.O., S. 202.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Kirche in dies Mysterium einbezogen." 252 Damit bezieht sich Ritter auf Casel, der "das gegenwärtige Wirksamwerden des Heilswerkes in der Gemeinde durch den Geist" herausgestellt habe und damit auch "die unaufhörliche Verbundenheit des zweiten und dritten Glaubensartikels." 253 1957 rekurriert Ritter ein weiteres Mal auf Casels Mysterientheologie, indem er diese mit dem Gedächtnis-Begriff interpretiert: Die Kirche "'handelt', gehorsam dem Befehl des Herrn, sein 'Gedächtnis'". 2 5 4 In diesem Zusammenhang heißt es emphatisch, es gehe "mit Odo Casels Mysterientheologie der liturgische Tag auf." 255 Mittlerweile ist Casels Ansatz ins Vaticanum II (Liturgiekonstitution 1963) eingebracht worden und genießt in der römisch-katholischen Kirche großes Ansehen. 256 Durch die neuere Exegese und durch die ökumenischen Gespräche wurde inzwischen ein Konsens darüber erzielt, daß es in der Liturgie - nicht nur in der sakramentalen - um die Gegenwärtigsetzung des Christusgeschehens in der im Namen Jesu versammelten Gemeinde geht. Damit ist die räumliche In-eins-Setzung von Element und Christusgeschehen, welche das Mittelalter prägte und in der kontroverstheologischen Entgegensetzung von transsubstantiatio und consubstantiatio (bzw. "extra Calvinisticum") gipfelte, ergänzt durch die zeitliche In-eins-Setzung von Liturgie und Christusgeschehen, welche zutiefst dem gesamtbiblischen Zeitverständnis entspricht und über die anamnetisch-epikletische Betrachtungsweise die Theologie der "Elemente" trinitarisch und eschatologisch weitet zur Verbindung von erster und zweiter Schöpfung im Christusgeschehen. Diese biblisch, christologisch und ökumenisch weite Betrachtung von Eucharistie und Liturgie prägt so die LimaTexte und man wird sagen können, daß Stählins Ansatz hierin eine klare Bestätigung erfahrt. Ob die zeitliche In-eins-Setzung mit dem Begriff
252Karl Bernhard RITTER, Die liturgische Aufgabe heute, 1971 [1955], S. 53. Ritter hatte Casel Anfang der dreißiger Jahre kennengelernt, seitdem war "die Verbindung mit diesem großen Theologen und tief gegründeten Christen nie mehr abgerissen." (K.B. RITTER, Begegnungen mit dem römischen Katholizismus, 1971 [1956], S. 199). Hier liegt auch eine kleine biographische Würdigung Casels vor, etwa in dem Satz: "Seine große Lauterkeit, die Tiefe und die lebendige Kraft seiner Schau hatten etwas Hinreißendes, gerade weil er von allem Pathos so frei war." (Ebd.) 253 A.a.O., S. 53 f. Die große Nähe zu Stählin geht aus der Fortsetzung hervor, wenn als vom Pneuma ergriffene "Elemente alles sakramentalen Geschehens" nicht nur Wasser, Brot und Wein gelten, sondern "auch beispielsweise die leibhaftige menschliche Sprache, der Leib als Träger der liturgischen Gebärde, der irdische Raum, kurz und gut, die Natur, die kosmische Wirklichkeit, soweit sie zum Träger des geistlichen Geschehens wird." (S. 54) 2 5 4 K . B . RITTER, Kirche des Wortes und Kirche das Sakramentes, 1 9 7 1 [ 1 9 5 7 ] , S. 1 7 5 . 255 A.a.O., S. 174. 256 Joseph Ratzinger hält Casels Ansatz für "die vielleicht fruchtbarste theologische Idee unseres Jahrhunderts" (zit. nach Hans-Christoph S C H M I D T - L A U B E R , Die Zukunft des Gottesdienstes, 1990, S. 305.)
4.5. Liturgie
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"Mysterium", d e m biblischen z a k a r / α ν α μ ν η σ ι ς 2 5 7 oder Guardinis mittelalt e r l i c h e m "aevitern" 2 5 8 z u m A u s d r u c k gebracht wird, ist dabei erst e i n e n a c h g e o r d n e t e Frage. D i e V o r - und N a c h t e i l e dieser V e r s u c h e , biblischc h r i s t o l o g i s c h e A u s s a g e n f u l l e "auf den B e g r i f f " z u bringen, s e i e n hier o h n e w e i t e r e V e r t i e f u n g so z u s a m m e n g e f a ß t : In-eins-Setzung von Christusgeschehen und Liturgie Begriff Stärken Schwächen Mysterium b e t o n t durch die K o n n o t a - K o n t e x t der k r e i s f ö r m i t i o n e n ( G e h e i m n i s ) die A u f - g e n Zeitstruktur hebung der chronologisch v e r s t a n d e n e n Zeit in Christus z a k a r / A n a m n e s i s W i e d e r g a b e d e s biblischen bei zakar allein fehlt das (geschichtlichen) Zeitver- N e u e des Christusgeständnisses schehens aevitern Z u s a m m e n f a s s u n g v o n In- Abstraktheit karnation und E s c h a t o l o g i e im Z e i t g e s c h e h e n Stählin b e v o r z u g t e für seine Sicht den B e g r i f f M y s t e r i u m ( w o r i n sich z u d e m die N o t w e n d i g k e i t t h e o l o g i s c h e r Begrifflichkeit t r o t z Stählins bleibender P o l e m i k d a g e g e n z e i g t ) und w u r d e deshalb der "katholisierenden N e i g u n gen" verdächtigt.259 257Dazu s. Hans-Christoph SCHMIDT-LAUBER, Die Zukunft des Gottesdienstes, 1990, S. 66-78 (Eucharistie als Anamnese und Epiklese, erstmals 1981 erschienen) und Friedemann MERKEL, Anamnesis, 1992 [1989]. 2 5 8 R o m a n o GUARDINI, V o m l i t u r g i s c h e n M y s t e r i u m , 1 9 9 2 [ 1 9 2 5 ] , S . 1 4 2 - 1 5 0 .
259 In seinem - deutlich den Charakter der Verteidigungsrede tragenden - Vortrag in der Oldenburger Garnisonkirche am 5. 4. 1946 sagte Stählin: "Man bringt sich selber in eine bedenkliche und gefährliche Lage, wenn man die Rede von dem Mysterium, von dem rational nicht auflösbaren Geheimnis als eine 'katholisierende Neigung' verdächtigt und ablehnt." (Was sind "katholisierende Neigungen"?, 1946, S. 23, 2. Sp.) Stählin führt Luthers Abendmahlslehre als Verteidigung des Mysteriums an. Im Fortgang sucht er u.a. Altargesang, weißen Talar und Einzelbeichte mit Luther zu begründen (S. 24, 1. Sp.) und klagt: "Wir aber benehmen uns vielfach, als ob wir nicht Protestanten, sondern Contratestanten wären, [...]" (S. 26, 1. Sp.). - Daß Stählin durchaus eine Affinität zu Elementen spezifisch katholischer Frömmigkeit hatte, zeigt z.B. sein handgeschriebenes Büchlein Maria, das er Weihnachten 1932 (für die Familie?) schrieb, darin z.B. das eindrückliche Mariengebet am Schluß("[...] auf daß Deine Christenheit mit Maria Dich erfahre und sich freuen dürfe des Heilands", S. 23; selbstverständlich ist das Gebet an keiner Stelle an Maria gerichtet). Stählin hat zuletzt 1970 noch einmal betont, daß "man nicht in Wahrheit katholisch sein kann, ohne evangelisch zu sein und nicht in Wahrheit evangelisch, ohne katholisch zu sein." (Einige Bemerkungen zu den gemeinsamen liturgischen Texten, 1970, S. 91.) Bereits 1922 hatte er nach "einer wahren evangelischen Ka-
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
Ein letzter Aspekt der vom Mysterium her verstandenen Liturgik ist noch hinzuzufügen: Das Mysterium übergreift Raum und Zeit als Konsequenz des universalen Herrschaftsanspruchs Jesu Christi. Darum gehört der irdische Gottesdienst mit dem himmlischen Gottesdienst der Engel und die feiernde Gemeinschaft des Leibes Christi mit den vollendeten Gliedern (Verstorbenen, Heiligen, Märtyrern) zusammen. Die Bekämpfung katholischer Priesterherrschaft in bezug auf den zu verwaltenden Schatz der guten Werke der Heiligen darf Stählin zufolge nicht dazu fuhren, daß "man mit einer falschen Heiligenverehrung zugleich die 'Bürgerschaft' mit den Heiligen, die Verbundenheit mit ihnen im Gebete vor Gottes Thron verachtet, weil man selber nichts mehr weiß von dem Mysterium der Kirche, [,..]." 260 Durch die Orientierung der Berneuchener an der Gestalt des Erzengels Michael (Offb. 12,7-12 - "Michaelsbruderschaft") ist der Gottesdienst untergründig auch immer als "heiliger Kampf' verstanden, als Kampf mit den Engeln um die endgültige Durchsetzung des Sieges Christi auf Erden und als vorausgreifende Anteilnahme am Lobgesang der Engel: "Denn die christliche Kirche ist der Teil der Welt, der schon hineingezogen ist in diesen Christus-Kampf [...] und der schon in dieser Weltzeit Anteil hat an dem Sieg Christi. [...] Psalmengebet und Lobgesang sind Kampflieder in diesem heiligen Krieg. [...] In der Liturgie der Osternacht, einmal im Jahr, ist es der Kirche erlaubt, vollen Anteil zu nehmen an dem Jubel der himmlischen Heerscharen [,..]." 261 1953 schließlich hat Stählin eine Einheitsschau versucht, indem er den gesamten Dienst der Kirche vom Dienst der Engel her zu beschreiben suchte: Die μ α ρ τ υ ρ ί α verband er mit dem himmlischen Boten Gabriel, die λειτουργία mit dem Kampf und Sieg Michaels und die δ ι α κ ο ν ί α mit dem Geleit und
tholizität" gesucht (Zur Auseinandersetzung zwischen Protestantismus und Katholizismus, CuG 1922, S. 108), weil der Katholizismus eine ungeheure "Lebenskraft" habe (S. 87): Jugendliche gingen wegen der Liturgie nach Maria Laach und fragten: "Müssen wir katholisch werden?" (S. 88) 260 Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 94. 261 Vom heiligen Kampf, 1938, S. 11 f.
4.5. Liturgie
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der Hilfe Raphaels.262 Schon frühzeitig hatte Stählin das Thema der Engel auch religionspädagogisch umgesetzt.263 Blicken wir an dieser Stelle kurz auf Stählins ausgebildete Liturgik zurück, die wir unter den Kategorien Leben und Opfer, Leib und Leib Christi sowie Mysterium zu verstehen suchten, so fällt vor allen Dingen die umfassende Weite auf, die von der Liturgik das Ganze der biblischen Aussagen und der theologischen Tradition in den Blick zu nehmen sucht. Mit der anamnetisch-epikletischen, eschatologischen, ökumenischen und kosmologischen Sicht hat die Entwicklung der Gespräche in der Folge des Vaticanum II und des zu den Lima-Texten hinführenden Prozesses Stählin zweifellos recht gegeben und zeitbedingte konfessionelle und historische Angriffe relativiert. Dennoch scheint es so, daß bei Stählin die Orientierung an den Menschen außerhalb der Kirche, wie sie durch die Jugendbewegung gegeben war, immer mehr nachläßt zugunsten der Vertiefung in die Schätze der urchristlichen und altkirchlichen Überlieferung. Der Bezug zum "Leben" im Sinne des Alltagslebens außerhalb kirchlicher Liturgie geht darüber mehr und mehr verloren. Stählins Liturgik ist zunehmend eine "Binnenliturgik" der Bruderschaft (und in großartiger Weise: des ökumenischen Gespräches) geworden, immer weniger wird Gottesdienst als bleibende öffentliche Repräsentanz von Religion (bzw. als "öffentliche Wortverkündigung") verstanden. So wird man am Schluß dieses Abschnitts Stählins eigene Warnung auch kritisch gegen ihn selbst richten müssen: "Es ist erstaunlich und erschreckend, wie viele Kirchenleute sich in der Tat damit begnügen, eine richtige Theologie zu haben und schöne Gottesdienste zu gestalten, während die Welt hungert nach lebendiger Wahrheit und zu einem neuen Glauben und zu einem neuen Kultus flüchtet, weil sie es in der Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit ihres entheiligten Lebens nicht mehr aushält."264 Diese 1936 - etwas pathetisch - formulierte Einschätzung hat sachlich nichts an Aktualität eingebüßt und ist eine bleibende Frage an Liturgik und Theologie, sofern man mit Stählin darin übereinstimmt, daß der vom Menschen vollzogene Kultus darüber entscheidet, woran dieser sein Herz hängt. Inwiefern Stählins Liturgik jedoch zu modifizieren oder zu interpretieren ist, um die Durchdringung von "Leben" und "Leib" mit dem Christusgeschehen ge262Die Einheit des kirchlichen Handelns, 1958 [1953], Ohne Bezug auf Stählin entfaltet auch Peter BRUNNER, Zur Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde, 1993 [1954], S. 168-180 den kosmologischen Ort des Gottesdienstes und bestimmt den Gottesdienst der Kirche "in der Mitte zwischen dem Lob der Engel und dem Lob der Natur." 263 Eine Schulstunde über die Engel, KuKi 1939. Hier ist auch Stählins eigener Unterrichtsstil nachzuempfinden, s. dazu unten im Abschnitt 5.1. 264 Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 118.
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
genwärtig durch kirchliches Handeln zu fördern, ist die noch zu beantwortende Frage. Zuvor sollen noch einige wesentliche Aspekte aus Stählins spezieller Liturgik und seine Lehrtätigkeit (Abschnitte 5.1. und 5.2.) thematisiert werden.
4.5.3. Aspekte von Stählins spezieller Liturgik Um die Darstellung begrenzt zu halten, beschränken wir uns auf einige Akzente, die Stählins Liturgik durch das besondere Interesse an der "Verleiblichung" des Evangeliums erhält. Neben der bereits erwähnten Kirchenmusik sind an dieser Stelle Stählins Beschäftigung mit Kirchenbau und Kirchenjahr zu nennen. Schließlich sind die Kasualgottesdienste zu besprechen, bei denen ein besonderes Interesse am Problem der Konfirmation und Stählins Idee einer "Hausweihe" signifikant sind. An dieser Stelle ist es jedoch nicht möglich, alle liturgischen Einzelimpulse Stählins, wie etwa zur Gestalt des Sonntagsgottesdienstes (der Messe) 265 zusammenzutragen. Durch die vier Aufsatzbände (Symbolon 1-4) sind diese Beiträge auch relativ leicht.zugänglich. Als Überleitung vom letzten Abschnitt her kann ein 1939 geschriebener Aufsatz Über kirchliche Kunst dienen, der sich zwar besonders mit der bildenden Kunst beschäftigt (und hier die symbolische Darstellung gegenüber der figürlichen bevorzugt), darüber hinaus aber ästhetische Grundsätze für Stählins Sicht von bildender und musikalischer kirchlicher Kunst überhaupt 265 Bei einem Vortrag im Hamburger Pastorenkonvent am 12. 2. 1941 benannte Stählin vor allem das Problem eines liturgisch umrahmten Predigtgottesdienstes, bei dem das Abendmahl ein isolierter Torso ist, bezweifelte aber gleichzeitig, daß die Messe in einer dem Sakrament entfremdeten Generation wiederherstellbar sei (Die Gestalt des Hauptgottesdienstes, 1941, S. 2 f.); mit dieser Einschätzung hatte Stählin - wie die Geschichte der Agende I zeigt - ebenso Recht wie mit dem Einspruch "gegen das Pathos und gegen den noch schlimmeren Ton wohlmeinender Herzlichkeit" in der Liturgie (S. 3). - Bereits 1951 sah Stählin den Weg zur Ökumene u.a. im Anamneseund Epiklese-Charakter der Liturgie gegeben: Ein neuer "kultischer Realismus" gehe quer durch die entstandenen Konfessionen (Liturgische Erneuerung als ökumenische Frage und Aufgabe, 1958 [1951], bes. S. 299 ff ). So wandte er sich 1960 gegen die Spendeformel "Das ist der Leib Christi...", weil dadurch in der Mitte der Feier statt der Anbetung die streitbare Theologie stehe (Über die lutherische "Spendeformel", 1963 [1960], S. 180; diese Formel ist inzwischen tatsächlich gefallen, s. Erneuerte Agende, 1990, S. 40. 655). - Für die antiochenisch-arianische Formel "Gloria patri per filium in spirito sancto" wegen ihres trinitarischen Charakters plädiert Stählin 1961 (Über das "Gloria patri", 1963 [1961], S. 162) und faßt seine Einsichten 1962 so zusammen, daß der ganze Gottesdienst Introitus, Konsekration und Communio sei: schon "die Benennung einzelner Stücke mit Namen" verrate im Grunde eine "Entartung der Liturgie" (Das Gefüge des christlichen Gottesdienstes, 1963 [1962], S. 144).
4.5. Liturgie
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benennt. In diesem Zusammenhang gilt: Kirchliche Kunst ist nicht mit religiöser Kunst gleichzusetzen266, sie hat vielmehr das "Mysterium der Wandlung abzubilden". 267 Damit hat sie sich nicht nach allgemeinen religiösen Gesetzen zu richten, aber auch nicht nach dogmatischen Einsichten: "Kirchliche Kunst empfängt ihr inneres Gesetz aus dem Gottesdienst; sie ist 'liturgisch' oder sie ist nicht." 268 Damit ergibt sich als Prae der Kunst, daß durch sie und in ihr etwas geschieht und nicht nur geredet wird. In diesem ästhetischen Konzept verbinden sich die Linien aus der Jugendbewegung mit der ausgebildeten Liturgik.
Kirchenmusik Das geschilderte magische, "antinominalistische" Verständnis von Musik hat eine Vorgeschichte insbesondere in Stählins Berührung mit der Singbewegung.269 Ähnlich wie bei der Jugendbewegung sucht Stählin auch hier Impulse in die Kirche hineinzutragen. Obwohl selbst nur locker mit der Singbewegung verbunden, hält er den Hauptvortrag: Die Bedeutung der Singbewegung für den evangelischen Kirchengesang auf dem Kirchengesangvereinstag im Oktober 1927 und gibt dort u.a. ausführliche Informationen über musikalische und allgemeine Prinzipien der Singbewegung.270 Er nennt in diesem Zusammenhang das Bemühen um Ganzheit, Turnen, ein neues Körperund Naturgefuhl und die Atemarbeit.271 Vor allem jedoch warnt er davor, die Singbewegung kirchlich zu vereinnahmen, weil die Jugend wieder reforma266Über kirchliche Kunst, 1939, S. 309. 267 A.a.O., S. 311. 268 A.a.O., S. 312. 269 Die Singbewegung, die in den zwanziger Jahren durch die Namen Walther Hensel und Fritz Jöde geprägt wurde, war musikalisch vor allem durch den polyphonen acapella-Stil und die Verbreitung der älteren Musik - bis zurück zum 16. Jahrhundert - auf "Singewochen" gekennzeichnet. Ähnlich wie die Jugendbewegung stellte sie ein außerkirchliches Phänomen dar, führte aber über die "Kirchengesangsvereine" zu kirchlichen Impulsen. (In ihr wurzelt u.a. Stählins Vorliebe für die Musik Hans Leo Haßlers und Heinrich Schütz'.) Liturgisch ergab sich durch die Singbewegung u.a. ein größeres Ernstnehmen des De tempore im Gottesdienst. Zu dieser Frage im ganzen vgl. Gustav A. K R I E G , Die gottesdienstliche Musik als theologisches Problem, 1990, S. 78-93, der über die theologische Reflexion bei der Aufnahme der Impulse der Singbewegung urteilt: Diese sei "ähnlich diffus wie in den weltanschaulichen Positionen, in welche die Sing- und Orgelbewegung eingebettet sind." (S. 88). 270Die Bedeutung der Singbewegung für den evangelischen Kirchengesang, 1928, S. 49-60. 271 A.a.O., S. 52 f. S. 53, Anm. 3 bezieht sich Stählin ebenfalls auf die Atemschule von Schlaffhorst-Andersen (s.o. S. 165, Anm. 60).
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlttsselkategorien
torische Choräle singe - diese Tatsache eigne sich nicht für kirchliche Propaganda. Es gehe zunächst nur darum, hinzuhören, was dort eigentlich geschieht. 272 Stählins Verständnis der Musik ist dabei durchaus kerygmatisch. Man entdecke wieder die Musik, die weniger auf das Eigenleben des Musikalischen achte, sondern sich mit dem Wort verbunden habe, "um das Wort emporzuheben in den Überschwang des Ausdrucks." 273 Wichtig ist damit die "Zeugniskraft" des Singens. Schon hier heißt es dann wie in der ausgebildeten Liturgik, wie es überhaupt kein Priestertum ohne Opfer gebe, so auch keinen Gemeindegottesdienst "ohne ein Singen, in dem die Singenden sich leiblich opfernd hingeben an das Zeugnis des Liedes." 274 Wie wichtig Stählin die Beziehung zwischen Kirchengemeinden und Singbewegung nahm, zeigt die Tatsache, daß er diesbezüglich einen Fragebogen mit fünf Fragen an 60 ihm bekannte Personen verschickt hat und am Schluß seines umfangreichen Referats eine Auswertung vorlegt. 275 Verbindungen zwischen Singbewegung und Kirchengemeinden bestünden meistens aufgrund von mehr zufälligen persönlichen Bekanntschaften bzw. durch die Aufgeschlossenheit kirchlicher Jugendverbände. An Kirche und Kirchengemeinden richtet Stählin vor allem zwei Wünsche: - eine bessere kirchenmusikalische Ausbildung der künftigen Theologen; - die Prägung der Chöre durch wirkliche Glieder der Gemeinde statt durch musikalisch Interessierte. 276 Stählins geschicktes Werben für den reformatorischen Choral demonstriert seine Predigt an Trinitatis 1928 zum Schluß der deutschen Singewoche. Bei seiner Deutung von Trinitatis geht er vom Erleben des Sommers aus: Die Fülle der Natur "ist ein schwaches irdisches Abbild fur die Fülle, die in der Gottheit wohnt." 277 Andererseits bezieht er klar Stellung gegen die eingängigen "leichten und gefälligen Weisen" des 19. Jahrhunderts. Demgegenüber 272 A.a.O., S. 51. 273 A.a.O., S. 40. Hier stimmt Stählin noch "unserem verehrten Freunde Gölz" zu, dessen Weg später zur kirchlichen Arbeit von Alpirsbach führte und der sich damit in seinem kerygmatischen Musikverständnis mehr und mehr von Stählin unterschied. S. dazu Friedemann MERKEL, Liturgische Bewegungen in der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert, 1992 [1983], S. 127-130. 274 A.a.O., S. 43. 275 A.a.O., S. 60-70. 276 A.a.O., S. 68 f. - S. 53 verteidigt Stählin die Singbewegung übrigens gegen den Vorwurf von F. (?) Niechciol, einen "parteipolitischen Hintergrund" zu haben. (Tatsächlich war die "Finkensteiner Singbewegung" um Walther Hensel unter den Sudetendeutschen entstanden.) Gegen Niechciols Vorwurf, die Singbewegung sei sozialistisch, bezog Stählin gesondert Stellung: Wenn dies der Fall sei, solle man sich lieber über Gemeinsamkeiten freuen (Noch einmal Herr Niechciol, MGKK 1930, S. 191 f.). - Umgekehrt hatte Stählin das Liederbuch des BDJ gegen die Kritik der religiösen Sozialisten verteidigt, darin werde der Krieg als "Landknechtsscherz" behandelt (Zur Neuauflage unseres Liederbuches, UB 1930, S. 39). 277 Gottesdienst zum Schluß der deutschen Singewoche in Westerburg, 1928, S. 31.
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seien die alten Lieder zu bevorzugen, die gerade in ihrer Schwierigkeit etwas von der "strengen und unerbittlichen Gnade unseres Herrn Jesu Christi" 278 spüren ließen. 1935 wehrt Stählin sich allerdings gegen die Gleichsetzung von theologischem Neuaufbruch in den zwanziger Jahren und Wiederentdeckung des reformatorischen Chorals; beides sei vielmehr erfolgt "kraft der geheimnisvollen 'Gleichzeitigkeit des Geschehens'". 279 Klang damit schon eine Abgrenzung gegen die alleinige kerygmatische Interpretation des Kirchengesangs an, so finden wir Stählin 1936 in klarem Widerstreit mit der (Alpirsbacher) Überbewertung der Gregorianik. 280 Wie alle Formelemente des Kultus diene die Kirchenmusik nicht pädagogischen Zwecken, sondern der repraesentatio Gottes. Aber aufgrund der Fleischwerdung des Wortes könne und müsse die Kirche in ihrem Kultus ursprünglich "weltliche" Elemente übernehmen, und es sei "theologisch falsch zu behaupten, daß nur das echter kultischer Stil sei, was in der Kirche selbst entstanden ist." 281 Wie in seiner Liturgik und Theologie insgesamt haben sich damit für Stählin die Impulse durch Jugend- (und Sing-)Bewegung gehalten. Der Kultus der Kirche kann nicht allein von theologischer Tradition und Lehre, nicht allein vom "Wort" her bestimmt werden; die "Kultmusik" hat nicht nach bestimmten ursprünglichen kirchlichen Formelementen zu fragen, sondern "nach dem Verhältnis zu dem eigentlichen Inhalt des der Kirche anvertrauten Mysteriums." 282 Konnte Stählin so aufgrund seiner Prägung durch die Jugendbewegung den Weg der Alpirsbacher, welchen Wolfgang Dallmann kürzlich als "totale Liturgie" bezeichnet hat283, nicht gutheißen, so hat er die später unter Christhard Mahrenholz kanonisierte Art des Psalmengesangs bitter als "eine unlebendige und langweilige Sache" bezeichnet, "an der niemand wirklich Freude haben kann." 284 Somit hat Stählin aufgrund seiner Begeisterung für
278 A.a.O., S. 33, 1. Sp. 279 Singende Gemeinde - bekennende Gemeinde, DtPfBl 1935, S. 289, 2. Sp. 280Zur Kultusmusikfrage, MuK 1936, S. 110-113. 281 A.a.O., S. 111 f. 282 A.a.O., S. 112. 283 Wolfgang DALLMANN, Die kirchenmusikalische Erneuerung in den 30er Jahren, 1990, S. 99. Dallmanns Vortrag ist darüber hinaus eine engagierte Verteidigung Oskar Söhngens (1900-1983); dieser habe im "3. Reich" "geschickt taktiert, ohne die Sache selber zu verleugnen." (S.105) Heftige Angriffe gegen Söhngens Rolle im "3. Reich" hatte Hans Prolingheuer gerichtet: Söhngens Buch "Kämpfende Kirchenmusik - Wandlungen und Entscheidungen", 1953 bezeichnet er als "Meisterwerk der Geschichtsfälschung" (Hans PROLINGHEUER, Kirchenmusik im 'Dritten Reich', 1990, S. 28, Anm. 25). 284 Via Vitae, 1968, S. 346.
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den Stil Christian Lahusens285 die Gefahr einer nur am Leben und der Geschichte der Kirche orientierten Liturgik und Kirchenmusik deutlich erkannt. Es bleibt zu hoffen, daß mit dem neuen "Evangelischen Gesangbuch" die historische Engführung des "Evangelischen Kirchengesangbuches" von 1950286 und die gegenwärtige Diastase von "wertvoller Kirchenmusik" und "SakroPop-Gebrauchsmusik" nicht weiter fortgeschrieben werden. Kirchenbau Auch die Frage des Kirchenbaus hat Stählin als Thema der Liturgik für wichtig erachtet und sich in besonderer Weise mit der sachgemäßen Gestaltung des Altars befaßt.287 Auch dabei ist der Zusammenhang mit seiner Theologie insgesamt grundlegend, wenn er "Raum und Zeit als Formelemente des Kultus" benennt und begründet: "Alles konkrete Leben ist ein Leben hie et nunc; so ist auch der Kultus hineingestellt in Raum und Zeit, f...]"288, weil es im Kultus darum gehe, "in Raum und Zeit die Überräumlichkeit und Überzeitlichkeit unseres Gottesverhältnisses darzustellen."289 Weil es keinen von der Leiblichkeit gelösten Gedanken gibt und der Mensch als Leib existiert, ist er immer an einem bestimmten Ort, und die "Räumlichkeit des Kultus hängt ganz tief damit zusammen, daß hier leibhaft etwas geschieht."290 Darum ist es sinnvoll, daß der Kultus an einen bestimmten Ort gebunden ist, an den man sich hinbegeben muß, und gerade der äußere Weg des Kirchgangs sei eine Hilfe für den inneren Weg. (In diesem Kontext weiß Stählin nochmals Positives über Wallfahrten zu sagen.) Selbstverständlich komme es beim Kultus nicht auf den Raum an sich an, 285 Vom 7. - 10. 1. 1941 hatten u.a. Stählin, Mahrenholz und Lahusen um eine gemeinsame Auffassung vom Psalmengesang gerungen (An die Brüder, 1941, S. 4), im Februar 1944 arbeitete Lahusen mit Stählin in Kohlgrub an der Sprachgestalt der Psalmen für den liturgischen Gebrauch (Rundbrief an die Michaelsbrüder vom 14. 2. 1944, S. 3). Daraus ist später die Sammlung Psalmgebete, 1969 [1959] hervorgegangen. Das eindrückliche Denkmal Christian Lahusens ist das Credo-Lied "Wir glauben Gott im höchsten Thron" (EKG Nr. 133). 286 Aufgrund des berechtigten Mißtrauens gegen die jüngere Geschichte überhaupt konnte sich darin das Erbe der Singbe\vegung mit der Bevorzugung des reformatorischen Chorals voll auswirken. 287 In seinem ersten Jahrgang "Religionsunterricht für Erwachsene" hat Stählin (am 8. 11. 1923) an einem Abend den Kirchenbau thematisiert, später allerdings nicht mehr. 288 Vorlesung Liturgik WS 1936/37, S. 74, Hervorhebungen dort. 289 A.a.O., S. 76, Hervorhebung dort. Das Verb "darstellen" klingt sehr nach Schleiermachers Liturgik und mag in der (nachgeschriebenen) mündlichen Form begründet sein, schriftlich hätte Stählin vermutlich eher "repräsentiert"/"gestaltet"/"Gestalt gewinnt" statt des expressiv-aktivistischen "darzustellen" formuliert. 290 A.a.O., S. 77.
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aber trotzdem seien in einem Raum "Sinngehalte" in spezifischer Form "verleiblicht", welche sich zum Geschehen darin positiv oder negativ verhalten, und es gelte, daß "ein Raum in seiner Raumgestalt an sich Ausdruck ist für ein eigentümliches 'In der Welt Sein'. " 291 Als Konkretionen nennt Stählin die Kirche mit kreisförmigem und die mit kreuzförmigem Grundriß. Dort werde der Mensch gestärkt, indem er sich und andere als im gleichen Raum existent sieht, hier liege das Entscheidende jenseits des Raumes: der gotische Raum sei "im Grunde das Symbol der Raumsprengung".292 Auch der Einbau von Emporen im 18./19. Jahrhundert sei von daher eine Abirrung; statt der gemeinsamen Ausrichtung auf ein Jenseits wollte man das "Hochgefühl der Gemeinschaft"293 zum Ausdruck bringen. Die gegenwärtige Rückkehr zur axialen Raumgestaltung entspreche darum gerade dem Erleben nach 1918 und markiere "ein neues Hindurchbrechen des transzendenten Charakters unserer menschlichen Existenz." 294 Eine weitere Grundfrage sei, ob das Kirchengebäude mehr die Verbindung mit der Außenwelt (Glaskirche) oder die Abgeschlossenheit von der Außenwelt (romanische Krypta zur Meditation) ausdrücken solle. Stählin votiert entschieden für die Abgeschlossenheit. Der heutige Mensch, "der überall gefordert ist, in tausend Beziehungen steht", bedürfe der Abgeschiedenheit. 295 Betreffs der Zuordnung von Kanzel und Altar spricht sich Stählin für die seitliche Stellung der Kanzel aus (gegen den Kanzelaltar als die "originalste Schöpfung des Protestantismus" 296 ). Für sehr bedenkenswert hält er die neuesten Versuche, die Kanzel einige Stufen tiefer als den Altar anzuordnen. 291 A.a.O., S. 79, Hervorhebungen dort. Terminologisch partizipiert Stählin offensichtlich an Heideggers Phänomenologie: Vgl. Martin HEIDEGGER, Sein und Zeit, 1984 [1927], §§ 12-13. 23. 25-27 ("Das In-der-Welt-sein überhaupt als Grundverfassung des Daseins", "Die Räumlichkeit des In-der-Welt-Seins", "Das In-der-Welt-sein als Mit- und Selbstsein. Das 'Man'"). 292 A.a.O., S. 80, Hervorhebung dort. 293 Ebd. Das Übermalen der Bilder in den Kirchen parallelisiert Stählin tiefenpsychologisch mit der "Unterdrückung des Unbewußten": Die Bilder seien "Ausdruck einer magischen Tiefe, und die Ausrottung der Bilder geht parallel der Abspaltung und Überschätzung des menschlichen Bewußtseins von allen unterbewußten und magischen Räumen, deren Ausdruck die Bilder sind." 294 A.a.O., S. 81. 295 A.a.O., S. 82. Auch dies begründet Stählin tiefenpsychologisch: In der Traumanalyse beobachte man, wie viele Menschen in ihren Träumen in Höhlen als Ort der Geborgenheit und der Stille flüchteten. - Richtig ist daran, daß die biblisch bezeugte Rechtfertigung zweifellos ein regressives Moment in sich birgt, das entgegen aller Tendenz zur Pädagogisierung theologisch wie psychologisch ein gutes Recht in der Liturgie hat. Andererseits ist Regression ein durchaus ambivalentes Phänomen, so daß ein abgeschlossener Kirchenraum ebenso (oder sogar eher) Ängste vor dem Verschlungenwerden (durch die "Mutter Kirche") auslösen könnte. 296 A.a.O., S. 84.
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Mit Kreuz und Altar (statt der Kanzel) als Orientierungspunkt hätten die Architekten zum Teil mehr Verständnis für "den sakramentalen Charakter des christlichen Gottesdienstes" als die Theologen. 297 Den Altar möchte Stählin gegen die reformierte Tradition nicht nur als mensa (Tisch für die Mahlgemeinschaft), sondern auch als tumba (Sarg, in Anknüpfung an die altkirchlichen Mahlfeiern an den Gräbern der Märtyrer) und als ara (Opferaltar, weil "wir in das Opfer Christi hineingenommen werden") interpretiert und gestaltet sehen. Bei klarer Bevorzugung des mensaCharakters 298 will Stählin jedoch auch die Tradition des lutherischen Hochaltars, welcher die Wendung zum Kreuz beim Gebet impliziert, bewahrt wissen. Die Altäre mit gestalteter Rückwand (retrodorsarium), die sich aus der mensa mit Aufsatz entwickelten, sollen nicht (wie bei den Reformierten) grundsätzlich beseitigt werden. Als seine vorläufige Meinung plädiert Stählin für die im 16. Jahrhundert einige Zeit übliche Trennung von mensa und retrodorsarium, so daß die Eucharistie wirklich im Kreis um den Altar gefeiert werden, der Liturg sich jedoch beim Gebet dem Kreuz zuwenden kann. 299 1938 hat Stählin zwar nicht explizit die Trennung von mensa und retrodorsarium wiederholt, aber nochmals den mensa-, tumba- und ara-Charakter des Altars herausgestellt. Theologisch ist der Altar der "Grenzstein" für den Menschen, ein Protest "gegen die ins Grenzenlose schweifende Idee, gegen die Auflösung der christlichen Gestalt in unverbindliche Allgemeinheiten." 300 Weil der Mensch hier die Grenze des eigenen Machtbereichs erkenne, sei der Altar nicht einfach ein Tisch, um den man sich versammelt, sondern er sei "umwittert von dem Geheimnis des Todes." 301 Wird damit nochmals der tumba-Charakter gegen das alleinige mensa-Verständnis ins Spiel gebracht, so betont Stählin an dieser Stelle besonders, daß der Altar auch ara, Opferaltar ist, weil wir an ihm hineingezogen werden in das Opfer Christi, um den tiefsten Sinn alles Kultus zu vollziehen: "'gratiam referre', die Gabe Gottes zurückzubringen zu ihrem Schöpfer und Herren." 302 1 93 5 hatte Stählin einen
297 A.a.O., S. 85. 298 Ebd. Im Zusammenhang der Liturgiereform des Vaticanum II hat Friedemann MERKEL, Im Angesicht der Gemeinde, 1970, eindeutig für die celebratio versus populum votiert, gleichzeitig jedoch die Deutung des Altars als Opferaltar abgelehnt. Dies sei "nach allgemein-reformatorischer Auffassung ausgeschlossen" (a.a.O., S. 50). Hier nimmt Merkel auch kritisch gegen Odo Casels Mysterientheologie Stellung. Die eschatologische Ausrichtung des Gottesdienstes hebe Raum und Zeit gerade nicht auf, so daß von einer Gleichzeitigkeit mit dem "himmlischen Opfer" nicht gesprochen werden könne (a.a.O., S. 50, Anm. 2). 299 Vorlesung Liturgik 1936/37, S. 87. 300Der Altar im gottesdienstlichen Handeln, KuKi 1938, S. 7. 301 A.a.O., S. 8, 1. Sp. 302 A.a.O., S. 9, 2. Sp. Auch hier zitiert Stählin seine Lieblingszeile Luthers: "Dir uns lassen ganz und gar" (EKG 109) (a.a.O., S. 8, 2. Sp.)
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Gottesdienst zur Einweihung von Antependium, Kreuz und Leuchtern (in Düsseldorf-Rath) gehalten und Liturgie und Ansprachenstücke veröffentlicht. Bei diesem Gottesdienst ist der (steinerne) Altar anfangs völlig kahl und wird so als "Sinnbild unserer eigenen Armut und Blöße" gedeutet. 303 Unter Assistenz der Presbyter werden dann Altar, Lesepult und Kanzel mit dem Antependium belegt, es folgen Deutungen von Kreuz und Licht (Leuchter), bis schließlich die Altarbibel hereingebracht wird (Kollekte, Schriftlesung, Predigt und normaler Schluß des Gottesdienstes schließen sich an). Äußerst genaue Anweisungen zum Herrichten des Altars für Laien hat Stählin schließlich 1947 gegeben, unter Herausstellung des mensa-Charakters des Altars und Einschärfen von penibelster Sauberkeit. 304 Für gegenwärtige Altargestaltung wird gelten müssen, daß der mensaCharakter und die celebratio versus populum in einer Institutionen- und amtskritischen Gemeindeöffentlichkeit am meisten Plausibilität finden werden. Der tumba- und ara-Charakter des "Grenzsteins" Altar dürften eher homiletische Kategorien sein. Die an sich einleuchtende Kombination von reformierter Mensatradition und lutherischer Hochaltartradition in der Trennung von mensa und retrodorsarium, wie Stählin sie postuliert, ist symbolisch verwirrend, weil unklar bleibt, ob die im Kreuz symbolisierte Anwesenheit Christi innerhalb des kommunizierenden Kreises (Epiklese, Einsetzungsworte!) oder außerhalb vorgestellt ist bzw. wie beides zusammen gedacht werden kann.
Kirchenjahr Entspricht die genaue Reflexion von Kirchenbau und Altargestaltung dem Ernstnehmen der räumlichen "Leibhaftigkeit" des Kultus, so die Beschäftigung mit dem Kirchenjahr der zeitlichen "Leibhaftigkeit". Hier hat Stählin sich intensiv bemüht, der Zuordnung von kreisförmiger und zielgerichteter Zeit, von chronos und kairos, von Jahreszeit und Christuszeit angemessen Gestalt zu verleihen. Es handelt sich dabei um einen Spezialfall des Stählinschen Bemühens, die Schöpfungsrealität mit der biblischen Eschatologie zusammenzudenken. Erkennbar wurzelt dieser Ansatz im Naturerleben der Jugendbewegung, was bereits im ersten Jahrgang (1924) der Herausgabe des "Gottesjahres" durch Stählin zum Ausdruck kommt. Das Kirchenjahr wird als Thema gewählt, weil es nicht Erfindung kirchlicher Ordnung sei, sondern vielmehr geworden sei "aus einem lebendigen Gefühl [...] für den heimlichen
303 Gottesdienstliche Feier bei der Einweihung eines neuen Altarschmuckes, MGKK 1935, S. 302. 304Das Amt des Laien in Gottesdienst und kirchlicher Unterweisung, 1947 [1941], S. 18-22.
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Rhythmus des göttlichen Lebens."305 In diesem Buch (worin er - wie erwähnt - auch mit den selbst formulierten Wochensprüchen beginnt306) schreibt Stählin über Advent, Fastenzeit, Karfreitag und Dreifaltigkeit und setzt dabei die für ihn typischen Akzente. So votiert er für das Fasten, weil es keine äußerlichen Dinge gebe: "es dringt alles Äußere in das Innere, und was wir tun mit dem Leib, das erfährt und bewahrt die Seele."307 Stählin sieht am Karfreitag "das Geheimnis der Welt enthüllt und bloß"308, so daß dieser zu Recht im Mittelpunkt des Kirchenjahres stehe. Trinitatis wird gedeutet als das Fest der Fülle im Sommer. Dann "strömt uns durch Blut und Denken und Ahnen die große Einheit alles Lebendigen."309 Explizit wird die Natur als "Gleichnis" Gottes bezeichnet, wobei die "Fülle" und das für Menschen nie ganz Faßbare die Vergleichspunkte darstellen: "Blumen und Kreuz und Sterne und Liebe und Sonne und Gnade: der dreifaltige Gott hält alle Fülle in seinen ewigen Händen."310 Geht Stählin 1924 noch von Trinitatis als dem Beginn der zweiten, festlosen Hälfte des Kirchenjahres aus, so ist die zehn Jahre später zusammen mit dem Hamburger Hauptpastor Theodor Knolle verfaßte Denkschrift Das Kirchenjahr gerade von dem Bemühen geprägt, die große Zahl der Trinitatissonntage durch die Etablierung neuer Festzeiten zu strukturieren. (Die Denkschrift wurde gemeinsam von der Niedersächsischen Liturgischen Konferenz und vom Berneuchener Kreis verantwortet.311) Der Verfall des Kirchenjahres in der evangelischen Kirche wird zwar als Spezialfall der "Auflösung gottesdienstlicher Formen" apostrophiert312;
305 Das Gottesjahr 1924, S. 18. Kulturpessimistisch beklagt Stählin den Verlust des naturhaften Jahresrhythmus: "blühende Maiglöckchen um Weihnachten, konserviertes Herbstlaub im Frühjahr und Eispaläste mit Schlittschuhlauf im Juni!" (S. 17) 306 Als ein weiteres Beispiel der Spruch für die Woche nach Weihnachten in Anlehnung an die Nietzsche-Rezeption in der Jugendbewegung: "Der Übermensch ist die Verheißung des Reiches Gottes, der Gottesmensch ist seine Erfüllung." (S. 16) 307 A.a.O., S. 61. 308 A.a.O., S. 70. Der hier eher zufällig (und nicht wie 1936 programmatisch) begegnende Begriff des "Geheimnisses" ist deutlich von Rudolf Otto beeinflußt, indem vom "mysterium tremendum" die Rede ist (ebd.; vgl. R. OTTO, Das Heilige, 1987 [1917], Abschnitt 4., S. 13-37 unter der Überschrift "Mysterium tremendum (Momente des Numinosen II"). - Ein Bezug zu Karl Barth erhellt aus Stählins Satz: "Und was man in der Welt so 'Religion' nennt, ist meist nichts als ein Versuch, sich den Blick auf die Wirklichkeit Gottes irgendwie zu versperren." (A.a.O., S. 71.) 309 A.a.O., S. 103. 310 A.a.O., S. 102. 311 Theodor KNOLLE/Wilhelm STÄHLIN, Das Kirchenjahr, 1934, S. 5 f. (Vorwort). 312 A.a.O., S. 7; damit klingt der Titel des zweiteiligen Werkes von Paul GRAFF: Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands (Bd. 1/1921, Bd. 2/1939) an. Vgl. dazu Jochen CORNELIUSBUNDSCHUH, Liturgik zwischen Tradition und Erneuerung, 1991, S. 166-213, wo das
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trotzdem wird der Traditionalismus verworfen: "Lebendige und leibhafte Form ist nicht dasselbe wie Ritualismus." 313 Ebenso wird die Füllung des Kirchenjahres "durch humanitäre oder völkische Anliegen abgelehnt (z.B. Volkstrauertag, Muttertag, Vatertag) 314 , auch die Füllung durch kirchliche Themen (Mission, Frauenhilfe, Posaunensache). 315 Allein Kreuz und Auferstehung Christi in ihren verschiedenen Dimensionen können als "heilige Monotonie" der Maßstab jeden Gottesdienstes und des Kirchenjahres sein: "Dieses Evangelium entfaltet sich nach seinen verschiedenen Seiten, so wie eine Knospe sich entfaltet zur Blüte in dem Wunderwerk ihres reich gegliederten Organismus. Die eine Wahrheit will leibhafte Gestalt werden in dem lebendigen Rhythmus ihrer inneren Bewegung." 316 In typisch Stählinscher Begrifflichkeit ist das Kirchenjahr als zeitliche Verleiblichung des Evangeliums in lebensphilosophischen Kategorien beschrieben und damit zwischen 1. und 2. Glaubensartikel verortet. Das Kirchenjahr folgt zunächst dem Rhythmus des menschlichen Lebens und des Jahres. 317 Weil die Schöpfungswelt jedoch gefallene Schöpfung ist, kann sie nur "ein Gleichnis sein, ein Hinweis auf die neue Ordnung der Dinge, die in Christus angebrochen ist." 318 Dies entspricht dem in Abschnitt 4.1. geschilderten Lebensbegriff Stählins nach der Auseinandersetzung mit der Sündenlehre, wie er endgültig 1936 ("Vom göttlichen Geheimnis") vorliegt. Das Kirchenjahr soll den eschatologischen Einbruch des Christusgeschehens in den Kreislauf des Jahres widerspiegeln. Damit jedoch muß das ganze Kirchenjahr Christusjahr sein, und die Aufteilung in ein Halbjahr Christi ("festliche Zeit") und ein Halbjahr der Kirche ("festlose Zeit") ist aufzugeben.31® Vielmehr ist das Kirchenjahr die liturgische Darstellung des Christusweges, so "daß Christus uns in seinen Weg hineinzieht."320 Der von Knolle und Stählin vorgelegte Vorschlag zu den Texten sucht die altkirchlichen Perikopen aufzunehmen, aber nicht als alleiniges Konstruktionsprinzip gelten zu lassen. Aus den alten Perikopen wird ein "Sonntagsthema" ("Leit-Wort", "Leit-Bild") geschöpft. 321 Die Trinitatiszeit soll in "Johanniszeit" (Kirche der Heiligung), "Michaeliszeit" (Kirche des Werk in den Kontext konservativer Aufklärungskritik in den dreißiger Jahren gestellt ist. 313 A.a.O., S. 11. 314 Ebd. 315 A.a.O., S. 13. 316 A.a.O., S. 23. 317 A.a.O., S. 24. 318 A.a.O., S. 29. 319 A.a.O., S. 33. 320 A.a.O., S. 35. 321 A.a.O., S. 40 ff.
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Kampfes) und "Endzeit" (Kirche der Hoffnung) gegliedert werden. 322 Solange das Osterfest nicht festgelegt werde, müsse hierbei auf die Durchzählung der Trinitatissonntage verzichtet werden. Dann habe nur noch die Pfingstzeit (zwischen Ostern und Johannis) einen sehr schwankenden Umfang. 323 Wenn sich nach dem 2. Weltkrieg auch einige Impulse dieses Vorschlages durchgesetzt haben (Leitbilder der verschiedenen Sonntage, orientiert an den altkirchlichen Evangelien und den - 1972 stark revidierten - altkirchlichen Episteln 324 , notwendiges Vorkommen des letzten Sonntags nach Epiphanias und der drei letzten Sonntage im Kirchenjahr), so war der eigentliche Impuls, die Trinitatiszeit als Christuszeit von einzelnen (Heiligen-)Gestalten her zu gliedern, wiederum zu sehr binnenkirchlich gedacht, als daß er hätte konsensfahig sein können. Die fehlende volkskulturelle Tradition im evangelischen Bereich und die bundesweit von Mitte Juni bis Anfang September verteilte Ferienzeit machen eine Strukturierung über einzelne Sonntage hinaus (Israel-Sonntag am 10. nach Trinitatis, Erntedankfest) wenig sinnvoll, jedenfalls soweit diese als Impuls für die kirchengemeindliche Öffentlichkeit gedacht ist und nicht als Spezifikum für liturgisch/kirchenmusikalisch herausgehobene Gemeinden oder für Bruderschaften/Kommunitäten. 325
Kasualgottesdienste Besonderes Interesse hat Stählin dem volkskirchlichen Kasualgottesdienst Konfirmation mit allen seinen ekklesiologischen und pädagogischen Implikationen entgegengebracht. Eine liturgische Neuschöpfung im familiären Bereich ist die von Stählin mehrfach beschriebene Hausweihe. Diese beiden 322 A.a.O., S. 55. Eher abgelehnt wird das Begehen eines Jakobustages (25. 7.), erwogen wird der in einigen hannoverschen Gemeinden damals noch gefeierte Laurentiustag (10. 8.; s.S. 50-54). 323 A.a.O., S. 56. 324 S. Frieder SCHULZ, Art. "Perikopen", 1992, Sp. 1126. 325 Von daher werden auch die u.a. von Stählin entwickelten Gestaltungen der Karwoche (s. Über das Begehen der Heiligen Woche, EvJ 1936/37 und Vom Begehen der Passion, 1938) mindestens aus heutiger Sicht kritisch zu beurteilen sein. Wenn hier jeden Tag zweimal Gottesdienst gefeiert, die Passion vollständig nach allen vier Evangelien gelesen und die Beichte der Gemeinde gefeiert werden soll, kann man sich nur fragen, wie weit das von der Lebensrealität im "3. Reich" entfernt gewesen sein mag. So wird man mit Manfred JOSUTTIS urteilen müssen: "Daß sie die gesellschaftlichen Voraussetzungen des liturgischen Verfalls nicht radikal genug berücksichtigt haben, ist das elementare Defizit aller liturgischen Bewegungen in diesem Jahrhundert." (Der Weg in das Leben, 1991, S. 39, Anm. 97.) Auch Heinz-Dietrich WENDLAND, Wege und Umwege, 1977, S. 138 kritisiert im nachhinein die Michaelsbruderschaft so: "Als Sozialethiker hatte ich aber immer das Schicksal des Menschen in der säkularen Industriegesellschaft im Auge."
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Kasus sollen darum zuerst und etwas ausführlicher dargestellt, die anderen nur schlaglichtartig beleuchtet werden. In seinen Lebenserinnerungen berichtet Stählin, wie er bereits in seinem ersten Pfarrdienst 1906 nicht nur "irre geworden [sei] an dem Sinn und Nutzen" des Konfirmandenunterrichts, sondern erst recht an der Konfirmation: "Diese Eindrücke meiner ersten Konfirmation haben mich ein für allemal davon überzeugt, daß solche Massenkonfirmationen in unseren volkskirchlichen Riesengemeinden ein grober Unfug und ein tiefer Schaden sind, der durch keine theologischen Spitzfindigkeiten entschuldigt oder gerechtfertigt werden kann." 326 Konfirmandenunterricht und Konfirmation fanden damals in den Nürnberger Arbeitergemeinden in heute unvorstellbaren Dimensionen statt. So wurden in Stählins Gemeinde Steinbühl-Nürnberg (hier war er 1907/08 Hilfsprediger) z.B. 1907 - nach einem von Advent bis Palmarum dauernden Unterricht bei drei Pfarrern - 189 Jungen und 246 Mädchen konfirmiert. 327 Trotzdem wurde nicht daran gezweifelt, daß die Jungen und Mädchen "versprechen sollen, daß sie ihrem Heiland die Treue halten wollen." 328 In der späteren Nürnberger Konfirmandenarbeit von 1919-1925, die Stählins eigenen Angaben zufolge das Schönste in der gesamten Berufstätigkeit war 329 , half sich Stählin, indem er die Formulierung der Konfirmationsfragen in jedem Jahr mit den Gruppen neu verabredete und später ganz darauf verzichtete. Als Bekenntnis ließ er im Wechsel mit den Jugendkreisen Luthers Te Deum singen. 330 Hieraus spricht einerseits ein sehr freier Umgang mit der Agende 331 , wie er im Nürnberger freien Protestantismus möglich und üblich war, andererseits jedoch auch große liturgische Phantasie und gemeindepädagogisches Gespür, indem die Jugendkreise als entscheidender Kontext für das konfirmierende Handeln der Gemeinde in den Konfirmationsgottesdienst einbezogen sind. Diesen Zusammenhang hat Stählin auf der zweiten Konferenz für Kirche und Jugendbewegung am 23. 9. 1923 dargelegt. 332 Das Besondere ist 326 Via Vitae, 1968, S. 75. Damals war Stählin für 6 Wochen in der Gemeinde Nümberg-Gostenhof (Frühjahr 1906). 327 Einiges aus dem kirchlichen Leben der SteinbUhler Gemeinde im Jahre 1907, 1908 (Januar), S. 1. Noch mehr Konfirmanden - bis zu mehr als 600 pro Pfarrer! - hatte es schon 1900 in Hamburg gegeben, s. M. MEYER-BLANCK, Wort und Antwort, 1992, S. 5 7 . 328 Der Konfirmandenunterricht, 1907, S. 1. 329 Via Vitae, 1968, S. 171. 330 A.a.O., S. 173. Seine eigene Konfirmation hatte sich Stählin "tief eingeprägt" (a.a.O., S. 19). 331 In der bayrischen Agende von 1920 waren drei alternative Konfirmationsformulare angeboten, die aber alle drei sowohl Bekenntnis als auch Gelübde enthielten (s. M. MEYER-BLANCK, Wort und Antwort, 1992, S. 169 f.). 332Konfirmandenunterricht und Konfirmation, CuW 1923, S. 70-72. In bezug auf diesen Vortrag ist Erich NESTLER, Der Beitrag Wilhelm Stählins zur Jugendbewegung,
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neben dem Bezug zur Jugendarbeit der Ansatz, die Konfirmation entwicklungspsychologisch zu begründen - etwas damals gänzlich Ungewöhnliches. Der Jugendliche stehe in den Jahren des Übergangs von der Kindheit zur Reife vor einer dreifachen Aufgabe: Er müsse ein Selbstkonzept, ein Gemeinschafltskonzept und ein Weltkonzept für sich erarbeiten. Am besten wären darum "drei zeitlich von einander getrennte Feiern" etwa zwischen dem 13. und 20. Lebensjahr, welche diese drei Aufgaben thematisierten. 333 So dies durch die Sitte der Konfirmation unrealistisch sei, habe diese der dreifachen Entwicklung Ausdruck zu verleihen und "dadurch der Jugend eine wertvolle Entwicklungshilfe" zu geben. 334 Der Unterricht hat darauf hinzuführen und muß dazu in einer Lebensgemeinschaft (Ferienlager) erfolgen. Bei der Konfirmation selbst kann ein realer Gemeindebezug in den Städten nur durch die Aufnahme in die bestehende Jugendgemeinde verwirklicht werden. 333 Dies erfordert die liturgische Präsenz der Jugendgemeinde beim Konfirmationsgottesdienst. Ein allgemeines kirchliches Gelübde, an dessen Erfüllung sie selbst nicht glaubt, ist "eine der schwersten Verschuldungen der evangelischen Kirche." 336 Eine Verpflichtung kann nur innerhalb des Jugendlebens und innerhalb der Jugendgemeinde festgemacht werden, ist als solche aber auch unentbehrlich. Die entwicklungspsychologische und gemeindepädagogische Konsequenz dieses Konfirmationsverständnisses ist beeindruckend. Zwar wird hiermit nicht das grundsätzliche theologische Problem des Gelübdes überwunden 337 , aber die Konfirmation gewinnt konkretes gemeindliches Profil, indem sie in Analogie zum verpflichtenden Eintritt in den Jugendbund verstanden wird. Daß dies die realen Möglichkeiten für die Mehrzahl der Jugendlichen in der volkskirchlichen Gemeinde übersteigt, liegt auf der Hand (schon wegen der begrenzten Kapazitäten der Jugendgemeinde, besonders wenn sie als "Lebensgemeinschaft" verstanden wird). Dennoch ist der beschrittene Weg bis heute richtig, insofern sich das konfirmierende Handeln der Gemeinde an der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen wie an den eigenen - tatsächlich bestehenden - Möglichkeiten, Jugendlichen einen Lebensort anbieten zu können, orientieren muß. Alle allgemeinen kirchlichen und moralischen Prinzipien und "Verpflichtungen" drohen - zumal im Jugendalter - den Charakter ungedeckter Schecks anzunehmen. An dieser Stelle hat das Prin1986, S. 192 voll beizupflichten, wenn er Stählin eine "problemorientierte" Jugendarbeit zuschreibt, die ihrer Zeit voraus war. 333 A.a.O., S. 70, 2. Sp. 3 3 4 Ebd. 335 "Die dörfliche Gemeinde ist in den meisten Fällen wirklich die Gemeinschaft, in die die Jugend aufgenommen wird und hineinwächst. In den Städten, zumal in den Großstädten, existiert die 'Gemeinde' vielfach nur in der Phantasie der kirchlichen Bureaukratie, [...]". (A.a.O., S. 71, 2. Sp.) 336 A.a.O., S. 72, 1. Sp. 3 3 7 D a z u s. M . MEYER-BLANCK, W o r t u n d A n t w o r t , 1 9 9 2 , S. 2 2 7 - 2 2 9 u n d 2 5 7 - 2 6 1 .
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zip der Wahrhaftigkeit Stählin zu einem weiteren Vorstoß in die richtige Richtung verholfen. Mehr als zwei Jahrzehnte läßt sich dann kaum etwas bei Stählin zur Konfirmation finden338, bis er als Oldenburger Bischof 1946 in einem Rundschreiben an die Pfarrer ein eigenes Konfirmationsformular ohne Bekenntnis und Gelübde ausgehen läßt. 339 In dem Brief beklagt Stählin zunächst die "objektive Unwahrhaftigkeit der Kirche, die mit der volkskirchlichen Konfirmation in der bisherigen Form eine Fassade baut, hinter der kein Haus mehr steht." Hier helfe nur der Verzicht auf Bekenntnis und Gelöbnis und stattdessen die Einladung, als Konfirmierte in das Bekenntnis der Kirche einzustimmen. Eine dementsprechende Ordnung teilt Stählin in der Anlage mit. Daneben rät er zu einer Trennung von Konfirmation und Abendmahlsfeier, um eine "Zwangskommunion" zu vermeiden. Das Konfirmationsformular besteht hauptsächlich aus einer breiten Anrede an die Konfirmanden (nach Votum, Psalm 1, Gloria patri 340 , Lied EKG 103, Ansprache). Es wird an die Taufe erinnert, die Stellung des Jugendlichen in Kirche und Gemeinde angesprochen und der Gemeinde ihre Verantwortung für die Jugend eingeschärft. Es folgt eine Überleitung zum von der ganzen Gemeinde gesprochenen Credo. Nach dem Lied (EKG 152, 1. 2. 5) werden die Konfirmanden namentlich aufgerufen und erhalten bei gereichter Hand ihren Konfirmationsspruch. 341 . Dann folgt die Einsegnung mit einer Einsegnungsformel, die aus Bucers von 1539 (ohne das umstrittene "Nimm hin den heiligen Geist") und Phil 2,13 in optativer Form kombiniert ist342, die Handlung schließt mit Gebet, Vaterunser, Segen. Positiv ist an der Ordnung der völlige Verzicht auf das Konfirmationsgelübde und das Einstimmen in das Bekenntnis der Gemeinde zu werten. Kurios erscheint in dem Zusammenhang der Handschlag, welcher sonst gerade im 338Lediglich die kurze Betrachtung: Aussegnung oder Einsegnung?, 1936. Darin wiederholt Stählin: "Das Bekenntnis der Konfirmanden und das Gelöbnis ist eine schlimme Sache." (S. 49) und plädiert für den "altmodischen Eifer um die Wahrhaftigkeit" (ebd.). 339Brief über Konfirmation und Konfirmationsordnung vom 29. 1. 1946, Best.-Nr. Personen XVIII Stählin, 90, Landeskirchliches Archiv Nürnberg. Bei dieser Mitteilung ist es geblieben, ohne daß es daraufhin zu einem liturgischen Vorschlag in Gremien der Landeskirche gekommen wäre (s. Via Vitae, 1968, S. 464). 340In der antiochenischen Form "durch den Sohn in dem Heiligen Geiste", vgl.: Über das "Gloria patri", 1963 [1961], 341 In der Ordnung heißt es immer "die Konfirmandin", so daß es sich offensichtlich um die Ordnung einer stattgefundenen Privatkonfirmation durch Stählin handelt. 342 "Schutz und Schirm vor allem Argen, Kraft und Hilfe zu allem Guten verleihe dir der allmächtige und gnädige Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist. Er wirke in dir Beides, das Wollen und das Vollbringen, nach Seinem Wohlgefallen. Gehe hin in Frieden!" Zu den Einsegnungsformeln s. M. MEYER-BLANCK, Wort und Antwort, 1992, S. 33-37.
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Kontext des Konfirmationsgelübdes steht. 343 Kritisch ist jedoch anzumerken, daß die Konfirmanden hier während der Konfirmationshandlung völlig passiv bleiben 344 , was gerade dem Jugendalter wenig entsprechen dürfte. Mit diesem profilierten Vorschlag, der sich weit von der agendarischen Tradition entfernt, enden Stählins Äußerungen zur Lösung des Konfirmationsproblems. Man wird urteilen müssen, daß es sich trotz des Positiven um keine weiterführende Ordnung handelt, nicht nur wegen der Passivität der Konfirmanden, sondern auch, weil die verheißungsvollen entwicklungspsychologischen und gemeindepädagogischen Überlegungen von 1923 vergessen zu sein scheinen. Ist Stählins Ringen um die Konfirmation durch das Bemühen um die Verbindung von Jugendarbeit und Gemeinde charakterisiert, so besteht ein spezifischer liturgischer Impuls für Haus und Familie in der von ihm entwickelten Hausweihe. Diese hatte er "für Freunde in Nürnberg ausgedacht und gehalten". 345 Stählins Familie feierte die Hausweihe selbst 1926 in Münster 346 , 1947 wurde die Hausweihe in Oldenburg von Heinz Kloppenburg gehalten. 347 Über die Hausweihe hat Stählin auch - allerdings an entlegener Stelle - geschrieben. In seinem Bericht 1931 heißt es eingangs, daß sich in den Agenden Weihehandlungen zwar für einen erweiterten Friedhof, fur Glocken, ein neues Schulhaus und die militärische Fahnenweihe finden; "aber die Einweihung eines neuerbauten Hauses, in dem nun eine christliche Familie ihr Heim haben und ihr tägliches Leben fuhren soll, ist wohl eine zu weltliche Angelegenheit [...]. Das ist ja freilich ein betrübliches Zeichen dafür, wie sehr sich bei uns das 'gottesdienstliche' Leben der Kirche von der Gestaltung und dem Schauplatz der täglichen Lebensführung entfernt hat, und wie sehr dieses 'profane' Leben entheiligt und entgottet ist." 348 (Sein einziges Vorbild sei darum die Beschreibung eines Missionars von einer Hüttenweihe am Kilimandscharo gewesen.) Zur Hausweihe sind einige Freunde aus der Kirchengemeinde eingeladen, um die Verbundenheit von Haus und Gemeinde darzustellen und auszusprechen.
343 Etwa in der Lauenburger Kirchenordnung von 1585, s. M. MEYER-BLANCK, a.a.O., S. 42 f. 344Dies entspricht der von Heinrich RENDTORFF, Konfirmation und Kirche, 1928, S. 52 f. angebotenen Ordnung. Dort spricht allerdings auch der Pastor allein das Credo, so daß schon 1933 kritisiert wurde, es gehe nicht an, daß man die Konfirmanden "durch die Konfirmation hindurchschiebt wie einen Schrank durch einen Hausflur." (zit. nach M. MEYER-BLANCK, a.a.O., S. 205.) 345 Via Vitae, 1968, S. 201. 346 A.a.O., S. 200. 347 A.a.O., S. 423. 348 Rede zu einer Hausweihe, 1931, S. 100.
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Zunächst wird im Wohnzimmer "Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren" gesungen, und der Pfarrer überbringt die Grüße der Gemeinde an das Haus und seine Bewohner "als eine Zelle an dem lebendigen Leib der Gemeinde". 349 Anschließend gehen alle nach draußen, und der Hausherr nagelt unter Hilfe der Gäste den Hausspruch an (in diesem Falle Ps 31,16a "Meine Zeit steht in deinen Händen"), die Hausfrau bringt einen Kranz an, ein Chor singt "Wo Gott zum Haus nicht gibt sein Gunst" (EKG 194). Beim anschließenden Gang durch die Zimmer sagt in jedem Raum jeweils ein Gast einen Spruch und überreicht ein jeweils passendes Geschenk (z.B. Korb für die Küche). Dann werden im Eßzimmer Brot und Wein geteilt, und die Hausgemeinschaft wird von der eucharistischen Gemeinschaft her gedeutet. Schließlich wird gegessen und die Feier mit einer Liedstrophe (hier: EKG 228,2) beendet. 1934 hat Stählin die Hausweihe noch stärker liturgisch durchgestaltet. 350 Jetzt beginnt die Feier an einem christlichen Holzschnitt im Wohnzimmer, welcher mit Kerzen und Blumen als ein Hausaltar fungiert. Hier werden Votum und Ps 127,1-2 gesprochen, der Pfarrer hält eine freie Ansprache. Danach erst bringt einer der Gäste eine Altarkerze der Kirche herein und entzündet damit die Kerzen des Hausaltars; sodann wird gesungen (EKG 194), es folgen Gebet und Ps 121,7+8 (pluralisch) als Segen. Beim anschließenden Gang durch die Zimmer gehen zwei Gäste mit brennenden Kerzen als Diakonen vor dem als Liturg agierenden Pfarrer. Die Weihe jedes einzelnen Raumes erfolgt dann in ähnlicher Form: Votum (aus Ps 124,8 und Ps 103,2) - Schriftwort - [Zeichenhandlung] - Gebet - Segen (Ps 121,7+8, pluralisch). Als Zeichenhandlung wird dabei im Eßzimmer vom Hausherrn ein Kreuz in ein Brot geschnitten und anschließend Brot und Wein an die Gäste verteilt. Auch hier endet die Hausweihe mit einer Liedstrophe (EKG 228,2). Wenn die konkrete Ausprägung dieser Hausweihen (besonders in der starken liturgischen Stilisierung 1934) auch den Hintergrund geprägter kirchlicher Tradition voraussetzt und so nicht übernehmbar ist (die Hausweihe 1934 wurde für Freunde aus dem Berneuchener Kreis konzipiert), sollte über die Anregung als solche jedoch nicht hinweggegangen werden. Die Kasualgottesdienste haben über die einzelnen (Getauften, Konfirmierten, Getrauten) zwar das familiäre Umfeld im Blick, nicht aber den Lebensort der Familie. (Der Kasus der Haustaufe ist nur dann negativ zu werten, wenn er in Familien ohne Gemeindebezug steht, was allerdings zunehmend der Fall und für die Abschaffung der Haustaufen ursächlich war.) Predigt, Unterricht und Seelsorge richten sich ansonsten immer an den Einzelnen oder an die Gemeinde, nicht an Familien als solche. Gerade in Zeiten zunehmender Individualisierung wachsen jedoch die Belastungen der Familien, so daß eine 349 A.a.O., S. 102. 350 Eine Hausweihe, EvJ 1934, S. 116-122.
