Die Gefährdung von Leben und Leib durch Geiselnahme (§§ 239a, 239b StGB) [1 ed.] 9783428504886, 9783428104888

Die Mängel, die den Vorschriften gegen erpresserischen Kindesraub ("Kidnapping") anhafteten (§§ 239a 1936, 239

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Die Gefährdung von Leben und Leib durch Geiselnahme (§§ 239a, 239b StGB) [1 ed.]
 9783428504886, 9783428104888

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MARKUS IMMEL

Die Gefährdung von Leben und Leib durch Geiselnahme(§§ 239a, 239b StOB)

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Sclunidhäuser em. ord. Professor der Rechte an der Universität Harnburg

und Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 138

Die Gefährdung von Leben und Leib durch Geiselnahme (§§ 239a, 239b StGB)

Von

Markus Immel

Duncker & Humblot · Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Ulrich Berz, Bochum Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Immel, Markus: Die Gefahrdung von Leben und Leib durch Geiselnahme (§§ 239a, 239b StGB) I Markus Imme!. Berlin: Duncker und Humblot, 2001 (Strafrechtliche Abhandlungen ; N.F., Bd. 138) Zug!.: Bochum, Univ. , Diss., 2000 ISBN 3-428-10488-9

D294 Alle Rechte vorbehalten

© 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-10488-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 €9

Meinen Eltern

"Die Ungewißheit ist die größte Belastung." Hanns Martin Schleier

Vorwort Das Strafgesetzbuch kennt keinen einheitlichen Geiselnahmetatbestand. Es unterscheidet vielmehr zwischen der Geiselnahme nach § 239b und dem erpresserischen Menschenraub (§ 239a). Vordergründig wird dabei an das vom Täter verfolgte Tatziel angeknüpft, das in dem einen Fall in einer Nötigung, in dem anderen in einer Erpressung besteht. Historisch aber erklärt sich die Unterscheidung aus dem Deliktsbild des "Kidnapping". Dieses Deliktsbild war in den früheren Tatbeständen gegen erpresserischen Kindesraub vertypt (§§ 239a 1936, 239a 1953). Fälle wie die Entführung des Sohnes von Charles A. Lindbergh im Jahre 1932 standen Pate. Das Anliegen meiner Untersuchung zur "Gefährdung von Leben und Leib durch Geiselnahme (§§ 239a, 239b StOB)" besteht zunächst darin, die Sachwidrigkeit der umschriebenen Zielunterteilung aufzuzeigen, um von hier aus Impulse für ein mögliches künftiges Recht, das die Geiselnahme widerspruchsfrei in einem Tatbestand fixiert, zu geben (hierzu vor allem 2. Kap.). Danach soll das Fundament der geltenden Regelung gelegt werden, was nur unter besonderer Berücksichtigung der Wertungen des Nötigungsstrafrechts gelingen kann (2. und 3. Kap.). Damit ist eine hinreichende Basis für die Lösung des praktischen Falles geschaffen, dem ich mich sodann widmen werde (4. Kap.). Den Abschluß der Arbeit bildet die Erörterung der Rücktrittsvorschriften der§§ 239a Abs. 4, 239b Abs. 2 (5. Kap.). Ein Vorspann rundet das Bild ab. Er soll einerseits den historischen Gesamtzusammenhang sowie den Ursprung einzelner hermeneutischer Zweifelsfragen offenlegen, andererseits aber auch den Blick für das weitere Vorgehen schärfen; es gilt, einen methodischen Leitsatz zu formulieren, der in etwa lautet: Das Defizit an tatbestandlieber Eingrenzung im Verbund mit der Exorbitanz der Strafdrohungen indiziert Lösungsmodelle, die tendenziell restriktiv ausgerichtet sind (1. Kap.). Der minder schwere Fall (§§ 239a Abs. 2, 239b Abs. 2) verkörpert ein Institut des Strafzumessungsrechts. Er wird daher ebenso vernachlässigt wie das den allgemeinen Strafrechtslehren zuzuordnende erfolgsqualifizierte Delikt(§§ 239a Abs. 3, 239b Abs. 2). Was die Einordnung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 im Einzelfall anbelangt, so mag der Leser sich bereits jetzt die engen Bezüge der Vorschriften zu den Nötigungsdelikten des Besonderen Teils vor Augen führen. Die Reflexion jener Bezüge ist für das Verständnis der Arbeit unverzichtbar. Man muß sich an folgendem Tenor orientieren: Ein Rekurs auf die§§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1 kommt nur in Betracht, wenn der Tatplan die Erpressung/Nötigung eines anderen unter Ausnut-

10

Vorwort

zung personaler Herrschaft vorsieht. Diesen Unrechtskern hat der Gesetzgeber in zwei Tatmodalitäten gegossen, die Absichts- und die Ausnutzungsmodalitäten. Strafgrund der Absichtsmodaliäten (§§ 239a Abs. I Hs. 1, 239b Abs. I Hs. 1) ist die Gefangennahme (in der "Sprache des Gesetzes": Entführung, Sichbemächtigung) eines anderen in der Absicht, diesen anderen oder einen Dritten unter Verweis auf die Gefangenschaft zu erpressen I zu nötigen (unvollkommen zweiaktiges Delikt); als Nötigungsmittel müssen bestimmte qualifizierte Drohungen in Aussicht genommen werden. Die Ausnutzungsmodalitäten (§§ 239a Abs. I Hs. 2, 239b Abs. I Hs. 2) erfassen dagegen denjenigen, der die besagte Gefangenschaft herbeiführt und sodann zu einer Erpressung/Nötigung im beschriebenen Sinne schreitet (vollkommen zweiaktiges Delikt). Den Ausgangspunkt der intrasystematisch notwendigen Weichenstellung bilden die Zielvorstellungen des Täters im Zugriffszeitpunkt: Wird die Herbeiführung der Gefangenschaft von der qualifizierten Erpressungs- I Nötigungsabsicht getragen, so greifen die Absichtsmodalitäten ein; wird der qualifizierte Erpressungs- I Nötigungsvorsatz erst später, also im Zuge der Erhaltung der Gefangenschaft, gefaßt, so finden die Ausnutzungsmodalitäten Anwendung.

Die Arbeit lag in nicht nennenswert abweichender Fassung im Wintersemester I999 I 2000 der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation vor. Rechtsprechung und Lehre wurden auf den Stand August 2000 gebracht. Die Monographien von Marko Brambach, Probleme der Tatbestände des erpresserischen Menschenraubes und der Geiselnahme, Berlin 2000 und Markus Rheinländer, Erpresserischer Menschenraub und Geiselnahme (§§ 239a, 239b StGB), Münster 2000 mußten jedoch unberücksichtigt bleiben. Ich danke Herrn Professor Dr. Ulrich Berz für die wissenschaftliche Betreuung und den Herren Professoren Dres. Eberhard Schmidhäuser und Friedrich-Christian Schroeder für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Strafrechtlichen Abhandlungen. Für die Erstellung des Zweitgutachtens zeichnete Frau Professorin Dr. Ellen Schlüchter [t] verantwortlich. Auch ihr gebührt mithin mein Dank - wie überhaupt mein und unser aller Gedenken. Essen, im Januar 200I

Markus lmmel

Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel Die Entstehungsgeschichte der §§ 239a, 239b

27

A. Das Gesetz gegen erpresserischen Kindesraub vom 22. 06. 1936 . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

I. Die Genese des § 239a 1936 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

II. § 239a 1936 in Rechtsprechung und Lehre .. ... . . .. . . .. . . . ....... ...... . .. . . . .

28

B. Das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 04. 08. 1953 (Strafrechtsbereinigungsgesetz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

I. Die Genese des§ 239a 1953 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

Il. § 239a 1953 in Rechtsprechung und Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

C. Die Reformentwürfe der Jahre 1962 und 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

I. Die Genese des§ 165 E 1962........ . ........ . ...... . .......... . .. . .. .. .. . .. .

33

II. Die Genese des§ 120 AE 1970 . .......... . ... . ... . .. . .......... . ......... . ...

34

D. Das Zwölfte Strafrechtsänderungsgesetz vom 16. 12. 1971 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

I. Die Genese der §§ 239a 1971 , 239b 1971 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

1. Das Ende des Tatbestandes gegen erpresserischen Kindesraub . . . . . . . . . . . . .

36

a) Die Ausweitung des Kreises potentieller Tatopfer auf den "anderen"

36

b) Die Entscheidung gegen einen einheitlichen Geiselnahmetatbestand

37

2. Die tatbestandliehe Ausgestaltung des erpresserischen Menschenraubs I der Geiselnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

3. Der Rücktritt von der Vollendung des erpresserischen Menschenraubs/ der Geiselnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

II. Die§§ 239a 1971, 239b 1971 in Rechtsprechung und Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

1. Grundsatz: Keine Anwendung der Vorschriften im Zwei-Personen-Verhältnis ............ . .......... . .. ..... . . . ... . ....... . .. . . .. . . . ........ . .. .. . . . ..

45

2. Scheinbare Ausnahme: Anwendung der Vorschriften im verkappten DreiPersonen-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

12

Inhaltsverzeichnis

E. Das Artikelgesetz vom 09. 06. 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

I. Die Genese der§§ 239a 1989, 239b 1989...... . ... . .................... . ... . .

47

I. Die Entwürfe des Jahres 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

2. Die Entwürfe der Jahre 1988 / 89 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

a) Die Novellierung des§ 239b 1971 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

aa) Die Novellierung des Strafrahmengefüges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

bb) Die Novellierung der Unrechtsumschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

(a) Die gesetzliche Festschreibung des Zwei-Personen-Verhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

(b) Die Ausweitung des Drohmittelkatalogs auf die mehr als einwöchige Freiheitsentziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

b) Die Novellierung des§ 239a 1971 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

II. Die §§ 239a 1989, 239b 1989 in Rechtsprechung und Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

F. Das Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 26. 01. 1998 . . . . . . . . . . . . . . . .

55

G. Zusammenfassende Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

H. Ausblick auf den weiteren Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

2. Kapitel

Das Wesen der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1

62

A. Die Rechtsgüter der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

I. Die unterschiedlichen Einordnungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

I. Die Einordnung des § 239a Abs. I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

a) Echte Kombinationsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

b) Die Betroffenheit mehrerer Opfer; die besondere Perfidie der Erpressung eines unbeteiligten Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

c) Schwerpunktbegründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

2. Die Einordnung des § 239b Abs. I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

a) Echte Kombinationsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

b) Die Betroffenheit mehrerer Opfer; die besondere Perfidie der Nötigung eines unbeteiligten Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

c) Schwerpunktbegründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

Inhaltsverzeichnis

13

II. Kritische Stellungnahme und eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

1. Differenzierende oder einheitliche Schutzgutskonzeption? . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

a) Die legislatorische Begründung der Zielunterteilung der §§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1: Wertwidrigkeit des Tatziels .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..

67

aa) Beachtung der Wertungen der§§ 105 Abs. I, 106 Abs. I, 107 Abs. I, 108 Abs. 1, 121 Abs. 1 Nr. 1 Alt. I, 177 Abs. 1? .. ...... .. .. ....

68

bb) Beachtung der Wertungen des§ 113 Abs. I Alt. 1, Abs. 3 S. 1? .. ..

69

cc) Beachtung der Wertungen der§§ 249 Abs. 1, 252? . . . . . . . . . . . . . . . .

71

(a) Der Grad an Übereinstimmung der§§ 253 Abs. I, 249 Abs. I

72

(b) Der Grad an Übereinstimmung der§§ 253 Abs. I, 252 . . . . . . . .

74

dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

b) Die mögliche Alternativbegründung der Zielunterteilung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1: Unrechtsüberhang der Erpressung . . . . . . . . . . . . . . . .

76

aa) § 253 Abs. 1 als "besonderes" Nötigungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

bb) § 253 Abs. I als "besonders unrechtsintensives" Nötigungsdelikt . .

78

c) Ergebnis; Folgerungen . .. .. .. .. .. .. .. . .. . .. .. . .. .. .. . .. . .. .. .. .. . .. .. ..

78

2. Kritik an den einzelnen Schutzgutskonzeptionen ... : . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

a) Betroffenheit mehrerer Opfer? Besondere Perfidie der Erpressung I Nötigung eines unbeteiligten Dritten? . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . .. . .. . . . . .. . .

79

b) Schwerpunktmäßiger Schutz des Vermögens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

aa) Generelle Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

bb) Einwände gegen die Erpressungskonzeption von Maurach . . . . . . . . .

80

cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . .

84

c) Schwerpunktmäßiger Schutz der Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit des zu Nötigenden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

aa) Grammatikalische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

bb) Historische Erwägungen .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. ..

87

cc) Systematische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

d) Schwerpunktmäßiger Schutz des Opfers?

94

aa) Schwerpunktmäßiger Schutz der Fortbewegungsfreiheit des Opfers? . . . . . . . . . . . . . .. . ... .. ... . . . . . . . . . . . . . .. .. ..... . ... . ....... .

95

(a) Einwände gegen den Verweis auf§ 239 Abs. I . . . . . . . . . . . . . . . .

95

14

Inhaltsverzeichnis (b) Einwände gegen den Verweis auf § 234 Abs. 1

99

(c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 bb) Schwerpunktmäßiger Schutz des Lebens und I oder Leibes des Opfers? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 (a) Die Gefährlichkeit der Drohung (Backmann und andere) . . . . . . 100 (aa) Einwände gegen den Verweis auf die Ausweitung des Drohmittelkatalogs des§ 239b Abs. 1 1971 auf die Freiheitsenziehung von über einer Woche Dauer . . . . . . . . . . . . . 102 (bb) Einwände gegen den Verweis auf das Fehlen eines Droh105 mittelkatalogs bei § 239a Abs. 1 00

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(cc) Der Verweis auf den impressionalistischen Charakter der Drohung 105 00

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(dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 (b) Die eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 (aa) Einwände gegen den Verweis auf das Absinken der statistischen Todeswahrscheinlichkeit von sehr hoch auf vergleichsweise gering . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 (bb) Einwände gegen den Verweis auf die Einfügung des Zwei-Personen-Verhältnisses 110 (cc) Ergebnis (c) Ergebnis ... e) Ergebnis . ....

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B. Die Deliktsnatur der§§ 239a Abs. l, 239b Abs.l... . . ... ......... . .......... . .. . . 113 I. Die unabdingbare Gleichstellung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 . . . . . . . . . . . . 113 II. Folgerungen ....

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1. Grammatikalische Erwägungen .. .. . . .

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2. Historische Erwägungen ......... . .......... .. ..





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3. Strukturelle Erwägungen .. . ... . ..... .. . ... . .. .. . .. . .......

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a) Der Verzicht auf das Erfordernis eines konkreten Gefahrenerfolges aus Gründen anderenfalls befürchteter Beweisnot (Backmann) . . . . . . . . . . . . . 115 b) Die eigene Ansicht . c) Ergebnis 4. Ergebnis ..

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111. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 C. Abschließende Bemerkungen zur Konkretisierung des Begriffs "Leibes"Gefahr ... . . .. .. ..... . ........ . .. . .. . ......... . .... . . .. .. . .... .. ..... . . . ... . . . . . ... . 118

Inhaltsverzeichnis

15

3. Kapitel Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten des Besonderen Teils

121

A. Die Erforderlichkeil einer Hannonisierung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 mit den Nötigungsdelikten des Besonderen Teils ("Ob") •• . ••••• .• . ••••.. .. ... ....... 123 I. Das Zwei-Personen-Verhältnis....................... . ................. . .. . ... 123 I. Grammatikalische Erwägungen .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. 123

2. Historische Erwägungen . . . .. . . .. . . .. .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . .. . . . . . .. .. . 124 3. Strukturelle Erwägungen . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . . .. .. . . . . . . . . . . . . . 127 a) Die systematischen Friktionen zwischen den §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 und den Nötigungsdelikten des Besonderen Teils . . . . . . . . . . . . . . . 127 aa) Die Vorverlegungsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 bb) Die Strafrahmenproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 b) Die Systemwidrigkeit der aufgezeigten Friktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 aa) Der tatzielorientierte Ansatz (von BGHSt 39, 36 und andere) . . . . . . 131 (a) Einwände gegen den Verweis auf die Angemessenheil des zu erzielenden Ergebnisses .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. . 133 (b) Einwände mit Blick auf die systematische Konzeption des Nötigungsstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 (c) Einwände mit Blick auf die systematische Konzeption der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . 136 (d) Ergebnis .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. 137 bb) Der allgemeingültige Ansatz der herrschenden Meinung: die eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 (a) Die Argumente für eine textkonforme Lösung (Graul und andere); kritische Stellungnahme . .. . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . 138 (b) Die Argumente gegen eine textkonforme Lösung . . . . . . . . . . . . . . 140 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 II. Das Drei-Personen-Verhältnis .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. . .. .. . .. .. .. . .. .. .. .. 141 I. Die unabdingbare Gleichstellung sämtlicher Personen-Konstellationen der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

2. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 a) Grammatikalische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . 143 b) Historische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

16

Inhaltsverzeichnis c) Systematische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 aa) Einwände gegen den argumentativen Automatismus der herrschenden Meinung. . .............. . ... . ..... . ....... . ................... 145 bb) Einwände gegen Zaczyks Deutung der Drei-Personen-Verhältnisse als bloße Lückenfüller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

B. Die Instrumentarien zur Einschränkung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 ("Womit") . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 I. Die Konkurrenzlösung (von Geerds und Fahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 1. Die Voraussetzungen der Gesetzeseinheit ..... . ... . . .. . 0..... ....... ...... . 149

a) Die Spezialität ....... . . ... ......... 0...... 0.. . . . ..... 0.......... . ...... 150 b) Die Subsidiarität ..... . 0. 0........ 0. . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 c) Die Konsumtion . .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. . . .. .. . .. .. . .. .. .. .. . .. .. .. .. 152 d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2. Die Rechtsfolgen der Gesetzeseinheit .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. 154 a) Die (fehlenden) Auswirkungen der Gesetzeseinheit auf die Strafbarkeit des Tatbeteiligten . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . .. . . . .. . . . . . . .. . . . . 154 b) Die (fehlenden) Auswirkungen der Gesetzeseinheit im übrigen . . . . . . . . . !54 3. Ergebnis .. . ...... .. .... . . . ..... .. .. . . .. 0. ......... ................. .. .. . ... 157 II. Die Tatbestandslösung (der herrschenden Meinung) . . ...... 0.... . . .... . ... . .. 157 1. Die methodologischen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. .. .. .. .. . . . . 158

a) Die Rechtsfortbildung secundum Iegern . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. . .. . 158 b) Die Rechtsfortbildung praeter und contra Iegern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 aa) Die Voraussetzungen der Rechtsfortbildung praeter und contra Iegern . .... . . .. .... ..... ... . . . . ... . .. .. .. . . .. . ... ... .... . . . . . ...... 159 bb) Die Folgen der Rechtsfortbildung praeter und contra Iegern (im Strafrecht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2. Die erwogene Einschränkung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 im Lichte der allgemeinen Methodenlehre............... . ..... ..... .. ... . .. .. . . ...... 161 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Inhaltsverzeichnis

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C. Die Kriterien zur Einschränkung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 ("Wie") . . . . . . 163

I. Der Stand der Diskussion (zum Zwei-Personen-Verhältnis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 1. Die Stellungnahmen des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 a) Die Lösung des Ersten Senats (Das Kriterium der Divergenz der Nötigungsmittel; das Kriterium der Außenwirkung des abzunötigenden Verhaltens) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 aa) Die Ansicht von BGHSt 39, 36 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 bb) Die Ansicht von BGHSt 39, 330 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 cc) Die Außenwirkungstheorie in der praktischen Rechtsanwendung . . 167 b) Die Lösung des Fünften Senats (Das Kriterium des unmittelbaren Bevorstehens der Realisierung der Drohung aus Opfersicht) . . . . . . . . . . . . 169 c) Die Lösung des Zweiten Senats (Das Entführungskriterium) . . . . . . . . . . . 170 d) Die Lösung des Großen Senats (Das Kriterium der stabilisierten und gerade deshalb tatbestandsrelevant ausnutzbaren Herrschaftslage) . . . . . . 171 aa) Die Ansicht von BGHSt 40, 350 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 bb) Die Ansicht des Großen Senats in der praktischen Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . 172 2. Die literarischen Stellungnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 a) Die Aufnahme der skizzierten Rechtsprechung im allgemeinen . . . . . . . . 173 b) Die Lösung von Heinrich (Das Kriterium der Opferreaktion, welche über die bloße- passive- Duldung einer weiteren Straftat hinausreicht) 174 II. Kritische Stellungnahme und eigene Ansicht .. . . .. . .. .. .. .. .. .. . .. .. . . .. . .. .. 174 1. Das Kriterium der Divergenz der Nötigungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 a) Übertragbarkeit des Kriteriums auf die Drei-Personen-Verhältnisse? . . . 175 b) Die sachliche Angemessenheil des Kriteriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 aa) Chronologische Zweiaktigkeit der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I ? . . 175 bb) Formale oder materielle Abschichtung von Entführung beziehungsweise Sichbemächtigung und Nötigung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2. Das Kriterium der Außenwirkung des abzunötigenden Verhaltens . . . . . . . . . . 179 a) Übertragbarkeit des Kriteriums auf die Drei-Personen-Verhältnisse? . . . 179 b) Die sachliche Angemessenheil des Kriteriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 aa) Einwände vonseitendes Bestimmtheilsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . 180 2 Imme!

18

Inhaltsverzeichnis bb) Einwände gegen das Kriterium selbst

180

(a) Konzeptionelle Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (aa) Die Außenwirkung des "tatbestandlichen Erfolges der Nötigung" (erste Fallgruppe des Ersten Senats) . . . . . . . . . . 181 (bb) Die Außenwirkung einer dem Opfer abgenötigten Erklärung (zweite Fallgruppe des Ersten Senats) oder sonstigen Reaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 (b) Sonstige Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 3. Das Kriterium des unmittelbaren Bevorstehens der Realisierung der Drohung aus Opfersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 a) Übertragbarkeit des Kriteriums auf die Drei-Personen-Verhältnisse? . . . 187 b) Die sachliche Angemessenheit des Kriteriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 aa) Einwände gegen den Verweis auf die fehlende Praktibilität des Kriteriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 bb) Sonstige Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 4. Das Entführungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 a) Übertragbarkeit des Kriteriums auf die Drei-Personen-Verhältnisse? . . . 190 b) Die sachliche Angemessenheil des Kriteriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 5. Das Kriterium der stabilisierten und gerade deshalb tatbestandsrelevant ausnutzbaren Herrschaftslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 a) Übertragbarkeit des Kriteriums auf die Drei-Personen-Verhältnisse? . . . 193 b) Die sachliche Angemessenheit des Kriteriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 aa) Einwände gegen die vom Großen Senat behauptete Tatbestandstreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 bb) Sonstige Einwände . .. . .... . ..... . ... . . .. . .. . ...... . ...... . . . . . .. . . 195 (a) Die problematische Handhabung des Kriteriums durch die höchstrichterliche Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 (b) Die Verfehltheit der Einschränkung schon des objektiven Tatbestandes der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . 197 c) Ergebnis . .. .. . . . . . . . .. . .. .. .. . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . .. . . . . . . . .. . . .. . 199 6. Das Kriterium der Opferreaktion, welche über die bloße - passive - Duldung einer weiteren Straftat hinausgeht . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. . .. .. . 199 a) Übertragbarkeit des Kriteriums auf die Drei-Personen-Verhältnisse? . . . 199 b) Die sachliche Angemessenheil des Kriteriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Inhaltsverzeichnis

19

7. Die Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 a) Die Lebens- und Leibesgefährlichkeit der Nötigung aus der Sicht des Nötigungsdelikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 aa) Die Wertungen der§§ 177 Abs. 3, 4, 178, 250 Abs. 1, 2, 251 . .. . .. 202 bb) Die Wertungen der übrigen Nötigungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 (a) Die Wertungen der§§ 113 Abs. 2 S. 2, 121 Abs. 3 S. 2 . . . . . . . . 207 (b) Die Wertungen der§§ 105 Abs. 1, 106 Abs. !, 107 Abs. !, 108 Abs. !, 113 Abs. 1 Alt. 1, 121 Abs. I Nr. I Alt. 1, 177 Abs. I, 240 Abs. I, 2, 249 Abs. I, 252, 253 Abs. I, 255 .. . . . . . . . . . . . .. 212 (aa) Die Wertungen "im Grenzbereich" der §§ 113 Abs. 2 S. 2, 121 Abs. 3 S. 2, 177 Abs. 2 S. 2 Nr. 2, Abs. 3, 4, 178, 250 Abs. 1, 2, 251 ....... . ... . ... . ................. . ..... 212 (bb) Sonstige Wertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 b) Die Ausklarnrnerung nötigungsstrafrechtlich "besetzter" Gefährlichkeitsaspekte aus den §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 aa) Die Gefahren, die unmittelbar mit der vorn Täter in Aussicht genommenen Drohung zusammenhängen (Realisierungsgefahren) . . . 216 bb) Die Gefahren der ersten und dritten Gefahrenstufe . . . . . . . . . . . . . . . . 217 cc) Die Gefahren der (zentralen) zweiten Gefahrenstufe . . . . . . . . . . . . . . . 218 (a) Die verbrechenssystematische Verankerung des Kriteriums . . . . 219 (b) Einwände gegen den (zu erwartenden) Verweis auf die unzureichende Bestimmtheit des Kriteriums; Leitlinien für eine (erste) Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 D. Abschließende Bemerkungen zum künftigen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

4. Kapitel

Die Unrechtsmerkmale der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1

227

A. Die gemeinsamen Unrechtsmerkmale der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1

227

I. Die gemeinsamen geschriebenen Unrechtsmerkmale der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 . ... . .......... . ...... . ...... . ....... . ..... .. .. . .. . ........... . .. . .. . . . . 227 1. Die Entführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

a) Die Handlungskomponente des Entführungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 aa) Die räumlichen Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 bb) Die zeitlichen Anforderungen . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . .. . . . 232 2*

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Inhaltsverzeichnis b) Die Erfolgskomponente des Entführungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 aa) Erfolgsneutrale oder erfolgsorientierte Deutung des Entführungsbegriffs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 (a) Grammatikalische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 (b) Historische, systematische und teleologische Erwägungen . . . . . 236 (c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 bb) Der Inhalt der "Lage" des Opfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 (a) Grammatikalische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 (b) Historische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 (c) Systematische und teleologische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 (d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 c) Ergebnis .. . . . . . .. . . . . .. .. . . .. . . . . . . .. .. .. .. .. . .. . . . .. . . .. . .. . . . . . . . .. . . 246 2. Die Sichbemächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 a) Ausgangspunkt und Verminderung sozialer Geborgenheit . . . . . . . . . . . . . . 246 aa) Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 bb) Sichbemächtigung als Verminderung sozialer Geborgenheit? . . . . . . 247 b) Sichbemächtigung durch scheinbar gefahrliehe Drohung? . . . . . . . . . . . . . . 251 c) Sichbemächtigung durch Tötung des Opfers? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 d) Sichbemächtigung durch Fortführung eigener Herrschaft "unter geänderten Vorzeichen"? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 aa) Einwände gegen das Intensivierungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 bb) Die eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 (a) Die Veränderung der Herrschaftsrichtung als subjektives Entscheidungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 (aa) Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 (bb) Leitlinien für die Abgrenzung der tatbestandsrelevanten von der tatbestandsirrelevanten Herrschaftsrichtung . . . . . 262 (b) Die Manifestierung der Richtungsänderung als objektives Entscheidungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 cc) Ergebnis .. . . . .. .. . . . . . .. . . .. . . . . . . .. . .. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 e) Sichbemächtigung durch schlichte Übernahme tatsächlicher Herrschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . . . . . . 266 f) Sichbemächtigung bei kollusivem Zusammenwirken von Tater und

Opfer? . . ..... .. ... . . .... . . . . . .... .. .. .. .. . .. ... ........ .. ... . . .. .. . .... 269

Inhaltsverzeichnis

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g) Sichbemächtigung bei der Ersatzgeiselnahme? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 aa) Einwände gegen den Verweis auf das erzwungene Verbleiben im fremden Herrschaftsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 bb) Einwände gegen den Verweis auf das Fehlen einer legalisierenden Wirkung der Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 cc) Einwände gegen den Verweis auf die fehlende Disponibilität beziehungsweise Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 dd) Die eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 (a) Der Eintritt in den fremden Herrschaftsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . 275 (b) Das Verbleiben im fremden Herrschaftsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . 278 ee) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 h) Sichbemächtigung durch Unterlassen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Il. Die gemeinsamen ungeschriebenen Unrechtsmerkmale der §§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 l. Die Gefährdung des Lebens und I oder Leibes des Opfers als ungeschriebenes Unrechtsmerkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

2. Die Ausrichtung der Tat auf ein zeitlich hinreichend gestrecktes Herrschaftsverhältnis als ungeschriebenes (subjektives) Unrechtsmerkmal . . . . . . 284 B. Die besonderen Unrechtsmerkmale der einzelnen Modalitäten der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 I. Das Verhältnis der Ausnutzungsmodalitäten zu den Absichtsmodalitäten . . . . . . 287

l. Die ratio der Ausnutzungsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

2. Die intrasystematische Folge der Existenz der Ausnutzungsmodalitäten . . . . 288 3. Exklusivität der Absichts- und Ausnutzungsmodalitäten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Il. Die besonderen Unrechtsmerkmale der Absichtsmodalitäten der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 l. Die subjektiven Unrechtsmerkmale der§§ 239a Abs. I Hs. I, 239b Abs. I Hs. I ..... .. ... . .... .. . .. . . . . . .. . .. .. . . ..... . . . . . . .... .... ... . ..... . .. . . . .. 290

a) Die Absichtsmerkmale des§ 239b Abs. I Hs. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 aa) Die Nötigung zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung als Tatziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 (a) Der Nötigungsbegriff des § 239b Abs. 1 Hs. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 (b) Der Drohungsbegriff des§ 239b Abs. 1 Hs. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 (c) Tatbestandseinschränkende Relevanz der Verwerflichkeitsklausel des§ 240 Abs. 2? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

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Inhaltsverzeichnis bb) Die Sorgeausnutzungsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 cc) Der Drohmittelkatalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 dd) Die (vorgetäuschte) Herausgabebereitschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 b) Die Absichtsmerkmale des§ 239a Abs. I Hs. I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 aa) Die Erpressung(§ 253) als Tatziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 bb) Die Sorgeausnutzungsklausel . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . .. . . . . . . .. . . . . 298 (a) Lösungen auf der Grundlage der Identitätsthese (der herrschenden Meinung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 (aa) Die Identifikation von Erpressung und Sorgeausnutzung 300 (bb) Die Rückführung des§ 239a Abs. I Hs. I auf die persönlich begründete Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 (cc) Die Erstreckung des § 239a Abs. I Hs. I auf die allgemein mitmenschliche Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 (b) Die eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 (c) Ergebnis ... . .. .... .. . .. ... .. .. .. .. .. .. .. .... . . .. .. ... . . ... .. .. 310 cc) Das Wohl des Opfers als Gegenstand der Sorge .............. . ... . . 310 dd) Die (vorgetäuschte) Herausgabebereitschaft . ....... . ....... . . . . . . . 313 2. Rechtswidrigkeit .. . ... . . . . .................. .. . .. .. . ............ . . .. ... . . . 314 a) Der Gegenstand der Einwilligung .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . .. .. . . .. .. . .. . . 314 b) Die Dispositionsbefugnis des Rechtsgutsinhabers . .. . ............ . . .. . . 315 3. Schuld .. .. ... . . . . . . . . . . . .. . . ... ... . . . . . .... ... .. . .. . . .. . .. . . . . .. . .. .. ..... . 316 III. Die besonderen Unrechtsmerkmale der Ausnutzungsmodalitäten der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1 .. .. ...... .. ................ .. .................. .. .. .. .... 316 I. Die tatsächliche Beherrschung des Opfers als Anwendungsvoraussetzung der§§ 239a Abs. 1 Hs. 2, 239b Abs. I Hs. 2 .. .. .. . . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . 316

2. Das Ausnutzungserfordernis der§§ 239a Abs. 1 Hs. 2, 239b Abs. 1 Hs. 2 . . 316 a) Der Inhalt des Ausnutzungserfordernisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 aa) Ausgangspunkt . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . .. . . .. . . .. . . . . . . . 317 bb) Ausnutzen durch Unterlassen? ................. .. . . ...... .. .. .. . .. 318 b) Der Bezugspunkt des Ausnutzungserfordernisses . . ... . ....... . . . .. . . . . . 319 aa) Ausnutzen bei zwischenzeitlichem Herrschaftsverlust? . .. .. . . . . .. . 319 bb) Ausnutzen zu einer Erpressung/Nötigung im Sinne der §§ 239a Abs. 1 Hs. I, 239b Abs. I Hs. I .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . 320

C. Versuch, Beteiligung, Konkurrenzen ...... . ..... . ... ... . .. .. ............. . ....... 321 I. Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 I. Der Versuch bei den Absichtsmodalitäten . . .. . . . . .. .. .. .. . . . .. . . . .. . . . . .. . . 321

2. Der Versuch bei den Ausnutzungsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

Inhaltsverzeichnis

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li. Beteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 I. Täterschaft und Teilnahme bei den Absichtsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 a) Täterschaft bei den Absichtsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 aa) Das Hegen der Erpressungs-/Nötigungsabsicht als unabdingbare Täterschaftsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 bb) Das allgemeine Problem der Abgrenzung der Täterschaft von der Teilnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 b) Teilnahme bei den Absichtsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 2. Täterschaft und Teilnahme bei den Ausnutzungsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . 325 a) Täterschaft bei den Ausnutzungsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 aa) Das allgemeine Problem der Abgrenzung der Täterschaft von der Teilnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 bb) Beteiligung an der Herrschaftsbegründung als unabdingbare Täterschaftsvoraussetzung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 b) Teilnahme bei den Ausnutzungsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 3. Lockerung der Akzessorietät gemäߧ 28? .. . . .. .. . .. .. .. .. .. .. . . .. .. .. .. .. 327 III. Konkurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

I. Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I untereinander ....... . .. . .. 328 2. Das Verhältnis der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten des Besonderen Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 3. Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu§ 239 .... ... .. . ... . .. . . . 330

5. Kapitel

Der Rücktritt von der Vollendung nach den §§ 239a Abs. 4, 239b Abs. 2

331

A. Die materielle Fundierung der §§ 239a Abs. 4, 239b Abs. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 I. Der Sinn des allgemeinen Rücktrittsprivilegs des § 24 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 1. Die Theorie von der goldenen Brücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332

2. Die Gnaden-/ Prämientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 3. Die Strafzwecktheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 II. Der Sinn des Rücktritts vom vollendeten Delikt nach den §§ 239a Abs. 4, 239b Abs. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 I. Folgerungen aus dem Fehlen eines Freiwilligkeilserfordernisses . . . . . . . . . . . 334 a) Folgerungen der Theorie von der goldenen Brücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 b) Folgerungen der Gnaden-/ Prämientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334

c) Folgerungen der Strafzwecktheorie . .. . . .. .. .. .. .. . .. .. .. . .. .. . .. .. .. .. 335

24

Inhaltsverzeichnis 2. Die §§ 239a Abs. 4, 239b Abs. 2 im Lichte der Theorie von der goldenen Brücke ................... . . ................ . ...... . ................. . ..... 336 a) Generelle Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 b) Einwände aus der Sicht der§§ 239a Abs. 4, 239b Abs. 2 . . . . . . . . . . . . . . . 339 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

8. Die tatbestandliehen Voraussetzungen der§§ 239a Abs. 4, 239b Abs. 2..... . . . . . 341 I. Der Eintritt des Rücktrittserfolges als gemeinsames Tatbestandsmerkmal der beiden Rücktrittsmodalitäten der§§ 239a Abs. 4, 239b Abs. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . 341 1. Der Rücktrittserfolg als materielles Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 a) Grammatikalische, historische und systematische Erwägungen . . . . . . . . . 343 b) (Zusätzliche) Systematische und teleologische Erwägungen . . . . . . . . . . . . 344 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 2. Der Rücktrittserfolg als forrnal-tatbestandliches Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 a) Die Zurückgelangung des Opfers in seinen Lebenskreis (erste Erfolgskomponente) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 aa) Die (herrschende) Gleichsetzung von Lebenskreis und Selbstbestimmungsmöglichkeit; kritische Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 bb) Die eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 (a) Die Aussetzung des Opfers (erste Fallgruppe) . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 (b) Die Aussetzung des herrschaftsbedingt geschwächten Opfers (zweite Fallgruppe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 (c) Das gefahrenträchtige Freigabeverhalten (dritte Fallgruppe) . . . 353 cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 b) Der Verlust der erstrebten Leistung (zweite Erfolgskomponente) . . . . . . . 354 3. Der Eintritt des Rücktrittserfolges - eine unabdingbare Rücktrittsvoraussetzung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 II. Der "kausale" Rücktritt(§§ 239a Abs. 4 S. 1, 239b Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 1. Das Zurückgelangenlassen des Opfers in dessen Lebenskreis . . . . . . . . . . . . . . . 357 a) Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 b) Die Einschränkungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 2. Der Verzicht des Täters auf die erstrebte Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 a) Die noch ausstehende Vorteilsgewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 b) Die bereits erfolgte Vorteilsgewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 aa) Die unproblematischen Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360

Inhaltsverzeichnis

25

bb) Die problematischen Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 (a) Die Herausgabeunmöglichkeit........ .... ...... . .. ..... ..... . . 361 (b) Die Verzichtsunmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 (aa) Grammatikalische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 (bb) Historische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 (cc) Systematische und teleologische Erwägungen . . . . . . . . . . . 364 (dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 c) Das gewährte "Minus" oder "Aliud" ...... .. ........................... 367 111. Der "nicht kausale" Rücktritt (§§ 239a Abs. 4 S. 2, 239b Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . 368 1. Monistische oder dualistische Deutung des Erfolgsbegriffes der §§ 239a Abs. 4 S. 2, 239b Abs. 2? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368

2. Das ernsthafte Bemühen des Taters . . . .. .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . 370 C. Die Rechtsfolgen der§§ 239a Abs. 4, 239b Abs. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 I. Das Verhältnis der §§ 239a Abs. 4, 239b Abs. 2 zu den minder schweren Fällen der§§ 239a Abs. 2, 239b Abs. 2 ......... . ................ ...... . .. .... 371 1. Die höchstrichterliche Rechtsprechung zu den minder schweren Fällen im allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372

2. Folgerungen mit Blick auf die §§ 239a Abs. 2, 239b Abs. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . 372 a) Die Rechtslage bei den gesetzlichen Milderungsgründen des Allgemeinen Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 b) Die Rechtslage bei den gesetzlichen Milderungsgründen des Besonderen Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . 374 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 II. Leitlinien für die Ermessensentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 1. Die Frage nach der Verschiebung des Strafrahmens überhaupt . . . . . . . . . . . . . 376

2. Die aus der Verschiebung I Nichtverschiebung des Strafrahmens zu ziehenden Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 a) Die Konsequenzen im Falle der Verschiebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 aa) Die Konsequenzen im Rahmen der§§ 239a, 239b . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 bb) Konsequenzen außerhalb der§§ 239a, 239b? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 b) Konsequenzen im Falle der Nichtverschiebung?

380

Zusammenfassung der (wesentlichen) Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405

1. Kapitel

Die Entstehungsgeschichte der §§ 239a, 239b Wer sich einen Eindruck von der Bedeutung und den Grenzen der Geiselnahmetatbestände des geltenden Rechts verschaffen will, tut gut daran, vorab einen Blick auf ihre Entwicklungslinie zu werfen. Sie bildet demnach die Grundlage meiner Untersuchungen, hilft, die zu lösenden Auslegungsprobleme einzuordnen.

A. Das Gesetz gegen erpresserischen Kindesraub vom 22. 06. 1936 1 Die jüngere Geschichte der §§ 239a, 239b2 beginnt mit dem Gesetz gegen erpresserischen Kindesraub vom 22. 06. 1936.

I. Die Genese des § 239a 1936 Ihm zufolge war mit dem Tode zu bestrafen, wer in Erpressungsabsicht ein fremdes Kind durch List, Drohung oder Gewalt entführt oder sonst der Freiheit beraubt(§ 239a Abs. 1 1936). Als Kind galt dabei jeder Minderjährige unter achtzehn Jahren (§ 239a Abs. 2 1936). In der amtlichen Begrundung des Gesetzes heißt es lapidar3 : "Der erpresserische Kindesraub ist ein Verbrechen, das in den letzten Jahren große Staaten heimgesucht hat. In Deutschland sind bisher Fälle dieses Verbrechens verschwindend gering gewesen. Vor einigen Tagen hat sich jedoch ein Fall ereignet, der Anlaß gibt, mit energischen gesetzgebensehen Maßnahmen vorzugehen. Um das Übel an der Wurzel auszurotten, ist der erpresserische Kindesraub, an einem fremden Kinde begangen, mit dem Tode bestraft worden."

Daß § 239a Abs. 1 1936 allein der Erfassung typischer Lösegelderpressungen4 dienen sollte, beweist die quasi-amtliche Kommentierung der Vorschrift durch RGBI. I s. 493. Weitergehende genetische Untersuchungen bei Knitschky, GS 44 (1891) S. 249 ff.; Stockmayer, Kindesraub S. 2 ff. 3 Zitiert nach Ficker, in: Pfundtner I Neubert, Neues Reichsrecht II c 6 S. 99. 4 Vgl. etwa den Sachverhalt bei RGSt 70, 136, 136. I

2

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1. Kap.: Die Entstehungsgeschichte der§§ 239a, 239b

Ficker. Man hatte die "Entführung des Sohnes des Ozeanfliegers Lindbergh" im Blick und umschrieb das "Kidnapping" generell als "ein Verbrechen, das in den Vereinigten Staaten von Amerika an Häufigkeit ständig zunahm, bis es dort mit den schärfsten Mitteln bekämpft wurde. Um diese besonders verabscheuungswürdige Verbrechensform, die eines der edelsten menschlichen Gefühle, die Elternliebe, zur Grundlage von Erpressungsmanövern macht, im Keime zu ersticken, bevor eine weitergehende Beunruhigung des öffentlichen Lebens, wie dies in den Vereinigten Staaten der Fall war, erfolgte, hat der deutsche Gesetzgeber die schärfste Strafart, über die er verfügt, die absolute Todesstrafe, für den erpresserischen Kindesraub angedroht" 5 .

II. § 239a 1936 in Rechtsprechung und Lehre Nennenswerte praktische Relevanz erlangte § 239a Abs. I 1936 in der Zeit bis 1945 nicht. Es scheint, als sei er lediglich auf den eben erwähnten Fall angewendet worden6 . Bruchstückhaft war denn auch die wissenschaftliche Aufarbeitung. Abschließende Bewertungen der Norm sind kaum auszumachen7 , wenngleich diverse literarische Korrekturversuche vermuten lassen, daß man ihr eher ablehnend gegenüberstand. Hermeneutische Zweifel wurden so weit als möglich zum Nachteil des Täters aufgelöst. So sollte es an dem Fremdheitserfordernis nicht 5 Ficker, in: Pfundtner/Neubert, Neues Reichsrecht II c 6 S. 99. - Nur am Rande zu erwähnen ist, daß das Gesetz gegen erpresserischen Kindesraub auch dazu diente, den ihm zugrunde liegenden Präzedenzfall vom 16. 06. 1936 (zu ihm Ficker, in: Pfundtner/Neubert, Neues Reichsrecht II c 6 S. 99) "angemessen" zu lösen. Das Tatzeitrecht wurde insoweit als unzureichend erachtet. So rechtfertigten die§§ 235 Abs. I a. F., 239 Abs. I, 253 Abs. 1, 255 "nur" die Verhängung zeitiger Gefangnis- bzw. Zuchthausstrafen. Der Anwendung des § 235 Abs. 3 a. F., die immerhin aus Gründen der Klarstellung des verwirklichten Unrechts wünschenswert erschien, stand eine gefestigte h. M. entgegen (vgl. RGSt 70, 136, 137 f. ; Hälschner, BT I S. 144; Knitschky, GS 44 (1891) S. 302 f.; zur Begründungs. auch PrObTr, GA 1860, 279, 281 ). Man beschloß daher (Ficker, in: Pfundtner I Neubert, Neues Reichsrecht II c 6 S. 99), das Gesetz um eine Rückwirkungsklausel zu ergänzen; § 239a Abs. I 1936 sollte auch auf solche Taten Anwendung finden, die in der Zeit vom 01. bis zum 22. 06. 1936 begangen worden waren. § 2a Abs. 1 1935 stand dem nicht entgegen, da er über ein inhaltlich abw. Spezialgesetz ausgehebelt werden konnte (dazu K. Schäfer, in: Gürtner, Konunendes Strafrecht AT S. 208 f. ; L. Schäfer, in: Pfundtner/Neubert, Neues Reichsrecht II c 6 S. 69). Auch Art. 116 WRV griff nicht; die Weimarer Reichsverfassung im allgemeinen und die verfassungsrechtliche Verankerung des Rückwirkungsverbots im besonderen waren längst außer Kraft gesetzt (zur Beseitigung des Art. 116 WRV vor allem Hauptvogel, in: Pfundtner/Neubert, Neues Reichsrecht II c 1 S. 2). Der Täter des Präzedenzfalles ist auf Grund des Gesetzes vom 22. 06. 1936 zum Tode verurteilt worden (Ficker, in: Pfundtner I Neubert, Neues Reichsrecht II c 6 S. 99). 6 So Kirchner, in: Olshausen [12.] § 239a Anm. Ia; Maurach, Grundriß BT S. 44; ders., BT [5.] S. 298. 7 Ansätze etwa bei Kohlrausch/Lange [38.] § 239a Anm. 1 ("In der Eile ist .. . die Fasssung des Gesetzes mißlungen.").

B. Das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vorn 04. 08. 1953

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schon deshalb fehlen, weil das bürgerliche Recht ein Verwandtschafts- oder Obhutsverhältnis zwischen dem Entführer und dem Entführten konstituierte: Eigen sei allein das eheliche leibliche Kind; § 239a Abs. 1 1936 unterfielen sowohl Groß-, Adoptiv- oder Pflegeeltern als auch uneheliche Vater (nicht aber: uneheliche Mütter) oder Vormünder8 . Wer das Kind wegtrug oder einen besetzten Kinderwagen wegschob, machte sich der Entführung mittels Gewalt schuldig9 . Die bloße Aufforderung, der das Kind folgte, konnte List sein 10. Einschränkungsbestrebungen traten demgegenüber in den Hintergrund. Lediglich der Vorschlag Kohlrauschs, § 239a Abs. 1 1936 auf solche Täter zu beschränken, die in der Absicht handelten, dem zu erpressenden Dritten die Tötung oder eine körperliche oder seelische Mißhandlung des Kindes in Aussicht zu stellen 11 , fand Anklang 12; er stützte sich auf den Anlaß des Kindesraubgesetzes, die amtliche Überschrift des§ 239a Abs. 1 1936 sowie die absolut angedrohte Todesstrafe 13 • Unumstritten war freilich auch er nicht 14.

B. Das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 04. 08. 1953 (Strafrechtsbereinigungsgesetz) 15 Nachdem das nationalsozialistische Regime zusammengebrochen war, wurden Zweifel an der Wirksamkeit des § 239a Abs. 1 1936 laut. Schwarz meinte, daß die Vorschrift wegen ihrer Härte nicht mehr dem geltenden Rechtsempfinden entspreche16. Conrad verwies auf Art. IV Nr. 8 S. 2 MRG Nr. 1, der die Todesstrafe für alle Verbrechen abschaffte, die nicht bereits vor dem 30. 01. 1933 mit dem Tode bestraft worden waren; da § 239a Abs. 1 1936 neben der Todesstrafe keine andere Strafe androhe, sei er kraft Besatzungsrechts gegenstandslos geworden 17 • Kohlrausch gab sich unentschlossen 18 • Die herrschende Ansicht widersprach den geäu8 Kirchner, in: Olshausen [12.] § 239a Anrn. 1a; Schwarz [7.] § 239a Anrn. 1 B; ferner Kohlrausch/Lange [38.] § 239a Anrn. 3; Schänke [2.] § 239a Anrn. IV; enger Ficker, in: Pfundtner/Neubert, Neues Reichsrecht II c 6 S. 101 ; noch enger Stockmayer, Kindesraub S. 41 f. 9 Kirchner, in: Olshausen [12.] § 239a Anrn. 3; Kohlrausch/Lange [38.] § 239a Anrn. 1; Stockmayer, KindesraubS. 44 f., 48. 10 Kirchner, in: Olshausen [12.] § 239a Anrn. 3. 11 Kohlrausch/Lange [38] § 239a Anrn. 2. 12 K. Schäfer, in: Dalcke [33.] § 239a Anrn. 42e; Schänke [2.] § 239a Anrn. III. 13 Stellvertretend Kohlrausch/Lange [38] § 239a Anrn. 2. 14 Ab!. etwa Ficker, in: Pfundtner/Neubert, Neues Reichsrecht II c 6 S. 102; Kirchner, in: Olshausen [12.] § 239a Anrn. Sb; Stockmayer, KindesraubS. 52. 15 BGBl. I S. 735. 16 Schwarz [14.] § 239a Anrn. I. 17 Conrad, JR 1947 S. 67. 18 Kohlrausch § 239a Anrn. II; vgl. auch Kohlrauschi Lange [39./40.] § 239a Anrn. V.

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1. Kap.: Die Entstehungsgeschichte der§§ 239a, 239b

ßerten Bedenken 19 (vgl. auch Art. I KRG Nr. 11), ging von einer immerhin beschränkten Weitergeltung aus und verlagerte die Diskussion auf die Rechtsfolgenebene. Damit war die Verwirrung kornplett20. Im übrigen bereitete die Norm wenig Schwierigkeiten. In der Praxis der höchsten Gerichte spielte sie- soweit ersichtlich -keine Rolle. Und auch Tatsachengerichte dürften sich angesichts der vorstehend umschriebenen Meinungsverschiedenheiten kaum (ungerügt) zu einer Verurteilung des Täters aus § 239a Abs. 1 1936 entschlossen haben. Das Schriftturn mahnte verstärkt zur Vorsicht. So schlug man vor, den Gewaltbegriff des § 239a Abs. 1 1936 gegenüber dem allgemeinen strafrechtlichen Gewaltbegriff einzuschränken21 beziehungsweise Taten, die Adoptiveltern an ihren Schützlingen begehen, aus dem Schutzbereich der Norm herauszunehmen22. Der Korrekturversuch von Kohlrausch hatte sich inzwischen zur herrschenden Ansicht gemausert23 . Einer Gefährdung (des Lebens oder Leibes) des Kindes sollte es aber nicht bedürfen 24.

I. Die Genese des§ 239a 1953 In diesem Zusammenhang ist § 239a Abs. 1 1953, normiert durch das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 04. 08. 1953 (Strafrechtsbereinigungsgesetz), zu sehen. Jenes Gesetz25 beabsichtigte keine echte Reformierung des Strafrechts. Sein Ziel war vielmehr, "(dringende) Sofortmaßnahmen auf dem Gebiet der Gesetzgebung"26 durchzuführen, Unstimmigkeiten des geltenden Rechts zu bereini-

19 Maurach, Grundriß BT S. 43 f.; ders., BT [1.] S. 232; Nagler!Schaefer, in: LK [6.17.] § 239a vor Anm. 1, Anm. 5; K. Schäfer, in: Dalcke [35.] § 239a Anm. 1; Schönke [6.] § 239a vor Anm. I. 20 Für lebenslanges Zuchthaus bei Zulassung einer Strafmilderung im Falle unangemessener Härte Nagler/Schaefer, in: LK [6.17.] § 239a vor Anm. I, Anm. 5; für lebenslanges Zuchthaus bei obligatorischer Strafmilderung analog § 44 Abs. 2 a. F. K. Schäfer, in: Dalcke [35.] § 239a Anm. 1; Schönke [6.] § 239a vor Anm. 1; für zeitlich begrenztes Zuchthaus nach Maßgabe des§ 14 a. F. Maurach, Grundriß BT S. 43; ders. , BT [I.] S. 233; vgl. auch Kohlrausch § 239a Anm. II. 21 Maurach, BT [1.] S. 233; kritisch aber Kohlrausch § 239a Anm. I; Kohlrauschi Lange [39. /40.] § 239a Anm. I. 22 Maurach, BT [1.] S. 233; Nagler/Schaef er, in: LK [6.17.] § 239a Anm. I; a.A. Kohlrausch/ Lange [39./40.] § 239a Anm. Ill; Schönke [6.] § 239a Anm. IV. 23 Kohlrausch § 239a Anm. I; Kohlrausch I Lange [39./40.] § 239a Anm. I, II; ferner Nagler/Schaefer, in: LK [6.17.] § 239a Anm. 3; K. Schäfer, in: Dalcke [35.] § 239a Anm. 4; Schönke [6.] § 239a Anm. III; noch enger Welzel, Strafrecht [2.] S. 153; unverständlich Maurach, BT [1.] S. 233. 24 Vgl. Nagler/Schaefer, in: LK [6. 17.] § 239a Anm. 3. 25 Zum Entwurf BT-Drucks. 1/3713 S. 2 ff. 26 BT-Drucks. 113713 S. 17.

B. Das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 04. 08. 1953

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gen27 . Zu den Vorschriften, deren Fassungen man läutern wollte, zählte unter anderem § 239a Abs. 1 193628 . § 239a 1936 wurde von den Entwurfsverfassern attestiert, daß er kein spezifisch nationalsozialistisches Gedankengut verkörpere, sondern dazu diene, "eine vor allem in anderen Ländern erst in der Neuzeit in bedrohlicher Weise aufgekommene gefährliche Verbrechensform durch eine herausgehobene Strafvorschrift wirksam zu bekämpfen 29. Der Tatbestand sei beizubehalten, müsse inhaltlich freilich so umgestaltet werden, daß er "nur (noch) die typischen Fälle des sogenannten kidnapping" treffe; allein sie rechtfertigten eine Verschärfung der Strafe30 . Man schlug zweierlei vor, die ersatzlose Streichung der Entführungsmittel List, Drohung und Gewalt und die Präzisierung des Absichtstatbestandes. Letzterem sollte künftig allein derjenige unterfallen, der darauf aus ist, "die Besorgnis des Aufsichtspflichtigen (§ 139b Abs. 2) oder eines Angehörigen, das körperliche, geistige oder sittliche Wohl des Kindes könne im Zusammenhang mit der Tat Schaden leiden, zu einer Erpressung auszunutzen" 31 . In der Begründung heißt es: "Von entscheidender Bedeutung für die Strafwürdigkeit ist, daß der Täter nicht nur das Kind dem Erziehungsberechtigten entzieht, sondern daß er das in einer Weise tut, die bei diesem oder einem Angehörigen die Sorge erweckt, das Wohl des Kindes könne in körperlicher, geistiger oder sittlicher Hinsicht Schaden nehmen, und diese psychische Zwangslage erpresserisch mißbrauchen will. Die bloße Drohung mit Vorenthaltung oder mit Verheimlichung des Aufenthaltsortes könnte eine besondere schwere Strafdrohung noch nicht rechtfertigen . . . Allerdings kann nicht so weit gegangen werden, daß der Entführer eine etwaige Schädigung des Kindes androhen muß. Das wird er vielfach gar nicht tun, weil er mit Recht annimmt, daß der Erziehungsberechtigte schon aus der Tatsache der Entführung auf eine Gefahr für das Kind schließt. Dieses Bewußtsein des Täters wird sich in den Fällen, die von der Vorschrift erfaßt werden sollen, regelmäßig aus dem Sachverhalt ergeben. Die Sorge, daß das Kind Schaden nehmen könnte, muß sich natürlich auf einen Schaden richten, der im Zusammenhang mit der Tat steht"32 .

Der Bundesrat war mit der Fassung des § 239a Abs. 1 E 1952, die sichtlich an der von Kohlrausch vorgeschlagenen Einschränkung des Absichtstatbestandes des § 239a Abs. 1 1936 anknüpfte, im Prinzip einverstanden. Lediglich der Verweis auf den Erpressungstatbestand vermochte "aus systematischen Gründen" nicht zu gefallen. Es wurde daher vorgeschlagen, die Wendung "zu einer Erpressung" durch 27 Weiterführend zur legislatorischen Ausgangslage Dreher; JZ 1953 S. 421 f.; Lange, NJW 1953 S. 1164 f.; Nüse, JR 1952 S. 423 f. 2s BT-Drucks. 1/3713 S. 8. 29 BT-Drucks. 1/3713 S. 39. 30 BT-Drucks. 1/3713 S. 40. 31 BT-Drucks. 1/3713 S. 8, 40. 32 BT-Drucks. 1/3713 S. 40.

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I. Kap.: Die Entstehungsgeschichte der§§ 239a, 239b

die Wendung "zur Erlangung eines Lösegeldes" zu ersetzen33 . Die Bundesregierung folgte dem ohne Widerspruch 34, ebenso der (Bundestags-) Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht Letzterem mißfiel freilich die "schwerfällig wirkende Bezugnahme auf die Besorgnis der Aufsichtspflichtigen oder Angehörigen". An ihre Stelle sollte - so der Vorschlag - die griffigere Formulierung "für dessen Herausgabe ein Lösegeld zu verlangen" treten 35 . Der Bundestag machte sich diesen Änderungsvorschlag zu eigen. Keine Änderung erfuhr§ 239a Abs. 2 193636.

II. § 239a 1953 in Rechtsprechung und Lehre Die Lehre erkannte bald, daß § 239a Abs. 1 1953 gegenüber § 239a Abs. 1 1936 keinen wirklichen Fortschritt gebrachte hatte. Stimmen, die dem Gesetzgeber attestierten, "den Tatbestand präziser gefaßt und eine sachgemäße Strafe ... festgesetzt" zu haben 37, blieben vereinzelt. Tatsächlich bewirkte die Novellierung eine beachtliche Ausweitung des Strafbarkeitsbereichs 38 . So setzte der Entführungstatbestand nicht mehr den Einsatz bestimmter Entführungsmittel voraus39 . Erpresserischer Kindesraub war selbst dort möglich, wo der Täter erpressungsfremde Ziele wie die Durchsetzung eines fälligen und einredefreien Anspruchs gegen den Vermögensinhaber zu erreichen trachtete40. Die herrschende Meinung stand zwar noch BT-Drucks. I 13713 S. 62 f. BT-Drucks. I I 3713 S. 68. 35 Schneider, in: Plenarprot. 1 I 265 S. 12996 unter Verweis auf BT-Drucks. I I 4250 S. 27. 36 Vgl. BT-Drucks. I 13713 S. 8; BT-Drucks. I 14250 S. 27. 37 Dreher [32.] § 239a Anm. I A; ferner Maurach, BT [5.] S. 298; Nüse, JR 1953 S. 7 befürchtete gar, daß das Lösegelderfordernis den Tatbestand allzu sehr einengen könne; dem entgegenstehend die bis an die Grenzen des Art. 103 Abs. 2 GG heranreichende Auslegung des Lösegelderfordernisses durch die h. M., etwa Dreher [32.] § 239a Anm. 6; Kohlrauschi Lange [43.] § 239a Anm. IV, 1; Maurach, BT [5.] S. 299; Nüse, JR 1953 S. 277; Schaefer, in: LK [8.] § 239a Anm. 4; K. Schäfer, in: Dalcke [37.] § 239a Anm. 6; Schönkel Sehröder [15.] § 239a Rdn. 5; Welzel, Strafrecht [11.] S. 332. 38 Vgl. Kohlrauschi Lange [43.] § 239a Anm. I; Lange, NJW 1953 S. 1164; Nüse, JR 1953 S. 277; Schaefer, in: LK [8.] § 239a Anm. I; demgegenüber Dreher, JZ 1953 S. 428; ders. [32.] § 239a Anm. 1 A; Maurach, BT [5.] S. 298; vgl. aber auch die mittlerweile ganz h. M., die Adoptiveltern bzw. nichteheliche Väter aus dem Strafbarkeilsbereich herausnahm, Dreher [32.] § 239a Anm. 2 A; Kohlrauschi Lange [43.] § 239a Anm. V; Maurach, BT [5.] S. 298; Schaefer, in: LK [8.] § 239a Anm. 2; Welzel, Strafrecht [11.] S. 332; differenzierend Schönkel Sehröder [15.] § 239a Rdn. 3, 8; vgl. schließlich K. Schäfer, in: Dalcke [37.] § 239a Anm.2. 39 Schaefer, in: LK [8.] § 239a Anm. I; Schönke/ Sehröder [15.] § 239a Rdn. 2; kritisch Lange, NJW 1953 S. 1164. 40 So die h. M., vgl. nur BGHSt 16, 316, 320; Dreher [32.] § 239a Anm. 4; Schaefer, in: LK [8.] § 239a Anm. I, 4; K. Schäfer, in: Dalcke [37.] § 239a Anm. 6; Schönkel Sehröder [15.] § 239a Rdn. 5; Than, Freiheitsdelikte S. 28, 141; Wetzet, Strafrecht [II.] S. 332; abw. 33

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C. Die Reformentwürfe der Jahre 1962 und 1970

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immer auf dem Standpunkt, daß die bloße Absicht, mit Vorenthaltung oder Verheimlichung des Aufenthaltsortes des Kindes zu drohen, niemals zu § 239a Abs. 1 1953 führen könne41 • Der Wortlaut des Gesetzes sprach jedoch mehr denn je gegen eine derartige Einschränkung42.

C. Die Reformentwürfe der Jahre 1962 und 1970 Auch die Reformentwürfe der Jahre 1962 und 1970 sahen einen Tatbestand gegen erpresserischen Kindesraub vor.

I. Die Genese des § 165 E 1962 Die Große Strafrechtskommission beschäftigte sich nur recht oberflächlich mit dem Tatbestand. Entsprechend vage blieben die Ausführungen in der Begründung des Entwurfs 1962. Die Frage, ob man den Tatbestand überhaupt brauche, sei - so die vorherrschende Ansicht des Gremiums -grundsätzlich zu bejahen. Ein Blick auf das einschlägige rechtstatsächliche Material lehre zwar, daß der erpresserische Kindesraub, von dem einzigen Fall des Jahres 1936 abgesehen, in Deutschland bislang keine praktische Bedeutung erlangt habe. Das könne sich jedoch jederzeit ändern; Referent Schwalm konstatierte: "Ein so typisches und gemeines Verhalten sollte vorsorglich auch in unserem neuen Strafrecht als eigenständiger Tatbestand erfaßt werden"43 . Als Vorbild für das erstrebte Recht diente namentlich § 239a Abs. 1 E 1952 (vgl. § 344 Abs. 1 E 195844). Dem Vorschlag von Simon, die Beschränkung des Kreises potentieller Tatopfer fallenzulassen und den Tatbestand gegen erpresserischen Kindesraub durch einen moderneren Tatbestand gegen erpresserischen Menschenraub zu ersetzen45 , trat man entgegen46. Der Fall eines erpresserischen Menschenraubs möge "vielleicht anderswo denkbar" erscheinen. In der Bundesrepublik sei er aber Kohlrauschi Lange [43.] § 239a Anm. IV, IV, l, VII, l, VIII, lb; Maurach, JZ 1962 S. 560 f.; ders., BT [5.] S. 299; wohl auch Lange, NJW 1955 S. 1164; unklar Maassen, MDR 1954 S. 5. 41 Kohlrauschi Lange [43.] § 239a Anm. IV, IV, 2; Maurach, BT [5.] S. 299; K. Schäfer, in: Dalcke [37.] § 239a Anm. 6; Schönke I Sehröder [ 15.] § 239a Rdn. 6; Welzel, Strafrecht [11.] S. 332; wohl auch Maassen, MDR 1954 S. 5; vgl. schließlich Nüse, JR 1953 S. 277; nicht ganz klar Dreher [32.] § 239a Anm. 3 B; a. A. wohl Schaefer, in: LK [8.] § 239a Anm. 1. 42 Schönkel Sehröder [15.] § 239a Rdn. 6. 43 Schwalm, in: Niederschr. 6 S. 251 ; vgl. auch Niederschr. 6 S. 399. 44 Niederschr. 6 S. 391. 45 Simon, in: Niederschr. 6 S. 271. 46 Niederschr. 6 S. 273. 3 Imme]

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l. Kap.: Die Entstehungsgeschichte der§§ 239a, 239b

"praktisch noch nicht vorgekommen"47. Es blieb also dabei: Opfer der Tat konnte nur ein fremdes Kind sein; als fremdes Kind galt, insoweit knüpfte man an die herrschende Ansicht zu § 239a Abs. 2 1953 an, jede Person unter achtzehn Jahren, die nicht vom Täter abstammt oder durch Annahme an Kindes Statt mit ihm verbunden ist. Eine erhebliche Ausweitung erfuhr die Sorgeausnutzungsklausel des § 239a Abs. 1 E 1952. Träger von Sorge sollte fortan jedermann sein können, nicht nur ein Angehöriger, Vormund oder Pfleger. Beibehalten wurde demgegenüber der ausdrückliche Bezug auf das Erpressungsrecht Der Vorstoß, die Wendung "in erpresserischer Absicht auszunutzen" durch die Wendung "um . . . für die Herausgabe des Kindes ein Lösegeld abzunötigen" zu ersetzen48, scheiterte; § 239a Abs. 1 1953, der die Erfordernisse Herausgabe und Lösegeld ebenfalls enthalte, werde nicht zu Unrecht kritisiert49 . Als Strafmaß war Zuchthaus bis zu fünfzehn Jahren vorgesehen. Zuchthaus nicht unter zehn Jahren sollte denjenigen treffen, der das Opfer grausam mißhandelt oder leichtfertig tötet. Auf dieser Grundlage wurde § 165 E 1962 formuliert 50.

II. Die Genese des § 120 AE 1970 Auch der Alternativentwurf 1970 stellte den erpresserischen Kindesraub gesondert unter Strafe (vgl. § 120 AE 197051 ). Für die Einfügung eines Tatbestandes gegen erpresserischen Menschenraub wurde demgegenüber kein Bedürfnis gesehen; die besondere Verwerflichkeit der Tat beruhe auf der altersbedingten Hilflosigkeit des Opfers. § 120 AE 1970 konzentrierte sich auf den klassischen Fall des sogenannten Kidnapping, indem er, die komplizierten Formulierungen des § 239a Abs. 1 E 1952 sichtlich straffend, ein Handeln in der Absicht verlangte, die Sorge eines Angehörigen erpresserisch auszunutzen. Die Vorgaben des Entwurfs 1962 wurden insoweit (bewußt) überschritten. Der objektive Tatbestand knüpfte in Anlehnung an die§§ 239a Abs. 1 E 1952, 165 Abs. 1 E 1962 an eine Freiheitsberaubung beziehungsweise Entführung an, dies freilich im Verbund mit der Aufspaltung des Kreises potentieller Tatopfer: Eine Entführung sollte nur ausreichen, wenn das Opfer, worunter man einen fremden Minderjährigen verstand, jünger als sechzehn Jahre war (vgl. auch § 130, 131 Abs. 1, 2 AE 1970). Im übrigen sollte es stets einer Freiheitsberaubung im technischen Sinne des 119 Abs. 1 AE 1970 bedürfen. Die Strafe wurde auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren, mithin hoch Schajheutle, in: Niederschr. 6 S. 271. Bocke/mann, in: Niederschr. 6 S. 271, 272; Jescheck, in: Niederschr. 6 S. 272; Schafheutle, in: Niederschr. 6 S. 271. 49 Lange, in: Niederschr. 6 S. 271 ; ferner Baldus, in: Niederschr. 6 S. 272. 50 Zu den Einzelheiten s. Begründung E 1962 S. 39, 303 f.; ferner Niederschr. 6 S. 272, 273 (zu den Abstimmungsergebnissen). 51 Begründung AE 1970 S. 70. 47

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D. Das Zwölfte Strafrechtsänderungsgesetz vom 16. 12. 1971

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festgesetzt. Strafschärfungen nach dem Vorbild des § 165 Abs. 2 E 1962 waren nicht vorgesehen; das insoweit verwirklichte zusätzliche Unrecht lasse sich ohne weiteres über die Tötungs- und Körperverletzungsdelikte in Verbindung mit dem Asperationsprinzip des § 64 Abs. 1, 2 AE 196952 erfassen5 3 .

D. Das Zwölfte Strafrechtsänderungsgesetz vom 16.12. 1971 54

Die Grundlage der heutigen §§ 239a, 239b bildet das Zwölfte Strafrechtsänderungsgesetz vom 16. 12. 1971.

I. Die Genese der §§ 239a 1971, 239b 1971 Nachdem § 239a Abs. 1 1953 lange Zeit praktisch bedeutungslos gewesen war, flammte die legislatorische Diskussion zu Beginn der 70er Jahre wieder auf. Es erhoben sich Stimmen, die die generalpräventive Wirkungskraft des geltenden Strafrahmens von nicht unter drei Jahren Freiheitsstrafe55 in Zweifel zogen und hierauf gründend für eine merkliche Anhebung des Strafungsniveaus eintraten. Auf dieser Linie lag der vom Bundesrat eingereichte Entwurf eines Dreizehnten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 30. 04. 1971 56, der- veranlaßt durch zwei aufsehenerregende Entführungsfälle der seinerzeit jüngsten Vergangenheit57 - unter anderem vorschlug, in besonders schweren Fällen des erpresserischen Kindesraubes die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafen zuzulassen. Ein besonders schwerer Fall sollte dabei in der Regel vorliegen, wenn der Täter das Kind bei der Tat körperlich schwer mißhandelt oder durch die Tat leichtfertig tötet58 . In der bemerkenswert gefühlsbehafteten Entwurfsbegründung, die frappant an die einschlägigen Äußerungen zu§ 239a Abs. 11936 erinnert, heißt es59 : "Erpresserischer Kindesraub ist eines der verabscheuungswürdigsten Verbrechen. Das gemeine Geschäft mit der Angst der Eltern verrät nicht nur niedrigste Gesinnung; Freiheit und Leben des Kindes als Druckmittel zu finanzieller Bereicherung zu benützen, stellt Zu ihm s. Begründung AE 1969 S. 122 ff. Zu alledem Begründung AE 1970 S. 71. 54 BGBI. I S. 1979. 55 Die Zuchthausstrafe war inzwischen durch das I. StRG vom 25. 06. 1969 abgeschafft worden, BGBI. I S. 645. 56 BT-Drucks. 6/2139 S. 2. 57 BT-Drucks. 6/2139 S. 3. 58 BT-Drucks. 6/2139 S. 2. 59 BT-Drucks. 6/2139 S. 3. 52 53

3*

1. Kap.: Die Entstehungsgeschichte der§§ 239a, 239b

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auch schweres Unrecht dar. Die besondere Verwerflichkeit und der besondere Unrechtsgehalt des erpresserischen Kindesraubs kommen bereits durch die Mindeststrafdrohung des § 239 (gemeint, offensichtlich: § 239a) Abs. 1 zum Ausdruck."

Die Bundesregierung begrüßte die Initiative, regte aber an, die Tatbestandsfassung des § 239a Abs. I 1953 mit in die Erörterungen einzubeziehen, da gesetzgeberischer Handlungsbedarf auch insoweit gegeben sei60. Immerhin: Es bestand zunächst Übereinstimmung dahingehend, den erpresserischen Kindesraub als Delikt beizubehalten. Eine durchgreifende Reform war nicht gewollt. 1. Das Ende des Tatbestandes gegen erpresserischen Kindesraub Das Ende des Tatbestandes gegen erpresserischen Kindesraub nahte dennoch heran. Denn die nunmehr erarbeiteten Formulierungshilfen (des Landes Bayern vom 12. 08. 1971 61 , des Landes Nordrhein-Westfalen vom 12. 08. 1971 62 , des Bundes vom 22. 09. 1971 63 ) orientierten sich durchweg an Tätern, die andere Personen als Kinder raubten beziehungsweise andere Tatziele als die Zahlung eines Lösegeldes erstrebten. Daß eine Mindeststrafe von drei Jahren Freiheitsstrafe auch in Fällen dieser Art angezeigt sei, habe, neben einschlägigen Beispielen politisch motivierter Gewaltkriminalität64 , nicht zuletzt der Münchener Bankraub65 bewiesen. Man müsse dem besonderen Unrechtsgehalt derartiger krimineller Handlungen besser Rechnung tragen, mit Nachdruck klarstellen, wie der Staat derartige kriminelle Handlungen bewerte. Die Strafdrohungen der Erpressungs-, Nötigungsund Freiheitsberaubungstatbestände reichten insoweit nicht, jedenfalls nicht mehr aus66. Im einzelnen:

a) Die Ausweitung des Kreises potentieller Tatopfer auf den "anderen"

Der Vorschlag, auch andere Personen als fremde Kinder zu schützen, wurde im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform (im folgenden: Sonderausschuß) einmüBT-Drucks. 612139 S. 4. Prot. 6149 S. 1565 f. 62 Prot. 6149 S. 1567 f. 63 Prot. 6149 S. 1570; vgl. auch Prot. 6149 S. 1569. 64 Zur Entführung des deutschen Botschafters Grafvon Spreti durch guatemaltekische Terroristen Der Spiegel 1970115 S. 118 ff.; 1970116 S. 27 ff., 121 ff.; zur Entführung des deutschen Botschafters von Holleben durch brasilianische Terroristen Der Spiegel 19701 25 s. 25 f.; 1970126 s. 105 ff. 65 Zu ihm DerSpiegel1971133 S. 25 ff.; 1971134 S. 27 ff. 66 Vgl. Bauer. in: Prot. 6149 S. 1565, 1547; Diemer-Nicolaus, in: Prot. 6149 S. 1553; Klug, in: Prot. 6 I 49 S. 1548 f.; Schlee, in: Prot. 6 I 49 S. 1551 ; dens., in: Prot. 6150 S. 1571; de With, in: Prot.6149S. 1552; Wulf, in: Prot. 6149S. 1549, 1551; BT-Drucks. 612722S. 1 f., 3. 60

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tig begrüßt67 . Kontrovers war in diesem Zusammenhang allein, ob es Sinn mache, daneben an den Einschränkungen des bisherigen Rechts (scil.: der Fremdheit des geraubten Kindes) festzuhalten. Die§§ 239a Abs. 1 bayE 1971, 239b Abs. 1 bayE 1971, 239a Abs. 1 nwE 1971 bejahten diese Frage, indem sie darauf abstellten, daß der Täter einen anderen der Freiheit beraubt oder einen fremden Minderjährigen entführt (vgl. insoweit auch§ 120 AE 1970). Zur Begründung verwies man auf die Eigenarten des Entführungsbegriffs68 sowie auf einschlägige Stellungnahmen zu den§§ 239a Abs. l 1936, 239a Abs. l 1953, § 165 Abs. l E 196269; es gehe nicht an, etwa den geschiedenen Ehegatten, der dem anderen Ehegatten das gemeinsame Kind entführe, um die Zahlung von Unterhalt zu erzwingen, einer Mindestfreiheitsstrafe von drei Jahren zu unterwerfen70. Die Mehrheit im Sonderausschuß hob dagegen hervor, daß jener Vorschlag widersprüchlich sei, da der Begriff des anderen auch das eigene Kind umfasse71 . Im übrigen fehle es an einem praktischen Bedürfnis für die vorgeschlagene Einschränkung. Denn wer seine Tochter entführe, um die Sorge eines Dritten um das Wohl des Kindes zu einer Erpressung zu benutzen, begehe eine kriminelle Tat, die in höchstem Maße strafwürdig erscheine. Unerträgliche Härten drohten im Hinblick auf die anderen notwendigen Voraussetzungen des erstrebten Rechts nicht72 • b) Die Entscheidung gegen einen einheitlichen Geiselnahmetatbestand

Auf Zustimmung traf ferner die in Aussicht genommene Ausweitung des geltenden Rechts auf Täter, die erpressungsfremde Tatziele verfolgten 73 . Insoweit traten freilich konzeptionelle Differenzen zutage, die man schlagwortartig unter die Begriffe Einheitslösung und Zielunterteilung fassen kann. Die Einheitslösung, für die die Formulierungshilfe des Landes NordrheinWestfalen stand, beruhte auf der Prämisse, daß allein ein sämtliche Zielvorstellungen gleichermaßen umschließender einheitlicher Geiselnahmetatbestand Sinn mache74. Differenzierungen nach dem vom Täter verfolgten Tatziel seien nicht 67 Vgl. Bauer; in: Prot. 6149 S. 1565, 1548; Diemer-Nicolaus, in: Prot. 6149 S. 1553; Klug, in: Prot. 6149 S. 1548; de With, in: Prot. 6149 S. 1552; Wulf, in: Prot. 6149 S. 1549, 1551; BT-Drucks. 612722 S. 1 f., 4. 68 Zu diesem Gedanken u. S. 204 f. 69 Deutlich etwa Ficker; in: Pfundtner I Neubert, Neues Reichsrecht II c 6 S. 10 I; BTDrucks. 1 I 3713 S. 40; Bocke/mann, in: Niederschr. 6 S. 272. 70 Kunert, in: Prot. 6149 S. 1554. 11

Maier; in: Prot. 6149 S. 1561.

n Müller-Emmert, in: Prot. 6149 S. 1561; BT-Drucks. 612722 S. 1 f., 4. 73 Vgl. Bauer; in: Prot. 6149 S. 1565; Diemer-Nicolaus, in: Prot. 6149 S. 1553; Klug, in: Prot. 6149 S. 1548; Neuberger; in: Prot. 6149 S. 1567; Wulf, in: Prot. 6149 S. 1551 ; BTDrucks. 612722 S. 1, 3.