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begleitende Segenshandlung sehr wohl angebracht und von vielen sicher gern angenommen wäre, zumal ein Umzug einen wirklichen Lebenseinschnitt bedeutet. In Zeiten steigender Mobilität könnte die Hausweihe eher die Form eines - zurückhaltend gestalteten - Erstkontaktes zwischen Familie und Kirchengemeinde annehmen, bei bestehenden Beziehungen (Umzug innerhalb der Gemeinde) aber auch in analoger, zeitgemäßer Form wie bei Stählin erfolgen. Stählins Anregungen fur die anderen Kasualgottesdienste sind eher gering gewesen. Es wurde bereits darauf verwiesen, daß die Taufe in seinen Veröffentlichungen so gut wie keine Rolle spielt.351 Einmal hat sich Stählin 1928 zum Kindergottesdienst geäußert. 352 Hier betont er zweierlei: Der Kindergottesdienst ist Aufgabe der Gemeinde und die Gemeinde ist Aufgabe des Kindergottesdienstes (so die Überschriften zu den beiden Teilen der Thesenreihe). Zwar wird auch schon damals von Stählin "die lehrhafte Aufgabe" des Kindergottesdienstes wegen des Fehlens oder Versagens des Religionsunterrichts genannt353, dann aber doch die Liturgie als das Wichtigste hervorgehoben: "Der eigentliche Dienst der Gemeinde an ihren Kindern ist aber nicht die Lehre, sondern das gottesdienstliche Leben als das entscheidende Lebenszeugnis der Gemeinde." 354 Der Gottesdienst der Kinder soll wirklicher Gottesdienst sein, und die Gegenüberstellung von Gemeindegottesdienst und Kindergottesdienst ist von daher bedenklich. Die Gemeinde als "Aufgabe des Kindergottesdienstes" darf nicht im Sinne von Rekrutierung von Kindern für kirchliche Zwecke gedeutet werden, weil jeder Gottesdienst seinen Sinn in sich selber trägt. Es soll aber im Kindergottesdienst die Erfahrung von Gemeinde geben durch die Überwindung intellektueller und sozialer Unterschiede innerhalb der Gruppen, so daß es zu einem "Gemeindegottesdienst der Kinder " kommt. 355 Mit der liturgischen Kindergottesdienstkonzeption ist Stählin wiederum eher seiner Zeit voraus, wenn diese geschichtlich zwischen 1930 und 1965 vorherrschend war 356 , bis über die empirische Wende in der Religionspädagogik das Kind in den Mittelpunkt des Nachdenkens über den Kindergottesdienst trat und die Liturgie eher vernachlässigt wurde. 357 Die Rückgewinnung einer liturgischen Kindergottesdiensttradition ist angesichts - zwar
351 Vgl. aber unten (Abschnitt 5.1.) das Thema Taufe in der homiletisch-liturgischen Sozietät im WS 1935/36. 352Leitsätze des Vortrags über "Gemeinde und Kindergottesdienst", 1928. 353 A.a.O., S. 91. 354 A.a.O., S. 92. 355 A.a.O., S. 93. 356 Carsten BERG, Gottesdienst mit Kindern, 1987, S. 124-143. 357 A.a.O., S. 163.
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hauptsächlich nur absolut und nicht prozentual - zurückgehender Kinderzahlen358 eine wichtige und keineswegs leichte Gemeindeaufgabe. Im Zusammenhang der Entwicklung von Stählins Liturgik bis 1930 aus den Erfahrungen der Jugendarbeit war bereits kurz von seiner Konzeption von Schulandachten die Rede. An dieser Stelle ist noch auf den sehr ausfuhrlichen Aufsatz Über Schulandachten von 1928 hinzuweisen. Ähnlich wie bei Jugendbewegung, Singbewegung und Kindergottesdienst warnt Stählin vor einer kirchlich-gemeindlichen Vereinnahmung von Schülerinnen und Schülern bzw. der Institution Schule. Ein für damalige Zeiten bemerkenswertes Differenzierungsvermögen spricht aus dem Prinzip: "Nicht von irgendwelchen kirchlichen Gesichtspunkten aus ist die Schulandacht zu beurteilen und zu gestalten; [...] auch nicht etwa von dem Gebetsleben des Christen auszugehen, sondern von den Lebensnotwendigkeiten und Lebensformen der Schule." 359 Auch hier hat Stählin um der besseren Realitätswahrnehmung willen einen Fragebogen in nicht systematischer Weise "an etwa vierzig zum größten Teil mir persönlich bekannte Schulleiter und Lehrer" 360 verschickt. Er bekam 113 Antworten, vor deren Überschätzung er (mit Hinweis auf seine Kenntnisse der Problematik durch die religionspsychologische Forschung) ausdrücklich warnt. 361 Stählins daraus abgeleitete Kritik und Forderung ist deutlich von der Erfahrung in der Jugendarbeit geprägt, wenn es in bezug auf die Form bei Jugendlichen heißt, für Jugendliche seien "diese stereotypen Schulandachten, diese formulierten Schulgebete [...] ganz von Übel"362, denn Langeweile sei das Schlimmste im Umgang mit Jugendlichen. Wichtig sei stattdessen "das
358 Vgl. Christian GRETHLEIN, Kindergottesdienst heute, PTh 1988, bes. S. 347-349. Die Kindergottesdienstkinder werden allerdings immer jünger (S. 348). 359Über Schulandachten, 1928, S. 28. Für eben diesen situativ-institutionellen Ansatz heute sei nochmals hingewiesen auf Elsbe GOBMANN/ Reinhard BÄCKER, Schul-Gottesdienst, 1992. 360 A.a.O., S. 29; vgl. den Fragebogen zur Singbewegung. 361 A.a.O., S. 30. Die Ergebnisse in Stichworten: Vorschriften über Schulandachten sind nirgends bekannt (S. 30); im Süden Deutschlands spielt die Schulandacht eine geringere Rolle als im Norden (S. 31); die Andachten werden nur von Pfarrern, Religions- und evtl. Klassenlehrern vorbereitet und gehalten (S. 33 f.); freie Auslegung ist in Norddeutschland häufig, in Süddeutschland sehr selten (S. 35), ebenso steht es mit dem freien Gebet (S. 49); fast nie wird die Andacht ganz durch Schüler, noch seltener durch Schülerinnen gehalten (S. 52); öfter beteiligen sich die Jugendlichen jedoch an der Lied- und Textwahl. Der Eindruck betr. der Wirkung von Andachten auf die Schülerinnen und Schüler ist deutlich negativ (S. 54), alles kommt auf die Personen an: "Freie Ansprachen beliebter und geschätzter Lehrer werden höher bewertet als jede andere Form der Andacht." (S. 56) 362 A.a.O., S. 57.
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Zeugnis der freien Rede" 363 und die Beteiligung der Jugendlichen sowie die Gestaltung als "Kultus", also "die Wahrung des religiösen Charakters der Andacht."364 Die Aufgabe bestehe darin, liturgisch zu lernen, ohne bestimmte Formen zu lernen und darüber hinaus nicht in der Ertüchtigung zu irdischen oder kirchlichen Zwecken, sondern es gehe um "die Bildung des Menschen, den Gott zu seinem Bild geschaffen hat." 365 Ähnlich wie bei dem Aufsatz über Konfirmandenunterricht und Konfirmation wird man hier von einem "großen Wurf' sprechen müssen. Das Ausgehen von der Institution und der empirische Ansatz ermöglichen einen Zugang zum Problem Schulandacht über die Lebensrealität der Jugendlichen, und der Kultusbegriff repräsentiert Stählins sich entwickelnde Liturgik, die für den "Selbstzweck" des Gottesdienstes gegen jegliches Moralisieren steht. Die praktischen Hinweise (freie Rede, Beteiligung der Jugendlichen) sind bleibende Prinzipien, die bis heute z.T. nur theoretisch anerkannt, aber nicht umgesetzt sind. Die Fokussierung durch den Bildungsbegriff - entgegen einer institutionalen Engführung durch Schule, Staat, Kirche, übergeordnete Prinzipien - hat Anschluß an die neueste religionspädagogische Diskussion. Über Stählins Hochschätzung der Ehe und seinen Vorschlag, die Trauung als Brautmesse zu feiern366, ist im Abschnitt 4.3.2. bereits gehandelt worden. Darüber hinaus hat Stählin sich zur Trauung liturgisch wenig geäußert. In dem Sammelband "Der Kampf um die Ehe" 1929 hat er die Wichtigkeit von Schriftlesungen besonders hervorgehoben 367 und die Traupredigt sehr gering eingeschätzt. Wenn die Bibelworte gut ausgewählt sind, "bedarf es daneben eigentlich nicht einer besonderen Rede." 368 Außerdem legt Stählin Wert darauf, daß die Trauringe beim Einzug in die Kirche durch einen Freund des Bräutigams oder der Braut vorangetragen werden. 369 Später versteht Stählin die Trauung fast sakramental als "Abbild des göttlichen Geheimnisses" 370 , 363 A.a.O., S. 59. "Jedes Buch, aus dem vorgelesen wird, ist eine Wand, durch die die Stimme des lebendigen Menschen nur mehr dünn hindurchdringt." 364 A.a.O., S. 61, Hervorhebung dort. Stählin prangert vor allem den pädagogischen Mißbrauch des Gebetes an (Beispiel: "Lehre unsere Schüler erkennen, daß sie die Zufriedenheit ihrer Lehrer nur erwerben, [...] wenn sie sich [...] einfügen in das, was in dieser unserer Anstalt [...] unverbrüchliche Regel und Ordnung ist [...]", S. 64). 365 A.a.O., S. 72. Zum Bildungsbegriff heute vgl. Karl Ernst NIPKOW, Bildung als Leb e n s b e g l e i t u n g u n d E r n e u e r u n g , 1 9 9 0 , S. 2 5 - 6 1 .
366 Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 125; Bruderschaft, 1940, S. 79. 367Die Trauung, 1929, S. 253-257. 368 A.a.O., S. 257. 369 A.a.O., S. 262. - In dem gleichen Sammelband hat Stählin übrigens davor gewarnt, die Schwierigkeiten einer (ev.-kath.) Mischehe zu unterschätzen. Es gehe nicht nur um "eine Sache der religiösen Überzeugung", welche "mit all den Lebensbereichen, in denen die Eheleute miteinander verbunden sind, wenig oder nichts zu tun hätte." (Die Mischehe, 1929, S. 160 f.) 370 Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 125. Ausdrücklich zitiert Stählin hier (wiederum ohne Quellenangabe) aus der Apologie der Augsburger Konfession (XIII,
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ohne jedoch über die Feier der Eucharistie hinaus liturgische Anregungen zu geben. Durch die Theologie des Mysteriums erhält auch die Beerdigung einen ganz spezifischen Akzent. Weil der Leib Christi nach Stählin nicht nur die Lebenden umfaßt, sondern auch die Heiligen371, Vollendeten und Verstorbenen, darum ist die Beerdigung nicht nur ein Handeln an den Lebenden, sondern auch an den Toten. In einer Predigt über Rom 14,1-9 1943 betont Stählin, der Tod reiße "nicht heraus aus der Gemeinschaft der Heiligen" 372 und definiert dementsprechend: "Die Kirche ist hüben und drüben. Wer in der Kirche lebt, lebt diesseits und jenseits der dunklen Schwelle." 373 In einem kleinen Aufsatz über die Bestattung widerspricht Stählin explizit der Auffassung, daß die Kirche "bei der Bestattung sich nur an die Lebenden wenden dürfte, um ihnen zu bezeugen, was der christliche Glaube von Tod und Auferstehung zu sagen hat." 374 Die Liturgie der Bestattung widerspreche jedoch selbst dieser Beschränkung, da hier am Toten gehandelt werde (Einsenken ins Grab, Erdwurf) und dieser sogar angesprochen werde ("Von Erde bist du genommen..."). Es sei auch falsch zu behaupten, das Gebet für die Verstorbenen widerspreche den Reformatoren. Demgegenüber insistiert Stählin darauf, daß zwar kein menschliches Handeln (Haß oder Ehrung) die Verstorbenen erreichen können; "aber in dem Gebet der Kirche dringt der göttliche Lebensstrom selbst zu den Heimgegangenen, weil diese Gebete zu Gott dringen, in dessen Hand auch sie ruhen." 375
Von den Sakramenten, BSLK, S. 294) den Satz: "Darum, so jemand will die Ehe ein Sakrament nennen, fechten wir es nicht hoch an." - Eine dem gänzlich widersprechende Schilderung volkskirchlicher Realität einer Trauung hingegen Via Vitae, 1968, S. 84 f. Die Schilderung ist zwar (wie die von Konfirmation und Beerdigung in der Steinbühler Zeit 1906-1908, S. 83-85) erschreckend, in ihrer mundartlichen Form aber auch witzig. 371 Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 94. 372Die Kirche hüben und drüben, 1943, S. 1. 373 A.a.O., S. 2. 374Die christliche Bestattung der Toten, EvJ 1940/41, S. 47. Damit steht Stählin auch gegen die gesamte gegenwärtige Diskussion um die Bestattung, ob diese nun von der dialektischen Theologie oder von der Seelsorgebewegung geprägt ist: s. dazu Friedrich-Wilhelm LINDEMANN, Seelsorge im Trauerfall, 1984, S. 9-60 den Überblick von G. Harbsmeier 1948 bis Y. Spiegel 1973. 375 A.a.O., S. 48. Wenig seelsorgerlich geprägt ist die hier hinzugefügte Begründung, nur so lasse sich die Verweigerung der Beerdigung eines Selbstmörders begründen, "der seinen Ort außerhalb dieser Gemeinschaft gesucht hat!" (Ebd.) Von seinen tiefenpsychologischen Kenntnissen her hätte Stählin wissen müssen, daß der Suizid (als eine Erscheinungsform von Depression) fast immer gerade darin sein Krank-
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Damit "wisse" die Liturgie noch, was die Lehre der Theologen nicht mehr wissen wolle, da diese nur die das Bewußtsein erreichenden Worte für wichtig halte. Die zunehmende Realität des Kriegstodes hat Stählin offensichtlich die Frage nach dem Verbleib der Toten mehrfach durchdenken lassen. In einem Vortrag am 12. 4. 1944 verleiht er der Befürchtung Ausdruck, daß bei der christlichen Hoffnung "der Tod als solcher sehr oft nicht ganz und unbedingt ernst genommen wird" 376 und stellt klar: "Nein, es geht nicht weiter. Es kommt keine 'Fortsetzung'." 377 Wie Stählin abgesehen von Vorträgen und Veröffentlichungen seelsorgerlich über das Thema sprechen konnte, zeigt ein Bibelstundenprotokoll vom 3 . 4 . 1945. Darin spricht er über die (nach eigener oder familiärer Auffassung) "ungläubig" Verstorbenen und fragt tastend, ob nicht die Möglichkeit bestehe, daß Gott "auch hinter der Todesgrenze den Menschen noch die Möglichkeit weiterer Entwicklung gönnen wird, die Möglichkeit, weiter zu lernen und weiter zu reifen?" 378 Wie in dem Aufsatz über die Bestattung (1940/41) mißt er dem Gebet für die Verstorbenen große Bedeutung zu (ohne allerdings hier von einem realen "Lebensstrom" zu sprechen wie in bezug auf das Gebet der Kirche als ganzer 1940/41): "Warum sollte eine fromme Mutter aufhören für ihr Kind zu beten, wenn es nicht mehr unter den Lebenden weilt? Dies Gebet wird am dringlichsten sein für die, die ohne Erkenntnis Christi aus diesem Leben gegangen sind."379 Einerseits ist hier festzustellen, daß Stählin mindestens dem Neuen Testament eher entspricht als kerygmatisch oder humanistisch orientierte Bestattungsliturgik 380 , die nur das Handeln an den Lebenden gelten läßt (und damit auch in der pastoralpsychologischen Ausprägung stark aufklärerisch orientiert ist). Andererseits besteht nur ein schmaler Grat zwischen dem kosmologisch-christologischen Realismus neutestamentlichen äonenübergreifenden Glaubens und einem allgemein-menschlichen Spiritismus, wie er in Zeiten heitssymptom hat, daß der Suizidale den Ort innerhalb der Gemeinschaft nicht mehr finden kann und nicht darin, daß er willentlich den Ort außerhalb sucht. 376 Gibt es ein Wiedersehen nach dem Tode?, 1944, S. 2. 377 A.a.O., S. 3. 378 Wie soll man über jene Verstorbenen denken, die nicht zur Erkenntnis Christi gekommen sind?, 1945, S. 2. 379 A.a.O., S. 3. 380 S.o. Anm. 374. - Man denke hier nur an das Phänomen der "Vikariatstaufe" in Korinth (1. Kor 15,29), die zwar zweifellos von der Naherwartung geprägt ist - was allerdings von fast allen neutestamentlichen Liturgien und Theologoumena gilt.
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zurückgehender Christlichkeit verstärkt Konjunktur hat. Untergründig spielen bei Stählin auch eine gewisse Neigung zu spiritistischen Phänomenen und die Beeinflussung durch die Anthroposophie mit.381 Als letzter Kasus ist die Einzelbeichte zu erwähnen, um die sich Stählin und die Berneuchener besonders bemüht haben - bis hin zum Konflikt und schließlichen schmerzlichen Bruch mit dem Mitbegründer der Michaelsbruderschaft, Ludwig Heitmann. 382 Die Veröffentlichung einer Ordnung nicht nur der Gemeinde-, sondern auch der Einzelbeichte 1936 markiert in diesem Zusammenhang einen erkennbaren Einschnitt, der länger vorher überlegt wurde. Bereits 1923 hatte Karl Bernhard Ritter (unter dem Titel "Der deutsche Dom", später Titel der Berneuchener Reihe liturgischer Ordnungen) ein Heft mit Formularen für Beichte, Abendmahl, Tages- und Nachtgebet ausgehen lassen. 383 Aber erst mit der Konsolidierung von Berneuchener Bewegung und Michaelsbruderschaft rückte die Beichte in den Bereich des Interesses. 384 In einem "Briefwechsel über die Beichte" 1934 schreibt Stählin von seinen Überlegungen, die Erfahrungen mit der Einzelbeichte (besonders auf den Berneuchener Freizeiten) zu veröffentlichen, furchtet aber, "die beste Form der persönlichen Beichte könnte in der Hand solcher, die keine persönliche Erfahrung in diesem Weg haben, doch nur eine Verführung sein."385 Er hoffe aber, daß sich "diese Form der streng-sachlichen Beichte" verbreite anstelle der formlosen Aussprache über Verfehlungen. 386 381 Vgl. den Bericht über die jahrelange Beteiligung an spiritistischen Sitzungen, Via Vitae, 1968, S. 175 f. Nicht nur Chr. Geyer hatte daran besonderes Interesse, erst recht in Fr. Rittelmeyers Lebenserinnerungen ist der Kontakt mit der Totenwelt eine unter dem Einfluß R . Steiners immer ausgeprägtere Linie (Friedrich R I T T E L M E Y E R , Aus meinem Leben, 1937, S. 29. 125. 173 f. 182 f. und ders., Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner, 1928, S. 15. 120 ff. 159). Schon 1909 hatte Rittelmeyer über die Beerdigungsansprache geschrieben: "Daß wir doch in Lob und Tadel nie ein Wort sprächen ohne zu prüfen, was wohl der Verstorbene von der anderen Welt aus dazu denken mag!" (Der Pfarrer, 1909, S. 73.) 382 Via Vitae, 1968, S. 338 f.: Der Konflikt eskalierte 1943, im Herbst 1945 trennte sich Heitmann von der Bruderschaft, s. Hans Carl von HAEBLER, Geschichte der evangelischen Michaelsbruderschaft, 1975, S. 70-72. 383 Hans Carl von HAEBLER, a.a.O., S. 218. 384 Wie dargestellt, verdankt Stählin der Entdeckung des "Schuldgefühls der modernen Jugend" entscheidende Impulse für die Durchbildung seines Schlüsselbegriffs "Leben" (s.o. Abschnitt 4.1.), gleichwohl war er der Meinung, die Erfahrung von Schuld und Vergebung sei "im Wesentlichen die Sache des reifen Menschen und [...] der Jugend nicht in ihrer ganzen Tiefe zugänglich." (Jugend und Gemeinde, 1928, S. 143.) 385 Ein Briefwechsel über die Beichte, EvJ 1933/34, S. 53. 386 Ebd. - In einer Predigt über Mt 16,13-20 am 18. 11. 1934 bringt Stählin den kirchlichen Auftrag zur Übung der Einzelbeichte und zur öffentlichen Ansage der Wahrheit in Zusammenhang: "Das ist der Kirche aufgetragen und wehe ihr, wenn sie diesem Ruf untreu wird aus irgend einer Unsicherheit oder Menschenfurcht." (Predigt über Mt 16,13-20, 1934, S. 4 f.)
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4. Leben, Leib und Liturgie als Schlüsselkategorien
1936 erschien dann aber doch Die Ordnung der Beichte mit dem ersten Teil "Die Beichte des einzelnen Christen". 387 In der Einleitung zu der Ordnung wird festgestellt: - die Einzelbeichte ist ein "kultischer Akt"; - jeder Christ kann Beichte hören und Absolution spenden, u.a. wegen des Beichtgeheimnisses wird es aber in der Regel doch der Pfarrer sein; - ein seelsorgerliches Gespräch (oder mehrere) hat vorauszugehen; - am besten erfolgt die Beichte in einer besonderen "Beichtkammer", da Studierzimmer, Kirche, Sakristei ungeeignet sind; - die Beichte soll nicht mit Blick auf den Pfarrer, sondern mit Blick auf Kreuz/Altar erfolgen. 388 Die Liturgie der Einzelbeichte beginnt mit einem Gebet aus Ps 139 durch den Pfarrer, danach steht die confessio des Beichtenden nach einer liturgischen Aufforderung des Pfarrers: "Du bist gekommen, um vor Gott, dem Heiligen und Allwissenden, und vor mir, dem Diener der Kirche, deine Beichte abzulegen. So sprich, mein Bruder (meine Schwester)." 389 Danach treten beide zum Altar, und der Pfarrer betet Ps 51, 3-6. 12-14, es folgen Absolution, Handauflegung und Kreuzeszeichen sowie Entlassung. Bei der Absolution ist bemerkenswert, daß der Beichtende nicht nach dem Bereuen seiner Sünden gefragt wird, sondern nur danach, ob er das menschliche Wort der Vergebung als Gottes Wort annimmt. 1940 teilt Stählin Erfahrungen mit dieser Ordnung in der Bruderschaft mit. 390 Wichtig sei es unter anderem, daß der kultischen Beichte die Bemühung um Wiedergutmachung vorausgehe in dem einfachen Bekenntnis "Ich habe dir Unrecht getan, mein Bruder, meine Schwester!" 391 Vorauszusetzen sei ferner, daß jeder Beichtiger die Erfahrung als Beichtender gemacht habe. Ungelöst seien zwei Fragen, für die mit dem Verfall der Beichte jegliche Tradition verlorengegangen sei: Kann die Absolution an bestimmte Ver-
387Die Ordnung der Beichte, 1936, S. 3-4. Wie stets erschienen die Ordnungen ohne Jahresangabe, das Erscheinungsjahr ist angegeben in: Bruderschaft, 1940, S. 106, Anm. 26. In seiner Seelsorgelehre hatte Hans Asmussen bereits 1933 entschieden für die Einzelbeichte plädiert: "Die Einzelbeichte ist am ehesten geeignet, der Ort zu sein, wo in der Seelsorge wirklich Seelsorge geschieht." (H. ASMUSSEN, Die Seelsorge, 1934 [1933], S. 225.) 388 A.a.O., S. II-V. 389 A.a.O., S. 3. 390Bruderschaft, 1940, S. 105-108. Schon in der Urkunde der Evangelischen Michaelsbruderschaft 1931 hatte es in Satz 11 geheißen: "Jeder Bruder wählt sich mit Zustimmung der Leitung einen Helfer, der ihn vor den Brüdern vertritt [...] und bereit ist, seine Beichte zu hören [...]." (Die evangelische Michaelsbruderschaft, 1981, o.P. [S. 16].) 391 Bruderschaft, 1940, S. 106.
4.5. Liturgie
301
pflichtungen geknüpft werden? Kann die Absolution auch (zunächst) verweigert werden? Die beiden Fragen zeigen in ihrer Fremdheit, wie weit die Entfernung von der kirchlichen Tradition inzwischen fortgeschritten ist. Auch hier wird geurteilt werden müssen, daß die Ordnung der Einzelbeichte zwar für den Bereich einer Bruderschaft hilfreich sein konnte, insgesamt aber die Fremdheit des Menschen im 20. Jahrhundert gegenüber der biblischen Lehre von der Rechtfertigung nicht aufheben konnte (bzw. sogar noch verstärkt hat). Darum hat die Seelsorgebewegung insgesamt einen weiterführenden Weg gewiesen, wenngleich diese immer neu vor der Aufgabe steht, psychologische Annahme und theologische Rechtfertigung miteinander zu vermitteln, ohne diese einfach zu identifizieren 392 oder entgegenzusetzen. Die Berneuchener Ordnung der Einzelbeichte hatte nach 1945 einen erheblichen Einfluß, indem das Verhältnis von Beratung und Absolution in der Seelsorge als eine Art Stufenfolge aufgefaßt wurde. 393 Daß dieses weder psychologisch noch theologisch befriedigen kann, liegt auf der Hand, ist aber nicht Gegenstand dieser Untersuchung. 394
392 Diese Gefahr besteht dann, wenn Dietrich STOLLBERG, Praxis und Proprium, 1977, S. 382 das Verhältnis von Annahme und Rechtfertigung in Analogie zum lutherischen "est" in der Abendmahlslehre bringt. Hierbei ist die Wortgebundenheit dieses "est" auf jeden Fall konstitutiv. 393 Dazu s. die Literatur zur Beichte, die Joachim SCHARFENBERG, Seelsorge als Gespräch, 1992 [1972], S. 20, Anm. 33 angibt: Dort sind u.a. die Berneuchener Oskar Planck und Walter Uhsadel genannt. 394 In der lutherischen Agende III von 1962 sind zwei Ordnungen der Einzelbeichte angegeben, wovon sich besonders die erste deutlich an die Berneuchener Ordnung von 1936 anlehnt (a.a.O., S. 94-99).
5.
Stählins eigene Praxis als Lehrer der Kirche
Nachdem die Struktur von Stählins Praktischer Theologie anhand der drei Schlüsselkategorien erfaßt wurde, soll diese jetzt in ihrer Ausprägung in Lehrveranstaltungen beschrieben werden. Da die zugrundeliegenden Gedankengänge Stählins bereits entfaltet wurden, können wir uns in diesem Abschnitt auf die spezifischen Akzente seiner Lehrtätigkeit in Hochschule (5.1.) und Gemeinde (5.2.) konzentrieren.
5.1.
Praktisch-theologische Lehrveranstaltungen an der Universität
Eine Schwierigkeit für diesen Abschnitt ergibt sich aus der Tatsache, daß Stählins Lehrtätigkeit aus den nachgelassenen Unterlagen nur andeutungsweise hervorgeht. Seine Vorlesungsunterlagen sind bis auf die ausfuhrlich nachgeschriebene Liturgik-Vorlesung 1936/37 Stichwortnotizen für den freien Vortrag. Etwas aussagekräftiger sind die Seminarprotokolle von Teilnehmern (wobei leider kein Protokoll eines katechetischen Seminars vorliegt). Hinzu kommt die Tatsache, daß Stählins Begabung besonders in der mündlichen Weitergabe in Rede und Gespräch lag. Dies entspricht zumindest der Selbst- und Fremdeinschätzung. 1 Eindrücklich hat der damalige Dekan der Evangelisch-theologischen Fakultät Münster, Franz Hesse, 1968 die Wirkung des Professors Stählin geschildert. Im Herbst 1939 besuchte Hesse einen Kommilitonen in Münster und wollte dort auch eine Lehrveranstaltung miterleben. Von den Vorlesungen, so schreibt er, "kam offensichtlich nur eine ernstlich in Betracht: die des praktischen Theologen Wilhelm Stählin. [...] Daß mich die Persönlichkeit des Vortragenden auf das stärkste beeindruckt hat, [...] ist mehr als eine schöne Floskel [...]. Daß man in erster Linie die Vorlesungen und Übungen Wilhelm Stählins besuchte, liegt auch nicht etwa daran, daß die alten Semester [...] in die Veranstaltungen des praktischen Theologen eilen würden. Nicht der praktische Theologe, - die Persönlichkeit Wilhelm Stählins ist es gewesen, die die Studenten anzog, [...] auch solche, die seine kirchliche und kirchenpolitische Haltung nicht billigten. Jener Studienfreund
1 Via Vitae, 1968, S. 71 und Hans Carl v. HAEBLER, Geschichte der evangelischen Michaelsbruderschaft, 1975, S. 155, über Stählin und K.B. Ritter: "Gemeinsam ist beiden, daß sie vor allem durch das gesprochene Wort gewirkt haben. Ihre Schriften sind zwar lesenswert, können aber nicht das lebendige Fluidum vermitteln, das von diesen redegewaltigen Männern ausging."
5.1. Praktisch-theologische Lehrveranstaltungen an der Universität
303
gehörte damals w i e ich selbst zu den radikal denkenden Studenten der Bekennenden Kirche." 2 Heinz Henche, der bei Stählin studierte, schildert ihn als "begnadeten Prediger" im Universitätsgottesdienst. D i e Vorlesungen und Übungen, so Henche, habe Stählin stets pünktlich begonnen und geschlossen. N i e habe Stählin dabei den verordneten "deutschen Gruß" verwendet, vielmehr eine Art Segenszeichen gemacht. Hörer in braunen Uniformen seien in Stählins Veranstaltungen nicht g e w e s e n . 3 Kontakt mit den Studenten 4 ergab sich durch Stählins Gewohnheit, sich von einem Studenten nach der Vorlesung nach H a u s e begleiten zu lassen und diesen dann zum Mittagessen einzuladen. Ab und zu gab es am Sonntag offene Nachmittage mit den Studenten, bei denen - auch unter Beteiligung der Familie - Ratespiele stattfanden. 3 Durch ihren Praxis-
2 Ansprache des Dekans Hesse in Prien am 23. 9. 1968 (Vorabend von Stählins 85. Geburtstag), Personalakte Stählin 1967-1981, Ev.-theol. Fak. Best. Nr. 58 II, Universitätsarchiv Münster. Franz Hesse (geb. 1917) war ab 1960 ordentlicher Professor für Altes Testament in Münster. Die Fakultät würdigte Stählins Theologie fünf Jahre später als "Ganzheitstheologie", in welcher die Unterscheidung der Disziplinen der Theologie "überhöht" werde, und bilanzierte: "Sie haben dem protestantischen Reden über Gott den Vollzug des gottesdienstlichen Handelns in Anbetung und Gotteslob gegenübergestellt." (Tabula Gratulatoria vom 21. 9. 1973, Bestand Personen XVIII Stählin, Nr. 60, Landeskirchliches Archiv Nürnberg, S. 2 [O.P.]). 3 Gespräch mit Pfarrer i.R. Heinz HENCHE am 9. 2. 1993. Henche studierte vom WS 1933/34 bis WS 1934/35 in Münster und war um Stählins willen dorthin gegangen. - Johann Friedrich MOES, Die Apostelkirche als Ort geistlicher Erneuerung, 1984, S. 262: "Wer an so einem akademischen Gottesdienst in der Apostelkirche teilnahm, wurde vor allem fasziniert durch die Predigt des Universitätspredigers." Als Stählin 1943/44 nicht in Münster war, schrieb Ernst Haenchen als Dekan an Stählin: "Es ist sehr schade, daß Sie hier nicht, wie geplant, predigen können; man fragt oft nach Ihnen." (Brief vom 10. 6. 1944, ähnlich am 2. 8. 1944.) Stählin selbst verstand die Predigten auch als praktisches Beispiel für die in Lehrveranstaltungen theoretisch erarbeiteten homiletisch-liturgischen Einsichten und bedauerte, daß die meisten Studenten nicht an den Gottesdiensten teilnahmen, weil sie am Wochenende nach Hause fuhren (Bericht des evangelischen Universitätspredigers in Münster, 1944, S. 1). Die Predigten hielt Stählin frei nach Stichworten, nachdem er die Gedanken u.a. bei einem Spaziergang am Samstagnachmittag entwickelt und endgültig erst am Sonntagmorgen, zwischen Frühstück und Gottesdienstbeginn, schriftlich fixiert hatte (Gespräch mit Stählins Tochter Hildegart MUMM am 8. 3. 1993). 4 In den ersten fünf Semestern stieg die Zahl der Studenten an der Fakultät deutlich an: Vom Sommersemester 1926 bis Sommersemester 1928 waren 84-71-75-101-136 Studenten und 3-5-5-3-8 Studentinnen eingeschrieben. Ab 1928 war ein allgemeiner Anstieg der Theologiestudenten zu verzeichnen (Angaben nach Manfred JACOBS, Die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Münster 1914-1933, 1991, S. 61 f., Anm. 6 1 ) . 5 Gespräch mit Hildegart MUMM am 8. 3. 1993.
304
5. Stählins eigene Praxis als Lehrer der Kirche
bezug wurde Stählins Lehrtätigkeit von Studenten und Kollegen sehr geschätzt.6 Als Günther Dehn 1931 unter dem Terror nationalsozialistisch beeinflußter Studenten in Halle an seiner Lehrtätigkeit gehindert wurde, waren es Otto Schmitz und Wilhelm Stählin, die eine Kundgebung zu den deutschen Fakultäten ausgehen ließen, "daß sie jeden Versuch studentischer Kreise, einen Mann wie D. Günther Dehn an der akademischen Lehrtätigkeit zu hindern, auf das schärfste verurteilten."7 Daraufhin wurde Stählin von Teilnehmern an seinem "Religionsunterricht für Erwachsene" gebeten, etwas zum "Fall Dehn" zu sagen. Die Sympathien gehörten hier den Hallenser Studenten, und man wunderte sich über Stählins Initiative. Am 9. 11. 1931, also wenige Tage nach "den unerhörten Ausschreitungen des 3. und 4. November, wie sie sich in dieser Stärke wohl kaum an einer anderen deutschen Universität ereignet haben"8, bezieht Stählin ausführlich Stellung. Zunächst referiert er differenziert und detailliert den umstrittenen Vortrag Dehns zu "Kirche und Völkerversöhnung" von 1928, u.a. Dehns Ablehnung der bedingungslosen Kriegsdienstverweigerung.9 Stählin stimmt Dehn in zwei Hauptpunkten zu: Ablehnung der Gleichsetzung von Opfertod Christi und Tod fürs Vaterland und die Übergabe der Militärseelsorge an Zivilgeist6 Manfred JACOBS, a.a.O. (s. vorletzte Anm.), S. 64, Anm. 67: "Schon aus seinen Vorlesungsankündigungen wird ersichtlich, daß er nicht doziert, sondern einen lebendigen Dialog, auch in Form von Gruppenarbeit betreibt, in die Schulen geht, praktisch-liturgische Übungen durchführt und den Studenten die Möglichkeiten zu eigener Erprobung verschafft." Außerdem ging Stählin ganz ungewohnte Wege: Am 4. Januar 1930 besichtigte er mit Studenten eine Zeche und erzählte abends von der drohenden Arbeitslosigkeit wegen Zechenstillegungen (Religionsunterricht für Erwachsene, 4. 1. 1930, Nachschrift Dr. Seybold, S. 7). 7 Abschrift der Erklärung im Nachlaß von Hermann Mulert im Archiv für kirchliche Zeitgeschichte in Leipzig. Die Kundgebung wurde von 31 Ordinarien unterschrieben, u.a. von Rudolf Bultmann, Hans v. Soden, Ernst Lohmeyer, Adolf Jülicher, Martin Rade und Rudolf Otto, was aber "auf die Studenten nicht den geringsten Eindruck" machte (Günther DEHN, Die alte Zeit, 1962, S. 280). Dehn hatte 1927 die Ehrenpromotion der Münsteraner Fakultät erhalten (M. JACOBS, a.a.O., S. 64, Anm. 66). S. dazu auch Via Vitae, 1968, S. 263 f., wo der "Fall Dehn" als "VorschußKonflikt" für die Zeit des "3. Reiches" bewertet wird (der Wortlaut der Kundgebung bei Günther DEHN, Die alte Zeit, 1962, S. 280 übrigens: " D . Günther Dehn [...] zu hindern" anstatt "einen Mann wie D. Günther Dehn [...] zu hindern"). - Bereits 1930 hatte Stählin im "Fall Baumgarten" seine Sorge vor dem Rechtsradikalismus brieflich zum Ausdruck gebracht (Kurt NOWAK, Evangelische Kirche und Weimarer Republik, 1988, S. 285.) 8 G. D E H N , a.a.O., S. 271. 9 Religionsunterricht für Erwachsene, WS 1931/32, 9. 11. 1931, Nachschrift Dr. Seybold, S. 1-2. Der Vortrag wurde von Dehn am 6. 11. 1928 in Magdeburg gehalten (G. D E H N , a.a.O., S. 250). Dehn zufolge wurde der Konflikt durch ein Treppengespräch am Ende des Vortrags ausgelöst, in dem er zwei jungen Damen bezüglich der "Kriegsschuldlüge" das Wort "Unsinn" entgegengehalten habe (S. 256).
5.1. Praktisch-theologische Lehrveranstaltungen an der Universität
305
liehe. Gegen Dehn votiert er für die Gefallenendenkmäler in den Kirchen und berichtet sodann über das Entstehen des Dehn-Konfliktes aus dem Treppenstreit mit den zwei Zuhörerinnen. 10 Trotz unterschiedlicher Einzelurteile ist für Stählin klar, daß Dehn die Frage des Verhältnisses von Kirche und Völkerversöhnung "mit ganz unbedingter Ernsthaftigkeit des christlichen Gewissens" 11 angesprochen habe. Stählins Resümee ist vielsagend. Einerseits stellt er heraus, "alle menschliche Sympathie für die Lauterkeit der nationalen Gesinnung" bei den protestierenden Haller Studenten zu haben. 12 Andererseits könne er trotz seines Verständnisses "für das aufwachende elementare vitalbluthafte" 13 dieses nicht gutheißen, wenn dadurch die Prüfung am christlichen Gewissen verhindert werde. Für Stählin stellt sich hier die Grundfrage, wie theologische Lehre an der Universität überhaupt begründet werden kann: "Der Sinn und Wert unseres akademischen Lehramts steht und fällt damit, daß unsere Studenten zu uns das Vertrauen haben können, daß wir unsere gewissenmäßigen Entscheidungen über Fragen ungehemmt durch Zwang sei es durch den Staat oder die Kirche sagen. Darum begrüße ich es, daß auch die hiesige theologische Studentenschaft sich gegen die Halle-schen [sie] Studentenschaft gewendet hat, weil sie sieht, daß es sich um lebenswichtige Interessen der Studentenschaft selbst handelt." 14 Bemerkenswert an dieser Stellungnahme ist die Begründung theologischer Lehre im allgemeinen Wahrheitsdiskurs der Wissenschaften, an einer staatlichen Fakultät, aber unabhängig von Interessen des Staates; in Verantwortung vor Schrift und Bekenntnis als den Konstitutiva kirchlicher Lehre, aber unabhängig von den aktuellen Interessen der Institution Kirche. Wenige Jahre später geriet auch die Fakultät Münster zwischen die Fronten des nationalsozialistischen Staates und der sich anpassenden Kirchenleitung einerseits und der Bekennenden Kirche andererseits. 15 Das von Stählin 1931 im Kontext des "Falles Dehn" formulierte Prinzip der Gewissensbildung und
10 A.a.O., S. 3. 11 Ebd. - Dehn hatte im Sommer 1930 einen Ruf nach Heidelberg bekommen, nachdem Stählin seine Zusage zurückgezogen hatte, trat seine Professur dort aber wegen Studentenprotestes nicht an (s. G. DEHN, a.a.O., S. 259-262). 12 A.a.O., S. 5. 13 Ebd. 14 A.a.O., S. 6. 15 Stählin wurde 1936 von Studenten der Bekennenden Kirche boykottiert, weil er sich an den Prüfungen der DC-bestimmten Kirchenleitung beteiligte, s. Via Vitae, 1968, S. 308-310 und Wilhelm H. NEUSER, Die Evangelisch-Theologische Fakultät Münster im Dritten Reich, 1991, S. 84 f.
306
5. Stählins eigene Praxis als Lehrer der Kirche
Unabhängigkeit theologischer Wahrheitsfindung wurde von manchen zugunsten vermeintlicher theologischer Aktualität preisgegeben. 16 Stählins Lehrtätigkeit soll nun nach den praktisch-theologischen Unterdisziplinen (mit Ausnahme der ausfuhrlich behandelten Liturgik) beschrieben werden, wobei die wenigen Überlegungen zum Gesamtverständnis der Praktischen Theologie am Schluß stehen und zur Auswertung des Stählinschen Lebenswerks für die Konstitution gegenwärtiger Praktischer Theologie überleiten sollen. Wie bisher gelegentlich auf Stählins Lehrveranstaltungen hingewiesen wurde, während andere Äußerungen die Grundlage der Darstellung bildeten, so soll jetzt von den Lehrveranstaltungen ausgegangen und das Beschriebene durch Veröffentlichungen ergänzt werden.
5.1.1.
Homiletik
Stählins Homiletik und homiletische Lehre an der Fakultät stehen in engem Bezug zur Liturgie und Liturgik. Trotz seines lebenslangen Zweifels an den Möglichkeiten der Predigt 17 hielt er im übrigen später seine Predigthilfen "für den wichtigsten und verantwortungsvollsten Dienst", den er der Kirche literarisch leisten konnte. 18 Im homiletischen Seminar trennte Stählin zwischen Seminarandacht und homiletischer Reflexion. Die von Teilnehmern (im Sommersemester 1934 16 Das gilt nicht nur für Friedrich Wilhelm Schmidt und Martin Redeker, sondern in gewissem Maß auch für Ernst Haenchen, der 1934 der SA beigetreten war: "Ursprünglich habe ich geglaubt, wenn man der 'Bewegung' angehörte, könne man sie noch in vernünftige Bahnen lenken helfen. Das war natürlich Unsinn, [...]." (Brief Haenchens an Stählin vom 18. 8. 1947, S. 3.) Der Briefwechsel zeigt im übrigen nicht nur das Entstehen von Haenchens Kommentar zur Apostelgeschichte, sondern ist auch ein Zeugnis von Haenchens Persönlichkeit: "Darum bin ich innerlich bereit, ohne Groll meine Schuld zu büßen. So schwer es mir auch ist, gerade in einem Augenblick aus meinem Amt scheiden zu müssen, wo ich vielleicht mehr als je früher meinen Studenten zu sagen gehabt hätte, so lehne ich mich doch nicht innerlich dagegen auf. [...] daß ich durch meine Zugehörigkeit das System gestützt habe, dieses Faktum und diese Schuld bleibt. Wenn ich sie jetzt sühnen muß, - gut. Ich sehe ein, daß ich nicht mehr als Universitätslehrer tragbar bin, weil die Vergangenheit von Menschen nicht durchgestrichen werden kann. Ob andere durch die Maschen schlüpfen, geht mich nichts an." (Brief an Stählin vom 18. 8. 1947, S. 4.) Haenchen wurde 1946 emeritiert und konnte nach der Aufhebung des kirchlichen Einspruches seit 1949 wieder als Emeritus lehren (Wolf-Dieter HAUSCHILD, Der Wiederaufbau der Evangelisch-Theologischen Fakultät Münster nach 1945, 1991, S. 105 f.). 17 "Eine praktische Hilfe wäre z.B. die Einführung von Wochengottesdiensten ohne Predigt und der Verzicht auf die Casualrede, die ohnehin meistens eine fragwürdige Sache ist, und die an den Takt der meisten Pfarrer eine ebenso unerfüllbare Anforderung stellt, wie die Predigt selbst." (Brief an Wolfgang Trillhaas vom 1.4. 1964.) 18 Predigthilfen, Bd. III (Altes Testament), 1959, S. VIII (Vorwort).
5.1. Praktisch-theologische Lehrveranstaltungen an der Universität
307
waren es z.B. 40 19 ) zu Beginn der Seminarsitzung gehaltenen Andachten wurden nicht im Seminar besprochen, die Aufgabe im Seminar bestand nicht in der Ausarbeitung einer Predigt. Jeweils eine Gruppe von 4 - 5 Seminarteilnehmern legte einen Entwurf mit Vorüberlegungen und Gliederung zu einem Text oder einem Thema vor. (Die Übersicht in Anhang 3 zeigt, daß Text- und Themenpredigten nebeneinander standen.) Fast immer wurde das Seminar als "homiletisch-Z/iurgwcAei" angekündigt und durchgeführt. So gehörten das Formulieren von Gebeten und die Auswahl der Lieder zum Programm des Seminars, aber auch praktische Übungen wie das Erlernen eines Psalmtones. Um den Seminarandachten einen liturgischen Rahmen zu geben, der gleichwohl der universitären Lernsituation entsprach, hatte Stählin einen Seminarraum mit einem Holzkreuz an der Stirnwand ausstatten lassen, unter dem sich ein Tisch befand, der als Katheder bei Vorlesungen und (mit Decke, Schrägpult und Antependium) als Altar bei Seminarandachten fungierte. Das Kreuz war in etwa 2 Meter Höhe über einer schlichten stufensymmetrischen Holzvertäfelung angebracht, der Tisch befand sich etwa 150 cm davor. So stand der Liturg/Prediger unter dem Kreuz hinter dem Altar ("celebratio versus populum"), der Dozent konnte mit Stuhl hinter dem Tisch vortragen. Diese Ausstattung hat Stählin genau beschrieben und mit informativen Fotos veröffentlicht. 20 In Stählins Nachlaß in der Fakultät finden sich Protokolle von sechs homiletisch-liturgischen Hauptseminaren aus den Jahren 1932 bis 1935 (s. Anhang 3), dazu eines von einem homiletischen Proseminar im SS 1936 21 19 Einzelheiten nach Informationen von Heinz Henche, Münster. 20 Aus einem homiletisch-liturgischen Seminar, MGKK 1930. 21 Nachdem Martin Redeker 1933 für Praktische Theologie habilitiert war, übernahm dieser ab WS 1933/34 katechetisches und homiletisches Proseminar, im SS 1935 und SS 1936 auch das homiletisch-liturgische Hauptseminar, Stählin dafür das Proseminar. Im WS 1936/37 wurde Redeker nach Kiel berufen (Vgl. dazu Wilhelm H. NEUSER, Die Evangelisch-Theologische Fakultät Münster im Dritten Reich, 1991, S. 82 f.; ferner Via Vitae, 1968, S. 289 f.) In Folge der Ausführungen in Via Vitae kam es zu einem Briefwechsel, in dem Redeker Stählins "Sorge" um die Weitergabe von Informationen aus der Fakultät an Parteistellen für unrichtig erklärte. Stählin antwortete Redeker, er könne in einer möglichen zweiten Auflage eine Anmerkung hinzufügen, "daß in Ihrer brieflichen Mitteilung diese unsere damalige Sorge als unbegründet bezeichnet worden ist" (Brief vom 2. 11. 1968, Pers.-Akte W. Stählin 19671981, Best. Ev.-theol. Fak. 58 II, Universitätsarchiv Münster). In einem Brief vom 12. 2. 1946 an den Kieler Dekan (Kopie in dem erwähnten Schriftwechsel) hatte Stählin erbittert geschrieben, Redeker habe "bei Menschen der verschiedensten Art und Prägung in Münster ein überaus schlechtes Ansehen hinterlassen." Hier sind die Vorgänge um den Kanzelstreit in der Apostelkirche gemeint. Das Presbyterium hatte Redeker - als 2. Universitätsprediger - die Kanzel verweigert. Dazu zitiert Stählin (im Brief vom 22. 12. 1968 an den Dekan der Fakultät Münster) eine Antwort des damaligen Präses presbyterii, den er um die Mitteilung seiner Erinnerung gebeten
308
5. Stählins eigene Praxis als Lehrer der Kirche
und zwei von der "Homiletisch-liturgischen Sozietät" (WS 1933/34 und WS 1935/36). Im Sommersemester 1932 wurden nur Themapredigten, keine Textpredigten bearbeitet. Zu den gestellten Themen wurde ein biblischer Text gewählt; u.a. die Textwahl war Gegenstand der Gesamtbesprechung. (Die 64 (!) Teilnehmenden waren in 7 Gruppen aufgeteilt, welche das Thema der Sitzung vorzubesprechen und das Ergebnis im Plenum einzubringen hatten.) Mit den Themapredigten steht das Seminar gegen den "Wahn der modernen Theologie, den Menschen einfach das Wort Gottes zu verkündigen, ohne sich darum zu kümmern, ob es überhaupt verstanden werde." 22 Dem Grundansatz von Stählins Theologie entsprechend sind drei Themen "Leib Christi" (24. 5.), "Gottesdienst" (31. 5.) und "Heiligung des Leibes" (5. 7.). Beim Thema "Leib Christi" wird betont, daß sich dieser nicht auf die unsichtbare Kirche bezieht, sondern auf das "Konkretwerden des Christus in der Welt." (S. 9) Die Verkündigung müsse sich "gegen die Restbestände des Individualismus" wie "gegen die neuerliche Gemeinschaftslüsternheit des Individuums" gleichermaßen wenden (S. 10). Als Text wird Rom 12,5 gegenüber 1. Kor 12,13 und Eph 1,22 f. bevorzugt. Der oben (s. Teil 4.3. dieser Untersuchung) erhobene Zusammenhang von Leib des Menschen und Leib Christi spielt dem Protokoll zufolge keine Rolle. Liturgisches Thema sind Gestaltung des Introitus und die Beziehung von Predigtthema und Schriftlesungen. Beim Thema "Gottesdienst" wird ein ästhetisierendes wie ein pädagogisches Verständnis abgelehnt und stattdessen "das Sichopfern in Predigt,
hatte: "Sie fragen mich, warum wir damals Herrn Redeker die Kanzel verweigert haben. Er gehörte zu den DC, und die Bekennende Kirche wollte dieser Irrlehre damals keinen Raum in der Kirche gewähren. Sie werden sich auch noch besinnen, daß er zu der Gruppe der DC gehörte, die in der Gemeindevertretung allerhand Gewalttaten verübte. [...] So weit ich mich erinnere, haben Sie selbst ihm damals helfen wollen, indem Sie ihm einen Ihrer Gottesdienste abtraten. (Anmerkung Stählin: Ich habe das zwar angeboten, es ist aber nicht zustande gekommen.)" - Erwähnt werden muß in diesem Zusammenhang noch ein Brief von Werner Foerster (1931-1938 a.o. Professor für Neues Testament in Münster) vom 18. 11. 1968 (in demselben Schriftwechsel), der sich zu erinnern meint, Fr.W. Schmidt sei im Herbst 1933 doch als Dekan mit 4:2 Stimmen (gegen Stählin) gewählt worden. Stählin hatte von der Ernennung Schmidts gegen den Willen der Fakultät geschrieben (Via Vitae, 1968, S. 288 f.; ebenso Wilhelm H. NEUSER, Die Evangelisch-Theologische Fakultät Münster im Dritten Reich, 1991, S. 77-79). Auf jeden Fall war Fr. W. Schmidt für den Aufstieg von Redeker zum Ordinarius maßgeblich (W.H. NEUSER, a.a.O., S. 83), während Stählin die Habilitation betrieben hatte (ebd.). 22 Protokoll im Homiletischen Seminar SS 1932, S. 40, Seitennachweise im folgenden im fortlaufenden Text. In den Protokollen bleibt zumeist unklar, ab Stählin oder ein Teilnehmer die jeweilige Äußerung gemacht hat; die Nähe zu Stählins anderenorts begegnenden Meinungen ist indes evident.
5.1. Praktisch-theologische Lehrveranstaltungen an der Universität
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Lobgesang und Gebet" betont (S. 12). Es wird der Grundsatz formuliert, man "dürfe nicht beanspracht, sondern müsse beansprucht werden." (S. 13)23 Beim Thema "Heiligung des Leibes" begegnen die ausfuhrlich begründeten Abgrenzungen gegen die "Vergötzung des Leibes" (genannt ist hier u.a. die Rassenhygiene) und gegen die "Entweihung des Leibes" wieder (S. 2628), wie sie aus dem Buch "Vom Sinn des Leibes" bekannt sind. Passend zu Stählins Theologie, den Leib des Menschen einbezogen in den Leib Christi und die Neuschöpfung anzusehen, ist hier der Prozeß des αγιασμός hervorgehoben. Als geeignete Texte werden Rom 12,1-2 und 1. Kor 6,13 genannt. Die Heiligung des Leibes sei vor allem nicht sittlich zu verengen, sondern als "die Einbeziehung des leiblichen Lebens in das erlösende Handeln Christi" zu verstehen (S. 28). Im Wintersemester 1932/33 werden sowohl Text- als auch Themapredigten bearbeitet. Für die Bearbeitung beider Formen ist eine Ordnung vorgeschlagen24: Themapredigt Textpredigt 1. Analyse des Themas 1. Exegetische Besinnung 2. Dogmatische Besinnung 2. Predigtüberlegung - Verkündigungsanliegen des Textes - aufgrund davon: 3. Heutiges Verkündigungsanliegen Verkündigungsaufgabe heute des Themas 4. Entsprechende Textwahl 5. Genaue exegetische Besinnung 3. Predigtentwurf 6. Predigtentwurf 4. Liturgischer Aufbau des Gottes 7. Liturgischer Aufbau des Gottes dienstes dienstes Aus dieser Gegenüberstellung erhellt, daß es sich für Stählin nicht um einen qualitativen, sondern um einen methodischen Unterschied zwischen Textund Themapredigt handelt. Die zentrale homiletische Besinnung über das heutige "Verkündigungsanliegen" erfolgt einmal aufgrund der Exegese und vermittelt zwischen damaligem und heutigem Verkündigungsgeschehen, einmal erfolgt sie aufgrund thematischer und dogmatischer Reflexion und wählt von daher einen Text. So wird einmal vom Einzelnen, einmal vom Ganzen der Heiligen Schrift ausgegangen. Andererseits ist deutlich, daß die kurzen Textabschnitte (meistens Einzelverse) das Gewicht der Themen kaum aufwiegen können (dies zeigen jedenfalls die erhaltenen Predigten Stählins
23 Im Protokoll steht zweimal "beanspracht", ein offensichtlicher Schreibfehler. 24 Protokoll im Homiletisch-liturgischen Seminar, WS 1932/33, S. 2. 14, Seitennachweise im folgenden im laufenden Text.
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5. Stählins eigene Praxis als Lehrer der Kirche
aus jener Zeit 25 ). Die Begründung der Themapredigt gegenüber der alleinigen Geltung der Textpredigt durchzieht als roter Faden die erhaltenen Protokolle. 2 6 Einen zeitgeschichtlichen Bezug hat das Protokoll vom 31. 1. 1933 über das Predigtthema "Der Herr der Völker". Hier heißt es - vermittelnd wie immer bei Stählin das "Christentum dürfe nicht als eine Internationale verstanden werden", andererseits jedoch stehe das Christentum über dem Volkstum und "durchdringe es von oben her". (S. 23) Im Sommersemester 1933 sind zwei der fünf Textpredigten alttestamentlich, so daß grundlegende Reflexionen zum Verhältnis beider Testamente angestellt werden: "Das alte Testament ist vorchristlich. Die Predigt will aber christliche Verkündigung sein. Der Prediger darf das alte Testament nur unter dem Gesichtspunkt betrachten, wie Jesus selbst es ansah: Die Botschaft Jesu ist Erfüllung des alten Testaments." 27
25 Die Predigt Volkstrauertag, 1932, legt zwar 2. Kor 4,12 zugrunde, dieser kurze Textabschnitt spielt aber zwischen Ernst Toller (S. 6), Walter Flex (S. 7) und dem Mythos von LangemaTck ("Gestalt einer heiligen Sage an unsere Kinder", S. 10) kaum eine Rolle bzw. wird sogar auf das Kriegserleben bezogen ("Wo der Tod sehr mächtig geworden war, verspürten wir hier etwas, das heiliger und dem höchsten Lebenssinn näher benachbart ist als alles menschliche Reifendürfen, [...]" (S. 10). Die Predigt Gesetz und Evangelium, 1932 legt den Vers Joh 1,17 zugrunde und ist eine Lehrpredigt, die vom Altarkreuz zwischen den beiden Kerzen als Anschauungshilfe (S. 3.9) ausgeht: Christus steht "in der Mitte zwischen den beiden Lichtern, Gesetz und Evangelium. Er bläst das Licht des Gesetzes nicht aus." (S. 9) 26 Die Angabe von Themen hatte Stählin von Geyer und Rittelmeyer übernommen (Via Vitae, 1968, S. 163; vgl. S. 663). Später hielt Stählin fast nur noch Textpredigten, der IV. Band der Predigthilfen (Die Leitbilder. Die Wochensprüche, 1966) zeigt aber das bleibende Interesse am thematischen Weg. In Stählins früher Predigtsammlung Advent, 1925 sind Einzelverse und längere Textabschnitte in etwa gleichmäßiger Verteilung Predigtgrundlage, im Inhaltsverzeichnis sind jedoch nur die Themen (!) angegeben. In Geyers und Rittelmeyers Predigtsammlung: Gott und die Seele, 1912 sind in 47 von 68 Predigten längere Texte, zumeist aus den Evangelien, ausgelegt. Dabei hat Geyer eine deutliche Vorliebe für Lukas (13 seiner 34 Predigten; 10 über Mt-Texte), Rittelmeyer eher für die Briefe (10 seiner 34 Predigten; 8 über MtTexte). Ganze drei (!) Predigten des Bandes sind alttestamentlich. Das im Vorwort genannte Predigtziel "psychologische Erlebnisfolge" wird eingelöst durch eine Lebendigkeit und Frische, die noch heute beim Lesen spürbar ist, wie in dem eindringlichen "Du sollst leben!" in Rittelmeyers Osterpredigt "Der Weg zum Osterglauben" (Joh 14,9; S. 239). Stählins Auskunft zufolge benötigte Rittelmeyer 16-20 Arbeitsstunden für eine Predigt (Manuskript Friedrich Rittelmeyer, 1938, S. 2). Rittelmeyer selbst gibt sogar 25 Stunden an (Aus meinem Leben, 1937, S. 153). 27 Protokoll im homiletischen Hauptseminar, SS 1933, 16. 5., 1. u. 2. S. (o.P.) Angaben im folgenden im Text mit Datumsangabe und mit neuer Seitenzählung bei jeder Sitzung.
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Die antisemitische Ablehnung des Alten Testaments scheint noch wenig im Blick zu sein. Vielmehr wird die vorschnelle Identifikation mit dem Volk Israel kritisiert: "Die Lage des exilischen Volks Israel ähnelt unserer geknebelten Lage. Darin liegt eine Gefahr für die Predigt, daß man den Text für eine nationale Rede auswertet unter dem Schein der Christlichkeit." (16. 5. 1933, 3./4. S., zu Jes 40,25-31). Ebenso wird die Offenbarung in Christus gegen einen allgemeinen Offenbarungsbegriff gesetzt, wenn zu Ps 84,2-5 klargestellt wird, Gott sei nicht überall in der Welt gleicherweise zu finden. Allein Christus sei "Ort und Zeit" der Offenbarung, "die Christenheit ist 'die Behausung Gottes im Geist', der Ort der Offenbarung. Gottes Offenbarung wird konkret in der Gemeinde." (13. 6. 1933, 2. S.) Noch deutlicher als vorher heißt es in diesem Semester über die Themapredigt (20. 6. 1933, 2. S.): "Grundsätzlich braucht eine thematische Predigt keinen Text, wobei sie trotzdem christlich und auch biblisch sein kann. Nun besteht aber die Sitte der Textwahl, und wir halten uns daran." In den ereignisreichen Tagen im Juni 193328 wird zum Thema JohannistagPredigt das Ernstnehmen der "naturhaften Kräfte" durch die Theologie betont: "Sonst wird die blutleere Theologie von der stärkeren Macht des Vitalen besiegt." (27. 6. 1933, 3. S.) Das Recht des Vitalen müsse theologisch anerkannt und gerade so "den Elementen gegenüber, die nach einer Blutreligion streben", die Grenze des Kreatürlichen aufgewiesen werden (ebd.). 29 Die Sitzung am 11. 7. 1933 zur Themapredigt "Gott und Volk" zeigt unmißverständlich, wie in Stählins Seminar im Sommer 1933 klar gegen die deutschchristliche Lehre Position bezogen wurde. Zunächst wird ausführlich Wilhelm Stapels völkisches Gedankengut erwähnt und die Gefahr der "Vergötzung des Völkischen, insbesondere der Rasse" benannt. Weiter heißt es: "An dieser Tatsache kommt der christliche Prediger nicht vorüber, daß das Volk Gottes Gericht unterworfen ist. Er muß sich versagen, so von Gott und Volk zu reden, als habe ein Volk be28 Am 24. 6. 1933 trat Bodelschwingh als Reichsbischof zurück und August Jäger wurde als Staatskommissar eingesetzt; am 25. 6. erschien Karl Barths Schrift "Theologische Existenz heute!" 29 Daß Stählin aufgrund seiner Erfahrungen in der Jugendbewegung die Natur als homiletische Kategorie festhielt, zeigt seine Bemerkung, daß bei einer Rede in der Natur "manches kleinlich, unpassend leer und lächerlich wirken muß, das in geschlossenem Raum rhetorisch ganz gut wirken möchte." (Das Bild der Natur in der Heiligen Schrift, ZW 1939, S. 46.)
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stimmte Rasseeigentümlichkeiten, die Gott wohlgefällig sind und als könne ein anderes Volk um seiner Rasse willen Gott mißfallen, ja gottwidrig sein." (11. 7. 1933, 3./4. S.) Am Schluß der Sitzung wird die Sprengung aller völkischen Grenzen durch die Verheißung des Neuen Testaments herausgestellt: "Die Erwählung ist einem neuen Volk vorbehalten: der Gemeinde Jesu Christi." (4. S.) Im Wintersemester 1933/34 werden Textpredigten ausschließlich zum 1. Joh bearbeitet. Bei den Themapredigten kommt es zu einer expliziten Auseinandersetzung mit der Homiletik Karl Barths. Es sei falsch, daß Barth den Ansatzpunkt der Themapredigt als "häretisch brandmarkt". 30 Das Thema sei vielmehr gerade aus dem Erleben "in der Offenbarung" geschöpft. "Barth setzt die reine formale Unterscheidung der Form in eins mit der sachlichen Verschiedenheit eines aus einer fremden Offenbarungsquelle gespeisten Themas. Im Gegenteil, indem wir denken aus dem Ganzen des christlichen Wahrheitsauftrages heraus, bewahren wir die Hl. Schrift vor der Möglichkeit als Sprungbrett mißbraucht zu werden. Die Rechtmäßigkeit unserer Predigt entscheidet sich nicht an der formal-methodischen Abgrenzung, Thema- oder Textpredigt, sondern daran, daß wir unser Denken und Reden unter das Urteil der Offenbarung stellen." (10. 1. 1934, 374. S.) Damit wird explizit ausgesprochen, was oben (zum WS 1932/33) bereits aus der Reihenfolge der einzelnen Schritte für eine Thema- und eine Textpredigt erhoben wurde. Inwiefern die Predigtpraxis Stählins den eigenen Ansprüchen genügte, kann hier nicht näher untersucht werden. 31 Seinem theologischen Ansatz bei der Heiligung (als Hineingezogenwerden in die Christusrealität) entsprechend lautet ein Thema des Semesters "geistliches Wachstum". Dieses sei "im Ansatzpunkt ganz als Gabe" aufzufassen. So könne dieser "Lebensprozeß" als fortschreitende Entsündigung bzw. als Wachsen in der Erkenntnis der Sünde verstanden werden. An dieser Stelle bleibt das Protokoll recht blaß, es scheint so, daß das Positive - aufgrund der Auseinandersetzung mit Karl Barth? - ganz zurücktritt. 32 30 Protokoll im homiletisch-liturgischen Seminar WS 1933/34, 10. 1. 1934, 3. S. (o.P.). Angaben künftig mit Datum und Seitenzählung im fortlaufenden Text. 31 S. dazu die Hinweise in Anm. 25. Über Karl Barths Predigtpraxis als Quelle seiner Theologie s. Axel DENECKE, Gottes Wort als Menschenwort, 1989. - Stählin warf umgekehrt "der dialektischen Theologie" vor, daß diese für "eine ausgeprägte dogmatische Position" überall in der Heiligen Schrift "Beispiele und Belege" finde (Rez. zu H. Gollwitzer, ThLZ 1942, Sp. 51). In der - grundsätzlich positiven - Besprechung wird u.a. der Gebrauch des substantivierten Infinitivs in der Predigt als Folge des abstrakten Denkens kritisiert (Sp. 52). 32 Barth war schon zum SS 1930 nach Bonn gegangen. In der Münsteraner Zeit hatten Barth und Stählin bei aller Konkurrenz viel Kontakt miteinander gehabt und oft
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Im Sommersemester 1934 wird eine interessante Kombination von Textund Themapredigt gewählt, indem zu einer Vaterunserbitte als Thema jeweils ein Text auszusuchen ist. Leider ist das Protokoll etwas unklar und von daher nicht besonders ergiebig. 33 Zwei Einzelheiten verdienen jedoch besondere Beachtung. Betreffs der schriftlichen Fixierung der Predigt wird der "maßvolle Mittelweg" des stichwörtlichen Extemporierens empfohlen, also weder das vollständige Memorieren noch das Vorlesen. 34 Eine Sitzung fand zudem in Abwesenheit von Stählin in drei Abteilungen statt, wovon eine "unter Leitung des Herrn Stählin jr." abgehalten wurde. 35 Im Wintersemester 1934/35 werden neben Texten aus dem Epheserbrief Kasualpredigten thematisiert. Beispielhaft sei hier das Protokoll über die "Konfirmationsrede" nachgezeichnet. 36 Dazu wird zunächst die geschichtlich gewordene Problematik der Konfirmation mit ihren unterschiedlichen Motiven besprochen (katechetisches Motiv, Bucers Verständnis, Spener, Bekenntnis und Gelübde im 19. Jahrhundert). Jeder Konfirmationsprediger un-
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"mit Lachen und Witzen eine Stunde lang telefoniert" (Mitteilung von Stählins Tochter Hildegart Mumm am 8. 3. 1993). Dazu passen auch die launigen dienstlichen Briefe Stählins an Karl Barth, welche bei Wilhelm H. NEUSER, Karl Barth in Münster, 1985, S. 66-73 abgedruckt sind. Darin hat Stählin einen für ihn ganz ungewöhnlichen, offensichtlich von Karl Barths Schreiben an ihn beeinflußten Briefstil. Die Aberkennung der theologischen Doktorwürde Barths (auf Ministerweisung, durch Fr. W. Schmidt) im Jahre 1936 konnte Stählin nur "lächerlich" finden (Via Vitae, 1968, S. 289). Z.B. zur Anrede und zu Luthers Verhältnis zu Gott als Vater (29. 5. 1934, 1./2. S.): "Diese Einseitigkeit ist heute bei der Gefahr von mächtiger anders meinender [?] Irrlehre besonders schwerwiegend gefährlich (Benennung [?] des Gedankens der 'Gottesfreunde', rassisch minderwertige Demut in Gott)." - Zur 1. Bitte und 1. Kön 18,26-40 (6. 6. 1934, 3. S.): "Der Baal des Textes als Vergötzung der Vitalität kann nicht einfach psychologisch auf unsere Zeit umgedeutet werden." Beide Male ist eher zu ahnen als zu wissen, was in Abgrenzung zu deutschchristlicher Irrlehre gemeint ist. 4. 7. 1934, 1./2. S. Dies muß gemeint sein, die verschlungene Syntax des Wortlautes gibt sonst keinen Sinn. 20. 6. 1934, 1./4. S. Es handelt sich um Stählins Sohn Rudolf, der nicht in Münster studierte (s. Via Vitae, 1968, S. 202 f.), aber offensichtlich bei Aufenthalten in Münster gelegentlich an Seminaren des Vaters teilnahm. (So heißt es auch im Protokoll der homiletisch-liturgischen Sozietät vom 14. 11. 1933, 1. S.: "Herr Rudolf Stählin berichtet ausführlich über das gottesdienstliche Totengedenken der Ostkirche.") 29. 1. 1935, 3. - 7. S. - Im ersten Teil der Sitzung wurde über Melodiefassungen von Liedern gesprochen, u.a. über die erste Zeile von "Ach bleib mit deiner Gnade": Über die "sentimental klingende" alte Melodie (Quartsprung bei "dei-ner" und Durchgang 5./4. Stufe auf "Gna") heißt es, dieser "Zopf' dürfe nicht beibehalten werden. Dazu sind säuberlich die Noten beider Fassungen gezeichnet (die "neue" Melodie ist die aus EKG 208 inzwischen vertraute von Melchior Vulpius, 1609).
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terliege letztlich einem "verantwortungslosen Traditionalismus", da die Konfirmation in ihrer heutigen Form "theologisch nicht zu halten" sei. Die Kirche dürfe die Reife zum Bekenntnis nicht zur Voraussetzung ihres Handelns an den Getauften machen und müsse die Konfirmation von daher eigentlich abschaffen. Da dies der einzelne Prediger aber nicht könne, dürfte er darin nicht sagen, "daß die Kinder gekommen sind, um ein Gelübde abzulegen, denn das sind sie nicht. Das Evangelium in seiner ganzen Fülle ist aufzuzeigen, vor Augen zu fuhren, daß der Mensch darin einen gewissen Schatz hat, der von nun an noch mehr als in den vergangenen Jahren Lebensbedeutung besitzt." (6. S.) Als Texte werden Phil 3,12 und Joh 15,5 vorgeschlagen, die anderen von den Gruppen gewählten Texte werden abgelehnt - offensichtlich, weil dadurch der einladende Charakter der Konfirmation (zugunsten des von Stählin abgelehnten Gelübdecharakters) in den Hintergrund zu treten droht: Apk 3,11 ("Halte, was Du hast...") könne auf Jugendliche gerade noch nicht bezogen werden; 1. Tim 6,12 meine den Kampf des erwachsenen Getauften und nicht konfirmierte Jugendliche; 1. Petr 2,9 ("Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht...") passe ebenfalls besser für Erwachsene, die Verantwortung in der Welt tragen, und "den Priesterdienst, von dem hier gesprochen wird, müssen die Kinder erst einmal an sich selber üben." Als zu negativ wird schließlich 1. Kor 10,12 ("wer meint er stehe...") verworfen. Diese Bemerkungen zur Textwahl belegen, wie Stählins entwicklungspsychologisch orientiertes Konfirmationsverständnis im Seminar homiletisch umgesetzt wird. Die Jugendlichen - in damals gängigem Sprachgebrauch wird von den Konfirmierten immer als "Kindern" gesprochen - haben zunächst die Aufgabe, sich selbst ernst genug zu nehmen ("Priesterdienst" an sich selber). Jede Überforderung und kirchliche Vereinnahmung ist zu vermeiden. Dem Unterschied zwischen neutestamentlicher und gegenwärtiger volkskirchlicher Gemeindesituation ist insofern Rechnung getragen, als neutestamentliche Paränesen nicht einfach als auf Jugendliche übertragbar angesehen werden. In Stählins Terminologie wird man sagen können: Die Predigt hat als gegenwärtiges Verkündigungsanliegen die Lebenshilfe durch das Evangelium in seiner ganzen Fülle zur Geltung zu bringen und kann nicht einfach das Wort der Schrift mit dem Wort Gottes gleichsetzen. Einfacher: Gerade die Kasualpredigt hat konkrete Lebenshilfe zu bieten. 37 37 Noch 1965 bezeichnet Stählin "Lebenshilfe als die eigentliche Aufgabe der Predigt" (Meditative Predigt als Lebenshilfe, 1973 [1965], S. 205). - Im Vorwort zum Band V der Predigthilfen 1971, S. 10 f. begründet Stählin die Bearbeitung der weisheitlichen Texte damit, daß die evangelische Predigt oft die praktischen Regeln des menschlichen Verhaltens vermissen lasse. Dazu erzählt er eine Anekdote von Christian Geyer. Dieser hatte einmal einem Gemeindeglied die Bibellektttre empfohlen, welches nach dem Lesen des Römerbriefes dann ganz verzweifelt wiederkam. Geyer
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Im homiletischen Proseminar im Sommersemester 1936 werden Fragen der Predigtvorbereitung, Gedankenfuhrung und des Verhältnisses von Text und Predigt bedacht, jedoch keine Entwürfe nach Texten und Themen angefertigt. Einige Einzelheiten: Die Kompilation eines Textes aus mehreren Einzelversen aus dem Zusammenhang wird als zulässig bezeichnet, weil mit Luther die Schrift an dem zu messen sei, "was Christum treibet", und die neutestamentliche Autoren ebenfalls frei mit ihrer Bibel, dem Alten Testament, umgingen. 38 In einer Sitzung wird eine Themapredigt über die Weisheit nach Jesus Sirach 14,22 - 15,6 (das Trachten nach Weisheit und die Weisheit als Mutter und Frau) angedacht. Zunächst wird ein klarer Gedankengang eingeschärft, sodann der Umgang mit bildhaften Texten thematisiert. Stählins ureigenste Gedanken kommen an diesem Punkt zur Sprache: "Bildhafte Texte wollen auch bildhaft ausgelegt und besprochen werden. [...] Der Prediger muß bildhaft und nicht nur abstrakt denken und reden können." (17. 6. 1936, 3. S.) 39 Es seien jedoch unerfreuliche, negative Bilder zu vermeiden - daraus spricht Stählins Meditationserfahrung und das Bild dürfe nicht am Anfang der Predigt stehen, "man soll vielmehr den Zielgedanken vorher klarlegen." (17. 6. 1936, 4. S.) Auch hier wird die Aufgabe der Themapredigt besprochen. Neben den nicht eigens erwähnten liturgischen Fragen (Gestaltung der Gebete und Lesungen, Kirchenjahr, Lernen von Psalmtönen) liegt der Akzent der homiletischen Seminare Stählins erkennbar auf der dogmatisch und
hatte ihm darauf die einfacheren Sprüche des Jesus Sirach empfohlen; "davon war dann der Mann begeistert, weil er hier nicht so viele tiefsinnige und schwer verständliche Gedanken, aber dafür praktische Lebensregeln fand; er drückte sich sehr drastisch aus: 'Da erfährt man ja doch, wie man mit den Weibern umgehen muß.'" Seit dieser Erzählung, so Stählin, habe er das Lebenspraktische der Predigt für sehr wichtig gehalten. Andererseits konnte Stählin auch im Vollsinne kerygmatisch predigen. So heißt es in einer Predigt über Mt 16,13-20 am 18. 11. 1934 (1 Woche nach Eintritt in die Bekennende Kirche, s. Via Vitae, 1968, S. 292): "Meine Freunde, es hat keinen Sinn, daß ein Pfarrer auf der Kanzel steht und predigt, wenn er nicht in Furcht und Zittern den Mund aufmacht mit dem Bewußtsein, was ich sage, ist Wahrheit. [...] die Predigt ist das verbindliche Wort, zu dem man nur Ja oder Nein sagen kann und Ja ist Gehorsam und Nein ist Ungehorsam." (S. 4) Heinz-Dietrich WENDLAND, Wege und Umwege, 1977, S. 232 urteilt über Stählin als Prediger: "Er konnte, allem Pietismus so fern als nur möglich, doch den Hörer ins Herz treffen." 38 Protokoll im homiletischen Proseminar, SS 1936, 27. 5. 1936, 6. S., Nachweise künftig im fortlaufenden Text. 39 Dies ist ein mehrfach von Stählin vorgetragener Gedanke. Der Mensch müsse dafür bereitet werden, "Bilder in sich aufzunehmen [...]. Unsere Predigt, wie sie häufig ist, ist nicht geeignet, den Menschen in seinen Tiefenschichten wirklich aufzuschließen. Ich glaube, von Niebergall stammt die treffende Bemerkung, man sehe im Predigtgottesdienst die Menschen mit dem aufgesperrten Regenschirm des Intellekts dasitzen, der sie davor bewahrt, daß sie wirklich naß werden." (Kirchliche Seelsorge, 1933, S. 156, 2. Sp.)
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biblisch verantworteten Themapredigt. Das Ganze der Schrift, die Fülle des Evangeliums soll zur gegenwärtigen Lebenshilfe werden. Theologie kann ihren Wahrheitsanspruch nicht deduktiv von Schrift und Bekenntnis her, sondern nur induktiv, von der im gegenwärtigen Leben aktuellen Verkündigung her geltend machen. Homiletik ist nicht in der Praxis angewandte Theologie, sondern umgekehrt ist Theologie von der homiletischen Praxis her zu konstruieren. Diesen Gedanken hat Stählin programmatisch 1938 in einem Aufsatz über "Theologie von der Kanzel aus" dargelegt. Die in die theologische Reflexion einbezogenen konkreten Menschen verändern die Theologie: "Es ist eine der tiefsten Erfahrungen, in welchem Maß sich unser theologisches Denken wandelt, wenn es sich ernsthaft mit diesem Sehen von der Kanzel her verbindet." 40 Der Prediger soll nicht "'einfach' das 'Wort Gottes'" verkündigen wollen, sondern gerade die Seite der Offenbarung, um deren willen wir überhaupt vom "Wort" Gottes sprechen, im Blick haben: die Hörer "in der Wirklichkeit ihres menschlichen Lebens". 41 Die Überschrift der Aufsatzreihe "Theologie - von der Kanzel aus gesehen" nimmt Stählin insofern wörtlich, als er vom Blick auf den Altar ausgeht. 42 Die Predigt kommt vom Altar her und führt zum Altar hin. Die Predigt steht im Kontext der als Anbetung und Eucharistie verstandenen Liturgie. Die Predigt wie die induktiv zu verstehende Theologie überhaupt sind in dem Spannungsfeld von Liturgie und Leben konstituiert, welche jeweils in ihrer leibhaften Gestalt zu berücksichtigen sind: "Vielleicht aber ist es über die praktische Verpflichtung hinaus, die hier spürbar wird, für das Gesamtverständnis der Theologie wichtig, daß sie von der Kanzel her gesehen wird, von wo der Blick auf der einen Seite nach der Grenze des irdischen Raumes, die im Altar dargestellt ist, auf der anderen Seite nach den wirklichen und leibhaften MenscLen in ihrer irdischen Situation geht." 43
40 Theologie - von der Kanzel aus gesehen, PB1 1938, S. 465. 41 A.a.O., S. 464. 42 Vgl. dazu das im Abschnitt 4.5.3. unter der Überschrift "Kirchenbau" zum Altar Ausgeführte. 43 A.a.O., S. 465. Schon 1932 hatte Stählin geschrieben, rhetorische Regeln, Thema und Disposition seien für den Prediger gar nicht das wichtigste: "Es geht schon eher darum, daß der Prediger wirklich reden kann, daß er nicht duTch eine unmögliche Mißhandlung seiner Stimme, durch lächerliche Gesten, durch den Mangel leiblicher Haltung alles das verleugnet, was er mit seinen Worten sagen will." (Dienst am Wort und Dienst am Nächsten, 1932, S. 523.) Gegen "das heutige Gerede von Objektivität" suchen die Hörer im Prediger "den lebendigen Menschen." (Ebd.) - Die Lebenskategorie bringt Stählin 1962 dadurch zum Ausdruck, daß er den "Dienst am Wort" vom "Zeugen" und den männlichen Keimdrüsen herleitet (pro-testari und
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Damit ist die Bedeutung der drei dieser Untersuchung zugrundeliegenden Schlüsselkategorien für eine von der Praxis her zu konstituierende Theologie angesprochen, worauf unten zurückzukommen sein wird. Um das Ineinander von Liturgie und Predigt ging es auch in Stählins homiletisch-liturgischer Sozietät, die er zweimal in Münster abhielt und von der ausführliche Protokolle (vom WS 1933/34 und WS 1935/36) erhalten sind. In der Sozietät im WS 1933/34 werden der Totensonntag und Ostern in jeweils sieben Referaten erschlossen: Nach den Gottesdienstordnungen in östlicher, römischer und in der Kirche der Reformationszeit folgen ein dogmatischer, homiletischer, agendarischer und hymnologischer Zugang. Das Protokoll ist darin präzise, daß jeweils angegeben ist, ob Stählin oder ein Teilnehmer der Sozietät referiert bzw. Beiträge liefert. In der ersten Sitzung gibt Stählin Hinweise zur Festpredigt.44 Dabei soll ein Thema/Gedanke den Gottesdienst einheitlich gestalten, und der Festprediger soll auf die Gesamtgestaltung Einfluß nehmen sowie möglichst als Liturg agieren. Wegen der zu übenden Chorstücke sollen Thema und Text der Predigt bereits Wochen vorher festliegen. Auch Auswahl und Begleitung des Hauptliedes (Chor, Orgel, Posaunen, a capella) sind genau zu bedenken (Beispiel: "Ein feste Burg" im Reformationsfestgottesdienst). Ferner enthalten die Gottesdienstprogramme in Stählins Beispiel Erläuterungen zur Liturgie ("Die Posaunen rufen auf zum Lobgesang. Auf Gebet und Schriftlesung dankt der Chor für das göttliche Wort." [5 /6. S.]). Neben dieser Einfuhrung beschränkt sich Stählin auf wenige Beiträge und auf Ergänzungen zu den Referaten der Teilnehmer. So resümiert er nach den historischen Beiträgen zum Totengedenken, die Entwicklung habe "unaufhaltsam über die Pädagogisierung im 16. Jahrhundert zur Sentimentalisierung im 19. Jahrhundert gefuhrt." (13. 11. 1933, 3. S.) Stählin bedauert, daß schon die Kirche der Reformation "keinerlei Anteil mehr an dem 'oberen Raum'" hatte wie die Ostkirche, weil Ermahnung und Gerichtsernst in den Vordergrund getreten seien. In seinem Beitrag zur Totengedächtnispredigt bezeichnet Stählin so als entscheidend die "Weitung des Selbstverständnisses der Kirche als einer Gemeinschaft, in der die Grenzen der Zeitlichkeit gesprengt sind." (13. 12. 1933, 1. S.).45 Interessant ist an dieser Stelle ferner das Plädoyer für die Möglichkeit auch textloser Verkündigung (durch Stählin?). Werde diese gänzlich bestritten, drohe "die Gefahr der Literarisierung
testis: Die Zurüstung zum geistlichen Amt als Aufgabe der Kirche, 1963 [1962], S. 202). 44 Protokoll der homiletisch-liturgischen Sozietät WS 1933/34 (o.P.), 7. 11. 1933, 1. 6. S. Nachweise im folgenden im fortlaufenden Text mit Datums- und Seitenangabe. 45 Etwas anthroposophisch-spiritistisch hier Stählins Formulierung: "Es gibt ein erfahrbares Hereinwirken Verstorbener in unserem Lebensbereich." (13. 12. 1933, 2. S.)
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des Wortes Gottes [...]. Das Heil käme dann letztlich von den Philologen." (13. 12. 1933, 3. S.) Auch Stählins einführendes Referat über das Osterfest in der Ostkirche ist geprägt von dem positiv hervorgehobenen "Anteilhaben am oberen Raum" (17. 1. 1934, 2. S.). Die zeitliche Distanz tritt mit der Osterliturgie ganz in den Hintergrund, "die Geschehnisse verwirklichen sich jede Ostern in lebendiger Gegenwärtigkeit. [...] Der Raum zwischen dem eigentlichen historischen Geschehen und dem aktuellen Vollzug der Osterfeier ist der Bereich, da Christus als König handelt. Man lebt im Raum des erhöhten Herrn Christus und sieht von da aus sein Leiden und Sterben." (17. 1. 1934, 3. S.) An Ostern habe die Kirche "am stärksten Teil am oberen Raum" und bedeutend sei der Glaube daran, daß das "dramatisch-symbolische Geschehen durchaus reale Bedeutung hat." (4. S.) Damit tritt der Liturgiker Stählin gegenüber dem Homiletiker im Verlauf der Sozietät stärker in Erscheinung, wobei sich die Theologie des Mysteriums und der Einfluß Odo Casels deutlich abzeichnen. Noch ergiebiger ist das sehr sorgfältig und detailliert geführte Protokoll der homiletisch-liturgischen Sozietät im WS 1935/36 über die Taufe, zumal diese in Stählins Publikationen nur eine untergeordnete Rolle spielt. Hier werden die Taufordnungen in Geschichte und Gegenwart sowie die Aufgabe der Taufpredigt behandelt.46 Betreffs der schwedischen Ordnung der Kindertaufe, die Eltern und Paten besonders ermahnt und für den Täufling mit Eph 3,16.17 betet, wird positiv hervorgehoben, daß hier (im Gegensatz zu Luthers Taufbüchlein und zu Calvin) "wirklich die Tatsache beachtet wird, daß der Täufling ein kleines Kind ist, und wirklich eine Kindertaufe gehalten wird." 47 Entsprechend wird in der Schlußbesprechung der Erwachsenentaufordnungen kritisiert, daß sowohl in der bayrischen wie in der sächsischen und alten preußischen Agende die Taufe des erwachsenen Menschen nicht ernst genommen ist - so wenig wie das Kind bei der Kindertaufe. (Nur in bezug auf Löhes Agende wird die Verlesung von Joh 3,1-16 und die Wendung des Täuflings zu den Himmels46 Mit der Berücksichtigung von alter Kirche (Didache, Justin, Tertullian, Cyrill von Jerusalem, Augustin), Rituale Romanum, Reformation (Luther, Zwingli, Calvin) sowie Common Prayer Book und Gegenwart (Mission, Freikirche, Schweden, Berneuchener) handelt es sich um ein weit ausgreifendes kirchengeschichtlich-konfessionskundliches Seminar. Wir beschränken uns bei dem Protokoll (von 98 eng beschriebenen Seiten) auf Stählins Akzente. 47 Protokoll der homiletisch-liturgischen Sozietät WS 1935/36, 10. 12. 1935, 10. S. [o.P.]. Nachweise im folgenden im laufenden Text. - Bei der Wertung der schwedischen Ordnung ist nicht eindeutig, ob sie von Stählin stammt. Zu seinem Ansatz bei der Lebensrealität würde die Aussage gut passen.
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richtungen als erwachsenengemäß positiv herausgestellt.) Im übrigen wird die Beteiligung der Gemeinde und die Einrichtung besonderer Tauftage (Ostern, Pfingsten, Himmelfahrt) wegen des vermehrten Vorkommens von Erwachsenentaufen empfohlen (17. 1. 1936, 4./5. S.). Wichtig ist die Diskussion am 27. 1. 1936 über das ostkirchliche Taufritual. Teilnehmer kritisieren, daß dabei die kultische Sprache wegen der schnellen Zelebration nicht bewußt verfolgt werden könne und daß der Kultus damit nicht an den ganzen Menschen gerichtet sei. Stählin wendet dagegen ein, nur für den neuzeitlichen Menschen sei das Bewußtsein ebenso wichtig wie der Leib. Die Forderung nach bewußtem Nachvollzug könne aber bereits beim Kindergebet nicht gelten, "da das Kind kein ausgegrenztes Bewußtsein hat." (27. 1. 1936, 9. S.), ebensowenig bei der Krankenkommunion. Wenn die Aufnahme durch das Bewußtsein zur Voraussetzung kirchlichen Handelns gemacht werde und der Glaube "letztlich Akt des Bewußtseins" sei, müsse die Kindertaufe abgelehnt werden. "Die Bibel zeugt aber davon, daß sich Gott an die καρδία der Menschen wendet. Nun ist aber die καρδία etwas anderes als das Bewußtsein des Menschen, obwohl sie dieses nicht ausschließt. Denn es ist durchaus möglich, daß ein Mensch zwar kein Bewußtsein, aber καρδία hat, z.B. das kleine Kind, der sterbende Mensch und auch der Geisteskranke." (10. S.) Damit hat Stählin in Aufnahme und Widerspruch zu Meinungen in der Sozietät biblische Perspektiven herausgestellt, die bis in die Gegenwart von Bedeutung sind, etwa bei der Konfirmation von Jugendlichen mit geistigen Behinderungen. 48 An der Berneuchener Taufordnung wird als positives Merkmal hervorgehoben, daß sie bewußt als Kindertaufe gestaltet ist, die Eltern einbezieht, die Paten mit die Hände auflegen läßt und das Wasser als Element ernstnimmt sowie die abrenuntiatio ausläßt bzw. in ein Gebet der Gemeinde umformt. (4. 2. 1936, 9. - 11. S.; diese Impulse haben mittlerweile in der lutherischen Taufagende von 1988 Aufnahme gefunden 49 .) Obwohl an dieser Stelle kein Name protokolliert ist, wird Stählins Theologie erkennbar in dem Fazit: "Das natürliche Geschehen ist der Ort, an dem das Wunder der Wiedergeburt geschieht. [...] Man kann auch die zweite Schöpfung nicht gleichsam in die Luft bauen. Man muß ernst machen damit, daß Christus aus dem Leib der Jungfrau geboren ist. Von 48 Gerade bei dieser Frage zeigt sich im übrigen das Absurde des Konzeptes, das liturgische Geschehen von Wort und Antwort bei der Konfirmation zu verengen auf das bewußte, individuelle "Bekennen und Geloben." 49 Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, Bd. 111,1, Die Taufe, 1988, S. 22-35 und S. 100-103 (Betrachtungen zum Taufwasser).
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daher erhalten auch Mutterschaft und Elternschaft ihre Bedeutung." (12. S.) An dieser Stelle wird die Frage nach der Bewertung der "Geburt eines Rassenmischlings" gestellt. Es wird (von Stählin?) geantwortet, eine solche Geburt sei "grundsätzlich genauso zu verstehen." (12. S.) Das Dankgebet für die Geburt habe "nie den Charakter des Lobes der Eltern", was besonders auch bei der Geburt eines unehelichen Kindes zu bedenken sei. Hinzugefugt wird jedoch, daß ein Christ die Ehe in der Volksgemeinschaft schließe und von daher "auch die biologische Seite der Zeugung ernstzunehmen habe." (13. S.) In der vorletzten Sitzung wird die von einem Seminarteilnehmer (August Kemper [?]) vorgelegte Ordnung der Erwachsenentaufe besprochen. Darin sind einige ungewohnte Elemente enthalten: Die Taufe findet im Sonntagsgottesdienst statt unter Assistenz von zwei Presbytern (und zwei Paten), Täufling und Paten warten vor der Kirchentür und werden dort abgeholt; am Altar erfolgt eine Christusanamnese ("So wisse nun, [...] daß unser Herr Christus selbst in das Wasser gestiegen ist" 50 ); die signatio cruris erfolgt nach der Taufe (S. 7); die Predigt über Rom 6,3-4 kommt erst nach Taufe, Ermahnung der Gemeinde, Lied, Gebet, Lied; der Taufbefehl steht ganz am Schluß der Ordnung und ist als Sendung verstanden (S. 13, zwischen Vaterunser und Segen). Pädagogisch geschickt erklärt Stählin im Zusammenhang der Kritik der auf der Hand liegenden - Schwachpunkte, die Ordnung sei "erfreulich, [...] insofern der Versuch fern der Tradition ist. Denn erst durch solche Gestaltungsversuche erkennt man den Wert der Tradition näher." (11. 2. 1936, 1. S.) Ausdrücklich gelobt wird der Vorschlag, den Täufling draußen warten zu lassen und zur Taufhandlung liturgisch hereinzugeleiten. Nachdem die Taufliturgie die Arbeit der Sozietät im ganzen Semester bestimmt hat, kommt erst in der letzten Zusammenkunft die Homiletik mit der "Taufrede" zur Besprechung. Nach einem Teilnehmerreferat formuliert Stählin das Prinzip, die Kasualrede müsse "das natürliche Geschehen in das Licht dessen stellen, was die Kirche hier tut." (18. 2. 1936, 5. S.) Auf die Frage, ob die Erwähnung von Gottes Schöpfungswillen nicht bei unehelichen oder unerwünschten Kindern besser weggelassen werde, erklärt Stählin, "daß diese Dinge unabhängig sein müssen von dem mehr oder weniger unerfreulichen menschlichen Fall und daß man am besten ganz objektiv redet, wenn man den Fall nicht ganz genau kennt." (5./6. S.) Auf den Einwand, die meisten Mütter wollten nicht mehr "als ihr Kind im rassischen Sinne wertvoll angesehen wissen", reagiert Stählin folgendermaßen:
50 Entwurf einer Ordnung der Erwachsenentaufe von August Kemper (?), WS 1935/36, S. 4; Seitennachweise künftig im fortlaufenden Text.
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"Der Sinn der menschlichen Existenz ist die Ehre Gottes. Die Taufe hat den Sinn, daß damit eigentlich die Geburt des Menschen im letzten Sinn sinnvoll ist; denn erst im Lebenszusammenhang Christi kann ein Mensch den Sinn seines Lebens erfüllen. Die Eingliederung in Christus ist die Eingliederung in seinen Tod." (6. S.) Wie sehr Stählins Sicht der Dinge auf die Studenten wirkt, zeigt schließlich die Äußerung eines Teilnehmers, eigentlich mache man eine Handlung wie die Taufe sinnlos dadurch, daß man über sie redet und sie damit in den intellektuellen Bereich hineinzieht. Stählin stimmt dem grundsätzlich zu, betont aber, daß eben in der Praxis anders gehandelt werden müsse, weil die meisten Menschen heute einer Handlung hilflos gegenüberstünden und nicht fähig seien, sich ihr hinzugeben (7. S.). Die Arbeit der Sozietät zeigt, daß bei Stählin das homiletische Anliegen deutlich hinter das liturgische zurücktreten muß und daß er - kurz vor Fertigstellung seines Buches "Vom göttlichen Geheimnis" - eine Vorliebe für die nicht primär am Bewußtsein orientierte ostkirchliche Liturgie hat. Daneben bringt Stählin immer wieder die Lebensrealität des zu taufenden Kindes oder Erwachsenen und des familiären Umfeldes zur Geltung. Homiletisch geht es um die theologische Deutung des natürlichen Geschehens und um den Bezug zum Element "Wasser". Es ist von daher verwunderlich, daß die Taufe als ein Leben und Leib betreffendes und liturgisch bedeutsames Geschehen in Stählins Werk nur geringen Stellenwert hat. Stählins Homiletik im systematischen Zusammenhang ist gut greifbar in der von Heinz Henche im SS 1934 sorgfältig nachgeschriebenen HomiletikVorlesung.51 Diese Vorlesung ist übersichtlich und einfach gegliedert. Im ersten Teil wird die "Stellung der Predigt im Gottesdienst", im zweiten (umfangreichsten) die "inhaltliche Aufgabe der Predigt" und im dritten die "Vorbereitung der Predigt" behandelt. Einleitend stellt Stählin heraus, daß das "Reden" und das "Wort" Gottes als ein Bild von Offenbarung aufzufassen seien. Neben der akustischen Kategorie der Offenbarung dürften die optische (Licht), dynamische (bedingende Kraft) und vitale [?] nicht vergessen werden. Seit der Reformation sei das Bild des Wortes isoliert und das Licht den Schwärmern zugeschrieben worden. Es müsse aber festgehalten werden: "Alle 4 obigen Bilder meinen denselben Vorgang: daß ein oder mehrere Menschen Gott begegnen. Bildermischung ist Stilprinzip der rel. Rede. Wie der rufende Gott eine Metapher neben anderen 51 Die folgende Darstellung richtet sich nach dieser Kollegnachschrift und greift gelegentlich auf die Stichwortnotizen Stählins aus dem Nachlaß zurück. Der von Stählin gefertigte Übersichtsplan für 43 Stunden entsprach nur zum Teil der tatsächlich gehaltenen Vorlesung.
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5. Stählins eigene Praxis als Lehrer der Kirche
ist, so ist das Wort, die Rede, eine Zeugnisform der Kirche neben anderen und ist nur in Verbindung mit den anderen Mitteln wirkliches Zeugnis." 52 Ähnlich wie in der Liturgik-Vorlesung 1936/37 wird ein denotativ-positivistisches (Stählin würde sagen: "nominalistisches") Sprachverständnis zurückgewiesen. Die Sprache sei nicht "Mitteilung", sondern "Verleiblichung des Geistes" und habe von daher "die Funktion der Repräsentation einer Sache" (S. 2). Hier verweist Stählin auf Zauberformeln, Dichtung und menschliche Begegnungen. Der Inhalt der Predigt kann nicht deduktiv aus Bibel und Bekenntnis abgeleitet werden, sondern ebenso wird Theologie durch den Vollzug von Predigt erst gegenwartsrelevant konstituiert. So zeigt sich Stählins induktive theologische Hermeneutik in der homiletischen Konkretion: "Schrift und Dogma nicht 2 Instanzen, vor denen die Predigt sich rechtfertigen müßte, sondern alle drei sind einander zugeordnet: Sicherstellung der Lehre durch Besinnung auf die Schrift; umgekehrt: Schrift ist nur 'Heilige' Schrift, wenn sie im Raum der Kirche gelesen wird. Aus der konkreten Wirklichkeit der Kirche wird auch ein neues Verständnis der Schrift erschlossen (Luther!)." (S. 2) 53 Darauf wird die Predigt als ein "pneumatisches Geschehen" definiert, weil Gott nur im π ν ε ύ μ α gegenwärtig wird. Dieses Geschehen unterliegt nicht menschlichen Möglichkeiten, ist aber auch nicht einfach unfaßbar. Der Geist ist vielmehr konkret: "Predigen kann nur der, der εν πνευματι, im Raum des Geistes beheimatet ist. [...] Aus der Eingebung des Heiligen Geistes, aus der Schule geistlicher Erfahrung und Schulung speist sich die lebendige wirkliche Predigt, denn Bindung an Text und Lehre ist keine absolute Gewähr fur die Christlichkeit der Predigt. Da darf es keine securitas geben." (S. 3) Damit setzt Stählin an die Stelle eines befürchteten deduktiven Mißverständnisses Schrift - Bekenntnis - Predigt den hermeneutischen Zirkel, der vom Geist her qualifiziert wird: Der Geist ist an das Wort gebunden, aber das Wort ist ebenso an den Geist gebunden, und zwar so, daß dies keine allgemeine theologische Richtigkeit meint, sondern in der konkreten - angreif52 Vorlesung Homiletik SS 1934, Nachschrift Heinz Henche, S. 1; Seitennachweise im folgenden Text in Klammern. 53 Dazu steht in Stählins Notizen: "Wort Gottes als aktuelles Geschehen. [...] Die Treue der Gebundenheit meint nicht Referat - also einfach objektive Wiedergabe. Der Sinn dieser Funktion ist weder Referat der Lehre noch Referat der Heiligen Schrift." (Bogen 2, S. b, rekonstruiert aus Kurzschrift.)
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baren, weil als "Menschenwerk" denunzierbaren - Form geistlichen Lebens Gestalt hat. Damit tritt neben die regula fidei die praxis pietatis als entscheidende Voraussetzung der Predigt. 5 4 An dieser Stelle votiert Stählin auch für die Themapredigt. D i e s e entfalte das Evangelium unter einem bestimmten Gesichtspunkt. Alles muß auf die Mitte b e z o g e n sein, v o n der alles geordnet ist: "Diese Mitte [ist] nicht [die] Rechtfertigungslehre, sondern Mk 1,1 α ρ χ η τ ο υ ε υ α γ γ ε λ ί ο υ Ι η σ ο ύ Χ ρ ί σ τ ο υ . In Jesus bricht der neue A i o n herein. ( D a s steht auch bei Pls eigentlich im Zentrum!) ' D a s in Christus erschienene Leben' ist der eigentliche Inhalt unserer Verkündigung." (S. 3) Damit steht im Mittelpunkt der Predigt Stählins (oben ausführlich entwickelter) Lebensbegriff, wie er in diesen Jahren endgültig als Wandlung in Christus Gestalt gewinnt ("Vom göttlichen Geheimnis", 1936). Zugleich kommt noch einmal die liberale Distanz gegenüber der Rechtfertigungslehre zum Tragen, die Stählin v o n Geyer und Rittelmeyer ererbt, aber auch mit Albert Schweitzers exegetischen Büchern gemeinsam hat. 5 5 In diesem Zusammenhang betont Stählin sein effektives Verständnis der Rechtfertigung (das er 1936 der forensisch aufgefaßten Rechtfertigung entgegensetzt 5 6 ):
54 In Stählins Vorlesungsmanuskript folgt hier ein Exkurs über die Meditation eines Schriftwortes mit den Stichworten: "a) keine aktive Überlegung über den Text [...] b) nicht begrifflich, sondern bildhaft (begrifflich ist allgemein und von daher abstrakt!) c) Hingabe und Einswerden [...] d) Wiederholung [...] kein Ablauf logischer Akte [...] Maria behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen" (3b, rekonstr.) Als Beispiele werden 1. Kor 12,27 ("Ihr aber seid der Leib Christi..."), Joh 12,32 und Ez 32,12 genannt, dazu die Perikopen Gen 1,1 ff., Apg 5,19-32 und Eph 3,14-20 (3 b.c.). 55 Chr. GEYER, Heiteres und Ernstes aus meinem Leben, 1929, S. 255 unterscheidet "Heiligungsstreben und Rechtfertigungsbedürfnis" als zwei konfessionsunabhängige Glaubensarten und beschreibt (selbstkritisch), nicht sehr viel "auf die zu einem orthodoxen Dogma degradierte Rechtfertigungslehre gegeben" zu haben. - Fr. RITTELMEYER, Aus meinem Leben, 1937, S. 132 f. setzt das johanneische "Ich bin das Leben!" als "Einigung mit dem Gottesgeist trotz aller Nichtigkeit" Luthers Rechtfertigungserfahrung entgegen, weil der neuzeitliche Mensch Gott "weniger im Gemüt, vielmehr im Geist" erlebe. - Es war wohl nicht zuletzt der Liberalismus von Albert Schweitzer (dessen "Leben-Jesu-Forschung" Geyer in "Altes" und "neues" Evangelium?, 1920, S. 55 zitiert), welche ihn die neutestamentliche Eschatologie der Rechtfertigungslehre entgegenstellen ließ: "Die Lehre von der Gerechtigkeit aus dem Glauben ist also ein Nebenkrater, der sich im Hauptkrater der Erlösungslehre der Mystik des Seins in Christo bildet." (A. SCHWEITZER, Die Mystik des Apostels Paulus, 1974 [1930], S. 300). 56 Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 67. Die effektive Rechtfertigungslehre wurde schon von dem Nürnberger Reformator Andreas Oslander (1498-1552) vertreten, s. dazu Otto WEBER, Grundlagen der Dogmatik, Bd. II, 1977, S. 340-344. Paul Rein-
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5. Stählins eigene Praxis als Lehrer der Kirche
"die Gnade läßt den Menschen nicht, wie er ist, sondern wandelt ihn, heiligt ihn, läßt ihn Christo gleich werden. [...] Gnade findet ihre konkrete Verleiblichung im Raum der Welt: die Kirche. [...] Alle christliche Verkündigung muß darauf hinweisen, daß der Anschluß an Christus von Einfluß auf das Leben ist. Das Lehrstück von der Heiligung darf nicht zu kurz kommen." (S. 4) Die Heiligung wird erläutert mit dem - in deutscher Theologie bis heute ungewöhnlichen - Begriff des "geistlichen Wachstums" 57 : Nach dem Neuen Testament solle das geistliche Leben Frucht bringen und damit "auf die Ernte" zugehen. (Belegstellen sind nicht angegeben, wahrscheinlich hat Stählin hier an Eph 4,15. 16 und Kol 1,10. 11; 2, 19 gedacht.) Daß dieses geistliche Wachstum jedoch nicht nur anthropologisch, sondern christologischeschatologisch und damit zugleich kritisch zur politischen Realität gemeint ist, erhellt aus den Sätzen: "Das geistliche Wachstum fuhrt immer hindurch durch Tod und Auferstehung. Nur der zum Sterben Bereite empfangt die Gabe des Lebens (Offertorium - Sakrament). Die Kirche ist in der Welt, steht aber zugleich in tiefem Gegensatz zu ihr, beunruhigt die Welt. Das darf sie um des Friedens willen nicht unterlassen. Es ist Dienst an Volk und Staat, wenn wir Salz im Teig sind. In der Kirche hat auch der Kampf Christi gegen die Dämonen seine Stätte." (S. 4 f.) Nach diesen grundsätzlichen Ausfuhrungen zum Inhalt der Predigt trägt Stählin vor, was er in diesen Monaten intensiv bedenkt: die "Ausgliederung der α ρ χ η im Kirchenjahr" (S. 5). 58 Dieser Themenschwerpunkt umfaßt nahezu die Hälfte der Nachschrift von Heinz Henche und hatte nach dessen Erinnerung auch tatsächlich großes Gewicht innerhalb der gesamten Vorlesung. Der dritte Teil der Vorlesung widmet sich der "Vorbereitung der Predigt". Bezüglich der Zuordnung von Text bzw. Thema und Predigt begründet Stählin hier die (in den homiletischen Seminaren umgesetzte) umfassende Position: Möglich sind Text- und Themapredigt, wobei die Homilie zwar für
hardt warf Stählin vor, die paulinische Rechtfertigungslehre gar nicht zu verstehen (P. REINHARDT, Gleichnisdenken?, EvTh 1937, S. 97). 57 In der amerikanischen "Gemeindewachstumsbewegung" ist der Begriff "growth" ebenso geläufig (C. Peter WAGNER, Die Gaben des Geistes für den Gemeindeaufbau, 1987) wie in der "Seelsorgebewegung" (Howard J. CLINEBELL, Modelle beratender Seelsorge, 1979, S. 10: "So kann die Gemeinde wirklich Ort der Versöhnung, der Heilung und des inneren Wachsens werden.") 58 Die gemeinsam mit Theodor Knolle verfaßte Denkschrift: Das Kirchenjahr wurde im Juli 1934 abgeschlossen (Vorwort, S. 6). S. hierzu die Ausführungen in Teil 4.5.3. (S. 286-288).
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die Bibelstunde, aber nicht für die Gemeindepredigt empfohlen wird. Vielmehr wird geraten, von "einem sachlichen Thema her den Text aufzuschließen". (S. 10) Das Thema soll aber nicht aus der Phantasie des Predigers erwachsen, sondern eben aus dem Kirchenjahr, also aus dem liturgischen Kontext. 59 Wie bei den Festtagen "sollte auch aus der Besinnung auf die Besonderheiten jedes Sonntags ein Thema gesucht werden." Damit steht Stählin eindeutig in der liberalen Predigttradition, die er aber liturgisch akzentuiert und damit "verkirchlicht". Gegenüber der von der dialektischen Theologie beeinflußten Homiletik bestehen jedoch gravierende Unterschiede, wenn für die Themapredigt drei Möglichkeiten zur Disposition gestellt werden: "1. Textlose Predigten über ein Thema; 2. Mottopredigten, Bibeltext nur Dekoration; 3. Themapredigt, zum Thema einen [sie] geeigneter Text zu suchen." (S. 10)60 Der von Stählin stets negativ verwendete Terminus "Dekoration" zeigt allerdings, daß die zweite Möglichkeit zurückgewiesen wird. So zieht er zum Schluß denn auch das Fazit: "Freie Wahl von Thema und Text kann nötig sein. Prinzipiell aber soll man sich an die Ordnung halten, damit man nicht nur bei seinen Lieblingsgedanken bleibt, [. .]." (S. 11) Stählin beschließt die Vorlesung mit einem Abschnitt "Der persönliche Charakter der Predigt." Darin wiederholt er, die Predigt dürfe kein Referat sein, sondern "lebendiges persönliches Zeugnis." (S. 11) Daran schließt Stählin eine Art Pastoralethik in bezug auf die Predigt an. Vom Pfarrer müsse nicht nur theologische Wahrhaftigkeit verlangt werden, sondern auch "Wahrhaftigkeit des Herzens" und "Wahrhaftigkeit des Lebens". Der Pfarrer habe ein "Verfallensein an die Sache" auszustrahlen: "Das ganze Leben des Pfarrers ist eine Predigtvorbereitung." (S. 11) Hier zitiert Stählin Rittelmeyer: "Besser predigen möchtest Du können? Du mußt besser werden." 61 59 Darum ist es positiv zu werten, daß in den "Göttinger Predigt-Meditationen" seit dem 40. Jahrgang 1985/86 sowohl die Texte der evangelischen als auch die der katholischen Leseordnung angegeben sind. 60 So heißt es in der erstmals 1935 erschienenen Predigtlehre von Wolfgang Trillhaas: "[...] genügt es nicht, Schriftgemäßheit für die Predigt zu behaupten. Man muß sie nachprüfen können, und eben deshalb ist der Text unerläßlich. [...] Er ist in der Tat einzige Schutz dagegen, daß der Prediger sich auspredigt." (W. TRILLHAAS, Evangelische Predigtlehre, 1936, S. 85.) Trillhaas hat zwar (einleitend) die Liturgie im Blick ("Die Predigt ist unerläßlich, die Liturgie ist erläßlich.", S. 21), aber nicht das Kirchenjahr. 61 Der Satz findet sich in Rittelmeyers Buch: Der Pfarrer, 1909, S. 36: "Besser predigen möchtest du können? Da hilft dich [sie] alles nichts: du mußt besser werden\ Es ist unheimlich, wie genau der Kundige durch die Fenster deiner Reden dein Inneres erspähen kann." Stählin in einem Brief an Rittelmeyer vom 13. 11. 1929: "Es gibt kein Buch, das ich bei dem Pastoral-Theologischen Teil meiner Vorlesungen so oft und so gerne zitiere, wie Dein Büchlein 'Der Pfarrer', [...]." In dem Brief bittet Stählin, das Buch neu herausgeben zu dürfen. Zwar stimmte Rittelmeyer dem Plan
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5. Stählins eigene Praxis als Lehrer der Kirche
Darum werden als Gefahren des Predigerberufes genannt, nur noch "ein rhetorisches und pädagogisches Verhältnis zur Umwelt" zu haben, zur Unwahrhaftigkeit und zu Phrasen (die im persönlichen Gespräch undenkbar wären) zu neigen oder "zwischen Eitelkeit und Verzagtheit" zu schwanken (S. 11 f.). Das Theologiestudium habe zwar Bedeutung für die Predigt, indem es vor der Häresie bewahre, aber noch wichtiger sei, daß der Prediger "im geistlichen Leben eine gewisse Reife erlangt hat." (S. 12) Das Studium berge ebenso Gefahren für die Predigt: "es sperrt vom Volksleben ab durch das begrifflich-abstrakte Denken, es fuhrt zur Überschätzung der reinen Lehre auf Kosten der persönlichen Wahrhaftigkeit." (S. 12) In Stählins Homiletik kehren die Grund strukturen seiner Theologie insgesamt wieder: Das Prinzip der Orientierung am Leben62 statt vorwiegend an der Lehre fuhrt zur Bevorzugung der Themapredigt (bzw. der thematischen Akzentuierung der Textpredigt); Voraussetzung und Ziel der Predigt ist gleichermaßen das geistliche Leben von Prediger und Hörer, das im Sinne der Theologie des Mysteriums das im Leib Christi gewandelte, eschatologisch bestimmte Leben ist; die Predigt ist eingebettet in die Liturgie und durch ihr Bestimmtsein vom Kirchenjahr vor dem Subjektivismus des Predigers geschützt. Im Gespräch mit der zeitgenössischen Homiletik behauptet Stählin damit eine durchaus eigenständige Position.
5.1.2.
Katechetik
So günstig sich die Quellenlage bei den homiletischen Lehrveranstaltungen zeigte (was im übrigen der Bedeutung in Stählins Lebenswerk durch die fünf Bände der Predigthilfen entspricht), so schwierig ist sie in bezug auf die Katechetik. Im gesamten Nachlaß befindet sich kein einziges Protokoll eines katechetischen Haupt- oder Proseminars, obwohl auch hier (nach Auskunft von Heinz Henche) Protokolle gefuhrt wurden. Da Stählin 1933-1935 keine
zu (Brief vom 2. 12. 1929), offensichtlich wurde aber nichts aus dem Vorhaben. In der Form - es handelt sich um Aphorismen von drei Zeilen bis zu höchstens einer halben Seite - lehnte sich Rittelmeyers Buch deutlich an Nietzsches Werke an. 62 Hier verdient noch Stählins Äußerung in einem Brief an Otto Piper vom 6. 8. 1946 angefügt zu werden. Piper hatte am 19. 6. 1946 aus Princeton geschrieben, es müsse das Gesetz gepredigt werden, da das Evangelium "so sentimentalisiert worden" sei. Stählin stimmte dem zu und ergänzte: "und zwar das 'Gesetz' als die Ordnung für das Leben der Menschen im Kosmos und in der Geschichte." - Gegen die Sentimentalisierung hatte sich Stählin in seinen "Predigthilfen für den Predigtdienst in der Wehrmacht" gewandt:: "Nur keine allgemeinen, gefühlvollen Redensarten über den Herrn, der in allen Nöten hilft und allen Schaden heilt! Sondern ganz konkret und handfest davon reden, was das eigentlich heißt, taubstumm zu sein [...]. Wie geschieht das, daß Christus uns das Ohr auftut, [...] Was bedeutet dafür der Krieg?" (Predigthilfe zu Mk 7,31-37, 1941, S. 3.)
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Katechetik las, liegt auch keine der sorgfältigen Nachschriften von Heinz Henche vor. Wir beschränken uns von daher auf eine Skizze nach zwei Katechetik-Vorlesungen von 1927 und 1936 sowie eine weitere Skizze nach zwei Vorlesungen zum Konfirmandenunterricht von 1928/29 und 1936. Da es sich nur um zu extemporierende Stichwort-Manuskripte handelt, bleibt manches undeutlich. Die Katechetik-Vorlesung im Sommer semester 1936 ist die erste vierstündige Hauptvorlesung in dieser Unterdisziplin, bis zum SS 1932 hatten Homiletik und Katechetik jeweils als "Praktische Theologie II" zusammengehört. Ab dem SS 1933 begann Stählin im Sommer (meistens) Homiletik, im Winter (meistens) Liturgik zu lesen. Daraus erhellen bereits seine Schwerpunkte. Wir folgen in der Skizze der Vorlesung von 1936 und greifen gelegentlich auf den Katechetik-Teil der Praktischen Theologie II im SS 1927 sowie auf Veröffentlichungen zurück. Am Anfang soll jedoch der Hinweis auf einen - auch aus gegenwärtiger Perspektive - interessanten frühen Aufsatz von 1919 über Religionsunterricht oder Lebenskunde? stehen. In den turbulenten Monaten nach der Novemberrevolution 63 fragt Stählin, wie überhaupt schulischer Religionsunterricht im neuen säkularen Staat begründbar ist. Sowohl einen "Religionsunterricht" als auch eine "Lebenskunde" hält Stählin für problematisch. Eine Religion als "ein 'Fach' neben anderen Fächern", als "ein Teilgebiet des Lebens neben anderen" sei überhaupt keine Religion. 64 Diese Problematik beruhe aber nicht auf den Ereignissen der letzten Monate. Zugrunde liege vielmehr eine jahrzehntelange Entwicklung, eine "seelenlose und gottferne Kulturperiode, die in Krieg und Revolution ihren Ausdruck und ihr Ende gefunden hat." 65 Stählin trauert also keinesfalls vergangenen Zeiten nach. Für die Sache der Religion könne die Loslösung von der Schule durchaus Vorteile bringen. Stählin argumentiert jedoch nicht kirchlich weiter, sondern schulisch: "so seltsam es klingen mag: Die Beseitigung des Religionsunterrichts wirkt auf die Schule viel zerstörender als auf die Kirche." 66 Damit werde die Schule zur Mitteilung von Kenntnissen als einziger Aufgabe entwürdigt. Darum entstehe zwangsläufig das Bedürfnis nach einem Moral63 Der berühmte USPD-Kultusminister Adolf Hoffmann, der vom 12. November 1918 bis Anfang Januar 1919 die Kirchenpolitik in Preußen verantwortete, hatte durch einen Erlaß vom 19. 11. 1918 den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an allen preußischen Schulen aufgehoben (die Kultusminister in Bayern, Sachsen und Württemberg planten ähnliches), so daß ein Proteststurm der christlichen Eltern aufkam. (Klaus SCHOLDER, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, 1986, S. 1922.) Stählins Aufsatz erschien im Mai 1919, am 11. 8. 1919 wurde die Weimarer Reichsverfassung mit dem Art. 149 ("Der Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach der Schulen [...]") verabschiedet. 64 Religionsunterricht oder Lebenskunde?, CuG 1919, S. 68, 2. Sp. 65 A.a.O., S. 69, 1. Sp. 66 A.a.O., S. 69, 2. Sp.
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oder Lebenskundeunterricht. Dieser sei aber mindestens an Volksschulen ungeeignet, weil statt "Verständnis des eigenen Lebenskreises" Kenntnisse referiert, unreif kritisiert und nichts mehr persönlich ernst genommen werde. Ebenso enthalte ein (von sächsischen Lehrern geforderter) "interkonfessioneller Religionsunterricht" nur ein "blut- und kraftloses Christentum" (und sei als "staatlicher Zwangsunterricht" eine Vergewaltigung konfessionsloser Kinder). 67 So sieht Stählin im Mai 1919 nur zwei Wege: die Errichtung konfessioneller Privatschulen, die gänzlich den Charakter christlicher Schulen tragen und die Einfuhrung "moralischer Unterweisung" für Kinder von Eltern, die die Konfessionalisierung der Schule nicht wünschen. Sind die Lösungen Stählins am Schluß auch mehr angedeutet als konsequent durchdacht (was ist z.B. in bezug auf den Religionsunterricht an "normalen" öffentlichen Schulen mit einem großen Anteil evangelischer und katholischer Kinder zu sagen?), so zeigt der Aufsatz jedoch die bis heute bestehenden Aporien bei der Begründung sowohl von interkonfessionellem Religionsunterricht als auch von Moral- oder Religionskunde auf. Wichtig bis heute und grundlegend für Stählins katechetischen Ansatz ist dabei vor allem die Tatsache, daß er den Religionsunterricht vom öffentlichen Bildungsauftrag her und nicht vom Verkündigungsauftrag der Kirche her zu begründen sucht. Die Verlegung der religiösen Unterweisung allein in den Raum der Kirchengemeinde ist ein nur vermeintlich lockender Weg, welcher den gesellschaftsdiakonischen Aspekt kirchlichen Handelns als Anteil an der Bildungsverantwortung insgesamt außer acht läßt. Dieser Ansatz hat an Aktualität nichts eingebüßt. Mit diesem weitgefaßten Begriff von Katechetik - der insbesondere in Stählins Ansatz beim "Religions-" und "Lebens-"Begriff wurzelt! - ist auch die vierstündige Katechetik-Vorlesung 1936 konzipiert. Ein grundsätzlicher Hauptteil ("I: Die Voraussetzungen der Katechetik") und ein Teil II,A ("II. Hauptteil: Die katechetische Aufgabe, A. Die Beachtung der Altersstufen") sind erhalten. 68 Stählin geht es zunächst darum, die christliche Unterweisung "im Zusammenhang des gesamten Erziehungsgeschehens" zu betrachten als "Evangelische Pädagogik". 69 Hierbei handele es sich um einen vieldeutigen Begriff, der nicht dazu führen dürfe, daß evangelische Erziehung durch die Beschränkung auf "evangelische Lehre" in den "Winkel gedrängt" werde (2c.d.). 67 A.a.O., S. 70, 1. Sp. 68 Die Teile umfassen 13 Bogen, was für eine 4-stündige Vorlesung bei Stählin recht wenig ist. Da die Notizen mit der Entwicklungspsychologie abbrechen, wird Stählin nur diese Teile neu konzipiert und die materiale Katechetik (Stoffe und Methoden) nach den alten Vorlesungen "Praktische Theologie II, Homiletik und Katechetik", vorgetragen haben. 69 Vorlesung Katechetik, SS 1936, Bogen 2, S. c; im folgenden mit Bogen und Seitenangabe im laufenden Text.
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Darum müsse vielmehr eine "grundsätzliche Beurteilung der Erziehung" vorangehen, welche zunächst die "erzieherische Funktion jeder menschlichen Gemeinschaft" zu berücksichtigen habe (3a); Stählin rekurriert hier auf die "funktionale Erziehung", z.B. durch Familie, Arbeitsgemeinschaft, Dorfgemeinschaft und Sitte und konstatiert: "Das Evangelium erkennt diese [?] pädagogische Urfunktion des Lebens an", weswegen ein unbedingtes Ernstnehmen "des wirklichen Lebens" für die evangelische Erziehung zu fordern sei (3c). Andererseits jedoch bestehe eine "Spannung zwischen Erziehung und Evangelium" (4a). Dabei gehe es um einen Sonderfall [?] des Verhältnisses von Evangelium und Ordnungen, weil es beim Glauben um Gottes gnädiges Handeln gehe, während die Erziehung grundsätzlich ein innerweltliches Ziel habe: die Teilnahme am Leben in Familie, Werkstatt, Staat, während der Glaube den Menschen auf dem Weg zu Gottes Heil sehe (4a).70 Bei der Vermischung drohe eine "pädagogische Hybris", welche sich die Wiedergeburt als Erziehungsziel setze und damit eine besondere Form von Werkgerechtigkeit darstelle (4a). Positiv bestehe der Beitrag des Evangeliums zur Erziehung in der Relativierung bestehender Abhängigkeiten zwischen Eltern/Kindern, Lehrern/Schülern: Stattdessen werden die "übereinander geordneten Menschen nebeneinander geordnet." (4b) Diese Andeutungen können ergänzt werden durch einen Aufsatz aus dem Jahre 1928 mit dem Titel "Pädagogik des Glaubens". Darin heißt es: "Pädagogik des Glaubens" sei "eine letzte im Evangelium begründete Kritik jeder Pädagogik." 71 Stählin distanziert sich von einer Pädagogik zum evangelischen Glauben. Er bezweifelt es sehr, daß man Menschen zu "evangelischen Persönlichkeiten" erziehen könne: "es ist die Frage, ob die Selbstsicherheit, mit der hier von dem Evangelium und dem evangelischen Menschen als dem Ziel der Erziehung geredet wird berechtigt und möglich ist, [,..]." 72 Der Titel des Aufsatzes sei vielmehr als genitivus subiectivus zu verstehen. Es geht ihm um die "Frage, was Sinn und Weg einer Erziehung ist, die mit dem reformatorischen Bekenntnis zu der Rechtfertigung aus dem Glauben ernst macht."73 Das wesentliche Mittel einer Pädagogik des Glaubens sei die Verkündigung des Wortes Gottes, wobei darunter aber gerade nicht die Auslegung, Anwendung und das Predigen von Bibelsprüchen zu verstehen sei: "Nur in dem persönlichen Bekenntnis, als der Gestaltung des ganzen Le70 Die einzelnen Formulierungen gehen hier - wie meistens - aus Stählins schwer lesbaren, mit stenographischen Kürzeln durchsetzten Notizen nicht eindeutig hervor, der Gesamtsinn ist allerdings klar. 71 Pädagogik des Glaubens, CuW 1928, S. 38. 72 A.a.O., S. 37. 73 A.a.O., S. 38. Hier bringt Stählin also die Rechtfertigungslehre ins Spiel, allerdings nicht in positiver, sondern in kritischer Funktion (vgl. dazu die Ausführungen oben zur Homiletik-Vorlesung).
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bens aus dem Glauben heraus vermag der Glaube zu erziehen." 74 Darum dürfe die religiöse Sphäre nicht als ein Sonderbereich abgegrenzt werden, so daß der Religionsunterricht als ein Fach neben die "realistische Ausbildung in allen möglichen Fächern" trete, sondern eine Pädagogik des Glaubens "trägt den Angriff des Glaubens in alle Lebensgebiete hinein." 75 Damit geht es nicht um die Vermittlung bestimmter christlicher Theorien, sondern um die "Durchdringung jeder Erkenntnis, auf allen diesen Gebieten mit dem Glauben, daß die Welt die Schöpfung Gottes und die Geschichte die Werkstätte seines Handelns ist." 76 Ist hier sachlich vom "Angriff des Glaubens" die Rede, so ist damit nicht eine Art von Verkündigung in Schule und Erziehung gemeint. Auch dabei gilt Stählins induktiver Ansatz, der das Leben als Ansatzpunkt wählt und nicht die theologische Lehre: "Wie oft hindern wir einen jungen Menschen dadurch, daß wir ihn in ein fertiges Schema von Sünde und Gnade, Schuld und Heil hineinzwängen, gerade an einer wirklichen Erkenntnis und einer wirklichen Buße? [...] Wir können im Grund dem jungen Menschen immer nur deuten, was in den [sie] Bereich seines wirklichen Lebens an ihn herantritt, [,..]." 77 Mit dieser Grundlegung nimmt Stählin wiederum (wie in der Homiletik) eine durchaus eigenständige Position ein. Muten die Gedanken vom Durchdringen der ganzen Schulwirklichkeit zugleich "dialektisch-theologisch" (als "Angriff") und "liberal" (als Ausgehen von der "Haltung", nicht vom Wort) an, so greift der Ansatz insgesamt dem thematisch-problemorientierten Religionsunterricht ab 1970 vor. Insgesamt ist gerade keine Reduktion theologischer Inhalte ("Buße"), sondern ein anderer didaktischer Weg über die Lebensrealität der Jugendlichen ins Auge gefaßt. Das Konzept des christlichen Erziehens in allen Fächern entsprach allerdings wahrscheinlich bereits 1928
74 A.a.O., S. 42. 75 Ebd. Diese Formulierung erinnert trotz der großen Unterschiede an Gerhard Böhnes von Karl Barth herkommendes Konzept, nach dem der Religionsunterricht "Störfaktor" in der Schule ist. Böhnes Buch: Das Wort Gottes und der Unterricht erschien 1929, also ein Jahr nach Stählins Aufsatz. 76 Ebd. Stählin fügt die Präzisierung an: Der Glaube sehe "nirgends eine eindeutige und unmittelbare Beziehung irdischer Größen und Lebensbereiche zu Gott" (S. 43, eine wichtige Einzelheit im Zusammenhang der Stählin vorgeworfenen "natürlichen Theologie"). 77 A.a.O., S. 44. Dazu berichtet Friedrich Niebergall 1929, ein Anhänger der dialektischen Theologie habe auf die Frage, was er Kindern im Religionsunterricht sagen wolle, geantwortet: "Ihr seid Sünder." Niebergall dazu: "Ist das Jesu Geist? Eine sehr kinderfreundliche, herzliche Stunde wurde auf das stärkste abgelehnt als zu wenig ernst." (Friedrich NIEBERGALL, Die neueste Theologie und die Praxis, PTh 1929, S. 16.)
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kaum mehr dem real Möglichen und dürfte eher eine Projektion der Jugendbunderfahrungen in die Schulrealität gewesen sein. In der Vorlesung im SS 1936 fährt Stählin fort mit einer pädagogischen Anthropologie unter den Stichworten "Erziehungsobjekt - Erziehungssubjekt" (5 a). Er spricht über das Bild des Menschen im biblisch-christlichen Denken in Auseinandersetzung mit der völkisch-politischen Anthropologie. 7 8 Die Aufgabe evangelischen Erziehungshandelns sei der "Kampf gegen die Illusionen [als der] Dienst an dem wirklichen Menschen." Erst danach werden die verschiedenen "Träger des Erziehungshandelns" angesprochen: Familie, Werkgemeinschaft, Volk, Staat, Schule und Kirche (6a-8b). Die Eltern sind "Gleichnis der göttlichen Autorität, ως κ υ ρ ι ω " (6a). Darum ist die Autorität der Eltern nicht weiter zu begründen. Auch die "Werkgemeinschaft" übt eine erzieherische Funktion aus, nicht nur im Sinne einer technischen Arbeitshaltung, sondern auch fur menschliche Eigenschaften. Gerade in diesem Lernzusammenhang ist eine "Rückständigkeit der theologischen Fakultäten" zu konstatieren (7a). Das Volk hat gerade deswegen Kraft, Menschen zu formen, weil es "nicht primär Erziehungsgemeinschaft" ist.: Es erzieht durch Sitte und Sprache und ist selbst "ErziehungsζϊβΓ (7b, Hervorhebung dort). 79 Die Seite zu "d. Staat" ist leer (7c). Die Schule drohe in diesem Zusammenhang überschätzt zu werden: Weil sie eine "Aussonderung aus [?] natürlichen Lebensgemeinschaften" darstelle, müsse sie ein "Ort pädagogischer Illusionen" genannt werden (7d). Die Aufgabe der Kirche ist zunächst die "Bejahung dieser natürlichen Lebensgemeinschaften und die Stärkung ihrer pädagogischen Funktionen" (8a), sodann das Herausstellen der Relativität aller "Erziehungsmächte [?]", weil keine irdische Größe einen "totalen Anspruch auf den Menschen" haben dürfe (8a). Die Kirche ist jedoch nicht "Konkurrent" der anderen Erziehungsfaktoren, sondern "diejenige Stelle, an welcher [?] der letzte Sinn aller offenbar wird." (8b) Zum Abschluß des allgemeinpädagogischen Teils ordnet Stählin die Begriffe Bildung und Erziehung zu. "Erziehung" wird definiert "als Inbegriff der dauerhaften, bewußten, planmäßigen Einwirkung auf andere Menschen" 78 Hier steht im Manuskript: "Im wesentlichen 2. Ulmer [?] Vortrag (Mensch im Lichte der Bibel)". Der Vortrag von 1932 (o.O., o.J., von Stählin nachträglich datiert) wendet sich gegen dichotomische und trichotomische Anthropologie und wirbt für die alttestamentliche Weisheitsliteratur als Wirklichkeitsbezug. Der Sinn mancher philosophischer und theologischer Systeme bestehe darin, "daß sich der Mensch die Wirklichkeit vom Leibe hält." (S. 1) 79 Darüber hinaus hatte Stählin 1927 der völkischen Bewegung eine Art religionspädagogische Funktion attestiert: Es gebe "namentlich in nationalen und völkischen Kreisen eine bemerkenswerte Bereitschaft, die Kirche zunächst als geschichtliche Gegebenheit zu ehren und ihre Botschaft vor Sentimentalität oder nationaler Verfälschung zu bewahren." (Die pädagogische Bewegung, 1927, S. 484, bezogen auf Wilhelm Hauers "Bund der Köngener".)
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(8c). "Bildung" sei hingegen das Umfassendere, die Formung des Menschen auf ein bestimmtes Bild oder "Urbild" hin. Als Elemente der umfassend verstandenen Bildung sind die Prägung des Unbewußten durch bildnerisches Gestalten, bildende Kunst, Musik, Theater, liturgische Erziehung genannt; verwiesen ist wiederum auf Hugo Kükelhaus (8d). 80 Damit impliziert Stählins Bildungsbegriff vor allem die Ausweitung intellektueller und willentlicher Erziehung auf die Dimensionen von Leiblichkeit und Musischem hin. 81 Leider ist gerade die Bestimmung der kirchlichen Aufgabe im Rahmen des gesamten Erziehungshandelns (9a-c) aufgrund der Handschrift und der Kürzel nicht genau zu entschlüsseln. Das kirchliche Handeln müsse "in der Welt, gegen die Welt, für die Welt" sein, also nicht "Pflege des religiösen Lebens" mit dem "RU als Fach unter Fächern" (9a), sondern "die rechte [?] Tiefe und Zielsetzung des gesamten Erziehungswerkes" markieren 82 gegen den "Wahn einer profanen, weltanschaulich neutralen Bildung" (9b). Ob Stählin aber das Ende des konfessionellen Religionsunterrichts propagiert, bleibt nach dem Manuskript nur Vermutung. 83 Klar lesbar ist dann wieder die allgemeine Definition kirchlichen Handelns: es geht um die "doppelte Stellung zur Gesamtwelt" als "Aussonderung und Abstand" einerseits und "Verantwortung für das Ganze!" andererseits (9c). Interessant ist, daß gerade bei dem letzten Punkt das Stichwort "Liturgie" notiert ist; ansonsten handelt es sich um wenig spezifische Aufgabenbestimmungen.
80 Vgl. Hugo KÜKELHAUS, Urzahl und Gebärde, 1934, S. 14: "der Wille wird ausgeschaltet. Aber an die Stelle tritt nun nicht etwa das Willenlose, Triebhafte, das sogenannte und vielberufene 'Unbewußte' mit dem so viel Hokuspokus betrieben wird, sondern an die Stelle tritt ein Bild" (Hervorhebung int Original.) Trotz des Satzes gegen das Unbewußte steht das Buch in großer Nähe zu C.G. Jung, wenn von kulturübergreifenden "Urbildern" (passim) her gedacht wird. 81 Karl Ernst NIPKOW, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, 1990, S. 21, sieht das Wesentliche des Bildungsbegriffes darin, "davor zu warnen, daß überindividuelle Institutionen wie Staat, Kirche, Gesellschaft ihre Interessen am einzelnen Menschen vorbei durchsetzen wollen." Betont Stählins Bildungsbegriff mithin das Recht des ganzen Menschen, so Nipkows das Recht des einzelnen Menschen. 8 2 K . E . NIPKOW, a.a.O., S. 1 8 verwirft explizit das Konzept einer "evangelischen Pädagogik", weil eine solche Sicht eine "integralistische Überformung" bedeute und "weder theologisch rechtens noch in unserer Gesellschaft faktisch möglich" sei (ebd.). 83 Zu entziffern: "Forderung der Aufgabe der konfessionellen Erziehung. Was heißt das? [?] [...] Kampf gegen die 'konfessionelle' Erziehung. Tatsächliche Konfessionalität der Erziehung." (9b) Ob Stählin an einen "konfessionell-kooperativen" Unterricht dachte? Bei der Polemik gegen den "RU als Fach unter Fächern" scheint dies sehr unwahrscheinlich. Stählin hat sich später nicht mehr zum Religionsunterricht geäußert. Wahrscheinlich hat er eher an die mehrfach von ihm erwähnte konfessionelle Schule gedacht. Nicht unwichtig ist in diesem Zusammenhang, daß die "Entkonfessionalisierung" von Anfang an ein Prinzip von Hitlers Kirchenpolitik im Sinne der Gleichschaltung gewesen war.
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Eindeutiger und im Rahmen der Stählinschen Gedanken vertraut erscheint sodann die Bestimmung der "religiösen Unterweisung im Rahmen des gesamten kirchlichen Handelns" (10a-d), welche den grundsätzlichen Teil der Vorlesung ("Die Voraussetzungen der Katechetik") abschließt. Die traditio, so Stählin, stellt zunächst neben der Verkündigung eine notwendige Funktion von Kirche dar (10a), wobei die "lehrhafte Übermittlung" besonders zu bedenken ist. Daneben steht aber die "funktionale Erziehung durch das Dasein einer lebendigen Gemeinde", wobei nochmals "die Gefährlichkeit eines davon abgezogenen isolierten Religionsunterrichts" benannt ist (10c). 84 Die funktionale Unterweisung in der Gemeinde85 geschieht neben der Einfügung in die Gemeinschaft ("Sitte", "disciplina") vor allem durch den Kultus: In Zeichen, Symbol, Singen, Gebärde erfolgt eine "Eingliederung in ein geistliches Geschehen", wobei die "Ganzheit des Menschen: Denken, Fühlen, Wollen" einbezogen ist. Darum besteht hier auch "kein wesentlicher Unterschied zwischen Kind und Erwachsenem" (10c). Verwiesen wird in diesem Kontext auf R. Guardinis "Liturgische Bildung" von 1923. Eine Funktion bei der Unterweisung haben daneben Freizeitarbeit und geistliche Übung (Schweigen, Fasten, Meditation, Bibelarbeit) (10d). Die wenigen Stichworte wird Stählin in der Vorlesung erläutert haben.86 Es folgt der zweite Hauptteil der Vorlesung, in der Altersstufen, Stoffe und Methoden behandelt werden. 87 Bei den Altersstufen, so Stählin, ist dreifach zu fragen: formal-psychologisch (Denken, Gedächtnis, Triebleben, Phantasie), religionspädagogisch nach dem Sinn der jeweiligen Altersstufe, dann erst didaktisch nach der konkreten lehrhaften Übermittlung ( l l a . b . ) 84 Wie sich dieses Problem inzwischen verschärft hat, zeigt die Arbeit von Klaus LANGER, Warum noch Religionsunterricht?, 1989, S. 147: nur 24% der Religionslehrer finden in der Kirchengemeinde "Beheimatung und Vergewisserung". Es handelt sich um Ergebnisse einer schriftlichen Befragung von Religionslehrern an der reformierten Oberstufe in Hamburg vom Winter 1984/85. - Zu Versuchen, die Distanzen zu verringern, vgl. die beiden Publikationen des RPI Loccum: Gemeinde und Schule - lassen sich Gemeinsamkeiten entdecken?, 1989 und Gemeinde und Schule - Modelle gelungener Nachbarschaft, 1991. 85 Das Begriffspaar "funktionale-intentionale Unterweisung" könnte gerade für eine Grundlegung der gegenwärtig diskutierten "Gemeindepädagogik" fruchtbar sein, da die Grenzen einer Pädagogisierung von Gemeinde ebenso deutlich geworden sind wie diejenigen eines - etwa noch pneumatologisch - als "Freiheit" und "Spontaneität" überhöhten pfarramtlichen Subjektivismus, der meistens im Traditionalismus endet. 86 Bereits 1933 hatte Stählin scharf die beabsichtigte Trennung in geistig-religiöse (kirchliche) und leibliche (staatliche) Pädagogik kritisiert (Christlicher Religionsunterricht im nationalen Staat, 1933, S. 37). Auch dort hieß es, es sei "christlicher Religionsunterricht nur möglich in enger Bindung an das gottesdienstliche Leben der Gemeinde" (a.a.O., S. 34). 87 Nur die Entwicklungspsychologie hat Stählin 1936 überarbeitet, danach endet das Manuskript.
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Die materialen Ausfuhrungen Stählins können wir an dieser Stelle übergehen. 88 Interessant sind jedoch die wenigen Bemerkungen über den schulischen Religionsunterricht (13b). Dort gehe es um die Vermittlung von Kenntnissen aus der Bibel, Gesangbuch und Katechismus. Dabei müsse man sich klarmachen, daß im Umfeld des schulischen Religionsunterrichts "zum Teil ganz andere Kräfte am Werk" seien und der Unterricht einen "Fremdkörper" in der Schule bilde (hier ist erneut das Stichwort "konfessionelle Schule" notiert, dazu die Fragen der geistlichen Aufsicht und der kirchlichen Gebundenheit des Religionslehrers). Bedeutend an dieser Stelle wie auch an der Vorlesung insgesamt ist die Tatsache, daß Stählin den schulischen Religionsunterricht im Grunde kaum in seine Katechetik zu integrieren vermag, aber trotzdem an einem Gesamtkonzept festhält, welches "kirchliche Bildungsverantwortung in Gemeinde, Schule und Gesellschaft" 89 wahrzunehmen sucht. Dies ist umso bemerkenswerter, als schon Fr. Niebergall 1919 die Auseinanderentwicklung von Katechetik und schulischer Religionspädagogik konstatiert hatte. 90 Die Entwicklung nach 1936 verlief aufgrund der nationalsozialistischen Bedrängung des Religionsunterrichts hin zur völligen Übernahme des Unterrichts durch die Kirchengemeinde. 91 (Diese erneute Marginalisierung der religiösen Unterweisung durch Lehrer könnte eine zweite, lange wirksame Hypothek für das Verhältnis von Schule und Kirchengemeinde sein wie die immer noch nicht vergessene geistliche Schulaufsicht vor 1918.) Aus Stählins spezieller Katechetik sind nun noch einige Aspekte der Katechetik-Vorlesung im SS 1927 hinzuzufügen. 92 In dieser Vorlesung ist im 88 Diese sind zwar gut lesbar, enthalten neben Allgemeinem über Denken, Fühlen, soziales Erleben aber auch zeitbedingtes Grundwissen, z.B. durch die klare Abgrenzung von Kleinkind, Schulkind und Jugendlichem. Verwiesen ist hier auf Eduard Sprangers "Psychologie des Jugendalters" (Anlage zu Bogen 13). 89 So der Untertitel von K.E. NIPKOW, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, 1990.