1. Kap.: Die Entstehungsgeschichte der§§ 239a, 239b

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angezeigt; denn die zu erfassenden Fallgestaltungen hätten alle gemein, daß ein Mensch durch die Beschränkung eines seiner wertvollsten Rechtsgüter als Mittel zum Zweck der Einwirkung auf die freie Willensbildung oder Willensbetätigung eines anderen Menschen mißbraucht werde und daß dies in der Absicht geschehe, die Sorge einzelner oder der Allgemeinheit um das Wohl des Opfers auszunutzen75 • Die Mehrheit im Sonderausschuß folgte dem nicht76. Sie trat vielmehr für die am Nötigungsziel ausgerichtete differenzierende Lösung der Formulierungshilfen Bayerns sowie des Bundes ein. Danach war dem Geiselnahmetatbestand der Tatbestand des erpresserischen Menschenraubes gegenüberzustellen; dieser sollte das Tatziel Erpressung erfassen, jener das Tatziel Nötigung77 . Den Anlaß für derartige Zielunterteilungen gaben einschlägige Wertungen des Nötigungsstrafrechts. Das Ausschußprotokoll faßt die entsprechenden Ausführungen des Regierungsvertreters Wulf wie folgt zusammen78 : "Der Unrechtsgehalt einer Erpressung sei im Durchschnitt eo ipso höher als der einer Nötigung. Das Unrecht einer Erpressung werde indiziert durch den rechtswidrigen Vermögensvorteil, wobei auch eine engere Verknüpfung mit dem Nötigungsmittel gegeben sei, während bei der Nötigung im engeren Sinne das Ziel wertneutral sein könne, ja sogar ein Anspruch auf das Geforderte bestehen und dieser Anspruch dem Nötigungsmittel einen Teil seines Schuldgehalts nehmen könne ... Angesichts dessen müsse man davon ausgehen, daß eine generelle Gleichwertigkeit der Erpressung einerseits und der Nötigung andererseits nicht gegeben sei . .. (Es) könne bei der Freiheitsberaubung mit Nötigung das Nötigungsziel naturgemäß nur vage umschrieben werden ... (Es) könnten ... theoretisch auch Lappalien darunter fallen wie das Unterlassen eines Gasthaus- oder eines Kinobesuchs."

Und weiter79 : Es stelle sich "die Frage ... , ob es überhaupt sinnvoll sei, die Erpressung kriminalpolitisch als verwerflicher anzusehen als die Nötigung. Er verkenne nicht, daß es Fälle der Nötigung gebe, die verwerflicher und für den Betroffenen wesentlich einschneidender seien als die bloße Zahlung einer (gemeint, offensichtlich: nicht geschuldeten) Summe Geldes. Auf der anderen Seite sei zu bedenken, daß bei der Nötigung das Unrecht vielfach nur darin bestehe, daß der Täter unzulässige Mittel einsetze, um einen an sich zu Recht bestehenden Anspruch durchzusetzen ... Die unterschiedliche Wertung beruhe jedenfalls nicht darauf, daß Geld als ein besonders hohes Gut angesehen werde." 74 So Klug, in: Prot. 6/49 S. 1548, 1563; Kunert, in: Prot. 6/49 S. 1554; Neuberger, in: Pro!. 6/49 S. 1567; zustimmend Freiherr Ostman von der Leye, in: Pro!. 6/49 S. 1555, 1559, 1561; Wulf, in: Prot. 6/49 S. 1559 glaubte immerhin, diese Lösung hinnehmen zu können. 75 Neuberger, in: Prot. 6/49 S. 1567; ebenso Klug, in: Prot. 6/49 S. 1548. 76 Vgl. Prot. 6/49 S. 1563. 77 So Mü/ler-Emmert, in: Pro!. 6/49 S. 1561; Wulf, in: Prot. 6/49 S. 1551, 1558 f., 1560; BT-Drucks. 6/2722 S. 2. 78 Wulf, in: Prot. 6/49 S. 1559. - Hervorhebungen von mir. 79 Wulf, in: Prot. 6/49 S. 1560.

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Auf der Grundlage dieser Zielunterteilung bedurfte es weiterer Überlegungen zu den Voraussetzungen und Rechtsfolgen der erstrebten Regelungen. Dem Gleichbehandlungsgebot (hier: dem Gebot, wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln) war nur dann Rechnung getragen, wenn man die Geiselnahme enger faßte und I oder milder bestrafte als den erpresserischen Menschenraub. Dies war unter den Befürwortern der differenzierenden Lösung unstreitig. Probleme bereitete die Wahl des Kompensationskriteriums. Die bayerische Formulierungshilfe befürwortete insoweit die Berücksichtigung unterschiedlicher Aspekte. Es gelte einerseits, die Strafrahmen der in Aussicht genommenen Vorschriften untereinander abzustimmen, andererseits, den Geiselnahmetatbestand auf einen engen Kreis tauglicher Nötigungsadressaten zu beschränken. Eine Geiselnahme liege nur dort vor, wo die beabsichtigte Nötigung eines der in § 105 Abs. 1 genannten Organe beziehungsweise ein ausländisches Organ in entsprechender Stellung, eine der in § 106 Abs. 1 genannten Personen beziehungsweise eine ausländische Person in entsprechender Stellung oder eine Behörde, einen Beamten oder Soldaten betreffe. Für diesen Fall sei ein Regelstrafrahmen von einem Jahr bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe angemessen. Im übrigen reichten die allgemeinen Vorschriften zum Schutz der Freiheit aus80. Dieser adressatenbezogenen Lösung wurde von der Mehrheit im Sonderausschuß81 entgegengehalten, daß sie zu einseitig auf die Erfassung politisch motivierter Geiselnahmen ausgerichtet sei und selbst insofern noch Lücken aufweise, da bedeutsame Entscheidungen in einem demokratischen Staat nicht nur von Verfassungsorganen oder Behörden, sondern auch von Parteien, Gewerkschaften oder Verbänden, ja selbst von bestimmten Privatpersonen getroffen würden 82 . Sachgerechte Ergebnisse ließen sich nur erzielen, wenn man die Person des in Aussicht genommenen Nötigungsadressaten vernachlässige und stattdessen entscheidend auf den beabsichtigten Einsatz besonders verwerflicher Nötigungsmittel abstelle. Diesen Weg ging Formulierungshilfe des Bundes, die wegen Geiselnahme allein denjenigen bestraft wissen wollte, der in der Absicht I mit dem Vorsatz handelt, das erstrebte Nötigungsziel unter Androhung des Todes oder einer schweren Körperverletzung zu erreichen; der erpresserische Menschenraub sollte demgegenüber allgemein an dem Wohl des Opfers anknüpfen. Der Entwurf ging davon aus, daß das aufgezeigte Kompensationsproblem damit gelöst sei. Der Festschreibung unterschiedlich strenger Strafrahmen bedürfe es nicht83 .

80 81 82 83

Bauer, in: Prot. 6/49 S. 1566, 1548; Böttcher, in: Prot. 6/49 S. 1560. Vgl. Prot. 6/50 S. 1575. Wulf, in: Prot. 6/49 S. 1551, 1560; ferner BT-Drucks. 6/ 2722 S. 3 f. Wulf, in: Prot. 6/49 S. 1551, 1549 f.; ferner BT-Drucks. 6/2722 S. 4, 2.

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2. Die tatbestandliehe Ausgestaltung des erpresserischen Menschenraubs I der Geiselnahme Was die tatbestandliehe Ausgestaltung des erpresserischen Menschenraubs I der Geiselnahme angeht, so will ich mich im folgenden kurz fassen; die Einzelheiten sind im Zuge der Untersuchung des geltenden Recht zu erörtern. An dieser Stelle nur so viel: (1) Die formelle Vollendung sollte entsprechend dem Vorbild der§§ 239a Abs. 1 1936, 239a Abs. 1 1953, 165 Abs. 1 E 1962 vergleichsweise früh eintreten. Pönalisiert wurde durchweg das Handeln in erpresserischer I nötigender Absicht. Lediglich die Formulierungshilfe des Bundes stellte dem so beschriebenen Absichtstatbestand einen sogenannten Ausnutzungstatbestand für den Fall gegenüber, daß der Täter die Erpressungs- I Nötigungsabsicht erst zu einem Zeitpunkt faßt, in dem er das Opfer bereits in seiner Gewalt hat (Beispiel: Entführungsfall Rinnelt84). Sinn dieser Regelung sollte es sein, drohende Strafbarkeitslücken zu vermeiden85 . Der Sonderausschuß stimmte ihr zu, ohne weitergehende Überlegungen in der Sache anzustellen 86. Daß es möglich gewesen wäre, die als regelungsbedürftig erachteten Fälle über den Absichtstatbestand zu lösen87 , wurde- soweit ersichtlich -nicht gesehen.

(2) Während die Formulierungshilfen der Länder Bayern und Nordrhein-Westfalen die Handlungsmerkmale der §§ 239a Abs. 1 1936, 239a Abs. 1 1953, 165 Abs. 1 E 1962 unbesehen übernahmen, schlug der Bund vor, die Freiheitsberaubungsalternative des geltenden Rechts durch eine Sichbemächtigungsalternative (vgl. auch § 234 Abs. 1) zu ersetzen. Dies sei insofern erforderlich, als der Begriff der Freiheitsberaubung überall dort versage, wo der Täter auf ein Opfer treffe, das keinen Fortbewegungswillen bilden beziehungsweise betätigen könne. Hier drohten Lücken für den Fall, daß es an den Voraussetzungen einer Entführung fehle (Beispiel: T zwinge die Eltern D dazu, sich vom Kinderwagen des Kleinstkindes 0 zu entfernen). Der Begriff der Sichbemächtigung knüpfe demgegenüber an der Begründung tatsächlicher Herrschaft an. Er erfordere lediglich einen Machtzuwachs auf Täterseite. Der Verengung oder gar Beseitigung vorhandener Freiheitsräume auf Opferseite bedürfe es nicht88 . Diese Argumentation vermochte zu überzeugen 89 . 84 Der Spiegel 1964/10 S. 26 ff.; 1967/24 S. 44 f. ; ferner Der Spiegel 1968/30 S. 53 f.; 1968/31 S. 27; 1968/33 S. 32 f. 85 Wu/f, in: Prot. 6/49 S. 1550; ferner BT-Drucks. 6/2722 S. 2, 4. 86 Prot.6/50S.1572, 1575. 87 s. hierzu bereits Kirchner; in: Olshausen [12.] § 239a Anm. 3, 5d, 6a. 88 Vgl. vor allem Maier; in: Prot. 6/49 S. 1562; Wu/f, in: Prot. 6/49 S. 1549, 1551; zustimmend Diemer-Nicolaus, in: Prot. 6/49 S. 1553; Kunert, in: Prot. 6/49 S. 1554; de With, in: Prot. 6/49 S. 1552 f.; BT-Drucks. 6/2722 S. 2, 4. 89 Prot. 6/50 S. 1572, 1575.

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(3) Die Ausgestaltung der Erpressungs-/Nötigungskomponenten bereitete dem Sonderausschuß keine Schwierigkeiten. Gefolgt wurde auch insofern durchweg den Vorgaben der Formulierungshilfe des Bundes90. Der Tatbestand des erpresserischen Menschenraubs sollte sich unmittelbar an§ 165 Abs. 1 E 1962 anlehnen91 , also immer dann erfüllt sein, wenn der Täter in der Absicht I mit dem Vorsatz handelt, die Sorge eines Dritten um das Wohl des Opfers zu einer Erpressung auszunutzen. Der Inhalt dieser Wendung blieb freilich recht dunkel 92 ; man forderte zwar keine Schädigung von Leben und Leib93 , ließ andererseits aber die bloße Freiheitsentziehung nicht ausreichen 94. Eine deutlich engere und präzisere Fassung erhielt die Nötigungskomponente des Geiselnahmetatbestandes. Sie knüpfte tatsächlich an Leben und Leib, genauer an der Drohung mit dem Tod oder einer schweren Körperverletzung im technischen Sinne (Beispiel: Drohung mit der Blendung des Opfers) an95 • Bestrebungen, diesen Drohmittelkatalog um die Freiheitsentziehung von einer bestimmten Mindestdauer zu ergänzen, trat man entgegen: Die bloße Drohung: "Der schmort so lange, bis ihr unsere Leute freilaßt!" rechtfertige nicht die relativ hohe Mindeststrafdrohung96. (4) Auf Ablehnung stieß der Vorschlag, besonders schwere beziehungsweise qualifizierte Fälle von erpresserischen Menschenraub I Geiselnahme97 verschärft zu bestrafen98 . Dies gilt insbesondere für die bereits im Bundesratsentwurf enthaltene Anregung, dem Täter die schwere körperliche Mißhandlung des Opfers gesondert zur Last zu legen. Strafschärfungen dieser Art vergrößerten lediglich die Gefährlichkeit der Situation, indem sie den Tater zur Tötung des Opfers trieben. Präventionswirkungenseien von ihnen nicht zu erwarten 99 .

Ebda. BT-Drucks. 612139 S. 4; Wulf. in: Prot. 6149 S. 1549. 92 Klärung sollte die Rspr. herbeiführen, vgl. Wulf. in: Prot. 6149 S. 1550. 93 Wulf. in: Prot. 6149 S. 1549 f.; BT-Drucks. 612722 S. 2; kritisch Kunert, in: Prot. 61 49 S. 1554; unklar Schlee, in: Prot. 6150 S. 1572. 94 Wulf. in: Prot. 6149 S. 1558; kritisch Böttcher, in: Prot. 6149 S. 1554. 95 Hierzu Wulf. in: Prot. 6149 S. 1551. 96 Wulf. in: Prot. 6 I 49 S. 1560, 1551 , 1558; ferner BT-Drucks. 6 I 2722 S. 3; abw. Böttcher, in: Prot. 6149 S. 1560. 97 Die Eifo/gsqualifikationen interessieren nicht, vgl. o. S. 9. 98 Prot.6150S. l575. 99 Eyrich, in: Prot. 6151 S. 1578; Wulf. in: Prot. 6149 S. 1550, 1554, 1555; ders. , in: Prot. 6 I 50 S. 1574; wohl auch Diemer-Nicolaus, in: Prot. 6 I 50 S. 1574; de With, in: Prot. 6 I 49 S. 1553; a.A. Bauer, in: Prot. 6149 S. 1565, 1566, 1547; Böttcher, in: Prot. 6150 S. 1573; Klug, in: Prot. 6/49 S. 1549; Neuberger, in: Prot. 6149 S. 1567; wohl auch Schlee, in: Prot. 6149 S. 1552; ders., in: Prot. 6150 S. 1574. 90

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3. Der Rücktritt von der Vollendung des erpresserischen Menschenraubs I der Geiselnahme Bereits der Entwurf des Bundesrates sah eine Privilegierung des Taters für den Fall vor, daß er vom vollendeten Delikt zurücktritt. Voraussetzung dieses Privilegs, das den Richter zu einer Strafmilderung nach Maßgabe des § 15 a. F. berechtigte, war die gefahrenlose Freilassung des Kindes aus freien Stücken beziehungsweise das entsprechende ernsthafte und freiwillige Bemühen. Identische Regelungen enthielten die Formulierungshilfen der Länder Bayern und Nordrhein-Westfalen. Auch der Bund stand auf dem Standpunkt, daß es richtig sei, den Rücktritt von der Vollendung zu honorieren. Den Formulierungsvorschlag des Bundesrates erachtete er freilich aus mehreren Gründen als zu weitreichend 100. In tatbestandlieber Hinsicht wurde vor allem die Festschreibung einer sogenannten Leistungsverzichtsklausel gefordert. Die Rechtsfolge sollte nicht § 15 a. F., sondern lediglich § 44 Abs. 1, 2 a. F. zu entnehmen sein. Im einzelnen: (1) Das Bedenken, daß ein Verweis auf den günstigen § 15 a. F. zu weit reiche, wurde vom Sonderausschuß geteilt 101 • (2) Aus der kriminalpolitischen Funktion der Rücktrittsvorschrift, dem Schutz des Lebens des Opfers, wurde entsprechend den Vorgaben der Formulierungshilfe des Bundes der Schluß gezogen, daß es nicht angehe, die Frage nach dem Ob der Privilegierung von einem gerade freiwilligen Verhalten des Taters abhängig zu machen 102 . (3) Keinerlei Widerstand begegnete weiterhin der Vorschlag, das Privileg an die Rückerlangung des Lebenskreises zu knüpfen 103 • Damit zog man die Konsequenz aus der Ersetzung der Freiheitsberaubungsalternative durch die Sichbemächtigungsalternative. (4) Die vom Bundesrat angeregte Beschränkung des Rücktrittsprivilegs auf solche Täter, die ein opferschonendes Freigabeverhalten an den Tag legten, wurde ohne Auseinandersetzungen in der Sache verworfen 104• (5) Sehr kontrovers war die Frage, ob es sinnvoll sei, das Rücktrittsprivileg auf den Fall zu beschränken, in dem der Tater auf die erstrebte Leistung verzichtet. Eine verbreitete Ansicht trat einer derartigen Leistungsverzichtsklausel unter Verweis auf die schützenswerten Interessen des in der Hand des Täters befindlichen Opfers entgegen 105 . Zur Begründung kann beispielhaft auf die entsprechenBT-Drucks. 6/2139 S. 4; Wulf, in: Prot. 6/49 S. 1550 f. Prot. 6/50 S. 1575, 1581. 102 Ebda. 103 Ebda. 104 Ebda. 105 Diemer-Nicolaus, in: Prot. 6/49 S. 1553; dies., in: Prot. 6/50 S. 1575; dies. , in: Prot. 6/51 S. 1579, 1580; Klug, in: Prot. 6/49 S. 1561; Kunert, in: Prot. 6/49 S. 1554; Maier, in: 100 101

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den Ausführungen der Abgeordneten Diemer-Nicolaus verwiesen werden. Das Ausschußprotokoll faßt zusammen: Bei der "Frage, wie man dem Täter eine goldene Brücke bauen könne, müsse immer der Gesichtspunkt im Vordergrund stehen, daß alles getan werden sollte, um das Leben des Opfers möglichst zu schonen. Sie verstehe durchaus die Besorgnis, daß man es nicht so machen könne, daß der Täter erst kassiere, dann sein Opfer freilasse und nun milder bestraft werde. Sie sei aber der Meinung, daß es in erster Linie darauf ankomme zu erreichen, daß das Opfer nach Möglichkeit ohne gesundheitliche Schäden freigelassen werde .. . Wertvoller als die Geldsumme ... seien das Leben und die Gesundheit des Opfers, das nun einmal stärker gefährdet werde, wenn man von vornherein die Möglichkeit einer Strafmilderung für den Fall ausschließe, daß der Täter auch nur eine einzige Mark annehme .. . Wenn die Worte ,unter Verzicht auf die erstrebte Leistung ' ... aufgenommen würden, bestehe die Gefahr, daß der Entführer das Opfer nach Kassieren des Lösegeldes töte, um nicht entdeckt zu werden ... Den dogmatischen Bedenken gegen eine Streichung der Worte ,unter Verzicht auf die erstrebte Leistung' sei entgegenzuhalten, daß es darum gehe, eine für das Opfer möglichst günstige Regelung zu finden" 106. Schließlich "sei zu bedenken, daß es sich nur um eine KannVorschrift handle und daß die Strafe nicht erlassen, sondern nur nach den Grundsätzen der Versuchsbestrafung gemildert werden könne ... (Der) Erpresser habe natürlich keinen Anspruch darauf, das Geld zu behalten, sondern müsse es herausgeben. Allerdings müsse man den Täter erst einmal haben. Sollte er das Geld nicht herausgeben, werde ihm das Gericht auch nicht die mildere Bestrafung . .. zugute kommen lassen" 107 • Die Gegenmeinung 108 hob unter Federführung der jeweils anwesenden Regierungsvertreter namentlich auf gesetzessystematische und generalpräventive Aspekte ab. Erkenne man an, daß einerseits der Rücktritt systematisch gesehen eine Ausnahme zu der Regel des Tatbestandes bilde und daß andererseits das Opfer die Tat in dem von diesem Tatbestand in Aussicht genommenen Regelfall überlebe (arg.: die Tötung des Opfers trage eine Strafschäifung), so gewährleiste allein das in Frage stehende Verzichtserfordernis angemessene Ergebnisse. Der glückliche Ausgang der Tat beruhe ja praktisch immer auf einem irgendwie gearteten Freigabeverhalten des Täters (seltene Ausnahme: die gewaltsame Befreiung des Opfers Prot. 6/51 S. 1579, 1580; Schlee, in: Prot. 6/49 S. 1552; ders. , in: Prot. 6/50 S. 1575; ders., in: Prot. 6/51 S. 1579, 1580, 1581. 106 Diemer-Nicolaus, in: Prot. 6/49 S. 1553; dies., in: Prot. 6/50 S. 1575; dies., in: Prot. 6/51 S. 1579, 1580. 107 Diemer-Nicolaus, in: Prot. 6/51 S. 1579, 1580. 108 Vgl. vor allem Wulf, in: Prot. 6/49 S. 1550, 1555, 1555 f.; Freiherr Ostman von der Leye, in: Prot. 6/51 S. 1581 warnte davor, "eine ausgesprochene Unrechtshandlung zu prämieren"; de With, in: Prot. 6 I 51 S. 1579 wies auf die Gefahr hin, daß der Tater "ungefährdet Kasse machen" könne; vgl. schließlich Brandt, in: Prot. 6/51 S. 1580; Eyrich, in: Prot. 6/ 51 S. 1579, 1580, 1581; Freiherr Ostman von der Leye, in: Prot. 6/50 S. 1575; de With, in: Prot. 6/50 S. 1575; dens., in: Prot. 6/51 S. 1580; Sturm, in: Prot. 6/51 S. 1580; BT-Drucks. 6/2722 s. 3.

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1. Kap.: Die Entstehungsgeschichte der§§ 239a, 239b

durch die Polizei). Die Reduktion der Rücktrittsvorschrift auf die Freigabe des Opfers bewirke eine Umkehrung der deliktischen Ausnahme zur Regel, und zwar eine solche, die das Strafrahmengefüge des § 239a 1971 im allgemeinen herabsetze und die generalpräventive Wirkung des § 239a Abs. 1 1971 im besonderen empfindlich beeinträchtige 109. Wer dagegen auf den Vorrang der Opferinteressen verweise, übersehe, daß nicht nur das in der Hand des Täters befindliche, sondern auch und vor allem das potentielle Opfer Schutz verdiene. Aus dessen Sicht mache die erstrebte Verzichtsklausel aber durchaus Sinn. Denn sie begründe ein Hemmnis, das potentielle Taten erschwere. Dem Opfer der konkreten Tat schließlich könne man ohne weiteres über den Regelstrafrahmen helfen, etwa indem man nach erfolgter Freigabe nicht auf zwölf, sondern auf sechs oder acht Jahre Freiheitsstrafe erkenne110. Den vorgenannten Erwägungen wurde entgegengehalten, daß das Ausmaß der in Aussicht zu stellenden Vergünstigung zu gering sei, um eine generalpräventiv faßbare (Gegen-) Wirkung zu erzielen. Auch fehle es an der insoweit erforderlichen Rezeption. Die größte Bedeutung erlange das Rücktrittsprivileg dort, wo das Opfer bereits beherrscht werde, da man dem Täter in diesem Fall sagen könne: "Wenn Du das Opfer herausgibst, kannst Du mit einer relativ milden Strafe rechnen!" 111 • Diese Kritik forderte freilich den Einwand heraus, daß es keinen Sinn mache, dem Rücktrittsprivileg eine kriminalpsychologische Brückenwirkung zuzuschreiben, wenn man zugleich unterstelle, der Täter blicke nicht ins Gesetz; dieses allein könne ihm Kenntnis von der Existenz der Brücke verschaffen 112. Damit war man in einer Sackgasse angelangt. Sicherlich konnte nunmehr entgegnet werden, daß es im Einzelfall darauf ankomme, den Täter durch Fernsehen, Rundfunk oder Presse auf die Existenz des Rücktrittsprivilegs aufmerksam zu machen 113 • Wer dies tat, sah sich jedoch wiederum dem Bedenken von seiten der Generalprävention ausgesetzt: Nach dem dritten oder vierten Fall eines Aufrufs im Fernsehen wüßten alle potentiellen Täter über die Möglichkeiten einer Strafmilderung Bescheid 114. Der Sonderausschuß folgte zunächst den Gegnern einer Verzichtslösung 115 . Letztlich aber überzeugte ihn die Argumentation der Regierungsvertreter 11 6 • Wulf, in: Prot. 6/49 S. 1550, 1555, 1555 f. Sturm, in: Prot. 6/51 S. 1580. 111 Maier; in: Prot. 6/51 S. 1581; ferner Diemer-Nicolaus, in: Prot. 6/51 S. 1581; Rischau, in: Prot. 6/51 S. 1581; auch Krüger; in: Prot. 6/51 S. 1581 vertrat die Ansicht, daß poten109

110

tielle Straftäter nicht vorher ins Gesetzbuch sähen, um nachzulesen, wie sie es wohl einrichten könnten, von Strafe freizukommen bzw. die Strafe niedrig zu halten; a. A. offenbar Eyrich, in: Prot. 6/51 S. 1581; Wulf, in: Prot. 6/49 S. 1555. 112 Wissebach, in: Prot. 6/51 S. 1581. 113 Krüger; in: Prot. 6/51 S. 1581. 114 de With, in: Prot. 6/51 S. 1581. 115 Prot. 6/50 S. 1575. 116 Prot. 6/51 S. 1581.

D. Das Zwölfte Strafrechtsänderungsgesetz vom 16. 12. 1971

45

II. Die §§ 239a 1971, 239b 1971 in Rechtsprechung undLehre Da das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und des Versammlungsgesetzes und zur Einführung einer Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten (im folgenden: Artikelgesetz) von 1989 die §§ 239a 1971, 239b 1971 im Kern unangetastet ließ, stellt ihre Ausfüllung durch Rechtsprechung und Lehre weniger ein historisches Problem als ein Problem der Gegenwart dar. Als solches gehört sie in einen anderen Zusammenhang. Rückblickend zu erörtern sind lediglich die Streitfragen, die das sogenannte Zwei-Personen-Verhältnis aufwarf. Der zu prüfende Obersatz lautete: Können die§§ 239a Abs. I 1971, 239b Abs. 1 1971 auch dort angewendet werden, wo die Person, die der Tater erpressen I nötigen will, mit der Person, deren er sich bemächtigte, identisch ist (ZweiPersonen-Verhältnis) oder bedarf es insoweit der Betroffenheit mehrerer (Drei-Personen-Verhältnis)? 1. Grundsatz: Keine Anwendung der Vorschriften im Zwei-Personen-Verhältnis

Die Antwort auf diese Frage hatte von dem vom Tater verfolgten Tatziel auszugehen. Handelte es sich bei diesem um eine Nötigung, stand also die Anwendung des Geiselnahmetatbestandes in Rede, so konnten allein Fälle mit Drei-Personen-Bezug erfaßt werden. Dies ergab sich ohne Zweifel aus dem Gesetz (vgl. § 239b Abs. 1 1971: "einen Dritten ... zu nötigen") und war daher allgemein anerkannt 117 . Schwierigkeiten bereitete demgegenüber die beabsichtigte I unternommene Erpressung im Zwei-Personen-Verhältnis. Sie sollte nach Ansicht einer literarischen Minderheit zumindest dann unter § 239a Abs. 1 1971 fallen, wenn der Plan des Täters vorsah, das Opfer mit Hinweis auf die zu schürenden Ängste eines Dritten (etwa: des Ehegatten, des Kindes, der Verwandten, der Freunde des Opfers) zu dem vermögensschädigenden Verhalten zu veranlassen 118 . Der Gesetzeswortlaut deckte derartige Überlegungen in der Tat. Allein, sie muteten konstruiert an und machten überdies aus intersystematischer Sicht wenig Sinn. Ihnen stand schließlich die Erkenntnis entgegen, daß die §§ 239a Abs. 1 1971, 239b Abs. 1 1971 auf eine gemeinsame Entstehungsgeschichte zurückblicken konnten; Anhaltspunkte für die Annahme, § 239b Abs. 1 1971 decke nur das Drei-PersonenVerhältnis ab, während§ 239a Abs. 11971 auch Fälle mit Iediglichern Zwei-Perso117 Vgl. BGH, NStE § 239b Nr. 2 S. 1; Blei, JA 1977 S. 92 f. ; dens. , BT § 20 II, 3; Eser; in: SchönkeiSchröder [23.] § 239b Rdn. 6; Hansen, GA 1974 S. 363; Lackner [18.] § 239b Anm. 1, 2; Müller-Emmert/Maier; MDR 1972 S. 97; Rengier; GA 1985 S. 319; Schiife r; in: LK § 239b Rdn. 5 f.; ebenso bei Befürwortung des Zwei-Personen-Verhältnisses de lege ferenda Backmann, JuS 1977 S. 446; Dreher I Trändie [44.] § 239b Rdn. 4. 118 Blei, JA 1975 S. 93; ders. , BT § 20 II, 2; Dreher I Trändie [44.] § 239a Rdn. 6; Hansen, GA 1974 S. 363 f. sowie passim; Preisendanz § 239a Anm. VI, 1a.

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l. Kap.: Die Entstehungsgeschichte der§§ 239a, 239b

nen-Bezug erfasse, enthielten die amtlichen Materialien nicht. Die herrschende Ansicht interpretierte § 239a Abs. I 1971 deshalb im Lichte des § 239b Abs. I 1971. Sie wies ihm nur solche Täter zu, die darauf aus waren, einen vom Opfer des Gewaltverhältnisses zu unterscheidenden Dritten zu erpressen 119 , erachtete es freilich als irrelevant, in wessen Person der in Aussicht genommene Vermögensnachteil eintreten sollte 120. Kurzum: Das Erfordernis der Personenverschiedenheit wurde in strikter Anlehnung an§ 239b Abs. I 1971 auf den Nötigungssachverhalt bezogen. Das Wie der internen Vermögenszuordnung interessierte nicht (Beispiel: § 239a Abs. 1 1971 war gegeben, wenn der Täter beabsichtigte, die selbst vermögenslose Gattin des in seiner Gewalt befindlichen Millionärs zur Zahlung des Lösegeldes zu veranlassen). 2. Scheinbare Ausnahme: Anwendung der Vorschriften im verkappten Drei-Personen-Verhältnis Aus der umschriebenen herrschenden Ansicht zu den§§ 239a Abs. 11971, 239b Abs. 1 1971 folgte nicht notwendig, daß es sich bei dem zu erpressenden/zu nötigenden Dritten um einen dem Einzugsbereich des Täters entzogenen (außenstehenden) Dritten handeln mußte. So stellte bereits BGH, Urt. v. 21. 07. 1976-2 StR 340176 klar: Der "Tatbestand des § 239b Abs. I . . . setzt nicht voraus, daß der Dritte, der zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung genötigt werden soll, sich, wie im vorliegenden Fall die Polizeibehörde bei dem Telefonanruf, völlig außerhalb des vom Täter beherrschten Bereichs aufhält" 121 . Entsprechend heißt es in BGH, StV 1987,483: .. . daߧ 239a Abs. 1 Hs. 2 1971 auch dort Anwendung findet, wo "einer zunächst gegen mehrere Personen gerichteten Erpressung dadurch besonderer Nachdruck verliehen wird, daß der Täter- im weiteren Verlauf der Tat - die Sorge eines seiner Opfer um das Wohl einer anderen in seiner Gewalt befindlichen Person als Erpressungsmittel ausnutzt ... Der Wortlaut ... deckt diese Auslegung, was keiner näheren Begründung bedarf. Es sind auch keine Gründe ersichtlich, warum der Täter nur deshalb besser gestellt werden sollte, weil er sich der Sorge um das Wohl einer Person als Druckmittel bedient, die er zugleich selbst erpreßt"122. Die Lehre stimmte dem weitgehend zu 123.

119 BGHSt 25, 386, 386 f.; Arzt/Weber, BT 3 Rdn. 369; Bockelmann, BT 2 § 24 I, 2a, bb; Bohlinger, JZ 1972 S. 231 ; Eser, in: Schönke/Schröder [23.) § 239a Rdn. 13; Horn, StV 1987 S. 484; Lackner [18.) § 239a Anm. 3b; Müller-Emmert / Maier, MDR 1971 S. 97; Schäfer, in: LK § 239a Rdn. 12; offengelassen von BGH, StV 1987,483,483. 12o Eser, in: Schönke/ Sehröder [23.] § 239a Rdn. 13; Schäfer, in: LK § 239a Rdn. 15.

121 BGH, Urt. V. 21. 07. 1976-2 StR 340/76 s. 7.

BGH, StV 1987, 483, 483 f. Vgl. Eser, in: Schönke/Schröder [23.) § 239a Rdn. 13, § 239b Rdn. 1, 6; Horn, StV 1987 S. 484; Lackner [18.] § 239a Anm. 4, § 239b Anm. 2; schließlich Blei, JA 1975 S. 164 f.; abw. Rengier, GA 1985 S. 319; wohl auch Kunert/Bemsmann, NStZ 1989 S. 450. 122

123

E. Das Artikelgesetz vom 09. 06. 1989

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Die Anwendung der§§ 239a Abs. I I97I, 239b Abs. I I97I auf derartige verkappte Drei-Personen-Verhältnisse vermochte freilich nichts an der Tatsache zu ändern, daß Fälle mit Iediglichern Zwei-Personen-Bezug ausnahmslos außen vor blieben 124. Es bedurfte daher stets des positiven Nachweises eines funktionalen Zusammenhangs zwischen der tatsächlichen Beherrschung des (einen) Opfers und der in Aussicht genommenen Erpressung/Nötigung des Dritten (als des anderen Opfers). Nach BGHR § 239a Abs. I Ausnutzen I waren argumentative Automatismen insoweit fehl am Platze: "Daß sich die übrigen Angestellten auf den Boden zu legen hatten, mag dem Sicherungsbedürfnis des Angeklagten entsprochen haben. Seinem nachfolgenden Verhalten ist jedoch zu entnehmen, daß er sich gerade von der Bedrohung der Kassiererin den Erpressungserfolg versprach, nicht aber davon, daß weitere Angestellte in seinem Einflußbereich lagen. Einer Absicht im Sinne des § 239a Abs. I hätte es entsprochen, (auch) diese Personen mit der Pistole zu bedrohen, um die Kassiererin gefügig zu machen. Erpresserischer Menschenraub ist also dann nicht gegeben, wenn sich der Täter zwar auch anderer bemächtigt, sich den Taterfolg aber gerade vom bedrohenden Einfluß auf den Verfügenden selbst verspricht" 125 • Auch diese Ausführungen fanden im Schrifttum weithin Zustimmung126.

E. Das Artikelgesetz vom 09. 06. 1989 127 Das geltende Recht beruht auf dem Artikelgesetz von 1989.

I. Die Genese der §§ 239a 1989, 239b 1989 Die Wurzeln dieses Gesetzes reichten mehr als zehn Jahre zuriick. 1. Die Entwürfe des Jahres 1975

In der Hochzeit des linksextremistischen Terrors zur Mitte der 70er Jahre wurde der Ruf nach Verschärfungen des Strafrechts im allgemeinen, nach Verschärfungen des Geiselnahmetatbestandes im besonderen laut. Vorliegend sind zwei Gesetzesentwürfe aus dem Jahr 1975 von Bedeutung.

124

483.

So mit Nachdruck Horn, StV 1987 S. 484; offengelassen von BGH, StV 1987, 483,

BGHR § 239a Abs. 1 Ausnutzen 1 S. l. Rückblickend Eser, in: Schönke/ Sehröder § 239a Rdn. 13; Lackner I Kühl § 239a Rdn.4. 121 BGBI. I S. 1059. 125

126

48

1. Kap.: Die Entstehungsgeschichte der§§ 239a, 239b

Der Oppositionsentwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung terroristischer krimineller Vereinigungen vom 21. 05. 1975 128 enthielt ein Paket recht unterschiedlicher materiell- wie verfahrensrechtlicher Regelungen, von denen man sich Verbesserungen bei der Bekämpfung moderner krimineller Vereinigungen versprach. Man beabsichtigte, der akuten Bedrohung der inneren Sicherheit durch "terroristische kriminelle Banden" Herr zu werden, Konsequenzen aus einschlägigen Kriminalfällen der jüngsten Vergangenheit (scil.: Ermordung des Präsidenten des KG von Drenkmann im Zuge eines gescheiterten Entführungsversuchs 129; Entführung des Vorsitzenden der Berliner CDU Lorenz 130 ; Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm131) zu ziehen 132 . Was die hier interessierende Novellierung des§ 239b Abs. 1 1971 angeht, so schlug man vor, die Vorschrift auf das Zwei-Personen-Verhältnis auszuweiten sowie den Drohmittelkatalog der Vorschrift um die bloße Fortführung des Freiheitsentzugs zu ergänzen 133 • Mit den Neuerungen wurde die Schließung vermeintlicher Lücken bezweckt, die bei der Neuregelung des Bereichs der Geiselnahme im Jahre 1971 verblieben seien und in der Literatur mit gutem Grund als unbefriedigend, ja bedenklich bezeichnet würden 134. Der vom Bundesrat eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung terroristischer krimineller Vereinigungen vom 01. 09. 1975 135 unterstützte den Vorstoß der Oppositionsfraktion in der Tendenz wie im Detail. Auch er stand grundsätzlich auf dem Standpunkt, daß die Fassung des § 239b Abs. 1 1971 in entscheidender Hinsicht zu eng sei 136, begnügte sich freilich damit, die zur Diskussion gestellte Ausweitung des Drohmittelkatalogs auf die Freiheitsentziehung von mehr als einem Tag Dauer zu beschränken 137 . Die Oppositionsfraktion nahm diesen Vorschlag in ihrem Änderungsantrag zur zweiten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung, des Gerichtsverfassungsgesetzes, der Bundesrechtsanwaltsordnung und des Strafvollzugsgesetzes vom 23. 06. 1976 138 auf139 . Im Rechtsausschuß konnte sich weder der Oppositionsentwurf noch der Entwurf des Bundesrates durchsetzen 140. Auch der Sonderausschuß sah keinen Handlungs128 BT-Drucks. 713661 S. 3. 129 Der Spiegel 1974 I 47 S. 28 ff.; 1975 I 10 S. 22, 24. 130 Der Spiegel 1975110 S. 19 ff.; 1975111 S. 16, 19 ff.; 1975113 S. 28 ff.; 19751 14 s. 25 ff. 131 Der Spiegel 1975 I 18 S. 23 ff. 132 BT-Drucks. 713661 S. 1, 4. 133 BT-Drucks. 713661 S. 3. 134 BT-Drucks. 713661 S. 4, 6. 135 BT-Drucks. 7 I 4004 S. 4 f.; vgl. auch BT-Drucks. 7 I 5607 S. 1 ff. 136 Zur Begründung BT-Drucks. 7 I 4004 S. 6, 8. 137 BT-Drucks. 7 I 4004 S. 4; vgl. auch BT-Drucks. 7 I 5607 S. 3. 138 BT-Drucks. 7 I 5430 S. 1 ff. 139 BT-Drucks. 7 I 5430 S. 2.

E. Das Artikelgesetz vom 09. 06. 1989

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bedarf141 . § 239b Abs. 1 1971 wurde folglich unverändert beibehalten. Noch im Jahre 1988 stellte Tröndle fest, daß die Versuche, den Mängeln der geltenden Fassung des§ 239b Abs. I 1971 beizukommen, gescheitert seien 142. Er sollte sich geirrt haben.

2. Die Entwürfe der Jahre 1988/89 Mit dem Entwurf des Artikelgesetzes vom 26. 08. 1988 143 wurden die Bemühungen um eine Ausweitung des Geiselnahmetatbestandes wiederaufgenommen. Neu war der Vorschlag, das Rechtsfolgengefüge des § 239b 1971 zu verändern. Insoweit bezog man§ 239a 1971 mit in die Erörterungen ein 144. Der Entwurf des Artikelgesetzes von 1988 hatte mit den Entwürfen des Jahres 1975 gemein, daß er eine Vielzahl unterschiedlicher Regelungen zur Bekämpfung der sogenannten politisch motivierten Kriminalität in einem Gesetzeswerk zusammenfaßte 145 . Dennoch ist es nicht angängig, dort wie hier von dem Entwurf eines Anti-Terror-Gesetzes zu sprechen. Tatsächlich ging es nunmehr in erster Linie um eine Verfeinerung beziehungsweise Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts; zentrale Anliegen des Gesetzesentwurfs waren die Pönalisierung der Propagierung von Gewalt 146, die Pönalisierung der Aufforderung zur Teilnahme an einer verbotenen oder aufgelösten Versarnmlung 147 , die Strafbewehrung der versammlungsrechtlichen Vermummungs- beziehungsweise Bewaffnungsverbote148 sowie die Erweiterung des Deliktskatalogs des § 112a Abs. I Nr. 2 StPO auf Taten nach § 125a149. Die politisch motivierte Schwerstkriminalität interessierte, sieht man einmal von der sogenannten Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten 150 ab, nur peripher. Äußerungen, denen zufolge "die Verbrechen des erpresserischen Menschenraubs und der Geiselnahme nach wie vor typische Erscheinungsformen terroristischer Gewaltkriminalität" darstellten 151 , dürfen nicht dahin mißverstanden werden, daß der Gesetzgeber beabsichtigte, die 140 BT-Drucks. 7 I 5401 S. 6 unter Verweis auf BT-Drucks. 7 I 4004 S. 10. 141 Vgl. vor allem Laujhütte, in: Prot. 7/78 S. 2464. 142

DreheriTröndle [44.] § 239b Rdn. 4, 3.

143 BT-Drucks. 1112834 S. 4 ff. 144 Vgl. BT-Drucks. 11 I 2834 S. 4. 145 Allgemein zur Zielsetzung des Artikelgesetzes BT-Drucks. 11 I 2834 S. l, 7 f. 146 BT-Drucks. 1112834 S. 4, 8 f. 147 BT-Drucks. 1112834 S. 5, 12. 148 BT-Drucks. 11 I 2834 S. 5 f., 11 f. 149 BT-Drucks. 11 I 2834 S. 4 f., 10 f. 150 BT-Drucks. 1112834 S. 6, 13 f. 151 BT-Drucks. 1112834 S. 9; ebenso Bracht, in: Prot. 11140 S. 19;Lenhard, in: Prot. 111 38 S. 501 ; BT-Drucks. 11 I 4349 S. 13; kritisch Strafverteidigervereinigungen, in: Prot. 11 I 38 s. 392. 4 Imme)

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1. Kap.: Die Entstehungsgeschichte der§§ 239a, 239b

§§ 239a E 1988, 239b E 1988 auf terroristisch motivierte Straftaten zu beschränken oder auch nur zuzuschneiden. Reformziel war vielmehr allgemein, "schlimmen Fällen von erpresserischen Menschenraub und Geiselnahme" angemessen Rechnung zu tragen 152• Zur Konkretisierung: Als herausragend könnten die Fälle Jahn, Gutberlet, Egolf, Snoek und Oetker 153 genannt werden. Auch in jüngster Zeit habe es spektakuläre Fälle wie in Gladbeck 154 gegeben. Nach Auffassung der Bundesregierung rechtfertigten diese Ereignisse die vorgeschlagene Lösung155. Ging es den Schöpfern der§§ 239a 1989, 239b 1989 demnach weniger um die Erfassung politisch motivierter als generell um die Erfassung schwerster Gewaltkriminalität, so ist damit zugleich festgestellt, daß sich die Vorschriften nur bedingt in das kriminalpolitische Grundkonzept des Artikelgesetzes insgesamt einfügen ließen. Daraus folgte (naturgemäß?) eine gewisse Ablenkung. Die legislatorische wie öffentliche Auseinandersetzung, der es an Leidenschaft und Schärfe gewiß nicht mangelte 156, konzentrierte sich auf den Kerngehalt des Gesetzesentwurfs, etwa auf die versammlungsrechtlichen Vermummungs- beziehungsweise Bewaffnungsverbote oder auf die Kronzeugenregelung. Die §§ 239a E 1988, 239b E 1988 wurden kaum beachtet 157 .

a) Die Novellierung des§ 239b 1971

§ 239b E 1988Iehnte sich an die Entwürfe des Jahres 1975 an. Es ging also namentlich um die Einfügung des Zwei-Personen-Verhältnisses sowie darum, den Drohmittelkatalog um die (diesmal, im Gegensatz zu den Entwürfen des Jahres 1975: mehr als einwöchige) Freiheitsentziehung zu ergänzen. Neu war der Vorschlag, das Strafrahmengefüge der Norm zu verändern. Für den Normalfall wurde ein Mindestmaß von fünf Jahren, für den minder schweren Fall ein solches von einem Jahr Freiheitsstrafe festgesetzt 158 . Im einzelnen:

Stark, in: Prot. 11 I 40 S. 21.- Hervorhebung von mir. Zu ihnen Der Spiegel 1976 I 53 S. 24 ff. 154 Der Spiegel 1988 I 34 S. 16 ff.; 1988 I 35 S. 88 ff. !55 Kinkel, in: Prot. 11 I 4! S. 45 f. 156 Vgl. KunertiBernsmann, NStZ 1989 S. 449 f. 157 Wie wenig Aufmerksamkeit der historische Gesetzgeber den§§ 239a 1989, 239b 1989 widmete, belegen neben der Expertenanhörung im Rechtsausschuß vor allem die zweite und dritte Lesung des Gesetzesentwurfs im Bundestag. Während die Vorschriften hier nur ein einziges Mal kurz erwähnt wurden (vgl. Wüppensahl, in: Plenarprot. 11 I 138 S. 10214), sahen sich dort allein drei Experten zu sachlich weiterführenden Stellungnahmen veranlaßt (vgl. Hassemer, in: Prot. II I 38 S. 92; Pfeiffer, in: Prot. II I 38 S. 277; Stocker, in: Prot. II I 38 s. 130). rss Zu alledem BT-Drucks. II I 2834 S. 4. !52 !53

E. Das Artikelgesetz vom 09. 06. 1989

51

aa) Die Novellierung des Strafrahmengefüges Die Anhebung der Mindestfreiheitsstrafe des § 239b Abs. 1 1971 um zwei Jahre sei - so die Entwurfsbegründung - aus zwei Gründen angezeigt. Es gehe darum, einerseits dem besonderen Unrechtsgehalt dieser schweren Form von Gewaltkriminalität Rechnung zu tragen, andererseits die präventive Wirkung der Vorschrift zu verstärken. Unerträgliche Härten würden dadurch vermieden, daß eine seperate Strafzumessungsvorschrift für minder schwere Fälle schuldangemessenes Strafen auch dort ermögliche, wo der Unrechtsgehalt der Tat vom Normalfall deutlich nach unten abweiche. Die angestrebte Regelung sei in diesem Sinne konsequent 159• Dieses kriminalpolitische Konzept des gleichzeitigen Betätigens von Gaspedal und Bremse rief vielerlei Bedenken hervor. Ihm wurde grundsätzlich entgegengehalten, daß die Praxis durchaus positive Erfahrungen mit den Rechtsfolgeanordnungen der§§ 239b Abs. 1, 2 1971, 239a Abs. 3 1971 gemacht habe. Gerichtsentscheidungen, die extrem niedrige, dem Rechtsgefühl Hohn sprechende Strafen festsetzten, seien jedenfalls nicht bekannt 160 . Zu hoch gerieten demgegenüber die Strafen, die das erstrebte Recht, etwa § 239a Abs. 4 E 1988, auswerfe. Wahrend der Rücktritt von der Vollendung dem Richter de lege lata die Möglichkeit eröffne, das Mindestmaß der zu verhängenden Freiheitsstrafe von drei Jahren auf sechs Monate herabzusetzen (vgl. die §§ 239a Abs. 3 1971, 49 Abs. 1 Nr. 3), trage der Entwurf bestensfalls Mindeststrafen von zwei Jahren (vgl. die §§ 239a Abs. 4 E 1988, 49 Abs. l Nr. 3). Damit vervierfache sich die Untergrenze des Strafrahmens, büße die Rücktrittsvorschrift einen Großteil ihrer kriminalpsychologischen Bedeutung ein 161 . Derart weitreichende Konsequenzen ließen sich nicht rechtfertigen, zumal die Fallzahlen der PKS 1986 I 87 gerade im Bereich des § 239b Abs. 1 1971 einen markanten Rückgang aufwiesen 162. Daß die Anhebung der Mindeststrafe des § 239b Abs. 1 1971 generalpräventiv faßbare Wirkungen zeitigen werde, sei nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft zu den Mechanismen der Androhungsprävention nicht zu erwarten. Danach schrecke weniger die vermeintliche Höhe der Strafe als die Wahrscheinlichkeit, schnell gefaßt und verurteilt zu werden, ab. Strafschärfungen ohne flankierende Maßnahmen auf dem Gebiet der KrirninalpoliBT-Drucks. 1112834 S. 9. Singer, in: Prot. 11 I 40 S. 21; ders., in: Prot. 11 I 41 S. 46 f.; de With, in: Prot. 111 40 S. 20; ferner Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer, in: Prot. II I 38 S. 291; so selbst Kinkel, in: Prot. 11 I 41 S. 47. 161 Strafrechtsausschuß des Deutschen Anwaltvereins, in: Prot. 11138 S. 310 f.; zu den Auswirkungen der erstrebten Strafschärfung auf die behördliche (Ver-) Handlungsfähigkeit s. Gewerkschaft der Polizei, in: Prot. 11 I 38 S. 350 f.; Häfner, in: Prot. 11 I 41 S. 46; Lüder, in: Prot. 11 I 40 S. 21; Lutz, in: Prot. 11138 S. 147; Pfeiffer, in: Prot. 11138 S. 277; Strafve n eidigervereinigungen, in: Prot. 11 I 38 S. 393; kritisch hierzu Kinkel, in: Prot. 11 I 41 S. 46; Kittlaus, in: Prot. 11 I 38 S. 489; BT-Drucks. 11 I 4359 S. 13. 162 Häfner, in: Prot. 11140 S. 15; ders., in: Prot. 11141 S. 45. 159

160

4*

52

1. Kap.: Die Entstehungsgeschichte der§§ 239a, 239b

tik machten aus präventiver Sicht keinen Sinn 163 • Sie seien Zeichen symbolischer Gesetzgebung und stellten als solche Fremdkörper in einem modernen funktionalen Strafrecht dar 164. Die Mehrheit im Rechtsausschuß pflichtete der Entwurfsbegründung demgegenüber bei 165 • Sie hob hervor, daß die Bevölkerung kein Verständnis für eine Mindeststrafe von nur drei Jahren bei - wie vorgekommen - schlimmen Fällen von Geiselnahme habe 166• Im übrigen seien die Strafrahmen der §§ 239b Abs. 1, 2 1971, 239a Abs. 3 1971 mit den Strafrahmen der übrigen Gewaltdelikte des Strafgesetzbuches in Einklang zu bringen. Schon aus diesem Grund sei eine merkliche Anhebung der Mindestrafen angezeigt (vgl. etwa § 250 Abs. 1 a. F.) 167 • Der Verhängung unangemessen strenger Strafen wirkten die§§ 239b Abs. 2 E 1988, 239a Abs. 2, 4 E 1988 entgegen 168 • Die sinkenden Fallzahlen der PKS 1986/87 besagten wenig, da kriminalpolitische Grundentscheidungen nicht an temporären Schwankungen, sondern an einer mittel- bis langfristigen Entwicklung auszurichten seien 169 • Absolut gesehen werde § 239b Abs. 1 1971 noch immer zu häufig verwirklicht. Dieser Befund trage die vorgeschlagenen Maßnahmen. Von einer populistischen Entscheidung könne keine Rede sein 170 .

bb) Die Novellierung der Unrechtsumschreibung Mit Hilfe der übrigen, den Tatbestand des§ 239b Abs. I 1971 betreffenden Neuerungen sollten Lücken des geltenden Rechts geschlossen werden 171 .

163 Vor allem Hassemer; in: Prot. 11/38 S. 471 f.; ferner Golzem, in: Prot. 11/38 S. 444; Strafrechtsausschuß des Deutschen Anwaltvereins, in: Prot. 11/ 38 S. 311 ; de With, in: Prot. 11/40 S. 20; schließlich Greven, in: Prot. 11/38 S. 464; Singer; in: Prot. 11/41 S. 46 f. 164 Golzem, in: Prot. 11/38 S. 444; Strafrechtsausschuß des Deutschen Anwaltvereins, in: Prot. 11138 S. 311. 165 Vgl. Prot. 11/44 S. 46. 166 Stark, in: Prot. 11/40 S. 21; ferner Kinkel, in: Prot. 11/41 S. 45 f. ; Rebmann, in: Prot. 11/38 S. 518, 13; Stocker; in: Prot. 11/38 S. 544; BT-Drucks. 11/4359 S. 13. 167 Deutscher Richterbund, in: Prot. 11/38 S. 331; Lücke, in: Prot. 11/38 S. 142, 145; Rebmann, in: Prot. 11/38 S. 518, 13; Stocker; in: Prot. 11/38 S. 544, 130. 168 Deutscher Richterbund, in: Prot. 11/38 S. 331; Kinkel, in: Prot. 11/41 S. 46; Lücke, in: Prot. 11/38 S. 142, 145; Schneider; in: Prot. 11/40 S. 21 ; Stocker; in: Prot. 11/38 S. 545; BT-Drucks. 11/4359 S. 13; vgl. aber auch Kast, in: Prot. 11/44 S. 16; kritisch Hassemer; in: Prot. 11/38 S. 471 f. 169 Bracht, in: Prot. 11/40 S. 22. 170 Kinkel, in: Prot. 11/41 S. 46, 47. 171 BT-Drucks. 11/2834 S. 9.

E. Das Artikelgesetz vom 09. 06. 1989

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(a) Die gesetzliche Festschreibung des Zwei-Personen- Verhältnisses

Die Ausweitung des§ 239b Abs. 1 1971 auf Fälle mit Iediglichern Zwei-Personen-Bezug wurde praktisch mit denselben Überlegungen gerechtfertigt, die bereits die Entwürfe des Jahres 1975 trugen. An der entscheidenden Stelle der Entwurfsbegründung heißt es 172 : Der sachgerechten Umsetzung des Gedankens der Strafwürdigkeit dient "die Erweiterung des Tatbestandes auf Fälle, in denen auf den Entführten selbst (weiterer) Zwang ausgeübt werden soll, um ihn zu einem bestilllinten Verhalten zu bewegen. Bei derartigen Fallgestallungen (Beispiel: Geiselnahme eines Politikers, um ihm selbst ein bestimmtes Verhalten abzupressen) werden häufig die persönliche Freiheit und Unversehrtheil des Opfers in besonders hohem Maße gefahrdet und der vom Täter ausgeübte Nötigungsdruck besonders stark sein. Durch die Vorschriften des geltenden Rechts (etwa §§ 105, 106, 239) wird der Unrechtsgehalt eines derartigen Verhaltens nicht voll erfaßt; aus diesen Gründen wird auch in der strafrechtlichen Literatur die mit dem vorliegenden Entwurf vorgeschlagene Ergänzung des§ 239b Abs. 1 gefordert."

Die Kritiker machten geltend, daß sich der Entwurf zu akademischen Perfektionsphantasien hinreißen lasse, denen jeglicher Bezug zu einer empirisch bestimmbaren Notwendigkeit abgehe 173 • Die vorgesehene Änderung zerstöre den Charakter der Geiselnahme als eines Delikts, das Rechtsgüter zweier unterschiedlicher Personen in Mitleidenschaft ziehe 174• Oder noch deutlicher: In den Fällen des Zwei-Personen-Verhältnisses liege keine Geiselnahme mehr vor175 . Aus intersystematischer Sicht wurde bemängelt, daß der Entwurf die Parallelität der§§ 239a Abs. 1 1971, 239b Abs. 1 1971 aufgebe, indem er die Einfügung des Zwei-Personen-Verhältnisses auf die Geiselnahme beschränke 176. Diese Bedenken konnten sich nicht durchsetzen 177 . Die Einbeziehung des Opfers des Gewaltverhältnisses in den Kreis tauglicher Nötigungsadressaten beseitige eine bedenkliche Lücke des geltenden Rechts und sei daher zu befürworten 178 • Der Verweis auf die Parallelität der §§ 239a Abs. 1 1971, 239b Abs. 1 1971 wiege zwar schwer. Ihm könne jedoch durch eine Angleichung des § 239a Abs. 1 E 1988 an § 239b Abs. 1 E 1988 abgeholfen werden 179 .

Ebda. Strafverteidigervereinigungen, in: Prot. 11/38 S. 392 f.; ferner Strafrechtsausschuß des Deutschen Anwaltvereins, in: Prot. 11/38 S. 309. 174 Hassemer; in: Prot. 11/38 S. 472, 92. 175 Odersky, in: Prot. 11/38 S. 510. 176 Hassemer; in: Prot. 11/38 S. 472 f. 111 Vgl. Prot. 11/44 S. 46. 178 Deutscher Richterbund, in: Prot. 11/38 S. 331; Lücke, in: Prot. 11/38 S. 142, 145; Rebmann, in: Prot. 11/38 S. 518, 13; Stocker; in: Prot. 11/38 S. 544; Stümper; in: Prot. 11/ 38 s. 551, 134. 179 Vgl. Stocker; in: Prot. 11/38 S. 544, 130; ferner BT-Drucks. 1114359 S. 17. 172 173

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1. Kap.: Die Entstehungsgeschichte der §§ 239a, 239b

(b) Die Ausweitung des Drohmittelkatalogs auf die mehr als einwöchige Freiheitsentziehung

Der Entwurf sah schließlich eine Ausweitung des Drohmittelkatalogs des § 239b Abs. 1 1971 auf die Freiheitsentziehung von mehr als einer Woche Dauer vor. Vorbild waren auch insoweit die Entwürfe des Jahres 1975. Man wollte dem Umstand Rechnung tragen, daß in bestimmten Fällen (Beispiel: Entführung eines Politikers oder Diplomaten mit der ausdrücklichen Drohung, ihn solange gefangen zu halten, bis bestimmte politische Bedingungen erfüllt beziehungsweise bestimmte Strafgefangene entlassen seien) die Drohung mit weiterer Freiheitsentziehung den Drohmitteln der geltenden Tatbestandsfassung im Unrechtsgehalt gleichkomme 180. Die Gegner dieser Regelung gaben zu bedenken, daß das geltende Recht sorgsam zwischen dem Entführungstatbestand auf der einen und dem beabsichtigten Einsatz besonders verwerflicher Nötigungsmittel auf der anderen Seite unterscheide. Der Entwurf verzichte auf eine derartige Unterscheidung, indem er den Drohmittelkatalog um die bloße Verlängerung des Entführungstatbestandes ergänze. Es habe den Anschein, als sei sich die Begründung der weitreichenden Konsequenzen dieser Neuerung nicht bewußt 181 . Man müsse sicherstellen, daß Fälle aus dem Bereich gestörter Sozialbeziehungen, die keinen Bezug zur Schwerstkriminalität aufwiesen, außen vor blieben. Als Beispiel wurde die von ihrem Mann getrennt lebende Mutter angeführt, die sich ihres Kindes bemächtigt, um den sorgeberechtigten Vater unter Androhung der Nichtrückgabe des Kindes zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen. Fälle dieser Art dürften unter keinen Umständen unter das künftige Recht fallen 182• Die Festschreibung einer bestimmten Mindestdauer des Freiheitsentzugs schließlich führe zu schier unüberwindlichen Abgrenzungsschwierigkeiten. So bleibe zweifelhaft, ob der Tatbestand auch dann erfüllt sei, wenn der Täter die mehr als einwöchige Freiheitsentziehung zwar nicht androhen, wohl aber in die Tat umsetzen wolle. Auch mute es lebensfremd an zu unterstellen, der Täter werde dem Nötigungsadressaten die ins Auge gefaßte Dauer des Freiheitsentzugs jeweils androhen 183 . Diese Kritik blieb ungehört 184 .

BT-Drucks. 11/2834 S. 10m. w. N. Vgl. Hassemer, in: Prot. 11/38 S. 472,92, der freilich einräumte, daß sich die erstrebte Ausweitung des Drohmittelkatalogs systematisch auf § 239 Abs. 3 Nr. 1 stützen lasse. 182 Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer, in: Prot. 11/38 S. 291 f. 183 Odersky, in: Prot. 11/38 S. 510 f.; vgl. demgegenüber Rebmann, in: Prot. 11/38 S. 518, der die skizzierten Abgrenzungsschwierigkeiten zum Anlaß dafür nahm, die Streichung der Mindestdauer des Freiheitsentzugs (nicht: der Ausweitung des Drohmittelkatalogs selbst) einzufordern. 184 Vgl. Prot. 11/44 S. 46. 180 181

F. Das Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 26. 0 I. 1998

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b) Die Novellierung des§ 239a 1971 Der Tatbestand des erpresserischen Menschenraubs sollte ursprünglich keinerlei Veränderungen erfahren. Im Entwurf war lediglich eine Veränderung des Strafrahmengefüges des§ 239a 1971 nach Art des§ 239b E 1988 vorgesehen 185 • Die Ausweitung auch des§ 239a Abs. 1 E 1988 auf Fälle mit Iediglichern Zwei-PersonenBezug wurde erst im Rechtsausschuß angeregt. Wer- so der Sachverständige Stokker - den Tatbestand der Geiselnahme auf das Zwei-Personen-Verhältnis erstrecke, könne kaum umhin, entsprechende Konsequenzen für den Fall zu ziehen, daß der Tater eine Erpressung beabsichtige (Beispiel: Straftäter entführten einen führenden Mann der Wirtschaft, um ihn dazu zu zwingen, nach und nach oder in größerem Rahmen über seine Vermögenswerte zu ihren Gunsten zu verfügen) 186• Die Einwände, die gegen diese Neuerungsvorschläge geltend gemacht wurden, lehnten sich unmittelbar an die entsprechenden Stellungnahmen zu § 239b E 1988 an. Auf sie sei daher Bezug genommen. Nichts anderes gilt für die Replik der Mehrheit 187 im Rechtsausschuß.

II. Die §§ 239a 1989, 239b 1989 in Rechtsprechung undLehre Die Frage nach der inhaltlichen Ausfüllung der§§ 239a 1989, 239b 1989 (im folgenden: §§ 239a, 239b) interessiert hier, da es allein um die entstehungsgeschichtliche Grundlegung geht, nicht. Sie wird an anderer Stelle zu erörtern sein 188 •

F. Das Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 26. 01. 1998 189 Das Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 26. 01. 1998 hatte sich zum Ziel gesetzt, die Strafrahmen des Besonderen Teils zu harmonisieren, unzeitgemäße und entbehrliche Strafvorschriften aufzuheben sowie einzelne Strafvorschriften zur Verbesserung des Rechtsgüterschutzes zu variieren. Im Zentrum des legislatorischen Interesses standen dabei die Delikte gegen höchstpersönliche Rechtsgüter. Man beabsichtigte insbesondere, den Schutz des Lebens, der körperlichen Unver185

186 187 188

189

BT-Drucks. II I 2834 S. 4. Stocker, in: Prot. II I 38 544 f., 130. Vgl. Prot. 11 I 44 S. 46. u. s. 227 ff., 331 ff. BGBI. I S. 164.

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I. Kap.: Die Entstehungsgeschichte der§§ 239a, 239b

sehrtheit sowie der persönlichen Freiheit und sexuellen Selbstbestimmung zu vervollkommnen190. Die §§ 239a Abs. 1, 2, 4, 239b Abs. 1, 2 wurden von diesen Reformbestrebungen nicht oder doch nur peripher beriihrt. Den Vorschlag des Bundesrates, die Höchststrafen der §§ 239a Abs. 2, 239b Abs. 2 auf zehn Jahre Freiheitsstrafe herabzusetzen191, lehnte die Bundesregierung ohne Begrundung ab 192. Man verfolgte ihn im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens nicht weiter, was insofern verwunderlich erscheint, als vergleichbare Strafrahmen anderer minder schwerer Fälle novelliert wurden (vgl. etwa die§§ 316a Abs. 2, 316c Abs. 2). "Diskutiert" wurden neben der systematisch notwendig gewordenen Angleichung des § 239b Abs. 1 an die Neufassung der schweren Körperverletzung (vgl. nunmehr§ 226) 193 ausschließlich stilistisch bedeutsame Änderungsvorschläge: Opfer der Entführung beziehungsweise Sichbemächtigung sollte künftig nicht mehr ein "anderer", sondern ein "Mensch" sein; der zu nötigende Dritte sollte als "dritte Person" bezeichnet werden 194. Die beiden erstgenannten Vorschläge drangen durch.

G. Zusammenfassende Würdigung Die wissenschaftliche Bewertung der Genese der §§ 239a, 239b ist ambivalent. Als gesichert darf nur gelten, daß der Sprung vom erpresserischen Kindesraub auf die§§ 239a Abs. 1 1971, 239b Abs. 1 1971 Zustimmung erfahrt 195. Und auch ich meine: Es macht wenig Sinn, die Verstärkung des Strafrechtsschutzes auf eine bestimmte Opfergruppe beziehungsweise auf ein (besonders?) "typisches" Tatziel, etwa die Erpressung eines "Lösegeldes", zu beschränken 196. Im übrigen ist dreierlei festzuhalten: 190 Dencker/Struensee/Nelles/Stein, in: Dencker, Reform S. I ff.; Hömle, Jura 1998 S. 169 ff.; Hohrrumn/Sander, NStZ 1998 S. 273 ff.; Kreß, NJW 1998 S. 633 ff.; Stäche/in, StV 1998 S. 98 ff. 191 BT-Drucks. 13 I 8587 S. 63. 192 BT-Drucks. 13 I 8587 S. 84. 193 BT-Drucks. 13/8991 S. 19; BT-Drucks. 13/9064 S. 17. 194 BT-Drucks. 13 I 8587 S. 8 f., 18 f., 56, 63. 195 Eser, in: Schönke/Schröder § 239a Rdn. 1; Hansen, GA 1974 S. 357 f., 360; MüllerEmmert/Maier, MDR 1972 S. 97; Schmidhäuser, MschKrim 56 (1973) S. 344 ff. ; Bohlinger, JZ 1972 S. 231 stellt heraus, daß das Kidnapping begrifflich nicht auf junge Opfer beschränkt ist; ebenso Fahl, Jura 1996 S. 456; allein Arzt/Weber, BT 3 Rdn. 366 bedauert die Streichung des Tatbestandes gegen erpresserischen Kindesraub, und zwar "um der plakativen Wirkung des Strafrechts willen". 196 Zur Geiselnahme bei Verfolgung erpressungsfremder Tatziele s. etwa BGHSt 26, 70, 71 (Verhinderung der Festnahme); 40, 90,90 f. (Erteilung einer Auskunft); BGH, NStZ 1985, 455, 455 (Fortführung der Ehe); BGH, NStE § 239a Nr. 2 S. 1 (Vereitelung der Vollstreckung eines Gerichtsbesch1usses); BGH, NStE § 239b Nr. 3 S. 1 (Vereitelung des polizeilichen Einschreitens); BGH, Urt. v. 24. 07. 1990-5 StR 249/90 S. 5 (Überprüfung verschiedener

G. Zusammenfassende Würdigung

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(1) Die§§ 239a Abs. 1 1936, 239a Abs. 1 1971, 239b Abs. 1 1971, 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 müssen als jeweils unmittelbare Folge bestimmter herausragender Kriminalfälle angesehen werden. Sie erscheinen mithin, um es in den Worten von Meurer-Meichsner auszudrücken, als "Gelegenheitsgesetze" 197. Derartige "Gelegenheitsgesetze" bergen bekanntermaßen die Gefahr legislatorischer Fehlschlüsse in sich. Denn dem Strafgesetzgeber obliegt "die Anstrengung eigener ,krimineller' Phantasie, zwar nicht so, daß gewissermaßen der Mitwelt der Weg zur Begehung neuer Verbrechen gewiesen würde, wohl aber so, daß der spezifische Unwert, der den begangenen Verbrechen zugrundeliegt, durch die Vertatbestandlichung in allen denkbaren Handlungsmöglichkeiten erlaßt wird" 198; seine Pflicht ist es, "durch das Erscheinungsbild vorfindlieber Kriminalität hindurch, den gemeinten Unwert eines sozialschädlichen Verhaltens sachgerecht und so umfassend wie möglich zu erfassen und im gesetzlichen Straftatbestand in angemessener Abstraktion zu schildern"199. Ein Gesetz, das zu einseitig an bestimmten Präzedenzfällen orientiert ist, droht, seine Aufgabe zu verfehlen, zumal wenn seine Schöpfer - was nicht selten vorkommt - zur Eile drängen. Man darf mit Hansen die These wagen: "Je spontaner der Gesetzgeber auf erregende Kriminalfälle reagiert . . . , desto größer ist die Gefahr, daß der Straftatbestand den grundlegenden Unwertsachverhalt nicht hinreichend aus der kriminellen Wirklichkeit herausgefiltert hat"200. Belege für diese These lassen sich- bezogen auf die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1201 -unschwer finden. Zu nennen sind etwa: die Zielunterteilung der Vorschriften202; das Eingreifen der Vorschriften in den Fällen "typischer" Nötigung im Zwei- wie Drei-Personen-Verhältnis 203 ; das Nichteingreifen der Vorschriften in den Fällen der schlichten Übernahme tatsächlicher Herrschaft204 ; das Eingreifen der Vorschriften in Fällen, belastender Justizakte); BGH, NStE § 239b Nr. 4 S. I (Erteilung einer Auskunft); BGH, Urt. v. 22. 06. 1995-5 StR 249/95 S. 4 ff. (Verhinderung der Festnahme); BGH, Urt. v. 07. 03. 1996-4 StR 35 I 96 S. 4 (Vornahme sexueller Handlungen, Vollziehung des Beischlafs); BGH, NIW 1997, 1082, 1082 (Abgabe eines Ehrenwortes); LG Mainz, MDR 1984, 687, 687 (Aufsuchen einer Wohnung). 197 Meurer-Meichsner, Gelegenheitsgesetz S. 131, 133 f., 134 sowie passim. 198 Schmidhäuser, MschrKrim 56 (1973) S. 344. 199 Ebda. 200 Hansen, GA 1974 S. 355 sowie passim; ebenso Backmann, JuS 1977 S. 446; vgl. aber auch Blei, JA 1975 S. 91, der herausstellt, daß "gesetzgeberische Eile .. . keineswegs zu Qualitätsdefekten führen (muß)". 201 Die im Text umschriebene legislatorische Eile zieht sich wie ein roter Faden durch die Genese der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. l. So reagierten die Schöpfer des§ 239a 1936 binnen weniger Tage. Die §§ 239a 1971, 239b 1971 wurden mit Wirkung zum 16. 12. 1971 beschlossen. Zwischen dem Eingang des Entwurfs und der Verabschiedung des Gesetzes vergingen also lediglich vier Monate. Das Artikelgesetz von 1989 schließlich beruhte auf einer Initiative der Bundesregierung vom 26. 08. 1988. Es enthielt eine äußerst komplizierte und umfassende Regelungsmaterie; und dennoch trat es bereits am 09. 06. 1989 in Kraft. 202 Hierzu u. S. 67 ff. 203 Hierzu u. S. 121 ff. 204 Hierzu u. S. 266 ff.

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1. Kap.: Die Entstehungsgeschichte der§§ 239a, 239b

in denen eine Gefährdung des Opfers nach Lage der Dinge absolut auszuschließen ist205 ; die Beschränkung des § 239a Abs. 1 auf die Fälle der beabsichtigten I unternommenen Ausnutzung fremder Sorge206 ; das Nichteingreifen der Vorschriften in den Fällen der sukzessiven Mittäterschaft207 . (2) Wenn Maurach im Zusammenhang mit § 239a Abs. 1 1936 von einer "Terrorbestimmung" spricht, die so ziemlich in allen Hinsichten "den primitivsten rechtsstaatliehen Vorstellungen" ins Gesicht geschlagen und die - nicht zuletzt im Urteil des Auslandes - dem deutschen Strafrecht ein Kainsmal aufgedruckt habe 208 , so deshalb, weil die bereit gehaltene Rechtsfolge absolut indiskutabel war; das gesetzlich umschriebene Verhalten trug keineswegs die (absolute) Androhung der Todesstrafe, unterstellt man einmal deren generelle Zulässigkeit209 (vgl. demgegenüber Art. 102 GG). Dariiber hinausreichende, die Tatbestandsfassung selbst betreffende Bedenken210 erwecken freilich den Eindruck, als sei die Problematik mit dem Strafrechtsbereinigungsgesetz von 1953 obsolet geworden. Eine derartige Schlußfolgerung wäre jedoch ungerechtfertigt: Davon, daß der Nachkriegsgesetzgeber "den Tatbestand präziser gefaßt" 211 und damit geläutert habe, kann ernstlich nicht die Rede sein. Die Weite des (den Unrechtsschwerpunkt bildenden) subjektiven Tatbestandes des § 239a Abs. 1 1936 schlug auf § 239a Abs. 1 1953, die des § 239a Abs. 1 1953 wiederum auf § 239a Abs. 1 1971 durch. Einen lediglich scheinbaren Fortschritt brachte die Wendung "um die Sorge eines Dritten um das Wohl des Opfers . . . auszunutzen". Sie war der Sache nach längst anerkannt beziehungsweise - mittels teleologischer Reduktion - umgesetzr2 12• Für Einschränkung sorgte demgegenüber § 239b Abs. 1 1971, eine Vorschrift, die ihrererseits freilich beachtliche Ausweitungen durch das Artikelgesetz von 1989 erfuhr. Heute gilt: Das Handeln in der Absicht, die bloße Vorenthaltung des Opfers anzudrohen und durch sie zu nötigen, verwirklicht den Tatbestand sowohl des § 239b Abs. 1213 als auch und erst recht des § 239a Abs. 1214 • Die (primär bedeutsamen) subjektiven Geiselnahmetatbestände reichen demnach in entscheidender Hinsicht weiter als die subjektiven Tatbestände der §§ 239a Abs. 1 1936, 239a Abs. 1 1953, 239a Abs. 1 1971. Die behauptete PräHierzu u. S. 279 ff. Hierzu u. S. 298 ff. 207 Hierzu u. S. 323 f., 325 f. 208 Maurach, IZ 1962 S. 559. 209 Zur ihr Jescheck/Weigend, AT§ 71. 210 Stellvertretend Maurach, Grundriß BT S. 43 ("mißglückt"); ders., BT [1.] S. 232 ("Musterbeispiel dilettantischer Gesetzesmacherei"); ders., BT [5.] S. 298 ("uferlosen Tatbestand"). 2ll Dreher [32.] § 239a Anm. l; ganz ähnlich Maurach, BT [5.] S. 298. 212 Hierzu o. S. 29, 30, 32 f. 213 Kritisch aus diesem Grund Amelung I Hassemer/ Rudolphi/ Scheerer, StV 1989 S. 78; Kunert/Bemsmann, NStZ 1898 S. 451. 214 Zu letzterem s. u. S. 298 mit Fn. 301, 310 f. mit Fn. 360. 205

206

H. Ausblick auf den weiteren Gang der Untersuchung

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ZlSlerung der verunglückten Grundfassung des Jahres 1936 ist nicht in Sicht. Wenn Meurer-Meichsner konstatiert, daß die "ursprüngliche nationalsozialistische Fassung" inzwischen überwunden sei215 , so wird man diese Aussage mindestens mit einem Fragezeichen versehen müssen. (3) Die Strenge der§§ 239a Abs. I 1936, 239a Abs. 1 1953 wirkt auf das geltende Recht nach. Bedenken grundsätzlicher Art sind auch insofern kaum von der Hand zu weisen216 . Immerhin, unannehmbare Ungerechtigkeiten drohen angesichtseiner möglichen Freiheitsstrafe von nur einem Jahr in minder schweren Fällen (§§ 239a Abs. 2, 239b Abs. 2) nicht mehr217 • Kunert freilich befürchtet einen Einbruch der präventiven Wirkungskraft der Regelstrafrahmen: "Die Erhöhung der Mindeststrafdrohung (die verbunden ist mit einer Erhöhung des ,Mittelr,unkts' des Strafrahmens) . .. verliert viel von ihrer Eindruckskraft, wenn man die Erhöhung mit der ihr auf dem Fuße folgenden Absenkung der Mindeststrafdrohung für die neu eingeführten minder schweren Fälle ... vergleicht . .. Für eine ganze Gruppe von Fällen wird damit die Mindeststrafdrohung gegenüber dem geltenden Recht auf ein Drittel reduziert"218 . Es mag dahinstehen, ob diese Kritik durchschlägt. Bedenklicher jedenfalls erscheinen die Strafobergrenzen der §§ 239a Abs. 2, 239b Abs. 2. Was sie angeht, so ist mit Jung zu fragen, "wieso der Gesetzgeber für den ... minder schweren Fall ... keine Höchststrafe vorgesehen hat ... Es erscheint . . . wenig stimmig, für einen minder schweren Fall den Strafrahmen bis zu fünfzehn Jahren zu eröffnen ..." 219.

H. Ausblick auf den weiteren Gang der Untersuchung Den nachfolgenden Untersuchungen ist die Erkenntnis voranzustellen, daß die tatbestandliehen und strafzumessungsrechtlichen Defizite des § 239a Abs. 1 1936 bis in die heutige Zeit fortwirken. Primäre Aufgabe der Arbeit wird es sein, dies zu erkennen und bei der Rechtsfindung zu berücksichtigen.

21s 216

Meurer-Meichsner; Gelegenheitsgesetz S. 133. Renzikowski, JZ 1994 S. 498; vgl. auch Eser; in: Schänke/ Sehröder § 239a Rdn. I, 28.

217 Amelung/Hassemer/Rudolphi/Scheerer, StV 1989 S. 78, der freilich zu bedenken gibt, daß die Sonderstrafrahmen für minder schwere Fälle (§§ 239a Abs. 2, 239b Abs. 2) die "überall und zu Recht beklagte Unbestimmtheit der Strafzumessung (erhöhten)". 218 Kunen/Bemsmann, NStZ 1989 S. 451; zu der (mit dem Text beantworteten) Frage nach dem mildesten Gesetz i. S. d. § 2 Abs. 3 s. BGH, StV 1990, 111, 111; BGH, Beschl. v. 09. 08. 1990-4 StR 354/90 S. 3; Eser; in: Schönke/Schröder § 239a Rdn. I. 219 Jung, JuS 1989 S. 1025; ebenso Wessels/ Hettinger, BT I Rdn. 451 ; vgl. auch Eser; in: Schänke I Sehröder § 239a Rdn. I, 28.

60

l. Kap.: Die Entstehungsgeschichte der§§ 239a, 239b

(1) Die Strafdrohungen der heutigen§§ 239a Abs. 1, 2, 239b Abs. 1, 2 sind als exorbitant hoch zu erachten 220 . Sie übertreffen diejenigen der§§ 212 Abs. 1, 213, die - das sollte nicht übersehen werden - immerhin an der vorsätzlichen Tötung eines Menschen anknüpfen.

(2) Die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 sind durchweg subjektiv-lastig ausgestaltet, verlegen die formelle Vollendung also in das Vorfeld des eigentlichen (materiellen) Delikts, der Erpressung I Nötigung. Daraus folgt etwa: Eines erpresserischen Menschenraubs I einer Geiselnahme kann schon derjenige schuldig sein, der in "böser Absicht" den Schlüssel im Schloß einer Tür herumdreht. Das geht - bei aller Sympathie für eine konsequent personalisierende Unrechtslehre - sehr weit (vgl. auch die §§ 23 Abs. 2, 24 Abs. 1; ferner die Rechtsfolgen der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1). (3) Sollen allzu strenge und damit sachwidrige Strafbarkeitsergebnisse vermieden werden, so wird man sich (selbstverständlich: innerhalb der gesetzlichen Grenzen) um Einschränkungen bemühen müssen. Hierzu stehen mit einer Rechtsfolgenlösung auf der einen und einer Tatbestandslösung auf der anderen Seite konstruktiv zwei Möglichkeiten zur Verfügung. Insoweit sei von vornherein klargestellt: Eingriffe in das Rechtsfolgengefüge einer Strafnorm sind zu vermeiden 221 . Ausnahmen bestätigen lediglich die Regel. Sie stellen das letzte Mittel dar und dürfen als solches nur dort zugelassen werden, wo der Tatbestand selbst verträgliche (im Sinne von: hinnehmbare, wenn auch möglicherweise unbefriedigende) Lösungen nicht erlaubt222 . Der dogmatisch richtige Hebel ist die Einschränkung des Tatbe22o Die Mindeststrafen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 werden nur von wenigen Delikten des Strafgesetzbuches erreicht bzw. übertroffen. Neben der absolut angedrohten lebenslangen Freiheitsstrafe (§ 211 Abs. 1; ferner§ 220a Abs. 1, der in minder schweren Fällen freilich durchbrachen werden kann) ist auf die folgenden Anordnungen hinzuweisen: lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren(§§ 80, 81 Abs. 1, 176b, 178, 179 Abs. 6 i. V. m. 176b, 251, 306c, 307 Abs. 3 Nr. 1, 308 Abs. 3, 309 Abs. 4, 313 Abs. 2 i. V. m. 308 Abs. 3, 314 Abs. 2 i. V. m. 308 Abs. 3, 316a Abs. 3, 316c Abs. 3); lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren(§§ 94 Abs. 2 S. 1, 2, 100 Abs. 2 S. 1, 2); Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren (§§ 176a Abs. 4, 179 Abs. 6 i. V. m. 176a Abs. 4, 177 Abs. 4, 250 Abs. 2, 306b Abs. 2, 307 Abs. 3 Nr. 2, 309 Abs. 2, 316a Abs. 1, 316c Abs. 1). Das Gesetz knüpft insoweit durchweg an der Gefahrdung bzw. Verletzung eines exzeptionell wichtigen Rechtsguts (sei!.: des Friedens, der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, des Lebens, des Leibes) an (vgl. bereits Bohlinger, JZ 1972 S. 231; Renzikowski, JZ 1994 S. 496). 221 Mehr abschreckend als nachahmenswert daher etwa die Rechtsfolgenlösung des Großen Senats beim Mordtatbestand, vgl. BGHSt 30, 105, 116 ff.; zustimmend Gössel, BT 1 § 4 Rdn. 13 ff. ; ab!. zu Recht Arzt I Weber, BT 1 Rdn. 112a; Eser, in: Schönke I Sehröder § 211 Rdn. lOb; Horn, in: SK § 211 Rdn. 6a; Krey, BT 1 Rdn. 67 ff.; Lackner I Kühl vor § 211 Rdn. 20; Otto, BT § 4 Rdn. 23, 32; Trändie /Fischer§ 2ll Rdn. 17; wohl auch Wessels/ Hettinger, BT I Rdn. 89, 91. 222 Zu einem als Vergleichsgröße heranzuziehenden, wenn auch mittlerweile rechtsgeschichtlichen Lösungsmodell (sei!.: der analogen Anwendung des§ 217 Abs. 2 a. F. auf die Aussetzung mit fahrlässiger Todesfolge durch die nichteheliche Mutter gemäß den §§ 221 Abs. 3 Alt. 2 a. F., 18) s. Krey, JZ 1978 S. 467 f.; dens. , ZStW 101 (1989) S. 869; einen

H. Ausblick auf den weiteren Gang der Untersuchung

61

standes mittels Auslegung beziehungsweise teleologischer Reduktion. Widrigkeiten, die sich allein contra Iegern Iegern bereinigen lassen, sind de lege lata grundsätzlich hinzunehmen. Für diesen Fall gilt: Der Anwendung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 folgt der Ruf nach dem Gesetzgeber.

potentiellen Kandidaten für eine künftige Rechtsfolgenlösung verkörpern die Brandstiftungsdelikte, da ihnen zufolge z. B. die Herbeiführung der Gefahr einer Gesundheitsschädigung mal qualifizierend wirkt (so für den Vorsatz die§§ 306 Abs. 1, 306a Abs. 2), mal privilegierend (so für die Fahrlässigkeit die §§ 306d Abs. 1 Var. 1, Abs. 2); zur h. M. zu den §§ 113 Abs. 1 Alt. l, 240 Abs. 1, 2, die ebenfalls eine Analogie auf der Rechtsfolgenebene für möglich hält, u. S. 70 mit Fn. 32.

2. Kapitel

Das Wesen der§§ 239a Abs.l, 239b Abs. 1 Eine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Inhalt und den Grenzen der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 kann nur geben, wer zuvor die theoretische Grundlage gelegt hat. Der Rechtsanwender hat Auslegungsergebnisse zu erzielen, die nicht nur formal "richtig", sondern auch sachlich "angemessen", sprich materiell fundiert sind. Sinn des Straftatbestandes ist der Rechtsgüterschutz. Das Verhalten des Täters wird verboten, weil es das Rechtsgut beeinträchtigt (im Sinne von: verletzt oder konkret gefährdet), jedenfalls aber erfahrungsgemäß-typisch beeinträchtigen kann (im Sinne von: abstrakt gefährlich ist) 1 . Aufgabe auch der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 ist demnach der Schutz eines bestimmten Rechtsgutes I mehrerer bestimmter Rechtsgüter vor Beeinträchtigung beziehungsweise Gefährdung im Einzelfall. Diese recht allgemein gehaltene Wendung bedarf der Konkretisierung. Ihr dienen die nachfolgenden Ausführungen.

A. Die Rechtsgüter der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 Die Frage, welche Rechtsgüter in den Fällen der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 verletzt beziehungsweise gefährdet werden, läßt sich vergleichsweise einfach beantworten. Es sind dies zunächst einmal die Fortbewegungsfreiheit, das Leben und der Leib des Opfers des Gewaltverhältnisses (im folgenden: Opfer). Weiterhin steht zu befürchten, daß die Tat die Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit sowie die physisch-psychische Integrität des zu Erpressenden I zu Nötigenden in Mitleidenschaft zieht. Der erpresserische Menschenraub schließlich dient dem Täter dazu, rechtswidrige Vermögensvorteile mittels Nötigung zu erlangen. Er verkörpert daher einen Angriff auf das Vermögen eines anderen. All dies ist mehr oder weniger anerkanne. Die Meinungsverschiedenheiten beginnen erst dort, wo es darum geht herauszuarbeiten, welchem der genannten Schutzaspekte die dogmatische Führung zukommt.

I Im Grundsatz anerkannt, statt vieler Jescheck/Weigend, AT § I 111; Roxin, AT 1 § 2 Rdn. 1 ff.; Weber, in: Baumann, AT§ 3 Rdn. 10 ff. 2 Statt vieler Tröndle/Fischer § 239a Rdn. 4, § 239b Rdn. 1.

A. Die Rechtsgüter

63

I. Die unterschiedlichen Einordnungsversuche Insoweit ist man von einer Klärung weit entfemr3, lassen sich bei näherem Hinsehen doch nicht weniger als sieben unterschiedliche Einordnungen ausmachen. Ihnen gebührt zunächst meine Aufmerksamkeit.

1. Die Einordnung des § 239a Abs. 1 Zu § 239a Abs. 1 werden die folgenden Ansichten vertreten: a) Echte Kombinationsbegründung

Den naheliegenden Versuch, die Besonderheit des § 239a Abs. 1 mittels einer echten Kombinationsbegründung in dem gleichrangigen Zusammentreffen sämtlicher der vorgenannten Rechtsgüter zu erblicken, unternimmt vor allem Schroeder4 . b) Die Betroffenheit mehrerer Opfer; die besondere Perfidie der Erpressung eines unbeteiligten Dritten

Kunert rückt die Betroffenheit mehrerer Rechtsgutsinhaber beziehungsweise die Ausnutzung der Sorge eines unbeteiligten Dritten in den Vordergrund, indem er, bezugnehmend auf das bis zum Artikelgesetz von 1989 geltende Recht, lehrt5 : Mit der Einfügung des Zwei-Personen-Verhältnisses "ist der leitbildhafte Tatbestandstopos verlassen, der bisher gerade in der Ausnutzung der Sorge eines unbeteiligten Dritten um das Wohl des Opfers das Charakteristikum .. . erblickte .. . Zum Unrechtsgehalt des erpresserischen Menschenraubs ... gehört es typischerweise, daß (er) sich nicht nur gegen ein Opfer, sondern (mindestens) gegen zwei Opfer (richtet): den Entführten und den ,Drit3 Küper; Jura 1983 S. 210.- Fatal ist, daß den Schwierigkeiten in der Sache unnötige (begriffliche) Ungenauigkeiten hinzutreten, so etwa bei Kühl. Ihm zufolge dient§ 239a Abs. I "vornehmlich" dem Schutz des Opfers, "daneben" aber auch dem des Dritten (richtig: des zu Erpressenden). Zu § 239b Abs. 1 wird ausgeführt: ,,Er schützt .. . -ebenso wie § 239a Abs. 1 - vorrangig die . . . Geisel"; der Dritte (richtig: der zu Nötigende) findet keine Erwähnung (zu alledem Lackner I Kühl § 239a Rdn. 1, 239b Rdn. 1). Es leuchtet unmittelbar ein, daß eine dieser beiden Aussagen falsch ist; wenn § 239a Abs. 1 den zu Erpressenden neben das Opfer stellt, dann kann § 239b Abs. 1 nicht gleichfalls primär auf die Geisel abheben (ähnliche Ungereimtheiten bei Preisendanz § 239a Anm. II, § 239b Anm. 2; Schäfer; in: LK § 239a Rdn. 2, § 239b Rdn. 2, 1). Schließlich fällt auf, daß Kühl als Beleg für seine Ansicht die Untersuchungen von Renzikowski anführt, während er Bohlinger oder Hansen inhaltlich abw. Positionen zuschreibt (Lackner/ Kühl§ 239a Rdn. 1). Tatsächlich stimmen die Ansichten von Renzikowski, Bohlinger und Hansen weitgehend überein (hierzu sogleich mehr). 4 Vgl. Schroeder; in: Maurach, BT § 15 Rdn. 19. 5 Kunert/Bernsmann, NStZ 1989 S. 450.

64

2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. I ten', nämlich den Erpreßten ... (der wiederum typischerweise öfter in der Mehrzahl auftritt: Eltern, Gruppen von Angehörigen oder Freunden usw.). Hinzu tritt die besondere Perfidie, die gerade in der Ausnutzung der Sorge der unbeteiligten Dritten (z. B. der Eltern) gelegen ist. Diese beiden charakteristischen und die spezifisch erhöhten Strafdrohungen ... tragenden Elemente fehlen aber, wenn Entführter und Erpreßter ... identisch sind."

Es ist zuzugeben, daß Kunert kein Wort über die materielle Fundierung des § 239a Abs. 1 verliert; ihn interessiert ausschließlich die Kritik am Artikelgesetz von 1989 und damit die deliktische Typizität des § 239a Abs. 1 1971. Dennoch sind seine Ausführungen zur Betroffenheit mehrerer Opfer beziehungsweise zur Ausnutzung der Sorge eines unbeteiligten Dritten vorliegend alles andere als deplaziert. Denn die durch sie begründete These, das Zwei-Personen-Verhältnis des § 239a Abs. 1 weise ein eklatantes Unrechtsdefizit gegenüber dem entsprechenden Drei-Personen-Verhältnis auf, wird de facto auch heute noch weithin vertreten. Man braucht insofern nur einen Blick auf den Stand der Diskussion um die "einschränkende Auslegung des § 239a Abs. 1" zu werfen. Sie sei - so die gängige Auffassung- allein in Fällen mit Iediglichern Zwei-Personen-Bezug zu erwägen: Wer dem Kassierer einer Bank eine Waffe vorhalte, um so die Herausgabe des Bargelds durch den Kassierer zu erzwingen, mache sich keines erpresserischen Menschenraubs schuldig6 , wohl aber derjenige, der unter sonst gleichen Voraussetzungen die Tötung eines im Schalterraum anwesenden Bankkunden androhe7 • Differenzierungen dieser Art erscheinen allein auf der Grundlage einer Argumentation sinnvoll, deren Ausgangspunkt das von Kunert umschriebene Unrechtsgefälle, das zu kompensierende Unrechtsdefizit des Zwei-Personen-Verhältnisses ist. Man darf daher annehmen, daß die - vermeintlichen - Besonderheiten des § 239a Abs. 1 1971 auf das geltende Recht nachwirken.

c) Schwerpunktbegründungen Die herrschende Ansicht zu § 239a Abs. 1 lehnt eine echte Kombinationsbegründung ab. Sie versucht stattdessen, materielle Schwerpunkte zu setzen, ist sich freilich ihrerseits über das Wie dieser Schwerpunktsetzung nicht im klaren. Wahrend von einigen das Vermögen in den Vordergrund gerückt wird8 , heben andere auf die Fortbewegungsfreiheit des Opfers ab9 . Wieder andere betonen die AmbivaVgl. vor allem u. S. 122, 164 ff. sowie passim. Vgl. u. S . 142 f.; aber auch o. S. 46 f. s Bocke/mann, BT 2 § 17, § 241, I; Eser, in: Schönke/Schröder § 239a Rdn. 3; Gössel, BT 1 § 18 Rdn. 14; Küpper; BT S. 52 erblickt in der Vorschrift eine "Kombination zwischen Freiheits- und Vermögensdelikt"; nur aus didaktischen Gründen an das Vermögensstrafrecht anlehnend Arzt/Weber, BT 3 Rdn. 366 ff.; Krey, BT 2 Rdn. 322 ff. ; Wessels/ Hillenkamp, BT 2 Rdn. 741. 9 So etwa Küper, Jura 1983 S. 210; vgl. auch Lampe, JR 1975 S. 426; schließlich Blei, BT § 17 I, 2a, III, 2. 6 7

A. Die Rechtsgüter

65

lenz des Angriffs auf die Freiheit, indem sie der Fortbewegungsfreiheit des Opfers die Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit des zu Erpressenden gleichwertig hinzutreten lassen 10• Die überwiegende Meinung rekurriert primär auf die Fortbewegungsfreiheit, das Leben und den Leib des Opfers sowie auf die vermögensbezogene Dispositionsfreiheit des zu Erpressenden. Dem Vermögen selbst wird demgegenüber lediglich untergeordnete Bedeutung zuerkannt; § 239a Abs. 1 umschreibe jedenfalls seinem Schwerpunkt nach kein Vermögensdelikt 11 . Schließlich gibt es Stimmen, die das Wesen des § 239a Abs. 1 in der Gefährdung des Lebens und/ oder Leibes des Opfers erblicken 12• 2. Die Einordnung des § 239b Abs. 1 Zu § 239b Abs. 1 werden die folgenden Ansichten vertreten: a) Echte Kombinationsbegründung

Die herrschende Ansicht zu § 239b Abs. 1 steht auf dem Standpunkt, daß die Geiselnahme eine Kombination von Freiheitsberaubung und Nötigung darstelle, die zusätzlich zu den durch diese Delikte bereits abdeckten Freiheitsbereichen vor allem das Leben sowie die körperliche Integrität des Opfers schütze (echte Kornbinationsbegründung) 13 . b) Die Betroffenheit mehrerer Opfer; die besondere Perfidie der Nötigung eines unbeteiligten Dritten

Aus der allenthalben vorzufindenden Beschränkung der "einschränkenden Auslegung des § 239b Abs. 1" auf Fälle mit Iediglichern Zwei-Personen-Bezug 14 darf 10 So wohl Horn, in: SK § 239a Rdn. 2; Rengier, BT 2 § 24 Rdn. 1; vgl. auch Arzt/ Weber, BT 1 Rdn. 529. II So etwa Krey, BT 2 Rdn. 322; Lackner!Kühl § 239a Rdn. 1; Müller-Emmert/Maier, MDR 1972 S. 97; Otto, BT § 29 Rdn. I; Wesse!s/Hillenkamp, BT 2 Rdn. 741; wohl auch Schäfer, in: LK § 239a Rdn. 2, 19, 4, § 239b Rdn. 3; ähnlich unter zusätzlicher Betonung der psycho-physischen Integrität des in Sorge Gebrachten BGH, GA 1975, 53, 53; Preisendanz § 239a Anm. II; Tröndle I Fischer § 239a Rdn. 4. 12 So etwa Hansen, GA 1974 S. 364, 368; Renzikowski, JZ 1994 S. 496; ders., JR 1995 S. 349; ders., StV 1999 S. 647 f.; vgl. aber auch dens., JR 1998 S. 127; für einen Vorrang von Leben und Leib wohl auch Arzt/Weber, BT 3 Rdn. 367; Bohlinger, JZ 1972 S. 231; vgl. sodann Blei, JA 1972 S. 247; schließlich Zaczyk, JZ 1985 S. 1061. 13 So etwa Krey, BT 2 Rdn. 330; Müller-Emmert/Maier, MDR 1972 S. 97; Otto, BT § 29 Rdn. 1; Preisendanz § 239b Anm. 2; Schäfer, in: LK § 239b Rdn. :2.; Schroeder, in: Maurach, BT § 15 Rdn. 19, 22; Wesseist Hettinger, BT 1 Rdn. 452; wohl auch Lackner I Kühl§ 239b Rdn. 1. 14 Vgl. entsprechend o. S. 64.

5 Imme!

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2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. I

gefolgert werden, daß die von Kunert verfochtene Ansicht, derzufolge § 239b Abs. 11971 primär auf der Betroffenheit mehrerer Rechtsgutsinhaber beziehungsweise auf der Ausnutzung der Sorge eines unbeteiligten Dritten beruhte 15, bis in die heutige Zeit fortwirkt. c) Schwerpunktbegründungen

Es verbleiben die bereits bekannten, mutatis mutandis auf § 239b Abs. 1 übertragbaren Schwerpunktbegründungen. Ihnen zufolge geht es bei § 239b Abs. 1 primär um den Schutz der Freiheitssphären des Opfers sowie des zu Nötigenden 16 beziehungsweise um den Schutz des Opfers vor Lebens- und Leibesgefährdung 17 • Unstreitig nicht im Vordergrund steht demgegenüber das Vermögen, mag es auch Fälle von Geiselnahme geben, in denen der Täter darauf aus ist, einen anderen wirtschaftlich zu schädigen 18•

II. Kritische Stellungnahme und eigene Ansicht Die Antwort auf die Frage, welche der vorgenannten Einordnungen Zustimmung verdient, hat von der ebenso banalen wie fundamentalen Einsicht auszugehen, daß das Rechtsgut nicht isoliert neben dem Tatbestand steht, sondern Bestandteil desselben, materielles Fundament des Delikts insgesamt ist. Das Rechtsgut umschreibt den Zentralbegriff des Tatbestandes, an dem alle objektiven wie subjektiven Merkmale auszurichten sind; es beinhaltet die Quelle der Erkenntnis bei der Anwendung des Rechts 19. Mit Blick auf die so beschriebene hermeneutische Funktion des Rechtsguts erscheint es angezeigt, Schwerpunkte zu setzen. Dabei sollte schon angesichts der außerordentlichen Höhe der Mindeststrafen der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 besonderer Wert auf klare Konturen gelegt werden. Wer etwa - um nur ein Kunert/Bemsmann, NStZ 1989 S. 450. So etwa Gössel, BT 1 § 22 Rdn. 1 f., § 18 Rdn. 10; Rengier, BT 2 § 24 Rdn. 1; wohl auch Horn, in: SK § 239b Rdn. 2, § 239a Rdn. 2; vgl. auch BGHSt 26, 70, 73; LG Mainz, MDR 1984, 687, 687; Bockelmann, BT 2 § 17; Arzt/ Weber, BT I Rdn. 529. 17 So etwa Backrrumn, JuS 1977 S. 445 f.; Blei, JA 1972 S. 247; Eser, in: Schönke/Schröder § 239b Rdn. 1; Renzikowski, JZ 1994 S. 496; ders., JR 1995 S. 349; nicht konsequent dann aberders., JR 1998 S. 127; Tröndle /Fischer § 239b Rdn. I; wohl auch Heinrich, NStZ 1997 S. 368; vgl. ferner Arzt, schwZStR 100 (1983) S. 262 f., 267 ff.; wohl unbeabsichtigterweise allein auf die Gefährdung des Lebens abstellend Arzt/Weber, BT 3 Rdn. 367; Bohlinger, JZ 1972 S. 233; Küpper; BT S. 52 läßt der psycho-physischen Integrität der Geisel die Dispositionsfreiheit des zu Nötigenden gleichrangig hinzutreten. 18 Klarstellend Preisendanz § 239b Anm. 2. 19 Ausführlich Gössel, in: Festschrift für Oehler S. 97 ff.; ferner Eser; in: Schönke/ Sehröder § 1 Rdn. 48; Jescheck/Weigend, AT§ 17 IV, 3, § 26 I, 3a; Lenckner, in: Schönke/ Sehröder vor§ 13 Rdn. 10; Weber; in: Baumann, AT§ 9 Rdn. 68 f. 15

16

A. Die Rechtsgüter

67

Beispiel zu nennen - den erpresserischen Menschenraub allgemein auf die Freiheit und Unversehrtheit des Opfers wie des zu Erpressenden fußt, begibt sich praktisch jeder Möglichkeit, Fälle minderen Unrechts unter Verweis auf die Teleologie des Gesetzes außen vor zu lassen. Damit sind Bedenken von rechtsstaatlicher Warte vorgezeichnet (arg.: Schuldprinzip; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz). Ich will daher im folgenden den Versuch unternehmen, eine der vorstehend umschriebenen Schutzrichtungen herauszustellen, um endlich sagen zu können: Dieser Schutzaspekt rechtfertigt die besondere Hervorhebung der Erpressung/Nötigung durch die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1. 1. Differenzierende oder einheitliche Schutzgutskonzeption?

Es stellt sich zunächst die Frage, ob den §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 eine einheitliche Schutzgutskonzeption zugrunde liegt oder ob zwischen den Schutzgütern des § 239a Abs. 1 und des § 239b Abs. 1 zu differenzieren ist. Das Gesetz selbst scheint diese Frage im zuletzt genannten Sinne zu beantworten, indem es die Talbestandsvoraussetzungen nach dem vom Täter verfolgten Nötigungsziel abstuft, mithin denjenigen verschärft haften läßt, der darauf aus ist, eine Erpressung im Sinne des § 253 Abs. 1 zu begehen. Diese Zielunterteilung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 kann freilich nur dann Grundlage auch materieller Differenzierungen sein, wenn sie in der Sache überzeugt. Gerade dies ist zweifelhaft, wurde doch bereits im Sonderausschuß die Ansicht vertreten, daß die § § 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 weitaus größere Gemeinsamkeiten aufwiesen als Unterschiede 20 . Diese Ansicht, die seinerzeit kaum hinreichend Beachtung fand, findet sich auch im gegenwärtigen Schrifttum wieder21 . Kann sie widerlegt werden?

a) Die legislatorische Begründung der Zielunterteilung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1: Wertwidrigkeit des Tatziels

Auszugehen ist von der Erkenntnis, daß der historische Gesetzgeber die Zielunterteilung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 an Wertungen des Nötigungsstrafrechts ausrichtete, die ihrerseits aus den Grundstrukturen zweier klassischer Nötigungsdelikte, den §§ 253 Abs. 1, 240 Abs. 1, 2, abgeleitet wurden. Man stellte darauf ab, wie die Rechtsordnung insgesamt das vom Täter verfolgte Ziel bewertet. Die Erpressung zeichne sich - so die zu rekapitulierende Begründung - dadurch aus, daß der Täter einen Vorteil erstrebe, den das Recht insgesamt einer anderen Person zuVgl. o. S. 37 f. Vgl. Backmann, JuS 1977 S. 446; Bohlinger, JZ 1972 S. 233; Renzikowski, JZ 1994 S. 494; ferner Eser, in: Schönke/Schröder § 239a Rdn. 1; abw. Backmann/MüllerDietz, JuS 1975 S. 41; Schroeder, in: Maurach, BT § 15 Rdn. 24, 18. 20

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5*

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2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1

weise; die Wertwidrigkeit des Tatziels charakterisiere den Unrechtsgehalt des Delikts. Bei der Nötigung trete demgegenüber das vom Täter eingesetzte Tatmittel in den Vordergrund; denn nötigen könne auch, wer ein Ziel verfolge, das wertneutral sei beziehungsweise vom Recht insgesamt gebilligt werde. Da der historische Gesetzgeber aus Gründen der systematischen Stringenz nun davon überzeugt war, diese tatzielorientierten Wertentscheidungen der§§ 253 Abs. 1, 240 Abs. 1, 2 auf die Geiselnahme durchschlagen lassen zu müssen, entschloß er sich dazu, zwei unterschiedliche Geiselnahmetatbestände zu formulieren, von denen der eine das unrechtsintensive Tatziel der Erpressung, der andere das weniger unrechtsintensive Tatziel der Nötigung erfaßte. Systematischen Brüchen, die jenem Unrechtsüberhang I-defizit im Verbund mit der Identität der Rechtsfolgen der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 erwachsen konnten, setzte man als tatbestandliebes Regulativ den Drohmittelkatalog des § 239b Abs. 1 entgegen. Damit schien den Vorgaben des Nötigungsstrafrechts genüge getan. Derartigen Überlegungen ist sicherlich einiges zuzugeben. In der Tat verbietet sich die Anwendung des § 253 Abs. 1, wenn der Täter einen fälligen und einredefreien Anspruch auf den erlangten Vermögenswert hat22. Auch muß angenommen werden, daß § 240 Abs. 1, 2 nicht zuletzt den Einsatz unerlaubter Mittel zwecks Erreichung erlaubter Ziele erfaßt23 . Die Frage ist nur, ob diese beiden Befunde bereits die vorgenannten Folgerungen rechtfertigen. Zweifel drängen sich insofern auf, als der historische Gesetzgeber eine Vielzahl typischer Nötigungsdelikte (vgl. etwa die§§ 105 Abs. 1, 106 Abs. I, I07 Abs. I, 108 Abs. I, 113 Abs. 1 Alt. 1, I21 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1, 177 Abs. 1, 249 Abs. 1, 252) aus der Beurteilung aussparte. Da nötigungsstrafrechtliche Wertungen auch außerhalb der§§ 253 Abs. 1, 240 Abs. 1, 2 getroffen sein könnten, muß dies als legislatorisches Versäumnis getadelt werden, welches wettzumachen ist. aa) Beachtung der Wertungen der§§ I05 Abs. I, 106Abs.l, 107 Abs.l, 108Abs. l, 121 Abs. 1 Nr.l Alt. I, 177 Abs. l? Zu beginnen ist mit den§§ 105 Abs. 1, 106 Abs. 1, 107 Abs. 1, 108 Abs. 1, 121 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1. Diese Vorschriften haben mit§ 240 Abs. 1, 2 gemein, daß sie die Strafbarkeit des Täters nicht nach dem Wert des vertatbestandlichten Tatziels abstufen24. Ihre vorbehaltlose Zuordnung zu § 239b Abs. 1 ist daher -legt man die 22 Zur Begründung dieses Ergebnisses etwa BGH, NStZ-RR 1999, 6, 6; BGH, NStZ-RR 2000, 140, 140; Cramer; in: Schönke/ Sehröder § 263 Rdn. 117, 80 ff., 170 ff.; Lackner I Kühl § 263 Rdn. 47, 61; Samson!Günther; in: SK § 263 Rdn. 148, 191. 23 § 240 Abs. 2 knüpft nach h. M. nicht isoliert an die Verwerflichkeit von Mittel und Zweck, sondern an die verwerfliche Mittel-Zweck-Relation an, vgl. statt vieler BGHSt 2, 194, 196; Eser; in: Schönke/Schröder § 240 Rdn. 21 , 17; Lackner/Kühl § 240 Rdn. 18; Schäfer; in: LK § 240 Rdn. 59. 24 Zur Anwendbarkeit des§ 240 Abs. 2 (zu ihm bereits die vorherige Fn.) s. v. Bubnojf. in: LK § 121 Rdn. 29; Eser; in: Schönke/Schröder § 105 Rdn. 10, § 106 Rdn. 3, § 108 Rdn. 6;

A. Die Rechtsgüter

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Prämissen des historischen Gesetzgebers zugrunde - konsequent. Ebenso verhält es sich bei § 177 Abs. 1. Danach wird die sexuelle Nötigung I Vergewaltigung unabhängig davon bestraft, ob sie innerhalb oder außerhalb der Ehe erfolgt. Die im Zivilrecht vorzufindende Ansicht, derzufolge § 1353 Abs. 1 S. 2 BGB ein (selbstverständlich: nicht vollstreckbares) "Recht" auf geschlechtliche Beiwohnung gewährt25, zeitigt somit keine strafrechtlichen Konsequenzen; einschlägige Wertungen, an denen die Zielunterteilung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 auszurichten wäre, existieren nicht. Erinnert sei freilich daran, daß die sexuelle Nötigung I Vergewaltigung in der Ehe lange Zeit nicht vom Sexualstrafrecht, sondern allein von § 240 Abs. I, 2 erfaßt wurde26. Diese nötigungsstrafrechtliche Wertung hätten die Schöpfer der§§ 239a Abs. I 1971, 239b Abs. 1 1971 in ihre Überlegungen miteinbeziehen müssen. Denn man wird schwerlich ausschließen können, daß die Beschränkung der §§ 177 Abs. l a. F., 178 Abs. l a. F. auf außereheliche Nötigungshandlungen auf Vorgaben des Zivilrechts gründete27 .

bb) Beachtung der Wertungen des § 113 Abs. 1 Alt. l, Abs. 3 S. 1? Problematisch ist, ob die Zielunterteilung den Wertungen des § 113 Abs. Alt. 1, Abs. 3 S. 1 genügt. § 113 Abs. 3 S. 1 erklärt den Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte unter der Voraussetzung für nicht strafbar, daß er sich auf eine nicht rechtmäßige Diensthandlung bezieht; als Maßstab ist dabei ein strafrechtlicher Rechtmäßigkeitsbegriff heranzuziehen 28. Rechtswidrige Diensthandlungen genießen demnach keinen Schutz, und zwar unabhängig davon, ob der Täter sich ihrer mit Hilfe verhältnismäßiger Mittel erwehrt oder nicht. Damit scheint es, als sei die legislatorische Begründung der Zielunterteilung widerlegt. Denn eine dem § 239a Abs. 1 entsprechende, speziell auf den Fall des § 113 Abs. 1 Alt. 1, Abs. 3 S. 1 ausgerichtete ReLackner/ Kühl§ 105 Rdn. 5, § 106 Rdn. 2, § 108 Rdn. 3; Tröndle/ Fischer § 105 Rdn. 3, § 108 Rdn. 5, § 121 Rdn. 6; a.A. Lau.fhütte, in: LK § 105 Rdn. 16 ff., § 108 Rdn. 5. 25 Sehr weit BGH, NJW 1967, 1078, 1079; s. ferner Brudermüller; in: Palandt § 1353 Rdn. 7; H. Lange, in: Sorge!§ 1353 Rdn. 10; Roth-Stielow, in: RGRK § 1353 Rdn. 31; wohl auch Hecke/mann, in: Errnan § 1353 Rdn. 5; abw. Lüke, AcP 178 (1978) S. 6; Wacke, FamRZ 1977 S. 507, 509; ders. , in: MK § 1353 Rdn. 30; Wolf, NJW 1968 S. 1497. 26 BGH, NStZ 1983, 72, 72; OLG Schleswig, NJW 1993, 2945, 2945; Eser; in: Schänke/ Sehröder § 240 Rdn. 19; Schroeder; in: Maurach, BT § 17 Rdn. 38; ausführlich Mitsch, JA 1989 S. 484 ff. 27 Zu den im einzelnen diffusen Versuchen, das Differenzierungskriterium "Ehe" materiell zu fundieren, Lau.fhütte, in: LK § 177 vor Rdn. 1; Lenckner; in: Schänke I Sehröder § 177 Rdn. 1; weiterführend Helmken, ZRP 1980 S. 171 ff. ; ders., ZRP 1985 S. 170 ff.; ders. , ZRP 1993 S. 459 ff.; ders., ZRP 1995 S. 302 ff. 28 So die h. M., v. Bubnoff, in: LK § 113 Rdn. 25 ff.; Lackner I Kühl § 113 Rdn. 7 ff. ; Trönd1e/ Fischer § 113 Rdn. 11 ff. ; im Ansatz ebenso Eser; in: Schänke/ Sehröder § 113 Rdn. 22 ff.

2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1

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gelung fehlt. Andererseits könnte man einwenden, daß vor dem Hintergrund der herrschenden Ansicht zum Verhältnis des § 113 Abs. 1 Alt. 1 zu § 240 Abs. 1, 2 auch andere Schlußfolgerungen möglich sind. Mit jener herrschenden Ansicht hat es die folgende Bewandtnis: Widersetzt sich der Täter einer rechtmäßigen Diensthandlung mittels Gewalt oder unter Androhung von Gewalt, so ist zwar in der Regel zugleich eine mindestens versuchte Nötigung gegeben; der Widerstand verfolgt ja den Zweck, den Vollstreckungsbeamten zur Unterlassung der Diensthandlung zu nötigen oder sie zu erschweren29 . Die Grundlage der Bestrafung bildet aber ausschließlich § 113 Abs. 1 Alt. 1. Die §§ 240 Abs. 1, 2, 22, 23 werden konkurrenzrechtlich verdrängt und schlagen weder im Tenor noch bei der Strafzumessung zu Buche. Es gilt die Sperrwirkung des privilegierenden Tatbestandes30. Unter Berücksichtigung dieser Wertungen ist auch der Fall zu beurteilen, in dem sich ein Rekurs auf § 113 Abs. 1 Alt. 1 mangels Rechtmäßigkeit der Diensthandlung verbietet. Da hier freilich die Grundvoraussetzung einer Konkurrenz, die Volldeliktische Verwirklichung mehrerer Straftatbestände31 , fehlt, ein konkurrenzrechtlicher Vorrang des§ 113 Abs. 1 Alt. 1 vor den §§ 240 Abs. 1, 2, 22, 23 also ausscheidet, bedarf es einer besonderen Begründung. Meines Erachtens bleibt nichts anderes übrig, als § 113 Abs. 3 S. 1 über seinen eigentlichen Anwendungsbereich hinaus auf die§§ 240 Abs. 1, 2, 22, 23 zu erstrecken. Anderenfalls würde der Widerstand gegen rechtswidrige Diensthandlungen strenger bestraft als der Widerstand gegen rechtmäßige Diensthandlungen32 . Wer so argumentiert, darf sehr wohl sagen, daß sich die Zielunterteilung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 mit den Wertungen des § 113 Abs. 1 Alt. 1, Abs. 3 S. 1 vereinbaren lasse; in Anlehnung an die legislatorischen Vorgaben könnte konstatiert werden: Ist die Diensthandlung rechtmäßig (hier: der Täter verfolgt ein wertwidriges Tatziel), so kann § 239b Abs. 1 Anwendung finden. Ist sie demgegenüber rechtswidrig (hier: der Täter verfolgt ein wertneutrales Tatziel), so fehlt es an einem nötigungsstrafrechtlichen Anknüpfungspunkt und damit an einer Tat nach § 239b Abs. 1 insgesamt. s. u. S. 128 mit Fn. 40. Ganz h. M., statt vieler BGH, VRS 50, 94, 95 f.; BayObLG, JR 1989, 24, 24; v. Bubnojf, in: LK § 113 Rdn. 3, 62; Eser, in: Schönke/ Sehröder § 113 Rdn. 68, 3; Lackner I Kühl§ 113 Rdn. 1, 26. 3t Die verbrechenssystematische Einordnung des § 113 Abs. 3 S. 1 (zu ihr etwa v. Bubnojf, in: LK § 113 Rdn. 19 ff.; Eser, in: Schönke/Schröder § 113 Rdn. 18 ff.; Lackner/ Kühl§ 113 Rdn. 17 f.) sei vernachlässigt. 32 Ich wähne mich insoweit auf der Seite der h. M., derzufolge § 113 Abs. 3 S. 1 etwa dann auf die§§ 240 Abs. 1, 2, 22, 23 durchschlägt, wenn es an einer Tatbestandsvoraussetzung des § 113 Abs. I Alt. 1 fehlt (klassisch: der Täter droht mit einem empfindlichen Übel, das keine Gewalt i. S. d. § 113 Abs. 1 Alt. 1 darstellt), vgl. nur OLG Hamm, NStZ 1995, 547, 548; v. Bubnojf, in: LK § 113 Rdn. 3, 65; Dreher; NJW 1970 S. 1158; Lackner I Kühl§ 113 Rdn. 26; Otto, BT § 91 Rdn. 25; Rengier; BT 2 §53 Rdn. 28; Tröndle/Fischer § 113 Rdn. 1, § 240 Rdn. 31; in der Konstruktion, nicht aber im Strafbarkeitsergebois abw. Arzt/Weber, BT 5 Rdn. 121; Backes/Ransiek, JuS 1989 S. 629; Eser; in: Schönke/Schröder § 113 Rdn. 45, 43, 68; Horn, in: SK § 113 Rdn. 23; Krey, Gewaltbegriff 2 Rdn. 75; Küpper, BT S. 126 f.; ebenso wohl Wesseist Hettinger, BT 1 Rdn. 629. 29

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A. Die Rechtsgüter

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Die Richtigkeit der - zuletzt genannten - Schlußfolgerung erscheint indessen zweifelhaft. Es ist nämlich zu beriicksichtigen, daß die Unterscheidung zwischen wertwidrigen und wertneutralen Tatzielen im Rahmen des § 113 Abs. 1 Alt. 1, Abs. 3 S. 1 auf einer niedrigeren Ebene erfolgt als sonst. Sie weicht insoweit von derjenigen des Gesetzgebers ab, als sie nicht über den Inhalt einer Strafbarkeit nach den §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 entscheidet, sondern über deren Vorliegen überhaupt. Die zu erstrebende systematische Harmonie läßt sich also nur auf Kosten von Strafbarkeitslücken erreichen, ein Preis, der zu hoch sein dürfte. cc) Beachtung der Wertungen der§§ 249 Abs. 1, 252? Zu priifen bleibt, ob die Prämissen, die der historische Gesetzgeber der Zielunterteilung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zugrunde legte, den Wertungen der §§ 249 Abs. 1, 252 genügen. § 249 Abs. 1 setzt anerkanntermaßen voraus, daß der Tater keinen falligen und einredefreien Anspruch auf den erstrebten Vorteil hat33 . Er knüpft daher ebenso wie § 253 Abs. 1 an ein wertwidriges Tatziel an. Unklar sind demgegenüber die Auswirkungen der materiellen Vermögensordnung auf eine Strafbarkeit nach § 252. Man denke an den Gläubiger, der den Gegenstand, auf dessen Übereignung er einen einredefreien Anspruch hat, unmittelbar vor Eintritt der Fälligkeit wegnirnrnt, um sodann den plötzlich auf den Plan tretenden Schuldner mittels qualifizierter Nötigungsmittel zur Unterlassung erwarteter Restitutionsbemühungen zu zwingen. Ist § 252 hier unabhängig davon anzuwenden, ob zwischen der Vollendung der Wegnahme und dem Einsatz des qualifizierten Nötigungsmittels Fälligkeit eintrat? Wer allein auf den Normtext blickt, wird diese Frage bejahen müssen. Die in § 252 vorausgesetzte Absicht "sich im Besitz des gestohlenen Gutes zu erhalten" hat ja auch derjenige, der dieses Gut zivilrechtlich beansprucht. Dem dürfte jedoch die herrschende Ansicht entgegenstehen. Ihr zufolge umschreibt § 252 ein raubähnliches delictum sui generis, welches § 249 Abs. 1 unter Unrechts- und Schuldgesichtspunkten gleichsteht. Die Identität der Strafdrohungen der §§ 252, 249 Abs. 1 folge daraus, daß der Einsatz qualifizierter Nötigungsmittel zwecks Erhaltung bereits erlangten Gewahrsams ebenso strafwürdig sei wie der Einsatz qualifizierter Nötigungsmittel zwecks Erlangung von Gewahrsam34. Die Konsequenzen dieses 33 Eser, in: Schönke/Schröder § 249 Rdn. 8, § 242 Rdn. 59; Herdegen, in: LK § 249 Rdn. 18; Lackner I Kühl§ 249 Rdn. 5, § 242 Rdn. 27 f. 34 BGH, StV 1987,534, 535; Blei, BT §58 I; Eser, in: Schönke/Schröder § 252 Rdn. 1; Gössel, BT 2 § 15 Rdn. 1 ff.; Lackner I Kühl § 252 Rdn. 1; Schroeder, in: Maurach, BT § 35 Rdn. 1, 3; Tröndle/Fischer § 252 Rdn. 1; ähnlich Perron, GA 1989 S. 161 ff., 169; zuweilen wird darüber hinaus ein (freilich: fragwürdiger) kriminalpsychologischer Vergleich gezogen, vgl. etwa RGSt 73, 343, 345; BGHSt 9, 255, 257; 26, 95, 96; Arzt/Weber, BT 3 Rdn. 325; Wesseist Hillenkamp, BT 2 Rdn. 361 f.; eine a.A. stellt auf die besondere Geflihrlichkeit desjenigen ab, der sich ertappt sieht, vgl. Geilen, Jura 1979 S. 614, 669; Herdegen, in: LK § 252 Rdn. 2 f .

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2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1

Gleichstellungsarguments sind unabweisbar: § 252 ist in Anlehnung an § 249 Abs. 1 auszufüllen; die Absicht des Täters, "sich im Besitz des gestohlenen Gutes zu erhalten", ist eine dem "Sachstand angepaßte Zueignungsabsicht" im Sinne des § 249 Abs. 135 ; das Erfordernis der Rechtswidrigkeit der beabsichtigten Zueignung schlägt auf § 252 durch36. Dieser herrschenden Ansicht ist zu folgen. Für sie spricht insbesondere die Parallele zum "hinkenden Raub" 37 , die kriminalphänomenologisch berechtigt ist38 . Der Verletzung der materiellen Eigentumsordnung im Beispielsfall kann dadurch Rechnung getragen werden, daß man den Täter mit aus dem die Vortat begründenden § 242 Abs. 1 bestraft. § 252 enthält nach alledem ebenso wie § 249 Abs. 1 eine Wertung, derzufolge tatbestandsmäßig nur handelt, wer die materielle Eigentumsordnung mißachtet. Inhaber eines fälligen und einredefreien Anspruchs gegen den Eigentümer unterfallen allein § 240 Abs. 1, 2. Läßt man diese Erkenntnisse gemäß den Prämissen des historischen Gesetzgebers auf die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 durchschlagen, so stellt sich die Frage, ob es möglich ist, § 239a Abs. 1 auch die Tatziele Raub und räuberischer Diebstahl zuzuordnen. Das wiederum hängt von dem Grad an Übereinstimmung ab, den die Tatbestände der§§ 249 Abs. 1, 252 mit dem von § 239a Abs. 1 ins Auge gefaßten Tatbestand des § 253 Abs. 1 aufweisen. Denn jene Zuordnung darf die Grenzen des sprachlich Möglichen nicht überschreiten (Art. 103 Abs. 2 GG); Täter die nicht im technischen Sinne des § 253 Abs. 1 erpressen wollen, unterfallen allein § 239b Abs. 1. (a) Der Grad an Übereinstimmung der§§ 253 Abs. 1, 249 Abs. 1

Folgte man der überwiegenden Lehre zu den §§ 249 Abs. 1, 255, nach der ein Verhalten, das die Voraussetzungen des Raubes erfüllt, mangels willensgetragener Vermögensverfügung niemals eine räuberische Erpressung sein kann (Exklusivitätsthese)39, so wäre das Kriterium der Wertwidrigkeit widerlegt. Man darf freilich annehmen, daß der historische Gesetzgeber weniger an der wissenschaftlichen Diskussion als an der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Raub- und Erpressungsrecht, mithin an der die Praxis beherrschenden Instanz, anknüpfte. Dieser zufolge verlangt § 255 bekanntermaßen nicht, daß der Genötigte Vermögensdispositionen mit Verfügungscharakter trifft. Die Norm sei im Interesse eines möglichst 35 Herdegen, in: LK § 252 Rdn. 17, freilich für§ 249 Abs. 1 a. F.; zum Problem der n. F. s. etwa Günther; in: SK § 252 Rdn. 2, 19, 25. 36 In Anlehnung an Geilen, Jura 1980 S. 44, der in der beabsichtigten Vereitelung von Restitutionsinteressen ein - ungeschriebenes - Tatbestandsmerkmal des § 252 erblickt. 37 Bezeichnung nach Geilen, Jura 1979 S. 669, 165. 38 Vgl. Eser; in: Schönke/ Sehröder § 252 Rdn. I. 39 Eser; in: Schönke/Schröder § 253 Rdn. 8 f., 31 , § 255 Rdn. 2; Krey, BT 2 Rdn. 304 ff.; Lackner I Kühl § 253 Rdn. 3, § 255 Rdn. 2; Maiwald, in: Maurach, BT § 42 Rdn. 6 ff., 37 ff., 53; Otto, BT §53 Rdn. 4, 24; Tenckhoff, JR 1974 S. 489 ff.; Tröndle/ Fischer§ 253 Rdn. 11, § 255 Rdn. 1; Wessels/ Hillenkamp, BT 2 Rdn. 711 f.

A. Die Rechtsgüter

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umfangreichen Strafrechtsschutzes weit auszulegen und erfasse daher auch denjenigen, der einen anderen zur Duldung der Wegnahme im Sinne des § 249 Abs. 1 zwinge40. Ein und dasselbe Nötigungsverhalten kann demnach sowohl unter§ 255 als auch unter § 249 Abs. 1 fallen. § 255 stellt sich als die weiterreichende Vorschrift dar, die § 249 Abs. 1 für den Fall "spezialisiert", daß derTaterden Vermögensgegenstand in der Absicht rechtswidriger Zueignung wegnimmt ("Iex specialis"-These)41. Entsprechend gestaltet sich das Verhältnis des § 253 Abs. 1 zum "kleinen" Raub nach den§§ 242 Abs. 1, 240 Abs. 1, 2, 52; wer einen anderen zur Duldung der Wegnahme zwingt, ohne insoweit die qualifizierenden Nötigungsmittel der§§ 255, 249 Abs. 1 einzusetzen, kann nicht nur eines "kleinen" Raubes, sondern auch einer Erpressung schuldig sein42. Die Übertragung dieser Grundsätze auf die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 bereitet auf den ersten Blick keine Schwierigkeiten. Träfe es zu, daß die Raubtatbestände von den §§ 253 Abs. 1, 255 umschlossen werden, so erfaßte § 239a Abs. 1 neben dem Tatziel (räuberische) Erpressung auch das Tatziel ("kleiner") Raub43 . Hieraus ließe sich der Schluß ziehen, daß § 239a Abs. 1 praktisch jeder unterfällt, der darauf aus ist, rechtswidrige Vermögensvorteile mittels Nötigung zu erlangen. Für die sonst denkbaren Tatziele stünde der mildere § 239b Abs. 1 bereit. Eine systematisch schlüssige Abschichtung des § 239a Abs. 1 von § 239b Abs. 1 schiene gelungen. Die vorstehenden Überlegungen lassen sich freilich nur unter der Voraussetzung halten, daß die "Iex specialis"-These zutrifft. Gerade dies ist aber nicht der Fall44 , wie die folgenden zwei Standardprobleme aus dem Themenkreis der §§ 255, 249 Abs. 1 beweisen. Einerseits: Es entspricht der allgemeinen Ansicht, daß eine (räuberische) Erpressung ausscheidet, wenn die Tat der eigenmächtigen Durchsetzung falliger und einredefreier Gattungsschulden dient45 ; ("kleiner") Raub ist demgegenüber gegeben46. Und andererseits: Wer Sachen ohne wirtschaftlichen Wert 40 BGHSt 7, 252, 254; 14, 386, 390; 25, 224, 228; 41 , 123, 125 f. ; BGH, NStZ-RR 1997, 321, 321; OLG Hamm, MDR 1972,706, 707; ebenso Arzt/Weber, BT 3 Rdn. 356 f.; Blei, BT § 64 II; Geilen, Jura 1980 S. 51 f. ; Günther; in: SK vor§ 249 Rdn. 13 ff., § 253 Rdn. 16 f., § 255 Rdn. 5; Herdegen, in: LK § 249 Rdn. 24, § 253 Rdn. 9 sowie passim; Kindhäuser; in: NK vor§ 249 Rdn. 55 ff.; Mitsch, BT 1 § 6 Rdn. 40,75 f.; ähnlich Gössel, BT 2 § 12 Rdn. 7, § 21 Rdn. 137, § 31 Rdn. 12, 44, freilich mit dem weitergehenden Vorschlag,§ 255 im Wege teleologischer Reduktion auf solche Opferreaktionen zu beschränken, die nicht zugleich den Anforderungen einer Wegnahme i. S. d. § 249 Abs. I genügen. 41 RGSt 55, 239, 240 f. ; BGHSt 14, 386, 390; BGH bei Ho/tz, MDR 1992, 17, 18; BGH, NStZ-RR 1997, 321, 321; OLG Hamm, MDR 1972,706, 707; Arzt/Weber, BT 3 Rdn. 362. 42 Günther; in: SK vor§ 249 Rdn. 17. 43 U. S. 293. 44 Anerkennend Günther; in: SK vor§ 249 Rdn. 13; Herdegen, in: LK § 249 Rdn. 22; schon RGSt 55, 239, 241 beschränkte sich auf die Feststellung, daß § 249 Abs. I (lediglich) "im wesentlichen" in § 255 aufgehe. 45 Hierzu die o. S. 68 in Fn. 22 Genannten. 46 Hierzu die o. S. 71 in Fn. 33 Genannten; Durchbrechungen dieses Grundsatzes werden nur in engen Grenzen (namentlich: bei Geldschulden) zugelassen, hierzu vor allem Roxin, in:

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2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. I

wegnimmt, unterfällt zwar dem Eigentumsstrafrecht47 (vgl. aber auch § 248a); das Vermögensstrafrecht versagt jedoch48. Ist die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Raub- und Erpressungsrecht nach alledem nicht dazu in der Lage, in jedem ("kleinen") Raub zugleich eine (räuberische) Erpressung zu erblicken, so läßt sich das vom historischen Gesetzgeber favorisierte Kriterium der Wertwidrigkeit in bezug auf § 249 Abs. 1 schwerlich halten. Tatsächlich darf man sagen, daß die "Iex specialis"-These zu Ergebnissen gelangt, die um ein vielfaches fragwürdiger sind als jene, die auf der Grundlage der Exklusivitätsthese erzielt werden. Die Aussage, ("kleiner") Raub und (räuberische) Erpressung schlössen einander aus, garantiert nämlich immerhin eine gewisse Folgerichtigkeit; sie bürgt für eine vorbehaltlose Gleichbehandlung des ("kleinen") Raubes im Rahmen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 (freilich: aus legislatorischer Sicht verfehlt, da "nur" auf der Ebene des § 239b Abs. 1 angesiedelt). Die "lex specialis"-These läuft demgegenüber auf Differenzierungen innerhalb des ("kleinen") Raubes hinaus, indem sie diesen ("kleinen") Raubtäter § 239a Abs. I zuordnet, jenen § 239b Abs. 1. Das kann nicht richtig sein. (b) Der Grad an Übereinstimmung der§§ 253 Abs. 1, 252

Auch das Verhältnis des § 252 zu § 253 Abs. 1 ist kontrovers. Wahrend lange Zeit die Ansicht vorherrschte, daß die Verteidigung der Beute durch den auf frischer Tat betroffenen Dieb eine im Sinne des § 253 Abs. 1 tatbestandsmäßige Erpressung sei, die lediglich aus Gründen der Gesetzeskonkurrenz hinter das durch die Vortat verwirklichte Eigentumsdelikt zurücktrete (mitbestrafte Nachtat)49, steht die mittlerweile wohl überwiegende Meinung zu Recht auf einem anderen Standpunkt50. Der von § 252 umschriebene Sachverhalt läßt sich bei näherem Hinsehen schon deshalb nicht unter § 253 Abs. 1 subsumieren, weil der Versuch, den durch Festschrift für H. Mayer S. 479 ff.; ferner Eser; in: Schönke/ Sehröder § 242 Rdn. 59, 6; Krey, BT 2 Rdn. 95; Lackner I Kühl§ 242 Rdn. 27; Ruß, in: LK § 242 Rdn. 69; Hoyer; in: SK § 242 Rdn. 103; Wesseist Hillenkamp, BT 2 Rdn. 189; weiter Gribbohm, NJW 1968 S. 240 f.; Otto, BT § 40 Rdn. 81 ff. 47 Ganz h. M., für § 249 Abs. I z. B. Eser; in: Schönke I Sehröder § 249 Rdn. 1; Geilen, Jura 1979 S. 54; Herdegen, in: LK § 249 Rdn. I ; Krey, BT 2 Rdn. 207; Lackner/ Kühl§ 249 Rdn. 1, § 242 Rdn. 2; kritisch Burkhardt, JZ 1973 S. 110 ff.; ders., NJW 1975 S. 1687. 48 Mit Blick auf § 263 Abs. 1 statt vieler Cramer; in: Schönke I Sehröder § 263 Rdn. 80, 82 ff., 99 ff.; Lackner I Kühl§ 263 Rdn. 33 ff.; Tröndle I Fischer§ 263 Rdn. 27 ff. 49 Vgl. BGH, StV 1986,530, 530; Günther; in: SK § 252 Rdn. 26 f., § 253 Rdn. 45; Schröder; SJZ 1950 Sp. 98 f.; dens., MDR 1950 S. 400 f.; Stree, in: Schönke/Schröder vor§ 52 Rdn. 114. so So vor allem Seier; JuS 1979 S. 338; ders., NJW 1981 S. 2155 ff.; ferner Gössel, BT 2 § 31 Rdn. 40; Herdegen, in: LK § 252 Rdn. 23, § 253 Rdn. 36; Mitsch, BT I § 4 Rdn. 8, § 6 Rdn. 64; Otto, BT § 53 Rdn. 6, § 51 Rdn. 152; Rengier; BT I § II Rdn. 29; Wessels I Hillenkamp, BT 2 Rdn. 378; wohl auch Lackner I Kühl § 255 Rdn. 3; vgl. schließlich BGH, StV 1991, 349, 349 f.

A. Die Rechtsgüter

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die Vortat erlangten Vorteil zu sichern, keinen relevanten Vermögensnachteil bewirken kann. Die Behauptung, es sei möglich, die Vereitelung drohender Restitutionsbemühungen wirtschaftlich faßbar und damit, im Rahmen des § 253 Abs. l, rechtlich verwertbar zu machen, geht- wie Seier nachgewiesen hat- an der Realität vorbei51 • Im übrigen ist es nicht angängig, die tatbestandliehen Grenzen des § 252 durch einen Rückgriff auf § 253 Abs. 1 auszuhebeln. Wenn der Diebstahlsgehilfe qualifizierte Nötigungsmittel in der Absicht einsetzt, die im alleinigen Gewahrsam des Vortäters befindliche Vortatbeute zu sichern, so macht er sich zwar keiner Tat nach § 252 schuldig52. § 255 aber liegt - folgt man den Prämissen der Konkurrenzlösung - vor. Da nun offensichtlich ist, daß "die Vortat ,Beihilfe zum Diebstahl' im Hinblick auf die Nachtat ,Erpressung' keine unrechtsmitabgeltende Wirkung zu entfalten vermag", erscheint eine Bestrafung des Diebstahlsgehilfen aus§ 255 unausweichlich. Das widerspricht der Wertung des§ 25253 . Damit bleibt festzuhalten: Die §§ 253 Abs. 1, 252 schließen einander aus. Die Prämissen des historischen Gesetzgebers haben sich auch in bezug auf § 252 als unzutreffend erwiesen. dd) Ergebnis Die legislatorische Begründung der Zielunterteilung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 ist in mehrfacher Hinsicht mangelhaft. (1) Ihr steht aus historischer Sicht entgegen, daß sie der Beschränkung der §§ 177 Abs. 1 a. F., 178 Abs. 1 a. ·F. auf außereheliche Nötigungshandlungen keine Beachtung schenkte.

(2) Im Rahmen des § 113 Abs. 1 Alt. 1, Abs. 3 S. 1 sind Widersprüche nur zu vermeiden, wenn man den Widerstand gegen rechtmäßige Diensthandlungen § 239b Abs. 1 zuordnet und den Widerstand gegen rechtswidrige Diensthandlungen unter dem Gesichtspunkt der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 straflos läßt. Damit werden indessen Strafbarkeitslücken aufgerissen, die unakzeptabel erscheinen. (3) Der Gesetzgeber verkannte, daß die§§ 249 Abs. 1, 252 unter dem Gesichtspunkt der Wertwidrigkeit des verfolgten Tatziels ebenso behandelt werden müssen 51 Seier; NJW 1981 S. 2155 ff.; vgl. auch die h. M. zu § 259 Abs. 1, die die Tatbestandslosigkeit der Hehlerei durch den Vortäter materiell auf den Gedanken der mitbestraften Nachtat stützt, statt vieler LackneriKüh/ § 259 Rdn. 18; Ruß, in: LK § 259 Rdn. 41; Stree, in: Schönke I Sehröder § 259 Rdn. 54; gegen das in diesem Zusammenhang auch verwendete Wortlautargument (sei!.: " ... ein anderer ... erlangt hat") zutreffend Roth, JA 1988 S. 200 mit Fn. 87. 52 Zur Kontroverse um die Begründung dieses heute einmütig befürworteten Ergebnisses statt vieler Eser, in: Schönke I Sehröder § 252 Rdn. 10; Herdegen, in: LK § 252 Rdn. 18; Lackner I Kühl § 252 Rdn. 6; Tröndle I Fischer § 252 Rdn. 11. 53 Seier, NJW 1981 S. 2155.

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2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. I

wie § 253 Abs. 1. Seine Schlußfolgerung, sie - partiell oder ausnahmslos - § 239b Abs. 1 zuzuordnen, leuchtet nicht ein.

b) Die mögliche Alternativbegründung der Zielunterteilung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1: Unrechtsüberhang der Erpressung

Man wird dem historischen Gesetzgeber zwar zugeben dürfen, daß das Strafrahmengefüge des Nötigungsstrafrechts entscheidend an dem vom Täter verfolgten Tatziel ausgerichtet ist54. Diese Erkenntnis allein kann die legislatorischen Prämissenjedoch schwerlich verifizieren. Denn das Unrecht des Tatziels folgt nicht lediglich aus seiner Wertwidrigkeit im allgemeinen, sondern auch aus dem Gewicht, das die Rechtsordnung der konkret betroffenen Freiheitssphäre im Gesamtsystem des Rechtsgüterschutzes zuweist55 . Nicht jede Verletzung rechtlich ge- I mißbilligter Freiheit wiegt gleich schwer. So ist es gewiß kein Zufall, daß das Gesetz den Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (Rechtsfolge des § 113 Abs. I Alt. 1: Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe) anders bewertet als die Nötigung des Bundespräsidenten (Rechtsfolge des § 106 Abs. 1 Nr. 1: Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren) oder die sexuelle Nötigung (Rechtsfolge des § 177 Abs. 1: Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr); die Freiheit des Staatsorgans, den rechtmäßigen Staatswillen im Verhältnis zum Bürger ungestört durchzusetzen, verdient eben weniger Schutz als die Freiheit staatstragender Persönlichkeiten oder das Recht auf sexuelle Selbstbestimrnung56 . Damit gelange ich zu der abschließenden Frage, ob es möglich ist, die Zielunterteilung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 "neu" zu erklären, auf eine andere als vom historischen Gesetzgeber erwogene Argumentation zu griinden. Bei der Beantwortung dieser Frage ist zu beriicksichtigen, daß das Gesetz den Erpressungstäter strenger behandelt wissen will als den sonstigen Nötigungstäter. Eine Alternativbegrundung hat also in jedem Fall zwei Voraussetzungen zu erfül54 Bedeutsam ist freilich auch das vom Täter eingesetzte Mittel (arg. §§ 253 Abs. I, 255). So lassen die§§ 106 Abs. 1, 108 Abs. 1, 121 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1, 240 Abs. 1, 2, 253 Abs. 1 neben "Gewalt" auch die "Drohung mit einem empfindlichen Übel" ausreichen. Die §§ 105 Abs. 1, 107 Abs. 1, 113 Abs. 1 Alt. I verlangen demgegenüber "Gewalt" oder "Drohung mit Gewalt" (zur Unterschreitung der Erheblichkeitsschwelle der Drohungsalternative des § 113 Abs. I Alt. I o. S. 70 mit Fn. 32). § 177 Abs. 1 findet nur bei "Gewalt" (zum Gewaltbegriff des § 177 Abs. I u. S. 214), bei "Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben" bzw. dann Anwendung, wenn der Tater "unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer (seiner) Einwirkung schutzlos ausgeliefert ist", nötigt. Die - vom Wortlaut her- engste Regelung enthalten die §§ 249 Abs. 1, 252, 255, denen zufolge der Täter "Gewalt gegen eine Person" oder "Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben" einsetzen muß (zur Bedeutung des Nötigungsmittels bei der Bildung des Nötigungsunrechts s. auch u. S. 136 f., 140 f., 202 ff.; ferner Renzikowski, JZ 1994 S. 494, 499). 55 Renzikowski, JZ 1994 S. 494,499. 56 Zu den Rechtsgütern der Nötigungsdelikte u. S. 92 f. mit Fn. 138.

A. Die Rechtsgüter

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len: Zum einen muß der Unrechtsunterschied, der zwischen dem von § 239a Abs. 1 erfaßten Erpressungsdelikt und jedem einzelnen ausschließlich von § 239b Abs. 1 erfaßten Nötigungsdelikt besteht, (wie ich meine: hinreichend, nämlich erheblich) größer sein als der Unrechtsunterschied, den die ausschließlich von § 239b Abs. 1 erfaßten Nötigungsdelikte untereinander aufweisen. Zum anderen muß, im Anschluß hieran, dargetan werden, daß das Erpressungsdelikt besonders unrechtsintensiv und daher erhöht strafwürdig ist. Fehlt es an der ersten Voraussetzung, so läßt sich nicht erklären, warum das Gesetz den Erpressungstäter überhaupt heraushebt; fehlt es an der zweiten Voraussetzung, so läßt sich nicht erklären, warum das Gesetz den Nötigungstäter dem Erpressungstäter gegenüber privilegiert. Um das Ergebnis meiner diesbezüglichen Überlegungen vorwegzunehmen: Ich meine, weder dort noch hier zu einem positiven Ergebnis gelangen zu können.

aa) § 253 Abs. 1 als "besonderes" Nötigungsdelikt Es ist dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen untersagt, wesentlich Gleiches ohne sachlichen Grund ungleich und wesentlich Ungleiches ohne sachlichen Grund gleich zu behandeln (Art. 3 Abs. 1 GG). Dieser Grundsatz gilt auch im Strafrecht57 . Man darf immerhin bezweifeln, ob die geltende Ausgestaltung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben genügt58 . Ungeachtet dessen ist der Gleichheitssatz jedenfalls als Sachargument von Wert. Dies beweist bereits ein Blick auf den in praxi besonders wichtigen Fall, in dem der Täter darauf aus ist, Vermögensvorteile mittels Nötigung zu erlangen. Hier differenzieren die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 -wie gezeigt- ohne sichtlichen Anhalt. Einerseits ordnen sie die Erstrebung rechtmäßiger Vermögensvorteile der Erstrebung bestimmter rechtswidriger Vermögensvorteile gleich, obwohl insoweit aus vermögensstrafrechtlicher Sicht59 - erhebliche strukturelle Divergenzen bestehen. Andererseits behandeln sie einzelne Formen der Erstrebung rechtswidriger Vermögensvorteile unterschiedlich, obwohl diese auf demselben Strafgrund, dem von der Rechtsordnung insgesamt mißbilligten Eingriff in die Vermögenssphäre eines anderen60 , beruhen. Wie wenig Sinn derartige Differenzierungen machen, belegen nicht zuletzt die Abgrenzungsschwierigkeiten, mit denen die§§ 249 Abs. 1, 252, 255 belastet sind61 . Im Raub- und Erpressungsrecht mag sich der RechtsanBVerfGE 4, 352,355 f.; 25,269, 292 f.; 41, 121, 124 f.; 50, 125, 141 ; 50, 142, 161 f. Zum (zugegeben: recht weiten) Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei Art. 3 Abs. 1 GG statt vieler BVerfGE 4, 352, 355 ff.; 25, 269, 292 ff. ; 41, 121, 124 f. ; 50, 142, 161 ff.; weiterführend Gubelt, in: v. Münch/Kunig Art. 3 Rdn. 11 ff.; Jarass/Pieroth Art. 3 Rdn. II ff.; Rüfner, in: BK Art. 3 Rdn. 11 ff. 59 Zu ihr u. S. 81 f. 60 U.S.81f. 61 Zur Abgrenzung der§§ 249 Abs. 1, § 255 statt vieler Eser; in: Schönke/Schröder § 253 Rdn. 8 f., 31 ; Herdegen, in: LK § 249 Rdn. 25, § 253 Rdn. 6 f., 10; Lackner I Kühl § 253 57

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2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1

wender über das beklagenswerte Fehlen von Konturenschärfe hinwegtrösten; immerhin ist es -mit Blick auf das Strafbarkeitsergebnis -bedeutungslos, ob der Tater des Raubes, des räuberischen Diebstahls oder der räuberischen Erpressung schuldig gesprochen wird. Die (Normtexte der) §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 stellen demgegenüber unterschiedliche Anforderungen an das vom Tater in Aussicht genommene Nötigungsmittel auf. Bei ihnen ist es nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, daß die Wahl des Grenzkriteriums Einfluß auf die Schärfe der zu verhängenden Strafe hat. Diese Bedenken lassen sich noch steigern. Wie etwa ist es zu rechtfertigen, daß das Gesetz zwischen der räuberischen Erpressung und dem räuberischen Diebstahl unterscheidet, die Vergewaltigung und den Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte aber gleich behandelt? Ich meine: Eine solche Erklärung läßt sich überhaupt nicht finden; die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 stellen eine Unrechtsgleichung auf, die - von der Konzeption her - nicht aufgehen kann. bb) § 253 Abs. 1 als "besonders unrechtsintensives" Nötigungsdelikt Man darf nach alledem ausschließen, daß die Heraushebung, die die Erpressung durch § 239a Abs. 1 erfahren hat, sachgerecht ist. Damit ist zugleich die Antwort auf die zweite der gestellten Fragen gegeben. Fehlt es nämlich an einem Unrechtsunterschied, so fehlt es auch an einem entsprechenden Überhang. Die Erpressung umschreibt weder einen "besonderen" noch einen "besonders unrechtsintensiven" Nötigungssachverhalt (vgl. nur die Strafrahmen des § 253 Abs. 1 auf der einen und der§§ 105 Abs. 1, 177 Abs. 1 auf der anderen Seite)62 .

c) Ergebnis; Folgerungen

Die vorangegangenen Untersuchungen haben ergeben, daß die Zielunterteilung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 in die Irre führt. Sie läßt sich nicht mit dem vom historischen Gesetzgeber favorisierten Kriterium der Wertwidrigkeit begründen und widerspricht auch abgesehen davon den zu beachtenden Vorgaben des Nötigungsstrafrechts. Auf diesen Befund gründet sich meine These, die ich wie folgt umschreiben will: Die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 verkörpern (in Wirklichkeit) ein einheitliches Delikt der Geiselnahme. Sie beruhen auf demselben Grundgedanken, der weder von der Wertwidrigkeit des vom Tater verfolgten Tatziels noch von dem vom Tater in Aussicht genommenen Nötigungsdelikt abhängt. § 239a Abs. 1 ist de lege ferenda zu streichen. De lege lata sind seine systemwidrigen AuswirRdn. 3, § 255 Rdn. 2; zur Abgrenzung der§§ 249 Abs. 1, 252 statt vieler Eser, in: Schönke/ Sehröder § 252 Rdn. 3 f.; Herdegen, in: LK § 252 Rdn. 6 ff.; Lackner I Kühl§ 252 Rdn. 3. 62 Vgl. auch Renzikowski, JZ 1994 S. 494, der das Mehrgewicht an Unrecht hervorhebt, das § 249 Abs. 1 gegenüber § 253 Abs. 1 aufweist.

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kungen auf ein gerade noch hinnehmbares Mindestmaß zu beschränken. Vorrangiges Ziel der Anwendung des geltenden Rechts ist die bestmögliche "Auflösung" der - aus der Identität der Rechtsfolgen resultierenden - "Unrechtsgleichung" der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. l. 2. Kritik an den einzelnen Schutzgutskonzeptionen

Auf der Grundlage der vorstehend entwickelten Einheitslösung sind die einzelnen Schutzgutskonzeptionen zu würdigen. a) Betroffenheit mehrerer Opfer? Besondere Perfidie der Erpressung I Nötigung eines unbeteiligten Dritten?

Absolut untauglich und mit Sicherheit unzulässig ist zunächst der Versuch, die geltenden §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 auf den in den§§ 239a Abs. 11971, 239b Abs. 11971 enthaltenen Sinneskern zurückzuführen. Reminiszenzen dieser Art haben in einer dem Gesetzeswortlaut (Art. 20 Abs. 3 GG) verpflichteten Strafrechtsdogmatik keinen Platz. Sie sind schon deshalb zu verwerfen63 . Die Annahme, Taten nach den§§ 239a Abs 1 1971, 239b Abs. 1 1971 verkörperten deshalb besonderes Unrecht, weil sie Güter mehrerer Rechtsgutsinhaber in Mitleidenschaft zögen, kann nicht überzeugen. Angriffshäufungen sind auch anderenorts durchaus nicht selten; und dennoch werden sie kaum jemals zum Anlaß einer entsprechenden materiellen Fundierung beziehungsweise Strafschärfung genommen (vgl. etwa Taten nach den §§ 253 Abs. 1, 255, 250 Abs. 1, 264 , die mit dem Vermögensinhaber, dem Bedrohten und dem inhaltlich von der Drohung Betroffenen drei unterschiedliche Opfer tangieren können). Der von Kunert verfochtenen These, die besondere Perfidie einer Tat nach den §§ 239a Abs. 1 1971, 239b Abs. 1 1971 liege in der Ausnutzung der Sorge eines unbeteiligten Dritten, ist zu widersprechen, und zwar aus zwei Gründen. Einerseits bedurfte es unter der ausschließlichen Herrschaft des Drei-Personen-Verhältnisses keineswegs der Ausnutzung der Sorge eines dem Opfer nahestehenden Dritten (etwa: der Eltern, Angehörigen oder Freunde); auch das Spekulieren auf eine normalerweise vorhandene allgemein mitmenschliche "Sorge" konnte den Tatbestand verwirklichen. Andererseits geht fehl, wer annimmt, Dritter im Sinne der §§ 239a 63 Wie hier im Ergebnis Graul, Unmöglicher ZustandS. 353; Renzikowski, JR 1998 S. 127; der Text erhellt überdies, daß und warum die Ansicht von Schmitt, Jura 1985 S. 269, § 239a Abs. 1 schütze "zumindest auch die Muntgewalt", nicht richtig sein kann; zutreffend insoweit Bohlinger; JZ 1972 S. 232; Hansen, GA 1974 S. 360. 64 Zurratio der§§ 253 Abs. 1, 255 u. S. 92 f. mit Fn. 138; zurratiodes § 250 Abs. 1, 2 u. s. 202 ff.