90 Friedrich NIEBERGALL, Praktische Theologie, Bd. 2, 1919, S. 255: "So tritt aus dem frühen Einerlei religiöser Unterweisung in der Schule und in der Kirche langsam die Unterscheidung in der Literatur hervor, wie sie sich in der Praxis schon länger bemerkbar gemacht hat." Im folgenden bestimmt Niebergall den schulischen Religionsunterricht von der "Kultur" her (S. 255 f.), während der kirchliche Unterricht seelsorgerlich und gemeindlich zu prägen sei. Christoph BIZER, Art. "Katechetik", 1988, S. 699 datiert die Auseinanderentwicklung auf die Jahrhundertwende. Der Oberbegriff "Katechetik" sei mehr und mehr verschwunden. (Bei Niebergall ist übrigens - aufgrund des religionswissenschaftlichen Ansatzes - "Religionsunterricht" Oberbegriff für Unterricht in Schule und Gemeinde). 91 Die Konzeptionen von Martin DOERNE (Neubau der Konfirmation, 1936) und Oskar HAMMELSBECK (Der kirchliche Unterricht, 1939) habe ich charakterisiert in M. MEYER-BLANCK, Wort und Antwort, 1992, S. 209 f. bzw. S. 214-216.
92 Das Ende der Vorlesungsnotizen mit Bogen 13 im SS dürfte nicht auf den Abbruch der Vorlesung wegen des Studentenboykotts zurückzuführen sein, da sich insgesamt
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übrigen auch kurz der Konfirmandenunterricht angesprochen (llc-12c), den Stählin im SS 1936 (wie schon im WS 1928/29) gesondert zweistündig las, ferner die "Religiöse Erziehung des Erwachsenen" (14c.d). Der zweite Teil der Katechetik-Vorlesung von 1927 behandelt Inhalte und Methoden aus Katechismus, Bibel und Kirchenkunde unter der Überschrift "Der Stoff des Religionsunterrichts" (Bogen 15-27). Dabei entfällt einiges Gewicht auf die Geschichte der verschiedenen Katechismen, vor allem seit der Reformation (15a-18b). Als Methoden sind Memorieren und Erklärung angegeben. Beim Memorieren werden das 3 . - 5 . Hauptstück als "unbrauchbarer Ballast" apostrophiert (18c), insgesamt soll durch Tafelanschrieb, Chorsprechen und Satzgliederung93 Hilfestellung gegeben werden. Ziel der Erklärung sei "nicht die Aneignung dieses Bekenntnisses, sondern das Verständnis." (18d) Besonders warnt Stählin vor begrifflichen Erklärungen und Definitionen in einem '"Exponierten Katechismus', in dem die Erklärung eine Erklärung erklärt." (18d) Stattdessen soll man den Katechismus "mit konkreter Anschauung füllen." Das Erleben der Kinder durch freie Erzählungen aus Bibel und Kirchengeschichte soll im Vordergrund stehen, und es sollen keine Lehren aus dem Katechismus herangezogen werden, die nicht dem Verständnis der Kinder und Jugendlichen entsprechen (19a).94 Ebenso heißt es von den Bibelsprüchen, diese sollten "Nicht Lehrsprüche, sondern Lebensworte" sein (22a). Wären Protokolle von katechetischen Seminaren erhalten, so könnte die katechetische Methodik Stählins konkreter beschrieben werden. Heinz Henche weiß zu berichten, daß schon Stählin vor "W-Fragen" warnte und lieber "Denkfragen" im Unterricht gestellt sehen wollte. Wenn Stählin selbst eine der Unterrichtsstunden (z.B. am Freiherr-v.-Stein-Mädchengymnasium in Münster)95 übernahm, sei es ihm gelungen, ein Gespräch mit "lebendigen Fragen" in der Klasse in Gang zu bringen, welches sich nicht nur auf ihn als Unterrichtenden bezog.96
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nur 14 Studenten bei Stählin abmeldeten (Via Vitae, 1968, S. 304). Wie aus dem Nachlaß hervorgeht, hat Stählin Teile alter Vorlesungen wiederverwendet und dürfte in diesem Fall auf das SS 1927 Vorgetragene - modifiziert extemporiert - Bezug genommen haben. - Auch diese Vorlesung "Katechetik" von 1927 wird im folgenden mit Bogen- und Seitenzahl im Text zitiert. Dazu ist das Stichwort "Saathoff!" notiert. Albrecht Saathoffs Lernbüchlein "Die Welt des Glaubens" ( 6 1925) war auf 64 Seiten in 30 Abschnitte mit Losungen wie z.B. "Werde ein Charakter!", "Beherrsche deine Triebe" gegliedert. Der Sinn ist nicht eindeutig: "Nicht Dinge herausholen, die nicht [?] in die konkrete Lage [?] hineinsprechen." Stählins Tochter Hildegart Mumm berichtet: "Wir waren als Klasse die 'Opfer' für die katechetischen Seminare." 20 Studenten, von denen einer unterrichtete, waren dabei in einer Klasse von 40 Schülerinnen (Gespräch am 8. 3. 1993). Gespräch mit Heinz Henche am 9. 2. 1993. Als abschreckendes Beispiel habe Stählin die Anekdote eines katechesierenden Prälaten in Württemberg erzählt, der 1. Petr 5,8 "herauskatechesieren" wollte und mehrfach den Satzanfang vorgab: "Der Teufel
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Eine gewisse Anschauung zu seiner Unterrichtsmethodik; vermittelt der Bericht Eine Schulstunde über die Engel von 1939. Stählin legt eine Art Unterrichtsprotokoll mit wörtlich zitierten Äußerungen der Schülerinnen (1214jährige Mädchen in einer Volksschule) wieder. Seine Intention war es, mit Hilfe von drei bildnerischen Engeldarstellungen (Rembrandt, Verkündigung an die Hirten/Rudolf Schäfer, Te deum laudamus/Heinz Waltjen, Der Erzengel) "den beiden Gefahren einer unwirklichen Märchenstimmung und einer rationalistischen Auflösung [zu] entgehen." 97 Umrahmt wird die Stunde durch die Frage "Gibt's denn eigentlich Engel?", die in der vorangegangenen Stunde beim Singen einer Liedstrophe aufgetaucht war. Äußerungen der Schülerinnen (Stählin bezeichnet sie im Text als "Kinder") zu dieser Frage stehen am Beginn und am Schluß, dazwischen bringt Stählin die Bilder als Impulse ein. Die Äußerungen der Mädchen ("Nein, Engel gibt's nicht." "Die Engel sind etwas aus dem Märchen") fuhrt Stählin durch geschlossene Fragen weiter zur Bibel und zum dort Gemeinten. Dabei fällt eine erstaunliche Bibelkenntnis auf: Als Stählin nach Engeln in der Bibel fragt, werden Adam und Eva im Paradies, Abraham, die Verkündigung an Maria und an die Hirten in der heiligen Nacht sowie Jesus in Gethsemane genannt. Stählin fuhrt die Katechese zum ersten Zielpunkt: Engel sind Boten Gottes. (Fragen: "Was haben denn die Menschen sich so vorgestellt? Was ist denn da eigentlich geschehen?") Vor dem Einbringen der Bilder können sich die Mädchen grundsätzlich über die Darstellbarkeit von Engeln äußern, bei der Bildbetrachtung selbst nehmen Spontanäußerungen großen Raum ein. Diese werden wiederum mit geschlossenen Impulsfragen weitergeführt ("Warum ist denn da eine so große finstere Wolke?" "Ist das nun wohl etwas zum Fürchten oder zum Freuen, was er ihnen sagt?") Daneben stehen auch offenere Impulse des Unterrichtenden: "Entdeckt ihr etwas, was euch an das vorige Bild erinnert?" "Nun, was fällt euch denn weiter auf?" "Jetzt schaut diesen Erzengel noch einmal genau an und überlegt euch: Könnt ihr euch denken, wo sich dieser Kampf abspielt?" Aus heutiger Sicht würde man das Unterrichtsgespräch sicher anders fuhren (weniger "W-Fragen", Gespräch innerhalb der Klasse mehr fördern) und sich evtl. auf ein oder zwei Bilder beschränken, vielleicht auch einen Sozialformenwechsel (Partner-, Gruppen-, Einzelarbeit) einplanen und insgesamt die Lernziele weiter fassen. Trotzdem handelt es sich um eine interessante, methodisch abwechslungsreiche Stunde, die bei einer Frage der Schülerinnen anknüpft und einen nachvollziehbaren Weg mit klarem Spannungsbogen sowie Anfang und Ende hat. Die Vermutung liegt nahe, daß mit dieser (im
geht umher wie ein brr... brr... brr...", worauf ein Kind schließlich antwortete: "Brälat!" 97 Eine Schulstunde über die Engel, KuKi, 1939, S. 7, 1. Sp. Die folgende Darstellung geht an Stählins Bericht entlang und verzichtet für den relativ kurzen Artikel auf Einzelnachweise.
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Rahmen damaliger katechetischer Methodik) gelungenen Stunde ein typisches Beispiel Stählinscher Unterrichtspraxis vorliegt. Gar nicht hoch genug zu bewerten ist die Tatsache, daß die Studenten dies in der Schulklasse miterleben und ihre eigenen Unterrichtsversuche dort machen konnten. 98 Vielleicht, weil der Konfirmandenunterricht - wie erwähnt - "das Schönste" in Stählins Berufstätigkeit war", hat er darüber zweimal gesondert gelesen, obgleich auch immer ein kleiner Teil der katechetischen Vorlesung davon gehandelt hatte. Ausfuhrliche Notizen liegen für das WS 1928/29 vor, während für das SS 1936 nur 7 Bogen zur Geschichte der Konfirmation neu ausgearbeitet sind. Stählin wird 1936 die alte Vorlesung erneut verwendet haben. 100 Die Vorlesung Der Konfirmanden-Unterricht WS 1928/29 beinhaltet zu einem Drittel allgemeine Überlegungen 101 , daran anschließend werden Unterrichtsthemen entwickelt. Der allgemeine Teil enthält weniges zur Konfirmation (la-d) und zu Rahmenbedingungen und Methodik (7a-9c), das Schwergewicht liegt auf dem Abschnitt "Der junge Mensch im Konfirmandenalter" (2a-6d). Entspricht ein Bogen etwa einer Vorlesungsstunde (die für 28 Stunden konzipierte Vorlesung umfaßt 29 Bogen), so hat Stählin folglich fünf Stunden lang die Psychologie des Konfirmandenalters behandelt. Er beginnt mit der Vorbemerkung, eigentlich sei es bedenklich, "in so schematischer Weise von dem jungen Menschen" zu sprechen (2a), da eine "ungeheure Mannigfaltigkeit der Zeit, des Standes, der Umwelt, des persönlichen Schicksals" maßgeblich sei. Man dürfe nicht nach einem Schema handeln wollen, es gehe vielmehr um "intime persönliche Kenntnis, die nur im KfU selbst erworben wird" (2a). 102 In Anlehnung an Sprangers "Psychologie des Jugendalters" (2c) wird dann die "Stellung des Jugendlichen zur Welt" dargestellt (2d-3d, Stichworte u.a. "Neugier", "Gestaltungsdrang", "Theoretische Wahrheitsfrage"), daraufhin die "Stellung zum anderen Menschen" (4a-c, u.a. "Angst um die eigene Geltung") und die "Stellung zum ei98 Wenn das katechetische Seminar dreistündig gehalten wurde (wie meistens, s. Anhang 2), dann gehörte dazu neben der Sitzung eine Stunde in der Schule am Vormittag. 99 Via Vitae, 1968, S. 171. 100 Vielleicht hat der Studentenboykott im Verlauf des SS 1936 dazu geführt, daß Stählin sich nicht zu einer neuen Ausarbeitung herausgefordert sah. 101 Bogen 1-9, die Themen auf Bogen 10-29. Seitennachweise im folgenden wieder nach Bogen und Seiten im fortlaufenden Text. Auch hier greift Stählin auf bereits Vorgelesenes zurück. So ist zur Konfirmation notiert: "s. kirchl. Handlungen SS 1927 Blatt 14 ff." (la). Zur Konfirmation wird die Tabelle der Konfirmationstypen nach Heinrich RENDTORFF, Konfirmation und Kirche, 1928, S. 34 referiert (lb). 102 Vgl. dazu das jüngste Fazit von Friedrich SCHWEITZER, der nach der Reflexion der neuen jugendsoziologischen und religionspsychologischen Ansätze betont, am wichtigsten sei es, "das religionspädagogische und sozialisationstheoretisch-entwicklungspsychologische Sehen selbst zu lernen." (Wer sind die Konfirmanden?, PTh 1993, S. 136, Hervorhebung dort.)
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genen Ich" (4d, "nicht eigentlich Neuentdeckung, sondern Neubetonung des Ich", im Verhältnis zur Umwelt "Schwanken zwischen Anpassung und Eigenwille"). Am stärksten aber wirke der im Ich neu erlebte eigene "Lebenszweifel", der auf die "gebrochene Einheit" des Ich zurückzufuhren sei. "Sonderwege des Innenlebens" und "Sonderwege des Körpers" führten dazu, daß das Ich nicht mehr selbstverständlich gegeben sei, sondern zur "Gestaltungsaufgabe" werde (5a). Begleiterscheinungen seien u.a. sittlicher Idealismus und ethischer Rigorismus (5b). Damit wird beschrieben, was in Anlehnung an Erik H. Erikson nach dem 2. Weltkrieg als die Krise des Jugendalters zwischen "Identität und Identitätsdiffusion" 103 zum Allgemeingut geworden ist. Als bedeutsam muß die grundsätzliche Entscheidung erachtet werden, das Konfirmandenalter von der Psychologie des Jugendalters her zu erschließen, während in der Diskussion um Konfirmandenunterricht und Konfirmation vor 1945 meistens von "Kindern" die Rede ist. 104 Die "religiöse Lage des jungen Menschen" sei einerseits noch ganz unproblematisch von (familiären) Sitten und elterlichen Vorstellungen geprägt. Andererseits hänge dies alles vom "Zentrum des jugendlichen Lebens" ab, so daß alles plötzlich verschwinden könne und ein Jugendlicher nicht mehr bete und an Gott glaube (5d). Die daraus abgeleitete Aufgabe wird "zunächst ganz allgemein" so formuliert: "Bezeugung des Evangeliums so, daß es in der Lage gehört werden kann wie [?] auf jeder Altersstufe, α) ganz autoritär [?], gedanklich klar, traditionell ß) so daß es sofort für die einsetzende Jugendentwicklung eine Bedeutung gewinnt." (6d) Damit ist das didaktische Prinzip des Konfirmandenunterrichts wie schon in dem Aufsatz von 1923105 konsequent vom Jugendlichen her entwickelt (wobei allerdings der Unterschied von Jungen und Mädchen wie noch in der neueren Diskussion keine Rolle spielt). Die "klare" und "autoritäre" Bezeugung des Evangeliums entspricht dem Brüchigwerden religiöser Vorstellungen im Jugendalter, die Orientierung an der Jugendentwicklung selbst der 103 Erik H. ERIKSON, Identität und Lebenszyklus, 1973 [1959], S. 106-114. 104 S. M. MEYER-BLANCK, Wort und Antwort, 1992, passim. 105 Konfirmation und Konfirmandenunterricht, CuW 1923, dazu s.o. S. 289-291. - 1933 hat Stählin für eine "kirchliche Lebenskunde und Lebenshilfe" plädiert, die gerade nicht die "Preisgabe des Evangelischen" bedeuten solle (Über Aufbau und Lehrplan des Konfirmandenunterrichts, 1933, S. 12). Bis heute wegweisend bleibt das Prinzip, die religiöse und profane Lebenssituation der Jugendlichen nicht gegeneinander auszuspielen bzw. voneinander zu isolieren (a.a.O., S. 13). Gerade diese Gefahr liegt in dem geläufigen Gegenüber von "Tradition" und "Situation" als hermeneutischem Denkmodell. Als entscheidend hebt Stählin neben dem Vertrautwerden mit Liedstrophen und biblischen und kirchengeschichtlichen Gestalten auch hier die "Teilnahme am Kultus" hervor (a.a.O., S. 14).
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umfassenden Hilfsbedürftigkeit und der Aufgabe der Selbstkonstruktion in der Altersstufe. Bis heute wird man diese beiden Prinzipien für sinnvoll halten (und nach der Konzeptionsdebatte seitdem hinzufügen müssen, daß es besonders darauf ankommt, nicht eines der beiden Prinzipien vom anderen zu isolieren). Stählin konkretisiert seine Didaktik an Lebensfragen (Arbeit und Beruf, Geld, Vergnügen, Alkohol, Sport, Leib, Tod; Bogen 10-15) und an christlichen Inhalten (Christentum, Christus, Bibel, Kirche, Gottesdienst, Gemeinde, Sünde, Beichte, Sakramente; Bogen 16-29). Dazwischen finden sich Überlegungen zu den Rahmenbedingungen (Verhältnis zum schulischen Religionsunterricht, Zeit, Dauer, Methode; Bogen 7-9). Der KU soll kirchlichen Charakter haben und darum zunächst im kirchlichen Raum, nicht in der Schule stattfinden (7a), daneben "aktuell und persönlich" sein. Die Gleichung "RU belehrend, KU seelsorgerlich" sei aber zu einfach, ebensowenig sei die Beschränkung nur auf die Sakramentenlehre sinnvoll. Vor allem Betonen des Stoffes sei der "persönliche Charakter" des KU wichtig, was in dem "erwachenden Ich-Bewußtsein" begründet sei (7c). Methodisch ist zunächst das für den Religionsunterricht Geltende vorausgesetzt. Es soll sich um ein "lebendiges Gespräch" handeln, weder um "Kunstkatechesen" noch um "spielerische Unterhaltung", also um wirklichen Unterricht, in dem Wahrheitsfragen verhandelt werden (9a). Das Memorieren soll durch gemeinsames Singen und Sprechen erfolgen (9b) 106 , eingeschärft wird die Wichtigkeit der Lebensgemeinschaft durch ein Konfirmandenlager zwischen beiden Unterrichtsjahren, wobei Stählin realistisch notiert: "Viel Arbeit!" (9c). 107 Aus dem stofflichen zweiten Teil der Vorlesung seien hier nur zwei Beispiele angefugt. Auch im Konfirmandenunterricht soll "Der Leib" Thema sein, weil jugendpsychologisch die Geschlechtsreife, geistesgeschichtlich die allgemeine "Sinnentleerung des leiblichen Lebens" dafür spreche (13a). Die Linien des Buches "Vom Sinn des Leibes" sind schon weitgehend ausgeprägt 106 Für das Lernen von Liedern und Texten durch Teilnahme am Sonntagsgottesdienst, Sprechchor und individuelles Auswendiglernen plädiert Stählin in: Memorieren durch kirchliche Gewöhnung, 1933. 107Noch am 15. 2. 1937 bat Stählin den Dekan (Fr. W. Schmidt) um Sonderurlaub, um eine Freizeit für Jungkonfirmierte vom 24. 3. -11. 4. halten zu können: "Zu dem Umgang mit jungen Menschen, zu der biblischen und kirchlichen Schulung von Knaben und Mädchen im Konfirmationsalter habe ich hier keinerlei Möglichkeit, nachdem alle meine früheren Bemühungen, hier Konfirmandenunterricht geben zu dürfen, an dem Widerstand der Pfarrer gescheitert sind." (Personalakte Kurator Nr. 6686 I, Universitätsarchiv Münster). - Eine Reise nach Norwegen zu theologischen Vorlesungen wurde vom Kurator u.a. mit der Begründung abgelehnt: "Der Dekan der Evangelisch-Theologischen Fakultät empfiehlt unter dem 26. April d. Js. vorsichtige Behandlung der Angelegenheit." (Schreiben vom 24. 5. 1937 in derselben Akte.)
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(Leib als individuelle Form und Ausdruck; Leib als Form des Zusammenhangs durch Essen, Trinken, Atmen, geschlechtliche Anlage; Leib als Körper mit den Fragen von Zucht, Sünde und geschlechtlichen Problemen; 13a-b). Es fehlt allerdings gerade die Relation des Leibes zu Gott, welche eine besondere didaktische Chance im Konfirmandenunterricht nach Stählins eigenem Ansatz darstellen müßte. Dieser Aspekt war offensichtlich 1927/28 noch nicht durchdacht. Beim Thema "Sünde" schärft Stählin ein, gerade hier sei "nicht dogmatische Korrektheit, sondern seelsorgerliche Verantwortung ein letzter Maßstab!" (24a) Zunächst seien verschiedene Begriffsbestimmungen von dem, was Sünde bedeutet, durchzusprechen: "Was schadet mir?" (hygienischer Maßstab), "Nicht Aufsehen erregen!" (gesellschaftlicher Maßstab), "Nicht fremde Rechte verletzen!" (sozialer Maßstab) und schließlich die "unbedingte Verpflichtung" durch Gottes Forderung, 10 Gebote und Jesus (religiöser Maßstab). Dabei solle auch der "unbedingte Ernst" von Gottes Strafe herausgestellt werden, aber unter dem Leitsatz "Gott läßt die Folgen erleben" gegen die Vorstellung vom willkürlich strafenden Gott angekämpft werden (24b). Ebenso sei in Abwehr eines "ethischen Rationalismus" mit Rom 7 über " Die Macht der Sünde" zu handeln (24c). Schließlich müßten konkrete Hilfen gegeben und Aufgaben gezeigt werden unter dem Teilthema "Der Kampf gegen die Sünde" (25a). Der fundamentale Unterschied zu gegenwärtiger Didaktik der Konfirmandenarbeit erhellt aus den an dieser Stelle notierten Stichworten, welche eindeutige, feststehende moralische Weisungen favorisieren: "α) ß) γ) [...]
den Maßstab der Orientierung nicht verlieren! Jesus! Versuchung meiden; [...] Kräfte stärken. Widerstand üben. Nicht: 'Ich bin halt so!' Nicht Selbstzufriedenheit!" (25a)
Als Randbemerkungen für den Vortrag sind notiert: "Gerade auf sexuellem Gebiet! Phil 3! Sport!" Schließlich soll in diesem Kontext falsche und richtige Selbständigkeit thematisiert und auf den Zusammenhang mit der Kirche rekurriert werden. Damit ist sehr knapp der Bezug von Leib und Leib Christi angedeutet, der uns oben (in Abschnitt 4.3.) als grundlegend für Stählins Theologie aufgegangen war. Auch an dieser Stelle kommen wir demzufolge mit den Notizen zur Vorlesung an Grenzen. Ein der "Schulstunde über die Engel" analoges Protokoll zum Konfirmandenunterricht hat Stählin leider nicht veröffentlicht. Dennoch geht aus dem materialen Teil der Vorlesung klar hervor, daß der jugendpsychologische Ansatz nicht zu einer theologischen Reduktion fuhrt. Im Gegenteil: Aus den Notizen drängt sich der Eindruck auf, welcher sich stets - bis heute - bei der Durchsicht von Unterrichtsmaterial zum Konfirmandenunterricht einstellt. Die "problemorientierten" Teile (hier das Beispiel "Leib") könnten besser theologisch fundiert und
5.1. Praktisch-theologische Lehrveranstaltungen an der Universität
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die "bibelorientierten" (hier das Beispiel "Sünde") besser anthropologisch vermittelt sein. Aber dieses Urteil hat eben eine schmale Basis. Eindrücklich in der ganzen Vorlesung ist jedoch unbestritten der induktive Ansatz katechetischer Theologie von der Umbruchsituation junger Menschen her. Für die Vorlesung "Konfirmation und Konfirmandenunterricht" im SS 1936 hat Stählin die Einleitung über die Konfirmation neu ausgearbeitet. Dazu wird hauptsächlich aus der Geschichte der Konfirmation vorgetragen (Mittelalter; Reformationszeit mit Böhmischen Brüdern, Chemnitz, Bucer; Pietismus; Aufklärung; Gegenwart; Bogen 3,1-7,1). Bei der Bewertung bricht das Manuskript ab ("Die Not" ist das letzte, unausgeführte Stichwort). Bemerkenswert ist jedoch die einleitend vermittelte Einschätzung, der KU als "Gegenstand der Katechetik" sei von "besonderer Wichtigkeit im gegenwärtigen Augenblick" (la). Dazu fuhrt Stählin die biblische Unwissenheit aufgrund des ungenügenden und grundsätzlich problematischen Religionsunterrichts an sowie Die "Existenzfrage für die Kirche", ob sie Zugang zu den jungen Menschen gewinnen kann. Dann wird sogleich zur Konfirmation übergeleitet, die hier als kirchliches Handeln (kein Handeln Einzelner, sondern der Gemeinde, die zugleich Subjekt und Objekt des Handelns ist) und als kirchliches Handeln (leibhaftiges kultisches, reales geistliches Geschehen) definiert wird. (lb.c). Die Konfirmation gilt als Kasualie ("Vorgang im persönlichen Leben des einzelnen Menschen oder im Leben der Gemeinde", ld), wobei vier Auffassungen von "Kasualie" zurückgewiesen werden (pietistisch-missionarisch, profan-ästhetisch, sakramental-magisch, Heilsvermittlung). Der Sinn der Kasualien und der Konfirmation sei es vielmehr, daß "das profane Geschehen dem Heil Gottes begegnet [?] und es mit dem letzten Sinn erfüllt ist" (2a, Hervorhebung dort). Hier fehlen die späteren Ausführungen, eindeutig wird aber die Konfirmation als Verkündigungs- und Segenshandlung der Gemeinde, nicht als Bekenntnis oder gar Gelübde der Jugendlichen verstanden. Konfirmation steht im Dienste der kultisch realisierten Heiligung des Lebens. Damit steht auch das nur kurz angerissene Konfirmationsverständnis dieser Vorlesung im Kontext der insgesamt induktiv-anthropologisch vorgehenden Katechetik, die im ganzen - so dürfte deutlich geworden sein - der Jugendarbeit Stählins in Gemeinde und BDJ die entscheidenden Impulse verdankt. Dem in dieser Untersuchung herausgestellten Lebensbegriff entspricht es, daß Stählin im SS 1928 (einstündig) über "Das menschliche Leben im Licht des christlichen Gottesdienstes" las. Taufe, Kindergottesdienst, Konfirmation, Jugendgottesdienst werden in dieser Vorlesung (für Hörer aller Fakultäten) als Beitrag zu Bewältigung der "Not der Sinnlosigkeit" (Bogen 1, S. a) dargestellt. Dabei ist Voraussetzung, daß nicht nur der Kultus vom Leben auszugehen hat, sondern daß umgekehrt erst durch den Kultus das "Leben in seinen Sinnzusammenhang eingeordnet" wird, wobei es sich nicht um Sinndeutung, sondern um Sinngebung handele (3a). Der Kultus wird als
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"Weihe des Lebens" bezeichnet, die vor allem in der konkreten Verkündigung liege durch die "Sichtbarmachung der Bedeutung dieser Lebensstufe" (4c). Abgelehnt werden ein sakramentaler Weihebegriff und die "Heiligsprechung dieses Lebens". Damit ist in der Vorlesung der späte Stählinsche Lebensbegriff (s.o. Abschnitt 4.1.4.) vorausgesetzt und auf die Kasualgottesdienste bezogen.
5.1.3. Pastoraltheologie, Kirchentheorie, Praktische Theologie als ganze Der klassischen Einteilung der Unterdisziplinen Praktischer Theologie zufolge müßte (neben Liturgik, Homiletik, Katechetik) auch die Poimenik behandelt werden. Stählin hat auf diesem Gebiet so gut wie keine Lehrveranstaltungen abgehalten 108 und nur weniges publiziert. Seine Poimenik beschränkt sich, soweit dies aus den erhaltenen Aufzeichnungen hervorgeht, auf einige Gedankensplitter in der Vorlesung "Praktische Theologie I" mit dem Untertitel "Kirche, Pfarramt, Gottesdienst." 109 Des weiteren stellt sich ein terminologisches Problem ein, das zu Stählins Praktischer Theologie als ganzer überleitet: Einerseits kann Stählin die Pastoraltheologie definieren als die Lehre von der Tätigkeit des Pfarrers als Seelsorger 110 , andererseits kann er die Vorlesung "Die Kirche und ihre Ämter" im WS 1935/36 mit dem Klammerzusatz: "(Pastoraltheologie)" versehen. Es ergibt sich daraus die Notwendigkeit, die "Pastoraltheologie" 111 und die Praktische Theologie einander zuzuordnen und die Konstitution der akademisch-theologischen Disziplin Praktische Theologie als ganzer nach Stählins Vorstellungen in den 108 Lediglich für das WS 1939/40 ist die einstündige Vorlesung "Grundfragen der Seelsorge" für Hörer aller Fakultäten angezeigt, wovon sich jedoch keine Aufzeichnungen im Nachlaß finden. 109 S o
WS
1926/27,
1927/28,
1928/29,
1929/30
und
1932/33
und
1933/34.
Im
WS
1930/31 las Stählin Liturgik, im WS 1931/32 "Lehre von Kirche und Gottesdienst" als "Praktische Theologie I". Danach las er in der Regel im WS Liturgik oder "Die Kirche und ihre Ämter", im SS Homiletik oder Katechetik als vierstündige Hauptvorlesung. 110 "Die P. handelt also im weiteren Sinne von dem Wesen des geistlichen Amtes und dem seinem Träger zukommenden persönl. Verhalten, im engeren Sinne von der Aufgabe und den Mitteln der Seelsorge." (Pastoraltheologie, 1935, S. 1.) 111 Dazu sei nochmals verwiesen auf den wissenschaftsgeschichtlich materialreichen Aufsatz von Wolfgang STECK: Die Wiederkehr der Pastoraltheologie, PTh 1981, in welchem die Ablösung der "Pastoraltheologie" durch die "Praktische Theologie" seit Anfang des 19. Jahrhunderts geschildert, aber zugleich als nicht das letzte Wort in der Sache herausgestellt wird. Steck umschreibt vorsichtig, die "Pastoraltheologie" könnte sich neu etablieren "als eine eigene, von der wissenschaftlichen Praktischen Theologie unterschiedene Explikation der theologischen Theorie-Praxis-Beziehung" (a.a.O., S. 19).
5.1. Praktisch-theologische Lehrveranstaltungen an der Universität
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Blick zu nehmen. Da Stählins Interesse und tatsächlicher Schwerpunkt bei den Lehrveranstaltungen auf den praktischen Tätigkeiten der zukünftigen Pfarrer lag (s.o. die Darlegungen zu Liturgik, Homiletik, Katechetik) und er darüber hinaus an einer Erneuerung der Kirche vom geistlichen Leben, speziell von der Liturgie her, dachte, wird man fur die Definition der Praktischen Theologie als Wissenschaft von Stählin nicht zu viel erwarten dürfen und seine wenigen Aussagen an diesem Punkt auch nicht pressen und überbewerten dürfen. Es ist vielmehr an die These dieser Untersuchung zu erinnern, daß die implizite Struktur von Stählins Praktischer Theologie, welche mit den Schlüsselkategorien Leben, Leib und Liturgie erhoben wurde, Anhalt für eine gegenwärtige Konstitution Praktischer Theologie geben kann. Demgegenüber können Stählins zeitbedingte, wissenschaftsgeschichtlich wenig profilierte Definitionen von Praktischer Theologie bzw. Pastoraltheologie und damit die explizite Struktur seiner Praktischen Theologie in den Hintergrund treten. Gerade so dürfte man dem Praktischen Theologen Stählin am ehesten gerecht werden. Wir beschränken uns darum bei den folgenden Darlegungen, welche die Skizze von Stählins akademischer Tätigkeit abrunden, auf einige Aspekte zur Seelsorge, zur Kirche und ihren Ämtern 112 sowie zur Theorie der Praktischen Theologie als ganzer. Aufgrund der Quellenlage 113 beschreiben wir Stählins poimenische Vor-
112 Es kann nicht darum gehen, hier noch einmal die ekklesiologischen Prinzipien Stählins (nach den Vorlesungen) zu wiederholen, wie sie zur Schlüsselkategorie "Leib" nach den Hauptschriften von 1936 und 1940 bereits dargestellt wurden (s.o. S. 183207). 113 Stählins Vorlesungen "Praktische Theologie I" enthalten im Mittelteil zwar eine ausführliche "Pastoraltheologie" im älteren Sinne (als Lehre vom Pfarrerberuf), aber nichts speziell zur Seelsorge. Schwebt Stählin das alte Idealbild vor, daß der Pfarrer durch sein bloßes Dasein und die ganze Existenz ("funktionale") Seelsorge übt? Die Vorlesung "Praktische Theologie I" im WS 1926/27 behandelt auf 17 von 75 Bogen "Pfarramt und Pfarrer" mit den Unterthemen: Das Wesen des ev. Pfarrerberufes (28-29), Pfarrer und Priester (30-31), Die persönlichen Anforderungen des Pfarramts und die persönlichen Pflichten des Pfarrers (32-37b), Die Ordination (37c38), Pfarrer und Gemeinde (39-44, darin u.a. Pfarrstellenbesetzung, Verhältnis der Pfarrer untereinander, Laienarbeit, Kirchliche Vereine). Der Pfarrer soll "vor Gott stehen" und "kein außerberufliches Leben" führen (33a). Für den Pfarrer als Seelsorger werden von Stählin gefordert: "natürliches Geschick der Menschenbehandlung; gutes Gedächtnis für Menschen" (33b), ferner: "Dahinter die Kraft der großen Liebe, Demütigkeit gemeinsamer Schuld, Fürbitte [...] praktisch im Leben stehen!" (33c). - Auch angesprochen werden Fragen wie Gehalt ("Geiz"), Kleidung, Wahl der Pfarrfrau. Dabei wird die Gefahr von "Geschwätzigkeit" oder "Unverträglichkeit" erwähnt (37a). Mögen diese Auslassungen aus dem historischen Abstand heraus z.T. kurios wirken, zeigen sie doch das Konkrete in Stählins Vorlesungen. Erinnert sei auch an die zeitgenössische Pastoraltheologie von Manfred JOSUTTIS (Der Pfarrer ist anders, 1982), in der u.a. die Fragen nach der Macht, dem Geld und der Sexualität des Pfarrers eingehend thematisiert sind. Gleichwohl kann es mit diesen
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Stellungen nach dem Aufsatz Kirchliche Seelsorge von 1933. 114 Darin sind zwei Grundentscheidungen hervorzuheben. Erstens geht es Stählin darum, unter der "Seele" nicht nur die Innerlichkeit, sondern auch den Leib als "eine Form dieser Menschenseele" zu verstehen.115 Die Gefahr der Seelsorge sei es, vorbeizugehen an der "pflanzlichen und animalischen Leiblichkeit" des Menschen, wie die "sogenannte Bildungsarbeit fast ausschließlich sich an die Schicht des bewußten Denkens gewendet hat."116 Zweitens geht es um die Aufnahme von Impulsen aus der Tiefenpsychologie C.G. Jungs bei gleichzeitiger Abgrenzung und Verhältnisbestimmung von Psychotherapie und Seelsorge. Stählin erwähnt einiges "aus der gar nicht dringend genug zu empfehlenden Schrift" von Jung "Die Beziehungen der Psychotherapie zur Seelsorge". 117 Was aus heutiger Sicht (nach der Jung-Rezeption in der Theologie der letzten Jahrzehnte118) geläufig erscheint, muß 1933 sehr ungewöhnlich geklungen haben: Auch der Mann habe nicht nur einen animus, sondern auch eine anima: "Aber wenn der Mann seine anima im Souterrain einsperrt, so entsteht nur allzuleicht jene tiefe Zerspaltung des Menschen, die man als schizoid bezeichnet."119 Abgrenzend zur Psychotherapie betont Stählin, daß kirchliche Seelsorge immer nur als ein "Werk von Sündern an Sündern" aufgefaßt werden könne, es könne jedoch "das Verhältnis zwischen dem Seelsorger und seinem
Hinweisen auf die pastoraltheologischen Teile von Stählins Vorlesungen genug sein. (Bis zum WS 1933/34 trug Stählin so vor, s. die Nachschrift von Heinz Henche aus d e m W S 1 9 3 3 / 3 4 , S. 7 - 9 . )
114 Es handelt sich um die schriftliche Fassung eines Vortrags auf der Hauptversammlung des Württembergischen Pfarrvereins am 19. 4. 1933 in Stuttgart. 115 Kirchliche Seelsorge, 1933, S. 137, 1. Sp. 116 A.a.O., S. 147, 1. Sp. - Vgl. dazu Menschenführung als Aufgabe der Kirche, 1932, S. 317: Die Seelsorge wende sich an Gemüt, Innerlichkeit und Willen, aber jeder Seelsorger ahne, daß sich "gerade hinter dieser ganzen Schicht, an die er sich wendet, das eigentliche Leben des Menschen abspielt, [...] fortwährend aus verborgenen und schwer zugänglichen Untergründen rätselvoll emporsteigend [...]." 117 A.a.O., S. 138, 2. Sp. Der Titel exakt: "Über die Beziehung der Psychotherapie zur Seelsorge", 1932. Jung beschreibt, wie die Kranken "den Seelenarzt in eine priesterliche Rolle" zwingen (S. 128), und charakterisiert den Heilungsprozeß aus seiner Sicht so: "Dies geschieht dadurch, daß die sogenannten Archetypen zu selbständigem Leben erwachen und die Führung der seelischen Persönlichkeit übernehmen, anstelle des untauglichen Ichs und seines ohnmächtigen Wollens und Strebens. Der religiöse Mensch würde sagen: Gott hat die Führung übernommen." (S. 129) Daß eine unreflektierte Übernahme auf eine unbiblische dichotomische Anthropologie ("sündiges" Ich und "göttliche" Archetypen) hinauslaufen kann, liegt auf der Hand. 118 Vor allem durch das inzwischen in 10. (!) Auflage vorliegende Buch "Jesus der M a n n " von H a n n a WOLFF [1975],
119Kirchliche Seelsorge, 1933, S. 147, 1. Sp.
5.1. Praktisch-theologische Lehrveranstaltungen an der Universität
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Beichtkind niemals verstanden werden analog dem Verhältnis zwischen Arzt und Patient." 120 Darum befürwortet Stählin zwar die psychotherapeutische Spezialisierung einiger weniger Pfarrer, ist aber gleichzeitig skeptisch gegenüber einer allgemeinen Anreicherung des Theologiestudiums mit psychologischen Inhalten. Dabei, so befurchtet er, würden die Theologen zu den vielen Begriffen die sie ohnehin schon haben, noch eine Anzahl weiterer Begriffe bekommen, die "noch mehr von der Wirklichkeit des Menschen und des Lebens entfernen und entfremden."121 Viel wichtiger sei es, daß der künftige Seelsorger an sich selbst Seelsorge erfahren habe.122 Diese vereinzelt dastehende Momentaufnahme zur Seelsorgekonzeption zeigt eine Öffnung zur Tiefenpsychologie hin, weil diese im Sinne Stählins die ganze Leiblichkeit des Menschen und nicht nur Intellekt und Willen im Blick hat. Andererseits zeichnet sich bereits die Entwicklung ab, der zufolge Stählin der liturgischen, "objektiven" Form von Seelsorge123, wie sie in der Beichte gegeben ist, weitaus mehr Interesse entgegenbringen wird als der "subjektiven", psychologisch durchbildeten Gesprächsführung. Auch das Verständnis von Seelsorge zwischen Leben, Leib und Liturgie tendiert damit eindeutig und immer mehr einseitig zur Liturgie, und die Ansätze des Vortrags von 1933 werden später nicht wieder aufgenommen. Wenn in der Einleitung zu dieser Untersuchung betont wurde, daß Praktische Theologie für Stählin wesentlich Lehre von der Kirche um der Reform der Kirche willen ist und darum der Weg gewählt wurde, Stählins sämtliche Schriften (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) heranzuziehen, so ist an dieser Stelle auch seine Lehre von Kirche und Gemeinde im Rahmen der Vorlesungen "Praktische Theologie I" dem unter 4.3.3. ("Mysterium und Bruderschaft - Der Leib Christi") Entfalteten an die Seite zu stellen. Wir folgen dazu der sorgfältigen Nachschrift der Vorlesung aus dem WS 1933/34. 120 A.a.O., S. 139, 1. Sp. Genau an diesem Punkt hat Rudolf Bohren die psychoanalytisch orientierte, "klientenzentrierte" Seelsorge scharf kritisiert: "Mit Hilfe klinischer Ausbildung wächst dem Pfarrer aufs neue Macht zu über die Seele. [...] Auf einmal geht die Rede vom 'Klienten' um: Der Klient im Alten Rom ist der Hörige, der vom Patron Abhängige, [...]". (R. BOHREN, Gemeinde und Seelsorge, 1979 [1977], S. 134.) Bohren will Abhilfe schaffen mit dem vermeintlichen Geniestreich "Gemeinde ist Seelsorge" (S. 142). Wenn dieses Prinzip auch theologisch nicht zu bestreiten ist, muß es gefüllt werden durch ein spezifisches poimenisch-gemeindepädagogisches Konzept zur Kompetenzerweiterung von Gemeindegliedern. 121 Kirchliche Seelsorge, 1933, S. 163, 1. Sp. 122 Ebd. Dazu s. auch: Zur Erneuerung der Pfarrerstandes in der deutschen evangelischen Kirche, 1933. 123 So heißt es auch schon in dem kleinen Aufsatz: Seelsorge, EvJ 1931/32, S. 109: "Wir werden wieder neu lernen müssen, objektive kirchliche Formen der Seelsorge und der persönlichen Beichte zu finden." A.a.O., S. 107 die Definition "Seelsorge ist nichts anderes als der Dienst der Liebe, den wir einander zu unserer Heiligung leisten." - Über die Einzelbeichte s.o. S. 299-301.
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5. Stählins eigene Praxis als Lehrer der Kirche
Stählin beginnt seine Vorlesung 1933/34 mit dem schon mehrfach herangezogenen Satz, die Praktische Theologie sei "Nicht Lehre vom Handeln der Kirche, sondern vom Zeugnis der Kirche und ihrer Gestaltung in der Welt." 124 Wie wir es aus den anderen Schriften ermittelt haben, spielen auch hier die Kategorien "Leben" und "Leib" eine zentrale Rolle. Es geht um die Gestaltwerdung des Leibes Christi durch das leibhafte Geschehen des Zeugnisses von Christus im Lebenszusammenhang der Welt. Dies wird in einem dreifachen Argumentationszusammenhang (S. 1-2) über das Zeugnis als solches, über das Weltverhältnis der Kirche und über die Gestaltungsaufgabe der Kirche begründet. Das Zeugnis selbst ("von dem realen Ereignis Jesus Christus im Ereigniszusammenhang der Welt") ist Stählin zufolge ein "leibhaftes Geschehen", in dem die bezeugte Sache selbst gegenwärtig wird; das Zeugnis ist nicht Referat über die Vergangenheit und nicht "Gegenstand", sondern Ereignis da, wo Zeugen sind. Das heißt: "Ekklesiologie [ist] nur von der Christologie her möglich." Das Weltverhältnis wird wiederum dreifach charakterisiert: Kirche ist in der Welt, in der Welt gegen die Welt und in der Welt "in der unbedingten Bereitschaft des Dienens." Durch die Inkarnation gilt für das Zeugnis die "Zuordnung zum Leibhaften", es ist "statischen [?], musikalischen, rhetorischen" Gesetzen unterworfen und steht in Verbindung zu Geschichte, Volkstum, Sprache und Staat - sonst droht der "Verlust des Zusammenhangs mit dem Leben." Ebenso muß aber die Kirche den "Stachel des Abstandes und Widerspruches" zur Welt enthalten. Wie Christus leibhaft in der Welt, aber kein Bestandteil der Welt war, müssen gerade die Maßstäbe für die Gestaltung des Kultus nicht aus dem Wesen der Welt, sondern aus dem Wesen der Kirche gewonnen werden. Ferner kommt der Abstand von der Welt durch Askese zum Ausdruck. Das Dienen der Kirche schließlich verwirklicht sich in der Opferbereitschaft. Die Gestaltung der Kirche wird beschrieben als "Darstellung des Leibes Christi", denn die Gemeinde "ist der sichtbare Leib Christi, die α π α ρ χ ή des neuen Aions im alten." (Hervorhebung im Original.) Darum muß gegen die Irrlehre gekämpft werden, denn "dem Leib Christi gehören auch nicht durchblutete, empfindungslose Glieder an." Die Reformation, so Stählin, hatte keine Zeit, um Kirche zu gestalten, und zwischen 1918 und 1933 wurde die Gelegenheit zu kirchlicher Gestaltung versäumt. Es sei eine Gefahr, unter Berufung auf das sola fide kirchliche Gestaltung in Gegensatz zu Gottes Handeln zu bringen. Vielmehr gelte: "Es ist ein Wagnis, Kirche zu gestalten. Wir müssen dabei auf Gottes Gnade vertrauen." Schon aus diesen wenigen Bemerkungen allgemeiner Art ist das Stählinsche Engagement zur Gestaltung des Leibes Christi zu entnehmen, wie es 124 Vorlesung Praktische Theologie I, WS 1933/34, Nachschrift Heinz Henche, S. 1. Seitennachweise im folgenden in Klammern im Text.
5.1. Praktisch-theologische Lehrveranstaltungen an der Universität
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später in dem Buch "Bruderschaft" seine Auswirkungen gefunden hat. Der wichtige Anteil menschlicher Aktivität wird in der Einleitung der Praktischen Theologie eigens begründet. Nach einem Abschnitt über das Bekenntnis der Kirche (S. 2-3), den wir hier übergehen können (Stählin betont in liberaler Tradition die Geschichtlichkeit des Bekenntnisses und wehrt sich gegen den "Traditionalismus", aber auch gegen den "Historismus"), wird die "Kirche als geformte Gemeinschaft" thematisiert (s. dazu 4.3 .1. "Form" zur Schlüsselkategorie "Leib"). Die Verbundenheit des Leibes Christi, so Stählin, muß "in den konkreten Daseinsformen der Kirche in Erscheinung treten." (S. 3) Nach einem Vergleich mit anderen soziologischen Gebilden (Gemeinschaft, Gesellschaft, Bund, Kreis, Masse) wird definiert: "Kirche ist weder bluthafte noch zweckhafte Verbundenheit. Kirche gehört zu den sinnhaften Verbindungen. Ein entscheidendes Lebensanliegen kommt in ihr zur Darstellung." (S. 3-4) Dies entspricht zum einen dem, was wir schon über die Zweckfreiheit der Liturgie bei Stählin feststellen konnten (s.o. S. 229), hatte im WS 1933/34 aber besondere Aktualität durch den Widerspruch zum Arierparagraphen in der Kirche.125 Ohne den nachgeschriebenen Satz überzuinterpretieren, wird man im Sinne Stählins interpretieren dürfen: Das Leben des Christus im Leben der Gemeinde ist der Sinn von Kirche, die darum nicht weltlich begründet werden darf ("bluthaft/zweckhaft"). Nach dem grundlegenden Teil folgt unter dem Titel "Aufbau der Kirche" eine praktisch-kirchenkundliche Ekklesiologie mit den Abschnitten Kirche und Persönlichkeit, Gliederung der Gemeinde, Aufbau der Gesamtkirche, Ökumenische Bewegung (S. 4-7; danach folgen die Pastoraltheologie und die Liturgik). Dabei nehmen die Gliederung der Gemeinde und die Geschichte der ökumenischen Bewegung sehr breiten Raum ein. Wir verzichten auf eine Wiedergabe des Stoffes und beschränken uns auf die Stählinschen Akzentuierungen. Unter der Überschrift Kirche und Persönlichkeit betont Stählin das Recht und die Verantwortung des Einzelnen: Die "Verschiedenheit der Glieder am Leib Christi muß gewahrt und positiv gewertet werden. Die religiösen] Entscheidungen fallen doch letztlich im Gewissen des Einzelnen." (S. 4) An dieser Stelle sind die Einflüsse durch die Jugendbewegung ("Wahrhaftigkeit") und die Nürnberger "freier gerichtete" Theologie greifbar, welche bald auch zum Konflikt mit den Studenten der Bekennenden Kirche führten. Die Gliederung der Gemeinde wird u.a. mit den Thesen beschrieben: 125 Der Aufruf der Jungreformatoren und des Pfarrernotbundes hatte sich gegen den Arierparagraphen im Raum der Kirche gewandt, so daß sich im Verlauf des Jahres 1933 daran "die Geister schieden" (so Klaus SCHOLDER, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, 1986, S. 346).
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"Jedes Gemeindeglied muß eine konkrete Dienstaufgabe in der Gemeinde haben. [...] [Die] Spannung zwischen tätigen Gemeindegliedern und organisierter Gemeinde muß mehr und mehr schwinden." (S. 4) In gewisser Sympathie für die reformierte Ämtervielfalt und Kritik an lutherischen Gemeinden ("passiver Verwaltungsbezirk" 126 ) zeigt Stählin dann die verschiedenen Wege zur Aktivierung von Gemeinden auf: Das kirchliche Vereinswesen, die Gemeinschaftsbewegung und die damals diskutierten Gemeindekonzeptionen (die Gemeindebewegung von Sülze127, das missionarische Gemeindeverständnis von Hilbert 128 und das Volkskirchenkonzept von E. Stange 129 ). Gegenüber dem Vereinswesen und der Gemeinschaftsbewegung ist Stählin gleichermaßen kritisch: Hier drohe eine pharisäische "Laienorthodoxie", dort eine Zersplitterung der Gemeinde in gegeneinanderstehende Vereine. Resümierend nennt Stählin zwei Momente als Konstitutiva für die Zugehörigkeit zur Kirche: " 1. Konkrete, leibhafte Erfahrung von dem, was Kirche ist (Stehen unter festen Ordnungen) 2. Bewährung im Dienst der Gemeinde." (S. 5) Damit ist angedeutet, was 1947 in der Schrift "Das Amt des Laien in Gottesdienst und kirchlicher Unterweisung" ausgeführt ist. Zugleich wird jedoch die Grenze der Vorlesungsmitschrift deutlich, denn unzweifelhaft liegt an diesem Punkt ein gedanklicher Bruch von der Frage der Gemeindeorganisation zur Frage der Zugehörigkeit des Einzelnen vor (wobei auch unklar bleibt, wie dazu die theologisch-soteriologische Gliedschaft am Leib Christi und die kirchenrechtliche Wahl- und Patenschaftsberechtigung gedacht sind). Schließlich sind noch Parochial-, Personal-, Werks- und Universitätsgemeinde charakterisiert, wobei die Personalgemeinde treffend nur als "Aufnahmestation", nicht als Dauerzustand charakterisiert wird. Dabei dürften Erfahrungen der Nürnberger Starprediger Geyer, Rittelmeyer (Stählin) im Hintergrund stehen.
126 Vgl. dazu: Vom göttlichen Geheimnis, 1936, S. 112-114 und in dieser Untersuchung Anm. 190 auf S. 197 f. 127Emil Sülze (1832-1914) trat vor allem für die Aufteilung der großen Gemeinden und den Dienst der Gemeindeglieder aneinander ein, vgl. 3RGG, Bd. VI, Sp. 522 f. 128 Gerhard Hilbert (1868-1935) hatte über Volksmission und den Pfarrer als Volksmissionar geschrieben; umstritten war besonders seine Schrift: Ecclesiola in ecclesia, 2 1924. 129 Erich Stange (1888-[?]) ging von besonderen Kreisen in der Gemeinde aus, in denen Gemeinschaft, Mission und Abstand von der Welt angestrebt werden sollten. Stange schrieb: Die kommende Kirche, 3 1925 und: Volkskirche als Organismus, 1928. Stange trat u.a. ein für eine Konfirmation weit nach dem vollendeten 14. Lebensjahr.
5.1. Praktisch-theologische Lehrveranstaltungen an der Universität
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Bei dem Referat zum Auflau der Gesamtkirche (konsistoriale, synodale, episkopale Verfassung) stellt Stählin heraus, daß es sich auch hierbei um ein "theologisches Anliegen" handele (S. 5). Hieraus spricht die Bemühung des Praktischen Theologen, die Bedeutung der kirchlichen Gestaltungsfragen gegenüber der Konzentration auf systematische Fragen (und der Abneigung gegen das Kirchenrecht) ins Spiel zu bringen. Das breite Referat über die ökumenische Bewegung, das auch nach der Erinnerung von Heinz Henche einen Schwerpunkt der Vorlesung bildete, wird eingeleitet mit der Feststellung: "Zwei Arten von Verschiedenheit zerspalten die Kirche: 1. Die völkisch-territoriale und 2. Die konfessionelle Verschiedenheit." (S. 6) Interessant sind die beiden Einschätzungen am Schluß in bezug auf die beiden Verschiedenheiten. Über die römisch-katholische Kirche heißt es, "der Stellungskrieg scheint wieder in Bewegungskrieg überzugehen" und über die deutsche evangelische Kirche: "Es kann und darf keine Autarkie des deutschen Protestantismus geben." (S. 7) Damit bezieht Stählin eindeutig Position gegen den weit verbreiteten Provinzialismus in der damaligen deutschen Theologie130, der seinerseits der Hoffnung auf eine (durch das Deutschtum geeinigte) "Reichskirche" von seiten der nationalsozialistischen Kirchenpolitik Nahrung gab. Mit dieser Vorlesung sind also durchaus einige Akzente gesetzt, wenngleich insgesamt der Charakter der Darbietung von Überblickswissen dominiert.131 Insofern sind die bereits behandelten Hauptschriften Stählins für seinen spezifischen Beitrag zur Gestaltung von Kirche ergiebiger. Wir belassen es darum bei dieser einen Vorlesung und beschließen die Darstellung mit dem, was Stählin über die Praktische Theologie als ganze, über ihre Einheit und über ihre Stellung im Geflecht der anderen theologischen Disziplinen zu sagen weiß. Da es Stählin als Praktischem Theologen mehr um das Zeugnis der Kirche und um die Gestaltung der Kirche geht als um die akademische Disziplin Praktische Theologie, sind seine Äußerungen zu diesem Fragenkomplex sehr rar. Die Vorlesung "Praktische Theologie I" im WS 1931/32 beginnt Stählin mit einer Kritik an den Marburger Thesen zur Reform des Theologiestudi-
130 Vgl. dazu oben unter der Überschrift "Ökumene" den biographischen Abriß im Hinblick auf Stählins Theologie. 131 Stählins Unterlagen für die 1. theologische Prüfung zeigen, daß er diese jeweils unter ein Thema stellte, so z.B. "Gang durch die Kirche", danach "Nebenräume" mit Fragen zu kirchlichen Gruppen und Unterricht zum Ostertermin 1930; oder "Erinnerungsstätten der evangelischen Kirche in Deutschland", z.B. Rauhes Haus - Erziehung, Minden/Ravensberg - Erweckungsbewegung, Kaiserswerth - Diakonie zum Herbsttermin 1933. (Nachlaßteile aus dem Besitz von Hildegart Mumm)
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5. Stählins eigene Praxis als Lehrer der Kirche
ums. 132 Den Thesen zufolge sollte die Praktische Theologie (einschließlich Pädagogik, Kirchenrecht und Kirchenkunde) von der Universität aufs Predigerseminar verlegt werden, nur die grundsätzliche Lehre von der Verkündigung sei universitär (als Teil der Systematischen Theologie) zu behandeln. 133 Stählin macht dagegen drei Gründe geltend: 1. Es müsse um einen Neubau des gesamten theologischen Studiums gehen. Die Beschränkung auf die historische und systematische Fragestellung verfälsche das Problem, da diese erst durch die Praktische Theologie in den kirchlichen Bezug gerückt werde; 2. Die Praktische Theologie innerhalb der Fakultät lenke den Blick der Studierenden von Anfang an auf die Kirche und das Pfarramt (gegen die Vorstellung, theoretisch zu lernen, um praktisch anzuwenden); 3. Die Praktische Theologie gehöre an die Universität "als Ort der radikalen Besinnung auf die Normen kirchlichen Handelns"; zudem werde die Arbeit dort durch die praktische Ausbildung und Anleitung nicht belastet. 134 Mit diesen (bis heute nahezu unbestrittenen) Thesen verläßt Stählin jedoch schon die Grundsatzreflexion und geht zum Begriff des Zeugnisses über. Dazu steht übrigens im Manuskript, weil auch die "Heiligung des Lebens" zu dem Zeugnis gehöre, sei die Ethik auch ein Zweig der Praktischen Theologie. Diese Manuskriptseite ist allerdings mit einem langen Federstrich ganz durchgestrichen 135 . Dies zeigt, wie Stählin die Grundsatzfragen der Disziplin Praktische Theologie zwar angedacht, aber nicht konsequent zu Ende ge-
132ThBl 1931, Sp. 297 f. Die Thesen waren von einer Arbeitsgemeinschaft der ev.theol. Fachschaft in Marburg aufgestellt worden. 133 A.a.O., Sp. 297. Daneben war die Schwerpunktbildung im 1. Examen (evtl. Wegfall des Hebräischen) und die Verteilung der Einzelfachprüfungen auf die letzten beiden Studienjahre vorgeschlagen. Im ganzen wurde eine "Spezialisierung" und "Differenzierung" für geboten gehalten. 134 Vorlesung Praktische Theologie I, WS 1931/32, Bogen 1, S. a. Der Sinn ist trotz Kurzschrift und eigener Kürzel relativ sicher; nur der Schluß könnte auch bedeuten, daß das Predigerseminar als alleiniger Ort praktischer Anleitung noch zu sehr belastet sei. 135 A.a.O., 3c. Auf Bogen 3a-c findet sich auch das oben (S. 66) erwähnte Spannungsdreieck logos - ethos - cultus. Die Lehre von der Kirche in der Vorlesung ist ähnlich entfaltet wie 1933/34. Auch hier ist die Rede von der unaufgebbaren Verantwortung des einzelnen Menschen, welcher "niemals ein Mittel zum Zweck" werden dürfe (12a); andererseits spricht Stählin dann von der Aufgabe der "Entdämonisierung der Individualität" (12b). Positiv wird Niebergalls "Praktische Dogmatik" als "sehr eindrucksvoll" bewertet (eingelegter alter Bogen aus WS 1929/30, 2a). Friedrich NIEBERGALL, Praktische Theologie, Bd. I, 1918, S. 313-393, gab einen Überblick über die "praktisch wirksame christliche Gedankenwelt [...], wie sie der Frömmigkeit als Ausdruck, als begleitendes Bewußtsein und als Mittel des Verkehrs zu dienen hat [...]" und handelte über "Die ewige Welt" (§ 20), dann über "Das Heil" (§ 21) und schließlich über Jesus Christus (§ 22). Schon daraus geht hervor, wie das Werk von der Theologie des 19. Jahrhunderts geprägt ist.
5.1. Praktisch-theologische Lehrveranstaltungen an der Universität
351
führt hat. Die Einbeziehung der Ethik in die Praktische Theologie findet sich sonst m.W. nirgends wieder. Entschieden wendet sich Stählin gegen die im Gefolge der dialektischen Theologie propagierte Beschränkung der Praktischen Theologie auf Predigt und Lehre. 136 Er wirft dem Protestantismus als ganzem vor, die "in Jahrhunderten gesammelte Erfahrungsweisheit über die Wege echter Seelenführung" um des sola fide willen beiseite geschoben zu haben wie ebenso "das Erbgut kultischer Form." 137 Er betont die Aufgabe der Pflegen geistlichen Lebens und "inneren Wachstums" und plädiert für "konkrete Führung, Leitung, Erziehung der Seelen." 138 Ein einziges Mal hat sich Stählin explizit zur Aufgabenbestimmung Praktischer Theologie innerhalb universitärer Theologie geäußert in dem kleinen Aufsatz Praktische Theologie als Mittelstelle (1935). Darin konstatiert Stählin eine praktische Phase der Theologie nach der dogmatischen und noch davor liegenden historischen Phase. Zum einen frage die Kirchengeschichte gegenwärtig nach den Voraussetzungen der Kirche, die Exegese nach der Geltung der Heiligen Schrift in der Kirche und die Dogmatik nach der Verkündigungsaufgabe der Kirche, während Historie, Religionsgeschichte und Religionsphilosophie als solche zurückträten. Zum anderen stelle "die völlig veränderte Lage des Christentums in unserem Volke [...] die Verkündigung und die Unterweisung der Jugend vor ganz neue Aufgaben, die sich mit den bewährten Rezepten der praktischen Theologie nicht angreifen lassen." 139 Stählin nennt die nationalsozialistische Schulungsarbeit sowie das "Vorhandensein nichtchristlicher Kulthandlungen in der Mitte unseres Volkes." 140 In dieser Situation (wie überhaupt) sei es die Aufgabe der Praktischen
136 Zum Religionsunterricht als Verkündigung s. Fritz KROTZ, Die religionspädagogische Neubesinnung, 1982, zum Beitrag Barths bes. S. 62-72. 137 Menschenführung als Aufgabe der Kirche, 1932, S. 323. Der "Verzicht auf jede religionspädagogische Methode" sei vielmehr "eine ganz plumpe Methode" und "eine tiefe Unbarmherzigkeit" (ebd.). Auch in dem Aufsatz geht es allerdings nicht um die akademische Praktische Theologie, sondern um die Praxis der Kirche überhaupt. 138 Ebd. 139Praktische Theologie als Mittelstelle, DtPfBl 1935, S. 193, 1. Sp. Ebenso urteilt im Rückblick Martin Doerne über die Zeit nach 1933: "Ähnlich wie zur Zeit der Reformation wurde jetzt die Theologie, eben weil ihr Anfang und Ende das 'Hangen am Wort' war, durchweg 'praktische Theologie'. Sie stellte ihre Beziehung zur Kirche nicht erst nachträglich reflektierend her, [...]." (M. DOERNE, Zum gegenwärtigen Stand der Praktischen Theologie, 1965, S. 76, Hervorhebung dort.) Nach Karl Bernhard RITTER, Nach einem Menschenalter, 1971 [1952/53], S. 195, wurde bereits bei der Berneuchener Osterfreizeit 1931 gesagt, daß nun nach der Zeit der historischen und dogmatischen Theologie "eine Zeit der praktischen Theologie, die nach den Lebensformen der Kirche frage", folgen müsse. 140 A.a.O., S. 193, 2. Sp.
352
5. Stählins eigene Praxis als Lehrer der Kirche
Theologie, als "Mittelstelle zwischen der theologischen Arbeit und der kirchlichen Praxis" zu fungieren. 141 Das bedeute zweierlei: - Die Praktische Theologie hat in der theologischen Arbeit die Beziehung "auf die gegenwärtigen Fragen und Nöte des kirchlichen Lebens wach zu halten"142; - Die Praktische Theologie hat die Fragen kirchlichen Handelns und kirchlicher Gestalt grundsätzlich zu durchdenken ohne unmittelbare Bedrängnis durch zu lösende Aufgaben "in der inneren Freiheit echter Kritik".143 Damit ist einer als "Anwendungslehre" konzipierten Praktischen Theologie wie einer "Pastoraltheologie" als Begrenzung auf den Pfarrerberuf ebenso eine Absage erteilt wie einer vornehmlich von empirisch-religionswissenschaftlichen Impulsen her konstituierten Praktischen Theologie. 144 Die Praktische Theologie hat ihren klaren Standort innerhalb der klassischen theologischen Disziplinen. (Dabei ist es eine ganz andere Fragestellung, welche Stählin zunehmend bewegt, ob die praktische Ausbildung zum Pfarramt durch ein akademisches Studium überhaupt zu bewerkstelligen ist. 143 ) Die als "Mittelstelle" gedachte Praktische Theologie hat also nach Stählin eine sowohl vermittelnde als auch kritische Aufgabe. Neben der Vermittlung hat sie eine theologiekritische Funktion aufgrund gesellschaftlicher und kirchlicher Erfordernisse sowie eine kirchenkritische Funktion aufgrund der auf kirchliche Wirklichkeit hin bedachten Einsichten theologischer Forschung. Praktische Theologie ist Integrations- und Störfaktor zugleich an theologischer Fakultät und in kirchlicher Praxis. Diese umfassende Aufga-
141 Ebd. 142 Ebd. Die Lösung der Fragen kann evtl. dann von anderen Disziplinen erbracht werden, wie etwa die Frage, "ob Hermann Büttner und in seiner Nachfolge Alfred Rosenberg den Meister Eckehart richtig verstanden haben" (ebd.). 143 A.a.O., S. 194, 1. Sp. 144 Wie etwa Niebergalls zweibändige Praktische Theologie, 1918/19, die bewußt "auf religionswissenschaftlicher Grundlage" (so der Untertitel) verfaßt ist und mit Religionspsychologie und religiöser Volkskunde einsetzt. 145 Vgl. dazu oben S. 205 f., besonders den Ausschnitt des Briefes an Johannes Herrmann vom 24. 11. 1944. Bereits 1940 hatte Stählin öffentlich gefragt, ob nicht das Studium als Weg zum Pfarramt ein überholter Weg sei (Das Ende eines Weges?, 1940), und schon am 13. 11. 1929 hatte er Rittelmeyer in einem Brief vorgeschlagen, Berneuchener Konferenz und Christengemeinschaft sollten gemeinsam über eine neue Form der Ausbildung der künftigen Priester bzw. Pfarrer nachdenken. Daraus erhellt, daß die Betonung der Notwendigkeit Praktischer Theologie an der Universität und die Kritik an universitärer Theologenausbildung bei Stählin nebenher gehen und innerlich zusammenhängen. Beide Male geht es um die Kritik an einer einseitig intellektuellen Theologie. Wiederholt sei hier, daß Stählin die Wahrheitsfrage liturgisch und nicht theoretisch entschieden sieht (Liturgie als Entscheidung^ MuK 1944, S. 4) und daß er "Theologie von der Kanzel aus" betreiben will zwischen der Liturgie und dem Leben der "wirklichen und leibhaften Menschen" (Theologie von der Kanzel aus gesehen, PB1 1938, S. 465).