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2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1

Abs. 1 1971, 239b Abs. 1 1971 habe allein eine außerhalb des Herrschaftsverhältnisses stehende, insoweit "unbeteiligte" Person sein können. Derartige Einschränkungen waren weder grammatikalisch zwingend noch auch nur genetisch oder strukturell begründbar; es sei in diesem Zusammenhang an die Behandlung des verkappten Drei-Personen-Verhältnisses erinnert65 . b) Schwerpunktmäßiger Schutz des Vermögens?

aa) Generelle Einwände Unterstellt man- wie hier-, daß die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 ein einheitliDelikt der Geiselnahme umschreiben, so ist damit zugleich ein - vernichtendes - Urteil über all jene Rechtsansichten gefällt, die ausschließlich oder mitentscheidend auf den Gedanken des Vennögensschutzes verweisen66. Denn § 239b Abs. 1 stellt mit Sicherheit kein Vennögensdelikt dar; (zumindest) er muß auf einer anderen Überlegung als der des Vennögensschutzes beruhen. che.~

bb) Einwände gegen die Erpressungskonzeption von Maurach Den einzigen ernsthaften Versuch, eine Begründung für den Vorrang des Vermögensschutzes bei § 239a Abs. 1 zu liefern, unternahm, bezogen auf das bis 1971 geltende Recht, Maurach. Ihm zufolge hing die Antwort auf die Frage nach der materiellen Schwerpunktsetzung untrennbar mit der insoweit vorgelagerten Auslegung des Lösegelderfordernisses, mit dessen Anwendung beziehungsweise Nichtanwendung auf rechtmäßige Vennögensvorteile zusammen. Wer die zuerst genannte Auffassung (sei!.: Erstreckung der Nonn auf Tater, die mit Blick auf einen fälligen und einredefreien Anspruch handelten) vertrete, gelange zu dem Ergebnis, daß § 239a Abs. 1 1953 kein Vennögens- und damit insbesondere kein Erpressungsdelikt verkörpere. Anders müsse derjenige entscheiden, der in der betreffenden Hinsicht zur Zurückhaltung mahne (sei!.: die Nonn auf solche Täter beschränke, die in der Absicht gerade rechtswidriger Bereicherung handelten). Für ihn kennzeichne sich § 239a Abs. 1 1953 als ein "herausgehobener Fall der Hierzu o. S. 46 f. Wenn Eser demgegenüber meint, zwischen dem Vermögensdelikt des § 239a Abs. und dem Lebens- bzw. Leibesschutzdelikt des § 239b Abs. 1 unterscheiden zu dürfen (Eser, in: Schönke I Sehröder § 239b Rdn. 1; " ... tritt hier im Vergleich zu § 239a Abs. 1 an die Stelle der Vermögenskomponente die Leibes- oder Lebensgefährdung ... "; ähnliche Überlegungen bei Tröndle I Fischer § 239b Rdn. 1), so muß dem entgegengetreten werden. Derartige Unterscheidungen fußen auf falschen Prämissen (so an sich selbst Eser, in: Schönke I Sehröder § 239a Rdn. 1: " . .. leuchtet das Nebeneinander dieser Tatbestände nicht recht ein, zumal die Grenzen zwischen ihnen fließend sind . .. "). Sie führen daher in die Irre (mehr hierzu u. S. 136 f. sowie passim). 65

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Erpressung", und zwar als ein "Nur-Erpressungsdelikt, nicht etwa ein Auch-Erpressungsdelikt"67. Da Maurach selbst die engere, letztgenannte Argumentation favorisierte 68 , folgerte er konsequent und scheinbar unanfechtbar, daß § 239a Abs. 1 1953 ein "eigenständiges Delikt innerhalb der Erpressungsgruppe" umschreibe, das sich "materiell als Vorbereitungshandlung zu einer qualifizierten Erpressung" darstelle. Dem stehe nicht entgegen, daß § 239a Abs. 1 1953 den Angriff auf das Vermögen vom objektiven in den subjektiven Tatbestand vorverlege; Deliktsfundamente würden auch anderenorts auf Überlegungen gegriindet, die keinen -hinreichenden -Niederschlag in der Umschreibung des realen (objektiven) Geschehens gefunden hätten. Die Plazierung des § 239a Abs. 1 1953 inmitten der Freiheitsdelikte des 18. Abschnitts des Besonderen Teils beweise lediglich, daß die Freiheit der Person (hier: in Gestalt der körperlichen Bewegungsfreiheit des Kindes sowie der Munt des Erziehungsberechtigten) überhaupt zum Kreis der geschützten Rechtsgüter zähle. Das werde indessen gar nicht bestritten und stehe auch im Rahmen der§§ 253 Abs. 1, 255 seit jeher außer Frage. Klärungsbedürftig sei allein, welchem der genannten Rechtsgüter die dogmatische Führung innerhalb des § 239a Abs. 1 1953 zukomme. Insoweit erscheine es angemessen, die systematischen Vorgaben des Gesetzes zu vernachlässigen und, anknüpfend an Erkenntnisse zu den §§ 253 Abs. 1, 255, den Gedanken des Vermögensschutzes den Ausschlag geben zu lassen. Hierfür sprächen schließlich Wertungen des Betrugsstrafrechts (vgl. die "Ergänzung" des § 263 Abs. 1 durch das besonderes gefährliche "Vorfelddelikt" des § 265 Abs. 1 a. F.) sowie die außerordentlich hohen Strafdrohungen der (qualifizierten) Erpressungsdelikte: "Denn einerseits ist der einfache Kindesraub ... lediglich mit Gefängnis und nur bei qualifizierenden Handlungstendenzen des Täters . . . mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bedroht; andererseits geht die Skala der reinen Erpressungsdelikte ... , bei denen der Führungsanspruch des Vermögensangriffes heute wohl außer Streit steht, bis zu lebenslänglichem Zuchthaus"69. Diese Ausführungen können nicht unangefochten bleiben: ( 1) Der von Maurach gesetzten Prämisse ist sicherlich insoweit zuzustimmen, als sie - negativ - einen Zusammenhang zwischen der Tatbestandsmäßigkeit beabsichtigter rechtmäßiger Bereicherung und dem Fehlen eines erpressungsstrafrechtlichen Unrechtsschwerpunkts unterstellt. Dies mögen einige grundsätzliche Bemerkungen zur Struktur des Vermögensstrafrechts70 belegen. Die Vermögensdelikte des Besonderen Teils knüpfen durchweg71 an der Verschiebung beziehungsMaurach, JZ 1962 S. 559. Maurach, JZ 1962 S. 560 f.; a.A. die damals h. M., vgl. o. S. 32. 69 Maurach, JZ 1962 S. 561. 70 Zu den hier nicht interessierenden Grundsatzkontroversen, die sich um die Systematisierung des Vermögensstrafrechts insgesamt ranken, etwa Gössel, BT 2 § 1 Rdn. 1 ff., § 2 Rdn. 1 ff.; Otto, BT § 38 Rdn. 1 ff.; Samson, in: SK vor § 242 Rdn. I ff.; Schroeder, in: Maurach, BT § 31 Rdn. 1 ff. 67

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2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. I

weise schlichten Entziehung eines als schutzwürdig erachteten Vermögenswerts an. Sie umschreiben daher entweder Vermögensverschiebungs- (so etwa die §§ 242 Abs. l, 246 Abs. 1, 249 Abs. 1, 253 Abs. 1, 255,263 Abs. 1) oder schlichte Vermögensentziehungsdelikte (so etwa die §§ 266 Abs. 1, 303 Abs. 1)72. Wahrend der Täter des schlichten Vermögensentziehungsdelikts nun bereits deshalb bestraft wird, weil er die Vermögensposition eines anderen beeinträchtigt, setzt das Vermögensverschiebungsdelikt überdies eine Zuordnungsverletzung voraus; die Haftung des Täters beruht auf der Anmaßung einer Vermögensposition, die das Recht insgesamt einem anderen zuweist73 . Vor diesem Hintergrund ist es selbstverständlich, daß eine vermögensstrafrechtliche Interpretation auf den §§ 253 Abs. 1, 255 fußen und § 239a Abs. 1 damit als Vermögensverschiebungsdelikt erachtet werden muß. Die Erpressung wird ja vom Tatbestand explizit ins Auge gefaßt (ebenso bereits § 239a Abs. 1 1936). Das aber bedeutet: Wer § 239a Abs. 1 als Vermögensdelikt auffaßt und ihm dennoch das Handeln mit Blick auf einen fälligen und einredefreien Anspruch unterstellt 74 , argumentiert widersprüchlich. Dieser Befund kann nun aber schwerlich die weitergehende Folgerung von Maurach tragen, daß nämlich dann, wenn das Gesetz an die Verletzung rechtlicher Zuordnungen anknüpfe, stets ein Vermögensdelikt, und zwar ein Nur- Vermögensdelikt gegeben sei75 • Derartige Automatismen gingen schon deshalb fehl, weil sie die materielle Relevanz hinzutretender Unrechtsmerkmale generell und ausnahmslos leugnen und damit letztlich auf eine unakzeptable Überschätzung des strafrechtlichen Vermögensschutzes hinauslaufen. (2) Zustimmung verdient demgegenüber die Feststellung Maurachs, das materielle Deliktsfundament könne auch einem Merkmal des subjektiven Tatbestandes entlehnt werden 76• Denn- um es mit den Worten von Roxin zu sagen- die Lehre vom Rechtsgüterschutz verlangt "als Voraussetzung der Strafbarkeit nicht mehr, als daß eine Handlung ihrer objektiven oder subjektiven Tendenz nach auf die Verletzung eines Rechtsgutes gerichtet ist'm. Auch beim Versuchsdelikt ruht der 71 Vermögensdelikte, die an der Erhaltung (z. B. § 252, s. o. S. 71 f., 74 f.) oder Perpetuierung (z. B. § 259 Abs. 1, s. u. S. 259 f.) einer Vermögensentziehung anknüpfen, seien an dieser Stelle vernachlässigt. n Otto, BT § 38 Rdn. 12; Schroeder, in: Maurach, BT § 31 Rdn. 4. 73 Zur Rechtswidrigkeit der beabsichtigten Zueignung beim Vermögensverschiebungsdelikt Diebstahl(§ 242 Abs. 1) s. Eser. in: Schönke/Schröder § 242 Rdn. 59; Lackner/ Kühl § 242 Rdn. 27; Tröndle /Fischer§ 242 Rdn. 21; zur Rechtswidrigkeit der beabsichtigten Bereicherung beim Vermögensverschiebungsdelikt Betrug (§ 263 Abs. I) s. Cramer, in: Schönke/Schröder § 263 Rdn. 170 ff.; Lackner/Küh/ § 263 Rdn. 61; Tröndle/Fischer § 263 Rdn. 43; s. auch o. S. 68 mit Fn. 22. 74 So etwa Schönke/ Sehröder [15.] § 239a Rdn. 1, 5. 75 Ohne Begründung ebenso Than, Freiheitsdelikte S. 140. 76 Unverständlich daher Renzikowski, JZ 1994 S. 496; vgl. ferner Gössel, BT I § 22 Rdn. 2. 77 Roxin, AT I § 2 Rdn. 25.

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Schwerpunkt des strafrechtlichen Vorwurfs auf dem subjektiven Tatbestand; und dennoch dient das Versuchsverbot dem Schutz von Rechtsgütem78 . (3) Der Auffassung, die gesetzessystematische Positionierung des § 239a Abs. 1 inmitten der Freiheitsdelikte des 18. Abschnitts des Besonderen Teils sei ohne argumentativen Wert, will ich mich an anderer Stelle widmen79. Hier sei lediglich auf die systematische Unstimmigkeit der Maurachschen Erpressungskonzeption hingewiesen80. Diesem Hinweis steht nicht entgegen, daß § 239a Abs. 1 Wendungen wie "zu einer Erpressung (§ 253)" oder "zu einer solchen Erpressung" enthält; auch§ 316a Abs. 1 nimmt direkt auf das Raub- und Erpressungsrecht Bezug, ohne daß hieraus ein Vorrang des Vermögensschutzes folgte 81 • (4) Der Verweis auf die Wertungen des Betrugsstrafrechts hat sich- jedenfalls82 - nach der Neufassung des § 265 Abs. I a. F. durch das Sechste Strafrechtsreformgesetz von 1998 erledigt. (5) Unverständlich ist schließlich, daß Maurach zur Verteidigung seiner Thesen die Strenge des Strafrahmens des § 239a Abs. 1 bemüht. Denn hohe Mindeststrafen sprechen nicht für, sondern (wie ich meine: eindeutig) gegen den Vorrang materieller Rechtsgüter83 . Wer meint, die "reinen Erpressungsdelikte" der §§ 250, 251 als Delikte bezeichnen zu dürfen, bei denen "der Führungsanspruch des Vermögens ... wohl außer Streit" stehe, dem sei entgegnet: Ratio der§§ 250, 251 ist nach zutreffender Ansicht zunächst der Schutz von Leben und Leib; das Vermögen tritt lediglich (gleichrangig) hinzu84 • Der einzige Straftatbestand, dessen Rechtsfotgeanordnung die Argumentation von Maurach stützen könnte, ist § 316a Abs. 185 . Auch diese Vorschrift umschreibt jedoch kein Vermögensdelikt Es handelt sich vielmehr um ein Delikt zum Schutz des Straßenverkehrs 86, und zwar um ein solWeiterführend Berz, Rechtsgüterschutz S. 39 ff. u. s. 90 ff. 80 Zu ihr auch u. S. 93. 81 Mehr hierzu sogleich. 82 Die Frage nach der materiellen Fundierung des § 265 a. F. war ohnehin sehr kontrovers bzw. wurde nicht (mehrheitlich) i. S. e. Vorranges des Vermögensschutzes beantwortet, statt vieler Tiedemann, in: LK § 265 Rdn. 6 ff.; Lenckner, in: Schönke/Schröder § 265 Rdn. 2. 83 Ebenso die u. S. 100 in Fn. 178 Genannten; allgemein zum argumentativen Wert von Strafdrohungen BVerfGE 25, 269, 286; BGHSt 25, 261, 262; Eser, in: Schönke/ Sehröder § 1 Rdn. 49; Jescheck/Weigend, AT§ 17 IV, 3. 84 Weiterführend u. S. 202 ff. 85 Zu den Parallelen, die die§§ 239a Abs. 1, 316a Abs. 1 in genetischer Hinsicht aufweisen, s. vor allem Meurer-Meichsner, Gelegenheitsgesetz S. 21 ff., 131 ff. sowie passim; zur Entstehung des § 316a Abs. 1 im Überblick etwa Große, NStZ 1993 S. 525 f. 86 So die h. M., z. B. BGHSt 5, 280, 281; 13, 27, 29 f.; 22, 114, 116 f.; 39, 249. 250 f.; BGH bei Holtz, MDR 1991, 104, 105; Gössel, BT 2 § 15 Rdn. 27 f.; wohl auch Schiife r, in: LK § 316a Rdn. 3; für einen vorrangigen Vermögensschutz Cramer, in: Schönke I Sehröder § 316a Rdn. 1; Herzog, in: NK § 316a Rdn. 3 ff.; Krey, BT 2 Rdn. 224; Meurer-Meichsner, Gelegenheitsgesetz S. 96 ff.; Otto, BT § 46 Rdn. 69; Schroeder, in: Maurach, BT § 35 78

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2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1

ches, das kriminalpolitisch fragwürdig und in seiner tatbestandliehen wie strafzumessungsrechtlichen Ausgestaltung verfehlt ist. So haftet derjenige, der einen an roter Ampel haltenden Mopedfahrer in räuberischer Absicht angreift, nach § 316a Abs. 187 ; er hat damit eine fünfmal höhere Mindeststrafe zu gewärtigen als derjenige, dessen Angriff einem hinter dem Mopedfahrer wartenden Radfahrer gilt. Schon dieser Befund sollte Grund sein, auf eine auf§ 316a Abs. 1 gestützte Argumentation zu verzichten. cc) Ergebnis Es geht nicht an, § 239a Abs. l als ein Delikt zu interpretieren, das vorrangig fremdes Vermögen schützt. c) Schwerpunktmäßiger Schutz der Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit des zu Nötigenden ?

aa) Grammatikalische Erwägungen Der Annahme, die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 dienten in erster Linie dem Schutz der Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit des zu Nötigenden, scheint entgegenzustehen, daß das Gesetz allein den Adressaten des Herrschaftsverhältnisses als "Opfer" bezeichnet, während es im übrigen farblos von dem zu nötigenden "Dritten" spricht. Derartige sprachliche Einordnungen sollten jedoch nicht überbewertet werden. Die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 sind auch sonst schlecht redigiert88 . Verbleibenden Bedenken sei ein vergleichender Blick auf die herrschende Meinung zur falschen Verdächtigung (§ 164 Abs. 1, 2) entgegengesetzt. Aus § 165 Abs. 1, einer Vorschrift, die den zu Unrecht Verdächtigten als "Verletzten" (bedeutet, jedenfalls auch: Rechtsgutsinhaber, Opfer)89 bezeichnet, wird zwar allenthalben der Schluß gezogen, daß § 164 Abs. 1, 2 eine individuelle Schutzrichtung zukommt90 . Beschränkungen in dieser Richtung lehnt man aber weithin ab; § 164 Abs. 1, 2 dient auch dem Schutz der innerstaatlichen RechtsRdn. 45 f., 63; für ein gleichrangiges Nebeneinander von Vermögensschutz und Schutz des Straßenverkehrs LackneriKühl § 316a Rdn. I ; Hom, in: SK § 316a Rdn. 2; Rengier, BT I § 12 Rdn. I. 87 Vgl. BGHSt 38, 196, 197 ff.; 39,249,249 ff. 88 Schroeder, in: Maurach, BT § 15 Rdn. 19. 89 Vgl. für § 165 Abs. 1 BGHSt 5, 66, 69; Lackner I Kühl § 165 Rdn. 2; Lenckner, in: SchönkeiSchröder § 165 Rdn. 5; Ruß, in: LK § 165 Rdn. 4; für§ 77 Abs. 1 RGSt 41 , 103, 104; BGHSt 31,207, 210; Jähnke, in: LK § 77 Rdn. 23; LackneriKühl § 77 Rdn. 6; Stree, in: Schönke I Sehröder § 77 Rdn. 10. 90 BGHSt 5, 66, 68; Lenckner, in: SchönkeiSchröder § 164 Rdn. 2; Ruß, in: LK § 164 Rdn. 3; ferner Schroeder, in: Maurach, BT § 99 Rdn. 5; kritisch Rudolphi, in: SK § 164 Rdn. 1.

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pflege vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme und Irreführung (Theorie von der Alternativität der Schutzzwecke)91 . Die Heraushebung des zu Unrecht Verdächtigten durch § 165 Abs. 1 wirkt sich demnach nicht negativ, sondern allein positiv aus. Sie festigt die Stellung des betroffenen Individuums, ohne Aussagen darüber zu treffen, ob und inwieweit die angegangene Institution geschützt wird. Übertragen auf die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1: Sicher ist allein, daß dem Adressaten des Herrschaftsverhältnisses vorrangig Schutz gebührt. Die Stellung des "Dritten" ist nach wie vor offen. Der Rekurs auf die Willensfreiheit des zu Nötigenden macht aus grammatikalischer Sicht insoweit Sinn, als tatbestandlieh umschriebenes Handlungsziel der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 eine Nötigung ist. DerTaterhandelt in der Absicht/ mit dem Vorsatz, einem anderen ein bestimmtes Verhalten abzuringen, und könnte deshalb erhöhte Strafe verdienen, weil er zu diesem Zweck tatsächliche Herrschaft über ein hilfloses Opfer begründet und I oder erhält. Renzikowski bemüht sich um einen subsumtionsflihigen Obersatz, indem er postuliert: Die "Willensfreiheit des Genötigten wird in erhöhtem Maße beeinträchtigt, wenn der Tater seine Drohung jederzeit wahrmachen kann" 92. Die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 verlangen aber weder eine vollendete Nötigung noch die Beeinträchtigung im Sinne einer Verletzung oder konkreten Geflihrdung93 von Freiheit. Sie sind, was den Nötigungssachverhalt angeht, durchweg subjektiv-lastig ausgestaltet und können daher bestenfalls als Delikte zum Schutz vor abstrakten Freiheitsgefährdungen erachtet werden. Die korrekte Fragestellung lautet daher: Wird die Willensfreiheit der zu nötigenden Person einer erhöhten abstrakten Gefahr ausgesetzt, wenn der Tater darauf aus ist, mittels jederzeit realisierbarer Drohungen zu nötigen? Die Antwort auf diese Frage darf nicht an einer Drohung anknüpfen, deren jederzeitige Realisierung objektiv möglich ist94. Denn wesentliches Kennzeichen des Nötigungsdelikts ist seine Adressatenbezogenheit; nicht die objektive Gefährlichkeit der Situation motiviert, sondern deren subjektive Einschätzung durch den zu Nötigenden. Oder genauer, bezogen auf die hier interessierende Nötigung mittels Drohung: Es spielt keine Rolle, ob der Tater ein Übel ankündigt, das er gege91 Ganz h. M., etwa BGHSt 5, 66, 68; 14, 240, 244; Arzt/Weber, BT 5 Rdn. 388 f.; Blei, BT § 108 I, 1; Krey, BT 1 Rdn. 589 f.; Lackner/ Kühl§ 164 Rdn. 1; Lenckner; in: Schönke/ Sehröder § 164 Rdn. 1 f.; Rengier; BT 2 §50 Rdn. 1; Ruß, in: LK § 164 Rdn. 1 ff.; Schröder; NJW 1965 S. 1888 ff.; Trönd1e/ Fischer§ 164 Rdn. 2; für einen Vorrang des Schutzes der Rechtspflege Otto, BT § 95 Rdn. 1; Rudolphi, in: SK § 164 Rdn. 1; vgl. auch Schroeder; in: Maurach, BT § 99 Rdn. 5; für einen Vorrang des Schutzes des zu Unrecht Verdächtigten Vonnbaum, in: NK § 164 Rdn. 9 f. 92 Renzikowski, JZ 1994 S. 496; zur besonderen Verwerflichkeit der jederzeit realisierbaren Drohung s. auch BGHR § 239a Abs. 1 Erpressung 1 S. 1; § 239b Entführen 4 S. 1; BGH, NStE § 239b Nr. 4 S. 2; BGH, NStZ-RR 1997, 100, 100; BGH, StV 1997, 302, 302 f.; vgl. schließlich BGHSt 26, 70, 73; BGH bei Holtz, MDR 1978, 987, 987; BGH, StV 1987, 483, 483. 93 Zur Einordnung u. S. 113, 114. 94 Renzikowski, StV 1999 S. 647.

2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. I

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benenfalls realisieren will oder auch nur realisieren kann. Den Ausschlag gibt vielmehr der Anschein der Emstlichkeit, der allein dort unterstellt werden darf, wo der verständige Erklärungsadressat die Realisierung nach den Umständen tatsächlich für möglich hält. Eine Übelsankündigung, die nicht dazu geeignet ist, den Anschein der Emstlichkeit zu erwecken, stellt folgerichtig keine Drohung dar, mag der Ankündigende auch dazu in der Lage oder gar willens sein, seine Ankündigung wahrzumachen 95 . Entsprechend adressatenbezogen sind die Nötigungskomponenten §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I konzipiert96. Daß es falsch wäre, die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 an einer Drohung auszurichten, deren jederzeitige Realisierung objektiv möglich ist, läßt sich eindrucksvoll anhand des Falles der Scheinbewaffnung belegen. Man denke an einen Täter, der - gemessen an seinen eher bescheidenen Körperkräften- unmöglich dazu in der Lage wäre, dem physisch überlegenen Opfer im Falle eines Kampfes Paroli zu bieten. Bedient sich dieser Tater einer nicht geladenen Schußwaffe, so wird man keinesfalls sagen können, er beabsichtige eine Drohung, die die akute Gefahr der Realisierung in sich berge. Dessen ungeachtet ist anzunehmen, daß ein Rekurs auf die §§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1 auch hier in Betracht kommt97 • Die Begründung dieses Ergebnisses liefert der impressionalistische Charakter der Drohung im allgemeinen und der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 im besonderen98 . Aus der Feststellung, die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 seien adressatenbezogen auszulegen, folgt nun freilich keineswegs, daß es statthaft wäre, die Perspektive des potentiellen Nötigungsadressaten den Ausschlag geben zu lassen. Denn der vorstehend umschriebene Grundsatz der Adressatenbezogenheit gilt, was die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 angeht, nicht ausnahmslos. Dies mögen zwei Fallbeispiele verdeutlichen. Einerseits: Der "Trittbrettfahrer", der darauf aus ist, dem zu nötigenden Dritten die Tötung oder körperliche Verletzung einer Person anzudrohen, deren tatsächliche Beherrschung er lediglich vorgibt, verwirklicht zwar erhöhtes Nötigungsunrecht. Den §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 unterfallt er jedoch unstreitig nicht99 . Und andererseits: Wer einen erpresserischen Menschenraub/eine Geiselnahme lediglich vortäuscht, beschwört zwar besondere Gefahren für die Willensfreiheit des zu Nötigenden herauf. Die Anwendung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 wird dennoch nirgends ernsthaft erwogen 100• Es leuchtet ein, daß weder dieses noch jenes Strafbarkeitsergebnis auf der Grundlage einer am Nötigungsunrecht ausgerichteten Konzeption erklärt werden könnte. Umschrieben die §§ 239a Abs. I, 239b Abs. I tatsächlich Delikte, deren vorrangiges Anliegen der Schutz der Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit ist, so müßten sie jeMehr zum nötigungsstrafrechtlichen Drohungsbegriff u. S. 293 f. U. S. 293 f. 97 So zu Recht die ganz h. M., u. S. 251 ff., 293. 98 Zu weiteren Argumenten u. S. 106, 252 ff. 99 u. s. 268, 320. 100 u. s. 269 f. 95

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den Tater erfassen, der einen anderen unter Verweis auf ein bestehendes Herrschaftsverhältnis zu nötigen sucht. bb) Historische Erwägungen Zu prüfen ist, ob entstehungsgeschichtliche Argumente für die Deutung der §§ 239a Abs. I, 239b Abs. I als Nötigungsdelikte ins Feld geführt werden können. Da sich die amtliche Begründung des § 239a Abs. I 1936 zum Rechtsgut nicht äußert, können allenfalls Vermutungen darüber angestellt werden, welche Verbotsvorstellungen den historischen Gesetzgeber seinerzeit leiteten. Hilfestellung leistet die quasi-amtliche Kommentierung der Vorschrift durch Ficker. Ihr zufolge scheint die Annahme, man habe auch - entscheidend - an eine Verbesserung des Schutzes vor Nötigung gedacht, durchaus vertretbar. Im Vordergrund stand zwar die Überlegung, daß der Tater "die Verfügungsbefugnis der für das Kind ... verantwortlichen Personen über das Kind" sowie "das menschliche Verhältnis dieser Personen zu dem Kinde" beeinträchtige und daher erhöhte Strafe verdiene 101 • Mit dieser Feststellung ließ man es indessen nicht bewenden. Ficker jedenfalls spricht weiterhin von einer "besonders (verabscheuungswürdigen) Verbrechensform, die eines der edelsten menschlichen Gefühle, die Elternliebe, zur Grundlage von Erpressungsmanövern" mache 102 • Der erpresserische Kindesraub umschrieb demnach nicht bloß ein Delikt zum Schutz des (insbesondere: elterlichen) Sorgerechts. Er pönalisierte vielmehr eine Art qualifizierte Erpressung. Das aber lief auf Nötigung hinaus. Denn Erpressung war - so die vorherrschende Ansicht des Jahres 1936 - zumindest auch Verletzung fremder Willensfreiheit 103 . Auch die Verfasser des § 239a Abs. I E 1952 hoben die Bedeutung der Freiheit zur Willensbildung und Willensbetätigung hervor. Der Aspekt der Sorgerechtsverletzung wurde demgegenüber in den Hintergrund gerückt. Von entscheidender Bedeutung für die Strafwürdigkeit der Tat sei, daß der Täter nicht nur das Kind dem Erziehungsberechtigten entziehe, sondern daß er das in einer Weise tue, die bei diesem oder einem Angehörigen die Sorge erwecke, das Wohl des Kindes könne Schaden nehmen. Man setzte also auf die außerordentliche motivatorische Relevanz persönlicher Gefühle, hob entscheidend auf eine "psychische Zwangslage" ab, die der Tater "erpresserisch mißbrauchen" wolle 104 . Ficker, in: Pfundtner I Neubert, Neues Reichsrecht II c 6 S. 100. Ficker, in: Pfundtner/Neubert, Neues Reichsrecht II c 6 S. 99. 103 Für ein gleichwertiges Nebeneinander von Freiheits- und Vermögensschutz etwa Frank [18.] § 253 Anm. I; Gutjahr, in: Olshausen [11.] § 253 Anm. 2; Hälschner, BT I S. 381; Kohlrausch [32.] vor§ 73 Anm. li, B, 1b, § 253 Anm. I; Lobe, in: LK [3.] § 253 Anm. I; Schwarz [4.] § 253 Anm. I; wohl auch Binding, BT I [2.] S. 374; nicht ganz klar v. Liszt/ Eb. Schmidt, Strafrecht [25.) S. 680 f., 678; für einen Vorrang des Freiheitsschutzes lohn, ZStW I (I88l) S. 240; J. Stern, Nötigung und ErpressungS. 93, 113 ff. 104 BT-Drucks. 113713 S. 40. 101

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Im Zuge der Erörterungen der Strafrechtsreform verschoben sich die Gewichte. Der erpresserische Kindesraub behielt zwar seinen systematischen Standort inmitten der Delikte zum Schutz der Freiheit der Person 105 • Insoweit dachte man aber weniger an die Willensfreiheit des zu Erpressenden als an die Fortbewegungsfreiheit des geraubten Kindes. Die Sachbearbeiter hätten die Vorschrift unter die Freiheitsdelikte eingereiht, weil der Menschenraub das regelmäßige Begehungsmittel sei 106. Der Entwurf 1962 bestätigte diese Einordnung 107 , während der Alternativentwurf 1970 eher in Richtung einer Kombinationsbegründung weist. Es ist die Rede von einem Tatbestand, der "eine wegen ihrer besonderen Gefährlichkeit und der erpresserischen Absicht des Täters qualifizierte Freiheitsberaubung" vertype, deren "besondere Verwerflichkeit ... entscheidend auf der altersbedingten Hilflosigkeit des Opfers" beruhe. Gerade diese Hilflosigkeit sei es, die ,jene verzweifelte Lage der Angehörigen" herbeiführe, "die neben der großen Gefährdung des Kindes den besonderen Unwert des Kidnapping" begründe 108 • Der Alternativentwurf 1970 stellte somit - ausgehend von dem Unrecht der Freiheitsberaubung 109 - den Schutzaspekt heraus, der bereits die Verfasser des § 239a Abs. I E 1952 leitete. Neben diesen Schutzaspekt ließ er verstärkt die Rechtsgüter Leben und Leib treten, die er in den Fällen des Kidnapping, einem "Delikt der Schwerkriminalität" 110, als prinzipiell gefährdet ansah. Heilloser Streit um das Rechtsgut brach spätestens bei der Beratung der §§ 239a Abs. 11971, 239b Abs. 1 1971 aus. So herrschte im Sonderausschuß zwar Einigkeit dahingehend, daß der Aspekt der Sorgerechtsverletzung angesichts der Ausweitung des Kreises potentieller Tatopfer fortan nicht mehr tragfähig war. Davon abgesehen blieb jedoch vieles unklar 111 . Tatsächlich erscheint es möglich, nahezu jede denkbare Schwerpunktbegründung mit einem entstehungsgeschichtlichen Befund zu belegen 112. Das gilt zunächst für die hier in erster Linie interessierende !05 Hierzu vor allem Schwalm, in: Niederschr. 6 S. 249 f. (" .. . man von dem Grundsatz ausgeht, daß hier die Tatbestände zusammengestellt werden sollen, bei denen das Rechtsgut der persönlichen Freiheit im Vordergrund steht."), 251 (". .. die Freiheit als das wichtigste der geschützten Rechtsgüter" gegenüber dem Sorgerecht des Erziehungsberechtigten und dem Vermögen "praktisch im Vordergrund steht."); kritisch We[zel, in: Niederschr. 6 S. 272, der die Schwere der Strafdrohung hervorhob und hierauf gründend die Gefährdung der "körperlichen und seelischen Verfassung" des Kindes in den Vordergrund gerückt wissen wollte; hiergegen wiederum Baldus, in: Niederschr. 6 S. 272; Jescheck, in: Niederschr. 6 S. 272. t06 Schwalm, in: Niederschr. 6 S. 251. !07 Vgl. Begründung E 1962 S. 39 f. , 301 , 302, 303 f. lOS Begründung AE 1970 S. 71. 109 Begründung AE 1970 S. 63. 1!0 Begründung AE 1970 S. 71. 111 Bezeichnend Schlee, in: Prot. 6/49 S. 1555, der bemerkte, daß man "eigentlich nicht recht wisse, welches das geschützte Rechtsgut sei". 112 "Vielsagend" BT-Drucks. 6/2722 S. 3 ("Schutz von Freiheit, Leben und Gesundheit des einzelnen"), 2 ("... Zielrichtung ... des Menschenraubs, der auf unrechtmäßige Bereicherung ausgerichtet ist und in dieser Absicht einen weiteren kriminellen Schwerpunkt hat.").

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Deutung der §§ 239a Abs. I I97I, 239b Abs. I I97I als Delikte zum Schutz der Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit des zu Nötigenden 113 • Weiterhin finden sich Äußerungen, in denen die Fortbewegungsfreiheit des Opfers in den Vordergrund gerückt wird 114• Speziell zu § 239a Abs. I I971 wurde die Ansicht vertreten, es handle sich um ein besonderes Erpressungsdelikt, welches ebenso wie die Erpressungsdelikte des 20. Abschnitts des Besonderen Teils einen kriminellen Schwerpunkt in der Absicht auf unrechtmäßige Bereicherung habe 115 ; derartige Erwägungen blieben freilich nicht unangefochten 116 • Regierungsvertreter Wulf erkannte zwar an, daß Taten nach den §§ 239a Abs. I 1971, 239b Abs. 1 1971 sowohl die Fortbewegungsfreiheit des Opfers als auch die Willensfreiheit des zu Nötigenden tangierten 117 • "Sehr weit im Vordergrund" stehe aber "der Schutz des Opfers vor Lebensgefährdung" 118 • Daran könne auch ihre gesetzessystematische Einordnung inmitten der Freiheitsdelikte des 18. Abschnitts des Besonderen Teils nichts ändem 119 • Ähnlich äußerte sich der Abgeordnete Freiherr Ostman von der Leye. Er hob hervor, daß die erstrebte Strafdrohung als hoch zu bezeichnen und daher nur zu rechtfertigen sei, wenn man sie auf die Gefährdung der Person zurückführe120. Auch hier wird offensichtlich der Vorrang des Schutzes des Lebens und Leibes des Opfers betont. Angesichts derartiger Unklarheiten dürfte es kaum verwundern, daß auch die Schöpfer des Artikelgesetzes von 1989 auf eine Beantwortung der Rechtsgutsfrage 113 Schlee, in: Prot. 6149 S. 1552; de With, in: Prot. 6149 S. 1557; ferner Bauer; in: Prot. 6149 S. 1548, 1565; Klug, in: Prot. 6149 S. 1548. 114 Vor allem Diemer-Nicolaus, in: Prot. 6149 S. 1553, 1557; ferner Bauer, in: Prot. 61 49 S. 1548, 1565; Klug, in: Prot. 6149 S. 1548; Schlee, in: Prot. 6149 S. 1552; schließlich de With, in: Prot. 6 I 49 S. 1552, der die Vorrangstellung sowohl der Freiheit als auch der körperlichen Integrität des Opfers unterstrich. 115 Schlee, in: Prot. 6149 S. 1552, 1560; ders., in: Prot. 6151 S. 1579.- In diesem Zusammenhang ist auch auf die Diskussion um die Rücktrittsvorschrift des§ 239a Abs. 3 1971 hinzuweisen. Es gab nämlich Stimmen, denen zufolge deren Ausfüllung auf das materielle Fundament der§§ 239a Abs. 1 1971, 239b Abs. 1 1971 zurückwirkte; wer einen Rücktritt allein dort befürworte, wo der Tater auf die erstrebte Leistung verzichte, argumentiere materialistisch, könne die persönliche Freiheit, das Leben sowie die körperliche Integrität also nicht betonen (Schlee, in: Prot. 6149 S. 1555; Klug, in: Prot. 6149 S. 1561). Die h. M. widersprach dem (Freiherr Ostman von der Leye, in: Prot. 6149 S. 1555; Wulf, in: Prot. 6149 S. 1556), und zwar zu Recht (zur ratioder Leistungsverzichtsklausel o. S. 43 f.). 116 Freiherr Ostman von der Leye, in: Prot. 6149 S. 1555; nach Wulf, in: Prot. 6149 S. 1560 beruhte die Zielunterteilung der§§ 239a Abs. 1 1971, 239b Abs. 1 1971 nicht darauf, daß "Geld als ein besonders hohes Gut" angesehen werde. 111 Wulf, in: Prot. 6149 S. 1551. 118 Wulf, in: Prot. 6149 S. 1556, 1550, 1551, 1552, 1554, 1555; ders., in: Prot. 61 50S. 1573; vgl. ferner Diemer-Nicolaus, in: Prot. 6149 S. 1556; zu de With, in: Prot. 61 49 S. 1552 bereits o. auf dieser S. in Fn. 114. 119 Zum "Wert" des systematischen Arguments vor allem Wulf, in: Prot. 6149 S. 1552 ("kein allzu großes Gewicht"), 1556 (kein "Grund"). 120 Freiherr Ostman von der Leye, in: Prot. 6 I 49 S. 1555.

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verzichteten. Auseinandersetzungen mit dem Wesen der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 fehlen hier vollends. Wie gering die Bereitschaft des historischen Gesetzgebers war, den§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 ein praktisch verwertbares, über floskelhafte Wendungen hinausreichendes materielles Fundament zu legen, beweist etwa die folgende Äußerung, gemacht mit Blick auf die Ausweitung des § 239b Abs. 1 1971 auf Fälle mit Iediglichern Zwei-Personen-Bezug: Es "werden häufig die persönliche Freiheit und Unversehrtheil des Opfers in besonders hohem Maße gefährdet und der vom Täter ausgeübte Nötigungsdruck besonders stark sein. Durch die Vorschriften des geltenden Rechts (etwa§§ 105, 106, 239) wird der Unrechtsgehalt eines derartigen Verhaltens nicht voll erlaßt ... "I21. Aussagen dieser Art sind nichtssagend und ungenau; Versuch und Vollendung der Nötigung interessieren im Rahmen des § 239b Abs. I Hs. 1 ja nicht 122. Dennoch repräsentieren sie den Standpunkt des historischen Gesetzgebers. Ich fasse zusammen: Es scheint kaum möglich, die Annahme, die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 dienten ihrem Schwerpunkt nach dem Schutz der Willensfreiheit des zu Nötigenden, entstehungsgeschichtlich zu fundieren. Vereinzelten Äußerungen, die in diese Richtung weisen, stehen diametrale, neutralisierende Äußerungen gegenüber. Der historische Gesetzgeber war sich offenbar nicht darüber im klaren, was für eine Art Regelung er überhaupt schuf. Der Genese fehlt damit vorliegend jeglicher argumentativer Wert. cc) Systematische Erwägungen Es fragt sich schließlich, ob strukturelle Überlegungen weiterhelfen. Gemeinhin wird gelehrt, daß die Straftatbestände des 18. Abschnitts des Besonderen Teils dem Schutz der Freiheit der Person dienten 123 . So darf sich Heltinger auf der Seite der herrschenden Meinung wähnen, wenn er konstatiert 124 : "Die im 18. Abschnitt enthaltene Gruppe von Freiheitsdelikten faßt diejenigen Tatbestände zusammen, bei denen die Freiheit der Person allein oder vorrangig geschützt wird. Richtungsweisend für ihre systematische Einordnung durch den Gesetzgeber war der Umstand, daß der Angriff auf die persönliche Freiheit des Opfers bei ihnen den eigentlichen Kern der Rechtsgutsverletzung und nicht nur eine Begleiterscheinung der Tat bildet."

Auf dieser Grundlage (vgl. ferner die §§ 126 Abs. 1 Nr. 4, 129a Abs. 1 Nr. 2, 138 Abs. 1 Nr. 7) scheint es zwar vertretbar, die Willensfreiheit des zu Nötigenden BT-Drucks. 11/2834 S. 9. u. s. 290 f., 321. 123 Zum "System" der Freiheitsdelikte etwa Eser. in: Schönke I Sehröder vor § 234 Rdn. 1; Gössel, BT 1 § 18 Rdn. lO ff.; Otto, BT § 26 Rdn. 2 ff.; Schroeder, in: Maurach, BT § 12 Rdn. 1 ff., 9 ff. 124 Wesseist Hettinger, BT 1 Rdn. 365. 121

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den Ausschlag geben zu lassen. Der Gedanke des Primats des Freiheitsschutzes läßt sich jedoch in dieser Allgemeinheit nicht halten. Er beherrscht lediglich die §§ 239 Abs. 1125 , 240 Abs. 1, 2 126 ; die§§ 234, 234a Abs. 1, 3, 235 Abs. 1, 2, 236 Abs. 1, 2, 241 Abs. 1, 2, 241a Abs. 1, 2 fußen auf anderen Überlegungen. So wurde bereits zu § 235 Abs. 1 a. F. mehrheitlich die Ansicht vertreten, daß vorrangiges Schutzobjekt die Personensorge des Erziehungsberechtigten sei. Der Minderjährige selbst genieße allenfalls mittelbar Schutz, und auch insofern weniger im Hinblick auf seine Freiheit als vielmehr im Hinblick auf sein Recht auf ungehinderte Erziehung 127 • Ähnlich dürfte§ 235 Abs. 1, 2 zu fundieren sein, mag auch die Stellung des Minderjährigen an Bedeutung zugenommen haben (vgl. insbesondere § 235 Abs. 4 Nr. 1, der den Minderjährigen als "Opfer" umschreibt) 128 . § 236 Abs. 1 rückt die ungestörte körperliche und seelische Entwicklung des Kindes in den Vordergrund 129. § 236 Abs. 2 sichert die Vermittlungsverbote des § 5 Abs. 1, 4 S. 1 AdVerrniG ab 130• Die§§ 234a Abs. 1, 3, 241a Abs. I, 2 schützen neben der Freiheit insbesondere das Leben, den Leib sowie die berufliche und wirtschaftliche Stellung des Opfers 131 . § 234 Abs. 1 wird zwar regelmäßig unterstellt, daß er ebenso wie § 239 Abs. 1 dem Schutz der Fortbewegungsfreiheit des Geraubten diene 132• Das ist jedoch unzutreffend 133 . § 241 Abs. 1, 2 schließlich hat in erster Mehr hierzu u. S. 96 f. Hierzu u. S. 92 mit Fn. 138. 127 Vgl. BGHSt 1, 364, 364; 39,239, 242; Arzt/Weber; BT 1 Rdn. 526 f.; Blei, BT § 20 111; Eser; in: Schönke I Sehröder § 235 Rdn. 1; Gössel, BT 1 § 18 Rdn. 14; Schroeder; in: Maurach, BT § 12 Rdn. 4; Vogler; in: LK [10.] § 235 Rdn. 1. 128 Horn, in: SK § 235 Rdn. 2; Otto, BT § 65 Rdn. 34; Kreß, NJW 1998 S. 641; Maiwald, in: Maurach, BT § 63 Rdn. 58; H. Schumacher; in: Schlüchter, Reform S. 52; Stäche/in, StV 1998 S. 99; die Stärkung des Rechts der entzogenen Person auf ihre ungestörte körperliche und seelische Entwicklung betonen Gribbohm, in: LK § 235 Rdn. 1; Laclmer I Kühl § 235 Rdn. l; Nelles, in: Dencker, Reform S. 62; Rengier; BT 2 § 26 Rdn. 1; Wessels I Hettinger; BT I Rdn. 438; Trändie I Fischer § 235 Rdn. 2. 129 Gribbohm, in: LK § 236 Rdn. 4; Horn, in: SK § 236 Rdn. 2; Kreß, NJW 1998 S. 642; Lackner I Kühl § 236 Rdn. I; Maiwald, in: Maurach, BT § 63 Rdn. 58; Otto, BT § 65 Rdn. 43; Trändie/Fiseher § 236 Rdn. 2; Wessels/Hettinger; BT 1 Rdn. 445; zumindest ungenau Stäche/in, StV 1998 S. 99. 130 Horn, in: SK § 236 Rdn. 2; Lackner I Kühl § 236 Rdn. 1; Otto, BT § 65 Rdn. 43; Kreß, NJW 1998 S. 642; Trändie/Fiseher § 236 Rdn. 2; Wessels /Hettinger; BT 1 Rdn. 445; nach Gribbohm, in: LK § 236 Rdn. 4 wird dagegen lediglich das Schutzgut des § 236 Abs. I auf das Vorfeld erstreckt; ebenso Maiwald, in: Maurach, BT § 63 Rdn. 58. 131 Für§ 234a Abs. 1, 3 Eser; in: Schönke/Schröder § 234a Rdn. I; Horn, in: SK § 234a Rdn. 2; Lackner I Kühl § 234a Rdn. I ; Trändie I Fischer § 234a Rdn. I; Wessels I Hettinger; BT 1 Rdn. 369; Gribbohm, in: LK § 234a Rdn. l rückt demgegenüber den Angriff auf die persönliche Freiheit in den Vordergrund; nahestehend Schroeder; in: Maurach, BT § 12 Rdn. 3, 9, §50 Rdn. 17, § 88 Rdn. 6; vgl. ferner BGHSt 14, 104, 107; wieder a. Blei§ 22 I; Otto, BT § 37 Rdn. I; vgl. schließlich Gössel, BT 1 § 18 Rdn. 14; für§ 24la Abs. l, 2 Eser; in: Schönke/Schröder § 24l a Rdn. l; Horn, in: SK § 24la Rdn. 2; Lackner/Kühl § 241a Rdn. l ; Trändie/Fiseher § 24la Rdn. l , 6, § 234a Rdn. l, 9; Vogler; in: LK [10.] § 24la Rdn. l ; Wessels I Hettinger; BT l Rdn. 369; den Angriff auf die Freiheit betont Schroeder; in: 125

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2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. I , 239b Abs. I

Linie das persönliche Sicherheitsgefühl und den persönlichen Rechtsfrieden im Auge. Die Willensfreiheit selbst in Gestalt der allgemeinen Handlungsfreiheit wird lediglich als Konsequenz dieser beiden Grundwerte miterfaßt 134• Nach alledem ist es keine Übertreibung, wenn gesagt wird, der 18. Abschnitt des Besonderen Teils stelle "ein Zufallsprodukt der Gesetzgebungsgeschichte'" 35 dar, das "ein buntes Sammelsurium recht verschiedener Delikte" 136 enthalte. Damit darf ausgeschlossen werden, daß das gesetzessystematische Argument entscheidend weiterführt137 . Wie wenig aussagekräftig die Plazierung der §§ 239a Abs. l, 239b Abs. l inmitten der "Freiheitsdelikte" gerade aus der Sicht jener ist, die den Nötigungsaspekt der Tat in den Vordergrund riicken, belegt im übrigen die systematische Konzeption des Nötigungsstrafrechts selbst. Die einzelnen Nötigungsdelikte sind, obgleich sie fraglos "Freiheitsdelikte" umschreiben 138, durchMaurach, BT § 12 Rdn. 3, 9, § 15 Rdn. 4, §50 Rdn. 17, § 88 Rdn. 6, § 99 Rdn. 7; abw. Blei § 22 I; Otto, BT § 37 Rdn. I; vgl. schließlich Gössel, BT I § 18 Rdn. 14. 132 U. S. 99. 133 Zur Begründung u. S. 99 f. 134 RGSt 32, 102, 102; Eser, in: Schönke/ Sehröder § 241 Rdn. 2; Horn, in: SK § 241 Rdn. 2; Lackner I Kühl § 241 Rdn. I ; Otto, BT § 36 Rdn. I; Rengier, BT 2 § 27 Rdn. I; Schäfer, in: LK § 241 Rdn. 2; abw. Blei, BT § 21 I; Gössel, BT I § 18 Rdn. 10, 5; Schroeder, in: Maurach, BT § 12 Rdn. 6, § 16 Rdn. 2, § 99 Rdn. 4; Wesseist Hettinger, BT l Rdn. 365; vgl. schließlich Tröndle I Fischer § 241 Rdn. 2. 135 Bocke/mann, BT 2 § 17. 136 Arzt/ Weber, BT I Rdn. 524. 137 Zutreffend Maurach, JZ 1962 S. 560, (,,rangletzte Rolle"), 561 ("unergiebig"). 138 Die Nötigungsdelikte des Besonderen Teils schützen die Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheil des Nötigungsadressaten im allgemeinen (so dieratiodes § 240 Abs. 1, 2, vgl. Eser; in: Schönke/Schröder § 240 Rdn. l f.; Lackner/ Kühl§ 240 Rdn. l; Schäfer; in: LK § 240 Rdn. 2) bzw. im Rahmen bestimmter herausgehobener Lebensbereiche, so etwa: im Rahmen der staatsorganisationsrechtlich eingeräumten Befugnisausübung (zur ratio des § 106 Abs. 1 Lackner I Kühl § I 06 Rdn. I; Laujhütte, in: LK § 106 Rdn. 1; § 105 Abs. 1 schützt demgegenüber das Verfassungsorgan als solches, vgl. Eser, in: Schönlee I Sehröder § 105 Rdn. l; Lackner/ Kühl§ 105 Rdn. I ; Laujhütte, in: LK § 105 Rdn. 1); im Rahmen der Ausübung des Wahlrechts (zur ratio des § 108 Abs. 1 Eser; in: Schönke I Sehröder § 108 Rdn. 1; Lackner I Kühl § 108 Rdn. 1; Laujhütte, in: LK § 108 Rdn. 1; § 107 Abs. 1 schützt demgegenüber den Wahlvorgang als solchen, vgl. Eser; in: Schönke I Sehröder § 107 Rdn. 1; Lackner I Kühl § 107 Rdn. I; Laujhütte, in: LK § 107 Rdn. I); im Rahmen der rechtmäßigen Betätigung des Staatswillens durch das diesen verkörpernde Staatsorgan (zur ratiodes § 113 Abs. 1 Alt. 1, die überdies die staatliche Vollstreckungstätigkeit selbst umfaßt, RGSt 41, 82, 85; BGHSt 21, 334, 365; Arzt/ Weber; BT 5 Rdn. 98, 106 f.; v. Bubnoff, in: LK § 113 Rdn. 2; Eser; in: Schönke/ Sehröder § 113 Rdn. 2; Krey, BT I Rdn. 490; Lackner/ Kühl§ 113 Rdn. 1; Otto, BT § 91 Rdn. I; Rengier, BT 2 §53 Rdn. 1; Wesseist Hettinger; BT 1 Rdn. 620 f.; für einen Vorrang des Individualschutzes Horn, in: SK § 113 Rdn. 2 f.; für einen Vorrang des Allgemeinschutzes Schroeder; in: Maurach, BT § 71 Rdn. 6; Schmid, JZ 1980 S. 56 ff.; Tröndle/ Fischer § 113 Rdn. I); im Rahmen der Ausübung staatlicher Verwahrungsgewalt durch das dazu berufene Haftpersonal (zur ratiodes § 121 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1, die überdies die staatliche Verwahrungsgewalt als solche umfaßt, v. Bubnoff, in: LK § 121 Rdn. 2; Eser; in: Schönke/Schröder § 121 Rdn. 1; Lackner/ Kühl§ 121 Rdn. I); im Rahmen der sexuellen

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weg außerhalb des 18. Abschnitts des Besonderen Teils angesiedelt. Ihre jeweilige systematische Stellung richtet sich nach dem konkret zu schützenden Freiheitsbereich, der seinerseits an einem bestimmten Lebensausschnitt, etwa dem Bereich der rechtmäßigen staatlichen Vollstreckungstätigkeit, dem Bereich der Sexualität, dem wirtschaftlichen Bereich, anknüpft. Das Strafrahmengefüge ist abgestuft. Nötigungsdelikte, die besonders hochrangige Freiheitsbereiche schützen, sehen vergleichsweise strenge Strafen vor. Angriffe auf Freiheitsbereiche minderer Bedeutung werden vergleichsweise milde bestraft. Eine völlig andere Prämisse liegt den §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zugrunde. Sie vernachlässigen die tatzielorientierten Unterscheidungen des Nötigungsstrafrechts und lenken den Blick auf das Nötigungsmittel139. Diese Strukturunterschiede legen eine differenzierende Beurteilung nahe, derzufolge die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 gerade nicht den Schutz vor Nötigung zum Ziel haben. Zu klären bleibt, welche Bedeutung§ 240 Abs. 1, 2 im vorliegenden Zusammenhang zukommt. Eine Ansicht deutet ihn als eine Art Grunddelikt der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1, das durch die vom Täter eingesetzten beziehungsweise einzusetzenden Nötigungsmittel im Vorfeldbereich qualifiziert werde140. Diese Annahme machte aus systematischer Sicht indessen nur Sinn, wenn § 239b Abs. 1 an § 240 Abs. 1, 2 anknüpfte und § 239a Abs. 1 den Reigen der durch ihn erschwerten Erpressungsvorschriften abrundete. Tatsächlich ist weder das eine noch das andere der Fall. Damit ist der Übergang zu den funktionellen Erwägungen geschafft. Es ist zu fragen, welchen Sinn die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 neben den Nötigungsdelikten überhaupt haben können, wenn man ihnen die Aufgabe zuschreibt, Freiheitsschutz zu gewährleisten. Meines Erachtens läßt sich ein solcher Sinn nicht finden. Systematisch befriedigende Antworten auf die Frage nach dem Rechtsgut kann allein geben, wer davon ausgeht, daß die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 den Nötigungssachverhalt aus einer anderen Sicht "beleuchten", als dies die Nötigungsdelikte seit jeher tun. Mit dieser These, die im weiteren Verlauf der Arbeit näher zu begründen sein sein wird 141 , soll es an dieser Stelle sein Bewenden haben.

Betätigung (zur ratiodes § 177 Abs. 1 Lackner I Kühl vor § 174 Rdn. 1, § 177 Rdn. 1; Laufhütte, in: LK vor§ 174 Rdn. 4, § 177 Rdn. 1; Lenckner, in: SchönkeiSchröder vor§ 174 Rdn. 1, § 177 Rdn. 1); im Rahmen der wirtschaftlichen Betätigung (zur ratio der §§ 249 Abs. 1, 252, 253 Abs. 1, 255, die überdies, und zwar vorrangig, das fremde Eigentum bzw. Vermögen umfaßt, Eser, in: Schönke I Sehröder § 249 Rdn. 1, § 252 Rdn. 1, § 253 Rdn. 1, § 255 Rdn. 1; Herdegen, in: LK § 249 Rdn. 1, § 252 Rdn. 2 f., § 253 Rdn. I, § 255 Rdn. 1; Lackner I Kühl § 249 Rdn. 1, § 252 Rdn. 1, § 253 Rdn. 1, § 255 Rdn. 1). 139 0. S. 67 ff.; s. ferner u. S. 136 f. sowie passim. 140 Vgl. Schäfer, in: LK § 239a Rdn. 2, § 239b Rdn. 1. 141 Hierzu vor allem u. S. 136 f., 140 f ., 201 ff.

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2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1

dd) Ergebnis Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß der Schutz der Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit nicht das materielle Fundament der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 bilden kann. Den Ausschlag müssen andere Aspekte geben. d) Schwerpunktmäßiger Schutz des Opfers?

Umschrieben die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 tatsächlich Delikte zum Schutz des Vermögens oder der Willensfreiheit, dann müßte das Strafgesetzbuch auch einen besonderen Tatbestand betreffend die "Geiselnahme an Sachen" 142 enthalten. Denn aus der Sicht der geschädigten beziehungsweise genötigten Person spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob Bezugspunkt der Drohung ein Subjekt ist (Beispiel: Tötung eines Menschen) oder nicht (Beispiel: Vernichtung eines kulturhistorisch bedeutsamen, insoweit nicht zu ersetzenden Gegenstandes) 143 • Im übrigen müßte das geltende Recht den Fall gesondert erfassen, in dem der Täter mit der Vergiftung von Trinkwasser oder von Waren eines Kaufhauses oder mit der Sprengung von der Allgemeinheit zu dienenen bestimmten Gebäuden droht 144; auch hier wird neben einem außerordentlich starken Nötigungsdruck die Gefahr besonders gravierender Vermögensschädigungen entfacht. Wenn es nun sowohl in dem einen wie dem anderen Fall bei einer Strafbarkeit des Täters aus den §§ 253 Abs. 1145 , 240 Abs. 1, 2 bleibt, so läßt dies, was die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 anbelangt, nur einen Schluß zu: Die Vorschriften bezwecken primär den Schutz eines Rechtsgutes, zu dem die zuvor umschriebenen Fälle keinen, jedenfalls keinen hinreichenden, Bezug aufweisen. Dieses Rechtsgut kann allein ein solches des Opfers sein.

Bezeichnung nach Geilen, Jura 1980 S. 49. Zur Vermeidung von Mißverständnissen: Es geht vorliegend nicht darum, dem menschlichen Leben einen Wert zuzuschreiben, der je nach Lage des Einzelfalles divergieren, ja selbst auf den Wert eines Sachgutes herabsinken kann (zur Absolutheit des Lebensschutzes Eser, in: Schönke/ Sehröder vor§ 2ll Rdn. 14; Jähnke, in: LK vor§ 211 Rdn. 5 f. ; Lackner I Kühl vor § 211 Rdn. 3, 5). Der Text will lediglich klarstellen, daß es auch Sachgüter gibt, deren drohende Vernichtung zur unbedingten Nachgabe zwingt, weil der Verlust schlechterdings unannehmbar erscheint. 144 Vgl. hierzu auch de With, in: Prot. 6/49 S. 1553, 1557 mit anschließender Diskussion. 145 Die Geiselnahme an Sachen kann unter § 253 Abs. I fallen, vgl. nur BGHSt 26, 346, 347 f.; Eser, in: Schönke/Schröder § 253 Rdn. 9; Gössel, BT 2 § 31 Rdn. 5; Herdegen, in: LK § 253 Rdn. 14; Lackner/ Kühl§ 253 Rdn. 4; Maiwald, in: Maurach, BT § 42 Rdn. 41 ; Rengier; BT 1 § 11 Rdn. 26; Tröndle/ Fischer§ 253 Rdn. 11a; Wesseist Hillenkamp, BT 2 Rdn. 715; für eine Anwendung allein des § 240 Abs. 1, 2 OLG Hamburg, JZ 1975, 101, 101 f.; Mitsch, BT I § 6 Rdn. 56 ff.; Otto, BT § 53 Rdn. 21 f.; vgl. endlich Geilen, Jura 1980 S. 49. 142

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aa) Schwerpunktmäßiger Schutz der Fortbewegungsfreiheit des Opfers? Das schlagkräftigste Argument, das für eine Deutung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 als Delikte zum Schutz der Fortbewegungsfreiheit ins Feld geführt werden kann, ist ihre gesetzessystematische Plazierung im unmittelbaren Anschluß an § 239 Abs. 1. Im übrigen könnte die herrschende Meinung zur materiellen Fundierung des § 234 Abs. 1 bedeutsam sein. (a) Einwände gegen den Ve1Weis auf§ 239 Abs. 1

Dem Verweis auf § 239 Abs. 1 steht jedoch zunächst einmal die Entstehungsgeschichte der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 entgegen. Insoweit ist daran zu erinnern, daß die Schöpfer der§§ 239a Abs. I 1971, 239b Abs. I 1971 keine Klarheit über das den Vorschriften zugrundeliegende Rechtsgut erzielen konnten 146. Die Wahl des gesetzessystematischen Standorts wurde eher von legislatorischer Unschlüssigkeit als wohlerwogener Überlegung bestimmt; man orientierte sich an den Vorgaben des geltenden Rechts 147, ohne dem besondere Bedeutung beizumessen 148 . Die Schöpfer des § 239a Abs. 1 1936 wiesen allgemein auf "Berührungspunkte" mit den §§ 234 Abs. I, 239 Abs. 1 hin 149, nahmen diese aber nicht zum Anlaß einer entsprechenden materiellen Schwerpunktsetzung 150. Immerhin: Die letztlich befürwortete Systemeinordnung dürfte darauf zurückzuführen sein, daß man die Tathandlung des Delikts in Anlehnung an die Tathandlungen der §§ 236 Abs. 1 a. F., 237 Abs. 1 a. F., 239 Abs. 1 umschrieb 151 . Diese (äußerlichen) Übereinstimmungen wurden auch im Zuge der Erörterungen der§§ 165 Abs. 1 E 1962, 120 AE 1970 hervorgehoben 152. Aus grammatikalischer Sicht ist der von § 239 Abs. 1 abweichende Wortlaut zu beachten. Die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I verlangen nicht ausdrücklich, daß der Täter das Opfer seiner persönlichen Freiheit beraubt. Dem Tatbestand unterfällt vielmehr jeder, der einen anderen entführt oder- was im folgenden in den Vordergrund gerückt werden soll 153 - sich eines anderen bemächtigt. Es stellt sich damit 146 147 148 149

0. S. 88 mit Fn. 111 . Wulf, in: Prot. 6 I 49 S. 1552. 0. S. 89 mit Fn. 119. Ficker, in: Pfundtner/Neubert, Neues Reichsrecht li c 6 S. 100.

150

Zu ihr o. S. 87.

151

I. d. S. offenbar Ficker, in: Pfundtner/Neubert, Neues Reichsrecht II c 6 S. 100, 101.

152

0. s. 88.

Die Entführung, die lediglich eine besondere Form des Sichbemächtigens umschreibt (sehr str.; Einzelheiten u. S. 240 ff., 245 f.), wird vom nachfolgenden Text miterfaßt. Dasselbe gilt für die §§ 239a Abs. 1 Hs. 2, 239b Abs. 1 Hs. 2, verkörpert das Sichbemächtigen insoweit doch immerhin eine tatbestandliehe Anwendungsvoraussetzung (u. S. 227 f., 316). 153

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2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1

die Frage, ob und inwieweit ein Sichbemächtigen zugleich eine Beeinträchtigung der Fortbewegungsfreiheit im Sinne des § 239 Abs. I bewirkt. In welchem Ausmaß § 239 Abs. 1 die Fortbewegungsfreiheit, also die Freiheit, den eingenommenen Aufenthaltsort nach eigenem Willen zu verlassen 154 , schützt, wird im einzelnen unterschiedlich beurteilt. Anerkannt ist lediglich zweierlei. Positiv läßt sich sagen, daß die Voraussetzungen einer Freiheitsberaubung jedenfalls dort vorliegen, wo der Täter dem Opfer die Möglichkeit nimmt, einen tatsächlich gefaßten Willen zur Ortsveränderung zu betätigen. Negativ kann aus dem Wesen des § 239 Abs. I als eines Delikts zum Schutz der persönlichen Freiheit gefolgert werden, daß es stets der Einwirkung auf ein in spezifischer Weise taugliches Tatobjekt bedarf. Wer konstitutionell bedingt außerstande ist, einen auf Fortbewegung gerichteten Willen zu bilden und gemäß dieser Bildung zu betätigen (Beispiele: ein Kleinstkind155; eine hochgradig geistig behinderte Person 156), besitzt keine Freiheit, die beeinträchtigt werden könnte. Mit Ausnahme dieser beiden Extremfälle herrscht Streit. Nach überwiegender Meinung schützt § 239 Abs. I neben dem tatsächlich vorhandenen Fortbewegungswillen auch ein als umfassend zu erachtendes FreiheitspotentiaL Die Vorschrift sei mit Blick auf den besonderen Rang der körperlichen Bewegungsfreiheit im Gesamtsystem des Rechtsgüterschutzes (vgl. die Art. 2 Abs. 2 S. 2, 104 Abs. I S. 1 GG) weit auszulegen und erfasse daher jeden, der einem anderen die objektive Möglichkeit willentlicher Ortsveränderung nehme 157. Ein weiter Teil der Lehre folgt dem nicht. Auch er hebt zwar auf den sogenannten potentiellen Fortbewegungswillen ab. Dessen Ausfüllung durch die Mehrheit wird jedoch als zu weitreichend kritisiert und zugunsten einer einengenden Deutung verworfen. Die Grenzen des schützenswerten Freiheitspotentials seien dort erreicht, wo andere als vom Täter zu verantwortende Umstände der willentlichen Ortsveränderung in der konkreten Situation entgegenstünden. Einen potentiellen Fortbewegungswillen besitze allein deijenige, der hier und jetzt konkrete auf Fortbewegung gerichtete Entschlüsse treffen könne (wichtigste Konsequenz: Schlafende und Bewußtlose genießen keinen Schutz nach § 239 Abs. 1) 158. Wieder andere verwerfen das Kriterium des 154 Nicht geschützt wird die Freiheit, einen bestimmten Ort aufzusuchen oder an einem bestimmten Ort zu verweilen, vgl. nur BGHSt 32, 183, 188 f. ; Eser; in: Schönke/Schröder § 239 Rdn. I, 4; Horn, in: SK § 239 Rdn. 2; Schäfer; in: LK § 239 Rdn. 3. 155 BayObLG, JZ 1952,237,237. I 56 Schäfer; in: LK § 239 Rdn. 4. !57 So etwa RGSt 61, 239, 241 f.; ebenso Geppert, JuS 1975 S. 387; Gössel, BT 1 § 21 Rdn. 1, 4 ff.; wohl auch Lackner/ Kühl§ 239 Rdn. I; vgl. ferner BGHSt 14, 314, 316; 32, 183, 188 f.; OLG Köln, NStZ 1985, 550, 551 ; auch Schäfer; in: LK § 239 Rdn. 2, 6, 13 stellt zunächst auf das Freiheitspotential ab, läßt sodann aber, sofern es an einem solchen hier und jetzt fehlt, den mutmaßlichen Fortbewegungswillen entscheiden. 158 So etwa Blei, BT § 19 I; Ese r; in: Schönke/Schröder § 239 Rdn. 1, 3; Krey, BT 1 Rdn. 315; Meyer-Gerhards, JuS 1974 S. 570; Rengier; BT 2 § 22 Rdn. 1 f.; Schroeder; in:

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Freiheitspotentials vollends, um in Fällen, in denen es an einem tatsächlich vorhandenen Fortbewegungswillen fehlt, den entsprechenden hypothetischen Willen entscheiden zu lassen. Ausschlaggebend sei, was das Opfer vermutlich wollen würde, wenn es sich hier und jetzt frei von Einwirkungen seitens des Taters vor die Frage des Ob einer Ortsveränderung gestellt sähe 159. Schließlich wird die Ansicht vertreten, daß eine Freiheitsberaubung überhaupt die Beeinträchtigung eines tatsächlich vorhandenen Fortbewegungswillens bedinge. Wer hier und jetzt nicht daran interessiert sei, den eingenommenen Aufenthaltsort zu verlassen, genieße grundsätzlich keinen Schutz. Etwas anderes könne nur gelten, wenn das Opfer um die objektive Unmöglichkeit willentlicher Ortsveränderung wisse. Hier dürfe ausnahmsweise auf das Vorliegen eines Freiheitspotentials abgestellt werden. Denn schon das Bewußtsein, seinen Aufenthaltsort nicht verändern zu können, beeinflusse (hemme) die Willensbildung 160. Mißt man das Sichbemächtigen an dem vorstehend als maßgeblich herausgestellten aktuellen, potentiellen beziehungsweise hypothetischen Fortbewegungswillen, so zeigt sich, daß der Rekurs auf die Fortbewegungsfreiheit in die Irre führt. Sicherlich kann ein Verhalten sowohl den Erfordernissen eines Sichbemächtigens als auch den einer Freiheitsberaubung genügen. Nur folgt daraus keineswegs, daß Bereiche frei von Überschneidungen damit ausgeschlossen wären. Tatsächlich gibt es Fälle von Sichbemächtigen, in denen die Voraussetzungen einer Freiheitsberaubung nicht erfüllt sind (Beispiele: der Täter ergreift ein Kleinstkind161; derTaterschließt ein Opfer ein, das schläft oder bewußtlos ist 162 beziehungsweise hier und jetzt keinen auf Fortbewegung gerichteten Willen besitzt 163; der Tater kapert ein im Flug befindliches Passagierflugzeug 164 ; das Opfer willigt in die Begründung des Herrschaftsverhältnisses durch den Tater ein 165). Umgekehrt lassen sich Fälle von Freiheitsberaubung bilden, in denen es an einem SichMaurach, BT § 14 Rdn. 2, 4; wohl auch Tröndle !Fischer § 239 Rdn. 1; schließlich Küpper; BT S. 47; Wessels/ Hettinger; BT 1 Rdn. 370. 159 So etwa Bloy, ZStW 96 (1984) S. 712 f., 720 ff. sowie passim; Horn, in: SK § 239 Rdn. 2a ff.; Schumacher; in: Festschrift für Stree/Wessels S. 434 f., 438 f. 160 So etwa RGSt 33, 234, 236; Otto, BT § 28 Rdn. I, 3; Park / Schwarz, Jura 1995 S. 295 f.; für eine rigorose Beschränkung des § 239 Abs. 1 auf den aktuellen Fortbewegungswillen Arzt/ Weber; BT 1 Rdn. 535 ff. I6 I Zum Sichbemächtigen o. S. 40; u. S. 247; zur (fehlenden) Freiheitsberaubung o. S. 96. 162 Zum Sichbemächtigen u. S. 246 f., 251, 254; zur (fehlenden) Freiheitsberaubung s. die o. S. 96 f. in Fn. !58, 160 Genannten; a.A. die o. S. 96 in Fn. 157 Genannten; differenzierend die o. S. 96 f. in Fn. 159 Genannten. 163 Zum Sichbemächtigen u. S. 246 f., 251; zur (fehlenden) Freiheitsberaubung s. die auf dieser S. in Fn. 160 Genannten; a.A. die o. S. 96 f. in Fn. !57 f. Genannten; differenzierend die o. S. 96 f. in Fn. 159 Genannten. 164 Zum Sichbemächtigen u. S. 246 f. ; zur (fehlenden) Freiheitsberaubung (sofern es bei diesen Einschränkungen bleibt) u. S. 273. 165 Zum (Streit um das) Sichbemächtigen u. S. 314 ff.; zur (fehlenden) Freiheitsberaubung u. S. 264 mit Fn. 158. 7 Imme!

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2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1

bemächtigen fehlt (Beispiel: der Täter sperrt das Opfer in einen Raum ein, zu dem er selbst keinen ungehinderten Zutritt hat 166). Dieser Befund enthüllt grundlegende konzeptionelle Divergenzen: Wahrend der Begriff der Freiheitsberaubung von der Warte des Opfers aus aufgeschlüsselt wird, knüpft das Sichbemächtigen an der Tätersicht an; gilt es dort, den Verlust räumlicher Freiheiten (konkret: das Beraubtwerden) ausfindig zu machen, so interessiert hier ein Gewinn, die Begründung tatsächlicher Herrschaft über den Körper des Opfers (konkret: das Sich-Macht-Verschaffen) 167 • Im Schrifttum wird die Ansicht vertreten, daß es möglich sei, das Auseinanderklaffen der Begriffe Sichbemächtigen und Freiheitsberaubung mittels einer Modifizierung des Freiheitsbegriffs des § 239 Abs. 1 zu erklären. "Freiheit" als Schutzgut der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 müsse in Wahrheit "Geborgenheit" heißen, und zwar Geborgenheit durch die eigenen Kräfte oder durch die schützenden Kräfte der sozialen Gemeinschaft, in der jeder Mensch lebe; Sichbemächtigen sei die Verminderung der "Geborgenheit" zugunsten eigener Herrschaftsmacht und damit Beeinträchtigung fremder "Freiheit" 168 . Das überzeugtjedoch nicht. Wer (konstitutionell bedingt) außerstande ist, einen Willen zu bilden und gemäß dieser Bildung zu betätigen, hat keine "Freiheit" und kann daher unmöglich Objekt eines Freiheitsdelikts sein. Die Gleichsetzung von "Geborgenheit" und "Freiheit" erscheint mithin als dogmatischer Kunstgriff, der lediglich zu verschleiern sucht, daß den §§ 239a Abs. I, 239b Abs. I das entscheidende Moment eines Freiheitsdelikts, das Erfordernis der Freiheitsbeeinträchtigung, fehlt 169. Aus alledem folgt: (I) Dienten die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I tatsächlich in erster Linie dem Schutz der Fortbewegungsfreiheit, so dürfte es keinen Fall von Sichbemächtigen geben, der nicht zugleich zu § 239 Abs. 1 führt. Denn Grundlage des staatlichen Strafanspruchs kann nur das dem Tatbestand vorgelagerte materielle Verbot sein. Die Bestrafung eines Täters, der den Tatbestand verwirklicht, ohne zugleich dem materiellen Verbot zuwiderzuhandeln, ist nicht nur straftheoretisch sinnlos. Sie widerspricht auch den Grundprinzipien des Rechtsstaats (Übermaßverbot, Schuldgrundsatz) und muß - in letzter Konsequenz - zur Verfassungswidrigkeit führen. Das aber bedeutet: Wer den Schutz der Fortbewegungsfreiheit in den Vordergrund rückt, kann nicht umhin, das Kleinstkind, ... von den§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 auszunehmen, "ein Ergebnis, das angesichts der ganz besonderen Hilflosigkeit und 166 Zur Freiheitsberaubung s. die o. S. 96 f. in Fn. 157 ff. Genannten; zum (fehlenden) Sichbemächtigen u. S. 246 f., 251. 167 Sehr klar Schroeder, in: Maurach, BT § 15 Rdn. 3. 168 Lampe, JR 1975 S. 425; zustimmend Krey, BT 2 Rdn. 334. 169 Zur Kritik an der Konzeption von Lampe s. auch u. S . 247 ff. ; zu weiteren- gescheiterten - Versuchen einer Ausweitung des Freiheitsbegriffs über seinen sachlichen Gehalt hinaus etwa Hälschner, BT 1 S. 137 f.; Knitschky, GS 44 (1891) S. 266 f ., 272 f. sowie passim; Lobe, DJZ 1930 Sp. 663; vgl. auch v. Buri, GS 27 (1875) S. 521 f.; schließlich den nationalsozialistischen Freiheitsbegriff bei Stockmayer, Kindesraub S. 29 ff.