5.1. Praktisch-theologische Lehrveranstaltungen an der Universität
353
benbeschreibung hat bis heute nichts an Richtigkeit verloren, leidet freilich an einem Mangel an Konkretheit. Es fragt sich, ob nicht gerade die drei erhobenen Schlüsselkategorien Stählinscher Praktischer Theologie diesem Mangel bei der Vermittlungsaufgabe abhelfen können. Etwas ausfuhrlicher zur Grundlegung und Stellung der Praktischen Theologie im Rahmen der theologischen Disziplinen hat sich Stählin noch einmal geäußert in der Einleitung zu seiner Vorlesung Die Kirche und ihre Ämter im 3. Trimester 1940. Zunächst wird festgestellt, daß es sich nicht um unterschiedliche "Stoffgebiete" handele, sondern um verschiedene "Betrachtungsweisen", die ihre gemeinsame Voraussetzung innerhalb des "Lebensraumes" der Kirche haben.146 Anders als bei den anderen Disziplinen sei die Beziehung zum gegenwärtigen Leben der Kirche in der Praktischen Theologie aber "nicht nur Voraussetzung und Korrektiv, sondern eigentlicher Inhalt" (1, 3). Auch hier heißt es ein weiters Mal: Die Praktische Theologie sei "keinesfalls aus dem akademischen Betrieb der Theologie zu lösen", sondern stelle in ihren Grundzügen sogar die Voraussetzung akademischer Theologie dar (1, 4). Das Verhältnis von Praktischer Theologie und kirchlicher Praxis wird als notwendige Unterscheidung und als gegenseitige Abhängigkeit beschrieben. Die Praktische Theologie unterscheide sich von kirchlicher Praxis, weil sie theoretische Besinnung, nicht unmittelbares Handeln in der Kirche sei. Die gegenseitige Abhängigkeit beruhe auf der Notwendigkeit grundsätzlicher Besinnung über die kirchliche Gestaltung einerseits und auf der Notwendigkeit praktischer Umsetzung theoretischer Gemeindekonzepte andererseits (1, 5)147 Di e Verbindung sei inzwischen stärker als im 19. Jahrhundert geworden, die Kirche beziehe sich jedoch mehr auf die Praktische Theologie als sich diese auf kirchliche Realität, so daß von der "Gefahr dieses Zustandes" gesprochen werden müsse (1, 6). Wie sehr Stählin noch vom Denkmodell der alten Pastoraltheologie ausgeht, zeigt sein Ansatz für die Gliederung der gesamten Praktischen Theologie in der beispielhaft geschilderten Arbeitswoche eines Pfarrers, dazwischen "das ganz persönliche Leben des Pfarrers in seiner Studierstube und im Familienkreis. Das alles gehört zur kirchlichen Praxis, für alles das gilt es Normen zu finden, das ist Aufgabe der praktischen Theologie." (1, 7) Das Schema der Einteilung in Pastoraltheologie, Homiletik, Liturgik und Katechetik entspringt Stählin zufolge eher der akademischen Tradition und
146 Vorlesung Die Kirche und ihre Ämter, 3. Trimester 1940, 1. Heft, 1. Seite. Im folgenden werden Heft- und Seitenzahl in Klammern im fortlaufenden Text nachgewiesen. 147 An dieser Stelle fügt Stählin den Vergleich hinzu: "Keine Luxusware wie ein Rennpferd, das man im Stall hat, aber nicht besteigt." (1, 5)
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5. Stählins eigene Praxis als Lehrer der Kirche
habe von daher kein systematisches Recht. 148 Stattdessen schlägt Stählin eine Zweiteilung der Praktischen Theologie in die Teilbereiche "Die Gestalt der Kirche" und "Die persönlich bedingten Dienste" vor. Damit findet sich die Aufteilung aus der Vorlesung von 1933/34 wieder, in der Praktische Theologie als "Lehre vom Zeugnis der Kirche und ihrer Gestaltung in der Welt" definiert worden war149: 1. Die Gestalt der Kirche a. Das Dogma, Frage der Sprache b. Der Kultus als "eigentliche repräsentative Darstellung der Kirche", Sakramente, Kasualien c. Die soziologische Gestalt der Kirche
2. Die persönlich bedingten Dienste a. Homiletik b. Katechetik
c. Seelsorge im engeren Sinne
Mit dieser Unterscheidung (1, 8-9) wird letztlich wieder vom Pfarrerberuf her gedacht, indem die unter 2. genannten Dienste als "Aufgaben des geistlichen Amtes" bezeichnet werden (1, 10). Andererseits liegt eine gewisse Parallele zu Dietrich Rösslers Einteilung der Praktischen Theologie nach dem individuellen, kirchlichen und gesellschaftlichen Christentum vor 150 , wobei die letzte Perspektive bei Stählin jedoch fehlt. Kritisch fragen läßt sich bei Stählins Einteilung selbstverständlich, warum gerade die Homiletik von der Liturgik getrennt ist und nicht unter die Gestaltwerdung der Kirche eingeordnet wird. Die zwangsläufigen Überschneidungen sind Stählin freilich bewußt 151 , und jede Einteilung in wenige Untergruppen ist problematisch. 152 Stählins Zweiteilung öffnet jedoch den Weg, die am Pfarreralltag orientierte Gliederung (wegen Predigt/Gottesdienst, Unterricht und Seelsorge Gliederung in Homiletik/Liturgik, Katechetik, Poimenik) zu überwinden und von der (implizit weiterwirkenden) Pastoraltheologie zu einer neuzeitlichen Erfordernissen genügenden Theorie Praktischer Theologie voranzuschreiten. Wirklich befriedigend ist in diesem Zusammenhang erst die 12-Felder-Matrix 148In dem Artikel: Pastoraltheologie, 1935, hatte Stählin die Pastoraltheologie als allgemeine Lehre von Pfarramt und Seelsorge den anderen Disziplinen Homiletik, Katechetik und Liturgik gegenübergestellt. 149 In dieser Untersuchung s.o. S. 1 u.ö. 150Dietrich RÖSSLER, Grundriß der Praktischen Theologie, 2 1994. 151 Vgl. a.a.O., 1, 9: "Viele Überschneidungen, aber offenbar alles abhängig von der Gestalt der Kirche." - 1962 hat Stählin in einem Vortrag in Anlehnung an Claus Harms von der prophetischen, priesterlichen und königlichen Funktion auch des geistlichen Amtes gesprochen und danach die Aufgaben gegliedert (Die Zurüstung zum geistlichen Amt als Lebensaufgabe der Kirche, 1963 [1962], S. 201-217). 152 So kann z.B. bei Rössler (s. vorletzte Anmerkung) gefragt werden, warum der Konfirmandenunterricht zum gesellschaftlichen Christentum in Beziehung gesetzt wird (a.a.O., S. 496-500).
5.2. Religionsunterricht für Erwachsene
355
im "Handbuch der Praktischen Theologie" 153 , die in gewisser Parallele zu Rösslers Dreiteilung jedem Bereich jeweils vier Handlungsziele zuordnet, ihrerseits aber wieder aufgrund aller Differenziertheit unübersichtlich ist und die Frage nach der einheitlichen Konstitution der Praktischen Theologie heute provoziert. Bevor wir uns jedoch diesen Fragen mit Hilfe des Stählinschen Lebenswerks zuwenden, soll noch der ungewöhnliche Religionsunterricht für Erwachsene thematisiert werden.
5.2.
Religionsunterricht für Erwachsene
Wollen wir kurz bei der Begrifflichkeit der Theorie gegenwärtiger Praktischer Theologie bleiben, so können wir sagen: Stählin hat sich weniger mit dem Christentum des einzelnen beschäftigt, sondern vornehmlich mit dem Christentum in seiner kirchlichen Gestalt. Reichte jedoch schon die Arbeit des Jugendbundes weit über die Kirchengemeindegrenzen hinaus in die Gesellschaft1^, so wird man das vom Religionsunterricht für Erwachsene erst recht sagen können. Stählin knüpft damit an die erfolgreichen Vortrags- und Gesprächsabende seiner Vorgänger und Kollegen Geyer und Rittelmeyer an. 155 Die Interessierten (und Gebildeten?) unter den Nürnberger Bürgern waren ein guter Adressatenkreis für den im März 1923 - also in politisch und wirtschaftlich schwierigster Zeit 156 - beginnenden Unterricht. Dennoch wollte Stählin sich bewußt von der Tradition des "freier gerichteten" Protestantismus absetzen. Ihm ging es nicht um "religiöse Erlebnisse", sondern um "religiöse Erkenntnisse" 157 , nicht um religiöses Interesse, sondern um evangelische Lehre. Nach gut zwei Jahren, im April 1925, schreibt Stählin: "Ich weiß, daß die Ankündigung eines 'Religionsunterrichts' von Anfang an manche abgeschreckt hat; eben das wollte ich. Ich wollte nicht zu Menschen sprechen, die voll Interesse für alle 153 Handbuch der Praktischen Theologie, Bd. 2, 1981, Einbandinnenseiten und die Erläuterungen dazu S. 7-9. Der (1.) Theorieband zu dem vierbändigen Werk ist bis heute nicht erschienen. 154 Vgl. dazu Horst Dieter TOBOLL, Evangelische Jugendbewegung 1919-1933, 1971, S. 111 f. und die Zahlen zur sozialen Schichtung in dieser Untersuchung oben S. 34. 155 Vgl. zu Geyers und Rittelmeyers "Besprechungsabenden" Via Vitae, 1968, S. 161. 156 Nach der Ruhrbesetzung am 11. 1. 1923 begann das Inflationsjahr mit dem Höhepunkt Ende September und der Verhängung des Ausnahmezustandes am 26. 9. Gerade in diesen Wochen setzte Stählin neu ein mit dem dritten Glaubensartikel (20. 9. 1923 "Gleichwie er die ganze Christenheit..."; 4. 10. 1923 "Kirche"). 157 Vgl. den Vortrag 1922 in Hanau: Religiöses Erlebnis und religiöse Erkenntnis. In diesem Zusammenhang muß man sich immer wieder vor Augen halten, daß der Ruf zu "religiöser Erkenntnis" auch einen anthroposophischen Kontext hat, vgl. dazu Rittelmeyers Gegenüberstellung von "Geist" und "Gemüt" (Fr. RITTELMEYER, A U S meinem Leben, 1937, S. 132 f.).
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5. Stählins eigene Praxis als Lehrer der Kirche möglichen religiösen Probleme geistreiche Vorträge und geistreiche Diskussionen suchten; ich wünschte mir Menschen als Zuhörer und Teilnehmer, die wirklich etwas lernen wollten; Menschen, die aus der Unwissenheit und Unklarheit in religiösen Dingen ernstlich herausstrebten und die nach einem Unterricht über die evangelische Lehre verlangten." 158
Der Unterricht vom März 1923 bis März 1926 in Nürnberg ist durch vollständig erhaltene Protokolle dokumentiert (s. Anhang 1) und wurde "dauernd und regelmäßig von 150 - 200 Menschen" besucht. 159 Für den Unterricht in Münster, der von 1928 160 bis 1942/43 1 6 1 stattfand, liegen nur Nachschriften von Oktober 1928 bis Februar 1935 mit einer großen Lücke 1933-1935 vor (s. Anhang 1). Auch in Münster, w o die Abende zunächst in einem Hörsaal der Universität, dann im Gemeindehaus der Erlöserkirche stattfanden, erschienen Abend fur Abend "100 Personen, wenn nicht mehr." 162 Mag Stählin auch ursprünglich etwas wie eine "2. Konfirmation"
158 Ein Religionsunterricht, UB 1925, S. 90. In dem kurzen Artikel gibt Stählin Einblick in die Auslegung der 10 Gebote, die (mit dem Weggang nach Münster) am 4. 3. 1926 endet. Auch in Münster beginnt Stählin 1929/30 mit den Geboten (s. Anhang 1). Zwei weitere Male hat er aus seinem Religionsunterricht für Erwachsene berichtet: 1926 über die Auslegung des 7. Gebots, wobei u.a. die "'Dämonie' der Wirtschaft" angesprochen wird (in deutlicher Anlehnung an Tillich, dessen Vortrag: Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte 1926 in Tübingen erschien); Eigentum, so Stählin, ist nur, was ich "mit meinem Leben erfüllen und in den Dienst meines Lebenswerkes stellen kann" (Ein Religionsunterricht. 6. Stück. Das 7. Gebot, UB 1926, S. 48); 1933 über die Behandlung des zweiten und dritten Glaubensartikels (Bausteine zu einem Religions-Unterricht, UB 1933 und Bausteine zu einem evangelischen Religionsunterricht, UB 1933). 159 Ein Religionsunterricht, UB 1925, S. 90. 160Das erste erhaltene Münsteraner Protokoll datiert vom 30. 10. 1928. Da Stählin am 12. 1. 1931 auf eine dreijährige Zeit der Veranstaltung und den Beginn mit dem 3. Glaubensartikel zurückblickt (12. 1. 1931, Dr. Seybold, S. 6), ist zu vermuten, daß der Unterricht im Frühjahr und Sommer 1928 mit einer Besinnung über Kirche und Gemeinde begann. Der Einstieg mit der Eschatologie erscheint sehr unwahrscheinlich. 161 Via Vitae, 1968, S. 231. Im Rundbrief an die Freunde in Münster vom Berneuchener Dienst am 31. 10. 1944, S. 2 heißt es sogar: "Durch mehr als 20 Jäher [sie] habe ich in Nürnberg und in Münster einen 'Religionsunterricht für Erwachsene' gehalten." 162 Mitteilung von Hildegart Mumm am 8. 3. 1993. Einen Teilnehmerbericht erwähnt Johann Friedrich MOES, Die Apostelkirche als Ort geistlicher Erneuerung, 1984, S. 264 f. Stählin sei es darum gegangen, "das Leibhaftigwerden des Ewigen im Wort spürbar zu machen" (so Dr. Eduard Lütgen, S. 264). Lütgens Erinnerung zufolge fanden die Abende im Paul-Gerhardt-Haus statt. Da Moes den Stählin-Nachlaß nicht kannte, bedauerte er das Fehlen von schriftlichen Quellen (ebd.). Die besondere Resonanz Stählins bei Nichttheologen während der Münsteraner Zeit betont auch Karl KOBOLD, Bischof D. Dr. Wilhelm Stählin, PTh 1953, S. 460.
5.2. Religionsunterricht für Erwachsene
357
vorgeschwebt haben163, so ging es ihm schließlich vor allem um eine theologische Grandinformation und um ein grundlegendes Durchdenken und Durchsprechen von Glaubensfragen. Daß die Information dabei an erster Stelle stand, erhellt schon aus der großen Teilnehmerzahl und aus der Tatsache, daß Stählin auch einen schriftlichen "Unterricht" für möglich hielt. 164 Die im Anhang 1 genau aufgelisteten Nachschriften zeigen, daß die Quellenlage sehr günstig ist. Für den Unterricht in Münster liegen für die meisten Abende zwei Nachschriften vor, eine äußerst fleißige und umfangreiche von Dr. [?] Seybold165 und eine offensichtlich von Stählins Studenten geführte, wobei Hans Rüter (später Michaelsbruder und im Krieg Pfarrer in Plock an der Weichsel) mehrfach genannt ist.166 Die Nachschrift von Dr. Seybold ist ausfuhrlicher und auch klarer. Die Dialoge mit den Zuhörenden sind deutlicher von Stählins Vortrag unterschieden. 167 Es ist nicht sinnvoll, hier die Inhalte von Stählins Abenden im einzelnen zu referieren. Neben vielem christlichem Grundwissen findet sich auch vieles von dem bereits in dieser Untersuchung Behandelten wieder. So beschränken wir uns darum auf Stählins methodisches Vorgehen und seinen thematischdidaktischen Ansatz (5.2.1. - 5.2.2.), um schließlich noch einmal Stählins theologische Entwicklung im Spiegel dieses Unterrichts zu umreißen (5.2.3.).
5.2.1.
Methodisches
Wenn auch die Vortragsform dominiert, wofür schon die ausführlichen, durchaus inhaltsreichen Nachschriften von Dr. Seybold sprechen, sind auch dialogische Elemente erkennbar, die Stählins Selbsteinschätzung ("die z.T. 163 S. das Protokoll des letzten Abends 4. 3. 1926 in Nürnberg, S. 1: "(Herr Professor Grüssherr dankt, Stählin antwortet.) Er sagt dazu 2 Dinge noch: Abschluß eines solchen religiösen Unterrichts: eine Art 2. Konfirmation. ...nicht möglich. Dafür: 3. Abend über das Abendmahl, mit Abschluß von Beichte und Abendmahl." 164 "Je länger desto mehr haben wir es als die wichtigste Aufgabe unserer Jahresbriefe erkannt und ergriffen, einen rechten 'Religionsunterricht für Erwachsene' zu geben [...]." (Der Brief, EvJ 1935/36, S. 196). 165 Der Ordner trägt Stählins Notiz "Religions-Unterricht für Erwachsene Münster i.W. Herbst 1928 bis Frühjahr 1933. Stenogramm eines Hörers (Reichsbahnoberrat Dr. Seybold). Vom Vortragenden nicht durchgesehen." Die Nachschrift umfaßt insgesamt 388 sehr eng (1-zeilig) beschriebene Schreibmaschinenseiten. 166 An die Brüder, 1941, S. 8 f. Rüter berichtet dort übrigens von dem mit völligem Fasten und zwei langen Gottesdiensten am Vor- und Nachmittag ausgefüllten Karfreitag in den lutherischen Gemeinden Südostpreußens. 167Besonders deutlich am "Besprechungsabend" 21. 7. 1930. Nichts berichtet die studentische Nachschrift über Stählins Stellungnahme zum "Fall Dehn" am 9. 11. 1931. Bei Dr. Seybold findet sich auch folgende Bemerkung: "Die folgenden Gedanken konnten wegen Übermüdung nicht aufgenommen werden." (7. 11. 1931, S. 6.)
358
5. Stählins eigene Praxis als Lehrer der Kirche
sehr lebhaften Aussprachen"168) rechtfertigen. Neben den Gesprächsbeiträgen, die sich etwa an spontanen Äußerungen entzünden169, lassen sich gezielte Diskussionsimpulse Stählins nachweisen. Vor allem aber sind es die Besprechungsabende, an denen die Teilnehmenden mit Stählin ins Gespräch kommen bzw. Fragen stellen können. Die Fragen können dazu (anonym?) vorher schriftlich eingereicht werden. Schließlich scheinen die Hörer gelegentlich an der Themenplanung beteiligt gewesen zu sein; einmal ist auch die Fachkompetenz eines Juristen aus dem Kreis einbezogen. Wenn es sich somit zwar prinzipiell um Vortragsabende handelt, was bei der großen Teilnehmerzahl nicht überrascht ("Gruppenbesprechungen", wie sie im homiletischen Seminar vor der Sitzung stattfanden, werden für die Abende nicht erwähnt und sind auch nicht gut denkbar), sind doch teilweise Unterrichtsformen angestrebt. Exemplarisch soll dies im folgenden skizziert werden. Offensichtlich sind es vor allem bestimmte Einzelpersonen, die durch Gesprächsbeiträge hervortreten. 170 Wir greifen zur Illustration an dieser Stelle einen Abend heraus. Zu einem Wortwechsel mit einem (nicht namentlich genannten) Zuhörer kommt es am 28. 11. 1928 zunächst, als Stählin - im Kontext der Eschatologie - den Fortschritt als Prinzip angreift: "Der Fortschritt war der Götze der Zeit, die hinter uns liegt." 171 Der Maßstab dabei sei nicht das Ziel gewesen, sondern die Wandlung172 als solche. Der Zuhörer plädiert unter Berufung auf Goethe für den Fortschritt, für ein "sichEntfernen zu Höherem", worauf Stählin "einen scharfen Unterschied zwischen dem Wort Fortschritt und dem Begriff 'Werden'" einführt: nur das Werden impliziere den als sicher angenommenen reifen Zustand. 173 Interessant ist wiederum das von Stählin geltend gemachte (lebensphilosophische) Prinzip des "Werdens", das hier der Verdeutlichung des biblischen Eschaton dient, sowie die Goethekenntnis des Zuhörers. Damit fallt ein charakteristi-
168 Via Vitae, 1968, S. 231. 169 In der Nachschrift Dr. Seybold ist dies meistens ausdrücklich protokolliert als "Zuruf: '..."'. 170 Namentlich genannt sind relativ häufig "Rektor Scheidt" (so ab November 1931, davor als "Oberlehrer Scheidt" zitiert), daneben "Professor Walbe" (der als Lehrer für Stählins Söhne "bleibende Bedeutung" hatte, Via Vitae, 1968, S. 199). Darüber hinaus werden nur noch wenige Hörer namentlich genannt: ein "Herr Siegert" (21. 1. 1930; 19. 1. 1932), "Geheimrat Schmidt" (21. 1. 1930), "Herr Homann" (18. 2. 1930) und "Herr Leist" (23. 11. 1931). Nur in der Nachschrift Dr. Seybold sind Namen protokolliert. Die Besprechungsabende wurden den Unterlagen zufolge erst in Münster eingeführt. 17128. 11. 1928, Nachschrift Dr. Seybold, S. 1. Im folgenden werden nur Datum und Seite angegeben, wenn nichts weiteres genannt ist, handelt es sich um die Nachschrift Dr. Seybold. 172 Hier ist "Wandlung" ein negativer Begriff, der noch nicht christologisch geprägt ist wie später in der Theologie des Mysteriums (ab 1936). 173 28. 11. 1928, S. 2.
5.2. Religionsunterricht für Erwachsene
359
sches Licht auf Stählins an die Gebildeten gerichteten Religionsunterricht für Erwachsene. An demselben Abend deutet Stählin das jüngste Gericht als das Offenbarwerden des letzten Urteils (in Anlehnung an Mt 10,26/Lk 8,17). 174 Dies bedeute etwas Erschreckendes und Tröstliches zugleich: "Wir gehen entgegen dem völligen Offenbarwerden. Es ist in der Tat das furchtbarste Urteil über uns, und das schrecklichste und entsetzlichste, was man sich vorstellen kann, das völlig Offenbarwerden nicht nur bezüglich Ereignissen, die man verborgen hat, sondern in der Tiefe, die man selbst nicht gekannt hat, hüllenlos sich sehen müssen. Und auf der anderen Seite der ungeheure Trost, daß wirklich alles Verborgene ganz und gar offenbar wird [...]. All unser Heimweh, all unser letztes Sichausstrecken nach dem Licht, wie die kleinen Kinder nach dem Licht greifen, alles letzte Gottessehnen, alles letzte Seufzen zu Gott wird offenbar, alles, was verborgen, vergraben und verwüstet ist unter der [sie] Unflat der Welt, kommt einmal an das Licht." 175 Oberlehrer Scheidt erkennt an dieser Stelle das Ungewöhnliche von Stählins Aussagen, in denen das Gericht als ein geistiger Prozeß im Inneren des Menschen gedeutet wird. Seine Rückfrage sei hier beispielhaft wörtlich zitiert: "Ich habe den Eindruck, daß in der Gesamtheit der christlichen Kirche der jüngste Tag als ein ganz bestimmter angesehen wird, und daß das letzte Gericht als ganz bestimmtes unter fester Form abgehaltenes betrachtet wird. Wenn Sie das so ausführen, so weiß ich nicht, ist das jetzt die Meinung der gesamten wissenschaftlichen Theologie oder ist das eine besondere Meinung von Ihnen?" 176 Stählin erwidert, daß es eine gesamte wissenschaftliche Meinung gerade zu diesem Thema nicht gebe. 177 Er selbst beschreibt die Aussagen vom jüngsten 174 Stählin scheint diese Stelle eher spontan auszuführen, denn die Begründung der Dialektik von Gericht und Verheißung in dem Wort mit den unterschiedlichen Adressaten ist schlicht falsch: Bei Lukas handele es sich um ein Drohwort an die Pharisäer, während der Vers in der Aussendungsrede Mt 10 als Trostwort an die Jünger stehe. Tatsächlich jedoch handelt es sich bei Lukas um ein Logion nach dem Sämanngleichnis, wobei die Menge (οχλος) als Zuhörerkreis gedacht ist (Lk 8,4). 175 28. 11. 1928, S. 4. 176 28. 11. 1928, S. 5. 177 1924 war zuerst Karl Barths Vorlesung Die Auferstehung der Toten (SS 1923 Göttingen) als Buch erschienen, worin die Auferstehung als Wahrheit, Wirklichkeit und als Grundlegung der Gemeinde herausgestellt wurde. Die Gegner des Paulus in Korinth, so Barth, bejahten alles bis auf den "radikalen Neuanfang", hier stießen aufeinander "die Welt des Evangeliums [...] und die Welt einer Religiosität und Moral, die fast ganz so aussieht wie Christentum" (S. 69). Es ist die Frage, ob auch Stählins
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Gericht mit dem Terminus "Mythos", wobei dieser in der letzten Zeit falsch gebraucht worden sei, als ob es sich um eine "Fabelei" handele. Aus dem Gespräch heraus definiert Stählin den Mythos vielmehr als "eine Glaubensaussage über ein Geschehen, das ganz und gar wirklich ist, das aber nicht im Raum und in der Zeit dem irdischen Sinn sichtbar sich vollzieht." 178 So seien die Posaunen des jüngsten Gerichtes "doch nicht Blechinstrumente, deren Tönen man im Grammophon aufnehmen könnte", sondern die Macht, welche "die Mauern zu Fall [bringt], die unseren Sinn begrenzen." 179 Offensichtlich zustimmend antwortet nun Scheidt, die "vergeistigte tiefe Auffassung dieser Fragen" sei in der Kirche nicht zum Durchbruch gekommen 180 und Stählin erzählt von einer Konfirmandin, die sich zunächst unter Tränen bei ihm beklagt habe, er habe ihr "den ganzen Himmel kaput [sie] geschlagen", in der nächsten Stunde jedoch bekannte: "Es ist ja viel schöner so." 181 An dieser Stelle fragt wiederum ein Zuhörer, was denn mit dem Tot- oder Lebendigsein gemeint sei und wie sich das Urteil vollziehe. Stählin tritt daraufhin der Auffassung entgegen, es handele sich um eine fortschreitende "Vergeistigung". Gemeint sei vielmehr die Neuschöpfung durch die Auferstehung des Leibes. 182 Oberlehrer Scheidt bringt an diesem Abend damit die Fragen zur Sprache, welche durch Stählins Vortrag im Raum stehen, und Stählins Art des Antwortens ermutigt zu weiteren Fragen und Gesprächsbeiträgen. Stählin weiß durch prägnante Formulierungen (Posaunen des Gerichts/Grammophon) und Erzählungen (Konfirmandin) die Aufmerksamkeit bei der schwierigen Materie zu fesseln. Gleich in den ersten Monaten des Unterrichts in Münster besteht demnach eine offene Gesprächsatmosphäre. Ein weiteres, kürzer darzustellendes Beispiel ist der zweite Abend über das 7. Gebot am 21. Januar 1930.183 Bei diesem einfacheren ethischen Thema sind zunächst sechs spontane, z.T. kritische Zurufe protokolliert ("So einfach liegt die Sache nicht, [...]"), bevor es zu einer Art Disput mit Auffassung vom Gericht als dem Offenbarwerden der letzten Sehnsüchte des Menschen unter das Barthsche Verdikt gefallen wäre. 178 28. 11. 1928, S. 5. 179 Ebd. 180 Ebd. 181 Ebd. 182 A.a.O., S. 6-8. "Das ist die christliche Hoffnung in scharfem Unterschied von einer platonisch gedachten Unsterblichkeit der Seele." (S. 8) 183 Den ersten Abend hatte Stählin begonnen mit Erzählungen vom fehlenden Eigentumsbegriff bei afrikanischen Naturvölkern und von Hunderten unabgeschlossener Fahrräder vor der Universität Oxford. Darauf hatte er gefragt, welchem Zustand das Deutsche Reich 1930 näher stehe. Hier verzeichnet das Protokoll von Hans Rüter "Große Heiterkeit!" (S. 33): Dr. Seybold protokolliert daraufhin 13 Zuhöreräußerungen (7. 1. 1930, S. 1 f.) "Heiterkeit" wird von Hans Rüter ebenfalls am 21. 1. 1930 nach Stählins Satz protokolliert: "Was ist Luxus? Luxus nenne ich das beim andern, was ich selbst nicht habe." (S. 50 f.)
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Scheidt kommt. Stählin weist (mit Mk 10,21) daraufhin, daß Jesus für die Armen eintrat: "Wenn wir wirkliche Christen wären, müßten wir über dieses Elend des Eigentums hinauskommen und alle Dinge gemeinsam haben." 184 Scheidt widerspricht, das sei "psychisch völlig unmöglich", weil dann alle Menschen "gleich konstruiert sein" müßten. 185 Stählin läßt das nicht gelten. In der Familie gebe es auch eine Art von Kommunismus, obwohl die einzelnen dort sehr unterschiedlich sind. Vor allem aber dürfe man sich nicht von der Forderung Jesu dispensieren mit dem Hinweis, diese sei nur in einer idealen Welt zu verwirklichen. Daraufhin ergibt sich ein weiterer Gesprächsgang mit einem anderen Zuhörer über die soziale Verpflichtung des Eigentums. 186 An diesem Abend sind das gemeinsame Suchen, die offene Gesprächsatmosphäre und damit auch das Streitgespräch eindrücklich nachgezeichnet. Ab und zu schreckt Stählin auch vor provozierenden Äußerungen nicht zurück, was zu gewissem Unbehagen fuhren kann. 187 Er ist jedoch auch zwischen den Abenden mit einzelnen Zuhörenden im Gespräch und bemüht sich, auf die so erfahrene Kritik zu reagieren. 188 Diskussionsimpulse (wie bei der geschilderten Einleitung zum 7. Gebot) sind in beiden Protokollen nur sehr vereinzelt zu finden. So beginnt Stählin die Besprechung des Feiertagsgebotes mit der Feststellung, dieses sei sowohl eine Verpflichtung als auch eine Wohltat für die Menschen und fragt dann: "Welchen dieser zwei Gesichtspunkte halten Sie für den wichtigeren und vordringlicheren?" 189
18421. 1. 1930, S. 2. 185 Ebd. 186 A.a.O., S. 3. 187 Am 18. 2. 1930 (8. Gebot) hatte Stählin gesagt: "Manche Politiker leiden darunter, daß sie die Menschen überzeugen müssen von Dingen, an die sie selbst nicht glauben." (Protokoll von Heinz Rüter, S. 65.) Dazu merkt der Protokollant an: "(Große Unruhe!)" Das Protokoll von Dr. Seybold verzeichnet auch an diesem Abend viele Zurufe und mehrere Teilnehmerbeiträge zur Frage der Ehrlichkeit in der Politik (S. 1 f.). Hier scheint eine Parallele zu der von Kurt NOWAK, Evangelische Kirche und Weimarer Republik, 1988, S. 210 für die Zeit ab 1929/30 konstatierten "akute[n] Politisierung des Pfarrerstandes" vorzuliegen. 188 So beginnt er den dritten Abend über das 6. Gebot (17. 12. 1929) mit der Bemerkung: "Aus dem Kreis ist in der Zwischenzeit die Meinung laut geworden, das Leben, ihre Ehe, sei durch den letzten Abend nur noch schwerer geworden durch das Bewußtsein, von dem Ideal so weit entfernt zu sein." (Nachschrift Rüter, S. 19.) 18930. 4. 1929, S. 1.
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Hierauf kommt eine (etwas zurückhaltende) Diskussion in Gang. Bei der 7. Bitte des Vaterunsers erwähnt Stählin kurz die Auffassungen vom Teufel in der Vergangenheit und fragt dann in bezug auf die Gegenwart: "In welchem Bild kann die zerstörerische Macht angeschaut werden?" 190 Daraufhin werden der Selbstmörder (von Stählin zurückgewiesen), Tiergestalt, Bazillus, eine "dämonisch grinsende Menschenfratze" (stärkste Zustimmung Stählins) und Maschinen erwähnt, und Stählin parallelisiert seine Kriegserfahrungen und die Erfahrungen der Menschen mit Maschinen und Technik." 191 Bei der Behandlung der Sündenfallgeschichte (Gen 3,7-24) fragt Stählin, warum besonders im Abendgebet die Sünde bekannt werde. 192 In diesem Fall "katechesiert" er, indem die unzutreffenden Antworten zurückgewiesen werden (protokolliert sind sechs Zurufe), bis Stählin das von ihm Gemeinte ausführt (in der Stille des Abends kommen die in der Unruhe des Tages beiseite geschobenen entscheidenden Erkenntnisse für den Menschen zur Entfaltung). Damit ist Stählin bei seinem Thema: die Notwendigkeit der Stille und die Angst des modernen Menschen davor. 193 Mitunter kann Stählin auch den vorgetragenen Zuhörermeinungen um der Sache willen deutlich widersprechen. So stimmt er zwar der Einschätzung zu, das Apostolikum müsse nicht jeden Sonntag gesprochen werden 194 , wehrt sich aber dagegen, das Bekenntnis aus heutiger Sicht heraus "abzuändern". 195 Für die Besprechungsabende (und auch sonst) hat Stählin die Möglichkeit geschaffen, vorher Fragen zu den bisherigen Abenden einzureichen. Mehrmals beklagt er sich, daß nur so wenige Fragen eingegangen sind. Zu Beginn des dritten Abends über das 6. Gebot bemerkt Stählin:
19021. 11. 1932, S. 5. 191 "Wer jemals in seinem Leben einen Tank auf sich zukommen sah, weiß, daß ein solcher Tank ein unerhört starkes Symbol des Satanischen ist [...]. Krieg ist Maschinerie, die ganze Technik ist ein gegen uns gerichteter Krieg." Neben dem schon mehrfach bei Stählin beobachteten Kulturpessimismus und der traditionellen Fremdheit von Theologie und gebildeten Schichten gegenüber Arbeitswelt und Industrie spricht daraus auch der vom Natur-Stadt-Gegensatz geprägte romantische Impuls der Jugendbewegung. 192 28. 1. 1935, S. 2. 193 Vgl. dazu Eugen D R E W E R M A N N , Das Markusevangelium, 1. Teil, S. 355 (zu Mk 4,35-41): "Manchmal, gerade wenn der Lärm und der Trubel ringsum uns verläßt, wenn die Menge sich verabschiedet und die 'Stille' beginnt, bricht in uns ein innerer Sturm los." (Hervorhebungen dort.) 19424. 11. 1930, S. 3. Ein Zuhörer meinte: "Es würde genügen, wenn das A. G. 3 mal im Jahr verlesen würde, [...]". 195 Stählin (a.a.O., S. 3 f.): "Ich habe nicht das Wort gebraucht und werde es nicht gebrauchen, daß wir oder andere Geschlechter berechtigt sind, das Bekenntnis abzuändern, sondern es handelt sich hier nur darum, daß aus einem neuen Verständnis heraus neue Worte gefunden werden, [...]."
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"Vielleicht erlauben Sie mir, daß ich gerade zu unserem letzten Zusammensein ein persönliches Wort sage. Es ist in einer Hinsicht die Hoffnung, die ich an diese Abende knüpfte, nicht ganz in Erfüllung gegangen, nämlich in der Hinsicht, daß ich sehr den Wunsch hatte, in einen Meinungsaustausch zu kommen und die Fragen zu besprechen, die mir aus dem Kreis entgegengetragen worden sind. Das ist leider nicht der Fall. Ich habe nach den beiden vorigen Abenden eine einzige Frage auf Umwegen zu hören bekommen." 196 Stählin äußert Verständnis für die Scheu, gerade im sexuellen Bereich Fragen zu stellen und bittet darum, seine Klage "nicht als Ausdruck der Undankbarkeit aufzufassen" 197 ; ohne die "ständige Fühlungnahme" mit den Zuhörern sei für ihn die Gestaltung der Abende jedoch sehr schwierig. (In diesem Zusammenhang fallt auf, daß Zuhörer/wie« an keiner Stelle erwähnt sind, jedenfalls nicht durch Redebeiträge in Erscheinung treten.) Stählins Bitten wurden offensichtlich positiv aufgenommen, denn zwei Monate später kann er von mehreren eingegangenen Fragen (zum 8. Gebot) ausgehen und beginnt mit der Frage, ob es möglich und geboten sei, unbedingt die Lüge zu vermeiden. 198 Am letzten Abend des Sommersemesters 1930 kann Stählin dann zwei Fragen aus den eingegangenen auswählen und zum Inhalt eines aktuellen Besprechungsabends machen: 1. Hat sich das Christentum als "Lebenskraft" für die ganze Menschheit erwiesen oder hat es (wie die Ungerechtigkeit des Krieges zeigt) nur auf Einzelne gewirkt? 2. Welche ist die Wurzel der gegenwärtigen Not der Kirche? In diesem Falle sind einige Zuhörer (besonders wieder Scheidt) eher Verteidiger der positiven Rolle des Christentums, während Stählin bewußt und explizit als "advocatus diaboli" fungiert (so fragt er, ob wirklich das Christentum oder nicht doch wirtschaftliche Gründe für die Abschaffung der Sklaverei verantwortlich waren). 199 19617. 12. 1929, S. 1. 197 Ebd. Aus den Protokollen geht der Unterschied zwischen "Besprechungsabenden" und anderen Abenden übrigens nicht ohne weiteres hervor. Uns geht es hier allgemein um Stählins Versuche, mit den Zuhörern neben dem Vortrag ins Gespräch zu kommen. 19818. 2. 1930, S. 1: "Was meinen Sie dazu? Ist es möglich bezw. [sie] wünschenswert?" An dem Abend kommt noch einmal Stählins (jugendbewegte) Kritik an "verlogenen Formen" zur Geltung: Die Anrede "Sehr geehrter Herr!" wird von Stählin als eine solche bezeichnet. Es sei ein "Skandal", solche Äußerlichkeiten weiterzuschleppen (Nachschrift Rüter, S. 69). Auch am 25. 7. 1932 (Nachschrift Seybold, S. 2) bezeichnet Stählin "Wahrhaftigkeit" als Voraussetzung "geistlichen Wachstums". 199 21. 7. 1930, S. 1. In der anderen Nachschrift (1./2. S„ o.P.) ist Stählins Vergleich von Sklaverei und Arbeitslosigkeit protokolliert: Gerade in Münster drohe man "die
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Die Beteiligung der Hörer an der Themenplanung der Abende wird zweimal angedeutet. Am 12. 2. 1929 hat Stählin das Thema "Fastnacht" gewählt, weil er durch schriftliche und mündliche Äußerungen von Teilnehmern dazu gebracht wurde. 200 Am 24. 11. 1930 trägt Stählin die Alternative vor, wie bisher in dem Semester über praktische Fragen zu sprechen oder langfristig die drei Glaubensartikel zu behandeln: "Ich bitte Sie, sich zu entscheiden." 201 Juristische Fachkompetenz fragt Stählin an einem Abend zum 7. Gebot ab. Der nicht namentlich genannte "Kollege" (also ein juristischer Ordinarius?) erläutert kurz und knapp die unbeschränkte privatrechtliche Souveränität über das Eigentum und im Unterschied dazu den verpflichtenden Charakter des Eigentums nach der Weimarer Reichsverfassung. 202 Stählin ergreift jedoch sehr schnell wieder das Wort. Insgesamt ist zu wiederholen, daß trotz dieser zusammengestellten Einzelheiten Stählins Vortrag die Abende dominiert. Wichtiger als die methodischen Aspekte ist jedoch sicher die Fähigkeit Stählins, die Zuhörer anzusprechen. Dies geht aus eindrücklichen, predigtartigen Formulierungen hervor, die als Merksätze aufgenommen worden sein mögen. So heißt es beim Abschluß der Abende zum Vaterunser: "Beten ist das Atemholen der Seele, ist das Öffnen der Seele für den Hauch des göttlichen Geistes." 203 Damit gilt es nun, Stählins thematischen (heute würde man sagen: didaktischen) Ansatz zu beschreiben.
5.2.2. Der thematisch-didaktische Ansatz des Unterrichts Anders als in der Jugendarbeit und im Religions- und Konfirmandenunterricht hat Stählin zwar den Lebenszusammenhang seiner Zuhörer genau im Blick, geht aber zunächst gezielt von den biblisch-kirchlichen Themen aus. Einleitend wurde bereits beschrieben, daß er bewußt einen Unterricht abhalten und an "geistreichen" Vorträgen und Diskussionen Interessierte abschrecken wollte. Beim ersten Abend zum Vaterunser 1932 stellt Stählin dies in dem Kreis selbst noch einmal explizit heraus:
tatsächliche Lage eines großen Teils des Proletariats zu übersehen." - Am 2. 5. 1932 (S. 1) berichtet Stählin dankbar von einem Brief, den ihm jemand nach dem letzten Abend geschrieben habe und teilt die darin geäußerten Gedanken mit. 20012. 2. 1929, S. 1. 20124. 11. 1930, S. 4. Der Verlauf der weiteren Arbeit (s. Anhang 1) zeigt, daß die Entscheidung für die Glaubensartikel fiel. 202 7. 1. 1930, S. 4. In Art. 153, Abs. 3 heißt es: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste." 203 5. 12. 1932, anonyme Nachschrift, S. 4.
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"Ich habe von Anfang an, als ich diese Abende hier, durch einige Freunde, die seither regelmäßig teilnehmen, ermutigt, begonnen habe, eine Warnung ausgesprochen: Nämlich ich habe alle diejenigen gewarnt, zu den Abenden zu kommen, [...] die sich für religiöse Fragen interessieren. Ich habe sie gewarnt, [...] weil man sich nicht für religiöse Fragen interessieren kann. Sondern hier steht man vor der letzten und entscheidenden Frage: Willst du nun mit, so sage ja." 204 Im Februar 1933 hält Stählin zwei Abende zum Thema "Christentum als Weg und Weisung" und stellt dabei heraus, daß es sich auch beim christlichen Glauben um einen Lebens- und Erkenntnisweg mit unterschiedlichen Stufen handele (wie auch in anderen Religionen). 205 Die kirchliche Unterweisung jedoch leide "unter dem Wahn, daß man den verschiedenen Altersstufen im Grunde die gleiche Wahrheit sagen könnte." 206 Weiterhin führe die Konfirmation zu der Fehleinschätzung, das Erwachsensein mit dem Ende der religiösen Unterweisung gleichzusetzen. Die Kirche bleibe dem Erwachsenen "die Hilfe für seine Stufe" schuldig207. Stählin plädiert stattdessen für "eine zweite Konfirmation an der Schwelle zwischen Jugend und Reife", um auf Ehe, Beruf, Stand und Politik vorzubereiten. 208 Vor allem aber müsse die Kirche sich und ihren Gliedern deutlich machen, daß der Mensch durch die Stufen seines Lebens hindurchgehen dürfe und müsse, wobei das Stehenbleiben auf einer Stufe wie das Überspringen einer Stufe Gefahren seien. 209 20418. 4. 1932, S. 1. Stählin "warnt" dann vor dem Kommen diejenigen, die sich nur für das Vaterunser "interessieren", es aber nicht beten lernen wollen und diejenigen, die das Vaterunser selbstverständlich beten können. "Aber eingeladen und herzlich willkommen sind alle die, die darunter leiden, daß sie das Vaterunser nicht recht beten können." (Ebd.) 205 In diesem Zusammenhang kritisiert Stählin den Satz, das Christentum sei kein zu gehender Weg, sondern "der Weg, den wir schlechthin einen anderen für uns gegangen sein lassen müssen" als die "absolute Auflösung des Christentums" (6. 2. 1933, S. 1). 2066. 2. 1933, S. 6. Im Kindergottesdienst kämen z.T. Dinge zur Sprache, die für 30oder 40-Jährige wichtig wären (ebd.). 207 Ebd. 208 Ebd. Karl Ernst NIPKOW, Erwachsenwerden ohne Gott?, 1987 bestätigt Stählins Einschätzung. Der Konfirmandenunterricht höre zu früh auf, um die kritischen Fragen zu Gesicht zu bekommen (S. 84 f.). Vor allem aber gelte: "Unterricht in der christlichen Religion ist eine unabschließbare Aufgabe für Erwachsene." (A.a.O., S. 90, Hervorhebung dort.) Nipkow weist darauf hin, daß schon der liberale Praktische Theologe Otto Baumgarten 1903 einen Religionsunterricht für Erwachsene forderte (S. 91). 2096. 2. 1933, S. 6 f. Da Stählin ganz unspezifisch von Altersstufen spricht (und z.B. den "kindischen Erwachsenen" vor Augen hat), liegt nur eine entfernte Parallele zu J.W. Fowlers Glaubensstufen vor, bei denen das "Überspringen" einer Stufe unmöglich ist ("sequence of faith stages", J.W. FOWLER, Stages of Faith, 1981, S. 274). Ei-
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Aus den Bemerkungen der beiden Abende gehen Stählins Intentionen bei dem Unterricht deutlich hervor. Zum einen soll es sich wirklich um einen Unterricht über den christlichen Glauben handeln, der zu geistlichem Leben (Gebet) hinfuhrt. Zum anderen aber ist der christliche Glaube nicht allgemein, sondern als Religion des Erwachsenenalters verstanden. Man könnte folglich sagen: Stählin geht es um einen "Unterricht in der christlichen Religion" 210 für Erwachsene. Die Abfolge von Themen und Inhalten geht aus der Übersicht (Anhang 1) hervor und kann nur mit einigen Beispielen veranschaulicht werden. Der Nürnberger Unterricht 1923-1926 geht konsequent an den beiden ersten Hauptstücken entlang, wobei das ganze erste Jahr den dritten Glaubensartikel behandelt (einschließlich einer im Konfirmandenunterricht üblichen Kirchenkunde). Aber auch hier liegt das Schwergewicht mehr und mehr auf dem Lebenszusammenhang der Zuhörer: Im Jahrgang 1925/26 entfallen bereits 8 der 16 Abende auf die alltagsethischen Gebote 6-8. Auch in Münster umfaßt ihre Behandlung ein ganzes Semester (WS 1929/30 mit 7 Abenden). Dabei spielen die Fragen von Sexualität und Ehe, u.a. bedingt durch Stählins eigene thematische Schwerpunkte, eine besonders wichtige Rolle. 211 Nach den Geboten (in den Jahren 1929 und 1930) sind ein Semester lang übergreifende Fragen des christlichen Glaubens Thema (WS 1930/31), bevor sich der Kreis dann doch für die Christologie und das Vaterunser entscheidet (Nov. 1931-Dez. 1932). Wichtiger als die formale Themenangabe ist selbstverständlich die inhaltliche Füllung. Dazu seien beispielhaft einige Schlaglichter aus der Christologie dieses Unterrichts, vor allem aber die um 1930 immer brisanteren politischen Gedankengänge während der Abende angedeutet.
ne größere Nähe liegt vor, wenn Stählin verschiedene Glaubenswege beschreibt (etwa den Weg Natur, Gesetz, Gnade, 6. 2. 1933, S. 7). 210 In seiner ersten Katechetik-Vorlesung im SS 1927 hatte Stählin anfangs definiert: "Katechetik Lehre vom Unterricht in der christlichen Religion" (Vorlesung Praktische Theologie II, SS 1927, la). Der Titel ist synonym mit Albrecht Ritschis berühmter Schrift von 1875, die ihrerseits den Titel von Calvins "Institutio" übernahm (und von Ritsehl als Lehrbuch in der Oberprima gedacht gewesen war, ohne jedoch diese Verwendung zu finden). 211 Darauf ist hier jedoch nicht näher einzugehen, weil dies u.a. zu Wiederholungen des unter 4.3.2. Beschriebenen führen würde. Zwei Details seien jedoch erwähnt: Offen spricht Stählin über die Selbstbefriedigung (die er zeitbedingt als "Störung des Nervensystems", vor allem aber als Ausdruck des "Eingesperrtseins" statt der "lebendigen Begegnung" wertet, 19. 11. 1929, S. 3) und plädiert für die sexuelle Aufklärung im Religionsunterricht, weil diese nicht möglich sei "durch physiologische naturwissenschaftliche Aufklärung, sondern durch Sinndeutung des geschlechtlichen Schicksals" (5. 11. 1929, S. 7). Stählin kritisiert in diesem Zusammenhang die offenen Schriften von Max Hodann, "dem wichtigsten aus der deutschen bürgerlichen Jugendbewegung stammenden Sexualwissenschaftler" (so Ulrich LINSE, "Geschlechtsnot der Jugend", 1985, S. 276).
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Auch bei der Christologie betont Stählin den Zusammenhang mit dem Leben. Nie habe die Kirche von Jesus historisch geredet, "abgesehen von der eigenen Lebenssituation", sondern stets als von dem, "der ihr Leben umfängt und trägt." 212 Seine eigene Vorliebe für das Johannesevangelium und die Johannesbriefe verschweigt Stählin nicht213, wendet sich aber vor allem gegen die Auffassung, "wir müßten über die Theologie des Paulus zur einfachen Lehre Jesu zurückkehren."214 Nicht Paulus habe "das Christentum zur dogmatischen Sache gemacht", vielmehr sei "im Grunde schon genau das Gleiche in den Reden Jesu enthalten."215 Ins Zentrum der Christologie führt Stählin dann über Erläuterungen zur (gleich- und verschieden-geschlechtlichen jugendlichen) Erotik. Diese sei "etwas durchaus Schönes, Gutes und Edles"216, weil der Mensch nach seiner Ergänzung verlange. Christus hingegen könne gerade nicht mit der erotischen Liebe bezeugt werden, "sondern weil [sie] er dieser Welt nicht bedarf, wendet er seine Liebe dieser Welt zu, und es ist genau umgekehrt als beim Eros." 217 Stählin betont dann an diesem Abend kurz vor Weihnachten, die Frage der Christologie sei "mißverstanden, wenn sie als rein verstandesmäßige, lehrhafte Frage gestellt wird, bei der man theologisch lehrhaft über die Person und die Ämter Christi redet."218 Von Christus könne eigentlich nur liturgisch geredet werden: "Der Überschwang der Dankbarkeit sucht den Namen Christus, um in diesem Namen zu loben und zu preisen das, was in Christus erschienen ist."219 Damit ist der menschliche Eros Zugang und die Doxologie als gedankliches Axiom der Christologie geltend gemacht. Auch die Christologie wird mithin 2129. 11. 1931, S. 8. Der Abend erhielt den aktuellen Kontext durch Stählins Eingehen auf den "Fall Dehn", wobei Stählin mit Dehn die Identifizierung von Kriegstod "für das Vaterland" und Opfertod Christi ablehnte (S. 3, vgl. dazu oben S. 304 f.). 213 Das Johannesevangelium sei ein "Abriß [...] dessen, was eigentlich Christentum ist" (23. 11. 1931, S. 2), durch den 1. Johannesbrief komme man "hinein in das, was Christentum ist" (ebd.). 21423. 11. 1931, S. 3. 215 Ebd. Für eine vorösterliche Christologie in den galiläischen Gemeinden, unabhängig von der Jerusalemer Überlieferung, hat Willi MARXSEN plädiert, s. zuletzt ders., "Christliche" und christliche Ethik im Neuen Testament, 1989, S. 47-55. 21614. 12. 1931, S. 2. Diese Sicht ist deutlich von Eduard Sprangers Unterscheidung der "jugendlichen Erotik" vom "jugendlichen Sexualleben" geprägt (E. SPRANGER, Psychologie des Jugendalters, 1957 [1924], S. 126: Erotik und Sexualität sind in der Jugend "getrennt, um sich im Höhepunkt des aufgeblühten Lebens wieder zu vereinen."). 21714. 12. 1931, S. 2. 21814. 12. 1931, S. 6. 21914. 12. 1931, S. 6-7. Stählin betont vor allem den "Überschwang" gegen die protestantische "Nüchternheit".
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von den Realitäten Leib und Liturgie her erschlossen. Von daher gelingt Stählin auch der Bezug zum neuzeitlichen Lebensgefühl und dessen Angewiesensein auf die Erlösung und Wandlung des Lebens durch Christus: "Ich glaube nicht, daß im allgemeinen heute diese letzte Gefährdung des Menschen gerade so wie in der Reformationszeit als Sünde erfahren wird, sondern es ist mehr das Grauen, in den ganz leeren Raum hineingeworfen zu sein, wo das Leben keinen Sinn hat. Erst wo man um diese Grauen weiß, begreift man, was mit Heiland gemeint ist. Heiland ist der [...], um deswillen dieses letzte Grauen verwandelt ist in Zuversicht, der, um deswillen das sinnlose Leben Sinn hat, [,..]." 220 Ein halbes Jahr später kommt Stählin noch einmal darauf zurück bei der 5. Bitte des Vaterunsers. Er rekurriert dabei auf seinen Vortrag über das Schuldgefühl der modernen Jugend von 1924221 und deutet so: "[...] das soziale Sünden- und Schuldgefühl ist ein Gefühl, die ganze Welt ist aus den Fugen geraten, die ganze Welt ist nicht in Ordnung." 222 Dazu gehöre jedoch, daß der einzelne Mensch sich nicht nur als Opfer der sozialen Misere empfinde, sondern auch als Mitschuldiger. Damit sind Christologie, Sünden- und Rechtfertigungslehre in den Kontext gegenwärtigen 223 , besonders auch politisch-sozialen Lebens gerückt. 224 Damit sind wir bereits bei den politischen Tagesfragen, die sich in Stählins Unterricht gewissermaßen von selbst aufdrängen und denen er nicht ausweicht. Beim abschließenden Besprechungsabend zum 8. Gebot spricht Stählin mit großem Verständnis vom Hitlerputsch (1923), betont aber zugleich: "diese Menschen sind diesen Weg gegangen mit solcher objektiver und subjektiver Unwahrheit." 225 An dieser Stelle bricht Stählin die Aussprache nach einer weiteren Zuhöreräußerung (zum Krieg) ab und nimmt einen Themenwechsel zur Wahrhaftigkeit gegenüber Kindern vor.
22014. 12. 1931, S. 8. 221 Das Schuldgefühl der modernen Jugend, 1925 [1924], s. dazu oben S. 78-80. 22211. 7. 1932, S. 2. 223 Eine gewisse Beeinflussung war vermutlich auch Tillichs bekannter Vortrag Rechtfertigung und Zweifel, 1924. 224Ende Dezember 1932 gab es in Deutschland 5,66 Millionen Arbeitslose. - Die politische Interpretation des Sündenbegriffs wird gegenwärtig vor allem von Dorothee SÖLLE vertreten (dies., Gott denken, 1990, S. 77-94; ebenso schon vor 20 Jahren dies., Politische Theologie, 1971, S. 105-134.). 225 18. 2. 1930, S. 2. Stählin teilt mit, er habe einige Beteiligte "gut gekannt" und er wisse, "daß sie das aus brennender Liebe zum Vaterland getan haben."
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Stählins ambivalente Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus kommt bei der Behandlung der 2. Bitte des Vaterunsers zum Tragen. Auch hier schlägt Stapels religiöser Reichsgedanke durch. So kann Stählin sagen: "Wer Reich sagt, sagt Kampf. Dann haben unsere Nationalsozialisten recht. Das darf nicht als Kriegshetze verschrien werden. Darin liegt eine tiefe Notwendigkeit unserer Geschichte." 226 Andererseits bringt Stählin den Reichsgedanken unter expliziter Berufung auf Stapel gerade in "Gegensatz zum bloßen Rassenglauben und bloßen nationalsozialistischen Imperialismus." 227 (Wie wenig allerdings Stählin in bestimmte politische Schubladen paßt, zeigt, daß er sich am nächsten Abend - "Dein Wille geschehe" - auf Blumhardt (den Älteren) beruft, um die Notwendigkeit menschlicher Weltgestaltung im Auftrage Gottes zu begründen. 228 ) Genau eine Woche vor der "Machtergreifung" äußert Stählin Verständnis für die allgemeine Politisierung der Studenten. Er stimmt der von Studenten selbst geäußerten Einschätzung zu, die Politisierung sei ein Protest gegen den abstrakten universitären WahrheitsbegrifF, "der nicht in die Sphäre wirklicher Entscheidungen hereinragt." 229 Gerade von daher sucht Stählin dann den Unterschied des biblischen und des griechischen WahrheitsbegrifFs zu erläutern: "Hier steht der Mensch in die Frage seines Lebens hineingestellt [sie] und hat im Handeln sich zu entscheiden. Wehe, wenn sie ein Irrtum ist, wohl ihm, wenn sie wahr ist." 230 Dazu kann im nachhinein nur mit Erstaunen festgestellt werden: Stählin konnte wohl kaum ahnen, wie recht er schon eine Woche später bekommen sollte! Neben dem Aufkommen des Nationalsozialismus spielt auch die Sozialpolitik in diesen Jahren eine wichtige Rolle beim Religionsunterricht für Erwachsene. Der Abend über das 7. Gebot im Januar 1930 verrät eine klare Wahrnehmung der sozialen Realität. Stählin greift die Börsenspekulation an,
22623. 5. 1932, S. 7. (Bei den Reichstagswahlen am 31. 7. 1932 wurde die NSDAP stärkste Partei.) 227 23. 5. 1932, S. 4. 2286. 6. 1932, S. 8. 229 23. 1. 1933, S. 7. 230 Ebd. - Klar hat sich Stählin gegen antisemitische Vorurteile, z.B. gegenüber dem Alten Testament ausgesprochen: Man müsse die Antisemiten darauf hinweisen, "wie das alte Testament ganz hinauswächst über die kirchliche Vergeltungstheorie, die keine Methode der Juden ist, sondern eine Methode der Welt." (26. 5. 1930, S. 3.)
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weil dadurch Tausende von Arbeitern arbeitslos geworden seien: "Es wird gespielt mit der Arbeiterschaft [,..]." 231 Auf den Abend über das "Christentum als Lebenskraft" und Stählins Vergleich von antiker Sklaverei und Arbeitslosigkeit ein halbes Jahr später war bereits verwiesen worden. Eindrücklich argumentiert Stählin: "Gerade wir in Münster sehen die tatsächliche Lage eines großen Teils, der proletarisiert ist, nicht. Das ist vielleicht sehr angenehm, aber es ist eine große Gefahr. Es ist in unzähligen Familien infolge der Arbeitslosigkeit eine so furchtbare Not, die so aussichtslos ist [...]. Wir alle, die menschlich gesprochen ein gesichertes Einkommen haben, denken viel zu wenig daran. Das ist eine Art von Massennot und Massenelend, wie sie selbst im Durchschnitt bei der Sklaverei nicht da war, [...]. Das Christentum hat in einzelnen Dingen viel gebessert in der Welt, [...], aber wenn wir uns fragen, ob im ganzen das Christentum [...] die Art, wie es auf der Welt zugeht, wirklich verändert hat, können wir nur mit einem Nein antworten." 232 Hieraus spricht noch die Ehrlichkeit und radikale Fragehaltung, wie sie in der Jugendbewegung üblich war. Stählin nimmt keine Rücksicht auf die Zuhörer oder auf vermeintlich christliche Apologetik. Ebenso ungewöhnlich für damalige Zeiten ist sein Bericht über ein Gespräch mit jungen Arbeitern im Zusammenhang der Besprechung von Gen 3,17 (Mühsal der Arbeit). Diese Menschen verstünden, was der Fluch der Arbeit sei: "Wie viel frömmer dieser leidenschaftliche Ausbruch ist als alles idealistische Geschwätz von der Arbeit als Gottesdienst, [...]." 233 Bevor wir die Jahrgänge des Religionsunterrichts noch einmal als Spiegel der theologischen Entwicklung Stählins betrachten, sei am Schluß dieses Abschnitts kurz auf die zitierten großen Namen hingewiesen; auch dabei handelt es sich um eine Art didaktischen Anknüpfungspunkt. Ganz allgemein wird der deutsche Idealismus eher negativ bewertet: Er habe den großen Versuch der Synthese von Freiheit und Gebundenheit des Menschen gemacht, sei aber daran gescheitert. 234 Die deutschen Klassiker sind darum an kaum einer Stelle Gewährsmänner für Stählins Anliegen. 235 In den Nürnber231 7. 1. 1930, S. 7. Es handelt sich um den Abend, als Stählin erzählt: "Ich komme aus einer Zeche, die ich heute Mittag mit Studenten besichtigt habe. [...] Ich bin vor einigen Wochen in einer Gemeinde gewesen, wo fast die ganze Stadt arbeitslos ist, weil die Zeche stillgelegt ist." (Ebd.) 232 21. 7. 1930, S. 2. Bis zum Ende des Jahres 1930 stieg die Zahl der Arbeitslosen auf 4,38 Millionen. 233 28. 1. 1935, S. 7. 234 15. 1. 1929, S. 5 (Einleitung zu den 10 Geboten). 235Ein Goethezitat: 1923/24, S, 43 (3. 1. 1924); 15. 1. 1925, S. 2.
5.2. Religionsunterricht für Erwachsene
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ger Jahren wird mehrfach Stefan George zitiert, z.B. der Gedichtzyklus "Der Teppich des Lebens". 236 Häufiger rekurriert Stählin auf Nietzsche, aber aüch auf Plato, Lagarde, Spengler, Stapel, ferner auf Dostojewski und Morgenstern. Ein Kuriosum ist es, daß Stählin sich betr. der "Wirklichkeit des Menschen" am 23. 1. 1933 auf dieselbe Kierkegaard-Geschichte beruft wie jüngst Eugen Drewermann. 237
5.2.3.
Stählins theologische Entwicklung im Spiegel des Religionsunterrichts für Erwachsene
Der unterrichtsbezogenen Darstellung lassen wir eine kurze chronologische Zusammenfassung des von Stählin Vorgetragenen folgen und lenken damit zugleich zum Beginn der Entwicklung von Stählins Schlüsselkategorien zurück, da wir den theologischen Denkweg anhand der Kategorie "Leben" schilderten (4.1). Am interessantesten ist in diesem Zusammenhang der erste Nürnberger Jahrgang (1923/24), in dem der frühe Stählin mit dem im "freier gerichteten" Protestantismus üblichen Rekurs auf das "Leben" und "Erleben" (statt kirchlichem Bekenntnis) greifbar ist. Andererseits tritt ebenso deutlich das Bemühen um die Überwindung des Individualismus, ferner das neue Durchdenken von Sünde und Schuld daneben. Mühelos lassen sich neuprotestantische Denkfiguren aufzählen: Es sei ein Irrtum der Menschen, zu meinen, sie seien Christen durch die Taufe, man müsse "Christus erleben" 238 ; religiöse Weisheit (im Gegensatz zu religiösem Wissen) "wird nur erworben im lebendigen Leben, kann nur er-lebt werden" (S. 4); der Heilige Geist wird beschrieben als "das Gottes-Leben, die GottesWahrheit, die in unserem menschlichen Sein da ist" (S. 6); es ist "Glaube und Erleben eines und dasselbe" (S. 13) und Sünde ist das, was "nicht aus dem Gottesleben heraus geschieht" (S. 44 f.). Die Überwindung des Individualismus wird jedoch gleichzeitig fur nötig erachtet, und zwar nicht nur bezüglich des Glaubens. Verblüffend aktuell wirkt Stählins Analyse, der Fortschrittsglaube und der Sozialismus seien zerbrochen und es gebe keine globale Hoffnung mehr (S. 62): 2361. 3. 1923, S. 2; 8. 1. 1925, S. 1; 15. 1. 1925, S. 3. 23723. 1. 1933, S. 7a. Kierkegaard erzählt, einmal in einen Laden gegangen zu sein, wo stand: "Hier wird Wäsche gewaschen und gebügelt." Es handelte sich aber nicht um eine Wäscherei, sondern um eine Schilderfabrik. Stählin dazu: "Das ist Philosophie." D R E W E R M A N N , Wort der Heils - Wort der Heilung, 1988, S. 184 bezieht die Geschichte auf die leere theologische Begrifflichkeit: "Wir haben das ganze Sprachspiel von Heil auf der Walze." 238Religionsunterricht für Erwachsene, Nürnberg 1923/24, S. 2. Da das Protokoll des Jahrgangs fortlaufend paginiert ist, stehen die Nachweise im folgenden in Klammern im Text.
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5. Stählins eigene Praxis als Lehrer der Kirche
"Unzählige Menschen leiden darunter, daß sie keinen Sinn der Geschichte mehr sehen. Wenn nur der Einzelne eine Hoffnung für sich hat, so erwächst daraus keine Hoffnung für das Ganze. [...] wir stehen heute vor dem völligen Zusammenbruch dieser fortgeschrittenen Menschheit. [...] Es ist ohne Zweifel, daß der Sozialismus dem Fortschrittsglauben himmelhoch überlegen ist deswegen, weil da wirklich ein Bild der Zukunft da ist. Der Sozialismus ist in dieser Form erst recht zerbrochen in der Erfahrung, daß keineswegs bestimmte wirtschaftliche Änderungen selbst da, wo sie durchgeführt werden könnten, diesen Zustand der Menschheit herbei führen." Der Individualismus wird von Stählin u.a. mit dem Nationalcharakter erklärt. Es liege "im Wesen des Deutschen, sehr stark sein eigenes Ich zu empfinden" (S. 23). Gleichzeitig schwinge das religiöse Leben aber zwischen den Polen Einzelleben und Gemeinschaftsleben. Der Sinn der Gegenwart sei gerade "die Wiederentdeckung der Gemeinschaft und ein Sich-Wiederausstrecken nach den Formen des Gemeinschaftslebens." (S. 27) (Gleichzeitig wird aber die Einheitlichkeit einer Landeskirche noch einmal als "etwas Armes" gegenüber der "Mannigfaltigkeit" bezeichnet, S. 29.) An dieser Stelle führt Stählin bereits das für ihn später zentrale Theologoumenon "Leib Christi" ein: dieses gehöre "zu den vergessensten in den neutestament. Briefen" (S. 35). Beim Thema "Gemeinde" liest Stählin aus dem Buch seines Freundes Ludwig Heitmann "Großstadt und Religion" vor (S. 42). Mit Heitmann einig ist er sich auch im neuen Rekurs auf die Sünde. Jedoch heißt es zwar wie bei Heitmann 239 , der "Individualismus des Menschen [...] ist die Grundsünde des Menschen" (S. 44) und das "Schuldbewußtsein ist das sich in uns regende Gottesleben" (S. 45), andererseits aber ist - anders als bei Heitmann 240 Christus alleiniger Maßstab der Sünde, weil er "die Offenbarung des göttlichen Lebens in der Wirklichkeit des menschlichen Lebens" ist (S. 43). 239Der Individualismus wird von Ludwig Heitmann (1880-1953) in allen drei Bänden seines monumentalen Werkes "Großstadt und Religion" als schlimmster Feind einer neuen Religiosität gebrandmarkt (Bd. 1, 2 1921, S. 159 ff.; Bd. 2, 1919, S. 12 ff. S. 150; Bd. 3, 1920, S. III: Dort erfolgt eine explizite Kritik und Absetzung von Luther, weil bei ihm schon der Individualismus angelegt sei.). Besonders prägnant heißt es in Bd. 2, 1919, S. 82: "Drei sind es, die da herrschen auf Erden: das Ich, der Trieb und die technische Organisation; und diese drei sind eins." 240 Auch bei Heitmann sind Schuldgefühl und Sühnelehre als Mitte des Glaubens genannt (Bd. 2, 1919, S. 56-58). Heitmann setzt aber die "Wucht des Schuldgefühls" (Bd. 2, 1919, S. 112, Hervorhebung dort) gegen die Sünde als das "Sachlich-Allgemeine" (S. 126). Als Beispiel für das Schuldgefühl wird ödipus genannt (S. 116), theologisch gilt: "Das Ursprüngliche im Lebensprozeß ist nicht das Erkennen der Sünde, sondern das Gefühl der Schuld." (S. 125) und "Die Sündenprediger sind erfahrungsgemäß die schlechtesten Bußprediger" (S. 127).
5.2. Religionsunterricht für Erwachsene
373
Somit findet hier der oben nachgezeichnete Denkweg über den LebensbegrifF zur reformatorischen Theologie seinen Niederschlag. Daneben ist schon Stählins Buch "Vom Sinn des Leibes" präfiguriert, wenn von der Gemeinde als der "Darstellung des Christuslebens in der Welt" (S. 49) und von der Leiblichkeit als dem "Ende aller Wege Gottes" (S. 52) die Rede ist. Im zweiten Nürnberger Jahrgang (1925/26) finden sich diese Linien wieder, sind allerdings weniger stark ausgeprägt. Dafür nur einige Beispiele: Zum 2. Gebot heißt es, "in den Lebendigkeiten des Lebens offenbart sich die Lebendigkeit Gottes" 241 ; jugendbewegter Vitalismus noch vor der kritischen Durchdringung, wie sie 1930 ("Vom Sinn des Leibes") vorliegt, spricht aus den Sätzen: "Ein Funke von Göttlichkeit ist in der Zeugungskraft eingeschlossen. Das ist die Erfüllung auch mitten im Sinnentaumel." 242 Auf die spätere Theologie des Mysteriums voraus weist die Bemerkung, daß der Glaube an Christus die "Teilnahme an einem Lebens-Prozeß" sei. 243 Am letzten Abend des Nürnberger Unterrichts (zum 1. Gebot) heißt es: "Gott ist der Strom des Lebens, der in die Ewigkeit geht." 244 Auch in den Münsteraner Jahrgängen, besonders in den ersten, spielt der Lebensbegriff eine wichtige, vornehmlich kritische Rolle. So nimmt Stählin bei der Behandlung des 9. und 10. Gebotes gegen den Lebenspessimismus Schopenhauers Stellung. Dieser sei "das radikale Gegenteil des Christentums", weil in der Bibel gerade das "Lebendigsein" zum Gleichnis dessen werde, was Gott mit dem Menschen vorhabe. 245 Der Eros, das "Gelüsten" nach etwas wird vielmehr im Sinne einer Theologie der Hoffnung gegen die Zufriedenheit mit dem Bestehenden gesetzt: "Ja, man möchte manchen Menschen vielmehr wünschen, daß sie mehr Gelüste hätten, daß sie nicht so bleiern zu einander wären mit dem kümmerlichen Lebenssurrogat, was sie Leben nennen. Das, was wir Spießbürgertum nennen, ist der Ausdruck eines Lebens, in dem kein eigenes großes Sein und großes Hoffen [...] da ist. Und da steht, sitzt oder liegt das Christentum und macht den Menschen gerade unzufrieden und erweckt in ihm die Gelüste nach dem, was jenseits seiner selbst ist." 246
241 Religionsunterricht für Erwachsene Nürnberg 1925/26, 15. 1. 1925, S. 2. 24219. 11. 1925, S. 1 (zum 6. Gebot). Zum 7. Gebot findet sich der Satz: "Die Dinge sind unser erweiterter Leib, unser Leib aber Ausdruck unserer Sendung in der Welt." (3. 12. 1925, S. 2.) 243 18. 2. 1926, S. 5. "Nur der Christus in uns ist der Christus, der für uns heilsam ist." (Ebd., Hervorhebung dort.) 2444. 3. 1926, S. 6. 245 5. 5. 1930, S. 5. 246 Ebd. Den Satz eines Schützenfestes "Das größte Glück hat hienieden, wer in sich zufrieden" bezeichnet Stählin als "das absolute Antichristentum" (ebd.).