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Schutzbedürftigkeit der Genannten unter dem Blickwinkel gerade auch der Geiselnahme einer Umkehrung der wirklichen Schutzverhältnisse nahekäme" 170. (2) Knüpften die §§ 239a Abs. l, 239b Abs. 1 tatsächlich vorrangig an § 239 Abs. 1 an, so müßten sie jeden Täter erfassen, der die Fortbewegungsfreiheit eines anderen in der Absicht/ mit dem Vorsatz beeinträchtigt, eben diesen anderen oder einen Dritten zu erpressen I zu nötigen. Damit wäre die Feststellung von Strafbarkeitstückende lege lata und der Ruf nach einer Angleichung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. l an § 239 Abs. l de lege ferenda vorgezeichnet. Meines Erachtens machte weder dieser noch jene Sinn. Denn das Kriterium der Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit ist "viel zu äußerlich, um für sich schon geeignet zu sein, die Situation ... der ... Geisel ... hinreichend zu beschreiben. Entscheidendes Moment der Lage der Geisel ist ... nicht ihr äußerliches Festgehaltenwerden", sondern "die Tatsache, daß der Tater seine Gewalt ... zu einem bestimmten Zweck begründet hat" 171 • Die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 knüpfen an der erpresserischen I nötigenden Ausnutzung der Lage des Opfers, an dem Mißbrauch mehr oder minder ungestörter Zugriffsmöglichkeiten zu einer Erpressung/Nötigung an. Mit Blick auf diesen Unrechtsgehalt sagt das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Freiheitsberaubung im Sinne des § 239 Abs. l - zu - wenig aus. (b) Einwände gegen den Verweis auf§ 234 Abs. 1

Daß sonstige gesetzessystematische Überlegungen weiterhelfen könnten, erscheint in Anbetracht meiner Ausführungen zur Deutung der§§ 239a Abs. l, 239b Abs. l als Delikte zum Schutz der Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit wenig wahrscheinlich. Immerhin ist noch offen, welche Rolle § 234 Abs. 1 im vorliegenden Zusammenhang spielt. Geht man davon aus, daß § 234 Abs. l den §§ 239a Abs. l Hs. 1, 239b Abs. l Hs. 1 insoweit entspricht, als er die Strafbarkeit des Taters von einem Sichbemächtigen in näher umschriebener Absicht abhängig macht, so liegt die Annahme auch materieller Gemeinsamkeiten durchaus nahe. Es stellt sich daher die Frage, ob es zulässig ist, aus der ganz herrschenden Meinung zu § 234 Abs. 1, derzufolge der Menschenraub einen durch die Absicht des Taters qualifizierten Spezialfall der Freiheitsberaubung nach § 239 Abs. l umschreibt 172, Konsequenzen für die Fundierung der§§ 239a Abs. l, 239b Abs. 1 zu ziehen. Ich meine, daß diese Frage schon deshalb zu verneinen ist, weil es auch im Rahmen des § 234 Abs. l Fälle von Sichbemächtigen 173 ohne Freiheitsberaubung soBackmann, JuS 1977 S. 445. Backmann, JuS 1977 S. 446. 172 Eser; in: Schönke/Schröder § 234 Rdn. 1; Gribbohm, in: LK vor§ 234 Rdn. 1, § 234 Rdn. 1; Horn, in: SK § 234 Rdn. 7; Otto, BT § 28 Rdn. 20; H. Schumacher; in: Schlüchter, Reform S. 50; Tröndle !Fischer § 234 Rdn. 1; Wesseist Hettinger; BT 1 Rdn. 365; a.A. Bohnert, JuS 1977 S. 747 mit Fn. 19; vgl. auch Gössel, BT I § 21 Rdn. 35; Schroeder; in: Maurach, BT § 12 Rdn. 2, 9; unverständlich Lackner/ Kühl§ 234 Rdn. 1. 110 111

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wie umgekehrt Fälle von Freiheitsberaubung ohne Sichbemächtigen 173 gibt 174 . Die herrschende Ansicht zu § 234 Abs. 1 läßt sich daher nur halten, wenn man unterstellt, sie gründe auf dem Absichtstatbestand der Norm, genauer der Wendung "in Sklaverei oder Leibeigenschaft zu bringen oder dem Dienst in einer militärischen oder militärähnlichen Einrichtung im Ausland zuzuführen". Dieser Weg, den die Dogmatik in der Tat beschritt 175 , istjedoch kaum gangbar. Denn tatbestandsmäßig im Sinne des § 234 Abs. 1 handelt auch derjenige, der sich seines Opfers in Aussetzungsabsieht bemächtigt. Mit dieser Regelung ,jüngeren" Datums 176 verließ das Gesetz den Gedanken des Freiheitsschutzes ohne Zweifel 177 . Das mag freilich auf sich beruhen. Der Verweis auf den Absichtstatbestand des § 234 Abs. 1 Alt. 2 führt nämlich jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang in eine Sackgasse: Die Gemeinsamkeiten der§§ 234 Abs. 1, 239a Abs. 1 Hs. 1, 239b Abs. 1 Hs. 1 enden dort, wo die jeweiligen Absichtstatbestände beginnen. In subjektiver Hinsicht weisen die Vorschriften zu große Unterschiede auf, als daß ein auf Gleichbehandlung lautendes Argument Zustimmung verdiente. (c) Ergebnis

Die Fortbewegungsfreiheit des Opfers kann nicht im Zentrum des durch die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I gewährten Schutzes stehen. bb) Schwerpunktmäßiger Schutz des Lebens und/ oder Leibes des Opfers? Es bleibt zu klären, ob das Gesetz einen hinreichenden Anhalt dafür bietet, daß die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 Delikte umschreiben, welche in erster Linie das Leben und I oder die körperliche Integrität des Opfers schützen. (a) Die Gefährlichkeit der Drohung (Backmann und andere)

Für diese Annahme könnten neben den außerordentlich hohen Mindeststrafen 178 entstehungsgeschichtliche Befunde angeführt werden 179 . Gegen sie scheinen gram173 Den§§ 234 Abs. I, 239a Abs. I, 239b Abs. 11iegt nach h. M. ein einheitlicher Sichbemächtigungsbegriff zugrunde, u. S. 246. 174 Bohnert, JuS 1977 S. 747 mit Fn. 19; Gössel, BT I§ 21 Rdn. 35. 175 Aus dogmengeschichtlicher Sicht s. nur Knitschky, GS 44 (1891) S. 257 ff. sowie passim; Lobe, DJZ 1930 Sp. 664 ff. 176 Zur Genese Knitschky, GS 44 (1891) S. 261 f. 177 Lobe, DJZ 1930 Sp. 665. 178 Vgl. zunächst o. S. 60 mit Fn. 210; sodann Arzt/Weber, BT 3 Rdn. 367; Backmann, JuS 1977 S. 446; Blei, JA 1972 S. 247; Bohlinger; JZ 1972 S. 231, 233; Hansen, GA 1974 S. 364, 368; Renzikowski, JZ 1994 S. 496; schließlich Blei, JA 1970 S. 409 f. 179 0 . S. 89.

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matikalische und strukturelle Erwägungen zu sprechen, verlangen die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 doch in keiner ihrer beiden Modalitäten eine Gefahrdung des Lebens oder Leibes des Opfers 180. Andererseits verwirklicht § 239b Abs. 1 nicht zuletzt, wer in der Absicht I mit dem Vorsatz handelt, einem anderen den Tod oder eine schwere Körperverletzung(§ 226 Abs. 1) des Opfers anzudrohen. Diese Formulierung deutet auf einen Integritätsbezug zumindest der Geiselnahme hin. So stellt denn auch Backmann fest, daß der "Gefahrengedanke ... in der Tatbestandsfassung selbst einen objektiven Ausdruck gefunden" habe 181 , wenn auch "eher unvollkommen"182. Er lehrt: "Entscheidendes Moment der Lage der Geisel ist ... die Tatsache, daß der Täter seine Gewalt über das Opfer zu einem bestimmten Zweck begründet hat: zur Durchsetzung von Zielen, zu deren Erreichung er notfalls das Leben oder die körperliche Integrität der Geisel zu zerstören bereit ist. Das Kritische und Bedrohliche an der Lage der Geisel ist die latende Todes- oder Körperverletzungsgefahr, in der sie sich - solange sie in der Hand des Täters ist - befindet ... Deutlich im Vordergrund stehen dürfte ... die - wie zahlreiche Geiselnahmefälle besonders auch in der jüngsten Vergangenheit beweisen - durchaus realistische Möglichkeit, daß der Täter sein Opfer vorsätzlich tötet oder verletzt, weil der Drohungsempfanger auf seine Forderungen nicht oder noch nicht (,Ultimatum') eingegangen ist. Gerade dieser vom Täter antezipierte, zur Richtschnur seines Handeins gemachte nach außen angedrohte Zusammenhang von Schicksal der Geisel und Nachgeben des Drohungsempfängers ist es, der das besondere Unrecht der Geiselnahme im Verhältnis zu sonstigen Freiheitsberaubungen und den mit diesen u. U. einhergehenden Gefährdungen ausmacht: die Begründung physischer Gewalt über einen Menschen, die dessen schlechterdings zentrale Rechtsgüter Leben und körperliche Integrität als reines Tauschobjekt in eine bestimmte Mittel-Zweck-Relation einsetzt und damit aufs Schwerste gefährdet" 183 . Der so beschriebene Konnex zwischen dem Inhalt der in Aussicht genommenen Drohung und der Gefährlichkeit der Tat im ganzen spielt in der Diskussion, die sich um das Wesen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 als Delikte zum Schutz von Leben und Leib rankt, eine durchaus herausragende Rolle. Er wird vor allem von seiten des Schrifttums hervorgehoben 184, hat aber auch Einzug in die höchstrichterliche Rechtsprechung gefunden. Einschlägige Entscheidungen neueren Datums konsta180 Vgl. Gössel, BT 1 § 22 Rdn. 2 zu§ 239b Abs. 1; gegen die Relevanz des Wortlautarguments Bohlinger, JZ 1972 S. 232; Renzikowski, JZ 1994 S. 496. 181 Backmann, JuS 1977 S. 447. 182 Backmann, JuS 1977 S. 446. 183 Ebda. 184 Für§ 239b Abs. 1 Arzt/Weber, BT 3 Rdn. 367; Eser, in: Schönke/Schröder § 239b Rdn. 1; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 111; Renzikowski, JZ 1994 S. 496; ders. , JR 1998 S. 127; vgl. auch Arzt, schwZStR 100 (1983) S. 267; nicht ganz klar Bohlinger, JZ 1972 S. 233; für § 239a Abs. 1 Arzt/Weber, BT 3 Rdn. 367; Hansen, GA 1974 S. 368; Renzikowski, JZ 1994 S. 496; ders., JR 1998 S. 127; ders., StV 1999 S. 648; nicht ganz klar Bohlinger, JZ 1972 s. 231 f.

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tieren durchweg: "Der Zweck der gesetzlichen Regelung besteht gerade darin, das Sichbemächtigen des Opfers deshalb besonders unter Strafe zu stellen, weil der Täter seine Drohung während der Dauer der Zwangslage jederzeit realisieren kann" 185 • Im Sonderausschuß schließlich wurde die Ansicht vertreten, daß eine Gefährdung des Lebens des Opfers jeder herbeiführe, der diesen Menschen in die Mechanik von Drohung, Strafverfolgung und Erwartung, die Drohung wahrmachen zu müssen, hineinbringe 186• Die Bereitschaft, vom Inhalt der Drohung auf die Gefährlichkeit der Situation insgesamt zu schließen, ist auch hier deutlich zu ersehen. Man wird gewiß anerkennen dürfen, daß in dem Verweis auf die objektive Gefährlichkeit der Drohung ein wahrer Kern steckt; denn "praktisch führt .. . das Bestreben, ernst genommen zu werden, (den) Drohenden leicht dazu, die Drohung auch auszuführen, so daß die Drohung auch die latente Gefahr ihrer Verwirklichung bedeuten kann" 187 . Die Frage ist nur, ob diese Erkenntnis allein die umschriebenen weitreichenden Folgerungen trägt. Hiergegen könnte dreierlei sprechen, die Ausweitung des Drohmittelkatalogs des § 239b Abs. 1 1971 auf die mehr als einwöchige "Freiheitsentziehung", der Rekurs des § 239a Abs. 1 auf das "Wohl" des Opfers sowie schließlich der "impressionalistische Charakter" der Drohung. Zu diesen drei Bedenken im einzelnen: (aa) Einwände gegen den Verweis auf die Ausweitung des Drohmittelkatalogs des § 239b Abs. 1 1971 auf die Freiheitsentziehung von über einer Woche Dauer Die Ausweitung des Drohmittelkatalogs des § 239b Abs. 1 1971 durch das Artikelgesetz von 1989 ist insoweit ohne argumentativen Wert, als lang andauernde Freiheitsentziehungen im Regelfall beachtliche Auswirkungen auf die Psyche und Physis des seiner Freiheit Beraubten zeitigen. Es bedarf nicht tiefschürfender empirischer Untersuchungen, um den Nachweis dafür zu führen, daß das Ausmaß der Verschlechterung des seelischen und körperlichen Wohlbefindens des Inhaftierten in einem ursächlichen Zusammenhang zu der Dauer der Haft steht. Sicherlich ist es zunächst einmal die aufgezwungene Enge, die rigorose Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit, die ins Auge springt und daher als Übel empfunden wird. Mit der Zeit treten aber andere Empfindungen hinzu beziehungsweise in den Vordergrund. Der Inhaftierte, der die ihm zugedachte Objektfunktion (gemeint: das Eingebundensein in einen umfassenden Erpressungs- I Nötigungsplan) begriffen hat, erlebt nicht, jedenfalls nicht ausschließlich, das durch die Freiheitsverletzung geprägte Hier und Jetzt. Er spürt auch die Belastungen, die einem derzeit noch recht diffusen Später erwachsen. Die Gewißheit, einem entschlossenen und unberechenbaren Täter über einen vergleichsweise langen Zeitraum hinweg hilflos aus185 BGHR § 239a Abs. 1 Erpressung 1 S. 1; § 239b Entführen 4 S. 2; BGH, StV 1997, 302, 302. 186 Wulf, in: Prot. 6/50 S. 1573. 187 Schäfer, in: LK § 239b Rdn. 8.

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geliefert zu sein, erstarkt mehr und mehr zur bestimmenden Größe. Sie versetzt den Inhaftierten in einen fortwährenden Zustand höchstmöglicher seelischer Erregung und begründet so in letzter Konsequenz die Gefahr auch gesundheitlicher Schäden 188. Nun ist freilich zuzugeben, daß der historische Gesetzgeber auf einem anderen Standpunkt stand. Vor allem die Schöpfer der§§ 239a Abs. I 1971, 239b Abs. 1 1971 postulierten einen grundsätzlichen Unwertunterschied zwischen der Drohung mit lang andauerndem Freiheitsentzug auf der einen und der Drohung mit dem Tode oder einer schweren Körperverletzung (§ 226 Abs. 1) beziehungsweise der Verursachung von Sorge um das Wohl auf der anderen Seite 189. Überzeugende 188 Zu den inneren Zusammenhängen von seelischer Belastung (vgl. auch die §§ 176a Abs. I Nr. 3, 235 Abs. 4 Nr. I) und körperlicher Verletzung etwa RGSt 32, 113, 114 f.; 64, 113, 118 f.; BGH bei Dallinger; MDR 1975, 22, 22; BGH, NJW 1996, 1068, 1069; BGH, NStZ 1997, 341, 341; Eser; in: Schönke I Sehröder § 223 Rdn. 4, 6; Hirsch, in: LK vor § 223 Rdn. 2, § 223 Rdn. 8, 14; Lackner/ Kühl§ 223 Rdn. 5. - Bedeutsam dürfte überdies sein, daß die (noch) h. M. in der lang andauernden Freiheitsentziehung nach § 239 Abs. 3 Nr. 1 eine schwere Folge i. S. d. § 18 erblickt (für diese h. M. etwa Krey, BT 1 Rdn. 321; Lackner/ Kühl § 239 Rdn. 9; Otto, BT § 28 Rdn. 12; Rengier; BT 2 § 22 Rdn. 11; ebenso für§ 239 Abs. 3 S. 1 a. F. BGHSt 10,306,308 ff.; Eser; in: Schönke/Schröder § 239 Rdn. 13; Park/Schwarz, Jura 1995 S. 298; Schäfer; in: LK § 239 Rdn. 35; Schroeder; in: Maurach, BT § 14 Rdn. 17; abw. Horn, in: SK § 239 Rdn. 16; Nelles, in: Dencker, Reform S. 56 f.; H. Schumacher; in: Schlüchter, Reform S. 62 f.; Tröndle/Fischer § 239 Rdn. 12; Wessels!Hettinger; BT I Rdn. 377); denn erfolgsqualifizierte Delikte dienen typischerweise dem Schutz des Lebens und des Leibes als den wichtigsten Gütern der Rechtsordnung überhaupt (u. S. 205). Sicherlich ist es möglich, § 239 Abs. 3 Nr. I als eine besondere Form des erfolgsqualifizierten Delikts zu interpretieren, das, anknüpfend an § 239 Abs. 1, ausschließlich den Schutz der Fortbewegungsfreiheit im Auge hat (i. d. S. denn auch die h. M., vgl. Paeffgen, in: NK § 18 Rdn. 16; Schroeder; in: LK § 18 Rdn. 13). Wer so argumentiert, kann aber nicht erklären, warum§ 18 de lege lata lediglich einen kleinen (erlesenen) Kreis von Erfolgsdelikten erfaßt. Die Gefahr besonders intensiver Schäden besteht ja überall, also nicht nur dort, wo das Gesetz auf§ 18 verweist (etwa: der Pyromane T setzt vorsätzlich einen fremden Gegenstand in Brand und verkennt dabei fahrlässig die Möglichkeit eines Übergreifens der Flammen auf andere fremde Gegenstände; der Vermögensverwalter T investiert das Geld des 0 unberechtigterweise in eine, wie er weiß, riskante Aktie und verkennt dabei fahrlässig, daß das fragliche Unternehmen unmittelbar vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens steht). Fälle außerhalb des § 18 werden allgemein über die Strafzumessung gelöst (vgl. vor allem § 46 Abs. 2 S. 2, der von den "verschuldeten Auswirkungen der Tat" spricht; beachtenswert ferner die§§ 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 2, 266 Abs. 2), und zwar unter Berücksichtigung der in ihm getroffenen Wertentscheidung (BGHSt 37, 179, 180; BGH, NStZ 1986, 85, 86; BGH, StV 1987, 100, 100; Gribbohm, in: LK § 46 Rdn. 151 ff.; Jescheck/Weigend, AT§ 83 II, 3, § 29 II, 3c; Tröndle/ Fischer§ 46 Rdn. 23; differenzierend Frisch, ZStW 99 (1987) S. 755 ff.; abw. Roxin, AT 1 § 12 Rdn. 135; Stree, in: Schönke/Schröder § 46 Rdn. 26 f.). Dem erfolgsqualifizierten Delikt kommt demnach offensichtlich eine besondere (strafzumessungsrechtliche) Funktion zu, indem es der vorwerfbaren Herbeiführung bestimmter Tatfolgen eine verbindliche und vor allem drastische Anhebung des Strafrahmens entgegensetzt. Derart einschneidende Maßnahmen erscheinen nur dann angemessen, wenn es um die Beurteilung eines Erfolges geht, der ein herausragend wichtiges Rechtsgut betrifft. Ein solches verkörpert die Fortbewegungsfreiheit m. E. nicht. 189 Hierzu bereits o. S. 41.

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Gründe, die dieses Postulat hätten tragen können, wurden jedoch nicht geltend gemacht. Das belegen etwa die einschlägigen Äußerungen des Regierungsvertreters. Wulf verwies zur Begründung seiner Ansicht exemplarisch auf einen Täter, der einen Politiker oder Beamten entführt und "ohne Beeinträchtigung seines körperlichen Wohlbefindens - möglicherweise sogar an einem besonders angenehmen Ort, z. B. in einem Hotel in der Südsee- sowie auch ohne Drohung für Leib und Leben" über einen längeren Zeitraum hinweg gefangen hält. In einem solchen Fall reichten die geltenden Vorschriften über die Freiheitsberaubung aus 190. Gefährlich seien nur die Fälle, in denen mit dem Tode oder der schweren Körperverletzung des Opfers gedroht werde 191 . Demgegenüber: Hier werden die Äußerlichkeiten des Freiheitsentzugs überbewertet, werden die psychisch-physischen Dimensionen der Tat vernachlässigt, wenn nicht gar gänzlich negiert. Gewiß wird niemand bestreiten wollen, daß der Besuch eines Hotels in der Südsee einen größeren "Freizeit-" oder "Unterhaltungswert" aufweist als der Aufenthalt in einem kalten und dunklen Keller. Das spielt indessen keine Rolle. Denn den Ausschlag gibt die durch die Objektfunktion gekennzeichnete Situation des Inhaftierten insgesamt. Der auf dem Opfer lastende Druck fällt nicht schon deshalb weg, weil der Täter die Gefangenschaft in ein malerisches Ambiente einbettet. Daß der Entführte seinen unverhofften Aufenthalt in dem "Südseeparadies" genießen könnte, darf man ausschließen, zumal wenn man die Gefahr nachträglicher Brutalisierungen mit in Rechnung stellt. Denkbare Ausnahmen mögen hier die Regel bestätigen 192. Mit Bezug auf § 239a Abs. 1 1971 machte Wulf geltend: Daß von der Vorschrift auch vergleichsweise harmlose Fälle erfaßt würden, wenn man dies anders sähe, zeige sich daran, daß der Tatbestand danach bereits erfüllt wäre, wenn z. B. die Leitung eines Kinderheimes die Übergabe eines Kindes an den sorgeberechtigten Vater verweigere, um auf diese Weise die Zahlung einer nachträglichen Erhöhung des Stationsgeldes zu erzwingen 193 . Dazu aus meiner Sicht: Sicherlich widerstreitet es dem Gedanken der materiellen Gerechtigkeit, in Fällen dieser Art mit einem Mindestmaß von fünf Jahren Freiheitsstrafe aufzuwarten. Das beruht aber weniger auf der mangelnden Gefährlichkeit des lang andauernden Freiheitsentzugs (als einer auch physisch belastenden Haft mit ungewissem Ausgang) als auf der deliktischen Typizität des konkret geschilderten Unrechtssachverhaltes: Die Fortführung des Freiheitsentzugs durch den Heimleiter im Beispielsfall bleibt allein deshalb ohne beachtenswerte Auswirkungen auf das körperliche Wohlbefinden des Kindes, weil der gewöhnlichen Unterbringung eines Kindes in einem Kinderheim jene Gefahren fehlen, die Taten nach § 239a Abs. 1 ihr wesentliches Gepräge geben. Wer den Heimleiter vor einer Strafhaftung aus § 239a Abs. 1 bewahren will, muß auf den materiellen

190 19 1 192 193

Wulf, in: Prot. 6/49 S. 1558. Wulf, in: Prot. 6/49 S. 1560. Zur Behandlung u. S. 279 ff. Wulf, in: Prot. 6/49 S. 1558.

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Aspekt der Gefahrenschaffung rekurrieren 194• Der Verweis auf den Inhalt der Drohung greift zu kurz. (bb) Einwände gegen den Verweis auf das Fehlen eines Drohmittelkatalogs bei § 239a Abs. 1 Bedeutungslos ist weiterhin, daß § 239a Abs. 1 allgemein von der Sorge um das Wohl des Opfers spricht, anstatt entsprechend dem Vorbild des § 239b Abs. 1 an eine Drohung mit dem Tod, einer schweren Körperverletzung oder einer mehr als einwöchigen Freiheitsentziehung anzuknüpfen. Der Begriff "Wohl" umfaßt nämlich bei näherem Hinsehen nur die in § 239b Abs. 1 aufgeführten qualifizierten Übel. Jeder Versuch, die Nötigungskomponenten des § 239a Abs. 1 weiter auszulegen als die Nötigungskomponenten des § 239b Abs. 1 muß in einen Verstoß gegen die fundamentale Unrechtsgleichung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 münden und daher verworfen werden 195 . Der abweichenden herrschenden Ansicht ist in diesem Sinne zu widersprechen 196• (cc) Der Verweis auf den impressionalistischen Charakter der Drohung Was das dritte Bedenken, die Adressatenbezogenheil des Drohungsbegriffs, anbelangt, so ist zwischen dem Fehlen eines Realisierungswillens und dem Fehlen jeglicher Realisierungsmöglichkeiten zu unterscheiden. Ob der Täter von vomherein vorhat, die in Aussicht genommene Drohung im Falle fehlenden Wohlverhaltens des Erpressungs- I Nötigungsadressaten zu realisieren, spielt keine Rolle. Auch derjenige, der zunächst nur bluffen will, kann sich im weiteren Verlauf der Ereignisse dazu veranlaßt sehen, seine Meinung zu ändern und nunmehr einen auch objektiv gefährlichen Drohungssachverhalt zu schaffen197. Die Aussage, leere Drohungen seien prinzipiell ungefährlich und hätten daher vorliegend außer Betracht zu bleiben, läßt sich in dieser Allgemeinheit nicht halten 198 . Anders ist die Beurteilung einer Drohung, deren Realisierung nach den gegebenen Umständen tatsächlich unmöglich erscheint. Hier wird man in der Tat anerkennen müssen, daß der Schluß vom Inhalt der Drohung auf die Gefährlichkeit der s. auch insoweit u. S. 279 ff. Zu zurückhaltend Bohlinger, JZ 1972 S. 233, der lediglich von den "diffusen Unterscheidungen zwischen der lebensgefährlichen Situation in § 239b und der ... weniger lebensgefährlichen Situation in § 239a" spricht. 196 Ausführlich u. S. 310 ff. 197 LG Mainz, MDR 1984, 687, 687; Arzt, schwZStR 100 (1983) S. 267 f.; vgl. auch Blei, JA 1970 S. 410. 198 So selbst Backmann, JuS 1977 S. 448 auf der Grundlage seiner Ansicht, die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 "bei nicht ernst gemeinter Drohung" teleologisch auf null zu reduzieren. 194

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2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1

Situation insgesamt fehlgeht 199• Wenn also der lediglich zum Schein bewaffnete David die Erschießung des Goliath für den Fall androht, daß seine Forderungen unerfüllt bleiben200, dann läßt sich die Anwendung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 nicht auf die Erwägung stützen, die Erpressung/Nötigung sei angesichts des konkret in Aussicht gestellten Übels besonders gefährlich und verdiene deshalb erhöhte Strafe. Die aus dieser Erkenntnis zu ziehenden Schlußfolgerungen sind klar: Verzicht auf eine Bestrafung des David aus den§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I in Ermangelung eines Verstoßes gegen das materielle Verbot oder Bejahung jener Strafbarkeit unter gleichzeitiger Aufgabe der umschriebenen Rechtsgutskonzeption. Renzikowski, der einzige Vertreter der herrschenden Ansicht, der sich diesem Problem bislang gewidmet hat, befürwortet die zuerst genannte Möglichkeit201 . Das ist zwar argumentativ folgerichtig, vom Ergebnis her aber kaum zu halten. Schon die herausgearbeiteten psycho-physischen Auswirkungen einer zeitlich gestreckten Haft lassen es unannehmbar erscheinen, Fällen nach dem Vorbild von München202 oder Gladbeck203 allein deshalb die Tatbestandsrelevanz abzusprechen, weil der Drohung die Realisierungsfähigkeit fehlt. Das Opfer jedenfalls würde sich mit einer solchen Erklärung nicht zufrieden geben, und zwar zu Recht204. (dd) Ergebnis Die überwiegende Begründung der Lebens- und Leibesschutztheorie ist verfehlt. Die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 knüpfen nicht an dem Konnex zwischen dem Inhalt der in Aussicht genommenen Drohung und der Gefährlichkeit der Tat an. Es sind andere Aspekte in den Vordergrund zu rücken. (b) Die eigene Ansicht

Jene anderen Aspekte können in Ermangelung sonstiger Anhalte nur aus der deliktischen Typizität der in Frage stehenden Sachverhalte selbst abgeleitet werden. Meine These gründet sich dementsprechend auf die (unabweisbare) Gefährlichkeit des klassischen Kidnapping205 • Sie lautet: Taten nach den §§ 239a Abs. l, 239b Abs. 1 sind deshalb besonders strafwürdig, weil ihnen erfahrungsgemäß ganze Bündel beachtenswerter Gefährlichkeitsaspekte innewohnen206• Trägt man die unRichtig Renzikowski, StV 1999 S. 648. Zu diesem Fall bereits o. S. 86. 201 Renzikowski, StV 1999 S. 647 f. 2o2 0. S. 36. 203 0 . s. 50. 204 Weiterführend u. S. 251 ff. 205 Zu ihr bereits Stockmayer, KindesraubS. 39 f. 206 Prägnant etwa Arzt, schwZStR 100 (1983) S. 267, der "lapidar" feststellt, daß "Geiselnahmen ... für die Geiseilebensgefährlich" sind. 199

200

A. Die Rechtsgüter

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terschiedlichen Gesichtspunkte zusammen, die die Situation des als Geisel genommenen Opfers insgesamt kennzeichnen, so kristallisieren sich drei Gefahrenstufen heraus207 : (I) Auf der ersten Gefahrenstufe, dem äußeren Vorgang der Herrschaftsbegründung, verdienen namentlich zwei Gefährlichkeitsaspekte Berücksichtigung. Zunächst darf unterstellt werden, daß das Opfer zu Beginn der Tat (regelmäßig208 ) einem schützenden, Verteidigungsmöglichkeiten eröffnenden (sozialen) Umfeld unterliegt und daß der Täter aus diesem Grund von vornherein ein ureigenes Interesse daran hat, besondere kriminelle Energie aufzuwenden, gewaltsam, ja rigoros vorzugehen. Der Erfolg des verbrecherischen Unterfangens erscheint ja zunächst noch recht unsicher. Wer ihn gewährleisten will, wird kaum davor zurückschrekken, drohende Widerstände im sprichwörtlichen Keime zu ersticken. Der zweite Aspekt betrifft die psychologische Dimension des dosierten Einsatzes drastischer Zwangsmittel, insbesondere im Falle der Anwendung brachialer Gewalt; der Täter kann das Frühstadium der Tat bewußt brutalisieren, und zwar zu dem Zweck, jegliche Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Absichten auszuräumen. Hier wie dort gilt: Die Rücksichtslosigkeit des Tätervorgehens begründet die naheliegende Möglichkeit erheblicher Verletzungen 209 sowie drastischer Schockreaktionen (etwa: Herzinfarkt infolge des vom Täter verbreiteten Schreckens210).

(2) Die zweite (zentrale) Gefahrenstufe, die Phase der Beherrschung des Opfers durch den Täter, knüpft insoweit an die vorgenannte erste Stufe an, als sie all jene Gefahren erfaßt, deren Grundlage die Lösung des Opfers vom schützenden beziehungsweise unterstützenden Einfluß hilfsbereiter Dritter ist. So steht zu befürchten, daß etwaige Verletzungen oder Gebrechen des Opfers nicht adäquat behandelt werden können, weil dem Täter die hierfür erforderlichen medizinischen und I oder pharmazeutischen Kenntnisse und I oder Mittel fehlen. Einen weiteren bedeutsamen Risikofaktor verkörpert der auf dem Opfer lastende psychische Druck; hierher gehört insbesondere die Angst vor der Realisierung der Drohung. Dieser Druck ist naturgemäß von Anfang an sehr hoch. Er kann überdies mit der Art und Weise der

207 Zum folgenden s. auch Arzt, schwZStR 100 (1983) S. 267 f.; dens./Weber, BT 3 Rdn. 367; Backmann, JuS 1977 S. 446; Bohlinger, JZ 1972 S. 231 f., 233; Renzikowski, JZ 1994 S. 496; dens., StV 1999 S. 648; zu den "spezifischen" Risiken der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1 s. auch die u. S. 108 in Fn. 212 f. Genannten. 2os Zu denkbaren Ausnahmen S. 247 ff. 209 Vgl. Wulf, in: Prot. 6/49 S. 1555. - Die vorsätzliche Tötung des Opfers im Zuge der Herrschaftsbegründung stellt kein Sichbemächtigen dar (u. S. 254 f.). Die Gefahr einer solchen Tötung hat daher vorliegend außer Betracht zu bleiben. 21o Vgl. Diemer-Nicolaus, in: Prot. 6/50 S. 1574; ferner Wulf, in: Prot. 6/50 S. 1574; dens., in: Prot. 6/51 S. 1589; zur Anwendbarkeit des§ 224 Abs. 1 Nr. 5 auf den Fall der Bedrohung des Opfers mit einer (scheinbar) geladenen Waffe vgl. BGH, NStZ 1986, 166, 166; Horn, in: SK § 224 Rdn. 30; Schroeder; in: Maurach, BT § 9 Rdn. 17; Stree, in: Schönke/Schröder § 223a Rdn. 12; Tröndle/Fischer § 224 Rdn. 12; Wessels/Hettinger, BT 1 Rdn. 283.

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2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1

Unterbringung (etwa: kalter und dunkler Keller, Verschlag, Schrank, Kiste, Pfeiler einer Autobahnbrücke, Kofferraum eines PKW, ständige Anwesenheit des bewaffneten Täters, Fesselung und Knebelung) sowie namentlich mit der Dauer der Tat (etwa: Angst vor irrationalen Überreaktionen des Taters, der seinerseits, das sollte nicht übersehen werden, unter starkem Streß steht) wachsen. Schließlich besteht die Gefahr, daß der Tater das Opfer vorsätzlich tötet oder körperlich schwer verletzt, sei es im Wege der Realisierung seiner Drohungen, sei es, um mit dem Opfer einen gefährlichen Zeugen aus dem Weg zu räumen 211 . (3) Die dritte Stufe umschreibt die sogenannten Eskalationsgefahren, mithin jene Gefahren, die außerhalb des ursprünglich gefaßten oder nachträglich modifizierten Tatplans angesiedelt sind. Ich denke insoweit namentlich an den Fall, daß das Opfer versucht zu fliehen oder daß ein Dritter, insbesondere die Polizeibehörde, versucht, dem Opfer zur Flucht zu verhelfen. Ein derartiges Verhalten kann aus zwei Gründen gefährlich sein. Einerseits drohen unüberlegte und unverhältnismäßige Gegenmaßnahmen des Täters (etwa: "Exekution" des Opfers als Strafsanktion). Andererseits ist es möglich, daß das Opfer auf der Flucht oder im Zuge der Befreiungsaktion Verletzungen erleidet, sei es durch einen Unfall (etwa: fehlgehender Schuß des die Befreiung unternehmenden Dritten212), sei es durch ein Versehen (etwa: Schuß auf das fälschlich als Täter identifizierte Opfer des Gewaltverhältnisses213). Ich fasse zusammen: Es ist anzunehmen, daß der Tatbestand gegen erpresserischen Kindesraub auf die Erfassung eines Sachverhalttyps ausgerichtet war, der sich durch ein außerordentlich hohes Gefährdungspotential auszeichnete, und daß dieses Gefahrdungspotential grundsätzlich auch den heute von den§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I erfaßten Fallgestaltungen innewohnt. Damit ist der Boden für die materielle Fundierung weitgehend geebnet. Es verbleibt lediglich ein Bedenken. Die 211

Vgl. BGH, NStZ 1993, 39, 39.

212 Zur Anwendbarkeit der §§ 239a Abs. 3, 239b Abs. 2 auf einen solchen Fall s. BGHSt

33, 322, 324 f.; Eser, in: Schönke/Schröder § 239a Rdn. 30, § 239b Rdn. 19; H. Fischer, NStZ 1986 S. 314; Geppert, in: JK § 239a K. 1; Gössel, BT 1 § 22 Rdn. 25; Horn, in: SK § 239a Rdn. 28, § 239b Rdn. 11; Krey, BT 2 Rdn. 329; Küpper, NStZ 1986 S. 117; dens., BT S. 53; Lackner/ Kühl§ 239a Rdn. 9, § 239b Rdn. 3; Laubenthal, Jura 1989 S. 102; Otto, BT § 29 Rdn. 13; Schäfer, in: LK § 239a Rdn. 19, § 239b Rdn. 9; Schroeder, in: Maurach, BT § 15 Rdn. 29; Sowada, Jura 1994 S. 650; Trändie I Fischer § 239b Rdn. 6, § 239a Rdn. 9; Wessels/ Hettinger, BT 1 Rdn. 460 f. ; Wolter, JR 1986 S. 465 ff. ; Zöller, JA 2000 S. 481 ; ebenso heute Rengier, BT 2 § 24 Rdn. 28; enger ders., Erfolgsqualifizierte Delikte S. 186 ff. 213 Zur Anwendbarkeit der §§ 239a Abs. 3, 239b Abs. 2 auf einen solchen Fall s. Eser, in: Schönke/Schröder § 239a Rdn. 30, § 239b Rdn. 19; H. Fischer, NStZ 1986 S. 314; Geppert, in: JK § 239a K. 1; Schroeder, in: Maurach, BT § 15 Rdn. 29; Wolter, JR 1986 S. 465 ff.; wohl auch Sowada, Jura 1994 S. 651; ferner Laubenthal, Jura 1989 S. 102; nicht ganz klar Lackner/ Kühl§ 239a Rdn. 9, § 239b Rdn. 3; enger für den Fall, daß der Dritte keine Kenntnis von der Geiselnahme hat BGHSt 33, 322, 325; Gössel, BT 1 § 22 Rdn. 25; Küpper, NStZ 1986 S. ll7; ders., BT S. 53; Otto, BT § 29 Rdn. 14; Rengier, BT 2 § 24 Rdn. 28; Schäfer, in: LK § 239a Rdn. 19, § 239b Rdn. 9; Wessels/ Hettinger, BT 1 Rdn. 461; Zöller, JA 2000 S. 481 ; schließlich Rengier, Erfolgsqualifizierte Delikte S. 186 ff.

A. Die Rechtsgüter

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unterschiedlichen tatbestandliehen Ausgestaltungen der§§ 239a Abs. I 1936, 239a Abs. 1 1953, 165 Abs. 1 E 1962 einerseits und der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 andererseits könnten - so mag eingewandt werden - die deliktische Typizität des Kidnapping verwischt und zu einer Aufweichung des gesetzlich fixierten Tatbildes geführt haben. Die Erörterung dieser Frage hat sowohl krirninalstatistische als auch rechtsdogmatische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. (aa) Einwände gegen den Verweis auf das Absinken der statistischen Todeswahrscheinlichkeit von sehr hoch auf vergleichsweise gering Nach Angaben von Bohlinger, die auf einer beim BKA eingeholten Auskunft beruhen, ereigneten sich in der Bundesrepublik Deutschland im Zeitraum 05.1945 bis 05.1971 neun Fälle von erpresserischem Kindesraub. Von diesen neun Fällen endeten vier, also nahezu 50%, tödlich 214. Angesichts derartiger statistischer Daten kann nicht zweifelhaft sein, daß den§§ 239a Abs. 1 1936, 239a Abs. 1 1953 ein Unrechtssachverhalt zugrunde lag, dessen wesentliches Kennzeichen die hohe Gefährdung des Lebens des geraubten Kindes war. Mittlerweile dürften sich die Gewichte jedoch verschoben haben. Das Überleben des Opfers ist sicherlich nicht mehr die statistische Ausnahme, sondern eher die Regel. Tötungsquoten von annähernd 50% gehören der Vergangenheit an215 . Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Indem der historische Gesetzgeber § 239a Abs. 1 1953 durch die §§ 239a Abs. I 1971, 239b Abs. I 1971 ersetzte, verließ er nicht nur den leitbildhaften Tattyp des erpresserischen Kindesraubes. Er bezog auch beabsichtigt oder nicht - andere, in praxi weitaus häufiger vorkommende und damit tendenziell weniger gefährliche Unrechtssachverhalte in den Strafrechtsschutz mit ein. Der grundlegende Wandel, den das Delikt letztlich erfuhr, läßt sich am besten anhand der strafrechtlichen Beurteilung des "Bankraubs" beschreiben. Unter der Herrschaft der§§ 239a Abs. 1 1936, 239a Abs. 1 1953 wäre wohl niemand auf den Gedanken gekommen, den Täter allein deshalb wegen erpresserischen Kindesraubs zu bestrafen, weil er sich eines zufällig im Schalterraum anwesenden Kindes bemächtigte, um so den selbst unangreifbaren Kassierer zur Herausgabe des Bargeldes zu zwingen. Fälle dieser Art entsprachen einfach nicht dem Bild, das man sich vom Kidnapping gemacht hatte. Sie blieben wie selbstverständlich außen vor. Daß ein "Bankraub" formal-tatbestandlieh mehr sein kann als ein Raub oder eine räuberische Erpressung, wurde erst nach 1971 erkannt. Damit waren die Dämme freilich gebrochen. § 239a Abs. 1 1971 "mauserte" sich mehr und mehr zu einer besonderen Form der räuberischen Erpressung, der auch der "Bankräuber" unterfiel21 6. Ein Gespür für die Situation entwickelte man nicht. Als schließlich § 239a 214 Bohlinger, JZ 1972 S. 232. 215 Aussagen darüber, wie häufig Taten nach den §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zum Tod

des Opfers führen, erlaubt - so das BKA auf Anfrage - das vorhandene Datenmaterial nicht.

110

2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1

Abs. 1 die Alleinherrschaft des Drei-Personen-Verhältnisses beseitigte, schien der letzte Schritt in Richtung einer Entmaterialisierung des Delikts getan. Der Erfassung des "Bankraubs" im Zwei-Personen-Verhältnis stand von nun an nichts mehr entgegen 217 • Das Absinken der statistischen Todeswahrscheinlichkeit von sehr hoch(§§ 239a Abs. 1 1936, 239a Abs. 1 1953) auf vergleichsweise gering(§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1) erlaubt grundsätzlich zwei Schlußfolgerungen. Es könnte einerseits ein Beleg dafür sein, daß die hier in den Vordergrund gerückte Gefährlichkeit der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 nicht, zumindest nicht in dem behaupteten Ausmaß, existiert. Es könnte aber auch den Ausgangspunkt einer teleologischen Reduktion, einer Beschränkung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 auf hinreichend gefahrliehe Unrechtssachverhalte bilden. Meines Erachtens verdient die zuletzt genannte Argumentation Zustimmung, und zwar aus Gründen, auf die ich später näher eingehen will 218 . An dieser Stelle sei lediglich darauf hingewiesen, daß unter den hier verwendeten Gefahrenbegriff nicht nur die Lebens-, sondern auch die Leibesgefahr fällt. Der Verweis auf das verringerte Todesrisiko der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 ist so gesehen wenig aussagekräftig. (bb) Einwände gegen den Verweis auf die Einfügung des Zwei-Personen-Verhältnisses Unter der Herrschaft der§§ 239a Abs. 1 1971, 239b Abs. 11971 wurde die Ansicht vertreten, daß der erpresserische Menschenraub I die Geiselnahme gerade deshalb gefährlich sei, weil das Opfer auf die für sein eigenes Schicksal so wichtige Erfüllung der Taterforderungen keinen Einfluß nehmen könne. Der Tater, der sich an einen Dritten wende, wisse um die geringe motivatorische Relevanz seiner Drohung und neige daher vergleichsweise früh dazu, das Opfer, gewissermaßen zur Bekräftigung seiner Forderungen, körperlich zu verletzen oder gar zu töten. Wesentliches Kennzeichen der Lage dessen, der zwar festgehalten, aber nicht erpreßt/ genötigt werde, sei die Verdammnis zur Passivität, das Angewiesensein auf eine außenstehende, unter Umständen völlig fremde Person219. 216 Vgl. BGHSt 25, 386, 386; BGH, Urt. v. 02. 05. 1984-2 StR 80/84 S. 4; BGH, NStZ 1986, 166, 166; BGH, NStE § 239a Nr. 3 S. 1; zu einer (bereits erwähnten, o. S. 47) Besonderheit BGHR § 239a Abs. 1 Ausnutzen 1 S. 1; unverständlich BGHSt 26, 24, 28 f. 217 Bezeichnend BGH, NStZ 1993, 39, 39, wo es freilich nicht um einen "Bankraub" ging; zur späteren Zurückhaltung im Zwei-Personen-Verhältnis BGHR § 239a Konkurrenzen 2 S. 1; § 239a Abs. 1 Konkurrenzen 2 S. 1; BGH, NStZ 1996, 277, 278; bemerkenswert schließlich BGH, NStE § 239a Nr. 4 S. 2. 21s U. S. 201 ff., 279 ff. 219 Arzt, schwZStR 100 (1983) S. 263; ders./Weber, BT 3 Rdn. 367; nach Heinrich, NStZ 1997 S. 369 wird diese "an sich richtige Überlegung ... vom Gesetzgeber selbst durchbrochen, indem er die Zwei-Personen-Verhältnisse den Drei-Personen-Verhältnissen ausdrücklich gleichstellt"; gegen die besagte Differenzierung überhaupt (freilich: ohne nähere Begrün-

A. Die Rechtsgüter

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Träfe diese Ansicht zu, dann bräche die vorstehend entwickelte Schutzgutskonzeption in sich zusammen; denn die heutigen§§ 239a Abs. l, 239b Abs. 1 erfassen ihrem Wortlaut nach auch das Zwei-Personen-Verhältnis, also den Täter, der in der Absicht I mit dem Vorsatz handelt, das Opfer selbst zu erpressen I zu nötigen. Darf man die verschiedenen Personen-Konstellationen der§§ 239a Abs. l, 239b Abs. l aber tatsächlich derart ausdifferenzieren? Zeichneten sich die klassischen Drei-Personen-Verhältnisse tatsächlich gerade dadurch aus, daß das Opfer selbst aus dem eigentlichen Erpressungs- I Nötigungssachverhalt herausgehalten wurde? Einer entsprechenden Kritik ist voranzustellen, daß es in jedem Fall unzulässig wäre, die Zwei-Personen-Verhältnisse der§§ 239a Abs. l, 239b Abs. l praeter Iegern auf diejenigen "dreiecksähnlichen" Fallgestaltungen zu beschränken, in denen das Opfer die Forderungen des Täters nur mit Hilfe eines (selbst nicht erpreßten I genötigten) Dritten erfüllen kann 220. Denn - um lediglich ein Bedenken hervorzuheben - erhöhtes Unrecht liegt nicht bereits deshalb vor, weil der Täter dem Opfer neben der Preisgabe des Bargeldes den Abschluß eines Darlehensvertrages mit einer Bank abverlangt; § 239a Abs. l knüpft weder an dem Bargeldvorrat noch an der Kreditwürdigkeit des Erpressungsadressaten an221. Im übrigen ist auf die Struktur des Drei~Personen-Verhältnisses hinzuweisen. Danach geht es weniger um das Abhängigsein von dritter Seite als vielmehr um die Erpressung/Nötigung eines Dritten unter Verweis auf die Lage des Opfers. In den Worten des BGH: Es "muß die Vorstellung des Täters darauf gerichtet sein, daß der Nötigungsadressat in Kenntnis der Lage des Opfers ... und gerade wegen dieser Lage die Handlung, Duldung oder Unterlassung vomimmt" 222 . Von "Dreiecksähnlichkeit" kann so gesehen im obigen Fall überhaupt keine Rede sein223 . Was die Kritik selbst anbelangt, so mag es naheliegen, den - vermeintlichen Eigenarten des Drei-Personen-Verhältnisses mittels einer am Nötigungsunrecht anknüpfenden Argumentation Rechnung zu tragen. Das Unrechtsminus, das das Zwei-Personen-Verhältnis im Integritätsbereich aufweise, lasse sich - so könnte argumentiert werden - durch ein entspreches nötigungsstrafrechtliches Plus ausgleichen224. Dem wäre jedoch zu widersprechen. Sicherlich gibt es einen Unterschied zwischen dem Erleben eigener Todesnähe und dem Erleben, daß ein quivis ex populo dem Tode nahe ist225 ; während das Opfer mit dem Tod bedroht wird, entsteht der Motivationsdruck beim Dritten durch die Drohung, den Tod des Opfers zu erdung) Hansen, GA 1974 S. 364; ferner Backmann, JuS 1977 S. 446; Renzikowski, JZ 1994 S. 496; ders., JR 1998 S. 127. 22o Vgl. etwa den Sachverhalt von BGH, NStZ 1993, 539, 539. 221 Hierzu auch u. S. 186 f. sowie passim. 222 BGH, NStZ-RR 1997, 100, 100. 223 Vgl. auch u. S. 184 f. 224 Zu dieser Überlegung BT-Drucks. ll I 2834 S. 9; ferner Backmann, JuS 1977 S. 446; Graul, Unmöglicher ZustandS. 353 f., 363; Renzikowski, JZ 1994 S. 496 f. 225 Jakobs, JR 1987 S. 341.

2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. I

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leben, ja ihn - bei Verweigerung - gewissermaßen mitzuverursachen 226 . Unterscheidungen in der Sache sind damit aber nicht verbunden. Die besagte psychologische Differenz spielt im Nötigungsstrafrecht keine Rolle227 . Um so weniger kann sie die Auslegung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 beeinflussen. Davon abgesehen wurde bereits festgestellt, daß die Deutung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 als Delikte zum Schutz der Willensfreiheit des zu Erpressenden I zu Nötigenden fehlgeht. Diese Feststellung betrifft (selbstverständlich) nicht nur das Drei-, sondern auch das Zwei-Personen-Verhältnis. Weitere Anhaltspunkte für eine unterschiedliche Behandlung der verschiedenen Personen-Konstellationen der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 gibt es nicht. Damit fragt sich, ob die eingangs erwähnte Ansicht zu den §§ 239a Abs. 1 1971, 239b Abs. 1 1971 Zustimmung verdient. Meines Erachtens wird man auch diese Frage verneinen müssen. Die Annahme, das Drei-Personen-Verhältnis sei strukturell gefährliche; als das Zwei-Personen-Verhältnis, macht nämlich allein auf der Grundlage einer Argumentation Sinn, deren Ausgangspunkt die den Drohinhalt betreffende objektive Realisierungsgefahr ist228 . Globale Betrachtungen, die ganze Bündel beachtenswerter Gefährlichkeitsaspekte in Rechnung stellen, führen zu einem prinzipiell anderen Ergebnis. Wer im übrigen (mit-) entscheidend darauf abhebt, daß die Angst des Opfers vor der Realisierung der Drohung in den Fällen der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 besonders groß ist, gelangt gar zu einem Unrechtsüberhang des Zwei-Personen-Verhältnisses; denn ein tatbestandsmäßiges Drei-Personen-Verhältnis liegt auch vor, wenn das Opfer keine Kenntnis von dem Inhalt der Drohung erhalten soll. (cc) Ergebnis Die hier vorgeschlagene Variante der Lebens- und Leibesschutztheorie ist weder unter kriminalstatistischen noch unter rechtsdogmatischen Gesichtspunkten bedenklich. (c) Ergebnis

Damit ergibt sich: Die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 schützen in erster Linie das Leben und den Leib des in der Gewalt des Taters befindlichen Opfers. e) Ergebnis

Taten nach den §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 tangieren die Freiheit sowohl des Opfers als auch des zu Erpressenden I zu Nötigenden. Sie gefährden das Leben 226 221 228

Zaczyk, JZ 1985 S. 1060; vgl. auch dens., JR 1999 S. 345 f. Ganz h. M., vgl. u. S. 294. Vgl. Arzt, schwZStR 100 (1983) S. 263 f .; dens. /Weber, BT 3 Rdn. 367.

B. Die Deliktsnatur

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und I oder den Leib des Opfers und stellen sich häufig als Angriff auf fremdes Vermögen dar. Im Vordergrund der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 steht eindeutig der Aspekt des Lebens- und Leibesschutzes; das folgt zwar nicht aus der Gefährlichkeit der vom Tater in Aussicht genommenen Drohung, wohl aber generell aus der deliktischen Typizität der in Frage stehenden Sachverhalte. Der Schutz anderweitiger Interessen ist lediglich sekundär bedeutsam beziehungsweise, was dahinstehen kann, Reflex.

B. Die Deliktsnatur der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 Aus meinen bisherigen Überlegungen folgt, daß die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 keine Rechtsgutsbeeinträchtigung im Sinne einer realen Schädigung des Handlungsobjekts voraussetzen. Das Gesetz knüpft weder an der Tötung des Opfers an, noch verlangt es dessen körperliche Verletzung. Strafgrund ist vielmehr die Gefährdung von Leben und Leib. Zu klären bleibt, welcher Art die somit verpönte Gefahr sein muß. Die allgemeine Umechtslehre stellt insofern zwei Entscheidungsmöglichkeiten zur Auswahl, die konkrete Gefahr sowie die abstrakte Gefährdung. Entsprechend zweigeteilt sind die einschlägigen Stellungnahmen zu den §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1. Die herrschende Ansicht erblickt in ihnen abstrakte Gefährdungsdelikte229. Dem widerspricht eine Minderheitsmeinung bezogen auf § 239b Abs. 1230• Es fragt sich, wem der Vorzug gebührt.

I. Die unabdingbare Gleichstellung der§§ 239a Abs.l, 239b Abs.l Geht man - wie ich - davon aus, daß die de lege lata vorzufindende Zielunterteilung neben der Sache liegt, so kann man nicht umhin, deliktsspezifische Einordnungsversuche zu verwerfen; die Deliktsnatur der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 muß einheitlich bestimmt werden.

229 Backmann, JuS 1977 S. 447,449 mit Fn. 58; Schroeder, in: Maurach, BT § 15 Rdn. 19; Renzikowski, JZ 1994 S. 496; ebenso für § 239a Abs. l ders., StV 1999 S. 648; Trändie I Fischer§ 239a Rdn. 4; ebenso für§ 239b Abs. 1 Heinrich, NStZ 1997 S. 368; Lackner I Kühl § 239b Rdn. 1; wohl auch Eser, in: Schönke/ Sehröder § 239b Rdn. 3; die "Zwittematur" der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 betont Arzt /Weber BT 3 Rdn. 367; ders., schwZStR 100 (1983) s. 267 f. 230 Schiifer, in: LK § 239b Rdn. 2, 3; Trändie I Fischer§ 239b Rdn. 1, 2.

8 Immel

114

2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1

II. Folgerungen Das konkrete Gefährdungsdelikt umschreibt ebenso wie das Verletzungsdelikt ein Erfolgsdelikt im Sinne der allgemeinen Unrechtslehre. Es beruht auf der Erwägung, daß ein normwidriges Verhalten für das geschützte Rechtsgut gefährlich sein kann und Strafe verdient, sofern eben jene Geflihrlichkeit im Einzelfall konkret zutage getreten ist. Die konkrete Gefahr verkörpert den tatbestandliehen (Gefahren-) Erfolg des konkreten Gefährdungsdelikts. Sie bedarf als solcher des positiven Nachweises 231 . (Konkrete) Gefahr ist ein regelwidriger Zustand, bei dem für ein sachkundiges Urteil nach den obwaltenden konkreten Umständen der Eintritt eines Schadens als wahrscheinlich gelten kann (objektiv-nachträgliche Prognose) 232. Von einem abstrakten Gefahrdungsdelikt spricht man demgegenüber, wenn die Strafwürdigkeit des verpönten Verhaltens auf seiner Gefährlichkeit für Rechtsgüter ungeachtet des Eintritts eines (Gefahren-) Erfolgs im Einzelfall beruht. Die Geflihrlichkeit der Tathandlung bildet lediglich das gesetzgebensehe Motiv für die Schaffung der Strafvorschrift Ein (vollwertiges) Tatbestandsmerkmal verkörpert sie nicht233 . An diesen Vorgaben sind die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu messen.

1. Grammatikalische Erwägungen

Nähert man sich den §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 aus grammatikalischer Sicht, so spricht viel für die Annahme, sie verkörperten abstrakte Gefährdungsdelikte. Denn einen ausdruckliehen Hinweis auf das Erfordernis eines (Gefahren-) Erfolges in Gestalt einer konkreten Gefahrdung des Opfers (vgl. etwa die §§ 221 Abs. 1, 306a Abs. 2, 306b Abs. 2 Nr. 1, 315 Abs. 1, 5, 6, 315a Abs. 1, 3, 315b Abs. 1, 4, 5, 315c Abs. I, 3) gibt das Gesetz nicht.

2. Historische Erwägungen

Die Genese der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I bestätigt diesen grammatikalischen Befund. Äußerungen im Sonderausschuß, die in Richtung eines konkreten Gefähr231 Statt vieler Roxin, AT 1 § 11 Rdn. 121; Weber, in: Baumann, AT§ 8 Rdn. 42; Wesseist Beulke, AT Rdn. 28. 232 Sehr str., vgl. etwa RGSt 10, 173, 175 f.; BGHSt 18, 271 , 272 ff.; 22, 341, 344 ff.; BGH, NStZ 1999, 32, 33; OLG Düsseldorf, NZV 1994, 406, 406 f. ; Roxin, AT I § ll Rdn. 122 ff.; Arzt/ Weber, BT 2 Rdn. 64 ff. 233 Statt vieler Jescheck/Weigend, AT§ 26 II, 2; Roxin, AT I § 11 Rdn. 127; Wesseist Beulke, AT Rdn. 29.

B. Die Deliktsnatur

115

dungsdelikts deuten234 , blieben nämlich vereinzelt. Man wird nicht sagen können, die Mehrheit habe sie übernommen oder auch nur übernehmen wollen235 •

3. Strukturelle Erwägungen

Die Aufführung beziehungsweise Nichtaufführung des Gefahrenerfordernisses im Text einer Strafvorschrift hat lediglich indizielle Bedeutung für die Wesensbestimmung. Strukturelle Erwägungen können sehr wohl ergeben, daß ein konkretes Gefahrdungsdelikt vorliegt, obgleich Merkmale wie "gefährdet" oder "Gefahr .. . herbeiführt" fehlen (vgl. vor allem§ 221 Abs. 1 a. F. 236; ferner§ 323a Abs. 1237 ). Auch gibt es abstrakte Gefährdungsdelikte, die ihrem Wortlaut nach auf eine das Opfer "gefährdende" Vorgehensweise beschränkt sind (so etwa § 224 Abs. 1 Nr. 5238 ). Zu klären bleibt, ob der obige grammatikalische Befund Rückhalt in strukturellen Erwägungen findet.

a) Der Verzicht auf das Erfordernis eines konkreten Gefahrenerfolges aus Gründen anderenfalls befürchteter Beweisnot (Backmann)

Backmann folgert jenen Rückhalt aus einer anderenfalls zu befürchtenden Beweisnot. In der Eigenart der Gefahrdung des Opfers gerade durch einen erpresserischen Menschenraub I eine Geiselnahme liege es, daß die Frage, ob die "Gefahr der Realisierung der Drohung" bestehe oder nicht, entscheidend vom "Inhalt des Täterwillens" abhänge und letztlich "nur aus diesem heraus" beantwortet werden könne. Die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 unterschieden sich insofern von dem Phä234 Nach Freiherr Ostman von der Leye, in: Prot. 6/49 S. 1555 rechtfertigte "nur . .. die konkrete Personengefährdung" die hohe Strafdrohung. 235 Vgl. insoweit Wulf, in: Prot. 6/49 S. 1550 (Handlungen, "die eine Lebensgefährdung für das Opfer mit sich bringen."), 1551 ("... das Opfer der ... Lebensgefahr ausgesetzt wird.";"... Fälle ... , in denen in aller Regel eine unmittelbare Lebensgefährdung des Opfers vorliegt . .. "), 1556 (". .. Verbrechen der Schwerstkrirninalität . . . , dem die Lebensgefährdung von vomherein inhärent sei."). 236 RGSt7,lll,ll2f.;BGHSt4,113,115; 21,44,45 f.;Eser, in: Schönke/Schröder§ 221 Rdn. 1, 8; Schroeder, in: Maurach, BT § 4 Rdn. 11. 237 Arzt/ Weber, BT 2 Rdn. 427; a.A. freilich die h. M., derzufolge § 323a Abs. 1 ein abstraktes Gefährdungsdelikt umschreibt, z. B. BGHSt 32, 48, 53; OLG Hamburg, JZ 1982, 160, 161; Cramer, in: Schönke/Schröder § 323a Rdn. 1; Krey, BT 1 Rdn. 797 f.; Lackner/ Kühl§ 323a Rdn. 1; Trönd1e/ Fischer§ 323a Rdn. 1, 9. 238 Zur Deutung des § 224 Abs. I Nr. 5 als abstraktes Gefährdungsdelikt BGHSt 36, 1, 9; BGH, NStZ-RR 1996,67, 67; Horn, in: SK § 224 Rdn. 3, 30; Tröndle /Fischer § 224 Rdn. 1, 12; a.A. Hirsch, in: LK § 223a Rdn. 3, 21; Stree, in: Schönke/Schröder § 223a Rdn. 12; nabestehend Küper, BT S. 59 f.

8*

116

2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1

notyp eines konkreten Gefährdungsdelikts, dessen Erfolgssachverhalt "auch oder ... ausschließlich durch objektive Faktoren konstituiert" werde. Da nun befürchtet werden müsse, daß dem Richter der Nachweis der subjektiven Gefährlichkeit des Taters im konkreten Fall durchaus häufig mißlinge (denkbare Verteidigungsstrategie des Angeklagten: die Berufung auf das Fehlen eines Realisierungswillens), erscheine es angezeigt, auf ein Erfolgsmerkmal in Gestalt einer konkreten Gefahr zu verzichten. Wer dem widerspreche, propagiere Haftungslücken, die um so bedenklicher anmuteten, als der Tater selbst es gewesen sei, der mit seiner Äußerung der Drohung, die er ja ernstgenommen haben wolle, eine gewisse Vermutung für seine Realisierungsabsicht geschaffen habe239 . Diese Argumentation verdient keine Zustimmung. Dem von Backmann erwogenen Schluß vom Inhalt der in Aussicht genommenen Drohung auf das Vorliegen einer konkreten Gefahr steht zwar nicht entgegen, daß tatbestandsmäßiger Drohinhalt de lege lata auch die mehr als einwöchige Freiheitsentziehung ist; eine noch nicht "gegenwärtige" Gefahr kann sehr wohl "konkret" im Sinne des Gesetzes sein240. Er fußt jedoch auf einer unzutreffenden Rechtsgutskonzeption; ich erinnere daran: Die Gefahr der Realisierung der in Aussicht genommenen Drohung kann die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I nicht entscheidend tragen. b) Die eigene Ansicht

Es können unterschiedliche Griinde sein, die den Rechtsanwender dazu veranlassen, ein Gefährdungsdelikt um das Erfordernis einer konkreten Gefahr zu ergänzen. Die geschriebenen Merkmale mögen einerseits einen Sachverhalt ergeben, der unrechtsindifferent ist; stellt sich das Verhalten des Taters aus der Sicht des Rechtsgutsobjekts nicht als erfahrungsgemäß-typisch (abstrakt) gefährlich dar, so erscheint es unangemessen, mit den Mitteln des Strafrechts zu reagieren. Andererseits mag die angedrohte Rechtsfolge zu streng sein, um dem im Gesetz beschriebenen Sachverhalt, der durchaus strafwürdiges Unrecht verkörpert, gerecht zu werden. Interpretiert man dementsprechend die wortlautwidrige Einordnung einer Norm als konkretes Gefährdungsdelikt als Instrumentarium sachangemessener Haftungsbeschränkung, so zeigt sich, daß sie vorliegend nicht in Betracht kommt. Denn die in Frage stehende Korrektur ist weder unter Unrechtsund Schuldgesichtspunkten noch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeil angezeigt. Die erste Argumentation (sei!.: ein Gefährdungsdelikt, dessen Handlungsmerkmal selbst unrechtsindifferent ist, bedarf eines Korrektivs in Gestalt eines Gefahrenerfordernisses) hilft im Rahmen der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I nicht weiter. Backmann, JuS 1977 S. 447,449 mit Fn. 58. Vgl. für ein Parallelproblem aus dem Themenkreis des § 221 Abs. I a. F. Küper; Jura 1994 S. 518 f. m. w. N. 239

240

B. Die Deliktsnatur

117

Das Sichbemächtigen in der Absicht/ mit dem Vorsatz weitergehender Nötigung mittels qualifizierter Drohmittel ist ja - das ergaben meine vorangegangenen Überlegungen - alles andere als (erfahrungsgemäß-typisch, abstrakt) ungefährlich. Immerhin diskutabel ist die zweite Argumentation (scil.: ein Gefahrdungsdelikt, dessen Handlungsmerkmal allein den vorgesehenen Strafrahmen nicht trägt, bedarf eines Korrektivs in Gestalt eines Gefahrenerfordemisses), zählt die von den §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 vorgesehene Mindeststrafe doch zu den schwersten des Strafgesetzbuches überhaupt241 . Der weitere Verlauf der Untersuchung wird jedoch zeigen, daß die somit erforderliche Restriktion auf ein anderes Merkmal gestützt werden muß als dem der konkreten Gefahr; das folgt intersystematisch aus den §§ 177 Abs. 3 Nr. 3, Abs. 4 Nr. 2 Lit. b, 250 Abs. 1 Nr. 1 Lit. c, Abs. 2 Nr. 3 Lit. b, 113 Abs. 2 S. 2 Nr. 2, 121 Abs. 3 S. 2 Nr. 3242• Schon hier soll bemerkt werden: Wenn diese Vorschriften die Herbeiführung desselben Gefahrenerfolges unterschiedlichen Strafdrohungen unterwerfen, so folgt das aus der formalen Stufenfolge der Nötigungsziele. Danach hängt der Unrechtsgehalt der Nötigungstat namentlich davon ab, welches Gewicht die Rechtsordnung der betroffenen Freiheitssphäre im Gesamtsystem des Rechtsgüterschutzes zuweist (vgl. etwa die unterschiedlichen Strafdrohungen der §§ 177 Abs. 1, 113 Abs. 1 Alt. 1)243 • Die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 dürfen demgegenüber nicht tatzielorientiert gedeutet werden. Ihr Schwergewicht liegt bei den vom Tater eingesetzten beziehungsweise einzusetzenden Nötigungsmitteln244. Diese Unterschiede im Strafgrund muß beachten, wer eine Erklärung dafür finden will, warum die Rechtsfolgen der§§ 177 Abs. 4 Nr. 2 Lit. b, 250 Abs. 2 Nr. 3 Lit. b denen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 entsprechen; es gilt, das Minus, das die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 im Zielbereich aufweisen, durch ein Plus gegenüber den §§ 177 Abs. 4 Nr. 2 Lit. b, 250 Abs. 2 Nr. 3 Lit. b im Integritätsbereich zu kompensieren. Diese Erkenntnis belegt, daß der Rekurs auf das Erfordernis einer konkreten Gefahr kaum der intersystematisch richtige Weg ist, um die Strenge der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu rechtfertigen. Es verbliebe ja selbst dann noch ein Unrechtsdefizit, das wettzumachen wäre. Die Korrektur hat also an einem anderen Ort anzusetzen.

c) Ergebnis

Auch die systematischen Erwägungen stützen den grammatikalischen Befund.

Hierzu bereits o. S. 60 mit Fn. 220. Ausführlich zur Lösung der damit angesprochenen Problematik um das Verhältnis der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten u. S. 201 ff. sowie passim. 243 0. S. 76, 92 f. sowie passim. 244 0. S. 93, 101, 106 ff.; ausführlich u. S. 136 f., 140 f., 217 sowie passim. 241

242

ll8

2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. I

4. Ergebnis Die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 setzen nicht voraus, daß der Täter das Opfer konkret gefährdet.

111. Ergebnis Sie umschreiben abstrakte Gefährdungsdelikte.

C. Abschließende Bemerkungen zur Konkretisierung des Begriffs "Leibes-"Gefahr Zum Abschluß erscheinen einige grundsätzliche Bemerkungen zur Frage nach der Schwere der zu fordernden Gefahr angezeigt245 . Sie können auf zwei mehr oder minder gesicherte Eckdaten bauen. Sicher ist zunächst, daß es nicht angeht, Leibesgefahren von vomherein außen vor zu lassen246 . Das ergibt sich schon aus dem Drohmittelkatalog des § 239b Abs. 1. Auf der anderen Seite wird man, wiederum ausgehend vom Drohmittelkatalog des § 239b Abs. 1 sowie gestützt auf die strengen Mindeststrafen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1, bloße Nebensächlichkeiten vernachlässigen müssen. Steht also lediglich die Gefahr unwesentlicher Verletzungen oder Gesundheitsschäden im Raum, so bleibt es bei einer Bestrafung des Taters wegen Erpressung/Nötigung. Probleme bereitet die Grenzziehung zwischen den Extremen, die Abschichtung der relevanten von den irrelevanten Leibesgefahren. Es bietet sich zunächst an, die in § 226 Abs. 1 umschriebenen Integritätsbeeinträchtigungen zum Maßstab zu nehmen. Für eine derartige Einschränkung könnte neben dem Drohmittelkatalog des § 239b Abs. 1 vor allem das rechtsstaatliche Bedürfnis einer möglichst konturenscharfen Abgrenzung sprechen (Bestimmtheitsgrundsatz). Der Verweis auf den Drohmittelkatalog des § 239b Abs. I erscheint nun freilich insofern wenig aussagekräftig, als dieser seit dem Artikelgesetz von 1989 auch die mehr als einwöchige Freiheitsentziehung umfaßt; die möglichen psycho-physischen Auswirkungen einer zeitlich gestreckten Haft und die qualifizerten Verletzungsfolgen des § 226 Abs. 1 differieren zu stark, als daß sich sagen ließe, letztere umschrieben angemessene Grenzen. Im übrigen erwähnte ich bereits, daß es nicht angeht, die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 auf die unmittelbar mit der Drohung zusammenhängenden Gefahren zu reduzieren oder auch nur zuzuschneiden. Das Be245 246

Zum Ausgangspunkt o. S. 109 f. sowie passim. Ebenso die o. S. 65 in Fn. 12,66 in Fn. 17 Genannten.

C. Konkretisierung des Begriffs "Leibes-"Gefahr

119

denken von seiten des Bestimmtheitsgrundsatzes dürfte mindestens heute nicht mehr schlagen. Denn während die Vorschriften des Besonderen Teils zur Konkretisierung des Erfordernisses (der Gefahr) gerade erheblicher Integritätsbeeinträchtigungen bis vor kurzem auf§ 224 Abs. 1 a. F. Bezug nahmen (vgl. etwa die§§ 113 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 a. F., 121 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 a. F., 250 Abs. 1 Nr. 3 a. F.), wird mittlerweile durchgängig auf das Kriterium der schweren Gesundheitsschädigung verwiesen (vgl. nur die§§ 113 Abs. 2 S. 2 Nr. 2, I2I Abs. 3 S. 2 Nr. 3, I25a S. 2 Nr. 3, I76a Abs. I Nr. 3, 177 Abs. 3 Nr. 3, I79 Abs. 4 Nr. 3, 22I Abs. I, 2 Nr. 2, 225 Abs. 3 Nr. I, 235 Abs. 4 Nr. 1, 239 Abs. 3 Nr. 2, 250 Abs. I Nr. I Lit. c, 306b Abs. 1; 308 Abs. 2, 309 Abs. 3, 3I2 Abs. 3, 3I3 Abs. 2 i. V. m. 308 Abs. 2, 3I4 Abs. 2 i. V. m. 308 Abs. 2, 315 Abs. 3 Nr. 2, 315b Abs. 3, 318 Abs. 3, 330 Abs. 2 Nr. I; ebenso zuvor schon die §§ 177 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 a. F., 179 Abs. 4 a. F. i. V. m. 177 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 a. F., 2I8 Abs. 2 S. 2 Nr. 2, 330 Abs. 2 S. 2 Nm. I, 2 a. F., 330a Abs. l ). Der hieraus resultierende Mangel an Konturenschärfe wird auf absehbare Zeit schwinden; die Rechtsprechung wird hinlänglich Gelegenheit erhalten, zu einschlägigen Auslegungsproblemen Stellung zu nehmen, und so - sukzessiv - für das erforderliche Mindestmaß an begrifflicher Klarheit sorgen. Es ist nun sicherlich zu bedauern, daß der Drohmittelkatalog des § 239b Abs. l im Zuge der Reformierung des Besonderen Teils nicht ebenfalls wie umschrieben materialisiert wurde. Daraus läßt sich jedoch keineswegs folgern, es sei ausgeschlossen, den Begriff der schweren Gesundheitsschädigung im Rahmen der §§ 239a Abs. I, 239b Abs. l zur Unterscheidung heranzuziehen. Tatsächlich entspricht gerade dies dem zentralen Bestreben des Reformgesetzgebers, den Schutz der körperlichen Unversehrtheit zu vervollkommnen 247. Die besseren Gründe sprechen demnach dafür, § 226 Abs. I als Grenzkriterium zu verwerfen und stattdessen allgemein auf das Vorliegen einer erheblichen Verletzungs- beziehungsweise Gesundheitsgefahr abzustellen. Als Leitlinie für die Auslegung können insoweit Rechtsprechung und Lehre zum Begriff der Gefahr der schweren Gesundheitschädigung dienen248 . Nachfolgend zu einigen Eckpunkten: ( l) Der Katalog des § 226 Abs. l ist nicht maßgeblich, mag es auch sinnvoll sein, sich an der in ihm fixierten Erheblichkeitsschwelle orientieren 249.

(2) Risiken, die ihrer Art nach erfahrungsgemäß in eine Lebensgefahr oder in die Gefahr einer schweren Körperverletzung im Sinne des § 226 Abs. I umschlagen können, sind in jedem Fall zu berücksichtigen250. Hierzu bereits o. S. 55 f. Mit unterschiedlichen Akzentuierungen Becker, in: Schlüchter, Reform S. 23, 79; Günther, in: SK § 250 Rdn. 28; Hörnle, Jura 1998 S. 173; Horn, in: SK § 177 Rdn. 31; Kreß, NJW 1998 S. 638; Krey, BT 1 Rdn. 132; ders., BT 2 Rdn. 200; Küper, BT S. 152 f.; Lackner/Kühl § 177 Rdn. 12, § 250 Rdn. 3; Otto, BT § 10 Rdn. 2; Sander/Hohmann, NStZ 1998 S. 275; Schroth, NJW 1998 S. 2865 f. ; Stein, in: Dencker, Reform S. 102 f. ; Tröndle / Fischer § 177 Rdn. 27, § 176a Rdn. 6; § 250 Rdn. 5, § 225 Rdn. 17, § 239 Rdn. 12; Wessels I Hettinger, BT 1 Rdn. 315; Wessels/ Hillenkamp, BT 2 Rdn. 347. 249 Statt vieler Wesseis t Hillenkamp, BT 2 Rdn. 347. 247 248

120

2. Kap.: Das Wesen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1

(3) Zu beachten ist ferner die Gefahr einer ernstlichen, nachhaltigen oder einschneidenden Beeinträchtigung der Gesundheit. So lehrt etwa Eser mit Blick auf § 218 Abs. 2 S. 2 Nr. 2, daß es auf das Vorliegen solcher Gefahren ankomme, welche "die Schwangere in ihrer physischen oder psychischen Stabilität oder in ihrer Arbeitsfähigkeit nachhaltig beeinträchtigen oder sie in eine qualvolle oder langwierige Krankheit stürzen könnten"251 . Schroth bemüht sich um Konkretisierungen, indem er entsprechende Unwertgruppen bildet. Eine schwere Gesundheitsschädigung soll zunächst dann vorliegen, wenn "intensivmedizinische Maßnahmen zur Lebensrettung notwendig" sind. Ferner sei der Fall hervorzuheben, daß es "umfangreiche(r) und langwierige(r) Rehabilitationsmaßnahmen zur Wiederherstellung der Gesundheit" bedürfe; dasselbe gelte, wenn der Täter "psychische Traumata" herbeigeführt habe, die das Opfer "langwierig behandlungsbedürftig" machten. Schließlich sei der Täter zu beachten, der "die Leistungsfähigkeit eines Opfers physisch oder psychisch erheblich und langwierig beeinträchtigt" habe. Der Begriff der Leistungsfähigkeit müsse dabei insoweit unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des Opfers ausgefüllt werden, als bestimmte Schäden bestimmte Personen besonders schwer träfen252 . (4) Konturenschärfere Eingrenzungen sind derzeit noch nicht möglich.

250 25 1 252

Vgl. Schroth, NJW 1998 S. 2865. Eser, in: Schönke/Schröder § 218 Rdn. 59.- Hervorhebung von mir. Schroth, NJW 1998 S. 2865.