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5. Stählins eigene Praxis als Lehrer der Kirche
Wie in der Jugendbewegung steht damit der Lebensbegriff in einem gesellschaftskritischen Kontext, welcher hier noch vom Eschaton her in eine weltkritische Hoffnungsperspektive überhaupt gerückt ist. Christliches Leben steht damit ganz umfassend gegen den Status quo. 247 Ähnlich wie Niemöllers berühmter Satz "Das Evangelium ist Angriff' kann Stählin formulieren, "daß der Geist Gottes ein Angriff auf die Welt ist." 248 Beim Beschluß der Gebote betont Stählin noch einmal das Soziale des Lebensbegriffs gegen den Individualismus. Es sei ein "völliges Wahngebilde", ein "abgeschlossenes Einzelleben" anzunehmen: "Unsere Leben sind lauter kommunizierende Röhren." 249 Die erste von uns beschriebene Opposition (4.1.1. "Lebendige Religion gegen verfestigte Lehre") kehrt als Unterrichtsthema am 3. 11. 1930 wieder unter der Überschrift: "Wie kommen wir los von theologischen und religiösen Begriffen und wie begegnen wir dem lebendigen Gott?" 250 Stählin betont, daß es sich beim christlichen Glauben nicht um Begriffe oder eine bestimmte Denkweise handele, sondern um Anteil am Leben Christi: "Denn dem lebendigen Gott begegnen, heißt nicht, irgend einem Wesen begegnen, wie wir jemand auf der Straße begegnen, an dem wir vorbeigehen könnten, wo wir ihn vielleicht mit dem Ärmel streifen, aber er geht uns nichts an, sondern das bedeutet das Zusammenstoßen mit einer Lebensmacht und Wirklichkeit, die in unser Leben aufs tiefste eingreift [.,.]." 251 In diesem Zusammenhang wird Johannes Müller als ein "Prophet" bezeichnet, welcher "die Menschen aus dem Götzendienst der Begriffe herauszufuhren und sie unerbittlich vor den Ruf des Lebens zu stellen versucht" und besonders den Religionsunterricht als ein Lernen von Begriffen und Definitionen scharf kritisiert. 252 An dieser Stelle wird jedoch eindeutig bewiesen, daß Stählin seinen entscheidenden Schritt zur Theologie des Mysteriums noch vor sich hat. Die
247 Offensichtlich ist Stählin auch von Karl Barths leidenschaftlichem Aufsatz "Quosque tandem" beeinflußt, der im ersten Heft von "Zwischen den Zeiten" 1930 erschien: Via Vitae, 1968, S. 260. 24821. 7. 1930, S. 5. 24926. 5. 1930, S. 8. 2503. 11. 1930, S. 1. - In gut jugendbewegter Tradition hatte Stählin am 18. 2. 1930 erklärt, es sei die "Wahrhaftigkeit eine Frage des Glaubens" (S. 5) und war mit dem Lehrer seiner Söhne, Prof. Walbe, in Streit über äußere Formen geraten: "Hier kann ich nicht mit." (S. 4). Die Meißner-Formel wirkt bei Stählin noch 1930 nach ("Wahrhaftigkeit"). 251 3. 11. 1930, S. 2. Stählin beruft sich - mit dem Philosophen Rudolf Eucken (18461926, Doktorvater Max Schelers) - auf Gal 2,20 (ebd.). 2523. 11. 1930, S. 3. Eher beiläufig wird J. Müller noch einmal erwähnt am 7. 11. 1932, S. 1.
5.2. Religionsunterricht für Erwachsene
375
Absage an den optimistischen Lebensbegriff Johannes Müllers (18641949253) liegt erst in einer Rezension zu Müllers Buch "Gott und Mensch" 1939 vor. Hier schreibt Stählin, er könne "an dieser optimistischen Lebensgläubigkeit nicht mehr Anteil haben", denn er sei "einen anderen Weg geführt worden, auf dem es nicht mehr jenes 'ursprüngliche Leben', das Johannes Müller verkündigt, ist, was uns über die Abgründe der Welt hinwegträgt." 254 Die Veränderung in Stählins Denken deutet sich aber an, als er im Februar 1932 über die Erlösung durch den Tod Christi spricht und der ErlebnisTheologie eine deutliche Absage erteilt. Neben dem "historischen Positivismus" müsse auch vor dem "psychologischen Positivismus" gewarnt werden, weil der Mensch sich leicht religiöse Erlebnisse einbilde oder andererseits unter dem Fehlen religiöser Erlebnisse leide.255 Stählin erzählt, für ihn sei das Erlebnisprinzip einmal eine Befreiung gewesen 256 , inzwischen aber könne er nur die Erlösung durch den Tod Christi - auch nicht die Lehre Jesu - als entscheidend ansehen. 257 An die Stelle des Erlebnisses tritt nun das Sterben und Auferstehen Christi, welches aber wiederum kein Gedanke ist, sondern kultische Realität, die das Geheimnis des Lebens von der Kreuzestheologie her aufschließt und repräsentiert: "Überall, wo echter Kirchenkult geschieht, ist Opfer. Das Opfer ist das Urgeheimnis und die letzte Lebenskraft, von der die Welt überhaupt lebt. Nicht von der Kraft, nicht von der Entfaltung lebt die Welt." 258 Damit ist dem Vitalismus die Christologie entgegengestellt und der Weg zur liturgischen Theologie eingeschlagen, in welcher der Zusammenhang von Leben und Opfer zentral ist (s.o. Abschnitt 4.5.2.). Am vorerst letzten Abend, in den turbulenten Wochen im Februar 1933, ist diese Linie noch deutlicher erkennbar, weil hier auch der Begriff des Mysteriums verwendet wird. Stählin spricht davon, "daß es einen Mysterienweg gibt, den Weg der Reinigung, Erleuchtung und Einung, der im Grunde allem gottesdienstlichen Geschehen zu gründe [sie] liegt und daß dieser Weg sein letztes Geheimnis im Mysterium von Golgata hat, auf dem der Mensch 253 Vgl. 3RGG Bd. IV, Sp. 1170 f. 254 [Rez. zu:] Johannes Müller, Gott und Mensch, EvJ 1938/39, S. 158. 255 1. 2. 1932, S. 2. 256 "Wir haben vor 20 Jahren aufgeatmet, als das Wort Erlebnis wie ein befreiendes Wort in unseren Lebensumkreis hereinschlug." (Ebd.) 257 1. 2. 1932, S. 1. Stählin fügt hinzu, daß er "selbst vor einer Reihe von Jahren nicht imstande gewesen wäre, das zu sagen, was ich heute sagen darf und kann, das mir erst jetzt endgültig klar geworden ist." (Ebd.) 2581. 2. 1932, S. 8.
5. Stählins eigene Praxis als Lehrer der Kirche
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das Sterben dieses natürlichen Lebens erfährt und dadurch zu einem neuen Leben geführt wird." 259 Blicken wir auf Stählins "Religionsunterricht für Erwachsene" insgesamt zurück, so ist zunächst daran zu erinnern, wie bemerkenswert dieses Unternehmen bereits als solches ist. Zwar läßt die Bezeichnung "Religionsunterricht" methodisch etwas mehr erwarten als das, was sich schließlich als hauptsächliche Vortragsarbeit entpuppt. Andererseits sind Elemente eines wirklichen Gesprächs - soweit dies bei der großen Teilnehmerzahl überhaupt möglich ist - durchaus vorhanden. Wichtiger aber ist die grundlegende Intention Stählins, die christliche Lehre (nicht allgemeine religiöse Themen) im Hinblick auf das Erwachsenenalter zu entfalten. Den brennenden Themen (Sexualität, Arbeitslosigkeit, Aufkommen des Nationalsozialismus) weicht Stählin dabei keinesfalls aus, sondern gibt ihnen im Gegenteil weiten Raum. Auch im Hinblick auf theologische Fragen nimmt er keine besondere Rücksicht auf die Interessen von Kirche und Christentum, sondern ist rückhaltlos ehrlich auch gegenüber dem Wandel eigener Einstellungen. Diese Ehrlichkeit macht die umfangreichen Unterrichtsprotokolle damit auch zu einer Quelle für die Entwicklungsgeschichte von Stählins Theologie. Schließlich ist in diesem Zusammenhang eindrücklich, wie die Theologie Stählins in Publikationen, Vorlesungen und Abendvorträgen nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich übereinstimmt. Die Schriften Stählins kommen nicht im Gewände besonderer Gelehrsamkeit daher, und den Zuhörern im Religionsunterricht wird in der Sache und in der Form nichts "geschenkt". Die "Einheit der Praktischen Theologie", der wir uns nun in Auswertung des Stählinschen Werkes zuwenden wollen, ist hier ansatzweise greifbar, weil Theologie in Hochschule und Gemeinde als durch Leben, Leib und Liturgie konstituiert vorgestellt wird und Relevanz beanspruchen kann.
S. 1. (Schon hier liegt der gleiche Hauptgedanke zugrunde wie bei Manfred J O S U T T I S , Der Weg in das Leben, 1 9 9 1 . ) An dem gleichen Abend betont Stählin auch noch einmal die tiefe Wirksamkeit von Symbolen, die "in Schichten unseres Seins jenseits unseres bewußten Denkens" eingriffen (S. 3). Eher kurios nimmt sich hingegen die Bemerkung zur Magie der Sprache aus (2. 5. 1932, S. 5): "Daß bei uns jede Stiefelwichse Helios und jede Chokoladetafel Gral heißen darf, ist der Ausdruck dafür, daß wir ein verlorenes Geschlecht sind."
2 5 9 2 0 . 2. 1 9 3 3 ,
6.
Leben, Leib und Liturgie als Konstitutionsbegriffe auf dem Weg zur Einheit der Praktischen Theologie
Die Beschreibung von Stählins Praktischer Theologie mit Hilfe der drei Schlüsselkategorien erfolgte von Beginn dieser Untersuchung an unter der Hypothese, daß die drei Kategorien einen Beitrag zur Aufgabenbestimmung Praktischer Theologie in der Gegenwart leisten können. Dies gilt besonders bezüglich der sich angesichts wissenschaftlicher Differenzierungsprozesse stellenden Frage der Einheit der Disziplin Praktische Theologie. Der Problemhorizont der Gegenwart leitete damit die Sicht des historischen Horizontes 1 , welcher die zwanziger und dreißiger Jahre als die Zeit der Formierung Stählinscher Praktischer Theologie bestimmte. Die sich damals abzeichnende Differenzierung religiöser, christlicher und kirchlicher Praxis und infolgedessen auch die Differenzierung Praktischer Theologie hat sich seitdem weiter verstärkt. Offensichtlich kann die Einheit der Praktischen Theologie nur noch so gefunden werden, daß die Theoriebildung der Differenzierung insofern Rechnung trägt, als sie die Differenzierung kategorisiert und diese Kategorisierung als Einheitskonzept akzeptiert. Die Einheit der Praktischen Theologie kann somit nur darin gefunden werden, daß die Disziplin mit der christlichen Praxis in der individuellen Lebenswelt, in der Kirche und in der Gesellschaft zu tun hat. Dieses herausgestellt und als in der Geschichte des Christentums seit der Aufklärung begründet aufgezeigt zu haben, ist der große Theoriefortschritt in Dietrich Rösslers Grundriß der Praktischen Theologie. 2 Damit ist in den Vereinseitigungen Praktischer Theologie als Aufgehen im "clerical paradigm" 3 wie als Spezialfall allgemeiner Theorie der Religion 4 der Standpunkt christlicher Theologie - unter Ein1 Formuliert in Anlehnung an Hans-Georg Gadamers Begriff der "Horizontverschmelzung" als Signum sachgemäßen historischen Verstehens, welcher die Isolierung wie die unkontrollierte Vermischung von Gegenwarts- und Vergangenheitshorizont zugleich abzuwehren sucht (H.-G. GADAMER, Wahrheit und Methode, 6 1990 [1960], S. 311). 2 D. RÖSSLER, Grundriß der Praktischen Theologie, 2 1994, bes. S. 60-69, die These auf S. 68: "Die Einheit der kirchlichen Praxis besteht darin, daß ihre drei großen und klassischen Arbeitsgebiete den drei Gestalten des Christentums in der Neuzeit entsprechen [...]." Über die Einheit der Praktischen Theologie hinaus vertritt Rössler somit auch die Einheit kirchlicher Praxis. 3 Zu dieser kritisch gemeinten Kategorie in der amerikanischen Diskussion Praktischer Theologie vgl. John E. BURKHART: Geschichte, Theologie und Praxis, 1991, S. 98 ff., William B. KENNEDY, Auf dem Weg zu einem Bildungsparadigma für die Praktische Theologie, 1991, S. 121 f. und Dennis MCCANN, Praktische Theologie - amerikanische Tagesordnungen, 1991, S. 72. 4 Mit Recht sieht Friedrich SCHWEITZER, Praktische Theologie, Kultur der Gegenwart und die Sozialwissenschaften, 1991, S. 171 durch den Bezug Praktischer Theologie auf Psychologie und Soziologie die Frage provoziert, "wie die Praktische Theologie unterschieden werden kann von der sozialwissenschaftlichen Religionsforschung."
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6. Leben, Leib und Liturgie als Konstitutionsbegriffe
schluß des neuzeitlichen Bedingungsfeldes - entgegengestellt. Zugleich ist jedoch die Frage aufgeworfen, ob über die formalen Kategorien gesellschaftlichen, individuellen und kirchlichen Christentums hinaus inhaltliche Füllungen möglich sind, welche die von Rössler beschriebene Einheit konkretisieren. An diesem Punkt, so die These dieser Untersuchung, können die im Kontext damaliger kirchlicher und Praktisch-theologischer Differenzierung zentralen Kategorien Leben, Leib und Liturgie weiterfuhren, indem sie die Spannung und Mehrdeutigkeit von Alltagssinn, biblischer Tradition und Praktisch-theologischer Begriffsbildung jeweils beinhalten und mehrere Aspekte repräsentieren. "Leben" kann als Schlüsselkategorie für gesellschaftliches, "Leib " als Schlüsselkategorie für individuelles und "Liturgie " als Schlüsselkategorie für kirchliches Christentum der Gegenwart in Anschlag gebracht werden. Damit sind die drei Kategorien nicht nur Schlüssel zum Verständnis der Praktischen Theologie Stählins, sondern auch des dieser zugrunde liegenden Bedingungsfeldes und damit zugleich der Gegenwart. Um diese These näher zu begründen, soll nach einem kurzen Rückblick auf Stählins Praktische Theologie (6.1.) die Diskussion um die Einheit der Praktischen Theologie in der Gegenwart skizziert werden (6.2 ), um dann eine mit Hilfe der Schlüsselkategorien konstituierte Praktische Theologie anzudeuten (6.3.). Es schließt sich ein Abschnitt zu einem Zentralproblem Praktisch-theologischer Theoriebildung an, zum Verhältnis der Religionspädagogik zur übrigen Praktischen Theologie (6.4.).
6.1. "Leben, Leib und Liturgie" — der implizite Ansatz von Stählins Praktischer Theologie Wir hatten gesehen, daß Stählin als Praktischer Theologe den Fragen nach Selbstverständnis und Abgrenzung der Disziplin nur begrenztes Interesse entgegenbrachte, dafür aber umso mehr seine Theologie christlicher Gestaltung von Herausforderungen und Deutungen eigener Praxis leiten ließ. Jugendbewegung und Michaelsbruderschaft waren die für Stählin entscheidenden "Verleiblichungen" christlichen Glaubens. Die Bezugnahme auf die Jugendbewegung war dabei für uns von besonderem Interesse, als sie das Ineinander verschiedenster Sinndeutungstraditionen und -versuche widerspiegelte und damit auch das Ineinander der drei Gestaltungsformen neuzeitlichen Christentums. Demgegenüber vermochten Berneuchen und die Michaelsbruderschaft zwar die so gegebenen Impulse aufzunehmen, konzentrierten sich aber so stark auf die Liturgie als ein vermeintliches Gegengewicht zu Individualisierungsprozessen, daß hieraus ein binnenkirchlich-liturgisches Konzept gegen die Differenzierung kirchlicher Praxis wurde, anstatt Liturgie als Gestaltwerdung des Glaubens gerade angesichts dieser Dif-
6.1. Der implizite Ansatz Stählins
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ferenzierung zu reflektieren. 5 Stählin war - dies wird im nachhinein ohne Überheblichkeit, aber eindeutig festgestellt werden müssen - nicht in der Lage, seine Erfahrungen in der Jugendbewegung auf die Bedingungen kirchlicher und nichtkirchlicher christlicher Praxis im Kontext der modernen Gesellschaft zu übertragen. Das kritische Potential gegenüber einer in institutioneller Selbstgewißheit verharrenden Kirche und Gesellschaft, das wir anhand der beiden ersten Oppositionen des Lebensbegriffs erheben konnten (s.o. 4.1.1. und 4.1.2.), verlagerte sich immer mehr auf das Gegenüber von bruderschaftlicher und volkskirchlicher christlicher Praxis. An die Stelle der außerkirchlichen Perspektive in der Jugendbewegung trat damit die binnenkirchliche Perspektive der Bruderschaft. Beide Phasen sind zwar verbunden durch den Willen zur Erneuerung der Kirche, sind aber in der Wahrnehmung der christlichen Praxis außerhalb kirchlicher Zusammenhänge sehr unterschiedlich. Abgesehen von diesen inneren Entwicklungen Stählins bezüglich der drei Schlüsselkategorien hat die Darstellung gezeigt, daß diese Kategorien das Lebenswerk Stählins überhaupt bestimmen, und dies bis ins hohe Alter. Stählin hat die drei Kategorien zwar weder programmatisch vertreten noch gar als solche, welche einen Beitrag zur Konstitution der Praktischen Theologie leisten; trotzdem ist deutlich geworden, wie die Lebenskategorie institutionenkritischer Religiosität Rechnung trägt, wie die Leibkategorie Stählins eigensten Beitrag zum Verständnis christlicher Anthropologie und Ekklesiologie darstellt und wie die Liturgie nicht eigentlich ein spezieller Bereich Praktischer Theologie ist, sondern die Konkretion dessen, was Lehre "vom Zeugnis der Kirche und ihrer Gestaltung in der Welt" 6 - und damit Praktische Theologie überhaupt - ausmacht. Die Kategorie Leben unterlag bei Stählin selbst den größten Veränderungen, vom optimistischen Lebensbegriff der Frühzeit (nahe an der Ontologisierung des Lebens als eines impliziten "Dinges an sich" im Gefolge Nietzsches) hin zur johanneischen Lebenschristologie (als Widerspruch zum optimistisch gesehenen natürlichen Leben und als dessen "Wandlung"). Darüber hinaus ist durch die Lebenskategorie jedoch der Themenkomplex angesprochen, der zur Zeit erneut unter der Überschrift "Praktische Theologie und Kultur der Gegenwart" diskutiert wird. 7 Theologie ist für Stählin nicht ausschließlich von der Bekenntnisüber5 So bemängelt Heinz-Dietrich WENDLAND, Wege und Umwege, 1977, S. 138, daß die Michaelsbruderschaft mehr und mehr aufgrund eines "wirklichkeitsfremden Idealismus" das "Schicksal des Menschen in der säkularen Industriegesellschaft" aus dem Auge verlor. Damit seien Stählin und K.B. Ritter auch nicht in der Lage gewesen, der Jugend der fünfziger und sechziger Jahre nahezukommen und zu begegnen (a.a.O., S. 240). 6 Vorlesung Praktische Theologie I, WS 1933/34 (Nachschrift Heinz Henche), S. 1, s.o. S. 1 dieser Untersuchung. 7 So der Titel des Tübinger Symposions 1990 und der daraus hervorgegangenen Veröffentlichung, näheres dazu im folgenden Abschnitt 6.2.
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6. Leben, Leib und Liturgie als Konstitutionsbegriffe
lieferung der Kirche abhängig, sondern wird induktiv, von christlicher Praxis her, von "Lebenstatsachen" und "Lebenswirklichkeiten" konstituiert. Bereits lange vor seiner Tätigkeit als akademischer Praktischer Theologe hat Stählin zwar nicht die Theorie Praktischer Theologie im Blick, dafür jedoch die (induktive) Hermeneutik christlicher Überlieferung von gegenwärtiger Lebenspraxis her. Schon früh ist Stählin in der Lage, religiöses Leben außerhalb der Kirche wahrzunehmen und dessen Verstehen für die Auslegung biblisch-kirchlicher Tradition fruchtbar zu machen. Dies wurde vor allem in bezug auf den Sündenbegriff gezeigt 8 , der durch Stählin vom Lebensbegriff her reinterpretiert wird, ohne daß einer der beiden den anderen verdrängt. Das in der Jugendbewegung exemplarisch zum Ausdruck gebrachte Lebensgefühl des Zerfalls vermeintlicher menschlicher Sicherheiten qua traditionaler Leitung oder institutioneller Bindung wird von Stählin als Wachsen der Sündenerkenntnis gedeutet. Damit ist eine positive Wertung der Pluralisierung nach 1918 (im Sinne sachgemäßen theologischen Erkenntniszugewinns) vorgenommen, und Stählin fällt an diesem zentralen Punkt nicht in den Chor der Pessimisten ein (wenngleich wir bei ihm an mehreren Stellen Belege des damals geläufigen bürgerlichen Kulturpessimismus finden konnten). Die Kategorie "Leib " führte Stählin ebenfalls über die üblichen theologischen Denkwege hinaus. Es ist das Verdienst der Jugendbewegung, dem Phänomen neuzeitlicher Individualität mit der Betonung der Leiblichkeit eine charakteristische Färbung gegeben zu haben. Die Leiblichkeit markiert die Unverwechselbarkeit, Unvertretbarkeit, Einmaligkeit und Endlichkeit menschlicher Existenz und erweitert damit das Verständnis der im Zuge von Aufklärung und deutschem Idealismus wesentlich als "res cogitans" aufgefaßten Subjektivität. Es ist daran zu erinnern, daß sich von hier aus die Stählinsche theologische Position erschloß (während wir die Lebenskategorie von den jeweils vorauszusetzenden Oppositionen her zu erfassen suchten). Hier waren es - im Rahmen der Theologie Rösslers formuliert - vornehmlich die Verbindungslinien zwischen individuellem und kirchlichem Christentum, welche das Resultat der Durchdringung von christlicher Anthropologie und Ekklesiologie darstellten und durch den paulinischen Begriffsgebrauch (Leib des Menschen und Leib Christi) vorgeprägt sind. Die Kategorie "Liturgie" schließlich bezeichnet zunächst nur das Gebiet der Praktischen Theologie, dem Stählin immer mehr Interesse und Arbeitskraft zugewandt hat, bis für ihn die Frage nach der richtigen Liturgie die Frage nach der theologischen Wahrheit schlechthin wurde. Über diese zunehmende Vereinseitigung hinaus handelt es sich jedoch auch um eine spezifische Kategorie der Wahrnehmung kirchlicher Realität, die Stählin früh den Blick über die konfessionelle Grenze (zu R. Guardini und der katholischen liturgischen Bewegung) öffnete. Der wesentliche Impuls der Jugendbewegung besteht darin, die Frage nach der "Verleiblichung" von Religion und 8
S.o. S. 76-80 dieser Untersuchung.
6.1. Der implizite Ansatz Stählins
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nach den angemessenen Ritualisierungen überindividueller Sinnhorizonte überhaupt zu Bewußtsein gebracht zu haben. Da die Wahrheit des Evangeliums auf menschliche Kommunikation angewiesen ist und nur als kommunizierte Wahrheit zur Auswirkung kommt, ist die Praktisch-theologische Disziplin der Liturgik und die Liturgie ebenso wie Homiletik und Predigt die kirchliche Konkretion der Wahrheitsfrage. Damit ist "Liturgie" weniger ein Teilbereich als ein Aspekt Praktischer Theologie, nämlich die Perspektive überindividueller Praxis von Religion. Die drei Schlüsselkategorien insgesamt sind damit geeignet, wesentliche Aspekte christlicher Praxis und damit des Praktisch-theologischen Arbeitsfeldes zu umgreifen. Die Kategorien "Leben" und "Leib" sind nicht nur inhaltliche Füllungen für die gesellschaftliche und individuelle Realität neuzeitlichen Christentums, sondern haben durch die Verwurzelung in biblischer wie alltäglicher Sprache eine integrative Kraft, welche der Praktischen Theologie als Hermeneutik christlicher Praxis zugute kommen kann. Damit zeigen die Kategorien "Leben" und "Leib" an, daß es in den einzelnen christlichen Praxisbereichen nicht einfach um die "Vermittlung" oder "Korrelation" von "Tradition und Situation" gehen kann, als seien diese Kategorien verfügbar wie zwei gleichberechtigte "Texte"9, die vom Interpreten gleichsam als Objekte aufeinander zu beziehen wären. Es gilt vielmehr, die "Situation" als eine von christlicher (und anderer religiöser) Tradition bereits qualifizierte wahrzunehmen und die Tradition als eine solche zu verstehen, die in gegenwärtigen Sinndeutungshorizonten einen anderen als den ursprünglichen Charakter erhält. So muß etwa die emphatische Lebensbejahung der Jugendbewegung (die gegenwärtig angesichts der ökologischen Krise und der globalen Lebensgefährdung in den Alltagsphänomenen von Diät-, Fasten- und Hygienebestrebungen bzw. -fixierungen wiederkehrt) nicht nur als lebensphilosophisch vermittelte "natürliche Religiosität" denunziert, sondern gleichzeitig als Auswirkung des zutiefst lebensbejahenden alttestamentlich-jüdischen Denkstromes10 gedeutet werden. So ist es umgekehrt das bleibende Verdienst der Jugendbewegung (und in der Gegenwart der feministischen Theologie), einen veränderten Verstehensrahmen für den christlichen "Sinn des Leibes" bereitgestellt zu haben, mit dessen Hilfe die unterschiedliche Wahrnehmung allgemein-antiker und spezifisch christlicher Auffassungen menschlicher Leiblichkeit geschärft wird. Damit begegnen "Tradition" und "Situation" immer bereits in sich gegenseitig durchdringen-
9 An dieser Stelle ist das Denkmodell der Semiotik hilfreich, in welchem verschiedenartigste Informationskonglomerate als Summe von "Zeichen" und damit als "Text" aufgefaßt werden. 10 Man denke nur an so unterschiedliche Traditionen wie Gen 8,22; Hes 37,1-14; Weish. 11,17-26 als Beispiele geschichtstheologischer, prophetischer und weisheitlicher Lebensbejahung.
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6. Leben, Leib und Liturgie als Konstitutionsbegriffe
den Sinndeutungshorizonten. 11 Die isolierte Betrachtung von Tradition und Situation ist als Ausgangspunkt künstlich und unsachgemäß; an ihre Stelle hat die Beschreibung von Sinnhorizonten zu treten, welche von unterschiedlichen Deutungstraditionen geprägt sind. Um solche gleichermaßen didaktisch-hermeneutische Kategorien kann es sich gerade bei Stählins Schlüsselkategorien "Leben" und "Leib" handeln. Die Liturgie als Konkretion von Deutungsprozessen fuhrt vor Augen, daß es sich beim Verstehen christlicher Traditionen nicht um individuelle geisteswissenschaftliche Tätigkeiten handelt, sondern um ekklesiologisch vermittelte Aktualisierungen. Der Gottesdienst 12 ist der Ernstfall der christlichen Hermeneutik. Von daher gilt es, die liturgische Dimension in allen Praktisch-theologischen Arbeitsfeldern angemessen zu berücksichtigen, in der Religionspädagogik ebenso wie in Homiletik und Poimenik, aber auch in Fragen des Gemeindeaufbaus, der Diakonie und nicht zuletzt in bezug auf den Berufsalltag kirchlicher Funktionsträger. 13 Die drei Schlüsselkategorien zum Verständnis von Stählins Praktischer Theologie könnten sich damit als hilfreich erweisen, die christliche Deutung gegenwärtiger Sinnhorizonte und die Deutung christlicher Traditionen unter dem Aspekt gegenwärtiger Sinnhorizonte überhaupt zu umreißen. Denn "Leben, Leib und Liturgie" erfassen als solche bereits die Bezüge auf "christliche Texte" und auf "allgemeine menschliche Erfahrungen und Sprache." 14
11 H.-G. Gadamers Begriff der "Horizontverschmelzung" (s.o. Anm. 1) ist darum weiter sachgemäß, weil neben dem aktiven Moment (das Verschmelzen durch das verstehende Subjekt) auch das medial-passive (das Verschmelzen als Beschreibung des sich ergebenden Verstehensprozesses) erfaßt ist. Es liegt auf der Hand, daß der zweite Aspekt eher dem christlichen Schriftverständnis entspricht, nach welchem die biblische Tradition nur vorläufig als objektiv auszuwertende historische Quelle angesehen werden kann. So ist auch die Lehre von der "Verbalinspiration" nicht nur als Verdinglichung des Wortgeschehens zu kritisieren, sondern auch als Widerstand gegen neuzeitliche Verobjektivierung und Bemächtigung der Heiligen Schrift einzuordnen. 12 Hier ist an die von Stählin mehrfach erwähnte terminologische Schwierigkeit zu erinnern, daß "Liturgie" meistens den Nicht-Predigt-Teil des Gottesdienstes bezeichnen soll. Ich gebrauche in diesem grundsätzlichen Zusammenhang "Gottesdienst" und "Liturgie" als Synonyma für das Ganze feiernder Gegenwärtigsetzung christlicher Überlieferung einschließlich der Predigt. 13 Damit ist das Pendant zum Gebiet der klassischen "Pastoraltheologie" umschrieben. Gerade an diesem Punkt darf die liturgische Dimension angesichts des Abbruchs christlicher Alltagsformen (Tischgebet, Hausandacht, Mitarbeiterandacht, tägliche Bibellese) nicht weiter mißachtet werden. 14 Diese werden in der Praktisch-theologischen Diskussion in den USA als "die beiden Quellen von Theologie" im Rahmen einer "kritisch-korrelativen" Fundamentaltheologie diskutiert, vgl. Don BROWNING, Auf dem Wege zu einer Fundamentalen und Strategischen Praktischen Theologie, 1991, S. 34.
6.2. Die gegenwärtige Frage nach der Einheit
383
Damit ergibt sich fur die akademische Disziplin der Praktischen Theologie die besondere Aufgabe, den "Text" 15 gegenwärtiger Sinndeutung (durch Individuum, Gesellschaft und Kirche) so verstehbar zu machen, daß die "Horizontverschmelzung" als Aufgabe des gesamten theologischen Verstehens gefördert wird. Weit davon entfernt, "Anwendungslehre" für von anderen Disziplinen zu erhebende Einsichten zu sein, erfüllt die Praktische Theologie eine unersetzbare Aufgabe im Ensemble der theologischen Wissenschaften. Was Stählin einmal in dem kurzen Aufsatz Praktische Theologie als Mittelstelle (1935) entwickelt hatte, kann somit durch die aus seinem Werk erhobenen Schlüsselkategorien konkretisiert werden. So läßt sich die von Rössler eher formal beschriebene Einheit der Praktischen Theologie näher bestimmen und unterstreichen; zugleich gewinnt die akademische Disziplin der Praktischen Theologie damit Profil über die Aufgabe der Berufsvorbereitung hinaus. Der Theologie insgesamt ist damit der sachliche Ort zwischen Kanzel, Altar und den "wirklichen und leibhaften Menschen in ihrer irdischen Situation" 16 zugewiesen. Bevor dies näher ausgeführt wird, soll jedoch kurz die aktuelle Diskussion um das Selbstverständnis und die Einheit der Praktischen Theologie skizziert werden.
6.2. Die gegenwärtige Frage nach der Einheit der Praktischen Theologie Aufgabe und Einheit der Praktischen Theologie scheinen gegenwärtig leichter "via negativa" beschreibbar zu sein denn von einem positiven Programm her. Einigkeit besteht vor allem darin, daß die Praktische Theologie nicht nur Methoden und Regeln zur Applikation theologischer Einsichten in Praxisvollzügen bereitstellt. 17 Demgegenüber wird zu Recht die hermeneutische Einsicht geltend gemacht, daß Verstehen, Explikation und Applikation nicht
15 S.o. Anm. 9. 16 So Stählin in seinem Aufsatz: Theologie - von der Kanzel aus gesehen, PB1 1938, s.o. S. 316 f. 17 Bei Friedrich Schleiermachers Formulierung: "Die praktische Theologie will nicht die Aufgaben richtig fassen lehren; sondern indem sie dieses voraussetzt, hat sie es nur zu tun mit der richtigen Verfahrensweise bei der Erledigung aller unter den Begriff der Kirchenleitung zu bringenden Aufgaben." (Kurze Darstellung des theologischen Studiums, 1982 [1830], § 260, S. 100) ist zu berücksichtigen, daß hier die Einheit philosophischer, historischer und praktischer Theologie vorausgesetzt ist und die Spezialisierung der einzelnen Disziplinen noch in weiter Ferne liegt. Bekanntlich lehnte Schleiermacher auch einen eigenständigen Lehrstuhl für Praktische Theologie ab (Brief an Wilhelm von Humboldt vom 22. 5. 1810, abgedruckt bei Gerhard KRAUSE (Hrsg.), Praktische Theologie, 1972, S. 7).
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6. Leben, Leib und Liturgie als Konstitutionsbegriffe
voneinander isolierbar sind.18 Unbestritten ist auch die Erkenntnis, daß die Praktische Theologie ihre Einheit und Aufgabe nicht vom Pfarramt her definieren kann; das seinerzeit integrierende Modell der "Pastoraltheologie" greift schon deswegen nicht mehr, weil die pfarramtlichen Aufgaben sich immer weiter ausdifferenzieren (Funktionspfarrämter in kirchlichen und gesellschaftlichen Institutionen und im Freizeitbereich) und die gemeindliche Arbeit aus der Perspektive des Pfarramtes sehr einseitig erfaßt ist. Die gesamte Diskussion um "Gemeindepädagogik" 19 , "Gemeindeaufbau" und "Gemeindeentwicklung" hat endgültig über die Pfarrerzentrierung der Praktischen Theologie ( - nicht unbedingt der kirchlichen Praxis! - ) hinausgeführt, daß bereits wieder der gute Sinn der alten Pastoraltheologie herausgestellt wird. 20 Nach der Zuwendung der Praktischen Theologie zu den Sozialwissenschaften (den verschiedenen psychologischen und soziologischen Ansätzen) ist aber auch die dialektisch-theologische Integration der Praktischen Theologie als Praxis der Ausrichtung des Wortes Gottes (Verkündigung in Predigt, Unterricht und Seelsorge) unzureichend geworden, da Praktische Theologie gerade das Ineinander von Explikation und Applikation als Beitrag zum Verstehen des Verkündigten zu reflektieren hat und die verkündigte Sache des Evangeliums nicht isoliert von den Prozessen ihrer Kommunikation (der "Adressaten") betrachtet werden kann. 21 Es ist weiterhin zu fragen, wie die Aufgabenbeschreibung der Praktischen Theologie als "Funktionale theologische Ekklesiologie", wie sie Eberhard Hübner vorgenommen hat 22 , gegenwärtig zu konturieren ist. Die 18 "Denn wir meinen im Gegenteil, daß Anwendung ein ebenso integrierender Bestandteil des hermeneutischen Vorgangs ist wie Verstehen und Auslegen", schreibt HansGeorg GADAMER, Wahrheit und Methode, 6 1990 [1960], S. 313 bezüglich der "Wiedergewinnung des hermeneutischen Grundproblems." Auf Gadamers Ansatz beruft sich für die Praktische Theologie explizit Henning SCHRÖER, Art. "Hermeneutik", TRE 15, 1986, S. 150. 19 Zum neuesten Stand in diesem Bereich vgl. den Band: Mitten in der Lebenswelt, hrsg. von Roland Degen, Wolf-Eckart Failing und Karl Foitzik, 1992. 20 "Mit der Verabschiedung des pastoraltheologischen Ansatzes scheint lediglich die Sensibilität für Fragen der Subjektivität verabschiedet worden zu sein. Der Blickwinkel auf das geistliche Amt blieb." So resümiert kritisch Henning LUTHER, Religion, Subjekt, Erziehung, 1984, S. 279. 21 Sehr pointiert urteilt Wilhelm GRAB, Praktische Theologie und Religionspädagogik, JRP 1988, S. 51, Anm. 34, daß Dietrich Rösslers Grundriß der Praktischen Theologie auf den religionswissenschaftlichen Ansatz der Disziplin zu Beginn des Jahrhunderts zurückgreife: "[...] Rössler, der, die dialektische Ära der PTh konsequent hinter sich lassend, im Grunde bei Niebergall wieder anknüpft." 22 E. HÜBNER, Theologie und Empirie der Kirche, 1985, S. 223-295. Vgl. die Definition auf S. 292: "Der Gegenstandsbereich praktischer Theologie ist die sich in ihrer Praxis manifestierende empirische Kirche. Er widerspricht der Verkürzung der praktischen auf eine Pastoraltheologie. [...] Er qualifiziert praktische Theologie als funk-
6.2. Die gegenwärtige Frage nach der Einheit
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K o n z e n t r a t i o n auf die Ekklesiologie könnte die Gefahr beinhalten, zu einer u n n ö t i g e n Selbstbeschränkung der Praktischen T h e o l o g i e zu führen, w e l c h e den Anforderungen angesichts gesellschaftlicher Umbrüche nicht mehr genügt. Praktische T h e o l o g i e hat auch dem öffentlichen und g e s e l l s c h a f t lichen Christentum die Aufmerksamkeit zuzuwenden, gerade w e i l die E k k l e s i o l o g i e im K o n t e x t eines allgemeinen Plausibilitätsschwundes v o n Institut i o n e n zu formulieren ist. 2 3 A n g e s i c h t s dieser Negativbilanz könnte man sich zu d e m resignierten Fazit g e n ö t i g t sehen, den Inbegriff "Praktische T h e o l o g i e " zu vernachlässigen z u g u n s t e n bereichsspezifischer Grundsatzreflexionen ihrer einzelnen U n t e r disziplinen. 2 4 In der Tat haben in den letzten beiden Jahrzehnten v o r allem die R e l i g i o n s p ä d a g o g i k und die Poimenik ihr Selbstverständnis z w i s c h e n T h e o l o g i e und Humanwissenschaften eingehend thematisiert. D i e "empirische W e n d u n g " in der Religionspädagogik 2 5 und die klinische S e e l s o r g e b z w . P a s t o r a l p s y c h o l o g i e in der Poimenik 2 6 nötigten zu solchen Selbstverg e w i s s e r u n g e n . E s ist w o h l kein Zufall, daß sich die Grundsatzreflexionen
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tionale theologische Ekklesiologie." Damit sind die Eingrenzungen auf das Amt des Pfarrers und auf die Verkündigung ebenso abgewehrt wie die "funktionale Theorie kirchlichen Handelns", die sich an den von der Gesellschaft zugeschriebenen kirchlichen Aufgaben orientiert (E. Hübner, a.a.O., S. 224). Die Ekklesiologie ist bereits durch Carl Immanuel Nitzsch (1787-1868) "zum festen Kanon der grundlegenden Themen in der Praktischen Theologie" geworden (so D. RÖSSLER, Grundriß der Praktischen Theologie, 2 1994, S. 39). Auch Stählins Praktische Theologie ist in dieser Tradition als Ekklesiologie verstanden, was die häufig zitierte Definition ("Lehre vom Zeugnis der Kirche und ihrer Gestaltung in der Welt") klar aufzeigt. Dies erwog schon Martin DOERNE, Zum gegenwärtigen Stand der Praktischen Theologie, 1965, S. 72: "In den akademischen Vorlesungen ist 'praktische Theologie' weithin eine bloße Rahmenformel für die zunehmend verselbständigten Hauptthemen der kirchlichen Praxis geworden [...]." Durch die Hinwendung zu den Sozialwissenschaften ab 1970 hat sich die von Doerne verzeichnete Tendenz radikal verschärft. So die vielfach zitierte griffige Formel von Klaus W E G E N A S T , S. ders., Die empirische Wendung in der Religionspädagogik, 1981. Eine für die meisten Studenten und Pfarrer schwer durchschaubare Unterscheidung liegt hier bereits in der Terminologie. So ist die psychoanalytische Orientierung der in Deutschland entstandenen "Pastoralpsychologie" (s. im Literaturverzeichnis die Titel von Dietrich Stollberg und Klaus Winkler) keineswegs identisch mit der in den USA in Anlehnung an die humanistische Psychologie Carl Rogers' entstandenen Beratungsarbeit, die auch der "klinischen Seelsorgeausbildung" zugrundeliegt (vgl. Howard J. CLINEBELL, Modelle beratender Seelsorge, 1979, S. 275, wo der Ansatz charakterisiert wird als "Rogers mit einem Schuß Freud"). Entscheidender als die schulpsychologischen Unterschiede sind in diesem Zusammenhang die verschiedenen anthropologischen Voraussetzungen mit ihren Implikationen für das Verständnis von Sünde und Gnade. Dies zeigt, wie schwierig bereits die Integration der einzelnen psychologischen poimenischen Ansätze ist (die biblisch-kerygmatischen Konzepte einmal ganz außer acht gelassen!).
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6. Leben, Leib und Liturgie als Konstitutionsbegriffe
vorwiegend auf die nicht-parochialen Arbeitsgebiete der Praktischen Theologie erstrecken. 27 Die sozialwissenschaftliche Orientierung und die außerparochiale Verortung der beiden Disziplinen wirkten als einander verstärkende zentrifugale Kräfte, welche die Einheit der Praktischen Theologie in immer weitere Ferne rückten. Gegenwärtig erscheint es fast so, als sei die Einheit der Praktischen Theologie eine neue Unterdisziplin, der sich einige "Integrationsspezialisten" verschrieben hätten. Neben dem bereits kurz charakterisierten Denkmodell der Einheit Praktischer Theologie von Dietrich Rössler sind in bezug auf die letzten Jahre besonders drei Diskussionsansätze hervorzuheben: Der Versuch, die Einheit Praktischer Theologie in der Rechtfertigungslehre zu sehen; der Versuch der Korrelation von Praktischer Theologie und der "Kultur der Gegenwart" sowie der Ansatz einer "Praktisch-theologischen Hermeneutik." An dem kleinen Buch von Wilhelm GRÄB und Dietrich KORSCH, Selbsttätiger Glaube. Die Einheit der Praktischen Theologie in der Rechtfertigungslehre ist (trotz der bewußtseinsphilosophischen Engfuhrung) dreierlei weiterführend: 1. wird die Einheit der Praktischen Theologie theologisch, vom Zentrum des biblischen Evangeliums her begründet; 2. wird als Ausgangspunkt gerade die neuzeitliche Subjektivität gewählt, welche nicht vorschnell als (negativ zu wertender) "Individualismus" zu stehen kommt; 3. wird die für die neuere Praktische Theologie lähmende Entgegensetzung von Anthropologie und Theologie überwunden, indem die Rechtfertigungslehre gerade als theologisch-anthropologische Kritik und Reformulierung neuzeitlicher Subjektivität geltend gemacht wird. Der besonders wichtige dritte Punkt sei mit zwei Zitaten erläutert. Nach Gräb und Korsch gelten die Thesen: "Die Rechtfertigungslehre beschreibt den Aufbau eines praxisfähigen Subjekts." 28 "[...] die Grundlegung der Praxis geschieht als die Einheit von Selbstbestimmung und Gehorsam gegen Gottes Gebot." 29
27 Die Orientierung der Homiletik an außertheologischen Wissenschaften (eine gute Übersicht vermittelt Hans Werner DANNOWSKI, Kompendium der Predigtlehre, 1985) ist demgegenüber kein Moment der Zersplitterung Praktischer Theologie, da der Bezug auf den Gottesdienst der Gemeinde die Verbindung mit Gemeindepfarramt, Seelsorge, Gemeindeleitung und Kasualien impliziert. Auch hier scheint jedoch die Einheit wiederum vorwiegend durch Person und Tätigkeit der Pfarrer(innen) gegeben zu sein. 28 W. GRÄB/D. KORSCH, Selbsttätiger Glaube, 1985, S. 39.
29 A.a.O., S. 52. - Leider ist die Diktion des Büchleins oft kaum für die Verständigung innerhalb der Praktischen Theologie klar genug (geschweige denn für das Gespräch
6.2. Die gegenwärtige Frage nach der Einheit
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D a m i t wird s o w o h l der kurzschlüssige W e g abgewiesen, b l o ß e F o l g e r u n g e n fur die Praxis aus einem "dogmatischen Basistheorem" abzuleiten, als auch der - wahrscheinlich g e g e n w ä r t i g näherliegende - W e g , v o n der Praxis her auf die D o g m a t i k hin zu denken durch eine "Verdoppelung v o n ohnehin s c h o n G e g e b e n e m . " 3 0 Hilfreich ist der Ansatz v o n Gräb/Korsch v o r allem dadurch, daß v o n hier aus die Integration t h e o l o g i s c h e r und s o z i a l w i s s e n schaftlicher Fragestellungen in der Praktischen T h e o l o g i e gefördert wird. E b e n s o ergeben sich w i c h t i g e Verbindungslinien zur Systematischen T h e o l o g i e . 3 1 Fraglich bleibt hingegen, ob das K o n z e p t für das integrative G e spräch innerhalb der Praktischen T h e o l o g i e hilfreich ist, e t w a - u m e s extrem z u formulieren - fur den D i a l o g des historisch orientierten Liturgikers mit d e m R e l i g i o n s p ä d a g o g e n aus der Kritischen Theorie 3 2 oder d e s P a s t o -
unter kirchlichen Praktikern). So wird eingangs definiert, "daß eine in der Rechtfertigungslehre sich selbst begründende Praktische Theologie primär darüber Auskunft zu geben hat, wie unter den gegebenen kirchlich-gesellschaftlichen Verhältnissen der Grund des Glaubens als die Begründung desjenigen Subjekts von Praxis zur Mitteilung zu bringen ist, dem als einem so und nur so begründeten dann auch eine bestimmte Struktur seiner Selbsttätigkeit entspricht." (A.a.O., S. 16.) Ließe sich dasselbe nicht schlichter sagen (z.B. so: die Praktische Theologie beschreibt die Praxis von Subjekten, die ihre Subjektivität in der Rechtfertigung durch Christus immer neu finden und so in unterschiedlichen Bezügen handlungsfähig werden)? Ebenso schwerfällig mutet die Definition an: "Die Praktische Theologie ist der Reflexionsvollzug desjenigen Handelns vom Glauben bestimmter Subjekte, das auf die Rahmenbedingungen eben solcher Subjektivität so gerichtet ist, daß diese Subjektivität von anderen als eigene Selbstbestimmung vollzogen werden kann. Kürzer: Praktische Theologie ist die Theorie reflexiven Handelns christlicher Existenz." (A.a.O., S. 61). Gemeint ist doch wohl: Praktische Theologie beschreibt, wie Menschen im Glauben zur Selbstbestimmung finden und einander dazu verhelfen. 30 A.a.O., S. 37. Gut heißt es gegen die Fiktion, als könne anstelle der Theologie einfach "die Wirklichkeit" den Gegenstandsbereich Praktischer Theologie definieren: "Aber welche Wirklichkeit ist dies? Hier wechseln die Theoriekandidaten, die gleichsam als gegenstandskonstitutive Grundbegriffe aufgeboten werden." (A.a.O., S. 62 f., Hervorhebung von mir.) Mit Recht wird den Ansätzen von Gert Otto, Henning Luther und Bernd Päschke vorgeworfen, daß dort die konstitutiven Begriffe "Subjekt" und "Handeln" zwar in der kritischen Theorie, aber kaum in der Theologie verankert sind (a.a.O., S. 66-74). - Die kritisierte nachträgliche "Verdoppelung" psychologischer oder politischer Einsichten besteht z.B. in der Etikettierung gesprächstherapeutisch-humanistischer Prozesse durch "Annahme/Rechtfertigung" oder in der "Begründung" gesellschaftsverändernder Appelle mit dem Propheten Arnos im Rahmen des "thematisch-problemorientierten" Religionsunterrichts. 31 Wie es sich denn auch um das Gemeinschaftswerk eines Systematischen (Korsch) und eines Praktischen Theologen (Gräb) handelt. 32 So hat auch Hans-Günter HEIMBROCK, Unbußfertiger Sohn oder überlebte Vaterbilder?, ThPr 1989, S. 182 das Konzept von Gräb/Korsch gründlich mißverstanden, indem er argwöhnte, hier sei die Praktische Theologie gefährdet, "zur Filiale einer bestimmten Dogmatik zu werden, in der der Praxisbezug nur noch zu applikativen
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6. Leben, Leib und Liturgie als Konstitutionsbegriffe
r a l p s y c h o l o g e n mit dem dialektisch-theologisch geprägten Homiletiker. D i e eindrückliche t h e o l o g i s c h e Konzentration und B e z i e h u n g auf die neuzeitliche, christlicherseits v o n der Reformation herkommende Subjektivität 3 3 g e h t einher mit einer deutlichen B l ä s s e in b e z u g auf die einzelnen christlichen Praxisfelder. D a ß es um die g e g e n w ä r t i g e Kommunikation des E v a n g e l i u m s durch im Glauben selbsttätige Subjekte geht, ist zwar wesentlich, aber auch sehr allgemein und müßte - e t w a für die Verbindungslinien z w i s c h e n g o t tesdienstlicher und seelsorgerlich-beratender Kommunikation oder für die Subjektwerdung durch Predigt einerseits und Religionsunterricht andererseits - erst n o c h durchgespielt und konkretisiert w e r d e n . 3 4 E b e n s o o f f e n gegenüber aktuellen Modernisierungs- und Individualisier u n g s p r o z e s s e n ist der Versuch, die Einheit der Praktischen T h e o l o g i e zu definieren unter der Überschrift Praktische Theologie und Kultur der Gegenwart. In d e m gleichnamigen Band, der ein S y m p o s i u m v o n Praktischen T h e o l o g e n aus Deutschland und den U S A dokumentiert 3 5 , ist in den deutschen B e i t r ä g e n die 1986 v o n D. Rössler v o r g e l e g t e U n t e r s c h e i d u n g d e s
Zwecken verfolgt Wird." Die Entgegensetzung von "Dogmatik" und "Praxisbezug" fällt weit hinter den Reflexionsstand von Gräb/Korsch zurück. 33 Dazu vgl. die griffigen, gesprächseröffnenden Formeln: "Kirche als Ort der Selbstthematisierung der Freiheit" bzw. als Ort "des Aufbaus handlungsfähiger Subjektivität in Individualität und Sozialität" (a.a.O., S. 85 f.). Daß der Ansatz der theologischen Tradition Friedrich Schleiermachers verpflichtet ist (durch die Orientierung am glaubenden Subjekt), liegt auf der Hand und markiert die damit gegebenen Chancen und Grenzen. - Die Trias der Gestaltungen des neuzeitlichen Christentums, wie sie ein Jahr später von Rössler zur Diskussion gestellt wurde, ist bei Gräb/Korsch zwar nicht als solche angesprochen, aber implizit gegeben, wenn es heißt, die "Konstruktionselemente" der Praktischen Theologie seien "auf der einen Seite das der Struktur des Rechtfertigungsglaubens [...] entsprechende kirchliche Handeln und auf der anderen Seite die Eigenaktivität der beteiligten Subjekte im Kontext ihrer Lebenswirklichkeit." (A.a.O., S. 92.) 34 Ähnliches wird man zu dem (eher essayistisch kurzen) Versuch Albrecht Grözingers sagen können, eine "trinitarische Grundlegung der Praktischen Theologie" vorzunehmen (A. GRÖZINGER, Erzählen und Handeln, 1989). Auch hier ist der Blick auf die einzelnen christlichen (kirchlichen) Praxisfelder nahezu ausgeklammert. Ähnlich wie bei Gräb/Korsch geht es Grözinger um die Überwindung der falschen Alternative zwischen einem theologischen und anthropologischen Ausgangspunkt bei der Konstitution Praktischer Theologie, indem die "menschliche Lebensgeschichte [als] zentrales Thema der Trinitätslehre" geltend gemacht wird (a.a.O., S. 33). Bemerkenswert an dem Buch Grözingers ist zum einen, daß mit dem Begriff "Erzählen" eine Brücke zwischen Biblischer Theologie, Trinitätslehre und christlichen Praxisvollzügen geschlagen wird und zum anderen, daß durch die Trinität der Zukunftsaspekt und die Eschatologie ins Spiel kommen: "Die Praktische Theologie hat nicht nur das, was ist, zu reflektieren, sondern auch das, was in der Perspektive der trinitarischen Gottesgeschichte noch nicht ist, aber sein soll." (A.a.O., S. 125, Hervorhebungen dort.) 35 Das Symposion fand im Juni 1990 in Blaubeuren/Tübingen statt.
6.2. Die gegenwärtige Frage nach der Einheit
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kirchlichen, individuellen und gesellschaftlichen Christentums vorausgesetzt und weitergeführt36, während in den Beiträgen aus den USA vor allem die Überwindung des "clerical paradigm" sowie die Frage nach der Möglichkeit herkömmlicher Theologie überhaupt angesichts der befreiungstheologischen Anfragen dominieren. Daneben rekurrieren auch die Praktischen Theologen aus den USA auf die Praktische Theologie Schleiermachers und die Hermeneutik Gadamers, so daß (wie es bei einem Symposium kaum anders sein kann) ein Pluralismus der Einheitsbestrebungen die Folge ist. Der weitgehendste Versuch einer einheitlichen Definition der Aufgabe Praktischer Theologie, wie ihn Don Browning vorgeschlagen hat37, könnte zu einer neuen Diastase innerhalb der Praktischen Theologie führen. Wenn Browning eine "Strategische Praktische Theologie" und eine "Fundamentale Praktische Theologie" unterscheidet und definiert, so wird die erstere als sehr anwendungsorientiert kritisiert werden können (ihre Grundfragen betreffen nach Browning das Was und Wie kirchlichen Handelns in der jeweiligen Situation und dessen Begründung38); die "Fundamentale Praktische Theologie" hingegen ist eher eine Fundamentaltheologie mit dem Ziel kirchlicher Erneuerung, welche die "Strategische Praktische Theologie" ins Grundsätzliche weitet: "[...] will ich ferner die Fundamentale Praktische Theologie definieren als kritische Reflexion über den Dialog der Kirche mit den christlichen Quellen und anderen Gemeinschaften mit dem Ziel, ihr Handeln zu sozialer und individueller Erneuerung zu leiten."39 Damit kommt jedoch der Umgang mit den Einsichten der anderen theologischen Disziplinen in den Reflexionsbereich der Praktischen Theologie; diese ist "fundamental" und "strategisch" zugleich zu konstituieren, und gerade in der Spannung der beiden Vorgehensweisen kann das Charakteristische dieser Disziplin gesehen werden, welche als "Grenzgänger" zwischen den theologischen Disziplinen (bzw. als "Mittelstelle" nach Stählin) angesiedelt ist. Kritisieren bei Brownings Konzept läßt sich die Beschränkung auf den Dialog der Kirche mit ihren Quellen und mit anderen Gemeinschaften sowie auf ihr Handeln. Die individuelle und gesellschaftliche Gestalt neuzeitlichen 36 Vgl. dazu Rösslers kurze Zusammenfassung seines Ansatzes während des Symposions: Die Einheit der Praktischen Theologie, 1991. 37 Don BROWNING, Auf dem Wege zu einer Fundamentalen und Strategischen Praktischen Theologie, 1991. 38 A.a.O., S. 30: "Die Strategische Praktische Theologie hat vier Grundfragen. Erstens: Wie verstehen wir diese konkrete Situation, in der wir handeln müssen? [...] Zweitens: Was sollte in dieser konkreten Situation unsere Praxis sein? Drittens: Welche Methoden, Strategien und Darstellungsweisen sollten wir in dieser Situation gebrauchen? Und viertens: Wie verteidigen wir kritisch die Normen unserer Praxis in dieser konkreten Situation?" 39 A.a.O., S. 22, im Original ab "kritische Reflexion" kursiv.
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6. Leben, Leib und Liturgie als Konstitutionsbegriffe
Christentums sind zumindest nicht explizit angesprochen. Überwunden ist jedoch die Beschränkung auf das Arbeitsfeld Kirchengemeinde (oder gar auf das Amt des Pfarrers). Die Fundamentale Praktische Theologie Brownings reflektiert den Umgang mit kirchlichen Quellen und kirchlicher Praxis unter Einschluß von Exegese, Dogmatik und Kirchengeschichte. 40 Damit ist die Praktische Theologie eindeutig als theologische Wissenschaft definiert, welche ihr Spezifikum im Dialog mit sehr unterschiedlichen "Texten" hat (die einander allerdings durchdringen und nicht, das sei wiederholt, als "Tradition" und "Situation" isoliert werden dürfen). Da sich auch Browning auf H.-G. Gadamer beruft und die enge Beziehung von Verstehen, Interpretation und Anwendung betont 41 , wird man ihn auf die Gefahr hinweisen müssen, daß seine Fundamentale Praktische Theologie und Strategische Praktische Theologie auseinanderfallen, indem die eine zu umfassend, die andere zu anwendungsorientiert gedacht ist. Sein Ansatz wird aber doch so verstanden werden müssen, daß Praktische Theologie von den kirchlichen Herausforderungen her ("strategisch") und zugleich von den Erkenntnissen der anderen theologischen Disziplinen her ("fundamental") konzipiert wird. Dabei ist Brownings "fundamentale" Perspektive unbedingt festzuhalten. Nehmen wir Brownings Impulse einschließlich des Rekurses auf Gadamer auf und erweitern den kirchlichen Dialog auch auf die anderen neuzeitlichen 40 Die Fundamentale Praktische Theologie soll "die umfassendste Definition von Theologie darstellen, indem sie Deskriptive, Historische, Systematische und Strategische Praktische Theologie zu untergeordneten Momenten eines übergreifenden Rahmens werden läßt." (A.a.O., S. 27.) Es ist zu fragen, ob sich die Praktische Theologie mit einer solchen Rolle als allgemeine Fundamentaltheologie nicht übernimmt, wenn man nur an die hochkomplexen Fragen der Unterdisziplinen denkt. Die vorher zitierte Definition Brownings ist realistischer, da sie sich auf die Reflexion über den Dialog der Kirche mit den verschiedenen "Texten" beschränkt. - Ein Spezifikum und eine besondere Stärke der amerikanischen Theologie ist offensichtlich der Einsatz mit der "deskriptiven" Theologie, die "die aus der theoriegeladenen Praxis entstehenden Fragen an die zentralen Texte und Momente des Glaubens stellt." (A.a.O., S. 28; hier ist wiederum an Stählins Formel von der Praktischen Theologie als "Mittelstelle" zu erinnern.) Deskriptiv entfaltet auch Dennis Mc C A N N die amerikanische Situation von vier Fallbeispielen her (Praktische Theologie - amerikanische Tagesordnungen, 1991, S. 57-70); ebenso setzt William Bean K E N N E D Y mit zwei sehr unterschiedlichen Bildungssituationen und der These ein: "Demnach ist jeder Christ bis zu einem bestimmten Grade ein Theologe". (Auf dem Wege zu einem Bildungsparadigma für die Praktische Theologie, 1991, S. 120.) Nachdenkenswert ist auch Kennedys provokante These, die Reform der theologischen Ausbildung müsse "bei einer Analyse der Situation der theologischen Spezialisten einsetzen", konkret bei der Frage nach "unserem Status als Lehrstuhlinhaber" (a.a.O., S. 129). Die Deskriptivität ist auch die Stärke von J.W. Fowlers Theorie der "stages of faith", wobei die Probleme durch die der Deskription inhärenten normativen Implikationen entstehen. 41 A.a.O., S. 23 f.
6.2. Die gegenwärtige Frage nach der Einheit
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Gestaltwerdungen kirchlicher Praxis (individuelle und gesellschaftliche), so können wir vorläufig einfach definieren: Praktische Theologie ist Hermeneutik christlicher Praxis (in ihren drei neuzeitlichen Gestaltungsformen) und reflektiert als solche christliche Praxis im Hinblick auf neues theologisches Verstehen und im Hinblick auf verändertes kirchliches Handeln. Ausgangspunkt Praktischer Theologie ist damit christliche (nicht nur kirchliche, aber auch nicht allgemein-religiöse) Praxis, aber sie ist nicht die Praxis selbst, sondern Hermeneutik der Praxis im Kontext theologischer Disziplinen. Zielpunkt ist jedoch ein verändertes kirchliches Handeln, weil die am Praktisch-theologischen Diskurs Teilnehmenden im kirchlichen Christentum verwurzelt sind. Die Verbindung Hermeneutik christlicher Praxis ist dabei als genitivus obiectivus (theologische Hermeneutik für christliche Praxis) und als genitivus subiectivus (theologische Hermeneutik aufgrund von christlicher Praxis) zugleich aufzufassen. Einfacher ausgedrückt: Die Alternative des induktiven oder deduktiven Verhältnisses von Theorie und Praxis wird überwunden durch ein Praktisch-theologisches Verstehen, welches nicht nur Praxis verändert, sondern auch historische und systematisch-theologische Problemstellungen. Hermeneutik bedenkt das wechselseitige Verhältnis von Applikation und Explikation christlicher Tradition. Gelungene Beispiele derartig mehrschichtiger hermeneutischer Prozesse sind Stählins Fassung der Sündenlehre aufgrund des Schuldgefühls der modernen Jugend und die gegenseitige Erschließung von Rechtfertigungslehre und Subjektivität durch Gräb/Korsch. Gerade bei Stählins Beispiel liegen die Konsequenzen für die Praxis (für Predigt, Gespräch mit Jugendlichen, Freizeiten) dabei auf der Hand. Kommen wir noch einmal auf das Symposium "Praktische Theologie und Kultur der Gegenwart" zurück, so sind noch zwei entscheidende Gedankengänge aus den Beiträgen von K.E. N L P K O W und F. S C H W E I T Z E R zu notieren. Erfreulich nüchtern gegenüber der zunehmenden Konstatierung von (theologischen) "Paradigmenwechseln" - statt neuer Paradigmen gebe es nur immer neue pluralistische Ensembles zu sehen42 - dämpft Nipkow auch die Erwartungen gegenüber der Diskussion betreffs der Einheit der Praktischen Theologie. Allenfalls könne die "Mäßigung der Differenzierung" durch eine "Struktur von Relationen oder Beziehungen" das Ergebnis sein.43 Vor allem jedoch bringt Nipkow in diesem Zusammenhang noch die theologische Positionalität ins Spiel, welche während des Symposiums selbst als eventuelle "Inkommensurabilität" herkömmlicher (westlicher) Praktischer Theologie und des befreiungstheologischen PraxisbegrifFes zur Sprache gekommen war. Unter Berufung auf den Philosophen Wolfgang Welsch plädiert Nipkow
42 Karl Ernst. NIPKOW, Praktische Theologie und gegenwärtige Kultur, 1991, S. 134. 43 A.a.O., S. 136.
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6. Leben, Leib und Liturgie als Konstitutionsbegriffe
statt der Rede von der Inkommensurabilität dafür, diese zu spezifizieren.44 Daraus ergibt sich die Konsequenz, daß mindestens im westlichen Raum Glaubensfragen für die Theologie zentral bleiben müssen und nicht zugunsten von politisch-sozialen, allgemein-ethischen Lebensfragen suspendiert werden dürfen.45 Damit macht Nipkow eine wirkliche Kontextualität geltend, die zwar nicht an geographisch-kulturellen Grenzen haltmacht46, diese aber ebenso wenig durch die Übernahme von in anderen Kontexten entstandenen befreiungstheologischen Konzepten überspringen zu können vermeint. F. Schweitzer formuliert eine selbstkritische Bestandsaufnahme für die interdisziplinären Beziehungen der Praktischen Theologie (bzw. ihrer Einzeldisziplinen), welcher Rechnung zu tragen einige Arbeit erfordern dürfte. Scharfsinnig kritisiert Schweitzer die Einseitigkeit, Einlinigkeit, Anwendungsorientierung und Beschränkung auf eine Disziplin beim Praktischtheologischen Rückgriff auf die Sozialwissenschaften.47 Einseitig sei die Beziehung, weil die Praktische Theologie der allein empfangende Teil bei der Beziehung sei; einlinig, weil meistens nur ein sozialwissenschaftlicher Ansatz gewählt werde (z.B. die Psychoanalyse); anwendungsorientiert würden sozialwissenschaftliche Ansätze zuungunsten einer Praktisch-theologischen Analytik verkürzt und beschränkten sich meistens auf eine Subdisziplin (etwa die Seelsorge). Schweitzers Analyse gewinnt durch die These besondere Durchschlagskraft, die genannten Horizontbeschränkungen gefährdeten nicht nur die Einheit der Praktischen Theologie, sondern gerade auch die Beziehung zur Kultur der Gegenwart.48 Damit hat Schweitzer der Praktischen Theologie die - freilich schwierige - Aufgabe gestellt, die theologisch-sozialwissenschaftlichen "Tandem-Bildungen" (z.B. Seelsorge und Psychoanalyse oder Religionspädagogik und Kognitionspsychologie) zu überwinden durch den Rückgriff auf unterschiedliche psychologische und soziologische Ansätze einerseits und durch die Weitung subdisziplinärer Fragestellungen auf die drei modernen Gestaltungsformen des neuzeitlichen Christentums, welche Rössler beschrieben hat, andererseits.
44 A.a.O., S. 149. Bereits vorher hatte Nipkow statt einer unfruchtbaren Fixierung auf die vergebliche Suche nach der "Einheit" bzw. nach einem "neuen Paradigma" für ein Denken in "Übergängen" votiert und dabei Welschs Begriff der "transversalen Vernunft" angeführt (a.a.O., S. 137). 45 A.a.O., S. 151. An dieser Stelle ist das Engagement des Religionspädagogen spürbar, mit welchem Nipkow seit längerem - eher unzeitgemäß - auch für die kognitive Komponente in der Religionspädagogik eintritt (vgl. ders., Erwachsenwerden ohne Gott?, 1990). 46 A.a.O., S. 149. 47 Friedrich SCHWEITZER, Praktische Theologie, Kultur der Gegenwart und die Sozialwissenschaften, 1991, S. 178 f. 48 A.a.O., S. 177.
6.2. Die gegenwärtige Frage nach der Einheit
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Nehmen wir die eher ernüchternden und selbstkritischen 49 Impulse von Nipkow und Schweitzer auf, so kann formuliert werden, daß Praktische Theologie als Hermeneutik christlicher Praxis am modernen Pluralismus Anteil hat und diese Tatsache nicht durch die Postulierung einer wie auch immer gearteten "Einheits-" oder "Paradigmen"-Fiktion überspringen kann und nicht durch ein (naheliegendes) Spezialistentum überspringen darf. Nicht allein die Rezeption Gadamers durch Praktische Theologen in den USA deutet darauf hin, daß sich gegenwärtig ein gewisser Konsens dahingehend abzeichnet, die Praktisch-theologische Aufgabe als eine hermeneutische zu umschreiben. Wie wir bereits sahen, kann Gadamers umfassende Beschreibung des Verstehensprozesses als Ineinander von Interpretation, Explikation und Applikation die falsche Alternative der Praktischen Theologie als Grundlagen- oder Praxisdisziplin überwinden. So ist die umfangreiche Festschrift zu Henning Schröers 60. Geburtstag 1991 unter dem (anspruchsvollen) Titel: Praktisch-theologische Hermeneutik erschienen. Ähnlich wie es im folgenden Abschnitt von der Praktischen Theologie Stählins her zu explizieren sein wird, rekurriert auch das Vorwort auf den Lebensbegriff, wenn Praktisch-theologische Hermeneutik charakterisiert wird "als Hermeneutik von Lebenspraxis und deren Sinntraditionen". 50 Die große Weite dieser Definition entspricht zwar dem (deutlich den Charakter einer Festschrift tragenden) Charakter dieses Sammelwerks, markiert aber damit zugleich die Gefahr des Begriffs "Hermeneutik", eine Integrationsleistung vorzutäuschen, die real jedoch nicht erbracht wird. Die Überschreitung der Grenzen zwischen den Subdisziplinen der Praktischen Theologie bzw. zwischen der Praktischen, Historischen und Systematischen Theologie erfolgt nur vereinzelt 51 , anstelle einer "fundamentale" und "strategische" Praktische
49 Dabei ist F. Schweitzer zur Kritik an der Einlinigkeit der Rezeption sozialwissenschaftlicher Ansätze insofern berechtigt, als er den Anspruch der Mehrperspektivität in seinem Buch: Lebensgeschichte und Religion, 1987 bereits vor einigen Jahren überzeugend eingelöst hat. 50 Praktisch-theologische Hermeneutik, 1991, S. XIV (gemeinsames Vorwort der Herausgeber). 51 Hervorzuheben ist wiederum der Beitrag von F. SCHWEITZER, Theologische Lehre und das Subjekt des Lernens, welcher das Denkmodell der Didaktik ins Spiel bringt, um die Alternative von Subjekts- versus Lehrorientierung abzuweisen. In der didaktischen Praxis komme es auf "eine bildungsorientierte Erschließung" von Inhalten an (a.a.O., S. 91), so daß "alle Handlungsfelder der Praktischen Theologie unter dem Aspekt gelingenden Lernens zu betrachten" seien (a.a.O., S. 96). Im Studium habe darum eine "Einführung in 'Praktisch-theologisches Sehen und Denken'" zu erfolgen (ebd.). - Erwähnenswert ist auch Manfred JOSUTTIS1 Formulierung, bei der humanwissenschaftlichen Analyse des Abendmahls gehe es um eine Ausweitung der dogmatischen Perspektive "nicht im Sinne der Entlarvung und der Reduktion, sondern im Interesse eines antidoketisch orientierten Verstehens [...]" (Zur Hermeneutik des Abendmahls, 1991, S. 420).
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6. Leben, Leib und Liturgie als Konstitutionsbegriffe
Theologie umgreifenden Hermeneutik handelt es sich eher um die Zusammenstellung theoretischer Beiträge einerseits und praktischer andererseits. 32 Der Ansatz einer allgemeinen "Hermeneutik von Lebenspraxis" hat zwar eine ansprechende Buntheit dieses "Geburtstagsstraußes" zur Folge, trägt aber auch den Charakter von "Schnittblumen", indem die Verbindung mit Biblischer 53 und Systematischer Theologie kaum eine Rolle zu spielen scheint. Zweierlei kann jedoch daran gelernt werden: Erstens kann es nicht das primäre Interesse Praktischer Theologie sein, eine allgemeine Hermeneutik von Lebenspraxis und deren Sinntraditionen zu erarbeiten; sie hat sich mindestens zunächst auf das Verstehen christlicher Praxis in ihren unterschiedlichen Zusammenhängen zu konzentrieren; zweitens ist der Lebensbegriff allein - als auf die unterschiedlichsten Sinnhorizonte der gegenwärtigen Moderne hinweisend - zu unspezifisch, um die Praktische Theologie als Hermeneutik christlicher Praxis zu konstituieren. Es wird von daher wichtig sein, die allgemein-gesellschaftliche Perspektive von Lebenspraxis im Sinne Rösslers durch die individuelle und die kirchliche zu erweitern und bei allen dreien die theologische Verwurzelung und das Christliche von Lebenspraxis ernst zu nehmen. Dazu können die drei Schlüsselkategorien Stählins einen Beitrag leisten, indem sie Rösslers eher formale Begrifflichkeit theologisch konturieren und damit einer Hermeneutik im zweifachen Sinn (theologische Hermeneutik für christliche Praxis und aufgrund von christlicher Praxis) den Weg bereiten. Dies ist zum Abschluß der ganzen Untersuchung nunmehr zu umreißen.