3. Kapitel

Das Verhältnis der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten des Besonderen Teils Obgleich die§§ 239a Abs. I, 239b Abs. I nicht in erster Linie dem Schutz der Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit dienen 1, weisen sie enge Bezüge zu den Nötigungsdelikten des Besonderen Teils (vgl. vor allem die§§ 105 Abs. I, 106 Abs. 1, 107 Abs. 1, 108 Abs. 1, 113 Abs. 1 Alt. 1, 121 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1, 177 Abs. I, 240 Abs. I, 2, 249 Abs. I, 252, 253 Abs. I, 255) auf. Tatsächlich bedarf es -vereinfacht ausgedrückt- stets eines Sichbemächtigens in der Absicht/mit dem Vorsatz, einen anderen zu einem Handeln, Dulden oder Unterlassen zu nötigen. Der Fall, daß der Tater zwar die tatbestandliehen Voraussetzungen des erpresserischen Menschenraubs I der Geiselnahme erfüllt, nicht aber die eines (versuchten) Nötigungsdelikts, dürfte praktisch kaum vorkommen. Nun ist grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, wenn ein Straftatbestand Merkmale enthält, die so oder ähnlich auch in einem anderen Straftatbestand enthalten sind. Denn einerseits erscheint es weder wünschenswert noch auch nur widerspruchsfrei möglich, radikale Exklusivitätsdogmen in die Praxis umzusetzen 2 . Andererseits steht mit der Konkurrenzlehre ein Instrumentarium bereit, welches den Rechtsanwender in den Stand versetzt, der im Überschneidungsfalle drohenden doppelten Verwertung von Unrechtsaspekten Einhalt zu gebieten. Angesichts dessen kann es kaum verwundern, daß auch das im folgenden zu problematisierende Verhältnis der §§ 239a Abs. I, 239b Abs. I zu den Nötigungsdelikten des Besonderen Teils lange Zeit ausschließlich unter Zugrundelegung konkurrenzrechtlicher Prämissen beleuchtet wurde3 . Anlaß zur Neuorientierung gab erst die beachtliche4 Grundsatzentschei-

I Ü . S. 84 ff. z Lehrreich insoweit Puppe, Idealkonkurrenz S. 343 ff.; dies., IR 1984 S. 229 ff. 3 Die h. M. wendete § 52 an, so für das Drei-Personen-Verhältnis BGHSt 16, 316, 320; 23, 294, 295; BGH, GA 1975,53,53 f. ; BGH, NStZ 1986, 166, 166; Eser, in: Schönke/Schröder [24.] § 239a Rdn. 45, § 239b Rdn. 20; Lackner [19.] § 239a Rdn. 11, § 239b Rdn. 4; Schäfer, in: LK § 239a Rdn. 31, § 239b Rdn. 10; differenzierend Dreher!Tröndle [45.] § 239a Rdn. 13, § 239b Rdn. 7; eine Lösung aufTatbestandsebene erwog allein Blei, JA 1975 S. 163 ff.; ders., BT § 20 II, 1; für die h. M. zum Zwei-Personen-Verhältnis BGH, Beschl. v. 11. 07. 1991 - 1 StR 357/91 S. 10; BGH, NStZ 1993, 39, 39; Eser, in: Schönke /Schröder [24.] § 239a Rdn. 45, § 239b Rdn. 20; Lackner [19.] § 239a Rdn. 11, § 239b Rdn. 4; differenzierend Dreher I Tröndle [45.] § 239a Rdn. 13, § 239b Rdn. 7.

122

3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

dung BGHSt 39, 36. Ihr zufolge sind die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 in Fällen "typischer" Nötigung im Zwei-Personen-Verhältnis nicht, jedenfalls nicht vorbehaltlos anzuwenden; das ergebe sich aus ihrer Gesetzgebungsgeschichte sowie aus den systematischen Vorgaben des Nötigungsstrafrechts. Heute darf man sagen, daß die von BGHSt 39, 36 eingeforderte Zurückhaltung ein "mehr oder minder unumstößliches Dogma" darstellt5 . Es knüpft an Taten wie den folgenden an: Beispiel 1: T hält 0 eine (Schein-) Waffe vor6 , a) ... um 0 so zur Zahlung einer nicht geschuldeten Geldsumme zu zwingen (vgl. die §§ 249 Abs. l, 255). b) ... um 0 so zur Zahlung einer geschuldeten Geldsumme zu zwingen (vgl. § 240 Abs. l, 2). c) . .. um 0 so zur Duldung sexueller Handlungen (namentlich: des Geschlechtsverkehrs) zu zwingen (vgl. § 177 Abs. 1, Abs. 2 S. 2 Nr. 1). d) ... um 0 (hier: Regierung des Landes NordrheinWestfalen) so zu einem bestimmten Beschluß zu zwingen (vgl. § 105 Abs. 1 Nr. 3). e) ... um 0 (hier: Organisator eines Bürgerbegehrens nach § 26 Abs. 3 S. 1 nwGO) so zur Vernichtung der vorhandenen Unterschriftenlisten zu zwingen (vgl. § 107 Abs. 1). f) . .. um 0 (hier: Polizeibediensteter) so zur Unterlassung der Festnahme des X zu zwingen (vgl. § 113 Abs. 1 Alt. I). g) ... um 0 (hier: Justizvollzugsbediensteter) so zur Gewährung einer bestimmten Begünstigung zu zwingen (vgl. § 121 Abs. I Nr. I Alt. 1). Beispie12: T hält dem Bankkunden 0 eine (Schein-) Waffe vor6 , um den durch die Kassiererkabine gesicherten Bankangestellten D so zur Herausgabe des Bargeldes zu zwingen (vgl. die§§ 249 Abs. I, 255).

Problematisch und umstritten ist jeweils die Bestrafung des T wegen erpresserischen Menschenraubs I wegen Geiselnahme. Sie wird aus den genannten Gründen als mißliebig empfunden, was zu der Frage nach einem Ausweg de lege lata führt. Der Klärung bedarf dabei, ob es überhaupt zulässig ist, die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 gegenüber den Nötigungsdelikten des Besonderen Teils einzuschränken ("Ob") 7 , auf welchem Wege diese Einschränkung- gegebenenfalls -zu erfolgen hat ("Wornit") 8 sowie mittels welcher Kriterien diese Einschränkung- gegebenenfalls- zu erfolgen hat ("Wie") 9 •

4 Geerds, JR 1993 S. 424 (das Gericht "sich ... viel Mühe gemacht hat"); Geppert, in: JK §§ 239a, 239b K. 2 (in "fast schulmäßiger Weise"); TenckhoffI L. A. Baumann, JuS 1994 S. 836 ("fast lehrbuchmäßig"; in einer "sehr detaillierten Entscheidung"). 5 Müller-Dietz, JuS 1996 S. 115. 6 Das Vorhalten einer (Schein-) Waffe kann nach h. M. ein Sichbemächtigen i. S. d. §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 begründen, s. u. S. 251 ff. 7 Hierzu u. S. 123 ff. 8 Hierzu u. S. 147 ff. 9 Hierzu u. S. 163 ff.

A. Die Erforderlichkeit einer Hannonisierung ("Ob")

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A. Die Erforderlichkeit einer Harmonisierung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 mit den Nötigungsdelikten des Besonderen Teils ("Ob") Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten des Besonderen Teils läßt sich, glaubt man der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Lehre, nicht einheitlich, sondern nur fallgruppenspezifisch beurteilen. Die nachfolgende Darstellung folgt dieser Beurteilung. Es ist also zwischen Fällen mit Iediglichern Zwei-Personen-Bezug (Beispiel 1) und Fällen mit Drei-PersonenBezug (Beispiel 2) zu unterscheiden.

I. Das Zwei-Personen-Verhältnis Im Zwei-Personen-Verhältnis, dort also, wo das Opfer zugleich derjenige ist, den der Täter zu nötigen gedenkt, ist streitig, ob eine Strafbarkeit aus den §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 vermieden werden kann. Man nimmt dies zwar überwiegend an 10 • Die Gegenstimmen sindjedoch beachtlich 11 • 1. Grammatikalische Erwägungen

Bevor ich mich den Argumenten dieser beiden Ansichten zuwende, muß folgendes klargestellt werden: Die Tatbestandsfassungen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 bieten keinen, jedenfalls keinen hinreichenden Anhalt für eine wie auch immer geartete Zurückhaltung. Wer tatsächliche Herrschaft über einen anderen in der Absicht begründet, eben diesen anderen mittels qualifizierter Drohung zu nötigen, oder wer die von ihm begründete tatsächliche Herrschaft über einen anderen zu einer Nötigung eben dieses anderen mittels qualifizierter Drohung ausnutzt, hat den Tatbestand der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 nicht möglicherweise 12 , sondern 10 BGHSt 39, 36, 38 ff.; 39, 330, 331 ff.; 40, 90, 92; 40, 350, 359; BGH, NStZ 1993, 539, 539; BGH, NStZ 1994, 128, 129; Amelung/Cirener!Grüner, JuS 1995 S. 49 f. ; Geerds, JR 1993 S. 424 f.; Geppert, in: JK §§ 239a, 239b K. 4; Heinrich, NStZ 1997 S. 367 f.; Hell/'IUlnn, JuS 1996 S. 527 f.; Ingelfinger, JuS 1998 S. 533; Jung, JuS 1993 S. 778; Krey, BT 2 Rdn. 322, 330, 335a, 335g; Rengier, BT 2 § 24 Rdn. II ff., 22 f.; Wessets I Hillenkamp, BT 2 Rdn. 745; Tenckhoff/L. A. Baumann, JuS 1994 S. 838. II Vor allem Graul, Unmöglicher ZustandS. 365 f. sowie passim; ferner Renzikowski, JR 1998 S. 127; ders., StV 1999 S. 649; zurückhaltend auch BGH, NStZ 1994, 430, 432; Britz, JuS 1997 S. 150; Hauf NStZ 1995 S. 185; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 116. 12 Zumindest ungenau daher BGHSt 39, 36, 38 ("Anwendung finden könnten"); Amelung/Cirener!Grüner, JuS 1995 S. 49 ("scheint . . . zu gelten"); Geerds, JR 1993 S. 424 ("der .. . Wortlaut ... langen dürfte"); Geppen , in: JK §§ 239a, 239b K. 2 ("Anwendung finden könnten"); Heinrich, NStZ 1997 S. 366 ("dem Wortlaut her möglich"); Jung, JuS

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

sicher verwirklicht 13 . Ein Verzicht auf eine diesbezügliche Bestrafung in Fällen "typischer" Nötigung läßt sich daher bestenfalls historisch, systematisch oder teleologisch rechtfertigen. 2. Historische Erwägungen

Die herrschende Ansicht rekurriert zunächst auf die Entstehungsgeschichte des Zwei-Personen-Verhältnisses 14• Der Gesetzgeber des Jahres 1989 habe vornehmlich an eine Verbesserung des Schutzes vor terroristischer Gewaltkriminalität 15 , nicht aber daran gedacht, die §§ 239a Abs. 1 1971, 239b Abs. 1 1971 auf "alltägliche" Kriminalitätsformen wie die "typische" räuberische Erpressung oder die "typische" Vergewaltigung I sexuelle Nötigung auszuweiten. Drohende systematische Friktionen zwischen den§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 und den§§ 177 Abs. 1, 255 seien im Gesetzgebungsverfahren nicht erörtert worden 16. Man habe sie offensichtlich übersehen. Eine Gesamtschau des Quellenmaterials lasse vermuten, daß "die fast ausschließliche Konzentrierung auf politisch motivierte Gewaltkriminalität ... den Blick auf naheliegende, vom Wortlaut der Vorschriften gleichfalls umfaßte Anwendungsbereiche verstellt" habe 17. Es bedürfe daher "einer Einschränkung des vom Wortlaut zu weit gezogenen Anwendungsbereichs" 18 als einer "Art ,Reperaturmaßnahme'" 19, die die Dinge wieder zurechtrücke20, die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 auf das "Gemeinte" zurückführe 21 . An dieser herrschenden Ansicht ist richtig, daß es dem Gesetzgeber an Diskussionsbereitschaft und Problembewußtsein fehlte; so ist in den Protokollen des Rechtsausschusses nicht mehr auszumachen als eine Äußerung des Abgeordneten Stark, derzufolge die "wesentliche Änderung des § 239b Abs. 1" darin bestehe, 1993 S. 778 ("können ... vom Wortlaut her so verstanden werden, daß ... "); Krey, BT 2 Rdn. 335a ("ihr Wortlaut erlaubt"). 13 BGHSt 39, 330, 331; BGH, NStZ 1993, 39, 39; BGH, NStZ 1994,430, 430; Graul, Unmöglicher Zustand S. 365 sowie passim; Hauf, NStZ 1995 S. 185; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 114, 115; Tenckhoff/L. A. Baumann, JuS 1994 S. 838; Renzikowski, JZ 1994 S. 496; Schroeder, in: Maurach, BT § 15 Rdn. 26; Tröndle I Fischer § 239a Rdn. 6a. 14 BGHSt 39, 36, 38 ff., 40 f.; Geerds, JR 1993 S. 424; Heinrich, NStZ 1997 S. 367; Geppert, in: JK §§ 239a, 239b K. 2, 4, 6a; Jung, JuS 1993 S. 778; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 112, 115; Tenckhoff/ L. A. Baumann, JuS 1994 S. 837,836 f.; ferner Graul, Unmöglicher Zustand S. 345; Hauf, NStZ 1995 S. 185; Keller, JR 1994 S. 429; Renzikowski, JZ 1994 S. 449; kritisch Fahl, Jura 1996 S. 457. 15 Stellvertretend BGHSt 39, 36, 38 f. 16 Stellvertretend BGHSt 39, 36, 39 f. 17 BGHSt 39, 36, 40 f. 18 BGHSt 39, 36, 38. 19 Jung, JuS 1993 S. 778. 20 Geerds, JR 1993 S. 425. 21 Jung, JuS 1993 S. 778.

A. Die Erforderlichkeit einer Harmonisierung ("Ob")

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daß "das Bedrohen der Geisel selbst miteinbezogen" werde22 . Im übrigen sind jedoch Bedenken anzumelden. Die Erkenntnis, daß das Artikelgesetz von I989 insgesamt auf die Erfassung der sogenannten politisch motivierten Gewaltkriminalität ausgerichtet war23 , führt nicht weiter. Denn die Zwei-Personen-Verhältnisse lassen sich (wenn überhaupt, so) bestenfalls bedingt als Teil eines umfassenden kriminalpolitischen Gesamtkonzeptes begreifen 24. Die vom Gesetzgeber ins Auge gefaßte "zunehmende Bereitschaft radikaler Gruppierungen, zur Durchsetzung ihrer auf demokratischem Wege nicht erreichbaren Ziele Gewalt anzuwenden"25, trägt zur Klärung des Inhalts der §§ 239a Abs. I, 239b Abs. I ebensowenig bei wie die allgemein beabsichtigte wirksamere "Bekämpfung gewalttätiger Ausschreitungen bei Demonstrationen und anderer friedensstörender Gewalttaten"26. Es trifft zwar zu, daß man sich zunächst auf terroristisch motivierte Taten konzentrierte; die einschlägigen Entwürfe fixierten etwa die Entführung eines Fabrikanten, um ihn zur Einstellung oder Entlassung von Arbeitnehmern zu zwingen27 , oder die Entführung eines Politikers, um ihm selbst ein bestimmtes Verhalten abzuringen28 . Daneben wurde der Blick aber auch in andere Richtungen gelenkt29 . Im übrigen ist der Gesetzgeber sicher nicht verpflichtet, "alle Fallgruppen, die er regeln will, in den Begründungen der Entwürfe anzuführen. Die Beispiele können daher nur ein Indiz für den Willen darstellen" 30. Was bleibt, ist ein Hinweis auf den genetischen Gesamtzusammenhang, nämlich darauf, daß schon im Sonderausschuß der Verdacht geäußert wurde, die Geiselnahme umschreibe einen "politischen Tatbestand". Die Schöpfer des § 239b Abs. I I97I wiesen diesen Verdacht von sich31 . Die herrschende Ansicht ist aber noch aus einem weiteren Grund fragwürdig. Denn sie übersieht, daß politische I terroristische Handlungsantriebe auch anderenorts keine eo ipso unrechtssteigemde Wirkung entfalten. Ich wage in diesem Zusammenhang einen vergleichenden Blick auf die vorsätzliche Tötung als einer um es mit den Worten des historischen Gesetzgebers auszudrücken 32 - typischen Stark, in: Prot. 11 I 40 S. 10; zur Expertenanhörung s. bereits o. S. 50 mit Fn. 157. Vgl. o. S. 49. 24 0. S. 49 f. 2s BT-Drucks. 1112834 S. 7. 26 BT-Drucks. 11/2834 S. I. 27 BT-Drucks. 7/3661 S. 6; BT-Drucks. 714004 S. 8. 28 BT-Drucks. 7/3661 S. 6; BT-Drucks. 7 I 4004 S. 8; BT-Drucks. 1112834 S. 9, wo überdies darauf hingewiesen wird, daß die §§ 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 nicht ausreichten, um den "Unrechtsgehalt eines derartigen kriminellen Verhaltens" voll aufzufangen. 29 Vgl. o. S. 50, 55. 30 Tenckho.ff/L. A. Baumann, JuS 1994 S. 838; zustimmend Fahl, Jura 1996 S. 457; Hauf NStZ 1995 S. 185; Heinrich, NStZ 1997 S. 367; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 115. 31 Wulf, in: Prot. 6149 S. 1559, 1559 f.; ferner Diemer-Nicolaus, in: Prot. 6149 S. 1553; Freiherr Ostman von der Leye, in: Prot. 6 I 49 S. 1559; vgl. schließlich o. S. 39. 32 0. s. 49. 22 23

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. I zu den Nötigungsdelikten

Erscheinungsform terroristischer Gewaltkrirninalität33 . Wer aus einer politischen/ terroristischen Motivation heraus tötet, läßt sich weder notwendig noch typischerweise von einem sonst niedrigen Beweggrund im Sinne des § 211 Abs. 2 leiten. Er haftet mithin (vorbehaltlich des Eingreifens anderer Mordmerkmale) nur im Einzelfall verschärft; den Ausschlag gibt "das Verhältnis zwischen der Tat und dem vom Täter für sich persönlich erstrebten Zweck: die Tat ist im Zweifel verwerflich bei persönlichem Machtstreben, bei Beseitigung eines dem Täter persönlich verhaßten politischen Gegners; nicht verwerflich ist sie im Zweifel bei der vermeintlichen Wahrung allgemeiner Interessen, zumal wenn der Täter zur Selbstaufopferung bereit ist"34 . Geradezu klassische Beispiele eines niedrigen Beweggrundes stellen demgegenüber die finanzielle Bereicherung und sexuelle Befriedigung dar (vgl. § 211 Abs. 2: "aus Habgier"; "zur Befriedigung des Geschlechtstriebs"). Ich meine nun: Trägt das Handeln aus materieller Gier oder sexueller Lust im Tötungsstrafrecht regelmäßig eine Haftungsverschärfung, so kann es im Rahmen der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 nicht per se begünstigend ins Gewicht fallen, die politische I terroristische Motivation gleichsam überflügeln. Dies gilt um so mehr, als auch im Nötigungsstrafrecht zusehends darauf gedrängt wird, der Verfolgung honorabler, insbesondere politischer, Fernziele mit strafrechtlicher Zuriickhaltung zu begegnen35. Dementsprechend heißt es in den Protokollen des Sonderausschusses: Es be33 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei an folgende Taten der deutschen RAF erinnert: Tötung des Angehörigen der US-Armee Paul 0 . Bloomquist am 11. 05. 1972 (Der Spiegel 1972/22 S. 77 f.); der Angehörigen der US-Armee Clyde Bonner, Ronald Woodward und Charles Peck am 24. 05. 1972 (Der Spiegel1972/23 S. 24 ff.); des Präsidenten des KG Günter von Drenkmann am 10. 11. 1974 (Der Spiegel1974/47 S. 28 ff.); der Attaches Andreas von Mirbach und Heinz Hillegaan am 25. 04. 1975 (Der Spiegel1975/ 18 S. 23 ff.); des Generalbundesanwalts Siegfried Buback am 07. 04. 1977 (Der Spiegel 1977 I 17 S. 17 ff.); des Bankiers Jürgen Ponto am 30. 07. 1977 (Der Spiegel 1977/33 S. 21 ff.); des Managers Hanns-Martin Schleyer am 18. 10. 1977 (vor allem Der Spiegel 1977 I 44 S. 12 ff.); des Managers Ernst Zimmermann am 01. 02. 1985 (Der Spiegel 1985/6 S. 17 ff.); des Managers Karl-Heinz Beckurts am 09. 07. 1986 (Der Spiegel 1986/29 S. 17 ff.); des Ministerialdirektors Gerold von Braunmüht am 10. 10. 1986 (Der Spiegel 1986/43 S. 24 ff.); des Bankiers Alfred Herrhausen am 30. 11. 1989 (Der Spiegel 1989 I 49 S. 14 ff.); des Vorstandsvorsitzenden der Berliner Treuhand-Anstalt Detlef Karsten Rohwedder am 01. 04. 1991 (Der Spiegel 1991 I 15 S. 18 ff.). 34 Schroeder, in: Maurach, BT § 2 Rdn. 38; ebenso die h. M., etwa Eser, in: Schönke I Sehröder § 211 Rdn. 20; Horn, in: SK § 211 Rdn. 16; Zielke, JR 1991 S. 138 f.; ders. , JR 1992 S. 230 ff.; s. auch OCHSt 1, 95, 98 f.; Stock, SJZ 1947 Sp. 533 f.; offengelassen von OGH, NJW 1950, 434, 435; nicht ganz klar BGH, NStZ 1993, 341, 342; kritisch und in der Tendenz weiter Geilen, in: Festschrift für Sockelmann S. 640 ff.; politische/terroristische Handlungsantriebe in einem demokratischen Rechtsstaat grundsätzlich (Ausnahme: Art. 20 Abs. 4 GG) verwerfend Brocker, JR 1992 S. 13 f.; ders., NStZ 1994 S. 33 f.; Jähnke, in: LK § 211 Rdn. 29; Otto, BT § 4 Rdn. 16. 35 Für eine Berücksichtigung honorabler Fernziele im Rahmen des § 240 Abs. 2 etwa OLG Oldenburg, StV 1987, 489, 490; OLG Stuttgart, StV 1987, 538, 539; OLG Düsseldorf, MDR 1987,692, 693; OLG Zweibrücken, NJW 1988, 716, 717 f.; Eser, in: Schönke/Schröder § 240 Rdn. 29; Rengier, BT 2 § 23 Rdn. 65 ff.; vgl. auch Lackner I Kühl§ 240 Rdn. 18a; für eine rein strafzumessungsrechtliche Lösung BGHSt 35, 270, 283; BayObLG, NJW 1993, 212, 212 f.; Krey, BT 1 Rdn. 380b, 380a; Wessels/ Hettinger, BT 1 Rdn. 423.

A. Die Erforderlichkeit einer Harrnonisierung ("Ob")

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stehe "die Gefahr ... , daß § 239b Abs. 1 als ein auf politische Fälle zugeschnittener Tatbestand verstanden werde mit der weiteren Folge, daß sich die Meinung breitmache, eine Tat im Sinne des § 239b Abs. 1 sei ein Kavaliersdelikt" 36. Und weiter: Es "erfasse dieser Tatbestand ... auch politische Fälle, und das sei ... mit Anlaß dafür, besonders darauf bedacht zu sein, daß dieser Tatbestand nicht zu weit gerate" 37 • Dem ist von meiner Seite nichts hinzuzufügen.

3. Strukturelle Erwägungen

Vor diesem Hintergrund bilden zu Recht strukturelle Erwägungen den Schwerpunkt der Argumentation der herrschenden Meinung.

a) Die systematischen Friktionen zwischen den§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 und den Nötigungsdelikten des Besonderen Teils

Daß eine vorbehaltlose Anwendung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 in Fällen mit Zwei-Personen-Bezug zu systematischen Kollisionen mit dem Nötigungsstrafrecht führen kann, ist in Rechtsprechung und Lehre lange Zeit übersehen worden. Erst im Jahre 1992 wurde das Problem erfaßt, insoweit freilich mit beachtenswerter Klarheit. Die Grunderkenntnis von BGHSt 39, 36 ist banal und richtungsweisend zugleich: Wendete man die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 auf Fälle an, in denen der Nötigungserfolg im unmittelbaren Gewaltzusammenhang des Sichbemächtigens eintritt, so führte dies dazu, daß jedenfalls der weit überwiegende Teil aller Vergewaltigungen gleichzeitig als Geiselnahme, ein großer Teil "typischer" räuberischer Erpressungen zugleich als erpresserischer Menschenraub zu beurteilen wäre; denn in der Regel bemächtigt sich der Täter des Opfers, indem er es durch körperliche Kraft oder durch Bedrohung mit einer Waffe in seine Gewalt bringt. Strafrechtliche Sachverhalte, welche seitjeher zum "Kembestand des materiellen Strafrechts" zählen, würden damit "gleichsam in die zweite Reihe geriickt". Die tateinheitliche Verurteilung wegen räuberischer Erpressung I Vergewaltigung diente nur noch der Klarstellung des Umstands, daß der Täter sein Ziel auch tatsächlich erreicht hat. Der strafrechtliche Vorwurf würde in den kriminologisch gerade typischen Fällen räuberischer Erpressung oder Vergewaltigung auf Handlungen verschoben, welche jene Delikte nach der Zielsetzung des Täters erst ermöglichen sollten. Im Ergebnis verlagerte sich "das tatbestandliehe Unrecht mit seinem Schwerpunkt von einer speziellen auf eine andersartige, allgemeinere Strafnorm ... , die mit ihrer außerge36 Freiherr Ostman von der Leye, in: Prot. 6/49 S. 1559 mit Bezug auf§ 239b Abs. 1 1971. 37 Wulf, in: Prot. 6/49 S. 1560 mit Bezug auf§ 239b Abs. 11971.

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

wöhnlich hohen Mindeststrafe für eine völlig andere Gruppe von Straftaten ... geschaffen worden" ist38 . Die so zunächst nur allgemein umschriebenen systematischen Verschiebungen manifestieren sich namentlich dort, wo es um die Festlegung des Vollendungszeitpunkts (Vorverlegungsproblematik) sowie um die Wahl des anzuwendenden Strafrahmens (Strafrahmenproblematik) geht. aa) Die Vorverlegungsproblematik Die Vorverlegungsproblematik39 beruht auf der unterschiedlichen Bestimmung der Erfolgszeitpunkte in den §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 auf der einen und den Nötigungsdelikten des Besonderen Teils auf der anderen Seite. Von einer formell vollendeten Nötigung kann grundsätzlich erst dann die Rede sein, wenn der Nötigungsadressat damit begonnen hat, nach dem Willen des Täters zu reagieren. Bis dahin ist bestenfalls Versuch gegeben40. Die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 sind BGHSt 39, 36, 41 f. Zu ihr BGHSt 39, 36, 42; 39, 330, 334; BritzlMüller-Dietz, Jura 1997 S. 317 f. mit Fn. 72 f.; Graul, Unmöglicher Zustand S. 356; Hauf, NStZ 1995 S. 185; Heinrich, NStZ 1997 S. 367 f.; Hel/mann, JuS 1996 S. 527; Müller-Dietz, JuS 1996 S. ll5; Rengier, BT 2 § 24 Rdn. ll, 22; Renzikowski, JZ 1994 S. 497. 40 Zu den Einzelheiten statt vieler BGH bei Holtz, MDR 1979, 180, 180 f.; BGH, NJW 1997, 1082, 1082 f.; Eser, in: Schönkel Sehröder § 240 Rdn. 37, 13, l4a; Schäfer, in: LK § 240 Rdn. 58; Tröndle I Fischer § 240 Rdn. 32. - Dieser Grundsatz erfährt freilich Ausnahmen, und zwar in beiden Richtungen. Nach hinten verlegt ist der Vollendungszeitpunkt z. B. bei den Sexual-, Raub- und Erpressungsdelikten. So bedarf es bei § 177 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 Alt. 2 eines Eindringens in den Körper des Opfers (BGH, NStZ 2000, 27, 27 f.; Horn, in: SK § 177 Rdn. 26). § 177 Abs. 1 verlangt eine vollendete sexuelle Handlung, also eine Berührung des Körpers des Opfers mit Sexualbezug (vgl. BGH, Urt. v. 31. 10. 1984-2 StR 3921 84 S. 4 f.; BGH, NStZ 1993,78,79 f.; BGH, NStZ-RR 1997, 292, 292; Horn, in: SK § 177 Rdn. 4; Laufhütte, in: LK § 178 Rdn. 6; Lenckner, in: SchönkeiSchröder § 178 Rdn. 5; Tröndlel Fischer§ 177 Rdn. 16 f.). § 249 Abs. 1 knüpft die tatbestandliehe Vollendung an die Vollendung der Wegnahme (BGHSt 21, 78, 79; 26, 24, 25 f.; Eser, in: SchönkeiSchröder § 249 Rdn. 10, § 242 Rdn. 67; Herdegen, in: LK § 249 Rdn. 19; Lackner I Kühl§ 249 Rdn. 6), während die §§ 253 Abs. 1, 255 den Eintritt des Vermögensnachteils entscheiden lassen (BGHSt 19,342, 344; Eser, in: SchönkeiSchröder § 253 Rdn. 23 bis 27, § 255 Rdn. I; Herdegen, in: LK § 253 Rdn. 28, § 255 Rdn. l ; Lackner I Kühl § 253 Rdn. ll, § 255 Rdn. l ). Eine Vorverlegung des Strafrechtsschutzes gegenüber der Regel des § 240 Abs. 1, 2 bewirken die §§ 252, ll3 Abs. l Alt. l, 121 Abs. 1 Nr. l Alt. l. § 252 ist ungeachtet des Eintritts eines Nötigungserfolges bereits mit der Anwendung des Nötigungsmittels vollendet (BGH, NJW 1968, 2386, 2387; Eser; in: SchönkeiSchröder § 252 Rdn. 8; Herdegen, in: LK § 252 Rdn. 20; TröndleiFischer § 252 Rdn. 10). Ähnlich liegen die Dinge bei§ 113 Abs. 1 Alt. 1, bedarf es insoweit doch lediglich eines durch Drohung oder unter Anwendung von Gewalt geleisteten Widerstandes, mithin eines aktiv tätigen, gegen die Person des Vollstreckungsbeamten gerichteten Verhaltens, das nach der Vorstellung des Taters dazu geeignet ist, die Vollziehung der Diensthandlung zu verhindem oder zu erschweren (vgl. nur OLG Koblenz, NStE § ll3 Nr. 2 S. l f.; v. Bubnoff, in: LK § ll3 Rdn. 62a, 13, l3a; Eser, in: SchönkeiSchröder § ll3 Rdn. 49, 40; Lacknerl Kühl§ ll3 Rdn. 5). Entsprechendes gilt für§ 121 Abs. 1 Nr. 1 38

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A. Die Erforderlichkeit einer Harmonisierung ("Ob")

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demgegenüber durchweg subjektiv-lastig ausgestaltet, verlangen zur Vollendung also nicht mehr als ein tatbestandsmäßiges Handeln (sei!.: ein Sichbemächtigenl Ausnutzen) mit Blick auf den zu bewirkenden Nötigungserfolg41 . Es liegt auf der Hand: Da eine versuchte Nötigung ohne weiteres einen vollendeten erpresserischen Menschenraub I eine vollendete Geiselnahme und eine Vorbereitungshandlung zur Nötigung immerhin einen versuchten erpresserischen Menschenraub I eine versuchte Geiselnahme darstellen kann, steht zu befürchten, daß dem Täter unter Rekurs auf die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 Vergünstigungen genommen werden, die ihm ausweislich der gesetzlichen Wertungen des Nötigungsstrafrechts zustehen. So ist die Vorbereitung einer Nötigung de lege lata grundsätzlich straflos. Der strafbare (vgl. zunächst die §§ 106 Abs. 2, 107 Abs. 2, 108 Abs. 2, 121 Abs. 2, 240 Abs. 3, 253 Abs. 3; sodann die §§ 12 Abs. 1, 3, 23 Abs. 1) Nötigungsversuch eröffnet zumindest die Möglichkeit einer Strafmilderung (§ 23 Abs. 2); die formelle Vollendung versperrt diesen Weg. Schließlich schwindet die Bedeutung des allgemeinen Rücktrittsprivilegs (§ 24 Abs. 1). Denn der Rücktritt vom vollendeten Delikt rechtfertigt keine Nachsicht; und die dem Rechnung tragenden besonderen Rücktrittsvorschriften der §§ 239a Abs. 4, 239b Abs. 2 können dem Täter schon deshalb nicht zum Trost gereichen, weil sie im Ergebnis auf eine lediglich fakultative Strafmilderung nach Maßgabe des durchaus strengen § 49 Abs. 1 hinauslaufen. bb) Die Strafrahmenproblematik Was die Strafrahmenprob1ematik42 angeht, so ist daran zu erinnern, daß die Vorschriften gegen erpresserischen Menschenraub I gegen Geiselnahme Rechtsfolgeanordnungen enthalten, die zu den strengsten des Strafgesetzbuches überhaupt zählen43. Ihre Regelstrafrahmen setzen mit einer Untergrenze von fünf Jahren Freiheitsstrafe dasselbe Strafminimum fest, das das Gesetz für die Tötung eines Menschen vorsieht (vgl. § 212 Abs. 1). Selbst der minder schwere Fall ist an ein theoretisches Mindestmaß von einem Jahr Freiheitsstrafe gebunden. Der Richter hat sich bei der Strafzumessung stets, also unabhängig davon, ob er den Regelstrafrahmen oder den Strafrahmen für minder schwere Fälle wählt, an einem Höchstmaß von fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe (vgl. § 38 Abs. 2) zu orientieren (vgl. Alt. 1 (so die wohl h. M., etwa Eser. in: Schönke/Schröder § 121 Rdn. 18, 8; Horn, in: SK § 121 Rdn. 8; für eine Anlehnung an § 240 Abs. 1, 2 aber v. Bubnoff, in: LK § 121 Rdn. 40, 28; Lackner I Kühl§ 121 Rdn. 7). 41 Zum Vollendungszeitpunkt der Absichtsmodalitäten u. S. 321; zum Vollendungszeitpunkt der Ausnutzungsmodalitäten u. ebda. 42 Zu ihr BGHSt 39, 36, 42; 39, 330, 333; Britz/ Müller-Dietz, Jura 1997 S. 318 mit Fn. 74; Graul, Unmöglicher ZustandS. 355 f., 359, 352; Heinrich, NStZ 1997 S. 367; Hellmann, JuS 1996 S. 527; Lesch, JA 1995 S. 450; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 115; Rengier. BT 2 § 24 Rdn. 11, 22; Renzikowski, JZ 1994 S. 497 f.; Wesseist Hettinger. BT 1 Rdn. 458. 43 0. S. 60 mit Fn. 220. 9 Imme!

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. I zu den Nötigungsdelikten

demgegenüber§ 213). Verglichen mit diesen Vorgaben wird man das (differenzierende) Strafrahmengefüge des Nötigungsstrafrechts, das von Geld- beziehungsweise kurzzeitiger Freiheitsstrafe bis zur längeren, kaum jedoch fünfzehnjährigen Freiheitsstrafe reicht, als eher moderat zu bezeichnen haben. Im einzelnen: Die vorbehaltlose Anwendung des § 239a Abs. 1 führt in den Fällen der §§ 25544, 249 Abs. 1 zu einer Anhebung der Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr auf fünf Jahre. Entsprechend strenger wird der minder schwere Fall bewertet; die §§ 255, 249 Abs. 2 tragen lediglich Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. § 250 Abs. 2 stimmt in seinem Strafrahmen zwar mit § 239a Abs. 1 überein. Indessen lassen sich Täter denken, die § 239a Abs. 1 verwirklichen, ohne zugleich unter § 250 Abs. 2 zu fallen. Davon abgesehen reicht § 250 Abs. 3 mit seinem Strafrahmen von einem Jahr Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe kaum an die Vorgaben des § 239a Abs. 2 heran. Noch problematischer gestaltet sich die Rechtslage bei der Geiselnahme. Die Strafrahmen der sexuellen Nötigung I Vergewaltigung wurden zwar denen des Raub- und Erpressungsrechts angeglichen; in besonders schweren beziehungsweise qualifizierten Fällen sind nunmehr Freiheitsstrafen von nicht unter zwei, drei und fünf Jahren möglich. Der Grundtatbestand sieht jedoch lediglich eine Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe vor, ganz abgesehen davon, daß minder schwere Fälle entsprechend dem Vorbild der §§ 255, 249 Abs. 2, 250 Abs. 3 bewertet werden. Außerhalb des Sexualstrafrechts finden sich grundsätzlich (Ausnahme: die §§ 252, 250 Abs. 1, 2, 345 , 105 Abs. 1, 2) nur Vergehenstatbestände, also ihrerseits nochmals erheblich mildere Strafvorschriften. In den durch die §§ 239b Abs. 1, 2, 239a Abs. 2 abgesteckten Bereich gelangen allein einige Sonderstrafrahmen für besonders schwere Fälle (vgl. die §§ 106 Abs. 3, 107 Abs. I Hs. 2, 108 Abs. I Hs. 2). Die Regelstrafrahmen sind durchweg günstiger. So reichen die Höchststrafen der§§ 106 Abs. 1, 107 Abs. 1 Hs. 1, 108 Abs. 1 Hs. 1, 121 Abs. I Nr. I Alt. 1 gerade einmal an die Mindeststrafe des § 239b Abs. 1 heran, erreichen die Höchststrafen der § § 113 Abs. 1 Alt. 1, 240 Abs. 1 noch nicht einmal diese. Den Untergrenzen geht jegliche Vergleichsbasis ab. Die §§ 106 Abs. 1, 121 Abs. I Nr. 1 Alt. 1 tragen Mindestfreiheitsstrafen von drei Monaten, die §§ 107 Abs. I Hs. 1, 108 Abs. 1 Hs. 1, 113 Abs. 1 Alt. 1, 240 Abs. 1 gar solche von einem Monat (vgl. § 38 Abs. 2) sowie- alternativ hierzu- Geldstrafen. b) Die Systemwidrigkeit der aufgezeigten Friktionen Es ist nach alledem kaum zweifelhaft, daß sich die strafrechtliche Beurteilung eines "typischen" Nötigungssachverhalts im Zwei-Personen-Verhältnis grundle44 Strafrahmenmäßige Friktionen mit § 253 Abs. I, 4 drohen nicht, vgl. u. S. 132 mit Fn. 50. 45 Insoweit gelten die Ausführungen zu § 239a Abs. I entsprechend.

A. Die Erforderlichkeil einer Harmonisierung ("Ob")

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gend zum Nachteil des Täters wandelt, wenn man die §§ 239a Abs. I, 239b Abs. I vorbehaltlos anwendet. Das muß freilich nicht schädlich sein, da der Täter, der neben dem Tatbestand des Nötigungsdelikts auch den Tatbestand des erpresserischen Menschenraubs I der Geiselnahme verwirklicht, erhöhte Schuld auf sich laden und daher strengere Strafe verdienen könnte. Damit gelange ich zu der Frage, inwieweit die umschriebenen Systemverschiebungen überhaupt relevant sind. BGHSt 39, 36 beantwortet sie dahingehend, daß es gelte, "erheblichen", "tiefgreifenden", "weitreichende(n)" Eingriffen der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1 in die Struktur des Nötigungsstrafrechts entgegenzutreten46• Welche Schlußfolgerungen sind hieraus zu ziehen? aa) Der tatzielorientierte Ansatz (von BGHSt 39, 36 und anderen) Es könnte naheliegen, die Lösung an dem vom Täter im Einzelfall erstrebten Ziel beziehungsweise an dem im Einzelfall in Betracht kommenden Nötigungsdelikt auszurichten. Die Frage nach der Erforderlichkeit einer Harmonisierung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. l mit den Nötigungsdelikten des Besonderen Teils ("Ob") ließe sich dann nicht mit einem schlichten "Ja!" oder "Nein!", sondern nur differenziert, eben fall- beziehungsweise tatbestandsspezifisch beantworten. Für eine derartige Differenzierung steht BGHSt 39, 3647 , für die Gegenansicht die mittlerweile wohl herrschende Meinung48 . Einen als erheblich zu bezeichnenden Eingriff in die Struktur des Nötigungsstrafrechts nimmt BGHSt 39, 36 immer dann an, wenn das zur Diskussion stehende Nötigungsdelikt auf die Erfassung eines kriminologischen Tattyps49 ausgerichtet ist, der zugleich die tatbestandliehen (im Sinne von: positiv festgeschriebenen) Voraussetzungen der §§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1 erfüllt. Das erscheint insoweit stimmig, als eine vorbehaltlose Anwendung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I in diesen Fällen zwangsläufig dazu führen muß, daß das Nötigungsdelikt seines eigentlichen sachlichen Gehalts enthoben wird und - als Folge hiervon - zu einer Hülse ohne Kern verkümmert. Wer dem entgegentreten will, kann in der Tat BGHSt 39, 36, 42. BGHSt 39, 36, 38 ff.; 39, 330, 332 ff.; 40, 90, 92 f. ; BGH, NStZ 1994, 284, 284; aus dem Schrifttum Keller, JR 1994 S. 429.- Die selbst auferlegte Beschränkung, nur im Einzelfall zu entscheiden (vgl. etwa BGHSt 39, 36, 36 und BGH, NStZ 1994, 284, 284, wo jeweils von "jedenfalls" gesprochen wird), dürfte zu vernachlässigen sein. 48 BGHSt 40, 350, 357 sowie passim; Graul, Unmöglicher Zustand S. 361 ff. sowie passim; Hauj. NStZ 1995 S. 185; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 115; Renzikowski, JZ 1994 S. 498, 499; Tröndle I Fischer § 239a Rdn. 6b, § 239b Rdn. 4, 7. 49 Etwa BGHSt 39, 36, 41 ("strafrechtliche Sachverhalte, welche seit jeher zum Kernbestand des materiellen Strafrechts zählen"; "den kriminologisch gerade typischen Fällen"); BGH, NStZ 1994, 284, 284 ("einen vorweg bestimmten Kernbereich"); vgl. auch BGH, NStZ 1994, 128, 129 ("spezieller Lebenssachverhalt, der seit jeher zum Kernbestand des materiellen Strafrechts zählt"). 46 47

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

schwerlich umhin, die Bestrafung des Taters auf das Nötigungsdelikt selbst zu beschränken. Das aber bedeutet zugleich: Es ist tatbestandsspezifisch zu argumentieren. Denn nötigungsstrafrechtlich "besetzte" Tattypen bedürfen nicht stets, sondern nur dann eines besonderen "Schutzes", wenn sie sich - formal gesehen - mehr oder minder automatisch unter die §§ 239a Abs. I, 239b Abs. I subsumieren Jassen. In allen anderen Fällen scheint der Rekurs auf die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 frei von Bedenken, und zwar deshalb, weil er das Nötigungsdelikt selbst nur peripher, nicht aber in seinem Kernbereich beriihrt. Indem BGHSt 39, 36 auf den Kernbereich des Nötigungsdelikts abstellt, riickt er das Kriterium der Häufigkeit der Mitverwirklichung in das Zentrum der Diskussion. Ausschlaggebend soll offensichtlich sein, inwieweit sich die tatbestandliehen Einzugsbereiche der kollidierenden Deliktsgruppen überschneiden. Es bedarf mithin eines entsprechenden Vergleichs, der als Vergleichungsgesichtspunkte sowohl die Sichbemächtigung als auch (und vor allem, weil für die Verhaltensausgrenzung insgesamt entscheidend) die vom Täter beabsichtigte I in Aussicht genommene qualifizierte Drohung zu beriicksichtigen hat. Die primär zu beweisende These lautet: Das Nötigungsdelikt steht den §§ 239a Abs. I, 239b Abs. I um so näher, je größer die tatbestandliehen Übereinstimmungen hinsichtlich der Drohinhalte sind; es ist selbigen um so fremder, je stärker die vertatbestandlichten Drohinhalte divergieren. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist einer vorbehaltlosen Anwendung des § 239a Abs. 1 in den Fällen der §§ 249 Abs. I, 255 50 widersprochen worden. Ebenso hat man im Rahmen des § 239b Abs. 1 für die §§ 177 Abs. 1 a. F., 178 Abs. 1 a. F. 51 , nicht aber für§ 240 Abs. 1, 252 entschieden. Diese Differenzierungen sind - folgt man den gesetzten Prämissen - durchaus konsequent. Denn nur die §§ 177 Abs. 1 a. F., 178 Abs. 1 a. F., 249 Abs. 1, 255 knüpfen die Strafbarkeit des Täters an einen Drohinhalt, der den von den §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 vorausgesetzten qualifizierten Drohinhalten (wie die höchstrichterliche Rechtsprechung meint: hinreichend) nahekommt Sie verlangen das Inaussichtstellen gegenwärtiger Lebens- oder (schwerer, erheblicher53 ) Leibesgefahren. § 240 Abs. 1, 2 50 BGHSt 39, 36, 38 ff.; BGH, NStZ 1993, 539, 539; BGH, Beschl. v. 24. 06. 1996-1 StR 30/93 S. 2; vgl. ferner BGHR § 239a Abs. 1 Entführen 2 S. 1; § 239a Konkurrenzen 1 S. 1.Eine Sonderstellung nimmt § 253 Abs. 1 ein. Denn es läßt sich praktisch kein Fall denken, in dem das Zwei-Personen-Verhältnis des § 239a Abs. I vorliegt, ohne daß zugleich die qualifizierenden Voraussetzungen des § 255 erfüllt sind (a. A. offenbar Renzikowski, JZ 1994 S. 497, der indessen verkennt, daß dort, wo "die Erpressung nicht mit einer Bedrohung von Leib und Leben des Opfers einhergeht", jedenfalls personenbezogene Gewalt eingesetzt wird). 5t BGHSt 39, 36, 38 ff.; 39, 330, 332 ff.; ferner BGH, NStZ 1994,481,482.

52 BGH, NStZ 1994, 284, 284; vgl. aber auch BGHSt 40, 90, 92 f.; BGH, NStZ 1994, 128, 129 f.; a.A. für die seinerzeit allein von § 240 Abs. I, 2 erfaßte sexuelle Nötigung bzw. Vergewaltigung in der Ehe BGHSt 39, 36, 42; 39, 330, 332. 53 So für die §§ 177 Abs. 1 a. F., 178 Abs. 1 a. F. BGH bei Dallinger; MDR 1975, 22, 22; BGHbei Dallinger; MDR 1975, 196, 196; BGH, StV 1994, 127, 127; Laujhütte, in: LK § 177 Rdn. 10, § 178 Rdn. 2; weiter Schroeder, in: Maurach, BT § 18 Rdn. 14; bestätigend für § 177

A. Die Erforderlichkeit einer Harmonisierung ("Ob")

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begnügt sich demgegenüber mit der Androhung eines empfindlichen Übels, eines Übels also, das nicht das Leben oder die körperliche Integrität des inhaltlich von der Drohung Betroffenen tangieren muß54. Allein die tatbestandliehen Einzugsbereiche der§§ 239b Abs. I, 240 Abs. I, 2 sind demnach überwiegend überschneidungsfrei. Allein der von § 240 Abs. I, 2 erfaßte kriminologische Tattyp bleibt im Falle einer vorbehaltlosen Anwendung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 in seinem Kern erhalten. Was die übrigen Nötigungsdelikte angeht, so sind höchstrichterliche Judikate nicht auszumachen. Es fragt sich, ob eine nach dem im Einzelfall in Betracht kommenden Nötigungsdelikt differenzierende Argumentation Zustimmung verdient. (a) Einwände gegen den Verweis auf die Angemessenheil des zu erzielenden Ergebnisses

Zuweilen wird die Ansicht vertreten, die§§ 239a Abs. I, 239b Abs. I seien zumindest dort anzuwenden, wo das Nötigungsdelikt allein angemessene Ahndungsmöglichkeiten nicht eröffne55 . Als Beispiel dürfe§ 240 Abs. 1, 2 dienen 56. Derartige Überlegungen mögen auf der Grundlage einer an Pragmatik ausgerichteten Konkurrenzlösung statthaft sein. Als Fundament schon tatbestandlieber Einschränkung taugen sie nicht: Tatbestandslösungen knüpfen weniger an der möglichen beziehungsweise wünschenswerten Rechtsfolge als an dem positivierten Unrechtsbild an. Stimmt dieses mit dem zu beurteilenden Lebenssachverhalt überein, so ist der Tatbestand anzuwenden. Andernfalls liegt ein Verzicht auf seine Anwendung nahe. Eine Argumentation der Art "Wollen wir ,angemessen' strafen, so bedarf es des § ... ; also bejahen wir seine Voraussetzungen!" stellt die Dinge auf den Kopf und verdient daher keine Zustimmung57 . (b) Einwände mit Blick auf die systematische Konzeption des Nötigungsstrafrechts

Differenzierungen nach dem konkret einschlägigen Nötigungsdelikt können aus systematischer Sicht nur überzeugen, wenn sie die Wertungen des Nötigungsstrafrechts beachten. Abs. 1 BGH, NStZ 1999, 505, 505; Trönd1e/ Fischer§ 177 Rdn. 10; für die§§ 249 Abs. I, 255 BGHSt 7, 252, 253 f.; Geilen, Jura 1979 S. 110; ders., Jura 1980 S. 50; Herdegen, in: LK § 249 Rdn. II, § 255 Rdn. 2; Lackner I Kühl§ 249 Rdn. 3, § 315c Rdn. 23, § 255 Rdn. 1. 54 Zum Begriff des empfindlichen Übels BGHSt 31, 195, 198 ff.; Eser; in: Schönke/ Sehröder § 240 Rdn. 9; Lackner/ Kühl§ 240 Rdn. 13 f. 55 BGH, NStZ 1994, 284, 284; Keller; JR 1994 S. 429; vgl. ferner BGHSt 40, 90, 92 f. ; BGH, NStZ 1994, 128, 129 f. 56 BGH, NStZ 1994,284, 284; vgl. auchBGHSt40, 90,92 f.; BGH, NStZ 1994, 128, 129 f. 57 Ebenso Heinrich, NStZ 1997 S. 366.

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

(1) Entsprechende Zweifel weckt BGHSt 39, 36 selbst, wenn dort hervorgehoben wird, daß sexuelle Nötigungshandlungen zu Lasten der Ehepartnerin eine "einschränkende Auslegung" des § 239b Abs. 1 ebenso rechtfertigten wie Taten nach den§§ 177 Abs. 1 a. F., 178 Abs. 1 a. F.58 . Stellt man nämlich auf den "Schutz" nötigungsstrafrechtlich "besetzter" Tattypen ab, so hätte § 239b Abs. 1 die seinerzeit allein nach Maßgabe des § 240 Abs. 1, 2 strafbare Vergewaltigung I sexuelle Nötigung in der Ehe erfassen müssen; einfache Nötigungen erfüllen weder stets noch auch nur hinreichend häufig die qualifizierenden Voraussetzungen des Geiselnahmetatbestandes59. BGHSt 39, 36 ließ sich daher- bewußt oderunbewußtvon einer zusätzlichen Systemüberlegung leiten, derjenigen, daß es unmöglich richtig sein konnte, Vergewaltigungen I sexuelle Nötigungen unter Rekurs auf § 239b Abs. 1 allein deshalb strenger zu bestrafen, weil sie innerhalb der Ehe erfolgten (beachte auch Art. 6 Abs. 1 GG). Wer es also ablehnte, § 239b Abs. 1 in den Fällen der§§ 177 Abs. 1 a. F., 178 Abs. 1 a. F. vorbehaltlos anzuwenden, legte damit zugleich einen Wertungsstandard fest, der zu weitergehenden, in ihren Auswirkungen auf die verschiedenen Nötigungsdelikte zunächst kaum absehbaren Differenzierungen zwang. Man mußte der Gefahr unerträglicher Systembrüche Einhalt gebieten, und es sei auch auf Kosten der gesetzten Prämissen.

(2) Es ist nun keineswegs so, als hätte sich die vorstehend erläuterte Problematik mit der mittlerweile erfolgten Ausweitung des Sexualstrafrechts auf sexuelle Nötigungshandlungen zum Nachteil des Ehepartners erledigt. Vergleichbare Systembrüche drohen nämlich auch anderenorts, so etwa im Raub- und Erpressungsrecht Meine These lautet: Wenn BGHSt 39, 36 erwägt, die§§ 239a Abs. l, 239b Abs. 1 in den Fällen der§§ 249 Abs. 1, 255 einzuschränken, so läßt sich dies, sollen Wertungsunstimrnigkeiten vermieden werden, nur unter der zusätzlichen Voraussetzung halten, daß das allein von§ 240 Abs. 1, 2 erfaßte Handeln mit Blick auf einen fälligen und einredefreien Anspruch gegen den Vermögensinhaber entsprechende Milde erfährt. Denn es macht keinen Sinn, den Täter unter Rekurs auf die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 lediglich deshalb strenger zu bestrafen, weil er ein zentrales Unrechtsmerkmal der§§ 249 Abs. 1, 255, die bewußte und gewollte Mißachtung der materiellen Eigentums- beziehungsweise Vermögensordnung60, nicht erfüllt. (3) Ein letztes Beispiel mag den Regelbeispielen der §§ 113 Abs. 2 S. 2, 121 Abs. 3 S. 2 entnommen werden. Führt der Täter eines Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 Abs. 1 Alt. 1) oder einer Gefangenenmeuterei (§ 121 Abs. 1 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1) eine Waffe bei sich oder bringt er einen anderen durch eine Gewalttätigkeit in die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung, so hat er strengere Strafen BGHSt 39, 36, 42. Nur am Rande bemerkt sei, daß es überdies kaum angehen dürfte zu unterstellen, die "typische" Vergewaltigung I sexuelle Nötigung in der Ehe genüge den Voraussetzungen des § 239b Abs. 1, vgl. Graul, Unmöglicher ZustandS. 364; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 115. 60 0. s. 68, 71, 81 f. 58

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als im Normalfall zu gewärtigen, und zwar -je nach Delikt - Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu fünf beziehungsweise zehn Jahren (vgl. §§ ll3 Abs. 2, 121 Abs. 3). Da diese Strafschärfungen auch und vor allem auf die besondere Gefährlichkeit des gezielten Einsatzes qualifizierter Nötigungsmittel (hier: qualifizierter Drohungen) zurückzuführen sind61 , erscheint es statthaft, ihnen einen kriminologischen Tattyp zuzuschreiben, der zugleich die Voraussetzungen des § 239b Abs. 1 erfüllt. Damit sind systematische Friktionen programmiert. Handelte es sich bei den §§ 113 Abs. 2 S. 2, 121 Abs. 3 S. 2 um Qualifikationen, so wäre der Weg zu einer Einschränkung des § 239b Abs. l entsprechend den hier als maßgeblich herausgestellten Kriterien eröffnet. Denn unter dieser Voraussetzung müßte - um nur ein Beispiel zu nennen - davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber durch § 121 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 klarstellte, wie er das Beisichführen einer funktionsgemäß einsatzbereiten (und, mit Blick auf den kriminologischen Tattyp: einzusetzenden) Schußwaffe im Zuge einer Gefangenenmeuterei beurteilt wissen wollte; dieses Verhalten sollte Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten und zehn Jahren, nicht aber zwischen fünf und fünfzehn Jahren tragen. Nun umschreiben die§§ 113 Abs. 2 S. 2, 121 Abs. 3 S. 2 zwar keine Qualifikationen, sondern lediglich Regelbeispiele für besonders schwere Fälle, Rechtskonstruktionen also, die nach herrschender Meinung eine rein strafzumessungsrechtliche Funktion erfüllen, indem sie der Gesamtwürdigung, mit deren Hilfe das Vorliegen eines besonders schweren Falles stets zu ermitteln ist, erklärtermaßen unverbindliche Leitlinien zugrunde legen62. Diese Einzelfallwürdigung wird jedoch und darauf kommt es vorliegend an; es geht ja allein um die Ergrundung eines kriminologischen Tattyps - durch das verwirklichte Regelbeispiel geprägt. Die Anwendung des strengeren Strafrahmens bildet die Regel (lndizprinzip). Sie unterbleibt nur ausnahmsweise, dann nämlich, wenn sich ergibt, daß die konkrete Tat ihrem Gesamtbild wie Schweregrad nach wesentlich vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle abweicht63 . Das aber bedeutet: Zumindest der von dem Regelbeispiel in Aussicht genommene "typische" (hier allein interessierende) Fall trägt die Strafschärfung. Weiterführend zum "Schutzzweck" der§§ 113 Abs. 2 S. 2, 121 Abs. 3 S. 2 u. S. 207 ff. BGHSt 23, 254, 256 f.; 29, 359, 368; 30, 370, 373; OLG Düsseldorf, NStZ 1984, 571 , 571; v. Bubnoff, in: LK § 113 Rdn. 52,§ 121 Rdn. 41; Granderath, MDR 1984 S. 988; Gribbohm, in: LK vor § 46 Rdn. 24; Jescheck/Weigend, AT § 26 V, 2; Lackner/Kühl § 46 Rdn. 11; Schmitt, in: Festschrift für Tröndle S. 313 f., 316 f.; Roxin, AT 1 § 10 Rdn. 133; Weber, in: Baumann, AT § 8 Rdn. 89; Wessels, in: Festschrift für Maurach S. 299; ders., in: Festschrift für Lackner S. 425 f. ; ders./ Beulke, AT Rdn. 19; Zipf, in: Maurach, AT § 62 Rdn. 49 f.; eine Tatbestandsgleichheit nehmen demgegenüber an Jakobs, AT 6. Abschn. Rdn. 99; Calliess, JZ 1975 S. 112 ff.; ders., NJW 1998 S. 930 ff.; vgl. auch Kindhäuser, in: Festschrift für Triffterer S. 124 ff.; schließlich Horn, in: SK § 46 Rdn. 62 ff.; vermittelnd Fabry, NJW 1986 S. 15 ff. ; Tröndle /Fischer§ 12 Rdn. 11. 63 Hierzu u. S. 208. 61

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I zu den Nötigungsdelikten

Eine Argumentation, die isoliert auf den "Schutz" nötigungsstrafrechtlich "besetzter" Tattypen abstellt, gelangt somit in letzter Konsequenz zu dem gewiß absurden Ergebnis, daß der Täter der §§ 113 Abs. 1 Alt. 1, 121 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 über den Umweg des § 239b Abs. 1 strenger bestraft wird als der Täter der§§ 113 Abs. 2 S. 2, 121 Abs. 3 S. 2. Man müßte also auch insoweit entgegnen: Derartige Wertungsunstimmigkeiten sind zu vermeiden, mag dies auch auf Kosten der gesetzten Prämissen gehen. Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt: Da es keinen Sinn macht, unrechtsintensive Nötigungssachverhalte mittels einer Einschränkung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 großzügiger zu beurteilen als weniger unrechtsintensive Nötigungssachverhalte, muß ein Lösungskonzept, das auf dem kriminologischen Tattyp des jeweils einschlägigen Nötigungsdeliks baut, scheitem64. Es ist (schon) deshalb abzulehnen. (c) Einwände mit Blick auf die systematische Konzeption der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 Gegen eine tatbestandsspezifische Lösung sprechen endlich grammatikalische65 sowie konzeptionelle Bedenken. Mit letzteren hat es die folgende Bewandtnis: Dem Gesetzgeber stehen konstruktiv zwei Wege offen, Unrechtssachverhalten mit Nötigungsbezug entgegenzutreten. Er kann zum einen am Täter, genauer an dem von diesem in Aussicht genommenen, die Freiheit des Opfers beeinträchtigenden Nötigungsziel anknüpfen. Er kann aber auch das zur Erreichung des Nötigungsziels eingesetzte Mittel entscheiden lassen. Das Gesetz verbietet dann nicht mehr die Zielverfolgung selbst, sondern deren Art und Weise, letztlich also die Opfergefährdung66. Das Nötigungsstrafrecht folgt seit jeher einer am Täter ausgerichteten Konzeption, indem es eine Vielzahl unterschiedlicher Delikte zusammenfaßt, deren jeweils maßgebliches Kennzeichen das Gewicht des verfolgten Tatziels ist. Die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 heben demgegenüber entscheidend auf den Status des Opfers, auf dessen Gefährdung durch den Einsatz bestimmter Tatmittel ab. Sie umschreiben keine Nötigungsdelikte im eigentlichen Sinne67 • Nun ist zwar zuzugeben, daß sich diese zunächst diametralen Anknüpfungspunkte de lege lata in vielerlei Hinsicht annähern. So differenziert etwa auch das Nötigungsstrafrecht zuweilen nach den vom Täter eingesetzten Mitteln, einerseits indem es den strafrechtlich relevanten Sachverhalt von vomherein auf qualifizierte Gewaltanwendungen oder Drohungen beschränkt (so vor allem die§§ 177 Abs. 1, 249 Abs. 1, 252, 255)68 , andererseits indem es Strafschärfungen enthält, die explizit an der Gefährdung 64 Vgl. auch Bohlander; NStZ 1993 S. 440; Graul, Unmöglicher ZustandS. 363 ff.; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 115; Renzikowski, JZ 1994 S. 499. 65 BGHSt 40, 350, 357; Hauf, NStZ 1995 S. 185. 66 Renzikowski, JZ 1994 S. 494,499. 67 Zu jenen konzeptionellen Divergenzen bereits o. S. 92 f.

A. Die Erforderlichkeit einer Harmonisierung ("Ob")

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oder Verletzung eines anderen, insbesondere des Opfers, anknüpfen (so vor allem die§§ 177 Abs. 3, 4, 178,250 Abs. 1, 2, 251)69 . Veränderte Vorzeichen bestimmen das Bild der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1; dem Vorrang des Nötigungsmittels begegnet die Zielunterteilung nach Erpressung und Nötigung. Im Kern gilt jedoch nach wie vor: Strafgrund des Nötigungsdelikts ist das deliktische Ziel, Strafgrund der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 das diesem vorgelagerte deliktische Mittel. Tatbestandsspezifische Lösungen führen demnach notwendig in die Irre. Denn der mit den§§ 239a Abs. 1, ~39b Abs. 1 verfolgte Zweck, das Opfer vor solchen Lebensund Leibesgefahren zu schützen, die unmittelbar oder mittelbar mit der aus der Rücksichtslosigkeit des allein auf die Erreichung des Nötigungsziels fixierten Taters resultieren70, läßt sich unabhängig davon erreichen, welches Nötigungsdelikt eben dieser Tater verwirklichen will. Nicht zuletzt der vom Fünften Senat entschiedene Brücken-Fall71 sollte gezeigt haben, daß Straftäter mitunter dazu bereit sind, folterähnlichen Zwang auch mit Blick auf solche Nötigungsziele auszuüben, die der Einteilung des Strafgesetzbuches zufolge eher belanglos anmuten. Das liegt daran, daß die dem Gesetz zu entnehmende formale Stufenfolge der Nötigungsziele keineswegs die entsprechenden Wertungen des Taters wiederspiegeln muß und daß die Erreichung eines formal als nichtig zu erachtenden Ziels für diesen konkreten Tater in dieser konkreten Tatsituation von größter Bedeutung sein kann. "Mit ... Vorschriften, deren Zweck der Schutz potentieller Geiseln ist, läßt sich eine verschärfte Verfolgung bestimmter Nötigungsziele ... nicht umsetzen" 72 • (d) Ergebnis

Eine differenzierende Lösung, die auf das vom Täter in Aussicht genommene Tatziel beziehungsweise auf das im Einzelfall in Betracht kommende Nötigungsdelikt abhebt, verdient keine Zustimmung. bb) Der allgemeingültige Ansatz der herrschenden Meinung; die eigene Ansicht Es fragt sich, wie die stattdessen zu befürwortende allgemeingültige Lösung auszusehen hat.

Hierzu o. S. 76 mit Fn. 54; ferner u. S. 214. Hierzu u. S. 202 ff. 70 0. s. 106 ff. 71 Zu ihm u. S. 168 (Bsp. 6). n Renzikowski, JZ 1994 S. 499.

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

(a) Die Argumentefüreine textkonforme Lösung (Graul und andere); kritische Stellungnahme

Zu beginnen ist mit den Gründen, die für eine textkonforme vorbehaltlose Anwendung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 im Zwei-Personen-Verhältnis ins Feld geführt werden. Stellvertretend sei auf die Argumentation von Graul hingewiesen. Graul rückt die Genese der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 in den Vordergrund ihrer Überlegungen, indem sie daran erinnert, daß der historische Gesetzgeber die Einfügung der Zwei-Personen-Verhältnisse deshalb für notwendig befand, weil bei ihnen die persönliche Freiheit des Opfers in besonders hohem Maße gefährdet und der vom Täter ausgeübte (richtig: auszuübende) Nötigungsdruck besonders stark sei. Diese zunächst allein auf § 239b Abs. 1 E 1988 gemünzten Ausführungen beanspruchten allgemeine Geltung. Denn der Rechtsausschuß, auf dessen Anregung die entsprechende Ausweitung auch des § 239a Abs. 1 E 1988 zurückgehe, habe unmißverständlich klargestellt, daß er "insoweit" eine "Parallele" zu § 239b Abs. 1 E 1988 ziehe73 . Wer demgegenüber meine, die Einbeziehung sogenannter Bagatellfalle in den Regelbereich des § 239b Abs. 1 unter Verweis auf die alte Dreiecksstruktur des Gesetzes abtun zu dürfen, verkenne den historischen Gesamtzusammenhang. Bereits den Schöpfern des § 239b Abs. 1 1971 sei klar gewesen, daß diese Vorschrift auch vergleichsweise nichtige Unrechtssachverhalte wie das Unterlassen eines Gasthaus- oder Kinobesuchs erfassen würde. Korrektiv sollte (allein) das vom Täter eingesetzte beziehungsweise einzusetzende Tatmittel, namentlich die qualifizierte Drohung, sein. An diesem legislatorischen Grundkonzept habe sich bis heute nichts geändert. Im Gegenteil, es sei durch die seit dem Artikelgesetz von 1989 vorgesehene Möglichkeit einer Strafmilderung in minder schweren Fällen geradezu bestätigt worden74. Da schließlich niemand behaupte, daß die §§ 239a Abs. 1 239b Abs. 1 gegen die Verfassung verstießen, stünden ihrer Anwendung keine Bedenken entgegen (arg.: Art. 20 Abs. 3 GG; vgl. auch Art. 100 Abs. 1 GG)75 : "Selbst wenn der Gesetzgeber erkannt hätte, daß er mit der Neuregelung des § 239b Abs. 1 die Strafdrohung für Vergewaltigung und sexuelle Nötigung im Bereich der von dieser Norm erfaßten Fälle- also bei Einsatz der genannten gravierenden Drohungen - erhöht . . . und Rücktrittsmöglichkeiten verkürzt, hätte er - abgesehen vom gänzlichen Verzicht auf eine Einbeziehung von ZweiPersonen-Verhältnissen- keine andere als die vorhandene Regel treffen können"76 Dem kann aus mehreren Gründen nicht gefolgt werden. Graul, Unmöglicher ZustandS. 354. Graul, Unmöglicher ZustandS. 362; ähnlich zuvor Renzikowski, JZ 1994 S. 498. 75 Graul, Unmöglicher ZustandS. 365 f.; nach Keller, JR 1994 S. 429 wird bei hohen Mindeststrafen auch anderenorts zu oft versucht, "dem Tatbestand zu entschlüpfen", obwohl der Gesetzgeber ,,hartes Durchgreifen" fordere (Bsp.: § 316a Abs. 1). 76 Graul, Unmöglicher ZustandS. 364, freilich mit Bezug auf die o. S. 133 ff. bereits verworfene differenzierende Lösung; verallgemeinernd i. d. S. demgegenüber Freund, ZStW 109 (1997) S. 480 mit Fn. 14, 481 ("die ... wohl ... nicht klärbaren Probleme"); Hauf, NStZ 73

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A. Die Erforderlichkeil einer Harmonisierung ("Ob")

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(1) Es mag sein, daß der vom Täter zu entfaltende Nötigungsdruck im Zwei-Personen-Verhältnis größer ist als im Drei-Personen-Verhältnis77 . Das spielt jedoch keine Rolle, da die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 dem Aspekt des Freiheitsschutzes bestenfalls sekundäre Bedeutung zuerkennen78 . Im Vordergrund stehen Leben und Leib des Opfers, Rechtsgüter also, die nach der hier vertretenen Ansicht unabhängig davon tangiert sind, welche Person letztlich genötigt werden soll79 • (2) Der Verweis auf die vom historischen Gesetzgeber beabsichtigte Einbeziehung sogenannter Bagatellfälle in die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 geht schon deshalb fehl, weil die formale Stufenfolge der Nötigungsziele wesentliches Kennzeichen allein des Nötigungsstrafrechts ist; die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 knüpfen nicht an ein abstrakt zu gewichtendes Nötigungsziel, sondern an den Wert des Nötigungsziels für diesen konkreten Täter in dieser konkreten Situation an. Wenn das Nötigungsstrafrecht das vom Täter verfolgte Ziel geringschätzt (Beispiel: Preisgabe einer Information, etwa eines Kochrezepts oder der Fußball-Bundesliga-Ergebnisse vom vorherigen Tag), so bedeutet dies keineswegs, daß es sich insoweit um eine "Lappalie" oder "Bagatelle" handelte, deretwegen die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 nicht einzugreifen bräuchten. Denn immerhin kann der Täter dazu übergehen wollen, zur Erreichung seines Ziels besonders schneidige, qualifizierte Nötigungsmittel einzusetzen. Maßgebend ist demzufolge der Gedanke der Opfergefährdung. Aus ihm ergibt sich: Wer erwägt, auf eine Bestrafung des Täters aus den dem Wortlaut nach einschlägigen §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu verzichten, der muß (und: dar/0 ) dies mit einem anderen Sachgesichtspunkt begrunden als dem, daß sogenannte Bagatellfälle aus dem Zwei-Personen-Verhältnis auszuscheiden seien81 • (3) Nicht überzeugend ist weiterhin der Einwand, verträgliche Strafbarkeitsergebnisse ließen sich ohne weiteres über die Strafzumessung, genauer über die §§ 239a Abs. 2, 239b Abs. 2, erzielen. Mit einer solchen Argumentation könnte man letztlich jede Systemwidrigkeit einebnen82 . Grundsätzlich zu bedenken ist, 1995 S. 185 (". .. läßt sich wohl .. . kein .. . Kriterium finden, mit welchem sich dogmatisch schlüssig ... die Einschränkung vollziehen ließe."); Müller-Dietz, JuS 1996 S. 116 (man "wird ... daran zweifeln können, daß ... Kriterien gefunden werden können, die zu einer sinnvollen und konsistenten Einschränkung ... des § 239b Abs. 1 führen würden."), 115 (" . .. den kritischen Einwänden gegen die Neufassung des § 239b Abs. I .. . kein in sich stimmiges Lösungskonzept gefolgt ist, das alle in Betracht kommenden Sachlagen . . . angemessen berücksichtigte."); Renzikowski, JR 1998 S. 127 (die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 "nicht einschränkend ausgelegt werden können"). 77 Zu diesem Gedanken bereits o. S. II! f. 78 0. s. 84 ff. 79 0. s. 106 ff., 110 ff. 80 Die a.A. von Graul, Unmöglicher ZustandS. 362 f. verkennt, daß das abstrakte Gewicht des Nötigungsziels gerade nicht den Ausschlag gibt. 81 Zumindest mißverständlich daher BGHSt 39, 36, 42. 82 Vgl. Joerden, JuS 1985 S. 26 im Zusammenhang mit der Scheinwaffenproblematik.

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

daß der Annahme eines minder schweren Falles nach herrschender Meinung stets eine Würdigung der Tat im ganzen unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Täters voranzugehen hat83 . Es widerspräche allgemeinen Grundsätzen, wollte man etwa ,Jeden Fall der Vergewaltigung oder der sexuellen Nötigung stets als minder schweren Fall der Geiselnahme, jede räuberische Erpressung als minder schweren Fall des erpresserischen Menschenraubs" ansehen84 • Im übrigen verblieben selbst dann noch Wertungsunstimmigkeiten85 , wie die §§ 113 Abs. I Alt. 1, Abs. 2 S. 1, 240 Abs. 1, 2, 4 beweisen; deren Strafrahmen tragen lediglich Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Daß es schließlich nicht angeht, allgemein auf eine Rechtsfolgenlösung zu rekurrieren86, wurde bereits erwähnt87 . (4) Graul meint, die vom Wortlaut her einschlägigen §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 müßten schon deshalb ohne Vorbehalt auf Nötigungssachverhalte im ZweiPersonen-Verhältnis angewendet werden, weil sie materiell verfassungsmäßig seien88; Art. 20 Abs. 3 GG konstituiere insofern eine unbedingte Strafungspflicht. Dieses naturgemäß auf eine Tatbestandslösung gemünzte Bedenken rekrutiert sich aus der allgemeinen Methodenlehre. Es betrifft die Abgrenzung der - zulässigen täterbegünstigenden Rechtsfortbildung praeter Iegern von der - unzulässigen täterbegünstigenden Rechtsfortbildung contra Iegern und ist daher in einem anderen Zusammenhang zu diskutieren 89 . (5) Wenn schließlich eingewendet wird, daß es praktisch unmöglich sei, ein Kriterium zu finden, welches eine sinnvolle und konsistente Einschränkung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 in Fällen "typischer" Nötigung im Zwei-PersonenVerhältnis gewährleiste, so ist damit nicht das "Ob", sondern das "Wie" angesprochen. Der (un)mögliche Inhalt eines Abschichtungskriteriums interessiert an dieser Stelle aber noch nicht. Er wird anderenorts erörtert90. (b) Die Argumente gegen eine textkonforme Lösung

Für eine Einschränkung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 in Fällen "typischer" Nötigung im Zwei-Personen-Verhältnis sprechen namentlich übergreifende systematische Erwägungen. Ihnen zufolge dürfen die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 allein dort angewendet werden, wo es um die Berücksichtigung eines Unrechtsaspektes Hierzu u. S. 372. BGHSt 39, 36, 42. 85 Müller-Dietz, JuS 1996 S. 115. 86 Erwogen und verworfen von Renzikowski, JZ 1994 S. 499; ebenfalls verwerfend Müller-Dietz, JuS 1996 S. 116. 87 0. S. 60 f. mit Fn. 221. 88 Zur Verfassungsgemäßheil der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 s. vor allem Hassemer, in: Prot. 11/38 S. 472, 471; Amelung/ Hassemer/Rudolphil Scheerer, StV 1989 S. 78. 89 U. S. 157 ff. 90 u. s. 163 ff. 83

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A. Die Erforderlichkeit einer Harmonisierung ("Ob")

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geht, dem das Nötigungsstrafrecht nicht oder doch nur unzureichend Rechnung trägt91 (bestätigend insoweit § 139 Abs. 3, der die gemäß § 138 Abs. 1 Nr. 8 anzeigepflichtigen Raub- und Erpressungsdelikte in gewissem Sinne gegenüber den §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 privilegiert). Auf diese Erkenntnis griindet sich meine These, die ich wie folgt umschreiben will (rechtsgutsbezoger Ansatz): Wenn die §§ 113 Abs. 2 S. 2, 121 Abs. 3 S. 2, 177 Abs. 3, 4, 250 Abs. I, 2 dieselben GefährIichkeitsaspekte im einzelnen unterschiedlich gewichten, so läßt sich dies nur mit der dem Nötigungsstrafrecht eigentümlichen formalen Stufenfolge der Nötigungsziele erklären. Der Strafrahmen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 resultiert demgegenüber allein aus der Gefährlichkeit der Tat; das Gewicht des Nötigungsziels interessiert nicht. Geht man nun davon aus, daß einerseits die §§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1, 177 Abs. 4, 250 Abs. 2 identische Strafdrohungen vorsehen, die jeweils strafrahmenbildenden Merkmale andererseits aber merklich divergieren (hier: Gefahrlichkeit der Tat; dort: Gefährlichkeit der Tat und Gewicht des Nötigungsziels), so bedeutet dies: Nicht jeder Gefährlichkeitsaspekt trägt die Anwendung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I. Die mit dem Nötigungssachverhalt zusammenhängenden Lebens- und Leibesgefahren sind vielmehr bis zu einem bestimmten "Punkt" nötigungsstrafrechtlich "besetzt" und aus der Priifung der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1 herauszuhalten. Das materielle Verbot der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I wird erst mißachtet, wenn dieser "Punkt" überschritten ist. Mit diesen Vorgaben will ich mich hier begnügen. Die Einzelheiten gehören in einen anderen Zusammenhang92 . 4. Ergebnis

Die besseren Argumente sprechen für die herrschende Ansicht. Vor einer vorbehaltlosen Anwendung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I im Zwei-Personen-Verhältnis ist aus systematischen Griinden zu warnen.

II. Das Drei-Personen-Verhältnis Ein wichtiges gesetzessystematisches Argument, das die Befürworter einer vorbehaltlosen Anwendung der §§ 239a Abs. I, 239b Abs. I in Fällen "typischer" Nötigung im Zwei-Personen-Verhältnis ins Felde führen, wurde bislang ausgeklammert. Es ist dies die Gleichstellung der Zwei-Personen-Verhältnisse mit den DreiPersonen-Verhältnissen durch das Artikelgesetz von 1989. Wenn im Rahmen der Drei-Personen-Verhältnisse nirgends ernsthaft erwogen werde, den Tater allein deshalb von Strafe freizustellen, weil er "lediglich" eine "typische" Nötigung be91 92

Im Ansatz ebenso TenckhoffI L. A. Baumann, JuS 1994 S. 839. Ausführlich u. S. 201 ff.

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

absichtigt I unternommen habe, dann könne man im Rahmen der Zwei-PersonenVerhältnisse kaum anders entscheiden. Sachgesichtspunkte, die entsprechende Differenzierungen tragen könnten, seien jedenfalls nicht ersichtlich93 . 1. Die unabdingbare Gleichstellung sämtlicher Personen-Konstellationen der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1

Dem ist insoweit zuzustimmen, als es in der Tat wenig sinnvoll erscheint, die einzelnen, vom historischen Gesetzgeber expressis verbis gleichgestellten Personen-Konstellationen der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 unterschiedlichen Regelungen zu unterwerfen. Dies beweist schon ein Blick auf den "Bankraub" als klassischem Beispiel einer Tat nach den§§ 249 Abs. 1, 25594. Der Täter, dessen Plan es ist, den Kassierer eines Geldinstituts zur Herausgabe einer möglichst hohen Summe Geldes zu zwingen, wird zunächst einmal darum bemüht sein, eben jenen Kassierer in seine Gewalt zu bekommen, um so maximale Nötigungswirkungen zu entfalten, seinen verbrecherischen Forderungen größtmöglichen Nachdruck zu verleihen95. Nur wenn ihm dies nicht gelingt, wird er auf andere Personen, etwa auf sonstige Bankangestellte oder zufällig anwesende Bankkunden, (wohlgemerkt: zwecks Erzwingung der Herausgabe des Geldes96) zugreifen. Der "Bankräuber" richtet seine Tat demnach so weit als möglich auf das Zwei-Personen-Verhältnis aus. Das Drei-Personen-Verhältnis nimmt er allein dort als sozusagen notwendiges Übel in Kauf, wo es an der Möglichkeit des Zwei-Personen-Verhältnisses fehlt. Differenzierte man im Rahmen des § 239a Abs. 1 nun tatsächlich danach, welche Personen-Konstellation im Einzelfall gegeben ist, so würde das diesbezügliche 93 Graul, Unmöglicher Zustand S. 352 ff.; Renzikowski, JZ 1994 S. 498 f.; ders., JR 1995 S. 350; ders., JR 1998 S. 127; ders. , StV 1999 S. 647 ff.- Graul geht sogar noch weiter, indem sie den Verzicht auf eine Einschränkung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I im ZweiPersonen-Verhältnis auf ein argurnenturn a fortiori stützt; der Nötigungsdruck im Zwei-Personen-Verhältnis sei stärker als im Drei-Personen-Verhältnis und müsse daher um so eher eine Strafschärfung begründen (Graul, Unmöglicher Zustand S. 352, 353 f., 363). Dieses Argument wurde bereits widerlegt (s. o. S. 139). 94 Entsprechende Beweise lassen sich auch anderenorts führen, so etwa im Rahmen des § 177 Abs. I. Wenn Graul, Unmöglicher Zustand S. 351 ff., 356 ff. demgegenüber meint, die Problematik auf die §§ 239a Abs. 1, 249 Abs. 1, 255 beschränken zu dürfen, so ist dem zu widersprechen. Eine derartige Beschränkung mag zwar insoweit verständlich sein, als Fälle strafbarer Drittbedrohung bei den von Graul selbst in den Vordergrund geriickten Sexualdelikten eher selten vorkommen. Sie sind aber immerhin denkbar (vgl. BGHR § 177 Abs. 1 Drohung 3 S. 1; BGH, NStZ 1994, 31, 31; Laujhütte, in: LK § 177 Rdn. 12; Lackner I Kühl § 177 Rdn. 5; Lenckner, in: Schönke/Schröder § 177 Rdn. 5; Schroeder, in: Maurach, BT § 18 Rdn. 14; Tröndle/ Fischer§ 177 Rdn. 10; a.A. die friiher h. M., etwa Frank [18.] § 176 Anm. I, I; Mezger, in: LK [8.] § 176 Anm. 4b m. w. N.). Man muß sie daher auch vorliegend berücksichtigen. 95 Diese kriminologische Tatsache (o. S. 111 f.) wird durch die h. M. zur Drittbedrohung (zu ihr u. S. 294) zwar verwässert, m. E. aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt. 96 Und nicht lediglich zwecks Absicherung der Tat, vgl. o. S. 47.

A. Die Erforderlichkeil einer Hannonisierung ("Ob")

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Strafbarkeitsergebnis letztlich von dem Zufall abhängen, ob die räumlichen Gegebenheiten im Bankgebäude einen direkten Zugriff auf den Kassierer zulassen (klassisch: unverglaster Schalter) oder nicht (klassisch: schußsicher verglaster Schalter). Das kann unmöglich richtig sein. 2. Folgerungen Die entscheidende Frage lautet damit, von welcher Warte aus zu argumentieren ist: Gibt der vorgenannte Schluß vom Drei-Personen-Verhältnis auf das Zwei-Personen-Verhältnis den Ausschlag oder sind umgekehrt die zum Zwei-Personen-Verhältnis erzielten Erkenntnisse auf das Drei-Personen-Verhältnis zu übertragen, "typische" Nötigungen mithin auch insoweit auszuscheiden? Auf den ersten Blick spricht viel für die zuerst genannte Argumentation. Denn daß die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zumindest auf "typische" Nötigungen im DreiPersonen-Verhältnis vorbehaltslos anzuwenden sind, scheint- durchforstet man die einschlägigen Äußerungen in Rechtsprechung und Lehre97 - gesichert. Dem entgegenstehende Bedenken sind freilich nicht von der Hand zu weisen. Sie griinden auf der Genese sowie insbesondere der Struktur der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1. a) Grammatikalische Erwägungen Aus grammatikalischer Sicht bestehen keine Unterschiede zum Zwei-PersonenVerhältnis. Zugegeben, es wird die Ansicht vertreten, eine differenzierte Beurteilung der verschiedenen Personen-Konstellationen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 sei insofern angezeigt, als die gesetzliche Überschrift des § 239b Abs. 1 allein das Drei-Personen-Verhältnis abdecke 98 ; so lehrt etwa Heinrich: Nach dem allgemei97 BGHSt 25, 386, 386; 39, 36, 42 f .; 40, 350, 356; BGH, NStZ 1986, 166, 166; BGH, NStZ 1987,222,222 f.; BGH, Urt. v. 15. 12. 1993 -2 StR 578/93 S. 15; BGH, NStE § 239b Nr. 4 S. 2; BGH, Urt. v. 22. 06. 1995 - 5 StR 249/95 S. 10; Arzt/Weber, BT 3 Rdn. 368; Britz/Müller-Dietz, Jura 1997 S. 317; S. Cramer, NStZ 1998 S. 300; Eser, in: Schönke/ Sehröder § 239a Rdn. 13a, 45, § 239b Rdn. 20; Hauf, NStZ 1995 S. 185; Heinrich, NStZ 1997 S. 367, 368; Hettinger, Entwicklungen S. 23 mit Fn. 85; Krey, BT 2 Rdn. 322, 330, 335a ff.; Küper, Jura 1983 S. 210; ders., BT S. 244 ff.; Rengier, GA 1985 S. 314 ff.; ders., BT 2 § 24 Rdn. 10, 22; Stemberg-Lieben, JuS 1996 S. 139 mit Fn. 40; Wessels/ Hettinger, BT 1 Rdn. 450, 458; Zaczyk, JZ 1985 S. 1061; Zöller, JA 2000 S. 479; wohl auch Horn, in: SK § 239a Rdn. 7, § 239b Rdn. 6; implizit ebenso Lackner I Kühl § 239a Rdn. 4a, § 239b Rdn. 2; Tröndle I Fischer § 239a Rdn. 6a f ., § 239b Rdn. 4; Wessels/ Hillenkamp, BT 2 Rdn. 743; s. auch Freund, ZStW 109 (1997) S. 480 mit Fn. 14, 481; H. Schumacher, in: Schlüchter, Reform S. 64 f.; nicht ganz klar BGHR § 239a Abs. 1 Sichbemächtigen 4 S. 1; eine Durchbrechung dieser Phalanx deutet BGH, NStZ 1999, 509, 509 an; s. Geppert, in: JK § 239a K. 7; S. Martin, JuS 1999 S. 1240 hält dies mit Blick auf BGHSt 40, 350 für konsequent; schon immer a.A. Blei, JA 1975 S. 163 ff.; ders., BT § 20 II, 1. 98 So vor allem Heinrich, NStZ 1997 S. 367; vgl. ferner BGHSt 39, 330, 334; 40, 350, 356; Fahl, Jura 1996 S. 457, 461.

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

nen Sprachgebrauch "versteht man unter dem Begriff der ,Geiselnahme' . .. solche Fälle, in denen das Opfer fremder Gewalt unterstellt und festgehalten wird, um durch Bedrohung eine Forderung gegen Dritte durchzusetzen. Wird nun, um in Ausnahmefällen Strafbarkeilslücken zu vermeiden, auch das Zwei-Personen-Verhältnis tatbestandlieh erlaßt (obwohl hier sprachlich der Begriff der ,Geiselnahme' kaum angebracht ist), so hat diese Ausweitung, will nicht die amtliche Überschrift ad absurdum geführt werden, äußerst vorsichtig zu erfolgen"99 . Dieser Ansicht ist jedoch zu widersprechen, und zwar aus namentlich zwei Gründen. Einerseits scheint Heinrich zu übersehen, daß der überkommene Begriff der Geiselnahme niJ;ht nur im Zwei-Personen-Verhältnis, sondern auch dort versagt, wo der zu nötigende Dritte der Herrschaft des Täters unterliegt (sogenanntes verkapptes Drei-Personen-Verhältnis100). Andererseits gab das Gesetz die Unterscheidung zwischen dem klassischen Drei- und dem vermeintlich unrechtsuntypischen Zwei-PersonenVerhältnis im Jahre 1989 auf. Sämtliche Personen-Konstellationen sind de lege lata gleichzubehandeln, mag man sich auch im Einzelfall sträuben 101 anzuerkennen, der tatbestandsmäßige Lebenssachverhalt verkörpere eine "Geiselnahme". Selbstverständlich muß die Formulierung gesetzlicher Vorschriften gewisse sprachliche Grenzen beachten. Innerhalb dieser Grenzen steht es dem Gesetzgeber aber frei, (zumal: Rechts-) Begriffen technisierte, vom allgemeinen Sprachgebrauch nur noch partiell gedeckte Bedeutungsgehalte zuzuschreiben. Daß nun die Verfasser des geltenden § 239b Abs. 1 diese Grenzen überschritten hätten, kann - so meine ich - ausgeschlossen werden. Entsprechenden Bedenken sei entgegengesetzt: Der Überschrift nach bezieht sich § 132a lediglich auf den "Mißbrauch von Titeln, Berufsbezeichnungen und Abzeichen", und dennoch umschließt er auch das Tragen inländischer oder ausländischer Uniformen oder Amtskleidungen; § 234 ist mit "Menschenraub" tituliert, und dennoch erlaßt er auch das Handeln in Aussetzungsabsicht; § 267 pönalisiert die "Urkundenfa]schung", und dennoch wird auch bestraft, wer - ohne seinerseits zu fälschen I verfälschen - unechte I verfälschte Urkunden gebraucht; § 289 spricht von "Pfandkehr", und dennoch erfüllt auch die Beeinträchtigung von Nutznießungs-, Gebrauchs- oder Zurückbehaltungsrechten den Tatbestand ...

b) Historische Erwägungen Sicherlich ginge es zu weit zu sagen, die Schöpfer der §§ 239a Abs. 1 1971, 239b Abs. I 1971 hätten beabsichtigt, "typische" Nötigungen im Drei-PersonenVerhältnis außen vor zu lassen. Ebenso verfehlt wäre jedoch die Annahme des Gegenteils102. Richtig ist, daß die einschlägigen Äußerungen die hier interessierende Problematik überhaupt nicht tangierten. 99

100 101

Heinrich, NStZ 1997 S. 367 unter Verweis auf einschlägige Enzyklopädien. Zu ihm o. S. 46 f. Vgl. Fahl, Jura 1996 S. 457.

A. Die Erforderlichkeit einer Harmonisierung ("Ob")

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Zumindest indizielle Bedeutung dürfte den Vorfahren der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1, den verschiedenen Tatbeständen gegen erpresserischen Kindesraub (vgl. die§§ 239a Abs. 11936, 239a Abs. 1 1953, 165 Abs. 1 E 1962) zukommen. Denn diesen wohnte eine deliktische Typizität inne, die über diejenige der Erpressungsdelikte hinausreichte. Als Beispiel mag einmal mehr der "Bankraub" dienen. Unter der Herrschaft der§§ 239a Abs. 1 1936, 239a Abs. 11953 wäre wohl niemand auf den Gedanken gekommen, den Täter allein deshalb wegen erpresserischen Kindesraubs zu bestrafen, weil er sich eines zufällig im Schalterraum anwesenden Kindes bemächtigte, um so den selbst unangreifbaren Kassierer zur Herausgabe des Geldes zu zwingen. Der Wortlaut des Gesetzes hätte dies jedoch nagegelegt, ja verlangt.

c) Systematische Erwägungen

aa) Einwände gegen den argumentativen Automatismus der herrschenden Meinung Was die strukturellen Erwägungen angeht, so wird man anerkennen müssen, daß die Sachgesichtspunkte, die eine Einschränkung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 im Zwei-Personen-Verhältnis tragen, auch im Drei-Personen-Verhältnis zu beachten sind 103. Der gegenteilige Standpunkt der Mehrheit in Rechtsprechung und Lehre dürfte weniger auf entsprechenden Überzeugungen als vielmehr darauf zuriickzuführen sein, daß man die wahre Tragweite des Problems bislang schlichtweg verkannte104. Es spricht für sich, wenn etwa Küper ohne nähere Begrundung konstatiert: "Ein Sachgesichtspunkt, der es rechtfertigen könnte, solches Verhalten aus dem Tatbestand auszuscheiden, ist .. . nicht erkennbar" 105 • Schließlich mag darauf hingewiesen werden, daß immer wieder (höchstrichterliche) Entscheidungen zum Drei-Personen-Verhältnis ergehen, die die vom Wortlaut her evident einschlägigen 102 Gegen den Einwand, die Schöpfer der Drei-Personen-Verhältnisse hätten auch "Lappalien" bzw. "Bagatellen" erfassen wollen (o. S. 138), o. S. 139; zu den von den Verfassern der §§ 239a Abs. 1 1971, 239b Abs. I 1971 zur Exemplifizierung herangezogenen Fällen, die durchaus keine "typischen" Nötigungen enthielten, o. S. 36; zur entsprechenden Ausrichtung der heutigen §§ 239a Abs. I, 239b Abs. I o. S. 50. 103 Insoweit zutreffend Graul, Unmöglicher ZustandS. 352; Renzikowski, IZ 1994 S. 497; ders., IR 1995 S. 350; ders. , StV 1999 S. 648 f.; ferner Rengier, GA 1985 S. 319 f.; zur Strukturgleichheit der verschiedenen Personen-Konstellationen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 s. bereits o. S. 110 ff.- Nunmehr (vgl. o. S. 132 mit Fn. 50) drohen gar Friktionen mit § 253 Abs. 1 (Bsp.: T bemächtigt sich des Neugeborenen 0 in der Absicht, dessen Eltern D unter Androhung einer mehr als einwöchigen Gefangenschaft zu einem vermögensschädigenden Verhalten zu veranlassen). 104 Auch Rengier, GA 1985 S. 314 meint, das Problem scheine als solches "noch gar nicht ,entdeckt' worden zu sein". 105 Küper, Jura 1983 S. 210.

10 lmmel

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

§§ 239a Abs. l, 239b Abs. I nicht beachten 106. Man übersieht die Vorschriften gern, sei es geflissentlich 107, sei es "instinktiv" 108 .

bb) Einwände gegen Zaczyks Deutung der Drei-Personen-Verhältnisse als bloße Lückenfüller Immerhin mittelbar darum bemüht, die Anwendung des § 239a Abs. I in Fällen "typischer" Erpressung im Drei-Personen-Verhältnis zu fundieren, ist Zaczyk. Den Ausgangspunkt seiner Argumentation bildet die motivatorische Differenz zwischen der herkömmlichen Drohung und der Drittbedrohung. Beziehe der Täter die Übelszufügung nicht auf den Erpreßten selbst, sondern auf einen Dritten, so finde § 253 Abs. I nur Anwendung, wenn eben dieser Dritte dem Erpreßten nahestehe (vgl. auch § 35 Abs. I S. 1) oder Drohinhalt eine gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben (§ 255) sei. Entsprechend spät greife § 255. Er bedinge die vorgenannten Voraussetzungen kumulativ, verlange also sowohl einen qualifizierten Drohinhalt als auch ein noch näher zu konkretisierendes persönliches enges Verhältnis. Die §§ 255, 250, 251 erfaßten den praktisch bedeutsamen Fall des "Bankraubs" mithin nur ausnahmsweise. Denn ein solches Näheverhältnis bestehe nicht zwischen einem Kassierer und einem Bankkunden. Das sei aber keineswegs sachwidrig. Angemessene Strafbarkeilsergebnisse ließen sich nämlich über § 239a Abs. I erzielen. Diese Vorschrift schütze mit dem Leben und dem Leib des Dritten gerade jene Rechtsgüter, denen das Erpressungsstrafrecht keine Rechnung trage 109 . Der von Zaczyk gegebene Begriindungsversuch muß bereits daran scheitern, daß er auf die alte Dreiecksstruktur des § 239a Abs. I ausgerichtet ist; er kann nicht erklären, welche Funktion dem Zwei-Personen-Verhältnis neben dem Erpressungsstrafrecht zukommt. Davon abgesehen beruht er auf einer Interpretation der Drittbedrohung, der ich- in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung 110 entgegentrete 111 . 106 Für die Revisionsinstanz BGHSt 26, 24, 28 f. ; vgl. auch BGH, Urt. v. 25. 06. 1992 - 1 StR 325192 S. 1 f.; für die Tatsacheninstanz LG Trier bei BGH, Urt. v. 21.070.1976 S. 4, 5, 6; LG Hamburg, NJW 1977, 1931, 1931; LG Freiburg bei BGH, NStZ 1986, 166, 166; zu entsprechenden Nachlässigkeiten im Zwei-Personen-Verhältnis vgl. BGHSt 41, 123, 124 ff.; BGH, Urt. V. 07.03. 1996-4 StR 35196 S. 5 ff. 101 Vgl. Blei, JA 1975 S. 164 f. 108 Rengier, GA 1985 S. 315; vgl. auch Fahl, Jura 1996 S. 457,461. 109 Zaczyk, JZ 1985 S. 1060 f.; vgl. auch dens., JR 1999 S. 345 f. 110 Zu ihr u. S. 294. 111 Gegen Zaczyks Ansatz auch BGH, NStZ 1994, 186, 186; BGH, NStZ 1996, 494, 494; Eser, in: Schönke I Sehröder § 255 Rdn. 2, vor § 234 Rdn. 36; Günther, in: SK § 255 Rdn. 4, § 249 Rdn. 20; Herdegen, in: LK § 255 Rdn. 2, § 249 Rdn. 11; Kindhäuser, in: NK § 255 Rdn. 5, vor § 249 Rdn. 42; Krey, BT 2 Rdn. 310; Lackner I Kühl § 255 Rdn. 1; Tröndle I Fischer § 255 Rdn. I; befürwortend demgegenüber S. Cramer, NStZ 1998 S. 300; Krack, NStZ 1999 S. 135 mit Fn. 6; Mitsch, BT I § 3 Rdn. 35.

B. Die Instrumentarien zur Einschränkung ("Womit")

147

d) Ergebnis

Die Einmütigkeit, mit welcher Rechtsprechung und Lehre die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 im Drei-Personen-Verhältnis vorbehaltslos anwenden, besagt für sich genommen wenig.

3. Ergebnis Es ist gerechtfertigt, entgegen der eingangs erwähnten Ansicht vom Zwei-Personen-Verhältnis auf das Drei-Personen-Verhältnis zu schließen.

111. Ergebnis Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß strukturelle Erwägungen einer vorbehaltlosen Anwendung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 auf "typische" Nötigungssachverhalte nach Art der einleitend umschriebenen Beispielsfälle entgegenstehen. Der herrschenden Meinung zu den Zwei-Personen-Verhältnissen ist insofern zuzustimmen. Soweit jedoch angenommen wird, man dürfe diesen Befund auf die Zwei-Personen-Verhältnisse beschränken, muß dem widersprochen werden. Es ist vielmehr einheitlich zu argumentieren.

B. Die Instrumentarien zur Einschränkung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 ("Womit") Die Diskussion, die sich um die Einschränkung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 in Fällen "typischer" Nötigung (im Zwei-Personen-Verhältnis) rankt, wirft - wie Graul treffend festgestellt hat - "kein gutes Licht auf den methodischen Zustand des Strafrechts" überhaupt 112 • Es herrscht ein methodologisches "Kuddelmuddel"113, ein "ziemliches Durcheinander" 114 zwischen einschränkender Auslegung, teleologischer Reduktion und Konkurrenzlösung. Ein ebenso anschauliches wie abschreckendes Beispiel bietet etwa der Erste Senat, bei dem es - bezogen auf § 239b Abs. 1 - heißt: "Die gesetzessystematischen Argumente des Senats zur einschränkenden Auslegung können im Verhältnis zu § 240 nicht herangezogen werden ... Danach sind Grundsätze der Gesetzeskonkurrenz (Spezialität) im Verhältnis von §§ 177 (a. F.), 178 (a. F.) zu § 239b anwendbar; dagegen 112 113 114 10*

Graul, Unmöglicher ZustandS. 359. Graul, Unmöglicher Zustand S. 360. Graul, Unmöglicher ZustandS. 359.

148

3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. I zu den Nötigungsdelikten

kann § 240 im Verhältnis zu § 239b kein spezielles Delikt sein" 115 . Derartige Ausführungen können nur verwirren. Denn entweder man befürwortet eine gesetzessystematisch fundierte "einschränkende Auslegung" der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1; dann ist das Problem bereits auf der Ebene des Tatbestandes gelöst und es bedarf nicht erst eines Rückgriffs auf die Institutionen der allgemeinen Konkurrenzlehre. Oder aber man verzichtet auf eine Einschränkung schon des Tatbestandes; dann helfen allein die Grundsätze der Gesetzeskonkurrenz weiter, kann von "einschränkender Auslegung" keine Rede mehr sein. Welche dieser Alternativen verdient also Zustimmung - die Tatbestandslösung oder der Rekurs auf die Gesetzeskonkurrenz? Die meisten Vertreter der herrschenden Meinung (zum Zwei-Personen-Verhältnis) favorisieren den zuerst genannten Lösungsweg 116. Für die Gegenansicht stehen Geerds und Fahl. Sie meinen, die Nötigungsdelikte des Besonderen Teils seien spezieller als die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1117 beziehungsweise konsumierten selbige 118•

I. Die Konkurrenzlösung (von Geerds und Fahl) Für die von Geerds und Fahl vertretene Konkurrenzlösung könnte die "ursprüngliche Funktion" der Gesetzeskonkurrenz, genauer der "Grundsatz der ,absoluten Deliktsexklusion"', sprechen 119; mit der Gesetzeskonkurrenz fände "exakt der Satz von Regeln Anwendung, den die Strafrechtswissenschaft für den Fall herausgearbeitet hat, daß der Gesetzgeber das Zusammentreffen von Delikten nicht richtig bedacht oder übersehen hat" 120. Einschränkungen schon des Tatbestandes werden im übrigen auch anderenorts zu voreilig erwogen (Beispiele: wer eine fremde bewegliche Sache sich wiederholt zueignet, verwirklicht nicht den Tatbestand des§ 246 Abs. 1121 ; wer eine Erpressung unter Anwendung einer lediglich scheinbar gefährlichen Drohung begeht, verwirklicht nicht den Tatbestand des BGH, NStZ 1994,284, 284. - Hervorhebung von mir. Etwa BGHSt 39, 36, 38; 40, 90, 93; 40, 350, 359; Hel/mann, JuS 1996 S. 527 f.; Krey, BT 2 vor Rdn. 335a, Rdn. 335b, 335g; Rengier, BT 2 § 24 Rdn. 11 ff., 22 f.; Tenckhoff/ L. A. Baumann, JuS 1994 S. 838 f. 117 Geerds, JR 1993 S. 424 f. 118 Fahl, NJ 1996 S. 71 ; ders., Jura 1996 S. 460 f.; ebenso ansatzweise ders., JA 1997 S. 746; vgl. ferner BGH, NStZ 1994,283, 283; BGH, NStZ 1994,430,431. 119 Fahl, NJ 1996 S. 71. 120 Fahl, Jura 1996 S. 461. 115

116

121 So BGHSt 14, 38, 43 ff.; Krey, BT 2 Rdn. 174, 173a; Lackner I Kühl§ 246 Rdn. 7; Otto, BT § 42 Rdn. 23; Rengier, BT I § 5 Rdn. 22 f.; ferner Kindhäuser; in: NK § 246 Rdn. 62 f.; für einen lediglich konkurrenzrechtlichen Vorrang des die erstmalige Zueignung tragenden Delikts Eser; in: Schönke I Sehröder § 246 Rdn. 19; Ruß, in: LK § 242 Rdn. 81; Schroeder; in: Maurach, BT § 34 Rdn. 21 ff. ; Wesselsl Hillenkamp, BT 2 Rdn. 301 ff. ; nahestehend Hoyer; in: SK § 246 Rdn. 32.

B. Die Instrumentarien zur Einschränkung ("Womit")

149

§ 263 Abs. 1122; wer den Beweiswert einer Urkunde durch bloße Inhaltsänderungen schmälert beziehungsweise aufhebt, verwirklicht nicht den Tatbestand des § 274 Abs. l Nr. 1123). Es scheint nicht ratsam, derartige Unzulänglichkeiten aufzunehmen und den "naheliegendsten Vorschlag, das Problem auf der Konkurrenzebene zu lösen'" 24, einfach zu übergehen. Ein Rekurs auf die allgemeine Konkurrenzlehre kann freilich nur weiterhelfen, wenn - und damit bin ich bei der Kritik angelangt - l. die Voraussetzungen der Gesetzeskonkurrenz in Ansehung der hier interessierenden "typischen" Nötigung im Zwei- wie Drei-Personen-Verhältnis gegeben sind und 2. die Rechtsfolgen der Gesetzeskonkurrenz zur vollständigen Ausschaltung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. l im Einzelfall führen. Es ist zweifelhaft, ob Geerds und Fahl diesen Vorgaben genügen. 1. Die Voraussetzungen der Gesetzeseinheit

Das positive Konkurrenzrecht bietet mit den (geschriebenen) Regelungen zur Ideal-(§ 52) wie Realkonkurrenz(§§ 53 ff.) und den (ungeschriebenen) Grundsätzen der Gesetzeskonkurrenz (im folgenden: Gesetzeseinheit 125) in den Formen der unechten Ideal- wie Realkonkurrenz 126 verschiedene Instrumentarien an, die den Rechtsanwender in den Stand versetzen, der Mehrheit volldeliktischer Tatbestandsverwirklichungen differenziert Rechnung zu tragen. Vorliegend ist zu beachten: Es geht ausschließlich um die Frage, ob die "typische" Nötigung im Zwei- wie DreiPersonen-Verhältnis die Anwendung sowohl der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 als auch des jeweils korrespondierenden Nötigungsdelikts trägt. Wer diese Frage aus konkurrenzrechtlicher Sicht verneinen will, kann nicht umhin, die Rechtsfigur der Gesetzeseinheit in der Spielart der unechten Idealkonkurrenz (Gesetzeseinheit bei Handlungseinheit) heranzuziehen. Ihr werden gemeinhin drei Unterformen zuge122 SoRGSt 20, 326, 329 ff.; BGHSt 23, 294, 296; Mitsch, BT 1 § 7 Rdn. 45 f.; Otto, BT §53 Rdn. 20; Küper; NJW 1970 S. 2253 f.; Wesse1s/ Hillenkamp, BT 2 Rdn. 723; für einen lediglich konkurrenzrechtlichen Vorrang der §§ 253 Abs. 1, 255 Eser; in: Schönke I Sehröder § 253 Rdn. 37; Kindhäuser; in: NK § 253 Rdn. 90; Krey, BT 2 Rdn. 313 ff.; Rengier; BT I § 11 Rdn. 35. 123 So Geppert, Jura 1988 S. 160; Kienapfel, Jura 1983 S. 195 f. ; Lindemann, NStZ 1998 S. 24 f.; für einen lediglich konkurrenzrechtlichen Vorrang des § 267 Abs. 1 Var. 2 RGSt 3, 370, 371 f.; 59, 321, 322; Cramer, in: Schönke/Schröder § 267 Rdn. 71; Hoyer; in: SK § 274 Rdn. 12; Lackner/ Kühl§ 274 Rdn. 8; Rengier; BT 2 § 36 Rdn. 6; Wessels/ Hettinger; BT 1 Rdn. 898; für Tateinheit Krey, BT 1 Rdn. 693. 124 Fahl, JA 1997 S. 746. 125 Zur Terminologie Seier; Jura 1983 S. 225 f.; Warda, JuS 1964 S. 89 f. 126 Zur Einordnung Geppert, Jura 1982 S. 421 ff., 427 if.; Lackner/Kühl vor § 52 Rdn. 23 ff., 31 ff.; Rissing-van Saan, in: LK vor§ 52 Rdn. 67; Schmitt, ZStW 75 (1963) S. 45 f., 48 ff., 54 f. ; Warda, JuS 1964 S. 89,90 ff., 92; Wesse1s / Beulke, AT Rdn. 797,787 ff.; demgegenüber Jescheck/Weigend, AT § 69 II.

150

3. Kap. : Das Verhältnis der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. I zu den Nötigungsdelikten

wiesen, die Spezialität, Subsidiarität und Konsumtion 127. Zu prüfen ist, ob eine dieser drei Unterformen in casu greift.

a) Die Spezialität

Die Frage, ob mehrere Strafgesetze im Verhältnis der Spezialität zueinander stehen, ist strikt auf der Grundlage begriffslogischer Überlegungen zu beantworten128. Spezialität liegt demnach einerseits vor, wenn ein Vergleich der objektiven wie subjektiven Tatbestände ergibt, daß das eine Strafgesetz zusätzlich zu den Merkmalen des anderen Strafgesetzes Merkmale enthält, die den in Frage stehenden Unrechtsaspekt unter einem spezifischen Gesichtspunkt erfassen 129• Andererseits ist die sogenannte Spezialisierung von Begriffsmerkmalen, also der Fall zu beachten, in dem das eine Strafgesetz ein Merkmal des anderen, im übrigen gleichlautenden Strafgesetzes spezialisiert; die Spezialität wird insofern durch das Verhältnis des spezialisierenden Merkmals zu dem allgemeinen Merkmal vermitteit130. Hier wie dort tritt die begriffslogische Struktur der Spezialität klar zutage. Es ist dies die der Subordination (Einschließung). Ihr zufolge läßt sich sagen: Das allgemeine Gesetz liegt immer dann vor, wenn auch das spezielle Gesetz gegeben ist, ohne daß zugleich das Gegenteil zuträfe 131 . Die rechtliche Folge der Spezialität besteht in der Verdrängung des allgemeinen Gesetzes durch das spezielle Gesetz; Iex specialis derogat legi generali 132• Überträgt man diese Grundsätze auf das Verhältnis der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I zu den Nötigungsdelikten des Besonderen Teils, so zeigt sich schnell, daß der Gedanke der Spezialität nicht weiterführt. Denn es gibt sehr wohl strafbare Nötigungen außerhalb der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1133 •

127 So die h. M., vgl. Geppert, Jura 1982 S. 421; Lackner/Küh! vor§ 52 Rdn. 28, 25 ff.; Rissing-van Saan, in: LK vor § 52 Rdn. 67; Schmitt, ZStW 75 (1963) S. 52; Warda, JuS 1964 S. 90, 91; ferner Jescheck/Weigend, AT § 69 li; abw. etwa Klug, ZStW 68 (1956) S. 414 f.; Stree, in: Schänke/ Sehröder vor§ 52 Rdn. 104, 130 ff. 128 Geppert, Jura 1982 S. 421; Seier, Jura 1983 S. 228; Warda, JuS 1964 S. 90. 129 Geppert, Jura 1982 S. 421; Warda, JuS 1964 S. 90; Wessels/ Beulke, AT Rdn. 788; enger Seier, Jura 1983 S. 228, 235, der zudem die jeweiligen Rechtsfolgeanordnungen berücksichtigt wissen will. 130 Vgl. Rissing-van Saan, in: LK vor § 52 Rdn. 74 f.; Stree, in: Schänke/ Sehröder vor §52 Rdn. 110. 131 Klug, ZStW 68 (1956) S. 405 f. 132 Geppert, Jura 1982 S. 421; Jescheck/Weigend, AT§ 69 Il, 1; Warda, JuS 1964 S. 90. 133 So im Ergebnis auch BGHSt 40, 350, 360; Fahl, Jura 1996 S. 461; Müller-Dietz, JuS 1996 S. ll6; Renzikowski, JR 1995 S. 350.

B. Die Instrumentarien zur Einschränkung ("Womit")

151

b) Die Subsidiarität Die Konkurrenzfonn der (stillschweigenden) Subsidiarität wird im Gegensatz zur Spezialität auf wertende, genauer auf die Art von Überlegungen gegründet, die den Gesetzgeber hier und da dazu veranlassen, den Vorrang des einen Strafgesetzes vor dem anderen Strafgesetz explizit festzuschreiben (ausdrückliche Subsidiarität)134. Sie ist demzufolge gegeben, wenn die verwirklichten Strafgesetze einander entsprechende Schutzrichtungen aufweisen und ein Strukturvergleich, insbesondere der Vergleich der Strafdrohungen, ergibt, daß das eine Strafgesetz das andere Strafgesetz verdrängt. Ihr Hauptanwendungsgebiet ist der Fall, daß mehrere Gesetze verschiedene Stadien beziehungsweise verschieden intensive Arten ein und desselben deliktischen Angriffs erfassen 135 . Die Annahme eines konkurrenzrechtlichen Vorrangs des Nötigungsdelikts kraft Subsidiarität verbietet sich nicht schon deshalb, weil das Nötigungsstrafrecht Freiheitsschutzstrafrecht ist 136, die §§ 239a Abs. I, 239b Abs. I demgegenüber in erster Linie dem Schutz von Leben und Leib dienen 137 • Man kann nämlich durchaus die Ansicht vertreten, die Strafrahmen der Nötigungsdelikte des Besonderen Teils beruhten (mit-) entscheidend auf der möglichen Lebens- und I oder Leibesgefährlichkeit der Tat 138 . Auf der anderen Seite ginge es schwerlich an, den allgemeinen konkurrenzrechtlichen Grundsatz fruchtbar zu machen, demzufolge der weiter fortgeschrittene Rechtsgutsangriff den weniger weit fortgeschrittenen Rechtsgutsangriff im Wege der Subsidiarität verdrängt 139• Denn so viel steht fest: Das vom Täter verwirklichte Nötigungsunrecht, die (abstrakte) Gefährdung der Willensfreiheit des zu Erpressenden I zu Nötigenden, interessiert die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 nicht (primär) 140. Als Bedenken tritt hinzu das Wesen des subsidiären Delikts als eines Strafgesetzes, das eine Auffangfunktion erfüllt. Das Vorliegen einer derartigen Auffangfunktion scheint dort ausgeschlossen, wo das zu verdrängende Gesetz Mindeststrafen festsetzt, die diejenigen des verdrängenden Gesetzes um ein Vielfaches übersteigen 141 . Geppert, Jura 1982 S. 423; Warda, JuS 1964 S. 91 ; a.A. Schmitt, ZStW 75 (1963) S. 51. So im Grundsatz übereinstimmend Geppert, Jura 1982 S. 423 ff.; Jescheck/Weigend, AT § 69 li, 2; Rissing-van Saan, in: LK vor § 52 Rdn. 99 ff.; Samson!Günther; in: SK vor §52 Rdn. 92 ff.; Stratenwerth, AT 1 Rdn. 1190 ff.; Trändie /Fiseher vor§ 52 Rdn. 19; Warda, JuS 1964 S. 91 ; Wessels I Beulke, AT Rdn. 790; abw. Stree, in: Schönke I Sehröder vor § 52 Rdn. 105, 107 ff. 136 Hierzu vor allem o. S. 92 f. mit Fn. 134. 137 Zu letzterem o. S. 106 ff. 138 Mehr zu dieser Überlegung u. S. 202 ff. 139 Zu diesem Grundsatz etwa Geppert, Jura 1982 S. 423 f. ; Jescheck!Weigend, AT§ 69 li, 2b; Seier; Jura 1983 S. 229; differenzierend Samson/ Günther; in: SK vor§ 52 Rdn. 93; Stratenwerth, AT 1 Rdn. 1192; Warda, JuS 1964 S. 91. 140 0 . s. 84 ff. 141 Renzikowski, JR 1995 S. 350. 134 135

152

3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

c) Die Konsumtion

Es verbleibt die umstrittene Rechtsfigur der Konsumtion, ein Sammelbecken für all jene Fälle von Gesetzeseinheit, die weder der Spezialität noch der Subsidiarität zuzuordnen sind 142• Konsumtion ist nach überwiegender Ansicht gegeben, wenn mit der Verwirklichung des einen Strafgesetzes erfahrungsgemäß-typisch (bedeutet: nicht notwendig, nicht lediglich häufig 143) die Verwirklichung des anderen Strafgesetzes einhergeht und zudem Grund zu der Annahme besteht, der Gesetzgeber habe diese kriminalphänomenologische Besonderheit bereits bei der Aufstellung des Strafrahmens des einen Strafgesetzes beriicksichtigt. Dann nämlich darf man unterstellen: Die Verletzung auch des anderen Strafgesetzes schlägt nicht gesondert zu Buche; den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat insgesamt deckt schon derjenige ab, der sich auf die Anwendung des einen Strafgesetzes beschränkt144• Überpriift man demzufolge, ob es möglich ist, den Unrechts- und Schuldgehalt einer Tat nach den §§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1 als mit der Anwendung des Nötigungsdelikts abgegolten anzusehen, so drängt sich ein Bedenken geradezu auf. Es ist dies die Strenge der zu konsumierenden Vorschriften. Macht es grundsätzlich Sinn zu sagen, das strengere Strafgesetz falle neben dem weniger strengen Strafgesetz nicht nennenswert ins Gewicht und dürfe daher aus dem Urteilsspruch herausgehalten werden? Fahl bejaht diese Frage. Die Schwere der aufeinandertreffenden Strafgesetze tangiere die Voraussetzungen der Konsumtion nicht. Allein so sei zu erklären, warum die herrschende Ansicht zu dem Ergebnis gelange, daß der (abstrakt unrechtsschwere) Diebstahl von Treibstoff oder Schmiermitteln (§ 242 Abs. 1) hinter dem (abstrakt weniger unrechtsschweren) unbefugten Gebrauch eines Kraftfahrzeugs (§ 248b Abs. 1) zuriicktrete 145• Dazu ist zu sagen: Es stimmt zwar, daß ein Rekurs auf die Konsumtion nicht schon deshalb ausscheidet, weil das zu konsumierende Gesetz Strafdrohungen enthält, die diejenigen des konsumierenden Gesetzes übersteigen; als Beleg kann in der Tat die herrschende Meinung zu den §§ 248b Abs. 1, 242 Abs. 1 dienen 146• Hieraus läßt sich aber schwerGeppert, Jura 1982 S. 425. Seier, Jura 1983 S. 230 spricht hier treffend von dem Erfordernis einer "(statistischen) Regelmäßigkeit". 144 So im Grundsatz übereinstimmend Blei, AT§ 96 III, 3; Geppert, Jura 1982 S. 425; Jescheck/Weigend AT§ 69 II, 3; lAckner/Kühl vor§ 52 Rdn. 27; Rissing-van Saan, in: LK vor§ 52 Rdn. 116 ff.; Samson/Günther, in: SK vor§ 52 Rdn. 97 f.; Schmitt, ZStW 75 (1963) S. 50; Stratenwenh, AT 1 Rdn. 1187 ff.; Tröndle/Fischer vor § 52 Rdn. 20; Warda, JuS 1964 S. 90 f.; Wesseist Beulke, AT Rdn. 791. 145 Fahl, NJ 1996 S. 71; ders., Jura 1996 S. 461. 146 BGHSt 14, 386, 389; OLG Celle, NJW 1953, 37, 38; OLG Köln, JMBI. NW 1954, 204, 205; Kindhiiuser, in: NK § 248b Rdn. 26; Samson/Günther, in: SK vor§ 52 Rdn. 98; Stratenwenh, AT 1 Rdn. 1189; Wesseist Hillenkamp, BT 2 Rdn. 403; für Subsidiarität des § 242 Abs. 1 Eser, in: SchönketSchräder § 248b Rdn. 15; Tröndle /Fischer§ 248b Rdn. 9; für Spezialität des§ 248b Abs. 1 Otto, BT § 48 Rdn. 13; für einen Ausschluß schon des Tatbestandes des § 242 Abs. 1 Lackner I Kühl § 248b Rdn. 6; differenzierend Schroeder, in: Maurach, BT § 37 Rdn. 11. 142 143

B. Die Instrumentarien zur Einschränkung ("Womit")

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lieh ein allgemeingültiger Grundsatz ableiten, demzufolge die Strafdrohungen der aufeinandertreffenden Gesetze überhaupt zu vernachlässigen seien. Das Erfordernis der Mitabgeltung zwingt vielmehr zu Differenzierungen. Den Ausschlag gibt nicht (allein) der Strafrahmen, sondern (auch) der ihn ausfüllende Unrechtssachverhalt Der systematisch zwingende Vorrang des § 248b Abs. 1 vor § 242 Abs. 1 im Falle des Benzindiebstahls folgt aus der materiellen Erwägung, daß der konkrete Angriff auf das Eigentumsobjekt "Fahrzeug" 147 schwerer wiegt als der konkrete Angriff auf das Eigentumsobjekt "Benzin". Diese Besonderheit läßt sich auf der Ebene der Deliktstatbestände nicht sinnvoll berücksichtigen, womit als Korrektiv allein die Konkurrenzen verbleiben. Verallgemeinemd darf gesagt werden: Mitabgeltung im hier in Rede stehenden Sinne liegt auch dann vor, wenn die konkrete Verwirklichung des abstrakt schwerer wiegenden Sekundärdelikts gegenüber der konkreten Verwirklichung des abstrakt weniger schwerwiegenden und dennoch systematisch vorrangigen Primärdelikts nicht ins Gewicht fallt. Ob diese Grundsätze vorliegend verwertbar sind, scheint immerhin fraglich. Hinzu kommt folgendes: Rekurriert man auf das Rechtsinstitut der Konsumtion, so läßt sich die Annahme eines konkurrenzrechtlichen Vorrangs des Nötigungsdelikts nur unter der Voraussetzung halten, daß der jeweils korrespondierende Geiselnahmetatbestand erfahrungsgemäß-typisch, also in statistischer Regelmäßigkeit, mitverwirklicht wird. Gerade dies ist nun zweifelhaft, wie ein Blick auf die Vielfalt denkbarer Nötigungssachverhalte beweist. Sicherlich mag es so sein, daß die Vergewaltigung nach § 177 Abs. 1, 2 S. 2 Nr. 1 "hinreichend häufig" zu § 239b Abs. 1 führt. Vertretbar, wenngleich nicht unproblematisch, scheint weiterhin die Annahme, die Bestrafung des Täters aus den§§ 249 Abs. 1, 255 gelte auch die ,,regelmäßig" hinzutretende Verletzung des § 239a Abs. 1 ab. Wie aber verhält es sich im übrigen? Fällt etwa der Täter einer sexuellen Nötigung "üblicherweise" unter § 239b Abs. 1? Was gilt in den Fällen des § 240 Abs. 1, 2? Gehört es zu den "gewöhnlichen Begleitumständen" einer Tat nach § 113 Abs. 1 Alt. 1, daß der Täter die Voraussetzungen des Geiselnahmetatbestandes verwirklicht? Will man den ohnehin schon wenig konturenscharfen Begriff der Konsumtion nicht überhaupt aufgeben, so dürfte es kaum gelingen, die vorstehenden Fragen im Sinne eines konkurrenzrechtlichen Vorrangs des Nötigungsdelikts zu beantworten. Das aber bedeutet: Die Rechtsfigur der Konsumtion muß insgesamt versagen. Denn es geht schon aus systematischen Gründen nicht an, das Verhältnis der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten des Besonderen Teils deliktsspezifisch (tatzielorientiert) festzulegen 148 •

147 Zur Deutung des § 248b Abs. 1 als eines Delikts zum Schutz von Eigentum s. Eser, in: Schönke I Sehröder § 248b Rdn. l; Lackner I Kühl § 248b Rdn. l ; Hoyer, in: SK § 248b Rdn. l, 16; auf das Nutzungsrecht an dem Fahrzeug rekurriert Kindhäuser, in: NK § 248b Rdn. 2. 148 0 . s. 133 ff.

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I zu den Nötigungsdelikten

d) Ergebnis

Es ist überhaupt fraglich, ob die Voraussetzungen der Gesetzeseinheit in der Spielart der unechten Idealkonkurrenz vorliegend gegeben sind. Viel spricht dafür, diese Frage zu verneinen und Geerds und Fahl schon aus diesem Grund die Gefolgschaft zu verweigern.

2. Die Rechtsfolgen der Gesetzeseinheit Der Rekurs auf das Rechtsinstitut der Gesetzeseinheit sieht sich aber noch einem weiteren Bedenken ausgesetzt. Es ist dies die Sachwidrigkeit der durch ihn erzielten Ergebnisse. Meine These lautet nämlich: Die als notwendig herausgestellte Ausschaltung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 in Fällen "typischer" Nötigung im Zwei- wie Drei-Personen-Verhältnis läßt sich mit den Instrumentarien der Konkurrenzlehre nicht erreichen. Die Behauptung, es spiele keine Rolle, auf welcher Ebene des Verbrechensaufbaus die Korrektur letztlich erfolge (sogenannte Austauschbarkeit von Tatbestands- und Konkurrenzlösung) 149, ist evident falsch. a) Die (fehlenden) Auswirkungen der Gesetzeseinheit auf die Strafbarkeit des Tatbeteiligten

Das konkurrenzrechtlich verdrängte Gesetz findet nach praktisch einhelliger Ansicht jedenfalls insofern uneingeschränkt Anwendung, als es um die Bestrafung möglicher Tatbeteiligter geht 150. Wenn der getäuschte Gehilfe G also irrtümlich annimmt, daß der Haupttäter T einen fälligen und einredefreien Anspruch auf die geraubte Sache hat, so haftete er nach den §§ 239b Abs. 1, 27 Abs. 1; ein konkurrenzrechtlicher Vorrang der§§ 240 Abs. 1, 2, 27 Abs. 1 schiene nicht begründbar. Der täuschende T gelangte demgegenüber in den Genuß der Konkurrenzlösung, würde also, trotz tatbestandlicher Verwirklichung des § 239b Abs. 1, allein aus § 249 Abs. 1 bestraft. Das kann nicht richtig sein. b) Die (fehlenden) Auswirkungen der Gesetzeseinheit im übrigen

Tatbestands- und Konkurrenzlösung entsprechen sich zwar insofern, als der Schuldspruch hier wie dort um das auszuschaltende Strafgesetz erleichtert wird; wesentliches Kennzeichen der Gesetzeseinheit ist die Nichtaufführung der ver149 Amelung/Cirener/Grüner, JuS 1995 S. 49; Geerds, JR 1993 S. 424; ebenso offenbar Fahl, Jura 1996 S. 459; nur scheinbar ebenso Graul, Unmöglicher Zustand S. 348; MüllerDietz, JuS 1996 S. 112. 1so Geppert, Jura 1982 S. 426 spricht von einer "Selbstverständlichkeit arn Rande".

B. Die Instrumentarien zur Einschränkung ("Womit")

155

drängten Vorschrift im Tenor 151 • Im übrigen überwiegen jedoch die Unterschiede. Wenn Geerds das Wesen der Gesetzeseinheit demgegenüber darin erblickt, daß nach dem Willen des Gesetzgebers bestimmte Strafgesetze, deren Voraussetzungen an sich vorlägen, neben einem anderen Gesetz nicht anwendbar seien, weil nur dieses eine materielle Strafberechtigung enthalte und eine Anwendung der anderen Vorschriften im Widerspruch zu einem sinnvollen Zusammenwirken der Strafrechtsordnung stehen würde und ungerecht wäre 1s2 , so stimmt er nicht mit der herrschenden Meinung überein. Tatsächlich bleibt das konkurrenzrechtlich verdrängte Gesetz in vielerlei Hinsicht bedeutsam 153 . Es hat zunächst einmal maßgeblichen Einfluß auf die Höhe der zu verhängenden Strafe; das ergibt sich einerseits aus dem Grundsatz der Sperrwirkung der Strafrninima 154, andererseits daraus, daß (außerhalb des Anwendungsbereichs des Doppelverwertungsverbots) schon die Tatsache der Tatbestandsverwirklichung Strafzumessungsgesichtspunkt ist 1ss. Vermögens- und Nebenstrafen können ferner ebenso auf das zurücktretende Gesetz gestützt werden wie Nebenfolgen oder Maßnahmen im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 8 1s6 • Schließlich ist zu berücksichtigen, daß die Rechtsfolgen der Gesetzeseinheit insgesamt aufgehoben sind, wenn der Rekurs auf das verdrängende Gesetz an materiellen oder formellen Hindernissen scheitert 1s7 • Gerade dieser Gesichtspunkt erscheint vorliegend bedeutsam, ist die Konkurrenzlösung doch sichtlich nicht dazu imstande, die Vorverlegungsproblematik zu bewältigen. So versagt der Rekurs auf die Gesetzeseinheit dort, wo es an einer zumindest versuchten Nötigung 151 Statt vieler Engelhardt, in: KK § 260 Rdn. 34; Kleinknecht I Meyer-Goßner § 260 Rdn. 26; Schlüchter, in: SK-StPO § 260 Rdn. 26. 152 Geerds, Konkurrenz S. 167,230 ff.; im Ergebnis zustimmend z. B. Fahl, NI 1996 S. 71; ders., Jura 1996 S. 460; Puppe, Idealkonkurrenz S. 355 sowie passim; dies., GA 1982 S. 160 sowie passim; ebenso die früher h. M., etwa RGSt 59,321,325 f.; Frank [18.] § 73 Anm. VII; Mezger, IW 1937 S. 628. 153 So grundsätzlich übereinstimmend die u. auf dieser S. in Fn. 154 ff. genannten Judikate sowie Geppert, Jura 1982 S. 426; Jescheck/Weigend, AT§ 69 III; Lackner!Kühl vor§ 52 Rdn. 28 f.; Rissing-van Saan, in: LK vor§ 52 Rdn. 70 ff., 93 ff., 111 ff., 120; Samson/Günther, in: SK vor § 52 Rdn. 105; Schmitt, ZStW 75 (1963) S. 52 f.; Stratenwerth, AT I Rdn. 1200 ff.; Stree, in: Schönke/Schröder vor§ 52 Rdn. 141, 134 ff.; Tröndle/Fischer vor §52 Rdn. 23 f.; Warda, JuS 1964 S. 92 f.; Wessels/ Beulke, AT Rdn. 792; vgl. aber auch die Analyse von Seier, Jura 1983 S. 232 f., 234 ff. 154 BGHSt 1, 152, 155 f.; 7, 307, 312; 8, 46, 52; 10,312, 315; 15, 345, 346; 20,235, 238; 30, 166, 167; a.A. OLG Köln, NJW 1953, 1762, 1763. 155 BGHSt I, 152, 155; 21, 183, 185; 30, 166, 167; BGH, NStZ-RR 1996, 20, 21; OLG Köln, NJW 1953, 1762, 1763; OLG Hamm, NJW 1973, 1891, 1891; ähnlich bereits RGSt 26, 312, 313 f.; 59, 147, 148; 63,423, 424. 156 BGHSt 7, 307, 312; 8, 46, 52; BGH, Urt. v. 27. 03. 1952-4 StR 1002/51 S. 8 f.; a.A. OLG Köln, NJW 1953, 1762, 1763. 157 So für das Fehlen einer materiellen Strafungsvoraussetzung (hier: Schuld, Einsichtsfähigkeit) RGSt 47, 385, 388 f.; (hier: Versuchsstrafbarkeit) RGSt 68, 204, 208; BGHSt 30, 235, 236; (hier: Nichtvorliegen eines Rücktritts) RGSt 68, 204, 207 f.; BGHSt J, 152, 155 f.; 16, 122, 123 f.; 21 , 266, 267; für das Fehlen einer Verfahrensvoraussetzung (hier: Nichtvorliegen der Verjährung) RGSt 39, 353, 356; vgl. aber auch RGSt 47, 385, 388.

156

3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

fehlt 158 . In Gefahr gerät überdies die- anzuerkennende 159 - motivatorische Wirkung des Rücktrittsprivilegs. Denn die kriminalpolitisch sinnvolle Beseitigung rücktrittshindernder Hemmnisse wird durch die Strenge der bereitstehenden §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 mehr als ausgeglichen; in diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, daß die Höchststrafe des verdrängten Gesetzes den Strafrahmen des verdrängenden Gesetzes nicht ausweiten kann 160. Die Berufung auf die Grundsätze der Gesetzeseinheit führte somit letztlich zu der absurden Konsequenz eines "Rücktrittsverbotes" 161 . Sie ließe sich schon deshalb kaum halten. Nun mag man einwenden, entsprechende Friktionen drohten auch anderenorts, etwa dort, wo privilegierende Tötungsdelikte auf qualifizierende Körperverletzungsdelikte träfen. Die herrschende Meinung vermeide insofern unangemessen strenge Strafbarkeitsergebnisse, indem sie das Körperverletzungsdelikt als durch das gemäß § 24 Abs. 1 wegfallende Tötungsdelikt gesperrt ansehe 162. Wer so argumentierte, behandelte indessen bloß das Symptom, obgleich der eigentliche Befund, die Sachwidrigkeit einer konkurrenzrechtlichen Argumentation, längst erhoben wäre. Ich meine: Es macht wenig Sinn, zunächst ein Bedürfnis für die Einschränkung schon des Tatbestandes zu leugnen, sodann aber anzuerkennen, daß die Grundsätze der Gesetzeseinheit in bestimmten Fällen doch eine Korrektur oberhalb der Konkurrenzebene erfordern. Was die erwähnte Sperrwirkung des§ 216 Abs. 1 anbelangt, so mag sie hingenommen werden, weil und soweit der Tatbestand des § 226 Abs. 1, 2 verträgliche Lösungen nicht gewährleistet 163 • Sobald jedoch der Unrechtstyp Raum für Abhilfe bietet, sollten andere Überlegungen den Ausschlag geben. Jener Raum ist im Rahmen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 aufzuspüren und auszufüllen. Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt: Die Rechtsfolgen der Gesetzeseinheit decken sich weitestgehend mit denen der Idealkonkurrenz nach§ 52 164. Die Ausschaltung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 auf dem Konkurrenzweg führt nicht zu dem erstrebten Ziel. Sie hat letztlich nur einen optischen Effekt, der im übriGeppert, in: JK §§ 239a, 239b K. 6a; Renzikowski, JR 1998 S. 127. So die zutreffende h. M., vgl. u. S. 332 f., 337 mit Fn. 18. 160 So die h. M., vgl. nur BGHSt 30, 166, 167 f.; Jescheck!Weigend, AT§ 69 III, 2; Stree, in: Schönke/Schröder vor§ 52 Rdn. 141; Trändie/Fiseher vor§ 52 Rdn. 23; a.A. Jakobs, AT 31. Abschn. Rdn. 39. 161 Britz/Müller-Dietz, Jura 1997 S. 319; Geppert, in: JK §§ 239a, 239b K. 6a; Tenckhoff/ L. A. Baumann, JuS 1994 S. 839. 162 So für die§§ 216 Abs. I, 226 Abs. I, 2 etwa Hirsch, in: LK vor§ 223 Rdn. 16; Horn, in: SK § 216 Rdn. 18; Krey, BT I Rdn. 245, 243 f. ; Laclcner I Kühl§ 216 Rdn. 7; Rengier, BT 2 Rdn. § 21 Rdn. 4. 163 I. d. S. die Einheitstheorie der h. M., zu ihr etwa BGHSt 44, 196, 199; BGH, StV 1997, 188, 188; Krey, BT 1 Rdn. 230; Otto, BT § 24 Rdn. 5; Wessels/ Hettinger, BT 1 Rdn. 320; a.A. die Gegensatztheorie, etwa Welze/, in: Festschrift für v. Weber S. 245 f., der freilich differenziert und die Rücktrittsmöglichkeit im Falle gegebener Exklusivität verneint. 164 Geppert, Jura 1982 S. 426; Schmitt, ZStW 75 (1963) S. 53; Stree, in: Schönke/Schröder vor § 52 Rdn. 103; Trändie I Fischer vor § 52 Rdn. 23; vgl. aber auch Seier, Jura 1983 s. 234 ff. 158 159

B. Die Instrumentarien zur Einschränkung ("Womit")

157

gen fragwürdig ist, weil er verdeckt, daß für die verhängte Strafe der Strafrahmen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 mit seiner Untergrenze maßgebend bleibt 165 . Fahl tritt dieser zuletzt genannten Schlußfolgerung entgegen. Er meint, das Postulat der Sperrwirkung des verdrängten Gesetzes sei in der Pauschalität, mit der es gemeinhin vertreten werde, nicht zu halten 166• Stellte die Mindeststrafe des verdrängten Gesetzes tatsächlich eine unüberbrückbare Hürde dar, so wären alle gesetzlichen Privilegierungen obsolet 167 . An anderer Stelle heißtes-bezogen auf die §§ 177 Abs. I a. F., 178 Abs. 1 a. F., 239b Abs. 1 -etwas volkstümlicher: "Daran, daß hier ein Delikt mit geringerer Strafdrohung eines mit höherer Strafdrohung konsumiert, darf man sich nicht stören" 168• Indessen geht dies fehl. Es stimmt zwar, daß die vorstehend skizzierte herrschende Meinung zu den Rechtsfolgen der Gesetzeseinheit insofern zu präzisieren ist, als beabsichtigte Vergünstigungen der Primärnorm nicht unter Rekurs auf die Sekundärnorm unterlaufen werden dürfen 169 ; so verbietet die Sperrwirkung des privilegierenden Tatbestandes die Anwendung des § 240 Abs. 1, 2 in den Fällen des § 113 Abs. 1 Alt. 1170. Das bedeutet jedoch keineswegs, daß nun auch im Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten des Besonderen Teils entsprechende Zurückhaltung angezeigt wäre. Denn die Annahme, die §§ 177 Abs. 1, 255 umschrieben privilegierende Abwandlungen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 mutet "nachgerade absurd" an 171 . 3. Ergebnis

Eine Lösung über die Konkurrenzen läßt sich weder hinreichend begründen, noch führt sie zu dem angestrebten Ergebnis, der vollständigen Ausschaltung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 im Einzelfall. Sie verdient daher keine Zustimmung.

II. Die Tatbestandslösung (der herrschenden Meinung) Mit Blick auf diese Erkenntnis ist zur Tatbestandslösung samt der an ihr geübten Kritik 172 überzuschwenken. 165 BGH, NStZ 1994, 430, 431; BGH, NStZ 1994, 481 , 482; Geppert, in: JK §§ 239a, 239b K. 6a; Graul, Unmöglicher ZustandS. 361; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 115 f.; Tenckhoff! L. A. Baumann, JuS 1994 S. 839. 166 Fahl, NJ 1996 S. 71 ; ders., Jura 1996 S. 460; vgl. auch Geerds, JR 1993 S. 425. 167 Fahl, Jura 1996 S. 461. 168 Fahl, NJ 1996 S. 71. 169 Anerkannt, BGHSt 24, 262, 266; 30, 235, 236; OLG Celle, NJW 1953, 37, 38; Samsan/Günther; in: SK vor§ 52 Rdn. 105; Stree, in: Schönke/Schröder vor§ 52 Rdn. 136, 139, 141; Tröndle I Fischer vor § 52 Rdn. 23 f. 170 Hierzu bereits o. S. 70. l7l So zutreffend Graul, Unmöglicher Zustand S. 361 ; ferner Bohlander; NStZ 1993 S. 440; Heinrich, NStZ 1997 S. 366.

158

3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

1. Die methodologischen Grundlagen

Die herrschende Meinung der allgemeinen Methodenlehre unterscheidet drei Stufen der Rechtsfindung. Es sind dies die Rechtsfortbildung secundum, praeter und contra legem 173 . Sinn dieser Unterscheidung ist die Abgrenzung der- zulässigen, gebotenen - Gesetzesanwendung von der - grundsätzlich unzulässigen - Gesetzeskorrektur174. Als Unterscheidungskriterien gelten sowohl der Text als auch die Genese beziehungsweise ratio der Norm. Kontrovers ist, ob die Rechtsfortbildung secundum Iegern subjektiv-historischen oder objektiv-teleologischen Prämissen folgt 175 . Diese Kontroverse setzt sich bei der Abgrenzung der Rechtsfortbildung praeter Iegern von der Rechtsfortbildung contra Iegern fort. Sie prägt dort das ausschlaggebende Erfordernis der Lücke 176• In der Methodenlehre hat sich die folgende Lösungsformel durchgesetzt: Das Ziel der Rechtsfindung bildet der normative Sinn des Gesetzes. Dieser aber ist "unter Berücksichtigung auch der Regelungsabsichten und der konkreten Normvorstellungen des historischen Gesetzgebers, keinesfalls unabhängig davon festzustellen"177. "Dabei spielt auch das Zeitmoment eine Rolle: neue Gesetze werden eher aus den Materialien auszulegen sein, während bei alten Gesetzen der durch die Rechtsanwendung erarbeitete objektive Bedeutungsgehalt mehr in den Vordergrund tritt'.I 78 .

a) Die Rechtsfortbildung secundum legem

Von Rechtsfortbildung secundum Iegern, der "Interpretation im engeren Sinne" oder auch "einfachen Auslegung" 179, kann- insoweit begnüge ich mich mit einer negativen Eingrenzung - jedenfalls dann keine Rede mehr sein, wenn die Entscheidung des Rechtsanwenders außerhalb der sprachlichen Grenzen des Normtextes anzusiedeln ist. Der Gesetzeswortlaut stellt sowohl den Ausgangs- als auch Endpunkt der Auslegung dar 180• Zu ihr bereits o. S. 138, 140. Canaris, Systemdenken S. 91, 119 sowie passim; Krey, Gesetzesvorbehalt S. 246 sowie passim; ders. , JZ 1978 S. 361 f.; ders., ZStW 101 (1989) S. 839; Larenzl Canaris, Methodenlehre S. 187 f.; a.A. etwa H.-P. Schneider, DÖV 1975 S. 447. 174 Larenzl Canaris, Methodenlehre S. 187 f., 191 sowie passim. m EngischiWürtenbergeriD. Otto, Juristisches Denken S. 110 ff. 176 Engisch I Würtenberger I D. Otto, Juristisches Denken S. 192 sowie passim. 177 Larenzl Canaris, Methodenlehre S. 139. 178 Jescheck/Weigend, AT§ 17 IV, 2. 179 Larenz l Canaris, Methodenlehre S. 188. 180 BVerfGE 47, 109, 120 f.; 64, 389, 393; 73, 206, 235 f. ; BGHSt 4, 144, 148; 26, 95, 96; 37, 226, 230; Krey, Gesetzesvorbehalt S. 246 f. sowie passim; ders., ZStW 101 (1989) S. 842 ff.; LarenziCanaris, Methodenlehre S. 141, 145, 187 sowie passim. 172

173

B. Die Instrumentarien zur Einschränkung ("Womit")

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b) Die Rechtsfortbildung praeter und contra legem

Die Wortlautgrenze verkörpert jedoch keineswegs das einzige oder auch nur vorrangige Unterscheidungskriterium 181 . Zu beachten sind weiterhin die Genese undratioder Norm. Sie allein bieten die erforderliche Gewähr dafür, daß die Entscheidung des Rechtsanwenders nicht nur formal "richtig", sondern auch sachlich angemessen, im Idealfall materiell fundiert, ist. Damit gelange ich zu den beiden nachfolgenden Stufen der Rechtsfindung, der Rechtsfortbildung praeter sowie contra Iegern. Ihre Voraussetzungen und Folgen divergieren durchaus beträchtlich, was etwas weiter reichende Ausführungen erforderlich macht. aa) Die Voraussetzungen der Rechtsfortbildung praeter und contra Iegern Als Unterscheidungskriterium gilt die sogenannte Regelungslücke, ein Rechtsbegriff, der gemeinhin mit der Wendung "planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes" gleichgesetzt wird 182 . Die Rechtsfortbildung praeter Iegern umschreibt den Bereich der Rechtsfindung, der sich als Fortführung des gesetzlichen Planes darstellt. Rechtsfortbildung contra Iegern liegt demgegenüber vor, wenn die Entscheidung des Rechtsanwenders weder im Text noch im Plan des Gesetzes Rückhalt findet, gewissermaßen vom Rechtsanwender an das Gesetz herangetragen wird 183 . Die Unvollständigkeit des Gesetzes kann auf verschiedenen Gründen beruhen, je nachdem, welcher Art das vom Rechtsanwender zu lösende Problem ist. Zu unterscheiden sind zwei Ausgangslagen. Fehlt es an einer vom Wortlaut her einschlägigen Norm, so folgt die Unvollständigkeit des Gesetzes aus eben diesem Manko (Situation der Analogie im engeren Sinne) 184. Reicht der Wortlaut der Norm weiter als er eigentlich reichen sollte, so folgt die Unvollständigkeit des Gesetzes aus dem Fehlen einer entsprechenden Ausschlußklausel (Situation der teleologischen Reduktion) 185 . Die vorgenannte Unvollständigkeit des Gesetzes widerspricht nur dann dem Plan, wenn sie mit der Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebers (subjektive 181 BVerfGE 54, 277, 299 f.; 59, 330, 334; Engisch/Würtenberger/D. Otto, Juristisches Denken S. 181 f., 92 f. mit Fn. 31; Krey, ZStW 101 (1989) S. 861, 866 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre S. 187, 191; Michel, JuS 1961 S. 279; a.A. (sog. "clair-sense-doctrine") H.-P. Schneider, DÖV 1975 S. 450, 452; J. Ipsen, DVBI. 1984 S. 1104; Leisner, DVBI. 1986 S. 707 f.; Schack, JuS 1961 S. 273 f. 182 Engisch/Würtenberger/D. Otto, Juristisches Denken S. 179; Krey, JZ 1978 S. 364; Larenz I Canaris, Methodenlehre S. 194. 183 Vgl. etwa Larenz/ Canaris, Methodenlehre S. 191,232 f .; weiterführend vor allem Canaris, Lücken im Gesetz S. 15 ff. 184 Krey, JZ 1978 S. 364, 365; Larenz/ Canaris, Methodenlehre S. 198 f., 202 ff. 185 Krey, JZ 1978 S. 364, 365; Larenz/ Canaris, Methodenlehre S. 198 f., 210 ff.

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

Theorie) beziehungsweise der ratio des Gesetzes (objektive Theorie) in Konflikt gerät 186. Es bedarf insofern des Nachweises, daß das Fehlen der erstrebten Regelung Resultat eines gesetzgebensehen beziehungsweise gesetzlichen Fehlers ist. In den Worten von Engisch: "Wir dürfen eine Regelung nicht bloß vermuten, wir müssen sie vermissen, falls ihr Nichtvorhandensein sich als ,Lücke' darstellen solL Das Nichtvorhandensein der betreffenden Regelung kann aber einem maßgeblichen Plan des Gesetzgebers beziehungsweise des Gesetzes entsprechen und bedeutet dann keine ,Lücke', die sich ja stets als ein solcher ,Mangel' darstellen muß, dem wir zu Leibe zu rücken befugt sind" 187 . Der besagte Nachweis wird nicht schon dadurch ausgeschlossen, daß der Normtext klare und eindeutige Lösungen vorgibt 188 . Richterliche Lückenfüllung ist vielmehr allein dort unzulässig, "wo der Gesetzgeber hinreichend deutlich gemacht hat, er wolle der richterlichen Rechtsfortbildung hier einen Riegel vorschieben". Die Normierung muß ",eindeutig' als abschließend" gemeint sein, "wobei dies Eindeutigkeilskriterium dahin zu umschreiben ist, es müsse sich das Verständnis der fraglichen Regelung als abschließend quasi aufdrängen" 189. Eine Korrektur des Gesetzes (Rechtsfortbildung contra Iegern) liegt demnach nur vor, wenn die Entscheidung des Rechtsanwenders sowohl den Normtext als auch den gesetzgebensehen beziehungsweise gesetzlichen Regelungszweck klar rnißachtet 190. Gesetzesergänzende Lückenfüllung mittels Analogie oder teleologischer Reduktion (Rechtsfortbildung praeter Iegern) praktiziert dagegen derjenige, der - den Normtext beiseiteschiebend - darum bemüht ist, den gesetzgebensehen beziehungsweise gesetzlichen Regelungszweck bestmöglich zum Zuge zu verhelfen. Die lediglich teilweise Modifizierung oder Preisgabe vorhandener Wertungen schadet (anders als ihre Verkehrung, vollständige Umkehrung) nicht 191 . bb) Die Folgen der Rechtsfortbildung praeter und contra Iegern (im Strafrecht) Zeitigt die den Gesetzeswortlaut mißachtende Entscheidung des Rechtsanwenders täterbenachteiligende Auswirkungen, so ist sie als unzulässig zu erachten und als unbeachtlich zu verwerfen (Art. 103 Abs. 2 GG). Dies gilt sowohl für die Rechtsfortbildung praeter Iegern 192 als auch und erst recht für die Korrektur des 186 Engisch/Würtenberger/D. Otto, Juristisches Denken S. 180, 184, 192; Larenz/Canaris, Methodenlehre S. 194 f. sowie passim. 187 Engisch/Würtenberger/D. Otto, Juristisches Denken S. 180. 188 So die h. M., vgl. o. S. 159 mit Fn. 181. 189 Krey, JZ 1978 S. 366. 190 BVerfGE 8, 210, 220 f. ; 54, 277, 299 f.; 59, 330, 334; BGHSt 22, 146, 153; Canaris, Systemdenken S. 119; Krey, JZ 1978 S. 366; ders., ZStW 101 (1989) S. 866. 191 Im Anschluß an Krey, JZ 1978 S. 367; ders., ZStW 101 (1989) S. 866; vgl. ferner BVerfGE 8, 28, 33 ff.; 48, 40,46 f.; 54, 277, 299 f.

B. Die Instrumentarien zur Einschränkung ("Womit")

161

Gesetzes mittels Rechtsfortbildungcontra legem 193 . Kommt sie dem Täter zugute, so muß differenziert werden. Die analoge Anwendung einer strafausschließenden/ -mildernden Vorschrift ist ebenso unbedenklich wie die teleologische Reduktion einer die Strafhaftung begrundenden I erschwerenden Norm 194. Von Verfassungs wegen (vgl. die Art. 20 Abs. 3, 1, 2, 97 Abs. 1 GG) grundsätzlich untersagt ist demgegenüber die täterbegünstigende Rechtsfortbildung contra Iegern. Ausnahmen sind lediglich dort zu erwägen, wo unerträgliche Wertungswiderspruche drohen195. Der Einwand, die gesetzliche Regelung erzwinge unbillige, unvernünftige, unsoziale oder unzeitgemäße Ergebnisse, genügt nicht 196.

2. Die erwogene Einschränkung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 im Lichte der allgemeinen Methodenlehre Mißt man die §§ 239a Abs. l, 239b Abs. 1 an diesen Vorgaben, so zeigt sich, daß es nicht möglich ist, auf die erste Stufe der Rechtsfindung, die Rechtsfortbildung secundum Iegern, zu rekurrieren. Denn die Wortlautwidrigkeit der erstrebten Einschränkung ist evident. Wenn überhaupt, so helfen allein die Grundsätze der Rechtsfortbildung praeter Iegern, genauer die der teleologischen Reduktion, weiter 197. Die erstrebte Tatbestandseinschränkung stellt sich als methodologisch zulässig dar, wenn sie eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes beseitigt. Daß die 192 Ganz h. M., vgl. vor allem Krey, Gesetzesvorbehalt S. 247 f. sowie passim; dens., JZ 1978 S. 362; dens., ZStW 101 (1989) S. 842 ff.; ferner Jescheck/Weigend, AT§ 15 III, 2; Roxin, AT 1 § 5 Rdn. 8, 28 ff.; Weber, in: Baumann, AT § 9 Rdn. 84 ff.; a.A. Jakobs, AT 4. Abschn. Rdn. 35 ff.; Sax, Analogieverbot S. 152 ff.; Stratenwerth, AT 1 Rdn. 98 ff. 193 Anerkannt, statt aller Krey, Gesetzesvorbehalt S. 247 f. sowie passim; ders., JZ 1978 S. 362; ders., ZStW 101 (1989) S. 852 f. 194 Krey, JZ 1978 S. 362; ders., ZStW 101 (1989) S. 861, 866 f.; ferner Jescheck / Weigend, AT§ 17 III, 2d; Roxin, AT 1 § 5 Rdn. 44; Weber, in: Baumann, AT§ 9 Rdn. 99. 195 Exemplarisch o. S. 60 f. mit Fn. 222. 196 So zu Recht Krey, JZ 1978 S. 465 ff.; ders., ZStW 101 (1989) S. 861 ff.; vgl. auch Canaris, Systemdenken S. 116 ff.; enger Engisch/Würtenberger!D. Otto, Juristisches Denken S. 212 ff. 197 Graul, Unmöglicher ZustandS. 360; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 115; Tenckhoff/ L. A. Baumann, JuS 1994 S. 838. - Wenn demgegenüber zu lesen ist, die §§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1 seien in Fällen "typischer" Nötigung (im Zwei-Personen-Verhältnis) "einschränkend auszulegen" (vgl. etwa BGHSt 39, 36, 36; 39, 330, 330; 40, 90, 91 ; 40, 350, 355 ff.; BGH, Beschl. v. 15. 12. 1992 - 1 StR 498/92 S. 3; BGH, Urt. v. 19. 01. 1993-1 StR 782/92 S. 4 f.; BGH, NStZ 1996,277, 278; BGH, DAR 1996, 322, 322 f.; Geerds, JR 1993 S. 424; Krey, BT 2 vor Rdn. 335a; Rengier, BT 2 § 24 Rdn. 11, 22), so kann dem aus methodologischer Sicht nicht gefolgt werden. In der Sache selbst dürfte man sich freilich einig sein; die beiden ersten Stufen der Rechtsfindung erfahren auch anderenorts begriffliche Vermengung (vgl. etwa Krey, JZ 1978 S. 365, 366, der nach Analyse der einschlägigen Judikatur des BVerfG erkennt, daß das Institut der"verfassungskonformen Auslegung" in Wirklichkeit ein solches der " verfassungskonformen Rechtsfindung secundum" wie "praeter Iegern" ist).

II Imme!

162

3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

§§ 239a Abs. I, 239b Abs. I in der vorliegend entscheidenden Hinsicht unvollständig sind, ist praktisch anerkannt; das Fehlen einer die "typische" Nötigung (im Zwei-Personen-Verhältnis) schon tatbestandlieh ausschließenden Regelung wird allenthalben bemängelt 198 . Der Streit beginnt erst dort, wo das Erfordernis der Planwidrigkeit herauszuarbeiten ist. Die herrschende Meinung sieht es als gegeben an 199. Das verdient Zustimmung, und zwar sowohl aus historischer (subjektive Theorie) als auch aus struktureller (objektive Theorie) Sicht.