6.3. Leben, Leib und Liturgie als Kategorien für eine Hermeneutik christlicher Praxis Nachdem der Problemhorizont gegenwärtiger Praktischer Theologie skizziert wurde, soll der theologische Verstehenszugewinn durch die drei Stählinschen Schlüsselkategorien beschrieben werden, indem diese zunächst allgemein auf die skizzierte Diskussion bezogen werden (6.3.1.), um danach die Fragestellungen und Aufgaben anhand jeder der drei Kategorien so zu formulieren, daß sie die Subdisziplinen Praktischer Theologie übergreifen bzw. mögliche Grenzüberschreitungen aufzeigen.
52 Sehr kritisch hat Klaus BERGER in seiner Rezension vermerkt: "Die theoretischen Äußerungen haben einen Hauch von Unverständlichkeit und Praxisferne, die praktisch orientierten Beiträge weisen auf große Theoriedefizite." (Rez., 1992, S. 294.) 53 Noch einmal Bergers Kritik: "Mir kommt dabei ein Minimum an Loyalität gegenüber der biblischen Botschaft vollständig zu kurz." (K. BERGER, a.a.O., S. 293.)
6.3. Leben, Leib und Liturgie als Kategorien
6.3.1.
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Die drei Schlüsselkategorien und die gegenwärtige Praktischtheologische Aufgabe
Aufgrund der Darstellung im Abschnitt 6.2. wird man urteilen müssen, daß die Aufgabe der Praktischen Theologie - wenn diese aus ihrer Geschichte lernen will - am Ende dieses Jahrhunderts darin bestehen muß, die Realität moderner Sinnhorizonte und die Kultur der Gegenwart zu berücksichtigen, gleichzeitig aber theologische Wissenschaft mit der Verwurzelung in der biblischen Botschaft, welche in der reformatorischen Theologie besonders klar aufscheint, zu bleiben. Gewiß kann die Einheit der Praktischen Theologie nicht mehr einfach in der Verkündigung des Wortes Gottes gefunden werden. Allerdings hilft auch die mundgerechte Abqualifizierung mit dem Ausdruck "clerical paradigm" nicht weiter. Die Theologie in den USA hat die in den Ereignissen vom August 1914 gipfelnden Konsequenzen eines kulturprotestantischen Ansatzes nicht hinter sich.54 Eine Anknüpfung an den religionswissenschaftlichen Ansatz der Praktischen Theologie vor 191855 provoziert die Frage, wie angesichts des inzwischen qualitativ veränderten Pluralismus (mit dem Plausibilitätsschwund transpersonaler Deutungssysteme überhaupt) Praktische Theologie dann noch mehr sein kann als die "Verdoppelung" 56 postmoderner kultureller Phänomene. Die Ersetzung des "clerical paradigm" durch ein wie auch immer geartetes "cultural paradigm" (etwa als "allgemeine Hermeneutik von Lebenspraxis und deren Sinntraditionen") würde gerade die eigenste Aufgabe Praktischer Theologie im Zusammenspiel gegenwärtiger Kulturdeutungen verfehlen. Der Beitrag zur Kultur der Gegenwart dürfte gerade darin bestehen, daß Praktische Theologie der Gegenwart den theologischen und damit den kirchlichen Begründungszusammenhang ihrer Theoriebildung nicht unterschlägt. Es wäre ein fatales Verwechseln von Deskriptivität und Normativität, aus Rösslers Beschreibung der drei Formen des neuzeitlichen Christentums deren sachliche Gleichordnung bzw. sogar Vertauschbarkeit der Prioritäten abzuleiten (also etwa die gesellschaftliche Form neuzeitlichen Christentums zum leitenden Praktisch-theologischen Modell zu erklären). Das kirchliche Christentum bleibt der notwendige Störfaktor in der Beliebigkeit der Kultur der Moderne. Man wird die These noch (in Analogie zu F. Schweitzers Analyse des Verhältnisses von Praktischer Theologie, Sozialwissenschaften und moder54 Von daher kann James W. Fowler, Praktische Theologie und Sozialwissenschaften in den USA, 1991, S. 163 ganz unbefangen vom Zugewinn der Kulturanalyse für die Arbeit der Praktischen Theologie ausgehen. Dies entspricht unter anderer Terminologie dem Einsatz von Friedrich NIEBERGALLS Praktischer Theologie (Bd. 1, 1918, S. 31-216) mit dem Teil "Religiöse Seelen- und Volkskunde". 55 Was wie erwähnt (s.o. Anm. 21) Wilhelm Gräb in bezug auf Rösslers Grundriß m.E. überspitzt - konstatiert hat. 56 Diese von W. GRÄB/D. KORSCH, Selbsttätiger Glaube, 1985, S. 37 ins Spiel gebrachte Begrifflichkeit ist ein gutes selbstkritisches Instrument für Predigt und Unterricht.
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6. Leben, Leib und Liturgie als Konstitutionsbegriffe
ner Kultur 57 ) dahingehend verschärfen müssen, daß eine sich beflissen vom "clerical paradigm" absetzende Praktische Theologie nicht nur den eigenen Ast absägt58, sondern gerade auch ihren Wert als Dialogpartner im Kontext moderner Kultur verliert. Es könnte nicht zuletzt ein Mangel an theologischem Selbstbewußtsein und an plausibler Interpretation von Ekklesiologie sein, der die Praktische Theologie als Gesprächspartner so uninteressant macht und zur meistens einlinig-einseitigen Anwendung sozialwissenschaftlicher Rezepturen verführen kann. Demgegenüber ist in der Tradition der dialektischen Theologie festzuhalten, daß Praktische Theologie wesentlich wenn auch nicht ausschließlich - die Verkündigung der Kirche zu reflektieren hat und von daher wesentlich - wenn auch nicht ausschließlich "funktionale theologische Ekklesiologie" ist.59 In Analogie zu einer These Stählins zum Religionsunterricht von 1919 wird man sagen können: Die Beseitigung des ekklesiologischen Profils der Praktischen Theologie wirkt auf den Dialog mit der modernen Kultur viel zerstörender als auf die Kirche. 60 Erst in diesem Zusammenhang erhellt der heuristische Wert der drei in Stählins Praktischer Theologie wirksamen Schlüsselkategorien. Diese sind entstanden aus dem Dialog mit der Jugendbewegung als einem typischen Exponenten damaliger institutionenkritischer, individualisierender Kultur, sind aber zugleich theologisch und ekklesiologisch konturiert. Die Kategorie "Leben" enthält die Spannung von Institutionenkritik einerseits und christologischem Realitätsanspruch andererseits, die Kategorie "Leib " enthält die Spannung von Individuum und Kirche, von Anthropologie und Ekklesiologie, und die Kategorie "Liturgie " enthält die Spannung von Ritualisierungsbedarf angesichts institutionellen Plausibilitätsschwundes einerseits und überlieferter kirchlicher Gestaltungsformen andererseits. Damit dürften die drei Kategorien geeignet sein, die Praktische Theologie als Hermeneutik (vielgestaltiger) christlicher Praxis zwar im Kontext der Kultur der Gegenwart zu verorten, aber nicht an dieser auszurichten. Kontextualität hat die schwierige Gratwanderung zwischen (fundamentalistischer) Absetzung und Anpassung zu absolvieren (während die Ignoranz kaum mehr eine reale Möglichkeit sein dürfte). Um eine "Verdoppelung" in der Gestalt dogmatischer Praxisdefinitionen oder in der Gestalt gesell57 F. SCHWEITZER, Praktische Theologie, Kultur der Gegenwart und die Sozialwissenschaften, 1991, S. 177. 58 In diesem Zusammenhang ist an die erfrischende Perspektive von William B. KENNEDY, Auf dem Weg zu einem Bildungsparadigma für die Praktische Theologie, 1991, S. 129 f. zu erinnern, das Verhältnis der Praktischen Theologie zu dem universitären Praktischen Theologen in die Überlegungen einzubeziehen. 59 Darin liegt das bleibend Wichtige in dem Entwurf von Eberhard HÜBNER, Theologie und Empirie der Kirche, 1985. 60 Formuliert in Anlehnung an Stählins Aufsatz: Religionsunterricht oder Lebenskunde?, 1919, S. 69, 2. Sp.: "Die Beseitigung des Religionsunterrichts wirkt auf die Schule viel zerstörender als auf die Kirche." Vgl. dazu oben S. 327 f.
6.3. Leben, Leib und Liturgie als Kategorien
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schaftlich-politischer Redundanzen so weit wie möglich einzuschränken, ist eine von vornherein doppelte Sichtweise hilfreich, wie sie durch Stählins Schlüsselkategorien angedeutet ist. Die drei Gestaltwerdungen neuzeitlichen Christentums müssen sozialwissenschaftlich und theologisch zugleich beschrieben werden, wie dies z.B. von Gräb/Korsch in bezug auf die christliche Subjektivität ausgeführt wurde. Die Kategorie "Leben", die anhand der für Stählin maßgeblichen Oppositionen expliziert wurde, kann auch heute als eine allgemein plausible Opposition zu Instrumentalisierungs- und Entfremdungserscheinungen bzw. zu unvermittelt, traditional oder autoritär geltend gemachten Ansprüchen transpersonaler Deutungssysteme gefaßt werden61. Kurz: Die Kategorie "Leben" enthält weiterhin eine aufklärerische, individualisierende Potenz. "Das Leben" wird (in der jüngeren Generation zunehmend) nicht mehr in Arbeitszusammenhängen, sondern in der Freizeit gesucht (gleichzeitig gerät man in die Abhängigkeit der immer größere Marktanteile erobernden Freizeitindustrie); "das Leben" widerspricht nicht nur kirchlichen oder anderen religiösen Deutungsversuchen, sondern auch der Bindungskraft traditioneller Lebensformen, wovon die überlieferte Form von Ehe und Familie das alltäglichste Beispiel darstellt. Das Schlagwort von der "Politikverdrossenheit" ist ebenso nicht nur die Folge von (z.T. professionalisierungsbedingten) Unregelmäßigkeiten der politischen Klasse, sondern auch Ausdruck der Tatsache, daß "das Leben" außerhalb übergreifender gesellschaftlicher Lebenszusammenhänge gesucht und vermutet wird. Kurz: Die Kategorie "Leben" markiert die Teilhabe des modernen Menschen an Kultur und Gesellschaft in der Form der Opposition zu Kultur und Gesellschaft. Von dieser - um es polemisch zu wenden - Anpassung in der Form einer kritischen Attitüde war bereits die Jugendbewegung geprägt; dieses Phänomen dürfte auch ein wichtiger Verstehenshorizont sein, um die Aufgabe Praktischer Theologie im Bereich des gesellschaftlichen Christentums präziser zu bestimmen. Die Entwicklung des Stählinschen Lebensbegriffs vom lebensphilosophischen Kontext zur johanneischen Christologie kann an diesem Punkt weiterführen. Das bedeutet im Zusammenhang der skizzierten Praktisch-theologischen Diskussion der Gegenwart, daß die Kategorie "Leben" als theologische eine ideologiekritische Funktion gewinnen kann, welche die Anpassung an gesellschaftliche Plausibilitäten (unter dem Signum vermeintlicher Kritik) nicht ignoriert, ablehnt oder einfach übernimmt, sondern gerade im Dialog innerhalb der modernen Kultur die eschatologische Dimension der zweiten Schöpfung als andere Kategorie von "Leben" geltend und verständlich macht und damit jenen circulus vitiosus von menschlicher Lebenskritik im Namen "des Lebens" aufzudecken hilft, welcher schon der ontologischen Aporie in 61 Fast wie Stählin formuliert William B. KENNEDY, a.a.O. (Anm. 58), S. 125: "Praktische Theologie jedoch hat es mit dem gelebten Leben zu tun, [...]."
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6. Leben, Leib und Liturgie als Konstitutionsbegriffe
Nietzsches Lebensphilosophie zugrunde lag. Die Praktische Theologie hat im gesellschaftlichen Bereich gegenwärtigen Christentums die Aufgabe, die Transformation62 gesellschaftlich vermittelter Religion im Sinne des Evangeliums von Jesus Christus zu ermöglichen, so daß jenseits kultureller und religiöser Sinndeutungen von "Leben" das in Christus radikal gewandelte Leben als Hoffnungsperspektive verständlich ins Spiel gebracht wird. In diesem Zusammenhang ist Praktische Theologie Hermeneutik für eine christliche Praxis in der Gesellschaft, welche Bedingungen und Möglichkeiten für die Transformation von Lebensdeutungen (im Sinne des in Christus anhebenden neuen Lebens) beschreibt. 63 Die Konsequenzen etwa für den schulischen Religionsunterricht liegen auf der Hand: Sowohl eine Verkündigung innerhalb der Schule als auch eine allgemeine Religionskunde oder eine religiöse Verdoppelung politisch-gesellschaftlicher Einsichten verfehlen die Aufgabe, Schülerinnen und Schülern mit Hilfe der Christologie eine ideolo-
Wenn Heinz SCHMIDT, Leitfaden Religionspädagogik, 1 9 9 1 das "Transformierende Lernen" zur religionspädagogischen Zentralaufgabe erklärt und definiert: "Religiöses Lernen ist transformierende Aneignung dieser Lebenswelt" (a.a.O., S. 39), dann ist der Ansatz ebenfalls einem hermeneutischen Ineinander von Interpretation, Explikation und Applikation verpflichtet. Zu Recht lehnt Schmidt damit eine "Transformation zurück zu Denk- und Verhaltensmodellen früherer Zeiten" ebenso ab wie die Angleichung an "die 'modernen' Strukturen (s.o. Privatisierung, Verinnerlichung, Moralisierung), angereichert mit einigen 'postmodernen' Postulaten (z.B. postmaterialistische Werte, ganzheitlich-ökologisches Weltbild, Spiritualität authentischen Lebens), die die Krise der Moderne eher verdecken als beantworten." (A.a.O., S. 54 f.) Die transformierenden Prozesse zielen vielmehr "auf die Ermittlung der christlich-religiösen Grundstrukturen bei gleichzeitiger Explikation ihrer Relevanz [...]." (S. 55.) Die genannten Präzisierungen machen den Begriff der "Transformation" von Religion geeignet für die Überwindung des "Tradition-Situation"-Modells. 63 Die Notwendigkeit einer wie auch immer gearteten Transformation modern-pluralistischer Religion überhaupt besteht auch unabhängig von biblischen und kirchlichen Wahrheitsansprüchen, weil "der moderne Mensch nicht nur mit der Gelegenheit, sondern vielmehr mit der Notwendigkeit konfrontiert ist, hinsichtlich seiner Glaubensvorstellungen eine Wahl zu treffen" (Peter L. B E R G E R , Der Zwang zur Häresie, 1980, S. 44). Der einzelne muß "bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen." (Ulrich B E C K , Risikogesellschaft, 1 9 8 6 , S. 2 1 7 ) . Daß diese Modernisierungsphänomene nicht negativ im Sinne eines theologischen Terrainverlustes bewertet werden müssen, zeigt Trutz RENDTORFF, der die Postmoderne unter der Überschrift "Vive la difference!" gerade als Kritik an der "Alleinherrschaft des modernen Vernunftbegriffs" geltend macht und so fast in den Rang einer theologischen Propädeutik erhebt (T. RENDTORFF, Theologie in der Moderne, 1 9 9 1 , S. 3 1 3 ) . Bissig formuliert Rendtorff: "Moderne ist ein Hort für Pluralität. Darum wird sie von der Partei der Eindeutigen auch nicht geliebt." (A.a.O., S. 324, ursprünglich erschienen zu Dietrich Rösslers 6 0 . Geburtstag 1 9 8 7 ) . 62
6.3. Leben, Leib und Liturgie als Kategorien
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giekritische theologische Kompetenz zur Deutung von Lebensfragen anzubieten. Die Kategorie "Leib", die die Position Stählinscher Praktischer Theologie in der Spannung von Individualität und Sozialität, von Welt- und Gottesbezug sowie vor allem von Anthropologie und Ekklesiologie aufschloß, ist angesichts der in der Darstellung bereits erwähnten Impulse der feministischen Theologie und angesichts der Methodenvielfalt gegenwärtiger christlicher Praxis und Praktisch-theologischer Theorien (Psychodrama, Bibliodrama, Tanz, Bewegung, Pantomime, Theater) von unmittelbarer Plausibilität, um menschliche Individualität und Selbsterfahrung zu umreißen und damit Impulse für die Praktisch-theologische Aufgabe im Bereich christlicher Praxis des einzelnen zu geben. Gleichzeitig erfüllen die an Stählins Leibbegriff aufgewiesenen Spannungen wiederum eine ideologiekritische Funktion, indem diese die menschliche Leiblichkeit gerade als im ekklesiologischen (und auch im eschatologischen) Kontext verortet beschreiben und eine naive lebensphilosophisch-jugendbewegte Leibverherrlichung vom Gottesbezug her eindeutig hinter sich lassen. Damit ist gleichzeitig einer übereilten Anpassung der Theologie an "ganzheitliche" Sinnangebote, welche die integre Leiblichkeit zum existentiellen Heil stilisieren, ein Riegel vorgeschoben. Zugleich hat aber gerade die Praktische Theologie die von Stählin verordnete Lektion zu lernen, ihre Arbeit im Hinblick auf das Christentum des Einzelnen wirklich vom Leib des Menschen her kritisch zu bedenken. Das gilt für alle Arbeitsfelder, auch für die vornehmlich kirchlich oder gesellschaftlich geprägten (Gottesdienst, Religionsunterricht). Als grundlegende Verstehenstatsache ist zu berücksichtigen, daß das Interesse für den eigenen Leib und die Sorge darum mit der abnehmenden körperlichen Belastung und den damit verbundenen gesundheitlichen Gefahrdungen - gegenläufig zunimmt. Ersetzt man in Rösslers Kategorisierung den Bereich bzw. den Aspekt "Der Einzelne" durch die Kategorie "Der Einzelne in seiner Leiblichkeit", so ist der Zugewinn an Konkretion (Gesundheit, Sexualität, Sport, Mode) und an theologischer Profilierung (christliche Praxis zwischen erster und zweiter Schöpfung) unmittelbar einsichtig und mit Konsequenzen für Predigt, Unterricht, Seelsorge und Gemeindeentwicklung verbunden. Wie die Kategorie "Leben" die Transformation von Religion für die Praktische Theologie zur Aufgabe macht, so stellt die Kategorie "Leib" die Aufgabe der Konkretion christlicher Religion in bezug auf den das moderne Individuum besonders interessierenden Bereich seiner Leiblichkeit. An diesem Punkt kristallisiert sich eine entscheidende Zielvorstellung für die Praktische Theologie heraus, die gefährdet ist, Individualität und Subjektivität in der Tradition des deutschen Idealismus als rein geistige Phänomene zu beschreiben. In diesem Zusammenhang wird etwa das (ansonsten als weiterführend gewertete) Buch: Selbsttätiger Glaube von W. Gräb/D. Korsch kritisiert werden müssen: Das
400
6. Leben, Leib und Liturgie als Konstitutionsbegiiffe
sich hier vom Rechtfertigungsglauben her konstituierende Subjekt erscheint als rein geistiges Wesen. Die Kategorie Liturgie schließlich als Konturierung der kirchlichen Gestaltwerdung neuzeitlichen Christentums gibt für die gegenwärtige Praktische Theologie den Impuls, für eine identische, wiedererkennbare Repräsentation von Religion im Kontext moderner Kultur zu sorgen, indem sie den Aspekt der Liturgie in allen kirchlichen und christlichen Praxisfeldern zur Geltung bringt. Greifen wir an dieser Stelle auf die früher entwickelte Definition christlicher Liturgie zurück, daß diese alle sinnlich wahrnehmbaren Hinwendungen von Gliedern des Leibes Christi zu dem dreieinigen Gott umfaßt, vor allem solche Hinwendungen, die wiedererkennbare Formen haben64, so daß es sich bei "Liturgie" nicht um ein Spezialgebiet65, sondern um einen Aspekt Praktischer Theologie handelt, so ist der sachliche Zugewinn der drei Stählinschen Schlüsselkategorien gegenüber den Rösslerschen Kategorien damit beschrieben. Wie die Schlüsselkategorie "Leben" die Opposition von Stählins Theologie, "Leib " die Position und "Liturgie" die Konkretion seiner Theologie erschließen half, so formuliert die Kategorie "Leben " für die gegenwärtige Praktische Theologie die Aufgabe der Transformation gesellschaftlicher Religion, "Leib " die Aufgabe der individuellen Konkretion christlicher Religion und "Liturgie" die Aufgabe kirchlicher Repräsentation von Religion. Es handelt sich dabei also nicht um einen (unter dem Anspruch, die Einheit der Praktischen Theologie konstituieren zu können, auftretenden) ganz neuen Entwurf, sondern um einige theologische Akzente, die aus der Geschichte dieses Jahrhunderts zu lernen gewillt sind und die Praktische Theologie als Disziplin der Reflexion christlicher Religion ernstnehmen. Die drei Schlüsselkategorien Stählins können dabei helfen, den von Rössler eröffneten modernitätstheoretischen Horizont aufzunehmen und gleichzeitig theologisch zu kritisieren. Damit steht die Praktische Theologie sogar wiederum in einem breiten Denkstrom gegenwärtiger Kultur, in der modernen Kritik an der Moderne.66 Ferner wird Stählins Theologie so vor der Selbstbeschränkung auf das Kultische bewahrt und - wie es ihren frühen Ansatzpunkten entspricht - in 64 S.o. S. 224 dieser Untersuchung. 65 Das läßt in diesem grundsätzlichen Zusammenhang auch die Kategorie "Liturgie" als besser erscheinen denn die Kategorie "Gottesdienst". 66 Daß T. Rendtorff die Postmoderne so verortet, wurde bereits (s.o. Anm. 63) angemerkt. Nachdenkenswert ist auch K.E. Nipkows Überlegung, daß die Übergänge von den konventionell-kritischen Stufen zur nachkritischen Annäherung an Religion in den kognitionspsychologischen Theorien von J.W. Fowler und F. Oser ontogenetisch den phylogenetischen Weg von der Aufklärung zur Aufklärung der Aufklärung wiedergeben und damit die Notwendigkeit einer Kritik der Moderne von transzendentalen Wahrheitsansprüchen her unterstreichen (K.E. NIPKOW, Praktische Theologie und gegenwärtige Kultur, 1991, S. 150).
6.3. Leben, Leib und Liturgie als Kategorien
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den Bereich gesellschaftlich-politischer Realität hereingeholt. Unsere Korrelation der Stählinschen Lebenskategorie mit dem modernen gesellschaftlichen Christentum ist zweifellos die einschneidendste Veränderung (jedenfalls bezüglich der sich immer stärker auf das "clerical paradigm" verengenden Theologie des späteren Stählin). Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die drei Schlüsselkategorien zur Systematischen Theologie insofern offen sind, als sie die trinitarische Grundlegung auch der Praktischen Theologie einfordern. 67 Die Leiblichkeit des Menschen weist auf eine konkret-individuelle (nicht nur global-ökologische) Lehre von der Schöpfung hin; die theologische Spannung im Lebensbegriff auf die Beziehung von Schöpfung, Erlösung und Heiligung; die Liturgie als Gestaltwerdung von Kirche nicht nur auf die Ekklesiologie, sondern (qua Repräsentation der neuen Welt Gottes in religiöser Gestaltung) auch auf die Eschatologie. Somit kann abschließend der Versuch einer Definition Praktischer Theologie zum Ziel gefuhrt werden. 68 Praktische Theologie ist Hermeneutik christlicher Praxis und reflektiert christliche Praxis im Hinblick auf neues theologisches Verstehen und im Hinblick auf verändertes kirchliches Handeln.69 Dabei hat sie zu explizieren, was das verheißene christliche Leben im Kontext moderner Lebensentwürfe ausmacht, wie die christlich verstandene Leiblichkeit moderne Individualität neu qualifiziert und wie christliche Liturgie als Form der Zuwendung zu dem dreieinigen Gott im Kontext moderner Ritualisierungen das Evangelium von Jesus Christus sinnlich wahrnehmbar repräsentiert. In ihren konkreten Hilfen für die kirchliche Praxis hat sie auf die Einsichten der anderen theologischen Disziplinen zurückzugreifen. Als Hermeneutik von christlicher Praxis her und auf christliche und kirchliche Praxis hin verändert sie zugleich den Verstehenshorizont der anderen theologischen Disziplinen. 70 67 Auf diese Notwendigkeit verweist auch das bereits zitierte Buch von Albrecht GRÖZINGER, Erzählen und Handeln, 1989. 68 Vgl. oben S. 391. 69 Dadurch unterscheidet sie sich von christlicher Ethik, welche jegliche christliche Praxis vom Evangelium und den biblischen Weisungstraditionen her normieren soll. Vgl. D. RÖSSLER, Die Einheit der Praktischen Theologie, 1991, S. 46 f.: die "Lebenspraxis aller Christen" sei der Gegenstandsbereich der Ethik, während die Praktische Theologie reflektiere, "was im Namen aller Christen von einigen zu tun ist. Ihr Gegenstand ist das, wofür die Kirche sinnvoll einen Auftrag erteilt." Rössler ist in bezug auf die Unterscheidung von der Ethik zuzustimmen, wenngleich die Übergänge fließend sind. Die christliche Erziehung innerhalb der Familie z.B. geschieht auch aufgrund des kirchlichen Auftrags bei der Taufe; viele Laienmitarbeiter in der Kirchengemeinde haben nur einen sehr undeutlichen kirchlichen Auftrag. 70 Dabei ist an die Bemühungen zu erinnern, von der Texthermeneutik zur Handlungshermeneutik voranzuschreiten, wie sie im Zusammenhang des Projektes "Text und Applikation" verfolgt wurden. Dort hat Günther Buck mit E. Husserl die Texthermeneutik als einen Spezialfall von Handlungshermeneutik bezeichnet (G. BUCK, Von
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6. Leben, Leib und Liturgie als Konstitutionsbegriffe
Um eine Diastase von Metatheorie und Praxisfeldern zu vermeiden, ist nun noch der Zugewinn durch die drei Schlüsselkategorien anhand der Einzeldisziplinen der Praktischen Theologie zu spezifizieren.
6.3.2. Einige Fragestellungen für die Teildisziplinen und ihren Zusammenhang In der folgenden Übersicht sind die sich ergebenden Impulse für die einzelnen Disziplinen anhand der drei Schlüsselkategorien angedeutet, so daß wir uns hier auf die Erläuterung beschränken können. Da die Tabelle waagerecht und senkrecht lesbar ist, ergeben sich daraus sowohl die Fragestellungen und Impulse für die Teildisziplinen als auch für die Bemühungen um die Einheit der Praktischen Theologie. Somit kann die Tabelle andeuten, was die Hypothese der gesamten Untersuchung war: Praktische Theologie der Gegenwart hat es mit der Transformation von Religion im Kontext des Lebens in der Moderne zu tun und hat u.a. Hilfen zur leiblich-individuellen Konkretion und zur liturgisch-gemeindlichen Repräsentation des Evangeliums zu geben. Bei den einzelnen Fragestellungen und Impulsen handelt es sich um Beispiele, welche aus den drei Schlüsselkategorien als heuristischen Leitbegriffen entwickelt wurden. Damit kann selbstverständlich keine Grundlegung der Einzeldisziplinen als solcher intendiert oder gar beansprucht sein. Es handelt sich mehr um einen Entdeckungs- denn um einen Begründungszusammenhang. (Ebenso sind mehrere Praxisfelder, insbesondere übergemeindliche, unberücksichtigt, wie z.B. die überparochiale Kirchenleitung, Publizistik der Texthermeneutik zur Handlungshermeneutik, 1981, S. 528). Das Gemeinsame aller hermeneutischen Bemühungen sieht Buck in der "Struktur der Explikation von implizitem Sinn, der sich in je verschiedenen praktischen Vollzügen darstellt." (A.a.O., S. 531). - Das Spezifikum der Praktischen Theologie wird darin gesehen werden müssen, daß sie die christliche und kirchliche Praxis in die theologische Hermeneutik einbringt. Gesprächsmöglichkeiten mit der Exegese deutet Klaus Bergers neutestamentliche Hermeneutik an, indem dort die Hermeneutik als die wissenschaftstheoretische Zuordnung von Exegese und Applikation beschrieben wird (K. BERGER, Hermeneutik des Neuen Testaments, 1988, S. 108). Daß die Hermeneutik vornehmlich eine vor wissenschaftlichen Selbstüberschätzungen warnende Zugangsweise zur Wirklichkeit darstellt, hat Odo Marquard mit seiner These: "Die Hermeneutik ist Replik auf die menschliche Endlichkeit" unterstrichen (O. MARQUARD, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, 1981, S. 119). Die fast theologische Formulierung aus der Feder des philosophischen Skeptikers kann angesichts des "Triumphfs] der Hermeneutik" in der Praktischen Theologie (James W. FOWLER, Praktische Theologie und Sozialwissenschaften in den USA, 1991, S. 159) vor solchen Selbstüberschätzungen bewahren. Fowler benennt die neue Gefahr, "letztlich am Altar der 'Souveränität der Methode', in diesem Fall der hermeneutischen Methode, zu beten." (A.a.O., S. 161)
6.3. Leben, Leib und Liturgie als Kategorien
Schlüsselkategorie/B ereich/Dimension "Leben"
Homiletik
Liturgik
- Selbstkonstruktion und -Ritualisierungen in der Rechtfertigung in Heiliger Alltagskultur (Feiern, FeDie Gesell- Schrift und Gegenwart ste, Jahreshymnen) schaft in der (diskursiv) Moderne - Gottesdienst angesichts - Universale Lebensver- des Zwangs zur Mobiiitat Transformation heissung angesichts globa- und der Trennung von Arler Lebensbedrohung beits-, Wohn- und Freizeitvon Religion bereich (kerygmatisch) - Verfremdung biblischer Aussagen (methodisch)
- Freiheit und Ängste in biblisch-antiker und in geLeiblichkeit Der Einzelne genwärtiger und die Indi- (diskursiv) vidualisierung in der Moderne - die Befreiung und Vollendung des Leibes im Leib Konkretion von Christi (kerygmatisch) Religion - die Leiblichkeit beim Predigen und Hören (methodisch) "Leib"
403
Religionspädagogik
- die in der Moderne nötige und doch unmögliche Selbstkonstruktion von Lebensglauben ("faith") (diskursiv) - die universale LebensverheiBung angesichts globaler Lebensbedrohung (kerygmatisch)
- die christliche Verheißung des Lebens und moderne Lebensverheifiungen (methodisch) - die Ambivalenz des mo- - die leibliche Realität des dernen Individuums gegen- Einzelnen unter dem Evanüber Ritualisierungen über- gelium (Befreiungstheologie haupt und feministische Theologie) (diskursiv) - Gottesdienst angesichts moderner Hör- und Kom- - die christliche Hoffnung munikationsgewohnheiten der Auferstehung des Leibes (Gehen, Sitzen, Sehen, und ReinkarnationsvorstelSingen, Essen, ...) lungen (kerygmatisch)
- die leibliche Dimension christlicher Bildung: Körperarbeit, Meditation, Gestaltung von Bibeltexten (methodisch) "Liturgie" - die religiöse Gestaltwer- • Gemeinde als Subjekt in - die Identität christlicher dung des Evangeliums und der Liturgie ("Gemeinde Religion angesichts anderer Religionen (diskursiv) Die Gemeinde die Religionen (diskursiv) hält Gottesdienst") und Kirche - Predigt als Hinführung - ökumenische Weite als - Bezug zur Kirchengezum Gebet (kerygmatisch) zeit- und ortsübergreifende meinde Repäsentation Perspektive von Liturgie von Religion - der Kontext von Lese- "Religions-Pädagogik" als und Kirchenjahresordnung Anleitung zum Praktizieren, (methodisch) Verstehen und Verändern von Gestaltwerdungen des Evangeliums (methodisch)
404 Schlüsselkategorie/B ereich/Dimension
6. Leben, Leib und Liturgie als Konstitutionsbegriffe
Poimenik
"Leben"
- psychische Krisen als Formen des "Schuldgefühls Die Gesell- des modernen Menschen" schaft in der (diskursiv) Moderne - "Glaubenshilfe als Lebenshilfe" (kerygmatisch) Transformation von Religion Thematisierung des Selbstkonzeptes von Lebensglauben (methodisch)
Gemeindeentwicklung
- Berücksichtigung verschiedener gesellschaftlicher Lebenssituationen (Familie, Primärgruppen, "Single"-Dasein)
- die Ausdifferenzierung kirchlicher Ämter einschließlich des Pfarramtes
- die Spannung zwischen den Idealen der Professionalisie- Orientierung an konkre- rung und Gemeinde- (bzw. ten Lebenswelten der Ge- Laien-)orientierung meindeglieder (Arbeitsund Wohnsituation, Schule, - die Spannung zwischen der Freizeitgewohnheiten) Teilhabe am modernen Leben und der Orientierung am Leben aus dem Evangelium
- die medizinische Dimen- - Orientierung an individusion (Schuld und Neurose, eller Lebensgeschichte Gesundheit) Der Einzelne Krise und und die Indi- (diskursiv) - Berücksichtigung körpervidualisierung licher Bedürfnisse (Bewein der Moderne - individuell-leibliche Re- gung, handwerkliche Gepräsentation des Evangeli- staltung, Selbstexpression) Konkretion von ums, Zuspruch, Handauflegung (kerygmatisch) Religion "Leib"
Pastoraltheologie
- die Leiblichkeit kirchlicher Funktionsträger (Geld, Macht, Gesundheit, Sexualität) - die Spannung zwischen dem zu bezeugenden und dem individuell nachvollziehbaren Glauben
- seelsorgerliche Beratung als Hilfe zur Selbsthilfe (methodisch) "Liturgie"
- das Verhältnis des Menschen zu christlich-kirchliTraditionen (disDie Gemeinde chen kursiv) und Kirche Repäsentation von Religion
- Reflexion verschiedener - die Spannung zwischen AuMöglichkeiten von liturgi- thentizität und Repräsentascher Identität sich ent- tion von Kirche wickelnder Gemeinden - mögliche Formen geistli- die Repräsentation des - die Herausforderung an chen Lebens im Berufsalltag Evangeliums als Proprium die Gottesdienstgestaltung christlicher Seelsorge (ke- durch die Gemeindeentrygmatisch) wicklung - Seelsorge in der Gemeinde (methodisch)
6.3. Leben, Leib und Liturgie als Kategorien
405
und Diakonie.) Die Übersicht geht hauptsächlich von Gemeinde und Schule als Orten kirchlichen Handelns und christlicher Praxis aus (vgl. den folgenden Schlußabschnitt zum Verhältnis von Praktischer Theologie und Religionspädagogik). Die letztlich doch wieder zu Buche schlagende Sonderstellung und integrative Funktion des Pfarramtes für die Praktische Theologie kann und soll in diesem Zusammenhang nicht geleugnet werden. 71 Dies entspricht realistischerweise auch den Rezipienten Praktisch-theologischer Überlegungen (Studierende sowie im Pfarramt und Lehrerberuf Tätige). Bei den drei klassischen Arbeitsfeldern Predigt, Unterricht und Seelsorge ist zudem durchgehend eine diskursive, kerygmatische und methodische Perspektive aufgrund der drei Schlüsselkategorien angegeben. Wir beschränken uns bei der Erläuterung auf die Querlektüre der Übersicht, welche anhand der einzelnen Schlüsselkategorien Verbindungslinien zwischen den Arbeitsfeldern aufzeigen kann. Dies entspricht der in diesem Abschnitt vornehmlich thematisierten Frage nach der Einheit der Praktischen Theologie. Die Impulse für die Einzeldisziplin anhand der drei zusammengesehenen Schlüsselkategorien ergeben sich entsprechend. Die Kategorie "Leben" weist auf die Notwendigkeit hin, die moderne (zwangsläufige) Selbstkonstruktion von Leben und die globale Bedrohung von Leben als Deutehorizonte von der Rechtfertigung und der universalen Verheißung von Leben (ζωη αιώνιος) her diskursiv und kerygmatisch zu transformieren. Dabei ist u.a. der konstruierte Lebensglaube ("faith" 72 ) sorgfältig zu interpretieren und vom Evangelium her neu zu beleuchten. Predigt, Unterricht und Seelsorge haben jeweils ein predigtartiges (kerygmatisches) 73 wie ein unterrichtliches (diskursives) Moment, unterscheiden sich aber aufgrund der unterschiedlichen Situation methodisch und inhaltlich. Darüber hinaus wird es wichtig sein, die gesellschaftlichen Gegebenheiten von Differenzierung und Professionalisierung auch in bezug auf Liturgik, Gemeindeentwicklung und die Berufstheorie der im kirchlichen Dienst Tätigen 74 zu berücksichtigen. Der Lebensbegriff bringt in diesem Zusammenhang auch die Spannung zwischen den - schon in sich spannungsvollen! - Idealen von Pro71 Diese liegt letztlich auch dem Grundriß der Praktischen Theologie von Dietrich R Ö S S L E R , 1 9 8 6 zugrunde. 7 2 In diesem Zusammenhang ist die umfassende Definition von James W . FOWLER, Stages of Faith, 1981, S. 14 hilfreich: "Faith, classicaly understood, is not a separate dimension of life [...]. Faith is an orientation of the total person, giving purpose and goal to one's hopes and strivings, thoughts and actions." 73 Darin liegt der Zugewinn der Kategorie "Verheißung", die von Christoph Bizer gerade als religionspädagogische geltend gemacht wurde (C. BIZER, Verheißung als religionspädagogische Kategorie, 1979). Religionspädagogen sind "Experten für Verheißung", wie die Predigenden Zeugen der Verheißung sind. 74 Gemeint sind: Pastor(inn)en, Diakon(inn)e(n), Sozialarbeiter(innen), Religionslehrer(innen).
406
6. Leben, Leib und Liturgie als Konstitutionsbegriffe
fessionalisierung und Demokratisierung einerseits und dem universalen Geltungsanspruch des vom Evangelium verheißenen Lebens andererseits zum Bewußtsein. Darin dürfte eine Hauptschwierigkeit beim Finden einer pastoralen Identität heute überhaupt liegen. 75 Alle Disziplinen haben insofern eine einheitliche Aufgabe, als sie die moderne Lebensrealität als Ausgangspunkt transformativer Prozesse ernst zu nehmen haben; dies sei in bezug auf die Liturgik (entgegen einer einseitig historischen oder ästhetischen Orientierung neben der theologischen) noch einmal eigens erwähnt. Die Kategorie "Leib" weist auf die individuell-leibliche Konkretion des Evangeliums in den einzelnen Arbeitsfeldern als eine verbindende Perspektive hin. Dabei ist der leibliche Aspekt nicht nur - wie das mehr oder weniger geläufig ist - in Religionspädagogik (Spiel, Darstellung, Gestaltung) und Poimenik (Kooperation zwischen Medizin und Seelsorge) zu berücksichtigen. Beispiele für die anderen Disziplinen gehen aus der Tabelle verständlich hervor. Auch hieraus erhellt wiederum die Notwendigkeit einer für die Gegenwart hilfreichen Pastoraltheologie. Für die Liturgik ist nicht nur die von Stählin besonders betonte Realität von Atmen, Essen, Trinken und Bewegung wichtig - diese Impulse scheinen gegenwärtig etwa aufgrund der Kirchentage und der feministisch-theologischen Spiritualität schon fast selbstverständlich zu sein - , sondern auch die neuzeitliche Grundspannung von Individualisierung einerseits und Bedürfnis nach überindividueller Ritualisierung andererseits. Darin besteht die Grundambivalenz des modernen Menschen - besonders des Jugendlichen - angesichts von Liturgie. 76 Ein Zugewinn der Stählinschen Leibkategorie könnte es in diesem Zusammenhang sein, christliche Leiblichkeit nicht allgemein im Kontext allseitiger "Ganzheitlichkeit" zu entfalten, sondern den Zusammenhang von christlichsomatischer Anthropologie und Ekklesiologie im Blick zu behalten. Die Verheißung erlöster und geheiligter christlicher Leiblichkeit richtet sich nicht auf die individuell-integre "Ganzheitlichkeit", sondern auf die Gliedschaft am Leib Christi, welche liturgisch repräsentiert ist. Die Kategorie "Liturgie" ist in der Übersicht deutlich als ein Aspekt der gesamten Praktischen Theologie expliziert und damit mehr als eine Disziplin für (historische) Spezialisten. Das Stichwort "Liturgie" unterstreicht die Notwendigkeit der Repräsentation von Religion in allen Lebensbereichen
75 Das Spannungsfeld des Pfarrerberufs zwischen den Rollen als Gelehrtem, Priester, Propheten, Verwaltungsbeamten und Freizeitanimateur beschreibt Manfred Jos u T T i s , Der Pfarrer ist anders, 1982, vgl. bes. S. 9 (Vorwort). - Die Formulierung "Glaubenshilfe als Lebenshilfe" in der Tabelle soll in Anlehnung an Helmut Tackes gleichnamiges Buch (1979) die Notwendigkeit auch des kerygmatischen Aspektes der Seelsorge unterstreichen. 76 Diese bestimmte, wie wir sahen, schon die Jugendbewegung, vgl. besonders Stählins Schrift: Fieber und Heil in der Jugendbewegung, 1922.
6.4. Praktische Theologie und Religionspädagogik
407
christlicher Praxis. 77 Liturgie als - unzeitgemäß - personenunabhängige Kategorie ist die unabdingbare Repräsentation des kirchlichen, gemeindlichen Christentums. Dies setzt voraus, daß Gemeinde in concreto nicht nur Publikum, sondern (gestaltendes und feierndes) Subjekt der Liturgie ist. 78 Die Abkoppelung der Religionspädagogik von der Liturgik ist von daher nicht als Befreiung, sondern als Selbstentmündigung anzusehen. 79 Religion lernen und verstehen läßt sich nur qua Umgang mit religiöser Praxis (wer käme auf den Gedanken, eine "Sportpädagogik" ohne leibliche Praxis oder eine "Musikpädagogik" ohne Töne zu konzipieren?). Die liturgische Alltagskultur der im kirchlichen Amt Stehenden schließlich war niemals wichtiger als heute, weil Glauben eine Form braucht und nur von Menschen gelernt werden kann, die eine Form dafür haben. Auch hieraus ergibt sich wiederum die Notwendigkeit einer in der Gegenwart aussagekräftigen Pastoraltheologie ohne die Einseitigkeiten der Vergangenheit. Eine von Leben, Leib und Liturgie in diesem umfassenden Sinn her gedachte Pastoraltheologie wäre eine bescheidene, aber hilfreiche Integrationsleistung für die Praktische Theologie. Als folgenreiche Weitung erwiese es sich, wenn die Berufe von Religionslehrer(inne)n und Pas t o r i n n e n näher aufeinander bezogen werden könnten. Darum soll die Untersuchung mit dem Ausblick auf dieses Zentralproblem Praktisch-theologischer Theoriebildung schließen.
6.4. Beitrag zu einer offenen Frage: Das Verhältnis von Praktischer Theologie und Religionspädagogik Die offene Frage der Zuordnung von Religionspädagogik und Praktischer Theologie 80 geht aus der Übersicht im letzten Abschnitt schon insofern hervor, als hier die Religionspädagogik einfach unter die Subdisziplinen der Praktischen Theologie eingereiht ist, ohne die Lernorte Schule und Gemeinde zu spezifizieren und als weiterhin die Notwendigkeit einer "Pastoral77 In der Übersicht wird der Familie als dem Ort christlicher Praxis und religiösen Lernens viel zu wenig Gewicht beigemessen. Es ist ein wichtiges Zeichen, daß Heinz SCHMIDT, Leitfaden Religionspädagogik, 1991, S. 125-155 fast ein Viertel des Seitenumfangs der Entfaltung des religiösen Lernens im Lebenslauf der religiösen Erziehung in der Familie einräumt. 78 Vgl. Werner REICH/Joachim STALMANN, Gemeinde hält Gottesdienst, 1991. 79 So die markante These von Christoph BIZER, Liturgik und Didaktik, JRP 1988. 80 Dazu s. die beiden kontroversen Beiträge von Wilhelm GRAB, Praktische Theologie und Religionspädagogik, JRP 1988 (Religionspädagogik als (Praktisch-)theologische Disziplin) und Hans-Günter HEIMBROCK, Unbußfertiger Sohn oder überlebte Vaterbilder?, ThPr 1989 (Religionspädagogik als sozialwissenschaftliche Disziplin). Heimbrocks "oder" könnte durch ein "und" ersetzt werden, da beide Metaphern dem gleichen emanzipatorischen Denkschema entspringen.
408
6. Leben, Leib und Liturgie als Konstitutionsbegriffe
theologie" behauptet wird, welche zwar nicht die Einheit der Praktischen Theologie garantieren soll, aber doch eine eigene Reflexionsebene darstellt. Durch beide Tatsachen können sich Religionslehrer und Religionslehrerinnen vereinnahmt sehen. Sie verstehen sich zumeist nicht als Theolog(inn)en und schon gar nicht als pastorale Amtsträger(innen). Inzwischen dürfte sich eher noch verschärft haben, was Christoph Bizer vor 15 Jahren so formulierte: "Im Arbeitsfeld der Schule ist die Assoziationskette 'Theologie, Dogmatismus, Intellektualismus, kirchentümliche Enge, Erfahrungsferne, auch Ferne von der eigenen Frömmigkeit' zu einem festen Syndrom verknüpft, das schwer aufzulösen ist. Theologie und ein Unterricht, der von der Lebenswelt der Schüler ausgeht, schließen sich gegenseitig aus - ist die Meinung weithin." 81 Das bedeutet: Über die Einheit der Praktischen Theologie können noch so gute Metatheorien konzipiert werden - solange die Lernorte Schule und Gemeinde und die verschiedenen Berufe Pfarrer(in), Religionslehrer(in), Diakon(in) 82 nicht aufeinander bezogen sind, werden diese kaum greifen können. Gerade eine an dem Ineinander von Leben, Leib und Liturgie orientierte Praktische Theologie wird aber den konkreten Menschen in den kirchlichen Funktionen besondere Aufmerksamkeit zu widmen haben. Gerade der vielfach beschriebenen Individualisierung des Lebens in der Moderne dürfte es entsprechen, wenn die Einheit der Praktischen Theologie nicht vornehmlich von den Disziplinen, sondern von den Personen her angestrebt wird. Aufgabe dabei könnte es zunächst sein, eine Lehr- und Pfarramt sowie Gemeindepraxis (Diakon(inn)e(n), Sozialarbeiter(innen), Gemeindeschwestern) berücksichtigende "Pastoraltheologie" 83 unter den Perspektiven der Moderne zu erarbeiten. Inhaltlich geht aus der Übersicht hervor, daß Pastor(in) und Lehrer(in) gleichermaßen von der Spannung zwischen dem individuellen, gesellschaftlichen und kirchlichen Christentum auszugehen haben, ohne sich auf einen Be81 C. BIZER, Verheißung als religionspädagogische Kategorie, WPKG 1979, S. 349. Nach den Ergebnissen von Klaus LANGER, Warum noch Religionsunterricht?, 1989, S. 175 liegt der Schwerpunkt der christlichen Orientierung bei den Lehrer(inne)n zu 85% auf der "Orientierung am Geist und der Lebenspraxis Jesu", aber nur zu 47% auf dem "Glaube[n] an die Versöhnung mit Gott durch den Erlösungstod Jesu Christi." 82 Es ist daran zu erinnern, daß auch die Fachhochschulausbildung (mit dem Berufsziel Diakon/in) mit dem Grad "Diplom-Religionspädagoge" abschließt. 83 Die katholische Begriffsbildung "Pastoral" greift schon von daher traditionell weiter aus als die evangelische "Pastoraltheologie", weil durch die sakramentale Identität des Priesterberufs die Unterscheidung von der gemeinsamen - auch Laien umfassenden - Verantwortung für die Gemeindepraxis angedeutet ist. Dem postulierten "allgemeinen Priestertum" dagegen entsprach de facto umgekehrt die Klerikalisierung der gesamten Gemeindearbeit, wofür die beklagte "Pastorenkirche" der geläufige Ausdruck ist.
6.4. Praktische Theologie und Religionspädagogik
409
reich beschränken zu können. Eine Pfarramtspraxis ohne Bezug auf das gesellschaftliche Christentum im Zusammenhang gegenwärtiger Modernisierungsprozesse schafft sich ihr eigenes Ghetto, und ein Religionsunterricht ohne Bezug zu religiöser und kirchengemeindlicher Praxis verbleibt ein theoretisches Konstrukt (dem letztlich eine solide philosophische Bildung in der Schule vorzuziehen wäre). Terminologisch ist eine "Pastoraltheologie" als Integration aufgrund der belasteten Geschichte selbstverständlich nicht mehr möglich. 84 Bis zu einem besseren Vorschlag sei für den nüchternen Ausdruck "Theologie kirchlicher Berufe" als einer notwendigen neuen Teildisziplin der Praktischen Theologie plädiert. Diese hätte zu explizieren, wie sich individuelles, kirchliches und gesellschaftliches Christentum in der jeweiligen Berufsrolle überschneiden und wie Lebensglaube, leiblich-soziale Realität und liturgische Repräsentation des Evangeliums in den verschiedenen Berufen Arbeitsfeld und persönliche Situation bestimmen. Eine solche Theologie kirchlicher Berufe müßte damit zu einem angesichts moderner Kultur generell gebotenen "Denken in Übergängen" 85 befähigen. Dieses Übergangsdenken würde für die akademische Disziplin der Praktischen Theologie zudem bedeuten, ihr besonderes Augenmerk auf die Übergänge zwischen religionspädagogischen und homiletisch-liturgischen Bereichen zu richten. Dies bedeutet, in der Kirchengemeinde die religionspädagogische Dimension des Gottesdienstes ernst zu nehmen 86 und in der Schule die didaktischen Chancen der Liturgie zu nutzen. 87 In den Tabellen auf S. 403/404 wurde diese grundlegende Überschneidung pädagogischen und gottesdienstlichen Denkens zudem durch die Angabe diskursiver und kerygmatischer Fragestellungen angedeutet. Von unserer Beschreibung der Praktischen Theologie als "Hermeneutik von christlicher Praxis her" müßte dabei deutlich werden, daß gerade auch die schulische Religionspädagogik eine unverzichtbare Aufgabe bei der Kon84 Anzumerken bleibt, daß das Attribut "pastoral" schon im gemeindlichen Kontext einen inzwischen völlig negativen Beigeschmack angenommen hat. 85 Vgl. Wolfgang Welschs Begriff der "transversalen Vernunft": W. WELSCH, Unsere postmoderne Moderne, 1991 [1986], S. 295-318. Die transversale Vernunft "'überwindet' die Pluralität nicht, sondern beseitigt nur deren Aporien. Sie bringt Pluralität als Vernunftform zur Geltung." (WELSCH, a.a.O., S. 296.) - Die Tagungsreihe "Gemeinde und Schule" (s. Literaturverzeichnis) versucht seit 1989 solche Übergänge sichtbar zu machen bzw. zu verstärken. 86 Ein grundsätzlich vorbildlicher Ansatz liegt vor bei Helmut BARI6, Predigt braucht Konfirmanden, 1988, wobei die Predigtbeispiele S. 77-128 allerdings nur teilweise überzeugen. 87 Dazu s. die Studie von C. BIZER, Liturgik und Didaktik, JRP 1988. Bizer vermutet, dies würde "in vielen Fällen das Selbstbewußtsein eines Lehrers berühren, das sich von Religion emanzipiert zu haben glaubt und diese Emanzipation weiterverbreiten will." (A.a.O., S. 95.) Bizer fragt gleichzeitig, ob hier nicht "eine berufsbedingte Verdrängung von Religion vorliegt" (ebd.).
410
6. Leben, Leib und Liturgie als Konstitutionsbegriffe
zeption einer "elementaren Dogmatik" hat. 88 So könnte die mit dem Niedergang des klassischen theologischen Liberalismus keineswegs verschwundene Entgegensetzung von "Lehre" und "Leben" überwunden werden. Manchmal scheint es so, als seien die klassischen theologischen Flügelkämpfe und Vorurteile, welche einst zwischen "Positiven" und "Liberalen" bestanden, auf die Berufsgruppen der Pastoren und Lehrer 89 übergegangen. An dieser Stelle hilft nur die Kultur des - in Stählins Terminologie - "lebendigen Gespräches". Wenn die Praktische Theologie dazu Möglichkeiten reflektiert, hat sie einen wichtigen Schritt zu ihrer Einheit getan. Am Schluß soll darum noch einmal Stählins Kontroverse mit Hans Lauerer im Jahre 1919/1920 erwähnt werden, in der ebenfalls "Lehre" und "Leben" gegeneinander standen. Den letztlich positiven Ausgang mit einem "lebendigen Gespräch" hat Christian Geyer rückblickend so beschrieben: "Wir wollten Leben und Wirklichkeit und sahen bei den Gegnern zuviel frei schwebende Lehre; diese betrachteten leicht die Lehre selbst als die Wirklichkeit und sahen uns als Ungläubige an. Indem wir selbst zugaben, daß die Lehre Ausdruck von Leben und Wirklichkeit sein kann, und jene uns anmerkten, daß es uns nicht um die Leugnung des Geistes, sondern um die Gewinnung seiner unumgänglichen Voraussetzung und Unterlage zu tun sei, konnte das Vertrauen erwachen, daß wir uns wechselseitig etwas zu geben hätten." 90
88 So richtig Wilhelm GRAB, Praktische Theologie und Religionspädagogik, JRP 1988, S. 69-71, während Hans-Günter HEIMBROCK, Unbußfertiger Sohn oder überlebte Vaterbilder?, ThPr 1989, S. 182 offensichtlich schon den Ausdruck "Dogmatik" deduktiv mißversteht. 89 Bewußt gebrauche ich an dieser Stelle nur die männliche Form, da mir im Rahmen meiner Erfahrungen Frauen beider Berufsstände dialogfähiger und Männer (im negativen Sinne) "konsequenter" zu sein scheinen. 90 C. GEYER, Heiteres und Ernstes aus meinem Leben, 1929, S. 241.
Anhang 1 Übersicht zu Wilhelm Stählins "Religionsunterricht für Erwachsene" nach den Unterlagen im Archiv des Praktisch-theologischen Seminars der Universität Münster 1.
Nürnberg 1923-1925
1.1. Überblick März 1923 - April 1924: Januar 1925 - März 1926:
3. Glaubensartikel (19 Abende) 10 Gebote (11 Abende) [Hinweis: Stählin verwendet immer die lutherische Zählung der Gebote]
1.2. Einzelangaben DATUM
THEMA
1. 3. 1 9 2 3 15. 3 . 1 9 2 3 5. 4 . 1 9 2 3 19. 4 . 1 9 2 3 3 . 5. 1 9 2 3 17. 5. 1 9 2 3 2 0 . 9. 1 9 2 3 4.10. 1923 18.
10.1923
8. 1 1 . 1 9 2 3 22.
11.1923
6. 1 2 . 1 9 2 3 3.
1. 1 9 2 4
17. 7.
1. 1 9 2 4 2. 1924
21.
2. 1 9 2 4
6.
3. 1 9 2 4
2 0 . 3.
1924
3. 4.
1924
3. Glaubensartikel, Einfuhrung Berufung und Bekehrung Glauben Glaube und Wissen Vom Bibellesen Bibelkunde "Gleich wie er die ganze Christenheit erhält..." Kirche Kirche Kirchenbau Liturgie Gemeinde Vergebung der Sünden Vergebung der Sünden Vergebung und Kirche Die letzten Dinge Von der christlichen Hoffnung I Von der christlichen Hoffnung II Von der christlichen Hoffnung III
SEITEN MASCHINEN H A N D SCHRIFT SCHRIFT 2
+
4
+
5 4
+ + +
4
+
4
+
6
+ + + + + + +
3
4 2 2 2 2 3 3
+
3
+
4
+
3
+
4
+
412
Anhang 1
8. 1. 1925 15. 1. 1925 5./19. 2. 1925 15./29. 10., 12. 11. 1925 19. 11. 1925 3. 12. 1925/ 7. 1. 1926 7. 1./12. 1. 1926 21. 1. 1926 4. 2. 1926 18. 2. 1926 4. 3. 1926
+
10 Gebote, Einfuhrung 2. Gebot 2. Gebot
7 4 5
+
Geschlechtsleben Ehe 6. Gebot 7. Gebot
7
+
10 7
+ +
8. Gebot
6
+
9. 2. 2. 1.
5 6 6 7
+ +
und
und 10. Gebot Glaubensartikel Glaubensartikel Gebot
2.
Münster 1928 - 1935
2.1. WS SS WS SS WS WS SS WS WS
Uberblick 1928/29: 1929: 1929/30: 1930: 1930/31: 1931/32: 1932: 1932/33: 1934/35:
+
+ +
Eschatologie u.a. 3. - 5. Gebot 6. - 8. Gebot 9., 10., 1. Gebot Besprechung verschiedener Fragen 2. Glaubensartikel Vaterunser, 1 . - 5 . Bitte Vaterunser, 6.-7. Bitte, verschiedene Themen Urgeschichte
2.2. Einzelangaben DATUM
THEMA
NACHSCHRIFT DR. SEYBOLD SEITEN
WS 1928/29 Reformationsfest Die letzten Dinge Die letzten Dinge, Forts. 13. 12. 1928 Die letzten Dinge III 15. 1. 1929 10 Gebote [Handschrift] 12. 2. 1929 Fastnacht
30. 10. 1928 21. 11. 1928 28. 11. 1928
10 3 8 9 8 9
ANDERE NACHSCHRIFTEN SEITEN MS. HS.
Anhang 1
30. 14. 18. 2.
4. 5. 6. 7.
1929 1929 1929 1929
5. 11. 1929 19. 11. 1929 17. 12. 1929 7. 1. 1930 21. 1. 1930 4. 2. 1930 18. 2. 1930 5. 26. 23. 7. 21.
5. 1930 5. 6. 7. 7.
1930 1930 1930 1930
3. 11. 1930 24. 11. 1930 15. 12. 1930 12. 26. 9.
1. 1931 1. 1931 2. 1931
9. 11. 1931 23. 11. 1931 14. 12. 1931 19. 1. 1932 1.
2. 1932
22.
2. 1932
SS 1929 3. Gebot 3. Gebot, Forts. Autorität (4. Gebot) 5. Gebot WS 1929/30 6. Gebot 6. Gebot, Forts. 6. Gebot, Forts. 7. Gebot 7. Gebot, Forts. 8. Gebot 8. Gebot, Forts. SS 1930 9./10. Gebot ("Besprechungsabend") Beschluß der Gebote 1. Gebot 1. Gebot, Forts. Christentum als Lebenskraft ("Besprechungsabend") WS 1930/31 Lebendiger Gott und theologische Begriffe Conf. Augustana; Menschen, die uns ablehnen Menschen, die uns ablehnen; Weihnachten Glaubensbekenntnis Schöpfungsglaube Wunder WS 1931/32 Fall Dehn; Christusglaube Christusglaube, Forts. Person Christi Verschiedene Namen Jesu Erlösung durch den Tod Christi Auferstehung und Herrlichkeit Christi
413
7 8 9 8 +
7 7 10 7 9 7 10
6 12 14 10 12 10 10
8
8
+
9 7 8 9
9 4 6 5
+ + + +
7
5
+
6
5
+
8
8
+
9 9 10
6 7
+
10
3
+
8 9 8
4 6 5
+ + +
10
5
+
10
6
+
+
+ +
+ + +
+
414
18. 2. 23. 6. 20. 11. 25.
4. 5. 5. 6. 6. 7. 7.
Anhang 1
1932 1932 1932 1932 1932 1932 1932
Vaterunser, Vaterunser, Vaterunser, Vaterunser, Vaterunser, Vaterunser, Vaterunser, Forts.
SS 1932 Einfuhrung 1. Bitte 2. Bitte 3. Bitte 4. Bitte 5. Bitte 5. Bitte,
WS 1932/33 7. 11. 1932 Vaterunser, 6. Bitte 21. 11. 1932 Vaterunser, 7. Bitte 5. 12. 1932 Beschluß des Vaterunsers 23. 1. 1933 Die Wirklichkeit des Menschen 6. 2. 1933 Weg und Weisung 20. 2. 1933 Weg und Weisung, Forts. WS 1934/35 28. 1. 1935 Genesis 3,7 11. 2. 1935 Genesis 4, 1-24 25. 2. 1935 Genesis 6-8
7 7 9 10 9 8 7
5 6 7 7 6 7 4
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* Bei den drei Einzelprotokollen 1935 handelt es sich um den gleichen Schriftsatz wie bei den sonstigen Nachschriften von Dr. Seybold, ohne daß jedoch dessen Name erscheint.
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Predigttypen der Gegenwart, 2st. | Neue Wege kirchlicher Arbeit (Volksmission, Presse, Rundfunk u.ä.), mit Übungen, 2st. Die kirchlichen Handlungen, 2st. Kirchenmusikalische Arbeitsgemeinschaft (für Hörer aller Fakultäten), 2st. Grundfragen kirchlicher Gestaltung (Kirchenverfassung), 3 st. Kirchenmusikalische Arbeitsgemeinschaft (für Hörer aller Fakultäten), 2st.
Liturgik und Homiletik kirchlicher Handlungen, 2st. Das Kirchenjahr, 1st. (für Hörer aller Fakultäten) Übungen über evangelische Jugendkunde, 2st. Das menschliche Leben im Licht des christlichen Gottesdienstes, 1st. Der Konfirmandenunterricht, 2st.
Homiletik, 3st.
Themen besonderer Lehrveranstaltungen
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Methodik des Religionsunterrichts (für Theologen und Religionslehrer), 2st. Das menschliche Leben im Lichte des christlichen Gottesdienstes, 2 st. Die Kasualrede, 2st. Kirchenmusikalische Arbeitsgemeinschaft, 2st. Grundfragen kirchlichen Lebens (für Hörer aller Fakultäten), 1st. Homiletische Sozietät (mit Piper), 2st. Homiletik, 4st. Liturgische Übungen, 2st. Kirchenraum und Kirchenjahr (fur Hörer aller Fakultäten), 2st. Homiletisch-liturgische Sozietät, 2st. Der Epheserbrief in Predigt und Religionsunterricht, 2st. Liturgische Übungen, 1 st. f?1 Liturgik, 4st. Katechetische Sozietät, 2st. [?] Ordnung und Amt in der Kirche, 2st. Homiletik, 4st. Gleichnisse Jesu in Predigt und Religionsunterricht, 1st. Liturgische Übungen, 1 st. [?]
Themen besonderer Lehrveranstaltungen
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Quellen und Literatur Übersicht A.
Schriftenverzeichnis von Wilhelm Stählin
Unveröffentlichte Manuskripte aus dem Archiv im Praktisch-theologischen Seminar der Universität Münster 1.1. Briefwechsel 1.2. Andere Quellen 2. Landeskirchliches Archiv Nürnberg Aus dem Bestand Personen Nr. XVIII Stählin 3. Archiv des Wissenschaftsbereiches Kirchliche Zeitgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig 4. Nachlaßstücke Wilhelm Stählins aus dem Privatbesitz von Hildegart Mumm, geb. Stählin, Grafing b. München 5. Unterlagen von Pfarrer em. Heinz Henche, Münster 6. Veröffentlichungen
421
1.
421 421 421 427
427 427 427 428
B.
Andere Archivbestände
439
1. 2.
Archiv im Praktisch-theologischen Seminar der Universität Münster Universitätsarchiv Münster
439 439
C.
Gespräche
439
D.
Andere Literatur
440
Quellen und Literatur
421
A.
Schriftenverzeichnis von Wilhelm Stählin
1.
Unveröffentlichte Manuskripte aus dem Archiv im Praktisch-theologischen Seminar der UniversitSt Münster
1.1.
Briefwechsel
Briefwechsel mit der Ev.-thcol. Fakultät der Universität ERLANGEN wegen einer neutestamentlichen Dozentur, 1907. Gesammelter Briefwechsel mit VERSCHIEDENEN PERSONEN, 1 9 2 2 - 1 9 7 2 ( = 4 7 9 Briefe). Briefwechsel mit WILHELM STAPEL, betr. "Deutsches Volkstum", 1 9 2 5 - 1 9 3 1 . Briefwechsel mit FRIEDRICH RITTELMEYER, unterschiedliche Anlässe, 1 9 2 9 - 1 9 3 4 . Briefwechsel betr. BERUFUNG NACH HEIDELBERG, 1 9 3 0 . Briefwechsel mit HELMUT KITTEL über theologische Fragen, 1 9 3 0 . Briefwechsel mit WERNER GEORG KÜMMEL und HERMANN MAAS, betr. Begriff des "Gleichnisses", 1932-1933. Briefwechsel mit verschiedenen Personen betr. die MONATSSCHRIFT FÜR GOTTESDIENST UND KIRCHLICHE KUNST, 1 9 3 4 - 1 9 3 9 . GÖTTLICHEN GEHEIMNIS", 1 9 3 6 - 1 9 6 4 . FAKULTÄT MÜNSTER und deren Mitgliedern,
Briefwechsel betr. das Buch "VOM Briefwechsel mit der EV.-THEOL.
1943-
1950.
Briefwechsel mit HANS ASMUSSEN betr. verschiedene Themen, 1 9 4 4 - 1 9 5 9 . Briefwechsel mit EMIL BODE betr. "Evangelium und Christengemeinschaft", 1 9 4 8 / 4 9 . Briefwechsel betr. das Buch von SVEN STOLPE, Eivind Berggrav - Norwegens Bischof, 1951.
Briefwechsel betr.
1.2.
4.
Aufl. des Buches "VOM
SINN DES LEIBES", 1 9 6 4 - 1 9 6 8 .
Andere Quellen
1907 Auslegung sowie historische und theologische Würdigung von 1. Kor 15,1-20 (Probearbeit der Ev.-theol. Fakultät Erlangen für eine Dozentur), X, 240 S., Maschinenschrift. Exzerpte und Notizen zu Psychologie und Religionspsychologie 1907-1913.
1916 Religion und Toleranz. Vortrag Mitau, 8 S. Handschrift und 8 S. Konzept o.P., Handschrift. Vom jüngsten Tag (= Rez. zu: Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist, hrsg. von Kurt Hiller, München 1916), 7 S., Maschinenschrift. Vorträge/Berichte über Vorträge 1916-1958. 1917 Max Scheler. Vortragsskizze, o.P. (4 S.), Handschrift. 1918 Volkskirche. Vortrag, 24 S., Maschinenschrift.
422
Quellen und Literatur
1919 Eine "Haßpredigt", in: 13. Rundbrief der bayrischen Landsgemeinde (geschrieben von Friedrich Weber), München 1919, 10 S., Handschrift. Leitsätze zu einer Aussprache über "Volksstaat", Nürnberg, 1 S., Maschinenschrift. Unsere Pflicht zum Radikalismus, Vortrag Nürnberg 1919, 12 S., Handschrift. 1920 Deutsche Bildungsaufgaben. Stichworte für einen Vortrag, 6 S., Maschinenschrift. Von der Mitarbeit der Frau am Aufbau Deutschlands. Vortrag, 20 S., Maschinenschrift. Unsere Liebe zu Volk und Vaterland. Vortrag Rothenburg o.d.T., August 1920, 12 S., Maschinenschrift. 1921 Kirche und Religion. Stichworte für einen Vortrag, Kassel, 4 S., Maschinenschrift. Was will und was kann die deutsche Jugend der Gegenwart leisten? Stichworte für einen Vortrag, Braunschweig, 4 S., Handschrift und ein Blatt gedruckte Leitsätze. 1922 Die Bedeutung der Jugendbewegung in Christentum und Kirche. Vortrag in Erlangen, S I S . , Maschinenschrift. Religiöses Erlebnis und religiöse Erkenntnis. Stichworte zu einem Vortrag, 4 S., Handschrift (Vortragsnachschrift Hanau 1922, 2 S., Maschinenschrift). 1923 Gemeinde. Stichworte zu einem Vortrag, Nürnberg, 4 S., Maschinenschrift. Rede bei einer Wimpelweihe, 2 S., Maschinenschrift. Religionsunterricht für Erwachsene, Nürnberg 1923/24 (3. Artikel), anonyme Nachschrift, 64 S., Maschinenschrift. 1924 Feuerrede beim Bundesfest eines Jugendbundes, 2 S., Maschinenschrift. Alkohol und Jugend. Vortrag Nürnberg, 4 S., Maschinenschrift. Evangelischer Kultus. Vortrag Nürnberg, in: Protokoll der Nürnberger Pfarrkonferenz vom 29. 10. 1924, S. 14-16, Handschrift. 1925 Religionsunterricht für Erwachsene, Nürnberg Januar 1925 bis März 1926 (10 Gebote), Nachschrift von Heinrich Agneth/Maria Schmedding,70 S., unregelmäßig bzw. stundenweise paginiert, Handschrift und Maschinenschrift. 1926 Vorlesung Praktische Theologie I (Kirche, Pfarramt, Gottesdienst), 1926/27, 75 Bogen ä 4 S„ Handschrift.
Wintersemester
1927 Vorlesung Katechetik (Praktische Theologie II) Sommersemester 1927, 27 Bogen ä 4 S. und Einzelblätter, Handschrift.
Quellen und Literatur
423
1928 Die Bedeutung der Liturgie im evangelischen Gottesdienst. Stichworte für einen Vortrag 18. 5. 1928, 8 S., Handschrift; Leitsätze für einen Vortrag 20. 7. 1928, 1 S., Maschinenschrift. Der Konfirmanden-Unterricht, Vorlesung Wintersemester 1928/29, 29 Bogen ä 4 S., Handschrift. Das menschliche Leben im Licht des christlichen Gottesdienstes, Vorlesung Sommersemester 1928, 13 Bogen ä 4 S. und Einzelblätter, Handschrift. Die Not der Erziehung. Leitsätze zu einem Vortrag, 2 S., Maschinenschrift. Religionsunterricht für Erwachsene, Münster, Wintersemester 1928/29 (Eschatologie u.a.), Nachschrift von Dr. Seybold, 47 S. (stundenweise paginiert), Maschinenschrift und Handschrift. 1929 Religionsunterricht für Erwachsene, Münster, Sommersemester 1929 (3.-5. Gebot), Nachschrift von Dr. Seybold, 32 S. (stundenweise paginiert), Maschinenschrift. Religionsunterricht für Erwachsene, Münster, Wintersemester 1929/30 (6. - 8. Gebot); a) Nachschrift von Dr. Seybold, 57 S. (stundenweise paginiert), Maschinenschrift; b) Nachschrift von Hans Rüter und E.-A. Bartels, 74 S. (S. 1-64 paginiert), Handschrift. Das Sexualproblem der Gegenwart. Vortragsmitschrift, 11 S., Maschinenschrift. Vom Sinn der Arbeit. Leitsätze für einen Vortrag, Bielefeld, 2 S., gedruckt. 1930 Manuskript und Material zu "Naturauffassung der Christengemeinschaft", Seminar in Berlin-Spandau, 10 S. Konzept sowie 60 Blätter mit Notizen zu einzelnen Stichworten, Handschrift. Religionsunterricht für Erwachsene, Münster, Sommersemester 1930 (9., 10., 1. Gebot); a) Nachschrift von Dr. Seybold, 41 S. (stundenweise paginiert), Maschinenschrift; b) Nachschrift von Hans Rüter, 32 S. (nur z.T. paginiert), Maschinenschrift. Religionsunterricht für Erwachsene, Münster, Wintersemester 1930/31 (Besprechung verschiedener Fragen); a) Nachschrift von Dr. Seybold, 49 S. (stundenweise paginiert), Maschinenschrift; b) Nachschrift von Hans Rüter, 31 S. (nur z.T. paginiert), Maschinenschrift. Über die Frage der Vorlesungsreform. Diskussionsbeitrag 12. 11. 1930, 4 S., Maschinenschrift. 1931 Religionsunterricht für Erwachsene, Münster, Wintersemester 1931/32 (2. Glaubensartikel); a) Nachschrift von Dr. Seybold, 55 S. (stundenweise paginiert), Maschinenschrift; b) anonyme Nachschrift [Hans Rüter?], 29 S. (unterschiedlich paginiert), Maschinenschrift. Vorlesung Praktische Theologie I (Lehre von der Kirche und vom Gottesdienst), Wintersemester 1931/32, 15 Bogen ä 4 S., Handschrift. 1932 Akademischer Unterricht und Berufsausbildung. Stichworte für eine Aussprache, Münster 14.12.1932, 3 S„ Handschrift. Leitsätze für eine Aussprache über Jugend und Staat, 2 S., Maschinenschrift. Maria. Büchlein mit Betrachtungen, Weihnachten 1932, 23 S., Handschrift. Der Mensch im Licht der Bibel. Vortrag, 3 S., Maschinenschrift.
424
Quellen und Literatur
Protokoll im Homiletischen Seminar, Sommersemester 1932. Geführt von K.H. Droste, 40 S., Maschinenschrift. Protokoll im Homiletisch-liturgischen Seminar, Wintersemester 1932/33, geführt von K.H. Droste, 30 S., Maschinenschrift. Religionsunterricht für Erwachsene, Münster, Sommersemester 1932 (Vaterunser, 1 . - 5 . Bitte); a) Nachschrift von Dr. Seybold, 57 S. (stundenweise paginiert), Maschinenschrift; b) anonyme Nachschrift [Hans Rüter?], 42 S. (stundenweise paginiert), Maschinenschrift. Religionsunterricht für Erwachsene, Münster, Wintersemester 1932/33 (Vaterunser, 6. 7. Bitte, verschiedene Themen); a) Nachschrift von Dr. Seybold, 50 S. (stundenweise paginiert), Maschinenschrift; b) anonyme Nachschrift [Hans Rüter?], 41 S. (stundenweise paginiert), Maschinenschrift. Über unser Ordinationsversprechen, 3 S., Maschinenschrift. 1933 Christlicher Religionsunterricht im nationalen Staat. Leitsätze zu einem Vortrag, Düsseldorf 15.6.1933, 2 S., Maschinenschrift. Protokoll der homiletisch-liturgischen Sozietät im Wintersemester 1933/34, geführt von verschiedenen Teilnehmern, 52 S., o.P., Handschrift. Protokoll im homiletisch-liturgischen Seminar Wintersemester 1933/34, geführt von W. Schönwolff [?], 40 S„ o.P., Handschrift. Protokoll im homiletischen Hauptseminar Sommersemester 1933, geführt von H. zur Nieden, 36 S., Handschrift. Vorarbeiten zum Buch Predigtanweisungen [?] für das Kirchenjahr, 16 S., o.P., Handschrift und Maschinenschrift. 1934 Predigt über Mt 16,13-20 am 18. 11. 1934, Nachschrift (Dr. Seybold?), 5 S., Maschinenschrift. Protokoll im homiletisch-liturgischen Hauptseminar Sommersemester 1934, geführt von Günter Rutenborn [?] und Walter Kuhlmann, 36 S., o.P., Handschrift. Protokoll im homiletisch-liturgischen Hauptseminar Wintersemester 1934/35, geführt von Herbert Schmitz, 64 S., o.P., Handschrift. Vorlesung Homiletik Sommersemester 1934, 4 Bogen k 4 Seiten und Einzelblätter, Handschrift. 1935 Die Aufgabe evangelischer Akademiker in Volk und Kirche. Notizen zu einem Vortrag, Köln 15.2.1935, 4 S., Handschrift sowie 3 S. Bericht über den Vortrag, Maschinenschrift. Pastoraltbeologie. Entwurf für einen Artikel im "Großen Brockhaus", 3 S., Maschinenschrift. Predigt. Entwurf für einen Artikel im "Großen Brockhaus", 4 S., Maschinenschrift. Protokoll der homiletisch-liturgischen Sozietät im Wintersemester 1935/36, geführt von verschiedenen Teilnehmern, 98 S., o.P., Handschrift. Religionsunterricht für Erwachsene, Münster 1935 (Urgeschichte), anonyme Nachschrift, 19 S. (stundenweise paginiert), Maschinenschrift.
Quellen und Literatur
425
1936 Protokoll des homiletischen Proseminars Sommersemester 1936, geftthrt von verschiedenen Studenten, 60 S., o.P., Handschrift. Vorlesung Katechetik Sommersemester 1936, 13 Bogen ä 4 Seiten, Handschrift. Vorlesung Konfirmation und Konfirmandenunterricht Sommersemester 1936, 7 Bogen ä 4 Seiten, Handschrift. Vorlesung Liturgik, Wintersemester 1936/37, 94 S., Maschinenschrift. 1938 Die Bedeutung der Form für das geistliche Leben. Stichworte zu einem Vortrag, 4 S., Handschrift. Friedrich Rittelmeyer, 6 S., Maschinenschrift. 1940 Die Kirche und ihre Ämter, Vorlesung 3. Trimester 1940, 6 Hefte, o.P., (28/10/28/23/28/14 S.), Handschrift. Die Reinigung der Kirche. Predigt über Joh 2,13-17 am 31. 10. 1940 in Nürnberg, 16 S., Maschinenschrift. 1941 An die Brüder. Vertrauliche Mitteilungen für die Mitglieder der Evangelischen Michaelsbruderschaft Nr. 1, Epiphanias 1941, 12 S., als Handschrift gedruckt. Brief an die Brüder der Michaelsbruderschaft, Konvent Westfalen, Münster, Advent 1941, 6 S., Maschinenschrift (Vervielfältigung). Die Gestalt des Hauptgottesdienstes. Grundgedanken eines Vortrages im Hamburger Pastorenkonvent 12. 2. 1941, 6 S., Maschinenschrift. Predigthilfen für den Predigtdienst in der Wehrmacht (Mk 7,31-37, 4 S.; Röm 8,33-39, 3S.; Röm 14,7-9, 3 S.; 1. Kor 3,9-11, 4 S.), jeweils Maschinenschrift. 1942 Das Kreuz Christi und das Leiden der Welt. Predigt in Stuttgart am Karfreitag 1942 über 1. Kor 1,21-25, 4 S., Maschinenschrift (Vervielfältigung). 1943 Die Kirche hüben und drüben. Predigt über Röm 14,1-9, 2 S., Maschinenschrift. Predigtentwürfe für eine Kriegspredigt in der Wehrmacht (Röm 8,33-39, 3 S.; 1. Kor 1,30, 4 S.; Eph 2,19-22 [Pfingsten], 3 S.), jeweils Maschinenschrift. Rundbriefe an die Michaelsbrüder Aug.-Okt. 1943, 16 S., Maschinenschrift ( Vervielfälti gungen). Schicksal - Tragik - Glaube. Vortragsmitschrift Düsseldorf/Düren 9./10. Januar 1943, 19 S. auf 10 Bl. (blattweise paginiert 1-10), Maschinenschrift. Von der dreifaltigen Gnade. Predigt über 2. Kor 13,13 am 20. 6. 1943 in der Apostelkirche Münster, SS., Maschinenschrift. Was heißt "Mit der Kirche leben"?, Vortrag o.O., 5 S., Maschinenschrift. 1944 Bericht des evangelischen Universitätspredigers in Münster in Westfalen für die Zeit vom Anfang des Krieges bis März 1944, 2 S., Maschinenschrift. Die Gemeinde der Sünder. Predigt über Psalm 130,3 am 2. 7. 1944 in Leipzig, 4 S., Maschinenschrift (Vervielfältigung).
426
Quellen und Literatur
Gibt es ein Wiedersehen nach dem Tode? Vortrag am 12. 4. 1944 in Bindlach, 9 S., Maschinenschrift (Vervielfältigung). Rundbrief an die Freunde in Münster vom Berneuchener Dienst 31. 10. 1944, 5 S., Maschinenschrift (Vervielfältigung). Liturgik. Die Lehre vom kultischen Amt der Kirche in der Welt, 4 S. Inhaltsverzeichnis, 25 S., Maschinenschrift. Rundbriefe an die Michaelsbrüder Febr. - Sept. 1944, 13 S., Maschinenschrift (Vervielfältigungen). Unsere kirchliche Aufgabe. Rundschreiben für den Berneuchener Dienst 1. 7. 1944, 5 S., Maschinenschrift (Vervielfältigung). 194S Brief an die Pfarrer der Ev.-luth. Kirche in Oldenburg betr. Landes-Buß- und Bettag am 17. 6. 1945, 4 S., Maschinenschrift. Predigt Uber Lukas 11,1-2 am 6. 5. 1945 in Oldenburg-Osternburg, 5 S., Maschinenschrift (Vervielfältigung). Predigt über 1. Petr 5,5b-ll am 17. 6. 1945 in Oldenburg (Landes-Buß- und Bettag), 7 S., Maschinenschrift (Vervielfältigung). Predigtvorentwurf für Gottesdienste in der deutschen Wehrmacht am Karfreitag 1945 über Ps 69,18a, 4 S., Maschinenschrift. Wie soll man über jene Verstorbenen denken, die nicht zur Erkenntnis Christi gekommen sind? Fragenbeantwortung in der Bibelstunde zu Oldenburg-Osternburg Osterdienstag, 3. 4. 1945, 3 S., Maschinenschrift (Vervielfältigung). 1948 Protokolle der "Arbeitsgemeinschaft" in Oldenburg 1948-1952, Nachschrift von versch. Teilnehmern, stundenweise paginiert, 124 S., dazugebunden 2 Predigten 1945 und 1957, 8 S. 1959 Ansprachen im Fernsehen, 1959-1969. 1974 Besuch am Krankenbett. Reparieren und heilen, Rundfunkmanuskript vom 23. 1. 1974, 4 S., Maschinenschrift. Ohne Datierung Aufbau einer Vorlesung über Grundfragen kirchlicher Gestaltung, 1 S., Maschinenschrift.
Quellen und Literatur 2.
427
Landeskirchliches Archiv Nürnberg Aus dem Bestand Personen Nr. XVIII Stählin
Amtstagebuch Nürnberg 1917-1926, Best.Nr. 43. Katholica. Briefwechsel mit katholischen Würdenträgern, Theologen, Gelehrten, 19211974, Best.Nr. 108. Das christliche Opfer in Gottesdienst und Leben. Vortrag in Straßburg am 6. 10. 1943 (Michaelisfest), 8 S., Maschinenschrift, Best. Nr. 90. Brief über Konfirmation und Konfirmationsordnung an die oldenburgischen Pfarrer vom 29. 1. 1946, Best.Nr. 90. Liturgik. Exzerpte, Best.Nr. 123. Briefe des ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen zum 24. 9. 1973, Best.Nr. 60. Tabula Gratulatoria zum 90. Geburtstag von Bischof Prof. D. Dr. Stählin, D.D. des Fachbereiches Evangelische Theologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster vom 21. 9. 1973, 9 S. o.P., Handschrift, Best.Nr. 60. Dankesbrief und "Bericht über die Feier meines 90. Geburtstages, 24. 9. 1973", 1 + 9 S., Best.Nr. 60. Persönliche Angelegenheiten, Best.Nr. 42.
3.
Archiv des Wissenschaftsbereiches Kirchliche Zeitgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig
Nachlaß Hermann Mulert
4.
Nachlaßstücke Wilhelm Stählins aus dem Privatbesitz von Hildegart Mumm, geb. Stählin, Grafing b. München
Unterlagen über theologische Prüfungen 1929-1940 Privates
5.
Unterlagen von Pfarrer em. Heinz Henche, Münster
Vorlesung Praktische Theologie I (Lehre von Kirche, Pfarramt und Gottesdienst), Wintersemester 1933/34, Exzerpt einer Kollegnachschrift, 9 S., Handschrift. Vorlesung Homiletik Sommersemester 1934, Exzerpt einer Kollegnachschrift, 12 S., Handschrift. Vorlesung Liturgik Wintersemester 1934/35, Exzerpt einer Kollegnachschrift, 4 S., Handschrift.
428 6.
Quellen und Literatur Veröffentlichungen
1906 F r a n c i s Coillard, in: Nürnberger Missionsblatt 1906, S. 37-40. Die Unruhen in Deutsch-Ostafrika, in: Nürnberger Missionsblatt 1906, S. 15-16. 18-20. 1907 Allgemeines Priestertum, in: Monatsblatt für die evang. -lutherische Gemeinde Steinbühl-Nürnberg, November 1907. Gegen und für den christlichen Jünglingsverein, in: Monatsblatt für die evang.-lutherische Gemeinde Steinbühl-Nürnberg, April 1907. Der Konfirmandenunterricht, in: Monatsblatt für die evang.-lutherische Gemeinde Steinbühl-Nürnberg, Dezember 1907. Was lesen wir zur Unterhaltung, in: Monatsblatt für die evang.-lutherische Gemeinde Steinbühl-Nürnberg, Oktober 1907. 1908 Ein schlimmer Feind, in: Monatsschrift für die evang.-lutherische Gemeinde SteinbühlNürnberg, Februar 1908. Einiges aus dem kirchlichen Leben der Steinbühler Gemeinde im Jahre 1907, in: Monatsschrift für die evang.-lutherische Gemeinde Steinbühl-Nürnberg, Januar 1908. Wilhelm Löhe. Zu seinem 100. Geburtstag am 21. 2. 1908, in: Monatsschrift für die evang.-lutherische Gemeinde Steinbühl-Nürnberg, März 1908. 1909 Eindrücke von kirchlicher Frauenarbeit in England und Schottland, in: Ev. Gemeindeblatt für Nürnberg-Fürth 16/1909, S. 251-254. 265-267. In den schottischen Hochlanden, in: Ev. Gemeindeblatt für Nürnberg-Fürth 16/1909, S. 392-393. 401-403. Warum seid ihr gekommen? Eine Taufrede, in: Monatsblatt für die evang.-lutherische Gemeinde Steinbühl-Nürnberg, Februar 1909. 1912 Der Almanach des Coenobium, in: Zeitschrift für Religionspsychologie 6/1912, S. 145154. 1913 Zur Psychologie und Statistik der Metaphern. Eine methodologische Untersuchung, Leipzig/Berlin 1913 (= Sonderabdruck aus Archiv für die ges. Psychologie, Bd. 31). 1914 Experimentelle Untersuchungen über Sprachpsychologie und Religionspsychologie, in: ARPs 1/1914, S. 117-194. Für uns. 2. Kor 5,14.15, in: Christentum und Leben, November 1914, S. 166-168. Kann die evangelische Frömmigkeit echt sein, wenn sie sich nicht gegen diesen Krieg wendet?, in: CuG 5/1914, S. 176. Der Krieg - Gottes Wille? Predigt, Nürnberg 1914. Liebet Eure Feinde!, in: CuG 5/1914, S. 151-154.
Quellen und Literatur
429
[Rez. zu:] Georg Wobbermin, Systematische Theologie nach religionspsychologischer Methode. Bd. 1: Die religionspsychologische Methode in Religionswissenschaft und Theologie, Leipzig 1913, in: ARPs 1/1914, S. 279-298. Die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie, in: CW 28/1914, Sp. 698-702; 725729; 747-750. Wer sein Leben verliert. Kriegspredigt, Nürnberg 1914. Zu Feldens Umfrage, in: CW 28/1914, Sp. 685-689. 1915 Feldpredigt vor Mannschaften eines Armierungsbataillons und einer Eisenbahnkompagnie, in: Ev. Freiheit 15/1915, S. 399-402. In den Fußtapfen Jesu, in: Kraft und Trost für die Verwundeten und Kranken des deutschen Heeres Nr. 18, hrsg. von Hermann Beck, Nürnberg o.J. [1915?] Religion als Lust und Last, in: CuG 6/1915, S. 119-124. Um die Heimat. 3 Kriegspredigten, Mitau 1915. 1916 Englisches, in: CuG 7/1916, S. 55-57. Kriegsandacht, in: Vorwärts zum Sieg! Kriegszeitschrift für unsere Soldaten Nr. 36, hrsg. von Albrecht Saathoff, Göttingen 1916, S. 1-4. Den Trauernden in der Heimat. Flugblatt zum 1. 8. 1916, Deutsche Verwaltung Mitau. 1917 Siedelung in Kurland, in: Erstes Sonderheft des Rund-Briefs der Feld-Wandervögel im Osten, Kurland/München 1917, S. 1-13. Der Patriotismus Jesu, in: CuG 8/1917, S. 37-38. 58-60. 1918 Die Aufgabe der Vereinsleiter und -leiterinnen gegenüber den Zeiterscheinungen im Krieg, in: Verbandsblatt zur Pflege der evangelischen weiblichen Jugend in Bayern, Nr. 4/1918, S. 2-4; Nr. 2/1919, S. 1-4. Christentum und Ludendorff-Spende. Predigt am 16. 6. 1918, Nürnberg 1918. Gibt es unmittelbare Gotteserfahrungen?, in: CuG 9/1918, S. 111-112. Der neue Lebensstil, Jena 1918 (Hamburg 4 1925) (= Tat-Flugschriften). Die Not der Zeit, Flugblatt, November 1918. Eine Predigt (Ps 1,1-3), in: Führerzeitung für die deutschen Wandervogelführer, Heft 12, Juli 1918 (41. Kriegsheft), S. 186-192. Über die Aufgabe der Tagespresse, in: Fränkischer Kurier vom 7. 3. 1918, S. 1. Über die Ungleichheit der Menschen, in: CuG 9/1918, S. 89-92. 1919 Fragekasten (zur Frage des Zinses), in: CuG 10/1919, S. 80. Müssen wir umlernen?, in: CuG 10/1919, S. 12-14. Religionsunterricht oder Lebenskunde?, in: CuG 10/1919, S. 67-70. Religion von unten her und Religion von oben her, in: CuG 10/1919, S. 90-92. Vom 'fclten" und "heuen Evangelium". Ein offener Brief an Herrn Rektor Lie. Lauerer, Nürnberg 1919. Wer gehört zu einer Gemeinde?, in: CuG 10/1919, S. 7-9. Wirklichkeitswelt und Weihnachtswelt, in: DV 1/1919, S. 357-360.
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Quellen und Literatur
1920 Lauerer, Hans/Stählin, Wilhelm: "Altes" und "neues" Evangelium? Eine theologische Aussprache, Nürnberg 1920. Gebetssitten und Gebetsgesinnung, in: CuG 11/1920, S. 81-83. Wesen und Erscheinung im Alltag, in: CuG 11/1920, S. 20-24. 1921 Jesus und die Jugend, Wülfingerode-Sollstedt 1921. Unsere geistige Lage und die Aufgabe der Führer, in: Wissen und Wehr (Zweimonatsschrift) 1921, S. 378-393 (= Berlin 1922, erweitert um ein "Nachwort an die deutsche Studentenschaft"). Vorbemerkung, in: ARPs II/III, 1921, S. 1-3. Die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie, in: ARPs II/III, 1921, S. 136-159. 1922 Anbetender Gottesdienst, in: CuG 13/1922, S. 44-46. Farbenstudent und Jugendbewegung, in: DV 4/1922, S. 295-302. Fieber und Heil in der Jugendbewegung, Hamburg 2 1 9 2 2 [1921], Die Jugendbewegung von außen und von innen. Wegbereiterin einer neuen Kultur, in: Niederdeutsche Rundschau vom 13. 8. 1922, S. 13-14. Predigt (im Festgottesdienst am 30. 7. 1922 in Brieg), in: Arbeit und Feier. Zehnter Bundestag des Bundes Deutscher Jugendvereine vom 28. - 31. 7. 1922 in Brieg, Sollstedt o.J. [19227], S. 38-44. Rede am Beginn der Bundesversammlung, in: Arbeit und Feier. Zehnter Bundestag des Bundes Deutscher Jugendvereine vom 28. - 31. 7. 1922 in Brieg, Sollstedt o.J. [1922?], S. 10-16. Schwarzburgbund und Jugendbewegung, in: Die Schwarzburg, Hochschulmonatsschrift 4/1922, S. 26-32. Zur Auseinandersetzung zwischen Protestantismus und Katholizismus, in: CuG 13/1922, S. 87-89. 106-109. 1923 Brief an Dr. Stapel, in: UB 12/1923, S. 5-7. Bücher zum Verständnis des Lebens Jesu, in: DV 5/1923, S. 431-434. Bücher zum Verständnis des neuen Testaments, in: DV 5/1923, S. 399-405. Konfirmandenunterricht und Konfirmation, in: CuW 1/1923, S. 70-72. Unsere religiöse Not, in: CuW 1/1923, S. 7-10. 19-20. 27-28. 34-35. Was will und kann die deutsche Jugend der Gegenwart leisten?, in: Ratgeber für Jugendvereinigungen 17/1923, S. 149-168. 1924 Das Gottesjahr 4/1924, Hrsg. (bis 18/1938) Wilhelm Stählin, Rudolstadt 1924. [Enthält von Stählin: Zum Gruß; Kalendernamen und -Sprüche; Advent; Fastenzeit; Karfreitag; Dreifaltigkeit; Das fromme Brot] Der Hitler-Prozeß, in: CuW 2/1924, S. 88-89. [Rez. zu:] Romano Guardini, Liturgische Bildung, 1. Bändchen, Burg Rothenfels o.J., in: CuW 2/1924, S. 94-95. Die völkische Bewegung und unsere Verantwortung, Wülfingerode/Sollstedt o.J. [1924] (= Neue Flugschriften des Bundes Deutscher Jugendvereine, H. 5).
Quellen und Literatur
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Vom Ungewissen und vom Gewissen, in: Der Ruf der Stunde. Vorträge der zweiten Kirchlichen Jugendwoche in Hamburg, Hamburg 1924, S. 14-27. Vorschläge für Schulgottesdienste, in: Evangelisches Schulblatt, Organ des Ev. Schulvereins in Bayern 58/1924, S. 11-16. 25-27. 1925 Advent. Fünfzehn Predigten, München ^1925. Brief von der Stockholmer Weltkonferenz, in: Evangelisches Gemeindeblatt Nürnberg 32/1925, S. 434-435. Ein Gottesdienst, in: UB 14/1925, S. 82-85. Ein Religionsunterricht, in: UB 14/1925, S. 90-92 Das Schuldgefühl der modernen Jugend, in: Leopold Cordier, Evangelische Jugendkunde. Erster Band, Schwerin 1925, S. 456-460 (= UB 13/1924, S. 189-192). Die soziale Frage auf der Stockholmer Konferenz für praktisches Christentum, in: Soziale Berufsarbeit 5/1925, Heft 9/10 [unpaginiert], Stockholm, in: CuW 3/1925, S. 253-258. Stockholm, in: Zeitwende 1/1925, S. 474-497. Die Störung der Evangelisch-sozialen Tagung durch die Nationalsozialisten, in: Der christliche Volksdienst 1/1925, Nr. 10, S. 3-4. Von der Jungfräulichkeit, in: CuW 3/1925, S. 295-299. Von Frömmigkeit und leiblicher Übung, in: Die Leibesübungen 1/1925, S. 39-40. 1926 Abschieds-Predigt am Sonntag Quasimodogeniti, 11. April 1926, Nürnberg 1926. Bericht über die erste liturgische Konferenz Niedersachsens in Lübeck, in: MGKK 31/1926, S. 254-255. Das Berneuchener Buch. Vom Anspruch des Evangeliums auf die Kirchen der Reformation, hrsg. von der Berneuchener Konferenz, Hamburg 1926. Die deutsche Sendung, in: UB 15/1926, S. 319-327. Evangelische Kirche und Jugendbewegung, in: G. Schenkel (Hrsg.), Der Protestantismus der Gegenwart, Stuttgart 1926, S. 546-565. Das Feuer, in: UB 15/1926, S. 328-330. Kirche und Wahrhaftigkeit, in: Frankfurter Zeitung 70/1926, Nr. 120 (14. 2. 1926), S. 2.
Priester und Pfarrer (Vortrag bei der Jubiläumstagung des westfälischen Pfarrervereins am 22. 6. 1926 in Dortmund), in: Westfälisches Pfarrerblatt 26/1926, S. 71-76. Ein Religionsunterricht. 6. Stück. Das 7. Gebot, in: UB 15/1926, S. 46-50. Schicksal und Sinn der deutschen Jugend, Wülfingerode-Sollstedt 1926. Die Stellung der Elemente in der Abendmahlsliturgie. Ein Fragment aus der Liturgik der Sakramente, in: Gottesdienstliche Fragen der Gegenwart. Festschrift für Julius Smend zum 70. Geburtstag, Gütersloh 1926, S. 61-69. Unser Schrifttum, in: UB 15/1926, S. 282-287. Verhältnis zu Christentum und Kirche, in: UB 15/1926, S. 57-63. 1927 Ein Jahrhundert der Kirche?, in: CuW 5/1927, S. 115-118. Die pädagogische Bewegung. Über den gegenwärtigen Stand der Jugendbewegung, in: Die Erziehung 2/1927, S. 469-490.
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Quellen und Literatur
1928
Aussprache: Zwei Bücher und ein B r i e f über die Kirchenfrage, in: U B 17/1928, S. 190192. Die Bedeutung der Familie für den jungen Menschen. Ursachen der Familienentfremdung. Wege zu ihrer Überwindung, in: Niederschlesische Zeitung, Görlitz, Nr. 243 vom 14. 10. 1928, Seite'Deutsche Jugend". Die Bedeutung der Singbewegung für den evangelischen Kirchengesang, in: Der dreißigste deutsche evangelische Kirchengesangsvereinstag in Nürnberg vom 15. bis 17. Oktober 1927, Kassel 1928, S. 35-70. Friedensarbeit der Kirchen. (Bericht von der Prager Kirchenkonferenz), in: U B 17/1928, S. 3 4 4 - 3 5 1 . Gottesdienst zum Schluß der Singewoche in Westerburg (am 3. 6. 1928), in: Evangelischer Kirchengesangverein für Deutschland 39/1928, S. 3 1 - 3 4 . Jugend und Gemeinde, in: Ders. (Hrsg.), Ziele und Wege. Ein Lehrgang über evangelische Jugendführung, Wülfingerode-Sollstedt 1928, S. 129-152. Ein Kirchengespräch über die Abrüstung, in: Fränkischer Kurier 9 6 / 1 9 2 8 , Nr. 220 [10. 8. 1928], S. 1-2. Lebensgestaltung als Bekenntnis, in: UB 17/1928, S. 202-205. Leitsätze des Vortrags über 'Gemeinde und Kindergottesdienst" am 9. J a nuar 1928, in: Der Kindergottesdienst 38/1928, S. 91-93. Pädagogik des Glaubens, in: CuW 6/1928, S. 37-44. Pietät und Kritik in der Liturgik (Leitsätze eines am 12. Oktober 1927 in Hannover gehaltenen Vortrags), in: M G K K 33/1928, S. 7-9. [Rez. zu:] Otto Dibelius, Nachspiel, Berlin 1928, in: CuG 6 / 1 9 2 8 , S. 160-161. Der Sinn des Leibes, in: Die Leibesübungen 4/1928, S. 123-124. Über Schulandachten, in: Die evangelische Pädagogik 3/1928, S. 2 5 - 3 5 . 4 9 - 7 8 . Um das Reichsschulgesetz, in: CuW 1928, S. 65-76. Unsere Bibellese, in: CuW 6/1928, S. 51-53.
1929
Art. "Jugendbewegung", in: Pädagogisches Lexikon, Bd. 2, 1929, Sp. 1 1 3 4 - 1 1 4 4 . Die Bedeutung der Liturgie im evangelischen Gottesdienst, in: ZEvKM 7 / 1 9 2 9 , S. 115122. [zus. mit Erich Stange:] Die Gliederung der Volkskirche, in: M G K K 3 4 / 1 9 2 9 , S. 7 1 - 7 3 . Die Mischehe, in: Gustav Schlipköter (Hrsg.): Der Kampf um die Ehe, Gütersloh 1929, S. 148-164. Mittun oder nicht? Zur Frage der ländlichen Volksfeste (Sammelbericht Jugendleben), in: Evangelische Jugendführung 1/1929, S. 90-92. [Rez. zu:] Erich Stange, Volkskirche als Organismus, in: M G K K 3 4 / 1 9 2 9 , S. 5-7. Schwierigkeiten der Bibelarbeit, in: Evangelische Jugendführung 1/1929, S. 101-111. Stadt und Land (Sammelbericht Jugendleben), in: Evangelische Jugendführung 1/1929, S. 86-87. Die Trauung, in: Gustav Schlipköter (Hrsg.): Der Kampf um die Ehe, Gütersloh 1929, S. 249-268.
1930
Aus einem homiletisch-liturgischen Seminar, in: M G K K 3 5 / 1 9 3 0 , S. 6 - 1 1 . [zus. mit Jörg Erb:] Aussprache. Reichstagswahl, in: UB 19/1930, S. 180-186.
Quellen und Literatur
433
Die Bedeutung der Liturgie für das Amt und die Persönlichkeit des Pfarrers. Leitsätze (Vortrag auf der westfälischen Gautagung der Niedersächsischen Liturgischen Konferenz in Soest, 19. 5. 1930), in: MGKK 35/1930, S. 165-166 Der Einmarsch der Jugendbünde in die Politik, in: UB 19/1930, S. 43-44. Erziehung aus dem Glauben, in: Das Gottesjahr 10/1930, S. 26-31. Freier Gehorsam, in: Das Tor. 15. Bundestagung des Bundes Deutscher Jugendvereine vom 1. - 3. August 1930 in Göttingen, Göttingen o.J., S. 27-40. Die heilige Schrift mit Bildern von Rudolf Schäfer, in: MGKK 35/1930, S. 117-120. Die Mutter (Predigt über Jes 66,13a zum Muttertag), in: MGKK 35/1930 (Sonderdruck, 4 S., unpaginiert). Die neue "Lebensordnung" der preußischen Landeskirche, in: CuW 44/1930, Sp. 459476. Neutralität?, in: UB 19/1930, S. 261-264. Noch einmal Herr Niechciol, in: MGKK 35/1930, S. 191-192. Pfingsten, in: UB 19/1930, S. 112-116. Der Sinn des Lebens, in: Werden und Wirken, hrsg. von der Oberinnen-Vereinigung vom Roten Kreuz, Berlin 1930, S. 381-395. Über die Kundgebung gegen den Youngplan, in: UB 19/1930, S. 102-105. Vom Sinn des Leibes, Stuttgart 1930. [zus. mit Jörg Erb und Emil Fuchs:] Zur Neuauflage unseres Liederbuches, in: UB 19/1930, S. 38-42. 1931 Cambridge 1931, in: Neuwerk 13/1931, S. 227-239. Evangelische Kirche und Völkerverständigung. Zu der Erklärung der Professoren Althaus und Hirsch, in: Neuwerk 13/1931, S. 147-152. Grundsätzliches zum Konfirmandenunterricht, in: ThBl 10/1931, Sp. 258-260 [zus. mit Friedrich Wilhelm Schmidt]. Der Leib Christi in den Sakramenten, in: ThBl 10/1931, Sp. 161-164. Das Märchen vom Storch, in: Deutsche Mädchen-Zeitung 63/1931, S. 7-10. Noch einmal: Zur Kritik der Ordnung des kirchlichen Lebens, in: Westfälisches Pfarrerblatt 31/1931, S. 75-76. Rede zu einer Hausweihe, in: Schmücket das Fest. Gedichte und Aufführungen für Festund Freudentage, hrsg. von Gustav und W.(?)Schlipköter, Bd. 13, Tischreden, Hamburg 1931, S. 100-104. Zu Lie. Flemmings Aufsatz über die "Ordnung des kirchlichen Lebens", in: Westfälisches Pfarrerblatt 31/1931, S. 54-56. 1932 Bodenständiges Christentum, in: Westfälischer Bauer 1932, S. 684-686. Dienst am Wort und Dienst am Nächsten, in: Eckart 1932, S. 521-524. Gesetz und Evangelium. Predigt im Akademischen Gottesdienst, 2. Sonntag nach Epiphanias, 17. 1. 1932, Münster 1932. Menschenführung als Aufgabe der Kirche, in: Evangelische Jugendhilfe 8/1932, S. 313337. Seelsorge, in: EvJ 1/1932, S. 107-112. Volkstrauertag. Akademischer Gottesdienst in der Apostelkirche zu Münster, Sonntag Reminiscere, 21. Februar 1932, Münster 1932. Woll'n predigen und sprechen vom heil'gen deutschen Reich, in: UB 21/1932, S. 75-80.
434
Quellen und Literatur
1933 Bausteine zu einem Religions-Unterricht, in: UB 22/1933, S. 80-85 und 131-134. Christlicher Religionsunterricht im nationalen Staat, in: Evangelische Jugendführung 5/1933, S. 33-42. Die Kirche in der Stunde der Versuchung. Predigt in der Apostelkirche zu Münster am Sonntag, 16. Juli 1933, in: Kämpfende Kirche. Flugblätter christlicher Deutscher, 5. Folge (4 S„ o.P.). Kirchliche Seelsorge, in: Kirchlicher Anzeiger für Württemberg. Zeitschrift des Evangelischen Pfarrvereins 42/1933, S. 137-139. 145-148. 156-158. 162-164. Der Konfirmandenunterricht, in: Evangelische Jugendführung 5/1933, S. 72-81. Maria, in: EvJ 2/1933, S. 11-15. [= hss. Ms. unter 1932] Memorieren durch kirchliche Gewöhnung, in: Evangelische Blätter für pfarramtlichen Unterricht 2/1933, S. 57-59. Rechenschaft, in: EvJ 2/1933, S. 101-112. Das Reich als Gleichnis. Rede bei der Reichsgründungsfeier der Westfälischen Wilhelms-Universität am 18. Januar 1933, in: Schriften der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms-Universität, Münster 1933. Über Aufbau und Lehrplan des Konfirmandenunterrichts, in: Evangelische Blätter für pfarramtlichen Unterricht 2/1933, S. 12-15. Zur Erneuerung des Pfarrerstandes in der deutschen evangelischen Kirche, in: Das Evangelische Westfalen Mai 1933, Sonderdruck, 7 S. 1934 Ein Briefwechsel über die Beichte, in: EvJ 3/1934, S. 51-54. Ende des "Protestantismus"?, in: "Kämpfende Kirche". Flugschriften Christlicher Deutscher, Heft 8, Kassel 1934, S. 113-128. Das Gottesjahr 14/1934, Hrsg. Wilhelm Stählin, Kassel 1934. [Enthält von Stählin: Gottesjahr 1934; Ich glaube an Jesus Christus; "Ich bin"; Das Blut Jesu Christi; Der kommende Herr.] Eine Hausweihe, in: EvJ 3/1934, S. 116-122. Heiligung der Arbeit, in: Kirche und Arbeit. Flugschriften Christlicher Deutscher, Heft 1, Kassel 1934, S. 7-11. Kirche und Geschichte. Ein Briefwechsel, in: EvJ 3/1934, S. 161-164. Das Kirchenjahr. Eine Denkschrift über die kirchliche Ordnung des Jahres (gemeinsam mit Theodor Knolle), Kassel 1934. Vom Sinn des Leibes, Stuttgart ^1934 (umgearbeitete Auflage). Vom Weg einer Bruderschaft, in: Bruderschaft. Flugschriften Christlicher Deutscher, Heft 3, Kassel 1934, S. 34-38 [erschienen Juli 1934], Von der Dreiheit des Lebens, in: Dreieinigkeit. Flugschriften Christlicher Deutscher, Heft 2, Kassel 1934, S. 27-28. Von der Erneuerung der Kirche. Predigt am 18. Juni 1933 im Akademischen Gottesdienst in der Apostelkirche Münster (1. Petr 2,1-10), in: Dein Wort ist deiner Kirche Schutz. Predigten von der Kirche, hrsg. von Karl Kampffmeyer, Göttingen 1934, S. 13-23. 1935 Der Brief, in: EvJ 5/1935/36, S. 153-157. Der Brief, in: EvJ 5/1935/36, S. 192-198. Gottesdienstliche Feier bei der Einweihung eines neuen Altarschmuckes, in: MGKK 40/1935, S. 301-305.
Quellen und Literatur
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Ich bin das Leben, in: Glaube und Heimat. Sonntagsblatt der Thür, evangelischen Kirche 12/1935, Nr. 29 (21. 7. 1935), S. 3. Noch einmal: Das Gottesjahr 1934. Zu der Kritik von Werner Rau, in: MGKK 40/1935, S. 99-106. Praktische Theologie als Mittelstelle, in: DtPffil 39/1935, S. 193-194. Singende Gemeinde - bekennende Gemeinde, in: DtPfBl 39/1935, S. 289-290. 1936 Arbeit und Aufgaben des Berneuchener Kreises, in: EvJ 6/1936/37, S. 28-35. Aussegnung oder Einsegnung?, in: Neuwerk-Kalender 1936, S. 49-50. Der Brief, in: EvJ 6/1936/37, S. 104-111. Die Ernte als Gleichnis, in: Erntedankfest. Kämpfende Kirche, Heft 26/27 (August 1936), S. 21-24. Evangelische Askese, in: Frauenhilfe 37/1936, S. 34-38. Vom göttlichen Geheimnis, Kassel 1936 (= Kirche im Aufbau, hrsg. von Christhard Mahrenholz, Wilhelm Stählin und Heinz Dietrich Wendland, H. 4). Zur Kultusmusikfrage, in: MuK 8/1936, S. 110-113. 1937 Das Gebet der Kirche, Potsdam o.J. [1937] (= Kämpfende Kirche, Heft 38/39). Die Kirche Christi und das Wort Gottes, in: Ders. u. Wilhelm Zoellner (Hrsg.): Die Kirche Jesu Christi und das Wort Gottes, Berlin 1937, S. 16-41. Über das Begehen der Heiligen Woche, in: EvJ 6/1936/37, S. 43-54. 1938 Der Altar im gottesdienstlichen Handeln, in: KuKi 15/1938, S. 7-10. Aus Briefen. Vom rechten Festefeiern, in: MGKK 58/1938, S. 21-23. Berneuchen. Unser K a m p f u n d Dienst für die Kirche, Kassel o.J. [1938] Das Gottesjahr 18/1938, Hrsg. Wilhelm Stählin, Kassel 1938. [Enthält von Stählin: Geistliche Übung; Ost und West; Die eherne Schlange; Der Kreuzweg.] Richter 7: Das Geheimnis der kleinen Zahl, in: Christentum und Leben 13/1938, S. 824826.
Theologie - von der Kanzel aus gesehen. IV. Eine Betrachtung über den Ort der Predigt, in: PB1 80/1938, S. 459-466. Vom Begehen der Passion, Potsdam o.J. [1938] (= Kämpfende Kirche. Flugschriften christlicher Deutscher, Heft 47/48). (Hrsg.:) Vom Heiligen Kampf. Beiträge zum Verständnis der Bibel und der christlichen Kirche, Kassel o.J. [1938] 1939 Berneuchen antwortet. Eine Erwiderung auf Gerhard Kunze's "Gespräch mit Berneuchen". Im Auftrag der Evangelischen Michaelsbruderschaft geschrieben von Wilhelm Stählin, Kassel o.J. [1939] Das Bild der Natur in der Heiligen Schrift, in: ZW 16/1939, S. 43-52. [Rez. zu:] Gerhard Kunze, Gespräch mit Berneuchen, in: ThLZ 64/1939, Sp. 184-185. [Rez. zu:] Johannes Müller, Gott und Mensch, Elmau 1939, in: EvJ 8/1938/39, S. 158. Eine Schulstunde über die Engel, in: KuKi 16/1939, S. 7-10. Über den Begriff der Meditation, in: DtPfBl 43/1939, S. 775-776. 784-785. Über kirchliche Kunst, in: Eckart 15/1939, S. 309-315. Zum Heldengedenktag, in: EvJ 8/1938/39, S. 54-56.
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Quellen und Literatur
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Quellen und Literatur
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1
2
In eckigen Klammern ist das Jahr der Erstveröffentlichung bzw. der Abfassung angegeben. Falls die Erstfassung auch herangezogen wurde, ist diese auch unter dem jeweiligen Jahr unter "Quellen" bzw. unter "Veröffentlichungen" verzeichnet. S. Anm. 1.
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Quellen und Literatur
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s. Anm. 1. s. Anm. 1.
Quellen und Literatur
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B.
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Universitätsarchiv Münster
Vorlesungsverzeichnisse der Universität Münster Sommersemester 1926 bis Wintersemester 1944/45. Kurator: Pers. Akte Nr. 6686 I und II (Wilhelm Stählin). Personalakte Wilhelm Stählin 1967-1981, Ev.-theol Fak. Best -Nr. 58 II.
C. mit:
Gespräche Pfarrer em. HEINZ HENCHE, Münster Pfarrer HANS EDUARD KELLNER, Schwabendorf Prof. Dr. WILHELM MADER, Lilienthal Frau HILDEGART MUMM, geb. Stählin, Grafing Prof. D. Dr. WOLFGANG TRILLHAAS, Göttingen
440 D.
Quellen und Literatur
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AGENDE FÜR EVANGELISCH-LUTHERISCHE KIRCHEN UND GEMEINDEN, B a n d I I I : D i e A m t s -
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Namensregister
ADAM, G o t t f r i e d 2 0 3 ALCHELE, K l a u s 141 ALBERT, K a r l 9 7 ALKIER, S t e f a n 6 4 ALTHAUS, P a u l 2 3 , 4 7 , 7 9 AMBROSIUS V. MAILAND 2 6 8 ANDERSEN, H e d w i g 165, 2 7 9 ANSELM V. CANTERBURY 2 1 ARISTOTELES 154 ASMUSSEN, H a n s 16, 3 0 0 AUGUSTIN 54, 3 1 8 AVENARIUS, F e r d i n a n d 15 f. BARLß, H e l m u t 4 0 9 BARTH, H a n s M a r t i n 5 BARTH, K a r l 9, 13 f., 18, 20, 3 7 - 4 0 , 4 2 - 4 5 , 4 7 , 50, 52, 57, 110, 140, 147, 152, 192, 2 2 9 , 2 3 1 , 3 1 1 - 3 1 3 , 3 3 0 , 3 5 1 , 3 5 9 f., 3 7 4 BARZ, H e i n e r 84 BAUMGARTEN, O t t o 3 6 5 BÄUMLER, A l f r e d 104 BECK, U l r i c h 162, 3 9 8 BERG, C a r s t e n 2 9 4 BERGER, K l a u s 3 9 4 , 4 0 2 BERGER, P e t e r L. 3 9 8 BERGSON, H e n r i 96, 102 BETHGE, E b e r h a r d 2 4 f. BIRNBAUM, W a l t e r 4 9 - 5 1 , 177, 2 2 8 , 269, 272 BIZER, C h r i s t o p h 181, 3 3 4 , 4 0 5 , 407-409 BLANK, R e i n e r 2 6 5 BLOCH, E r n s t 185 BLUM, E m i l 8 7 BLUMHARDT, J o h a n n C h r i s t o p h 3 6 9 BOCK, E m i l 9 0 BODELSCHWINGH, F r i e d r i c h v. 112, 120, 3 1 1
BOHNE, G e r h a r d 3 3 0 BOHREN, R u d o l f 2 5 7 , 3 4 5 BOLLNOW, O t t o F r i e d r i c h 67, 9 7 f., 100, 102, 107 BONHOEFFER, D i e t r i c h 2 4 f., 52, 6 2 , 111, 2 0 4 BORNKAMM, G ü n t h e r 2 6 8 - 2 7 0 BROWNING, D o n 3 8 2 , 3 8 9 f. BRUNNER, E m i l 2 2 9 BRUNNER, P e t e r 196, 2 5 2 , 2 7 7 BUCER, M a r t i n 3 1 3 , 3 4 1 BUCHER, A n t o n 124, 128 BUCHHEIM, H a n s 3 1 BUCK, G ü n t h e r 4 0 1 f. BUDER, W a l t e r 136 BULTMANN, R u d o l f 3 7 f., 9 5 , 133, 152, 163, 3 0 4 BURKHART, J o h n E . 3 7 7 BUSCH, E b e r h a r d 2 0 , 2 3 1 BUSKE, E r n s t 31 BÜTTNER, H e r m a n n 3 5 2 CALVIN, J o h a n n e s 3 1 8 , 3 6 6 CASEL, O d o 190, 2 2 3 , 2 3 1 , 2 6 9 - 2 7 4 , 284, 318 CASPARI, W a l t e r 58 CASPER, J o s e f 2 1 9 f., 2 4 7 CASSIRER, E r n s t 124 f. CHAMBERLAIN, H o u s t o n St. 10, 54, 117 CLAUDIUS, M a t t h i a s 2 3 6 CLEMEN, O t t o 12 CLINEBELL, H o w a r d J. 3 2 4 , 3 8 5 COMENIUS, J o h a n n A r n o s 100 COMTE, A u g u s t e 6, 9 8 CORDIER, L e o p o l d 44, 7 8 , 8 7 f. CORNEHL, P e t e r 2 5 8 CORNELIUS-BUNDSCHUH, J o c h e n 51, 237, 286
Namensregister CYRILL V. JERUSALEM 3 1 8 DALLMANN, W o l f g a n g 2 8 1 DANNOWSKI, H a n s W e r n e r 3 8 6 DEGEN, R o l a n d 3 8 4 DEHN, G ü n t h e r 87, 112, 2 4 8 , 3 0 4 f., 357, 367 DENECKE, Axel 3 1 2 DLEHL, G u i d a 18 DILTHEY, W i l h e l m 96, 9 8 - 1 0 2 , 106, 121 DOEHRING, B r u n o 86 DOERNE, M a r t i n 4 8 f., 263, 334, 351, 385 DONNDORF, G o t t h o l d 16 DÖRNER, K l a u s 105 DOSTOJEWSKI, F j o d o r 3 7 1 DRESSLER, B e r n h a r d 85 DREWERMANN, E u g e n 17, 138, 178, 193, 3 6 2 , 3 7 1 DRUMMOND, H e n r y 7 f., 81 DUFNER, M e i n r a d 94, 165 DUTSCHKE, R u d i 76 EBBINGHAUS, H a n s 9 ECKEHART, M e i s t e r 170, 3 5 2 ERB, J ö r g 2 2 6 ERIKSON, E r i k H . 3 3 8 EUCKEN, R u d o l f 3 7 4 FAILING, W o l f - E c k a r t 3 8 4 FENDT, L e o n h a r d 4 5 f., 2 1 8 FICHTE, J o h a n n G o t t l i e b 15, 54, 73, 9 7 f., 109, 113, 117 FIORE, J o a c h i m de 185 FLEMMING, F r i e d r i c h 189 FLEX, W a l t e r 74, 108, 133, 169, 3 1 0 FOERSTER, W e r n e r 3 0 8 FOITZIK, K a r l 3 8 4 FOWLER, J a m e s W . 63, 185, 365, 390, 395, 400, 402, 405 FRAAS, H a n s J ü r g e n 9 FREUD, S i g m u n d 4 7 , 86, 178, 385
461
GABLENTZ, O t t o v. d. 190 GADAMER, H a n s - G e o r g 3 7 7 , 3 8 2 , 384, 390, 393 GEIBEL, E m a n u e l 10 GEORGE, S t e f a n 160 f., 3 7 1 GEYER, Christian 6, 13, 17, 2 4 , 2 2 7 , 2 2 9 , 299, 3 1 0 , 3 1 4 f., 3 2 3 , 355, 410 GLESECKE, H e r m a n n 33 f., 103, 150 GOETHE, J o h a n n W o l f g a n g v. 74, 100, 134, 139, 3 7 0 GOGARTEN, F r i e d r i c h 4 7 GOLLWITZER, H e l m u t 3 1 2 GöLZ, R i c h a r d 38 f., 2 8 0 GOßMANN, E l s b e 2 3 6 , 2 9 5 GRAB, Wilhelm 3 8 4 , 3 8 6 - 3 8 8 , 3 9 5 , 397, 399, 407, 410 GRAFF, P a u l 2 8 6 GRETHLEIN, C h r i s t i a n 148, 2 2 2 , 2 3 9 , 258, 265, 295 GRÖZINGER, A l b r e c h t 3 8 8 , 4 0 1 GRUEHN, W e r n e r 2 0 GRÜN, A n s e l m 94, 165, 2 6 2 GRÜSSHERR, [?] 3 5 7 GUARDINI, R o m a n o 3 0 , 51, 197, 223, 228-232, 236-238, 275, 380 GÜNTHER, G e r h a r d 142 HAEBLER, H a n s Carl v. 4, 2 5 , 4 0 , 46, 88, 90, 130, 2 0 7 , 2 3 2 , 2 4 0 , 299,302 HAENCHEN, E r n s t 3 0 3 , 3 0 6 HAENDLER, O t t o 4 4 , 4 6 - 4 9 , 2 1 3 HAHN, Wilhelm 148, 2 5 2 f., 2 6 4 , 268 HAMMELSBECK, O s k a r 2 0 3 , 3 3 4 HAMMER, W a l t e r 106 HAPPICH, Carl 2 0 7 - 2 1 0 , 2 1 4 HARBSMEIER, G ö t z 2 9 7 HARNACK, A d o l f V. 5, 192 HAßLER, H a n s L e o 2 7 9 HAUER, Wilhelm 31, 3 3 1 HAUSCHILD, W o l f - D i e t e r 3 0 6
462
Namensregister
HEIDEGGER, Martin 104, 283 HEIMBROCK, Hans-Günter 387, 407,
410 HEITMANN, Ludwig 130, 135, 159,
190, 232 f., 299, 372 Heinz 1, 17, 26, 65, 102, 164, 210, 259 f., 303, 307, 321 f., 324, 327, 335 f., 344, 346, 349, 379
HENCHE,
HENNECKE, Edgar 193 HENNIG, Liemar 41 HENSEL, Walter 279 f. HERMERSDORF, Martin 164 f. HERRMANN, Johannes 205 f., 352 HERRMANN, Ulrich 73, 99 f. HERWEGEN, Ildefons 272 HESSE, Franz 302 f. HEUSS, Theodor 15 HILBERT, Gerhard 348 HIRSCH,
Emanuel 23 f., 79, 89, 112
HITLER, Adolf
16, 95,
112,
140,
147, 332 HODANN, M a x 3 6 6
HOFFMANN, Adolf 327 HORN, Curt 235 HÜBNER,
Eberhard 384 f., 396
HUMBOLDT, Wilhelm v. 383 HUSSERL, E d m u n d 401 JACOBS,
Manfred 19 f., 303 f.
JETTER, Werner 134 JÖDE,
Fritz 279
JOSUTTIS, M a n f r e d 51, 93, 135, 178,
253, 261, 288, 343, 376, 393, 406 JÜLICHER, Adolf 126-129, 304 JUNG, Carl Gustav 17, 47, 63, 178, 210, 256, 332, 344 JUSTIN, 3 1 8
KABISCH, Richard 10, 37 KANT, Immanuel 13, 59, 104, 125 KAR WEHL, Richard 80 KÄSEMANN,
Ernst 151 f., 177, 271
Hans Eduard 5, 11, 13, 24, 27 f., 30, 45, 52-54, 56, 60-63, 69, 136, 141, 198, 240 KEMPER, August 320 KENNEDY, William Bean 377, 390, 396 f. KEßLER, Heinrich 15 f., 97, 112 f., 141 KELLNER,
KETELSEN, U w e - K . 61
KIERKEGAARD, Sören 54, 371 KINDT,
Werner 30, 73, 80, 114
KITTEL, Helmuth 87 KLAGES,
Ludwig 158 f.
KLIEFOTH, T h e o d o r 196 KLÖNNE,
Irmgard 18
KLOPPENBURG, Heinz 292 KNITTER, Paul 90 KNOLLE, Theodor 286 f., 324 KÖBEL, Eberhard 31 KÖBERLE,
Adolf 28 f., 65
KOBOLD, Karl 16, 27 f., 356 KOHLBERG, Lawrence 116
Dietrich 397, 399
KORSCH,
386-388,
395,
KRAUSE, Gerhard 383 KRETZSCHMAR, Gottfried 11 KRIEG, Gustav A. 260, 279 KROTZ, Fritz 351 KÜKELHAUS, Hugo 180, 255, KÜLPE, Oswald 8 KÜMMEL, Werner Georg 147 KÜNNE, Michael 162 KUNZE, Gerhard 27 f., 40 f.,
332
55, 61, 89, 219 f., 249 f., 251, 257
KURELLA, Alfred 169 f.
LAGARDE, Paul de 117, 371 LAHUSEN, Christian 282 LANGENFAß, Friedrich 80 LANGER, Klaus 333, 408 LANGMAACK, Gerhard 180 LAQUEUR, Walter 30 f., 33, 72, 87,
169
Namensregister LAUERER, H a n s 12 f., 20, 24, 68, 87, 89, 101, 2 2 5 , 4 1 0 LEEUW, G e r a r d u s v a n d e r 4 0 LEHMANN, K a r l 2 6 LLEDKE, G e r h a r d 166 LINDEMANN, F r i e d r i c h - W i l h e l m 2 9 7 LINK, C h r i s t i a n 93 f. LINSE, U l r i c h 169, 3 6 6 LÖFFELHOLZ, M i c h a e l 82 LÖHE, W i l h e l m 9, 130, 196, 2 4 1 , 318 LOHMEYER, E r n s t 3 0 4 LOTGEN, E d u a r d 3 5 6 LUTHER, H e n n i n g 3 8 4 , 3 8 7 LUTHER, M a r t i n 38, 6 9 f., 81, 111, 126 f., 139, 188, 2 1 2 , 2 3 2 f., 238, 245, 251, 275, 284, 313, 315, 318, 322 MAASS, H e r m a n n 147 MADER, W i l h e l m 55, 57, 59, 6 4 MAGER, I n g e 5 0 MAHRENHOLZ, C h r i s t h a r d 190, 196 f., 2 8 1 f. MANN, T h o m a s 163 MARQUARD, O d o 108 f., 4 0 2 MARXSEN, Willi 3 6 7 MATTHES, J o a c h i m 2 5 8 MCCANN, D e n n i s 3 7 7 , 3 9 0 MEIER, K u r t 4 MELZER, F r i s o 2 0 9 f., 2 1 4 MERKEL, F r i e d e m a n n 4 4 f., 49, 51, 6 5 , 131, 2 7 5 , 2 8 0 , 2 8 4 MEYER-BLANCK, M i c h a e l 18, 67, 224, 245, 254, 258, 289-292, 334, 338 MOELLER VAN DEN BRUCK, A r t u r 143 MOES, J o h a n n F r i e d r i c h 20, 29, 164, 210, 303, 356 MOGGE, W i l h e l m 29, 31 MOLTMANN-WENDEL, E l i s a b e t h 85, 162 MORGENSTERN, C h r i s t i a n 3 7 1
463
MULERT, H e r m a n n 3 0 4 MÜLLER, A l f r e d D e d o 4 6 f., 8 7 MÜLLER, J o h a n n e s 3 7 4 f. MÜLLER, K a r l F e r d i n a n d 9, 4 1 - 4 5 , 136, 139 f., 2 2 2 , 2 4 5 , 2 5 2 MÜLLER, L u d o l f 141 MÜLLER, T h e o p h i l 173 MUMM, H i l d e g a r t 3, 90, 107, 112, 303, 313, 335, 349, 356 NAUMANN, F r i e d r i c h 54 NESTLER, E r i c h 27, 30, 3 5 - 3 7 , 76, 80, 122, 159, 186, 2 2 6 , 2 8 9 f. NEUSER, W i l h e l m H . 4, 62, 140, 2 0 4 , 3 0 5 , 3 0 7 f., 3 1 3 NIEBERG ALL, A l f r e d 56 NIEBERGALL, F r i e d r i c h 2 4 , 3 3 0 , 3 3 4 , 350, 352, 384, 395 NLECHCIOL, F. [?] 2 8 0 NIETZSCHE, F r i e d r i c h 8, 14, 58, 6 7 , 71, 74, 76, 9 5 - 9 7 , 1 0 2 - 1 0 8 , 113, 121, 137, 140, 158, 161, 168, 170, 2 5 4 , 2 8 6 , 3 7 1 , 3 7 9 , 398 NLPKOW, Karl E r n s t 186, 2 5 8 , 2 9 6 , 332, 334, 365, 391-393, 400 NITZSCH, Carl I m m a n u e l 3 8 5 NOWAK, K u r t 2 3 , 112, 120, 3 0 4 , 361 OETINGER, F r i e d r i c h C h r i s t o p h 152 OLENHUSEN, I r m t r a u t G ö t z v o n 142 OSER, F r i t z 63, 4 0 0 ΟSLANDER, A n d r e a s 3 2 3 OTTO, G e r t 3 8 7 OTTO, R u d o l f 2 8 6 , 3 0 4 PASCAL, B l a i s e 57, 59 PÄSCHKE, B e r n d 3 8 7 PAULUS ( A p o s t e l ) 92, 152, 163, 198, 253, 264, 367 PETERS, A l b r e c h t 188 PFISTER, O s k a r 178 PIPER, O t t o 3 2 6
464
Namensregister
PLANCK, O s k a r 46, 65, 202, 3 0 1 PLATON 1 7 0 , 2 6 9 f . , 3 7 1
PLOG, U r s u l a 105
PÖHLMANN, Horst Georg 108 PROLINGHEUER, H a n s 2 8 1
RAD, Gerhard v. 17 f., 55 RADE, M a r t i n 24, 3 0 4 RATSCHOW, C a r l - H e i n z 2 3 1 RATZINGER, J o s e f 26, 2 7 4
RAU, Werner 38 f., 50 REDEKER, Martin 306-308
SCHARFENBERG, J o a c h i m 47, 3 0 1 SCHEIDT, [?] 3 5 8 - 3 6 1 SCHELER, M a x 8, 11, 13, 3 7 , 5 2 - 5 9 ,
64, 71, 96, 187, 198, 374 SCHELLING, Friedrich Wilhelm Joseph 38 SCHEMPP, P a u l 3 9 SCHLAFFHORST, C l a r a 165, 2 7 9 SCHLEGEL, F r i e d r i c h 64 SCHLEIERMACHER, F r i e d r i c h 9,
48,
64, 99, 130, 198, 222, 282, 383
REEPEN, M i c h a e l 2 6 2 REICH, W e r n e r 2 6 5 , 4 0 7 REICHELT, W e r n e r 2 2 1 REINHARDT, P a u l 39, 50, 147, 323 f. REITZENSTEIN, R i c h a r d 2 6 9 RENDTORFF, H e i n r i c h 2 9 2 , 3 3 7 RENDTORFF, T r u t z 3 9 8 , 4 0 0
SCHLINK, E d m u n d 2 5 3
RicceuR, Paul 124
SCHOLDER, K l a u s 2 3 , 3 5 , 113, 3 2 7 ,
RIESS, R i c h a r d 4 6 RITSCHL, A l b r e c h t 3 6 6 RITTELMEYER, F r i e d r i c h 6-8, 17, 24,
105, 121 f., 126, 208, 299, 310, 323, 3250f., 352, 355 RITTER, Karl Bernhard 16, 25, 30, 87 f., 97, 130, 135, 190, 207, 210, 214, 232, 253, 271, 273 f., 299, 302, 351, 379 ROBERTSON, E d w i n 7 ROGERS, Carl 3 8 5 ROSENBERG, A l f r e d 3 5 2 ROSENKRANZ, G e r h a r d 2 1 3
Dietrich 354 f., 377 f., 380, 383-386, 388 f., 394 f., 398-401, 405
RÖSSLER,
ROUSSELLE, E r w i n 2 0 2 RÜTER, H a n s 357, 3 6 0 f., 363
SAATHOFF, A l b r e c h t 335 SAATWEBER, M a r g a r e t e 165 SAUTERMEISTER, G e r t 74 SCHAFFT, H e r m a n n 87 f.
SCHMIDT, Friedrich 308, 313, 339
Wilhelm
306,
SCHMIDT, H e i n z 86, 116, 3 9 8 , 4 0 7 SCHMIDT, M a r t i n 194 SCHMIDT-LAUBER, Hans-Christoph
202, 245, 250, 254, 271, 274 f. 347 SCHOPENHAUER, A r t h u r 168, 170 SCHRÖER, H e n n i n g 3 8 4 , 3 9 3 SCHULTZ, C l e m e n s 3 2 SCHULZ, F r i e d e r 29, 2 4 4 , 2 8 8 SCHÜTZ, Heinrich 2 7 9 SCHÜTZ, O s c a r 103, 106, 108 SCHWEITZER, A l b e r t 13, 78, 97, 2 6 9 ,
323 SCHWEITZER,
Friedrich
337,
377,
391-393, 395 f. SEILER, G o t t f r i e d 20 SEQUEIRA, A. R o n a l d 2 6 1 SEYBOLD, [?] 3 0 4 , 3 5 6 - 3 5 8 , 3 6 0 f.,
363 SODEN, H a n s v. 3 0 4 SÖHNGEN, O s k a r 2 8 1 SOLLE, D o r o t h e e 3 6 8 SOLOWJEW, W l a d i m i r 141
SPENER, Philipp Jakob 313 SPENGLER, O s w a l d 78, 117, 3 7 1 SPIEGEL, Y o r i c k 158, 2 9 7 SPIEKER, R u d o l f 25 SPINOZA, B e n e d i c t u s de 57
465
Namensregister
SPRANGER, E d u a r d 82, 86, 334, 337,
367 STAHL, Friedrich Julius 1 9 6 , 1 9 8
147,
STECK, Wolfgang 64, 342 STEINER, Rudolf 87, 208, 225, 227, 299
STOLLBERG, Dietrich 301, 385 STRECKER, Georg 142 STROHM, Christoph 24, 111 SÜLZE,
URNER, Hans 3, 131 VLLMAR, 196
August Friedrich Christian
VOELKEL, Martin 87 f., 143, 197 VOIGT, Gottfried 254 VULPIUS, Melchior 313
WAGNER, C. Peter 324 WAGNER, Richard 15 WALBE, ERNST 3 5 8 , 3 7 4
WEBER, Otto 196, 323 WEDER, Hans 126 f., 129 WEGENAST, Klaus 385 WELSCH, Wolfgang 391, 409
Emil 3 4 8
TACKE, Helmut 406 TAINE, Hippolyte 5 f.
Heinz Dietrich 44, 120, 190, 194, 197, 228, 288, 315, 379 WERNER, Charles 154 WLLPERT, Gero v. 125 WINKLER, Klaus 46, 385 WENDLAND,
TEPP, M a x 1 5 8 - 1 6 0 , 163, 182, 2 6 2 TERTULLIAN 2 6 9 , 3 1 8
THIELICKE, Helmut 47 THOMAS, Wilhelm 6 0 , 8 7 , 190 THURNEYSEN, Eduard 4 7
f.
TILLICH, Paul 38, 52 f., 60 f., 82, 8 8 , 1 2 2 - 1 2 5 , 133, 136, 2 3 1 , 240, 356, 368 TOBOLL, Horst Dieter 3 2 - 3 4 , 8 0 , 8 7 , 1 8 6 f., 2 2 6 , 3 5 5 TOLLER, Ernst 3 1 0
WINKLER, Michael 161 WOBBERMIN, Georg 9
Hanna 344 WosiEN, Maria-Gabriele 182 WOLFF,
WOYTYLA, Karol 57 WYNEKEN, Gustav 73
TRILLHAAS, W o l f g a n g 16, 19, 38, 54 f., 9 6 , 2 3 4 , 3 0 6 , 3 2 5 TROMMLER, Frank 1 5 0 TÜRCKE, C h r i s t o p h 1 0 3 - 1 0 6 , 137, 158
113,
301
STÄHLIN, Rudolf 313 STALLMANN, Edith 112, 189 STALMANN, Joachim 265, 407 STALLMANN, Martin 112, 189 STANGE, Erich 348 STAPEL, Wilhelm 15 f., 21, 88, 97, 112-115, 117, 141-143, 182, 197, 369, 371
UHLHORN, Gerhard 241 UHSADEL, Walter 32, 34, 44,
108,
ZIEGLER, Ulf Erdmann 163 ZUCKMAYER, Carl 67 ZWINGLI, Huldrych 318
An die Freunde Vertrauliche d. i. nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Mitteilungen
(1903-1934) Nachdruck mit einer Einleitung von Christoph Schwöbel Quart. XXIV, 618 Seiten. 16 Beilagen. 1993. Ganzleinen. ISBN 3-11-013675-9 Die 1903 gegründete „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt" scharte sich um die gleichnamige Zeitschrift „Die Christliche Welt" und war eines der wichtigsten theologischen und kirchenpolitischen Diskussionsforen der Kaiserzeit und der Weimarer Republik. Alles, was im deutschen liberalen Protestantismus Rang und Namen hatte, wie etwa Adolf von Harnack, Ernst Troeltsch, Friedrich Naumann und Martin Rade, gehörte dazu. Die Vertraulichen Mitteilungen „An die Freunde" dienten dem internen Dialog dieses Kreises und stellen ein einzigartiges kirchen- und theologiegeschichtliches Dokument dar, das bislang nur in Form eines einzigen, komplett erhalten gebliebenen Exemplares existierte.
PAUL TILLICH
Frühe Predigten (1909-1918) Herausgegeben von Erdmann Sturm Oktav. XII, 686 Seiten. 1994. Gebunden. ISBN 3-11-014083-7 (Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken, Band VII) Erstedition von insgesamt 173 Predigten, die der junge Theologe und Philosoph Paul Tillich in den Jahren 1909 — 1914 in Kirchengemeinden in Berlin und Umgebung sowie als Feldprediger während des ganzen 1. Weltkrieges an der Westfront (1914—1918) gehalten hat. Ihr Grundthema ist das spannungsreiche Verhältnis von Gott, Seele und Welt.
Christianity and Modern Politics Edited by Louisa S. Hulett 1993. Large-octavo. IX, 453 pages. Cloth ISBN 3-11-013462-4 Paperback ISBN 3-11-013461-6 Anthology of writings on Religion and Politics in the United States of America Sample contents: Definitions of Christianity, Civil Religion, and Politics · Separation of Church and State in America • Religious Freedom and the Supreme Court · The Rise of Christian Fundamentalism • Fundamentalism versus Secular Humanism · Just War Doctrine · Pacifism and Nuclear Ethics · Liberation Theology
Walter de Gruyter
W G DE
Berlin · New York