Was den historischen Aspekt angeht, so ist daran zu erinnern, daß die als problematisch herausgestellte Tatbestandsmäßigkeit "typischer" Nötigungen im Zwei- wie Drei-Personen-Verhältnis nicht gesehen, zumindest aber nicht erörtert wurde. Einschlägige Exemplifizierungen orientierten sich durchweg an der starren deliktischen Typizität des sogenannten Kidnapping, der Gefangennahme (Entführung) eines anderen zwecks darauf folgender (zeitlich wie sachlich abschiebtbarer) Erpressung/Nötigung200• Wenn Graul meint, die Schöpfer des § 239b Abs. 1 hätten auch den Fall (einer "typischen" Nötigung) erfaßt wissen wollen, daß "jemand einem Politiker eine (Schein-) Pistole ins Kreuz drückt", um ihn zu zwingen, "ein für die Öffentlichkeit bestimmtes Tonband mit rechtsradikalen Texten und Heil-Hitler-Rufen zu besprechen"201 , so kann dem in dieser Allgemeinheit nicht zugestimmt werden; die amtliche Begründung zu § 239b Abs. I E 1988, derzufolge "die Geiselnahme eines Politikers, um ihm selbst ein bestimmtes Verhalten abzupressen", verschärfte Strafe erfahren sollte202, hatte offenbar bestimmte Nötigungssachverhalte aus jüngerer Vergangenheit im Auge203 . Im übrigen hebe ich nochmals hervor: Das Tatziel selbst (hier: die Nötigung eines Politikers zur Abgabe öffentlichkeitswirksamer Erklärungen) interessiert im Rahmen der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 nicht. Schließlich ist auf den Verlauf der Diskussion im Rechtsausschuß hinzuweisen. Danach beruht das Zwei-PersonenVerhältnis des heutigen § 239a Abs. 1 auf einer entsprechenden Anregung des Sachverständigen Stocker. Dieser bildete das Beispiel, daß "Straftäter einen führenden Mann der Wirtschaft entführen, der über erhebliches Vermögen verfügt, und ihn durch eine längerandauernde Gefangenschaft letztlich zwingen, nach und nach oder in größerem Rahmen über seine Vermögenswerte zu ihren Gunsten zu verfügen"204. Wenn es nun auch vermieden werden sollte, die legislatorischen Regelungsabsichten auf Sachverhalte dieser Art zu reduzieren, so ist doch recht deutlich, welche grobe Richtung man einzuschlagen beabsichtigte. Es ging dem Vgl. etwa die u. S. 225 in Fn. 465 Genannten. s. die u. S. 164 ff. aufgeführten Judikate sowie die ihnen zustimmenden Schriftsteller; abw. etwa die o. S. 138 f. in Fn. 76 Genannten. 200 Hierzu bereits o. S. 145 mit Fn. 102. 201 Graul, Unmöglicher ZustandS. 364 f. 202 BT-Drucks. 11/2834 S. 9. 203 Vgl. etwa Der Spiegel 1977/44 S. 12 ff. zum Fall Schleyer, einem Fall, in dem die Entführer ihr Opfer mehrfach zur Abgabe von nach außen gerichteten Erklärungen zwangen. 204 Stocker, in: Prot. 11/38 S. 130,545.- Hervorhebung von mir. 198

199

C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

163

historischen Gesetzgeber sicher nicht um den vielzitierten Überfall einer Bank zwecks Erpressung oder einer Frau zwecks sexueller Nötigung. Entscheidend aber dürfte sein, daß der Verzicht auf eine schon tatbestandliehe Einschränkung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 sowohl systemwidrig als auch teleologisch fragwürdig ist. Soll es gelingen, die Rechtsfolgen der Nötigungstat dem jeweils verwirklichten Unrechts- und Schuldgehalt entsprechend zu staffeln, so kann man sich nicht damit begnügen, am Wortlaut des Gesetzes stehenzubleiben205.

3. Ergebnis

Die Bemühungen um eine Einschränkung der tatbestandliehen Einzugsbereiche der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 sind verfassungsrechtlich unbedenklich. Sie zwingen weder zur Mißachtung zweifelsfreier legislatorischer Grundentscheidungen noch zur Verkehrung erkennbarer gesetzlicher Wertungen. Der herrschenden Meinung, die eine teleologische Reduktion der Vorschriften in Fällen "typischer" Nötigung (im Zwei-Personen-Verhältnis) befürwortet, ist daher zuzustimmen.

C. Die Kriterien zur Einschränkung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs.l ("Wie") Wurde somit geklärt, daß und auf welchem Wege eine Haftung des Taters aus den §§ 239a Abs. 1, 293b Abs. 1 in Fällen "typischer" Nötigung im Zwei- und Drei-Personen-Verhältnis zu vermeiden ist, so stellt sich abschließend die Frage nach dem "Wie" der Einschränkung206. Auch sie wirduneinheitlich beantwortet.

I. Der Stand der Diskussion (zum Zwei-Personen-Verhältnis) Zu beginnen ist mit dem Stand der Diskussion (im Zwei-Personen-Verhältnis).

205 206

II*

Zum Ansatz bereits o. S. 140 f.; weiterführend u. S. 201 ff. Zu ihr bereits o. S. 138, 140.

164

3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

1. Die Stellungnahmen des BGH a) Die Lösung des Ersten Senats (Das Kriterium der Divergenz der Nötigungsmittel; das Kriterium der Außenwirkung des abzunötigenden Verhaltens)

Nachdem der BGH aus der Ausweitung der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 auf Zwei-Personen-Verhältnisse zunächst keine Konsequenzen gezogen, die Vorschriften vielmehr angewendet hatte, ohne ihre Einschränkung auch nur zu erwägen207 , wandelte sich das Bild durch die vom Ersten Senat gefällten Judikate BGHSt 39, 36 (Grundsatzentscheidung zu den Sichbemächtigungsaltemativen) und 39, 330 (Grundsatzentscheidung zu den Entführungsaltemativen).

aa) Die Ansicht von BGHSt 39, 36 BGHSt 39, 36 meint208 , die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 dürften jedenfalls dann keine Anwendung finden, wenn das bloße Sichbemächtigen die unmittelbare Tathandlung einer Nötigung bilde und eine über das hierdurch begründete Gewaltverhältnis hinausreichende Außenwirkung des abgenötigten Verhaltens nicht beabsichtigt sei. Bemächtige sich der Täter des Opfers allein zu dem Zweck, es zu nötigen, und verwirkliche er diese Absicht innerhalb des genannten Gewaltverhältnisses, so sei er lediglich aus dem Nötigungsdelikt zu bestrafen209 . Der Erste Senat tritt demnach offensichtlich für eine zweistufige Prüfungsfolge ein210 : Zunächst muß untersucht werden, ob der Täter divergierende oder identische Nötigungsmittel einsetzt. Im Falle divergierender Nötigungsmittel ist die Prüfung zu Ende; der Anwendung der vom Wortlaut her einschlägigen §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 steht kein grundsätzliches Bedenken entgegen. Identische Nötigungsmittel bedingen demgegenüber den Nachweis einer Außenwirkung des abzunötigenden Verhaltens. Diese Außenwirkung wird in den konkret zu entscheidenden Fällen (vgl. entsprechend die zu Beginn dieses Kapitels geschilderten Beispiele 1 a), c) vemeint211 . Das erste Kriterium des Ersten Senats, das Kriterium der Divergenz der Nötigungsmittel, geht auf Blei zurück. Blei vertrat unter der ausschließlichen Herrschaft des Drei-Personen-Verhältnisses die Ansicht, daß die§§ 239a Abs. 1 1971, 207

Etwa BGH, Beschl. v. 11. 07. 1991 - 1 StR 357/91 S. 9 f. ; BGH, NStZ 1993, 39, 39 f.

2os Konkret bezogen auf die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1, 249 Abs. 1, 255, 177 Abs. 1 a.

F., 178 Abs. 1 a. F. (vgl. BGHSt 39, 36, 44 sowie passim), richtigerweise insoweit aber nicht beschränkbar (o. S. 133 ff.). 209 210 2It

BGHSt 39, 36, 36 (Leitsatz), 44. Verkannt von Geppert, in: JK §§ 239a, 239b K. 3b; Otto, in: JK § 239a K. 5. BGHSt 39, 36, 38,43 f.

C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

165

239b Abs. l 1971 mit dem Sichbemächtigen auf der einen und der weitergehenden Nötigung mittels Drohung auf der anderen Seite ein "wenn auch hinsichtlich des letztgenannten Merkmals ins Subjektive verlagertes zweiaktiges Geschehen" umschrieben. Es bedürfe aus diesem Grund einer Abschichtung der verschiedenen Nötigungshandlungen im Einzelfall. Die Ausgangsthese lautete: Da das Sichbemächtigen grundsätzlich den Einsatz von Nötigungsmitteln erfordere, schieden die §§ 239a Abs. l 1971, 239b Abs. 1 1971 solange aus, wie der Täter "objektiv keine über die (im Sinne der§§ 240 Abs. 1, 253 Abs. 1, 255) tatbestandsmäßige Gewalt oder Drohung hinausreichenden Sachverhalte" schaffe, die ihm "den Betroffenen in einer die tatbestandsmäßige Zwangslage überschreitenden Intensität" auslieferten; "eine ... Drohung als solche" könne die Anwendung der §§ 239a Abs. 1 1971, 239b Abs. 1 1971 selbst dann nicht tragen, wenn "sie dem Bedrohten . . . jede Bewegungsfreiheit" nehme oder "ihn sonst ohne die Möglichkeit einer Gegenwehr der Verwirklichung des Drohinhalts" aussetze212 . Offen blieb, anband welcher Kriterien die besagte Abschichtung konkret zu erfolgen hatte. Blei selbst sprach insoweit von einem bisher ungelösten Problem213 . Man könnte zum einen streng formal argumentieren, mithin die Nachschaltung eines (den für sich bereits tatbestandsmäßigen Zwang intensivierenden) Nötigungsmittels entscheiden lassen. Man könnte freilich auch materielle Erwägungen anstellen. Argumentativer Fixpunkt wäre dann das von örtlichen und zeitlichen Faktoren geprägte, durch den mehr oder minder zufälligen Einsatz verschiedener (nachgeschalteter) Nötigungsmittel nicht nennenswert veränderte Gewaltverhältnis insgesamt. In diese Richtung scheint BGHSt 39, 36 zu tendieren 214, wenn dort eine teleologische Reduktion der §§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1 auch für den Fall erwogen wird, daß der Täter das Opfer "durch körperliche Kraft ... in seine physische Gewalt bringt"215 • Denn Mittel der weitergehenden Nötigung kann allein eine Drohung sein. Gewalt scheidet insoweit aus216, begründet also stets Divergenz in einem streng formalen Sinne. Im Vordergrund der Erörterungen von BGHSt 39, 36 steht die zweite Prüfungsstufe, das Außenwirkungskriterium. Was dessen Fundierung anbelangt, so verweist der Erste Senat auf die "im Gesetzgebungsverfahren deutlich gewordene Zielrichtung der Tatbestände in ihrer heutigen Form" 2 17 . Die Zwei-Personen-Verhältnisse beruhten auf dem legislatorischen Bestreben, solche Fälle zu erfassen, in denen das Vorgehen des Täters ebenso strafwürdig erscheine wie in den seit jeher tatbe212 Blei, JA 1975 S. 163 f.; ders., BT § 20 II, 1. - Nur am Rande bemerkt sei, daß es Blei seinerzeit nicht um eine teleologische Reduktion der Gesamttatbestände, sondern um die inhaltliche Ausfüllung des Sichbemächtigungsbegriffs ging. Derartige methodologische Ungenauigkeiten dürfen jedoch vorliegend vernachlässigt werden; das Sachproblem ist und bleibt dasselbe (Müller-Dietz, JuS 1996 S. 115; vgl. auch Renzikowski, JZ 1994 S. 497 f., 495). 213 Blei, BT § 20 II, 1. 214 Abw. Geppert, in: JK §§ 239a, 239b K. 3b. 215 BGHSt 39, 36, 41; eindeutig materialisierend auch BGHSt 39, 330, 334 f. 216 Hierzu u. S. 292, 297 f. m BGHSt 39, 36, 43.

166

3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

standsmäßigen klassischen Dreiecksverhältnissen218 . Dabei sei anzunehmen, daß die Grundstruktur der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 keine Veränderungen erfahren, daß vielmehr allein der Kreis potentieller Nötigungsadressaten auf das Opfer selbst erweitert werden sollte219. Der historische Gesetzgeber habe die Nötigung im Zwei-Personen-Verhältnis nicht schlechthin, sondern nur insoweit erfassen wollen, als der Täter in der Absicht/mit dem Vorsatz handle, ein Verhalten zu erzwingen, das eine Wirkung außerhalb des unmittelbar tatbezogenen Gewaltverhältnisses zeitige220. In diese Richtung deuteten schließlich die einschlägigen literarischen Stellungnahmen zu den Zwei-Personen-Verhältnissen. Auch sie bezögen sich durchweg auf Fälle, in denen die Nötigungshandlung auf eine Wirkung außerhalb des unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Gewaltverhältnisses zwischen Täter und Opfer abziele (Beispiele: Rücktritt eines Ministers; Freilassung von Gefangenen; Verteilung von Lebensmitteln an die unbemittelte Bevölkerung; Verlesung eines politischen Manifests im Rundfunk; Gewährung freien Geleits an Bankräuber)221 .

bb) Die Ansicht von BGHSt 39, 330 BGHSt 39, 36 beschränkt seine Erörterungen auf die Sichbemächtigungsalternativen der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. l. Der Frage, was in Entführungsfällen (gemeint: in Fällen der Sichbemächtigung mit Ortsveränderung) gilt, widmet man sich nicht (expressis verbis)222 . Diese Frage wird erstmals in BGHSt 39, 330 aufgeworfen. Die dort gegebene Antwort ist unmißverständlich: Differenzierungen nach der verwirklichten Tatbestandsalternative seien fehl am Platze; die Kriterien Divergenz der Nötigungsmittel und Außenwirkung des abzunötigenden Verhaltens beanspruchten allgemeine Geltung, entschieden also auch dort, wo der Täter sein Opfer in der Absicht/mit dem Vorsatz weitergehender Nötigung entführe223 . Da es in dem zu entscheidenden Fall, einem Entführungsfall nach dem Vorbild des obigen Beispiels lc, an dem Erfordernis der Außenwirkung fehlt, wird der Täter vom Vorwurf der Geiselnahme befreit224 •

BGHSt 39, 36,43 unter Verweis auf BT-Drucks. ll/2834 S. 9. BGHSt 39, 36, 44. 22o BGHSt 39, 36, 43 f. 221 BGHSt 39, 36, 40 verweist auf Dreher I Tröndle [45.] § 239b Rdn. 4. 222 Vgl. BGHSt 39, 36, 40, 44; ferner BGHR § 239a Abs. 1 Entführen 2 S. 1; BGH, NStZ 1993,539, 539; BGH, Beschl. v. 24. 06. 1993-1 StR 30/93 S. 2. 223 BGHSt 39, 330, 330 (Leitsatz), 331 ff.- Zu beachten ist, daß der Erste Senat der entstehungsgeschichtlichen Argumentation von BGHSt 39, 36 eine grammatikalische Überlegung hinzufügt. Es ist dies der natürliche Sinngehalt der gesetzlichen Überschrift des § 239b Abs. 1; "Geiselnahme" bedeute, daß "das Tatopfer wie eine ,Geisel' für etwas einstehen" solle, was "über das im unmittelbaren Gewaltzusarnmenhang" erstrebte Ziel der "alsbald ausgeführten .. . Nötigung" hinausgehe (BGHSt 39, 330, 334). 224 BGHSt 39,330, 331. 218

219

C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

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Der Erste Senat erkennt durchaus an, daß "das durch eine Entführung unterstützte Sichbemächtigen" durch eine erhöhte Gefahr für das Opfer gekennzeichnet sei. Immerhin - so die Begründung - werde das Opfer durch die mit der Entführung einhergehende Ortsveränderung von örtlichen Einflüssen gelöst, die geeignet sein könnten, die Verwirklichung des Handlungsziels zu erschweren oder gar zu verhindern. Auch handle es sich bei der Entführung im Gegensatz zur Sichbemächtigung keineswegs um einen notwendigen oder auch nur regelmäßigen Bestandteil des Nötigungsdelikts. Die Annahme, Entführungen begründeten insgesamt eigenständiges oder zusätzliches Tatunrecht, leuchte so gesehen durchaus ein. Das bedeute aber nicht, daß nun innerhalb der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 nach dem Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Ortsveränderung zu differenzieren wäre. Was das gesteigerte Entführungsunrecht angehe, so sei auf den Strafrahmen des Nötigungsdelikts zu verweisen. Schließlich bewerteten die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 selbst die Tatbestandsalternativen Sichbemächtigung und Entführung gleich. Unterscheidungen seien schon deshalb nicht angezeigt 225 . cc) Die Außenwirkungstheorie in der praktischen Rechtsanwendung Schließen möchte ich mit einigen einschlägigen Entscheidungen des BGH zur Außenwirkungstheorie226 : Beispiel 3 (BGH, NStZ 1993, 539): Dem Kaufmann J, von A, Bund C in erpresserischer Absicht entführt und in ein Gefangnis verbracht, wurde eine Lösung injiziert, die - so sagte man ihm - ein binnen 24 Stunden tötendes Gift enthalte. Das Gegengift, das J allein retten könne, würde ihm nur für den Fall verabreicht, daß er 1.000.000 DM zahle. Nach einigem Hin und Her erklärte sich J in seiner Todesangst dazu bereit, seine Bank telefonisch zur Überweisung von 200.000 DM auf ein von A, B und C benanntes Konto zu veranlassen.

Der Erste Senat bejaht die Außenwirkung des abzunötigenden Verhaltens: Es "zielte die Tat . .. insoweit auf eine Außenwirkung ab, als der Geschädigte seiner Bank gegenüber eine Erklärung abgeben sollte, indem er ihr zugunsten der Täter einen Überweisungsauftrag zu erteilen hatte. Wenn es sich auch um das eigene Vermögen des Opfers handelte, so lag darin, daß die Bank einbezogen werden mußte, doch ein Umstand, der über die Entführungslage hinausging"227 . Beispiel 4 (BGHR § 239a Abs. 1 Entführen 2): Sch und W entführten 0. Sie zwangen ihn unter anderem zur Beschaffung von Bargeld mittels seiner Codekarte. 22s

BGHSt 39, 330, 332 f.

Vgl. ferner BGHR § 239a Konkurrenzen 1 S. 1; BGH, Beschl. v. 15. 12. 1992-1 StR 488/92 S. 3; BGH, Urt. v. 19. 01. 1993- 1 StR 782/92 S. 4 f.; BGH, Beschl. v. 02. 02. 19931 StR 528/92 S. 2 f.; BGH, Beschl. v. 16. 02. 1993 - 1 StR 43/93 S. 3; BGH, Beschl. v. 24. 06. 1993-1 StR 30/93 S. 2; BGH, Beschl. v. 27. 07. 1993-1 StR 419/93 S. 3. 227 BGH, NStZ 1993, 539, 539. 226

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. I zu den Nötigungsdelikten

Der Zweite Senat bejaht die Außenwirkung des abzunötigenden Verhaltens: Es "sollte das dem Opfer abgenötigte Verhalten jedenfalls teilweise - Abheben von Geld aus Bankautomaten mittels Scheckkarte -eine Wirkung außerhalb des unmittelbaren Gewaltverhältnisses entfalten"228. Beispiel 5 (BGH, NStZ 1994, 481): Die 12-jährige S wurde von Tin der Wohnung ihrer Eltern überfallen und unter Androhung des Todes dazu gezwungen, sich anzuziehen und mit in den Keller zu kommen. Dort sollte das Kind - so die Absicht des T - vergewaltigt werden. Eingeschüchtert tat S, was ihr geheißen. Nachdem T und S das Treppenhaus betreten hatten und einige Stufen hinabgestiegen waren, kam es zu einem Zusammentreffen mit der HausbewohneTin E. In ihrer Verzweiflung begann S zu schreien, sich am Treppengeländer festzuklammern sowie schließlich an der Kleidung der E. T schaute daraufhin E "provozierend böse" an, worauf diese S beiseite schob und weiterging. Damit war der Widerstand der S gebrochen. Ohne weitere Zwischenfälle erreichte man den Keller, wo S sich entkleiden und sexuelle Handlungen (insbesondere: einen Vergewaltigungsversuch) erdulden mußte. Aufgeschreckt durch die inzwischen von dem Ehemann der E eingeleitete Suche nach S, faßte T Tötungsvorsatz, um sich ohne Störung durch etwaige Schreie an der Leiche geschlechtlich befriedigen sowie unentdeckt entkommen zu können. So geschah es.

Der Dritte Senat bejaht die Außenwirkung des abzunötigenden Verhaltens: Sie "kann darin gesehen werden, daß sich der Angekl. in der Wohnung der Familie K des Kindes auch zu dem Zweck bemächtigt hat, um es durch die ausgesprochene Todesdrohung dazu zu nötigen, sich vollständig anzukleiden, damit er es aus der im 4. Stockwerk gelegenen Wohnung in den Keller des Wohnblocks verbringen konnte. Eine ... ,Außenwirkung' ... ist der Vorstellung des Angekl. entsprechend vor allem aber dadurch eingetreten, daß die Zeugin E durch das aggressive Auftreten des Angekl. veranlaßt wurde, das sich hilfesuchend an ihre Kleidung klammernde Kind wegzustoßen und weiterzugehen. Mit dieser Subsumtion erkennt der Senat das .. . Merkmal der ,Außenwirkung' nicht als sachangemessenes Abgrenzungskriterium für die Anwendung des § 239b Abs. I an"229. Beispiel 6 (BGH, NStZ 1994, 128; BGHSt 40, 90): Der N sollten bestimmte Informationen über die kriminellen Machenschaften des G abgenötigt werden. Zu diesem Zweck wurde sie, zuvor über die Gefahr ihres baldigen Todes in Kenntnis gesetzt, von G und L zur Elbbriicke gefahren, auf welcher man sie nahezu eine Stunde lang über das Geländer driickte; der Sturz in die Tiefe von 8 m wäre voraussichtlich tödlich gewesen. Die vor Angst wie gelähmte N beteuerte wiederholt, nichts zu wissen, und wurde endlich zu einem dem G gehörenden Kiosk verbracht. Dort sprach man in ihrer Anwensenheit längere Zeit dariiber, was weiter zu unternehmen sei, ob man etwa ihre Finger in eine laufende Kreissäge halten solle. Wahrend der ganzen Zeit war N fast ohnmächtig vor Angst.

228 BGHR § 239a Abs. 1 Entführen 2 S. 1; im übrigen steht der Zweite Senat der Außenwirkungstheorie reserviert gegenüber, vgl. BGH, NStZ 1994, 283, 283; BGH, NStZ 1994, 430,431. 229 BGH, NStZ 1994,481,482.

C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

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Der Fünfte Senat verneint die Außenwirkung des abzunötigenden Verhaltens, fügt aber hinzu: "Der Senat hält das Merkmal der Außenwirkung nicht für ein taugliches Eingrenzungskriterium"230. b) Die Lösung des Fünften Senats (Das Kriterium des unmittelbaren Bevorstehens der Realisierung der Drohung aus Opfersicht)

Während der Erste Senat die Reduktion der 239a Abs. I, 239b Abs. 1 in erster Linie unter Zugrundelegung der Tatervorstellungen, also auf der Ebene des Verbrechensaufhaus vornimmt, die durch das Artikelgesetz von I989 Ausweitungen erfuhr, verlagert der Fünfte Senat die Argumentation231 auf die Opfersicht und damit notwendig (auch, §§ I5, I6 Abs. I S. 1) auf den objektiven Tatbestand: Im Zwei-Personen-Verhältnis sei entscheidend, ob das Opfer sich einer die Anwendung des § 239b Abs. I rechtfertigenden (tatbestandsrelevanten) Zwangslage ausgesetzt sehe oder nicht. Zur Begründung verweist der Fünfte Senat auf die Unrechtstypik des Drei-Personen-Verhältnisses. Die beabsichtigte I unternommene Nötigung einer dritten Person zeichne sich regelmäßig durch die Ungewißheit über das wahre Schicksal des Opfers aus. Der Dritte stehe typischerweise außerhalb des unmittelbar tatbezogenen Gewaltverhältnisses und sei eben deshalb nicht dazu in der Lage, die Bedrohlichkeit der Situation insgesamt verläßlich einzuschätzen. Das Gesetz trage diesem Umstand dadurch Rechnung, daß es insoweit (implizit) auf eine am konkreten Fall ausgerichtete Gefährlichkeitseinschätzung verzichte und stattdessen - der allgemeinen Lebenserfahrung entsprechend - eine "unmittelbar drohende Gefahr" in Rechnung, als stets vorliegend unterstelle. Hiermit nicht zu vergleichen sei das allein problematische Zwei-Personen-Verhältnis, der Fall also, in dem die zu nötigende Person selbst der tatsächlichen Herrschaft des Täters unterliege. Denn - und das ist die zentrale Aussage des Fünften Senats - man müsse davon ausgehen, daß der vom Tater beherrschte Nötigungsadressat die Gefährlichkeit der Situation insgesamt ungleich besser einschätzen könne als der außerhalb des Gewaltverhältnisses stehende Dritte und daß der nötigende Zwang im Zwei-Personen-Verhältnis daher nur dann eine dem Drei-Personen-Verhältnis entsprechende Intensität (Tatbestandsrelevanz) erreiche, wenn die Zufügung des angekündigten qualifizierten Übels konkret und unmittelbar, also hier und jetzt, drohe. Sollte diese Voraussetzung im Einzelfall einmal dort gegeben sein, wo das vom Tater verwirklichte Unrecht die Verhängung einer Mindeststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe nicht rechtfertige, so bleibe nur der Weg über die Strafmilderung nach den §§ 239b Abs. 2, 239a Abs. 2. WeitergeBGH, NStZ 1994, 128, 130; vgl. ferner BGHSt 40, 90, 91 , 93. Expressis verbis auf die§§ 239b Abs. I, 240 Abs. 1, 2 beschränkt (vgl. BGHSt 40, 90, 93; BGH, NStZ 1994, 128, 129 f.), richtigerweise insoweit aber nicht beschränkbar (o. s. 133 ff.). 230

231

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

hende Korrekturen oblägen dem Gesetzgeber232 . Die abzuurteilenden Täter jedenfalls (vgl. Beispiel 6233 ) hafteten nach § 239b Abs. I 234. c) Die Lösung des Zweiten Senats (Das Entführungskriterium)

Die Argumentation des Zweiten Senats235 knüpft an dem bereits erwähnten eigenständigen Unrechtsgehalt der das Sichbemächtigen umschließenden Entführung an. Dieser lasse sich nicht beiseite schieben, woraus die uneingeschränkte Anwendbarkeit des vom Wortlaut her einschlägigen § 239b Abs. l in Entführungsfällen zu folgern sei. Den inneren Grund hierfür gebe das Konkurrenzrecht, genauer die herrschende Ansicht zum konkurrenzrechtlichen Verhältnis des § 237 a. F. zu den Gewaltdelikten des Sexualstrafrechts. Man wende insofern § 52 an. Ein Ausschluß des § 237 a. F. werde nicht erwogen. Wieso nun für das Verhältnis des § 239b Abs. I, verwirklicht in der Handlungsalternative des Entführens, zu § I77 Abs. I a. F. etwas anderes gelten solle, sei unerfindlich; lade doch der Täter des § 237 a. F. höhere Schuld auf sich, wenn er das Opfer nicht nur entführe und dessen hilflose Lage zu sexuellen Handlungen ausnutze, sondern es darüber hinaus vorgefaßter Absicht gemäß unter Einsatz qualifizierter Drohungen vergewaltige. Es sei widersprüchlich, einerseits den unrechtsschweren § 239b Abs. I in den Fällen des § I77 Abs. I a. F. auszuschließen, andererseits aber - verweisend auf den besonderen Unrechtsgehalt der Entführung - Tateinheit zwischen § I77 Abs. I a. F. und dem vergleichsweise nichtigen § 237 a. F. anzunehmen. In den Worten des Zweiten Senats: "§ 239b Abs. I enthält, falls die Tathandlung in einem Entführen besteht, zum einen den gesamten Tatbestand der Entführung(§ 237 a. F.), zum anderen aber darüber hinaus noch das zusätzliche Merkmal der Absicht des Täters, sich einer besonders schwerwiegenden Drohung zu bedienen. § 239b Abs. I stellt sich daher insoweit als qualifizierter Entführungstatbestand dar und ist mithin im Verhältnis zu § 237 (a. F.) Iex specialis. Soll dem besonderen Unrechtsgehalt, der in der Entführung liegt, Rechnung getragen werden, so kann dies nicht dadurch geschehen, daß § 237 (a. F.) für anwendbar, § 239b Abs. 1 demgegenüber für unanwendbar erklärt wird, sondern nur dadurch, daß § 239b Abs. I selbst Anwendung findet" 236. Diesen Vorgaben zufolge befürwortet man die Anwendung des § 239b Abs. I in casu (vgl. Beispiel 11 237 ) 238 . 232 BGHSt 40, 90, 92 f.; BGH, NStZ 1994, 128, 130; abl. BGHSt 40, 350, 358 f.; BGH, NStZ 1994,284,284. 233 S. 168. - Keller; JR 1994 S. 429 spricht nicht zu Unrecht von einem "Sachverhalt . . . , dessen Brutalität und Bestialität gegenüber einem Opfer jede Vorstellung übertrifft". 234 BGHSt 40, 90, 91; BGH, NStZ 1994, 128, 130. 235 Expressis verbis auf die§§ 239b Abs. 1, 177 Abs. I a. F., 178 Abs. I a. F. beschränkt (vgl. BGH, NStZ 1994, 283, 283 f.; BGH, NStZ 1994, 430, 430 ff.), richtigerweise insoweit aber nicht beschränkbar (o. S. 132 ff.). 236 BGH, NStZ 1994,430, 431; ebenso zuvor schon BGH, NStZ 1994, 283, 283 f.; grundsätzlich zustimmend BGH, NStZ 1994,481,482.

C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

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d) Die Lösung des Großen Senats (Das Kriterium der stabilisierten und gerade deshalb tatbestandsrelevant ausnutzbaren Herrschaftslage)

aa) Die Ansicht von BGHSt 40, 350 Den Ausgangspunkt der Argumentation des Großen Senats bilden239 Feststellungen zur Struktur des Geiselnahmetatbestandes. Selbiger genügten nur solche Nötigungssachverhalte, deren wesentliches Kennzeichen die Ausnutzung einer (tatbestandsrelevant ausnutzbaren) hilflosen Lage des Opfers sei. Das ergebe sich aus der tatbestandliehen Fassung des § 239b Abs. 1 Hs. 2 (Normtext: " ... zu einer ... Nötigung ausnutzt ...") sowie aus einem Vergleich zwischen § 239b Abs. 1 Hs. 1 und§ 239a Abs. 1 Hs. 1 (dessen Normtext " .. . zu einer Erpressung(§ 253) auszunutzen .. ."). Dieses Ausnutzungserfordernis stelle im Falle des § 239b Abs. 1 Hs. 2 einen vollwertigen Bestandteil des objektiven Tatbestandes dar, während es im Falle des unvollkommen zweiaktig ausgestalteten § 239b Abs. 1 Hs. l als Absichtsmerkrnal in den subjektiven Tatbestand vorverlegt sei. Für § 239b Abs. 1 Hs. 1 folge daraus, daß zwischen dem ersten, objektiv zu verwirklichenden und dem zweiten, lediglich zu beabsichtigenden Teilakt ein funktionaler Zusammenhang bestehen müsse. Es bedürfe eines Handeins in der Absicht, die durch die Entführung beziehungsweise Sichbemächtigung für das Opfer geschaffene Lage zur Nötigung mittels qualifizierter Drohung auszunutzen 240• Wann diese Voraussetzungen gegeben seien, lasse sich dabei nicht pauschal, sondern immer nur mit Blick auf den konkret zu bewältigenden Einzelfall sagen. Man dürfe aber davon ausgehen, daß die gesetzliche Differenzierung zwischen Entführung und Sichbemächtigung (vgl. § 239b Abs. 1 Hs. 1) insoweit gewisse Anhalte biete. Der Große Senat führt wörtlich aus241 : 237

u. s. 223.

BGH, NStZ 1994, 283, 283; BGH, NStZ 1994, 430, 430. Expressis verbis auf die§§ 239b Abs. 1, 177 Abs. I a. F., 178 Abs. 1 a. F. beschränkt (vgl. BGHSt 40, 350, 355 ff.), richtigerweise insoweit aber nicht beschränkbar (o. S. 133 ff.). 240 BGHSt 40, 350, 355 f. - Nur am Rande erwähnt sei die entstehungsgeschichtliche Argumentation des Großen Senats. Sie stützt sich auf den "überlieferten Begriff der Geiselnahme" sowie darauf, daß der historische Gesetzgeber die "beim Dreiecksverhältnis außer Frage stehende Unterscheidung zwischen Entführen und Sichbemächtigen einerseits und der beabsichtigten weitergehenden Nötigung andererseits" auch in Fällen mit Iediglichern Zwei-Personen-Bezug nicht habe aufgehoben wissen wollen. Letzteres folge aus der amtlichen Begründung des§ 239b Abs. 1 E 1988, und zwar aus der Wendung "Erweiterung des Tatbestandes auf Fälle, in denen auf den Entführten selbst (weiterer) Zwang ausgeübt werden soll, um ihn zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen" (BT-Drucks. 11 I 2834 S. 9); insoweit sei klargestellt worden, daß "(über) den Zwang, der schon im Sichbemächtigen" liege, ein "weiterer, den eigentlichen Zielen des Täters dienender Zwang gewollt sein" müsse. Der Rekurs auf § 239b Abs. I verbiete sich demnach überall dort, wo es an jenem zusätzlichen Zwang fehle (BGHSt 40, 350, 356 f.). 241 BGHSt 40, 350, 359. 238 239

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

"Durch die mit der Entführung verbundene Ortsveränderung wird das Tatopfer regelmäßig in seinen Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten in einem Maß eingeschränkt, daß es dem ungehemmten Einfluß des Täters ausgesetzt ist. Diese Lage kann der Täter dazu ausnutzen, um das Opfer durch die Drohung mit dem Tod oder mit anderer qualifizierter Drohung ... zu nötigen. Beabsichtigt er dies während der Entführung, ist der Tatbestand des § 239b Abs. 1 Hs. 1 erfüllt."

Prinzipiell anders will der Große Senat solche Fälle lösen, in denen es an einer Entführung fehlt. Er fährt fort242 : "Bemächtigt sich der Täter des Opfers, ohne es zu entführen, so wird die Voraussetzung häufig nicht erfüllt sein, daß der Täter die von ihm geschaffene Lage (zur weiteren Nötigung) durch qualifizierte Drohung ausnutzt. Das gilt besonders in den Fällen, in denen im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Sichbemächtigen qualifizierte Drohungen in weitergehender Nötigungsabsicht eingesetzt werden. Anders als die Entführung schafft das Sichbemächtigen vielfach keine derartige Lage; denn eine Lage, die ausgenutzt werden soll, setzt eine gewisse Stabilisierung voraus. Vor allem wird es in diesem Fall häufig am Merkmal des Ausnutzens fehlen. Dient die - qualifizierte - Drohung wie das Vorhalten einer Schußwaffe zugleich dazu, sich des Opfers zu bemächtigen und es in unmittelbarem Zusammenhang zu weitergehenden Handlungen oder Duldungen ... zu nötigen, wird die abgenötigte Handlung in der Regel ausschließlich durch die Bedrohung mit der Waffe durchgesetzt, ohne daß der Bemächtigungssituation die in § 239b Abs. I vorausgesetzte eigenständige Bedeutung zukommt."

Diese Grundsätze führen letztlich zur Bestrafung der abzuurteilenden Täter (vgl. Beispiel 11 243 ) aus § 239b Abs. I Hs. 1244. bb) Die Ansicht des Großen Senats in der praktischen Rechtsanwendung Das vom Großen Senat in den Vordergrund gerückte Kriterium einer stabilisierten und gerade deshalb tatbestandsrelevant ausnutzbaren Herrschaftslage bestimmt mittlerweile das Bild der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu den §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I. Einschlägige Judikate des Ersten245 , Zweiten 246, Vierten247 und Fünften Senats248 zum Zwei- und des Dritten Senats249 zum Drei-PersonenVerhältnis belegen das. Die Problematik scheint - was die Rechtspraxis angeht gelöst. Ebda. U. S. 223. 244 BGHR § 239b Entführen 3 S. I f. 245 BGHR § 239a Konkurrenzen 2 S. I; BGH, NStZ 1996, 277, 278; BGH, NJW 1997, 1082, 1082. 246 BGHR § 239b Entführen 3 S. 1 f.; § 239a Abs. 1 Konkurrenzen 2 S. 1. 247 BGHR § 239a Abs. I Sichbemächtigen 4 S. I; BGH, DAR 1996, 322, 322 f.; BGH, Urt.v.17.10.1996-4StR404/96S.10f. 242 243

C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

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2. Die literarischen Stellungnahmen Dem vorstehend skizzierten höchstrichterlichen Streit entspricht die wissenschaftliche Diskussion.

a) Die Aufnahme der skizzierten Rechtsprechung im allgemeinen Die Außenwirkungstheorie des Ersten Senats findet ebenso ihre Anhänger250 wie die differenzierenden Ansätze des Fünften251 und Zweiten Senats252 . Auch die Entscheidung des Großen Senats erfährt Zustimmung253 , wenngleich man schwerlich behaupten kann, sie habe die Kritik insgesamt verstummen lassen; es wird nach wie vor die Ansicht vertreten, wirklich befriedigende Lösungen seien allein auf der Grundlage eines künftigen Rechts möglich 254.

BGH, NStZ-RR 1996, 141, 141. BGH, NStZ 1999, 509, 509 f. 250 So für BGHSt 39, 36 Amelung/Cirener/Grüner, JuS 1995 S. 49 f. ; Geerds, JR 1993 S. 424 f.; Herdegen, in: LK § 253 Rdn. 34; nicht ganz klar Jung, JuS 1993 S. 778 f.; für BGHSt 39, 36 und 39, 330 Tenckhoff/L. A. Baumann, JuS 1994 S. 839 f., freilich mit der Einschränkung, die bloß "mittelbare" Außenwirkung unberücksichtigt zu lassen; für die §§ 239a Abs. 1 1971, 239b Abs. 1 1971 s. auch Blei, JA 1977 S. 93, demzufolge "ein . . . Dreiecksverhältnis Geisel - Entführer - ahnungsloses Werkzeug" zu konstruieren war; gegen die Außenwirkungstheorie Bohlander, NStZ 1993 S. 439; Fahl, Jura 1996 S. 459 f.; Geppert, in: JK §§ 239a, 239b K. 4, 6a; Graul, Unmöglicher Zustand S. 351 ff.; Hauf, NStZ 1995 S. 185; Heinrich, NStZ 1997 S. 369; Hellmann, JuS 1996 S. 527; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 116; Otto, in: JK § 239a K. 5; Renzikowski, JZ 1994 S. 498 f.; ders., JR 1995 S. 349. 251 So nach eigenem Bekunden Keller, JR 1994 S. 429; nicht abgeneigt auch Renzikowski, JZ 1994 S. 499 mit Fn. 65; ab!. dann aber ders., JR 1995 S. 349; abl. ferner Heinrich, NStZ 1997 S. 366; Hel/mann, JuS 1996 S. 527; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 116. 252 So immerhin ansatzweise Geppert, in: JK §§ 239a, 239b K. 4, 3b; ab!. Jung, JuS 1995 s. 557. 253 Hel/mann, JuS 1996 S. 527 f. ; Ingelfinger, JuS 1998 S. 533; Rengier, BT 2 § 24 Rdn. 11 ff., 18, 22 f.; Wesseist Hillenkamp, BT 2 Rdn. 743, 745; wohl auch Krey, BT 2 Rdn. 335g; ähnlich bereits Laujhütte, in: LK § 177 Rdn. 22, § 178 Rdn. 9; vgl. ferner Horn, in: SK § 239a Rdn. 7, § 239b Rdn. 6; offen Kindhäuser, in: NK § 253 Rdn. 93; zumindest kritisch Geppert, in: JK §§ 239a, 239b K. 6b; Hauf, NStZ 1995 S. 184 f.; Jung, JuS 1995 S. 557; Küper, BT S. 245; Lackner I Kühl § 239a Rdn. 4a, § 239b Rdn. 2; S. Martin, JuS 1997 S. 757; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 116; Renzikowski, JR 1995 S. 349 f.; ders. , JR 1998 S. 127; ders., StV 1999 S. 649; Tröndle/Fischer § 239a Rdn. 6b, § 239b Rdn. 4; Wesseist Hettinger, BT 1 Rdn. 458; Zöller, JA 2000 S. 480. 254 So etwa Hauf, NStZ 1995 S. 185; Hettinger, Entwicklungen S. 23 mit Fn. 85; MüllerDietz. JuS 1996 S. 116; Renzikowski, JR 1998 S. 127; sehr radikal auch Graul, Unmöglicher ZustandS. 365 f. ; kritisch Britz / Müller-Dietz, Jura 1997 S. 319 mit Fn. 87, 100. 248 249

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

b) Die Lösung von Heinrich (Das Kriterium der Opferreaktion, welche über die bloße- passive- Duldung einer weiteren Straftat hinausreicht)

Heinrich zufolge enthält das vom Großen Senat in den Vordergrund gerückte Kriterium der stabilisierten Lage lediglich die halbe Wahrheit255 . Man müsse zusätzlich fordern, daß das Opfer zu einem Verhalten gezwungen werden solle, welches "über die bloße - passive - Duldung einer weiteren Straftat" hinausgehe. Das Zwei-Personen-Verhältnis des § 239b Abs. I Hs. I verpöne nämlich nicht jede Form beabsichtigter weitergehender Nötigung des Opfers, sondern allein die unter Anwendung qualifizierter Drohungen. Daraus folge: Die Absicht der Ausschaltung des Opferwillens mittels vis absoluta erfülle den Tatbestand nicht. Mehr noch, das Opfer sei zu einem Verhalten zu bestimmen, welches "ohne die Begründung des Gewaltverhältnisses und die nachfolgende Drohung" nicht erreichbar wäre. Wesentliches Kennzeichen der Geiselnahme sei das Angewiesensein des Täters "auf eine (aktive) Mitwirkung des Opfers". Dieses müsse "einen gewissen Entscheidungsspielraum" besitzen, also darüber befinden können, ob "es sich dem Druck des Täters beugt oder riskiert, daß der Täter seine Drohung wahrmacht". Beabsichtige der Täter lediglich, das Opfer "zur Duldung des Beischlafs oder anderer sexueller Handlungen", zur Duldung "einer Mißhandlung, Beleidigung, des Durchsuchens der Kleidung" oder zur Duldung eines sonstwie strafbaren Verhaltens zu zwingen, so hafte er allein aus dem jeweiligen Nötigungsdelikt256 .

II. Kritische Stellungnahme und eigene Ansicht Die kritische Würdigung der vorstehend skizzierten Erklärungsansätze hat an die bislang erzielten Ergebnisse anzuknüpfen und demzufolge jeweils zwei grundlegende Fragestellungen zu beachten: I. Gewährleistet das Kriterium eine teleologische Reduktion auch des Drei-Personen-Verhältnisses oder ist es von der Konzeption her (unrichtigerweise) auf das Zwei-Personen-Verhältnis beschränkt? - 2. Ermöglicht das Kriterium in der Sache angemessene Differenzierungen?

Heinrich, NStZ 1997 S. 368 f. Heinrich, NStZ 1997 S. 370 unter Verweis auf das insoweit "(vergleichbare) Problem . .. der Abgrenzung von Raub (§ 249 Abs. 1) und räuberischer Erpressung (§§ 253 Abs. 1, 255)"; zustimmend Lackner I Kühl § 239b Rdn. 2; ebenso wohl Geppert, in: JK § 239b K. 1; a.A. Renzikowski, IR 1998 S. 127 mit Fn. 13. 255

256

C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

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1. Das Kriterium der Divergenz der Nötigungsmittel

a) Übertragbarkeit des Kriteriums auf die Drei-Personen-Verhältnisse?

Dem vom Ersten Senat zur Diskussion gestellten Kriterium der Divergenz der Nötigungsmittel wird vorgehalten, daß es sich nicht auf die Zwei-Personen-Verhältnisse beschränken lasse, sondern konsequenterweise auch auf die Dreiecksverhältnisse übertragen werden müsse257 . Demgegenüber: Die vorbehaltlose Gleichstellung sämtlicher Personen-Konstellationen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 ist meines Erachtens gerade sinnvoll. b) Die sachliche Angemessenheil des Kriteriums

aa) Chronologische Zweiaktigkeit der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1? In der Sache wird vor allem geltend gemacht, daß das Kriterium insoweit verfehlt sei, als das Gesetz nur die Ausnutzungs-, nicht aber die Absichtsmodalitäten in einem chronologischen Sinne zweiaktig ausgestalte. Die §§ 239a Abs. l Hs. l, 239b Abs. 1 Hs. 1 verlangten lediglich ein Handeln in der Absicht weitergehender Nötigung mittels Drohung. Auf eine zeitliche Divergenz komme es nicht an. Im Gegenteil, sie werde durch den Normtext ausgeschlossen 258 . Dieser Einwand verdient schon deshalb keine allgemeine Zustimmung, weil er den Unterschied zwischen der Absicht und ihrer Verwirklichung übergeht. Sicherlich ist es richtig zu sagen, die sogenannten Absichtsdelikte bedingten nicht mehr als das Hegen der Absicht im Zeitpunkt der Vomahme der tatbestandliehen Ausführungshandlung259. Auch umschreiben die §§ 239a Abs. 1 Hs. 1, 239b Abs. 1 Hs. 1 unvollkommen zweiaktige Delikte260 und damit Absichtsdelikte im Sinne 257 Geppert, in: JK §§ 239a, 239b K. 6b; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 116; Renzikowski, JZ 1994 S. 495 f.; ders., JR 1995 S. 349 f.; dagegen scheint S. Martin, JuS 1999 S. 1240 jene Konsequenz akzeptieren zu wollen. 258 Rengier, GA 1985 S. 318; ebenso Müller-Dietz, JuS 1996 S. 116; kritisch auch Renzikowski, JR 1998 S. 127; vgl. schließlich Küper, Jura 1983 S. 210. 259 Zur zeitlichen Dimension subjektiver Tatbestandsmerkmale (etwa: der Zueignungsahsieht bei § 242 Abs. 1) statt vieler Eser, in: Schönke I Sehröder § 242 Rdn. 66; Lackner I Kühl § 242 Rdn. 18, 20; Ruß, in: LK § 242 Rdn. 52; zur zeitlichen Dimension des Vorsatzes statt vieler Jescheck/Weigend, AT § 29 II, 2; Roxin, AT § 12 Rdn. 75 ff.; Wesseist Beulke, AT Rdn. 206. 260 Ebenso die h. M., vgl. nur BGHSt 40, 350, 355; Blei, JA 1975 S. 164; Eser, in: Schönke I Sehröder § 239a Rdn. 13a, § 239b Rdn. 20; Geppert, in: JK §§ 239a, 239b K. 6a; ders., in: JK § 239a K. 7; Hauf NStZ 1995 S. 185; Heinrich, NStZ 1997 S. 368; Horn, in: SK § 239a Rdn. 6, § 239b Rdn. 4; lngelfinger, JuS 1998 S. 533; Küper, Jura 1983 S. 210; Lesch, JA 1995 S. 449; Rengier, BT 2 § 24 Rdn. 12, 18, 22 f.; wohl nur ungenau Müller-Dietz, JuS

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

der allgemeinen Unrechtslehre261 . Diese Erkenntnisse führen aber nicht weiter, da hier weniger die zeitliche Fixierung der Nötigungsabsicht als die der Nötigung selbst interessiert. Die korrekte Fragestellung lautet daher: Erlaubt das Wesen des unvollkommen zweiaktigen Delikts allgemeingültige Aussagen darüber, in welchem zeitlichen Verhältnis die jeweiligen Handlungsakte zueinander stehen? Schon ein flüchtiger Blick auf die gängige Behandlung der unvollkommen zweiaktigen Delikte im geltenden Recht lehrt, daß diese Frage zu verneinen ist. Als Beleg mögen die §§ 242 Abs. 1, 267 Abs. 1 Var. 1, 2, 306b Abs. 2 Nr. 2 dienen. Ein Diebstahl kann zweifelsohne auch dann vorliegen, wenn der Täter die Absicht der Zueignung (zweiter Akt) bereits im Zeitpunkt der Wegnahme (erster Akt) realisiert. Die ersten beiden Varianten der Urkundenfälschung knüpfen demgegenüber an einer chronologischen Abfolge an; ein zeitliches Zusammentreffen der Fälschung beziehungsweise Verfälschung der Urkunde (erster Akt) mit deren Gebrauch (zweiter Akt) ist mindestens faktisch ausgeschlossen. Wieder anders verhält es sich bei der besonders schweren Brandstiftung nach § 306b Abs. 2 Nr. 2. So war bereits im Rahmen des § 307 Nr. 2 Var. 1 a. F. streitig, ob tatbestandsmäßig auch derjenige handelt, der den Brand (erster Akt) in der Absicht legt, ihn selbst als Mittel des zu begehenden Mordes (zweiter Akt) einzusetzen. Die herrschende Ansicht bejahte diese Frage mit Blick auf den Schutzzweck der Norm262. Die Gegenmeinung verwies auf Art. 103 Abs. 2 GG263 • Die Auslegung des geltenden Rechts, das allgemein die beabsichtigte Ermöglichung einer "anderen" Straftat entscheiden läßt, dürfte kaum leichter fallen. Nähert man sich den§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 entsprechend unvoreingenommen, so deutet eigentlich alles in Richtung chronologischer Zweiaktigkeit. Das folgt zwar nicht aus dem Text der Absichtsmodalitäten264, wohl aber daraus, daß die Ausnutzungsmodalitäten eine "geschaffene" Lage verlangen. Eine nicht existente Lage läßt sich ja schwerlich ausnutzen. Nun mag eingewandt werden, dieser grammatikalische Befund sei nicht zwingend, da Rechtsprechung und Lehre auch anderenorts dazu neigten, dem Wortlaut nach naheliegende zeitliche Diskrepanzen zu übergehen und Gleichzeitigkeit ausreichen zu lassen; als Beispiel könnte die berichtigende Auslegung des § 259 Abs. 1 angeführt werden265 , die freilich vor dem 1996 S. 116; Renzikowski, JR 1995 S. 350; von erfolgskupierten Delikten sprechen Graul, Unmöglicher Zustand S. 361; Maurach, in: Festschrift für Heinitz S. 405, 407, 413; Tenckhoff!L. A. Baumann, JuS 1994 S. 837. 261 Zum unvollkommen zweiaktigen Delikt (z. B. §§ 242 Abs. 1, 267 Abs. 1 Var. 1, 2, 306b Abs. 2 Nr. 2) sowie zu seiner Unterscheidung vom erfolgskupierten Delikt (z. B. § 263 Abs. 1) statt vieler Jescheck/Weigend, AT§ 26 II, 5; Roxin, AT 1 § 10 Rdn. 84. 262 BGHSt 20, 246, 247; 40, 106, 107; Blei, BT § 86 Ill, 2b; Cramer; in: Schönke/ Sehröder § 307 Rdn. 9; Wolf!, in: LK § 307 Rdn. 6. 263 Arzt/Weber; BT 2 Rdn. 169 f.; kritisch auch Th. Schmidt, JuS 1995 S. 81; Zopfs, JuS 1995 S. 686 f., 689. 264 Insoweit zutreffend Küper; Jura 1983 S. 210. 265 Zu ihr OLG Stuttgan, JZ 1960, 289, 290; Küper; in: Festschrift für Stree/Wessels S. 467 ff.; Lackner I Kühl § 259 Rdn. 6; Otto, BT § 58 Rdn. 8; Stree, in: Schönke I Sehröder

C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

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Hintergrund der Änderung des § 246 Abs. I eine Neubewertung erfahren muß. Indessen gölten selbstverständlich auch für eine derartige extensive Argumentation die Schranken des Art. 103 Abs. 2 GG. Auch bedürfte sie eines besonderen Grundes. Zumindest einen solchen sehe ich nicht. Da die beiden Modalitäten der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. I nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern auf demselben systematischen und teleologischen Grundkonzept beruhen, erscheint es sinnvoll zu verallgemeinern, genauer zu verlangen, daß die §§ 239a Abs. I Hs. I, 239b Abs. I Hs. I allein dort erfüllt sind, wo der Täter in der Absicht handelt, eine "geschaffene" Lage zu einer (dann selbstverständlich: zeitlich abzuschichtenden) Erpressung I Nötigung mittels qualifizierter Drohung auszunutzen. Wer dies anders sieht, übergeht das tatbestandliehe Gleichgewicht der beiden Modalitäten der §§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1 und begibt sich somit der Möglichkeit, die erforderliche Reduktion intrasystematisch stringent vorzunehmen. Die §§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1 knüpfen nach alledem durchweg an ein im chronologischen Sinne zweiaktiges Geschehen an. Dies darf im weiteren Verlauf der Prüfung nicht übersehen werden.

bb) Formale oder materielle Abschichtung von Entführung beziehungsweise Sichbemächtigung und Nötigung? Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis sind die erwähnten Abschichtungskriterien zu beurteilen. Der Versuch einer Abschichtung mittels des formalen Kriteriums des nachgeschalteten Nötigungsmittels kann den Vorzug größtmöglicher Klarheit und Praktibilität für sich verbuchen 266. Daß er dennoch in die Irre führt, ergibt sich aus folgendem: Es ist bereits fraglich, ob die formal faßbare Intensivierung der Zwangslage des Opfers das vom Täter verwirklichte Unrecht tatsächlich in einem Ausmaß steigert, das die Anwendung der Strafrahmen der §§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1 eo ipso rechtfertigt. Man führe sich in diesem Zusammenhang das praktisch bedeutsame Beispiel der Bedrohung des Opfers mit einer Schußwaffe vor Augen. Sicherlich ist der bewaffnete Täter im Regelfall ohne weiteres dazu in der Lage, den auf das Opfer wirkenden Zwang mittels zusätzlicher, gewissermaßen flankierender Maßnah§ 259 Rdn. 15; vgl. schließlich Mitsch, BT I § 10 Rdn. 20; abw. BGHSt 13, 403, 405; BGH bei Holtz, MDR 1990,98, 98; OLG Düsseldorf, NJW 1990, 1492, 1493; OLG Stuttgart, NStZ 1991, 285, 285; Berz, Jura 1980 S. 59; Gössel, BT 2 § 27 Rdn. 19; Roth, JA 1988 S. 199 f. ; Rengier, BT 1 § 22 Rdn. 6; Ruß, in: LK § 259 Rdn. II, 12; Tröndle/ Fischer§ 259 Rdn. 10; Wessels/ Hillenkamp, BT 2 Rdn. 835. 266 Müller-Dietz, JuS 1996 S. 116; Renzikowski, JR 1995 S. 350. 12 Imme!

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

men zu intensivieren 267 . Solche zusätzlichen Maßnahmen beruhen indessen "oft auf Zufälligkeiten und ändern nichts daran, daß derjenige Tater, der darauf bewußt oderunbewußt verzichtet und seine Opfer nur ,schlicht' mit Schußwaffen kontrolliert und herumdirigiert, denselben Machteffekt erzielt". Aus denselben Gründen "kann es keine Rolle spielen, ob der Täter den anderen packt und gleichzeitig mit der Waffe bedroht ... , ihm die Schußwaffe an die Schläfe drückt, ihn mit der Waffe im Rücken vor sich herschiebt oder sich auf das mehr oder weniger distanzierte Inschachhalten beschränkt"268 . Bleibt zu erwähnen, daß der Versuch einer Abschichtung mittels formaler Kriterien vor allem dort fehlschlägt, wo das vom Täter nachgeschaltete Nötigungsmittel den auf das Opfer wirkenden Zwang abschwächt269. Wenn - um dieses Bedenken anband eines Beispiels zu verdeutlichen - die in dem Vorhalten der Schußwaffe zu erblickende konkludente Todesdrohung allein dazu dient, das Herrschaftsverhältnis zu erhalten, Tatmittel der beabsichtigten weitergehenden Nötigung also in jedem Fall eine inhaltlich minder schwere Drohung, etwa die Drohung mit einer schweren Körperverletzung im Sinne des § 226 Abs. 1, ist, so läßt sich - strikt formal argumentiert - zwar begründen, daß und warum die qualifizierenden Voraussetzungen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 erfüllt sind. Von der Verwirklichung qualifizierten und gerade deshalb erhöht strafwürdigen Unrechts kann jedoch keine Rede sein. Denn hätte der Täter beabsichtigt, auch die weitergehende Nötigung mittels Todesdrohung zu begehen, so fehlte es an einem neuen (im Sinne von: formal abschichtbaren) Nötigungsmittel und damit an einer Tat nach den §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 insgesamt. Wer derartige Wertungsunstimmigkeiten vermeiden will, kann nicht umhin, das Kriterium des nachgeschalteten Nötigungsmittels inhaltlich zu beschränken; er muß die Nachschaltung minder schwerer Zwangsmittel generell außen vor lassen 270. Auch damit wäre das Problem freilich keineswegs befriedigend gelöst, verbliebe doch der Einwand, daß es nicht richtig sein kann, ausgesprochene Unrechtshandlungen wie das Sichbemächtigen unter Aufwendung größtmöglicher Brutalität zu privilegieren271 . Die Kluft zwischen dem als materiell zu bezeichnenden Ansatz (sei!.: Intensivierung bereits wirkenden Zwangs) und dem zu seiner Realisierung herangezogenen formalen Kriterium (sei!.: Nachschaltung weiterer Nötigungsmittel) ist demnach unüberbrückbar. Logische Konsequenz all dieser Bedenken ist die Befürwortung einer materiellen Abschichtung, der Rekurs auf das von örtlichen und zeitlichen Faktoren geprägte einheitliche Gewaltverhältnis. Der Klärung bedarf, welche Voraussetzungen Vgl. Rengier, GA 1985 S. 317. Rengier, GA 1985 S. 317; vgl. ferner Müller-Dietz, JuS 1996 S. 116; Renzikowski, JZ 1994 S. 495; dens., JR 1995 S. 350; dens., JR 1998 S. 127; dens., StV 1999 S. 649. 269 Geppert, in: JK §§ 239a, 239b K. 4. 270 So der Vorschlag von Britz/ Müller-Dietz, Jura 1997 S. 359 mit Fn. 99. 27 1 Renzikowski, JZ 1994 S. 495; ders., IR 1995 S. 350; ders., JR 1998 S. 127; ders. , StV 1999 S. 649; Trändie I Fischer§ 239a Rdn. 6b. 267 268

C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

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erfüllt sein müssen, damit man sagen kann, die Färbung des Herrschaftsverhältnisses habe sich in einem Ausmaß verändert, das die Anwendung der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 trägt. Auf eine Beantwortung dieser Frage sei hier verzichtet. Die Einzelheiten sollen an anderer Stelle erörtert werden 272. 2. Das Kriterium der Außenwirkung des abzunötigenden Verhaltens a) Übertragbarkeit des Kriteriums auf die Drei-Personen-Verhältnisse?

Zum Teil wird die Ansicht vertreten, die Außenwirkungstheorie gelte - von der Konzeption her - sowohl im Zwei- als auch im Drei-Personen-Verhältnis. Das Drei-Personen-Verhältnis habe mit der Einbeziehung der vom Opfer verschiedenen Person des zu Erpressenden I zu Nötigenden "notwendigerweise" Außenwirkung273. Diese Ansicht geht jedoch fehl. Denn den Vorgaben von BGHSt 39, 36 und 39, 330 zufolge reicht es nicht aus, daß das verbrecherische Unternehmen "irgendwie" Auswirkungen auf einen außerhalb des unmittelbar tatbezogenen Gewaltverhältnisses stehenden Dritten zeitigt. Die Einbeziehung des Dritten muß vielmehr Folge des abzunötigenden Verhaltens sein274. Das Drei-Personen-Verhältnis hat so gesehen weder notwendiger- noch auch nur typischerweise Außenwirkung im hier in Rede stehenden Sinne. Ich möchte dies anband des phänotypischen Falles eines erpresserischen Menschenraubs im Drei-Personen-Verhältnis, der Lösegelderpressung, verdeutlichen. Entführt der Tater T die zehnjährige 0 in der Absicht, deren Vater D, einen sehr reichen Mann, zur Zahlung eines Lösegeldes in Millionenhöhe zu zwingen, so soll das abzunötigende Verhalten keine Wirkungen außerhalb des unmittelbar tatbezogenen Gewaltverhältnisses haben. Im Gegenteil, es soll in selbiges hineinreichen, dient es doch dazu, 0 freizukaufen, sie von der Herrschaft des T zu lösen. Die Bejahung einer Außenwirkung des abzunötigenden Verhaltens setzte demnach die lnvolvierung einer von 0 und D verschiedenen (vierten) Person, etwa die Involvierung eines Bankiers, voraus, was offensichtlich unsinnig ist. Zu vermerken bleibt: Die vom Ersten Senat erwogene Lösung über die Außenwirkung erstreckt sich allein auf das Zwei-Personen-Verhältnis. Im Drei-PersonenVerhältnis greift sie nicht. Darin ist ein entscheidender Nachteil der Außenwirkungstheorie insgesamt zu erblicken. 272

u. s. 216 ff.

Graul, Unmöglicher ZustandS. 354. Ungenau daher BGH, Beschl. v. 16. 02. 1993-1 StR 43/93 S. 3 ("... auf solche Fälle nicht anwendbar, in denen das bloße Sichbemächtigen ... keinerlei Außenwirkung entfaltet."). 273

274

12*

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

b) Die sachliche Angemessenheit des Kriteriums

Zu klären ist, ob das Kriterium der Außenwirkung des abzunötigenden Verhaltens zumindest in Fällen mit Iediglichern Zwei-Personen-Bezug überzeugen kann. aa) Einwände von seiten des Bestimmtheitsgrundsatzes Durchforstet man die einschlägigen kritischen Äußerungen zur Außenwirkungstheorie, so sticht vor allem der Einwand fehlender Bestimmtheit ins Auge275. Die Reduktion der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 mit Hilfe des Außenwirkungskriteriums lasse einen "Resttatbestand" übrig, der wegen Art. 103 Abs. 2 GG verfassungswidrig sei 276. Diesem in der Sache sicherlich ernst zu nehmenden Einwand ist bereits zutreffend entgegenhalten worden, daß die Forderung nach bestimmten Strafgesetzen auch anderenorts keineswegs zum Verbot von in Randbereichen wenig konturenscharfen Begriffen geführt hat und führt277. So entspricht es der bekanntlich ganz herrschenden Ansicht, daß Tatbestände, die Merkmale wie "in nicht geringer Menge"(§ 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG), "angemessene Zeit"(§ 142 Abs. 1 Nr. 2), "Beleidigung"(§ 185), "niedrig"(§ 211 Abs. 2), "die guten Sitten"(§ 228) oder "verwerflich" (§§ 240 Abs. 2, 253 Abs. 2) enthalten, den Vorgaben der Verfassung genügen278. Meines Erachtens ist es immerhin denkbar, daß die weitere Überpriifung des Außenwirkungskriteriums eine den vorgenannten Vorschriften gleichwertige Präzisierungsfähigkeit ergibt. bb) Einwände gegen das Kriterium selbst Das auf das vom Täter verfolgte Ziel abhebende und daher bereits grundsätzlichen Bedenken ausgesetzte279 Außenwirkungskriterium kann nur anerkannt werden, wenn es gelingt, den Nachweis dafür zu führen, daß Fällen mit Außenwirkung ein größerer Unrechtsgehalt zukommt als Fällen ohne Außenwirkung. Denn als 275 Sehr deutlich BGH, NStZ 1994, 430, 431 ("keine inhaltlichen Konturen"; "ermangelt des substantiell-materiellen Gehalts und erweist sich als rein formales Kriterium" ; "vielfachen Deutungen zugänglich und insoweit selbst unbestimmt"). 276 BGHSt 40, 350, 358; BGH, NStZ 1994, 128, 130; BGH, NStZ 1994, 430, 432; Hauf, NStZ 1995 S. 185; Heinrich, NStZ 1997 S. 369; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 116; Renzikowski, JR 1995 S. 349. 277 Amelung/Cirener/Grüner, JuS 1995 S. 49. 278 Vgl. statt vieler Jescheck/Weigend, AT§ 15 III, 3; Roxin, AT I § 5 Rdn. 69 ff.; Weber, in: Baumann, AT § 9 Rdn. 6 ff. 279 Richtig Renzikowski, JR 1995 S. 349.

C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

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sachlicher Grund für eine unterschiedliche Beurteilung beider Fallgestaltungen kommt allein das vom Täter verwirklichte Unrecht in Betracht280. (a) Konzeptionelle Einwände

Nach Auffassung des Ersten Senats ging der Gesetzgeber davon aus, daß das dem Entführten abgepreßte Verhalten eine Wirkung außerhalb des unmittelbar tatbezogenen Gewaltverhältnisses haben sollte. Das gelte nicht nur in den im Gesetzgebungsverfahren angeführten und in der Literatur zitierten Fällen, in denen "der tatbestandliehe Erfolg der Nötigung" außerhalb des Gewaltverhältnisses eintrete (Beispiele: Freilassung von Gefangenen; Verteilung von Lebensmitteln an die Armen), sondern auch in solchen Fällen, in denen das Opfer zur "Abfassung von Erklärungen" oder "zur Verlesung bestimmter Texte" gezwungen werde. Auch hier ziele die Nötigung stets auf eine Außenwirkung ab281 . Der Erste Senat geht mithin von zwei Fallgruppen aus. Diese sind nachfolgend zu untersuchen. (aa) Die Außenwirkung des "tatbestandlichen Erfolges der Nötigung" (erste Fallgruppe des Ersten Senats) Als Beispiele für die erste Fallgruppe, dem nach außen wirkenden tatbestandliehen Nötigungserfolg282 , nennt der Erste Senat den Befreiungs- und den Samariter-Fall. Dabei geht er offensichtlich von der Vorstellung aus, daß als Erfolg insoweit der tatsächliche Eintritt des in Aussicht genommenen Ereignisses, mithin die Freilassung des oder der Gefangenen beziehungsweise die Verteilung der lebenswichtigen Güter an die Armen, anzusehen sei. Diese Vorstellung fordert Kritik heraus. Ich erinnere zur Verdeutlichung an den bereits erwähnten Fabrikanten-Falf 83 . Als tatbestandlieber Nötigungserfolg kommt dort neben dem Eintritt der Arbeitsrechtsfolge (sei!.: der Einstellung I der Entlassung) beziehungsweise dem Zugang der auf sie gerichteten Willensäußerung als arbeitsrechtlichem Faktum insbesondere die entsprechende Erklärungsabgabe 280 So im Grundsatz übereinstimmend BGH, NStZ 1994, 430, 431 f. ; Bohlander, NStZ 1993 S. 439; Fahl, Jura 1996 S. 460; Geppert, in: JK §§ 239a, 239b K. 4; Graul, Unmöglicher Zustand S. 351 ; Otto, in: JK § 239a K. 5; ders., BT § 29 II, 3; Renzikowski, JZ 1994 S. 498 a. E. f.; Tenckhoff/L. A. Baumann, JuS 1994 S. 840; ebenso letztlich BGHSt 39, 36, 43, wo unter Verweis auf BT-Drucks. 11/2834 S. 9 klargestellt wird, daß diejenigen Fallgestaltungen herauszuarbeiten seien, in denen das Vorgehen des Täters "ebenso strafwürdig" erscheine wie in den bereits frühererfaßten Fällen (des Drei-Personen-Verhältnisses). 281 BGHSt 39, 36, 43. 282 Zur Vermeidung von Mißverständnissen ist darauf hinzuweisen, daß der Erste Senat allein auf den Erfolg der Nötigung, nicht auf den des Nötigungsdelikts abstellt, unzutreffend Amelung/Cirener/Grüner; JuS 1995 S. 49; Graul, Unmöglicher ZustandS. 353. 283 0 . s. 125.

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

in Frage. Dabei liegt auf der Hand, daß der Einstellung I Entlassung als tatsächlich eingetretenem Ereignis ebenso wie dem Erklärungszugang Außenwirkung zukommt. Nicht ganz klar sind demgegenüber die Wirkungen der Erklärungsabgabe. Insoweit scheinen Differenzierungen angezeigt. Erfolgt sie - wie regelmäßig in der Praxis - schriftlich, so beschränkt sich ihre Wirkung sicherlich auf das zwischen dem Täter und dem Opfer bestehende Gewaltverhältnis; in diesem Fall kann eine Drittbetroffenheit friihestens zu dem Zeitpunkt konstruiert werden, in dem die Erklärung den Herrschaftsbereich des Erklärungsempfängers erreicht. Was aber gilt, wenn der Fabrikant sich mündlich oder fernmündlich äußern soll? Liegt hier schon deshalb eine nach außen wirkende Erklärungsabgabe vor, weil es praktisch (nicht: rechtlich) unmöglich ist, zwischen der lediglich intern bedeutsamen Äußerung auf der einen und dem einen Drittbezug herstellenden Vernehmen auf der anderen Seite zu unterscheiden? Ich meine, daß diese letzte Frage zu verneinen ist; der Rekurs auf § 239b Abs. I kann schwerlich von dem Zufall der Perpetuierung der Erklärung abhängen. Folgt man dem, so wird die praktisch unmögliche Scheidung von Abgabe und Zugang im Falle mündlicher Erklärungen jedenfalls gedanklich vorzunehmen, die bloße Innenwirkung der Erklärungsabgabe mithin zu fingieren sein. Mit Blick auf diese Erkenntnis ist die weitere Frage zu beantworten, worin der tatbestandliehe Erfolg der Nötigung im Fabrikanten-Fall besteht. Man unterscheidet im Nötigungsstrafrecht bekanntermaßen zwischen den sogenannten Fern- und Nahzielen des Täters. Dabei beschreibt das Fernziel jenen Erfolg, deretwegen der Täter überhaupt handelt. Nahziel ist demgegenüber die Opferreaktion, die der Erreichung des Fernziels (Endziels) notwendig voranzugehen hat, deren Erzwingung der Täter also als Zwischenziel in Aussicht nehmen muß, um das zu erreichen, worum es ihm letztlich geht. Was nun das Fernziel anbelangt, so streitet man darüber, ob es als Zweck im Sinne des § 240 Abs. 2 angesehen und somit in die dortige Verwerflichkeitspriifung miteinbezogen werden kann284 . Immerhin, so viel ist sicher: Den tatbestandliehen Erfolg der Nötigung umschreibt es nicht; § 240 Abs. 1 knüpft allein an die vom Täter unmittelbar erstrebte Opferreaktion an, mag diese auch bloßes Zwischenziel sein285 • Tatbestandlieber Erfolg der Nötigung im Fabrikanten-Fall ist demnach weder die Einstellung/Entlassung selbst noch der Zugang der entsprechenden Erklärung. Den Ausschlag gibt vielmehr die Erklärungsabgabe. Insoweit fehlt es an einer Außenwirkung. Führt man sich dies vor Augen, so bereitet die Lösung der eingangs erwähnten Beispielsfälle keine Probleme mehr. Eine Außenwirkung des tatbestandliehen Nötigungserfolges ist jeweils zu verneinen: Im Samariter-Fall wird dem Opfer allein die Fortgabe der lebenswichtigen Güter abgenötigt. Dieses Verhalten wirkt nicht 284 Zum Streitstand statt vieler Eser, in: Sehönke I Sehröder § 240 Rdn. 29; Laekner I Kühl § 240 Rdn. 18a; Schäfer, in: LK § 240 Rdn. 61. 285 Eser, in: Sehönkel Sehröder § 240 Rdn. 12, 13; Laekner I Kühl§ 240 Rdn. 4, 26; Schäfer, in: LK § 240 Rdn. 57.

C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

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über das unmittelbar tatbezogene Gewaltverhältnis hinaus. In konsequenter Fortführung der vorangegangenen Überlegungen gilt: Die Anwendung des § 239a Abs. 1 kann nicht von dem Zufall abhängen, ob der Tater die Lebensmittel selbst verteilt (dann: Außenwirkung zweifelsfrei ausgeschlossen) oder ob er sich dazu des Opfers bedient (dann: Außenwirkung in der Theorie konstruierbar). Im Befreiungs-Fall nötigt der Tater dem Opfer nicht die Freilassung, sondern die auf sie gerichtete Anordnung, also ebenfalls eine lediglich intern bedeutsame Reaktion, ab. Die somit naheliegende Frage, ob es überhaupt Sachverhaltsgestaltungen geben kann, in denen es in sich widerspruchsfrei (gemeint: zufallsunabhängig) möglich ist, dem tatbestandliehen Erfolg der Nötigung Außenwirkung zuzuerkennen286, sei an dieser Stelle unbeantwortet gelassen; es würde sich jedenfalls um absolute Ausnahmefälle handeln. Als Ergebnis bleibt festzuhalten: Die vom Ersten Senat aufgeführte erste Fallgruppe, der nach außen wirkende tatbestandliehe Nötigungserfolg, spielt praktisch keine Rolle287 . Sie ist daher im folgenden zu vernachlässigen. (bb) Die Außenwirkung einer dem Opfer abgenötigten Erklärung (zweite Fallgruppe des Ersten Senats) oder sonstigen Reaktion Soll es nach alledem gelingen, den Befreiungs-Fall § 239b Abs. 1, den Samariter-Fall § 239a Abs. 1 zuzuweisen, so ist dies nur unter Zugrundelegung eines anderen - weitergehenden - Verständnisses des Außenwirkungskriteriums möglich. Eine tatbestandsrelevante Außenwirkung dürfte - abgesehen von der bewiesenermaßen zu vernachlässigenden ersten Fallgruppe des Ersten Senats - nicht lediglich dann angenommen werden, wenn der Tater das Opfer zur Abfassung oder Abgabe außenwirkender Erklärungen zwingen will. Ausreichen müßte jede irgendwie nach außen wirkende Opferreaktion. Auch eine so verstandene (weite) Außenwirkungstheorie sähe sich jedoch Bedenken ausgesetzt. So erscheint es, um mit dem bereits mehrfach erwähnten 286 Zu denken wäre etwa an den Fall, in dem der Täter das Opfer dazu zwingt, sexuelle Handlungen an einem Dritten vorzunehmen, vgl. Renzikowski, JZ 1994 S. 498. 287 Dies scheinen TenckhoffI L. A. Baumann, JuS 1994 S. 840 zu übersehen, wenn sie dafür eintreten, die Zwei-Personen-Verhältnisse der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 auf solche Fälle zu beschränken, in denen die Involvierung desaußenstehendenDritten auf dem .,unmittelbaren Erfolg" der Nötigung beruht (zu Recht kritisch daher Renzikowski, JR 1995 S. 349). Derartige Beschränkungen verdienen schon deshalb keinen Beifall, weil sie darauf hinauslaufen, den das Unrecht der Tat gewiß nicht beeinflussenden Zufall entscheiden zu lassen. Im übrigen reichen sie viel zu weit, ließen sich ihnen zufolge doch nur noch ganz wenige Fallgestaltungen denken, bei denen der Weg zu den §§ 239a Abs. I, 239b Abs. I eröffnet wäre. Wenn TenckhoffI L. A. Baumann, JuS 1994 S. 840 ihre Ansicht damit rechtfertigen, daß die dem Gesetzgeber zu erteilende Abfuhr angesichts der nicht genügend durchdachten Gesetzesänderung angemessen sei, so rufen sie offen zum Rechtsbruch, zur nahezu totalen Beseitigung der Zwei-Personen-Verhältnisse auf. Das kann nicht richtig sein.

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

"Bankraub" zu beginnen, wenig sinnvoll, § 239a Abs. 1 zu bejahen, wenn und weil der Täter davon ausgeht, daß die Opferreaktion mit dem Eigentümer der Bank einen außenstehenden Dritten tangiert, es demgegenüber bei den §§ 253 Abs. I, 255 zu belassen, wenn und weil der Täter glaubt, (nur?) den Vermögensinhaber selbst vor sich zu haben288 . Wie wäre etwa der Fall zu entscheiden, in dem der Geschäftsherr seinen Angestellten anweist, einen bestimmten Geldschein auf der Bank zu wechseln, der Angestellte sodann aber auf dem Weg zur Bank überfallen und vom Täter um eben diesen Geldschein erpreßt wird? Scheidet § 239a Abs. 1 hier nur deshalb aus, weil der Täter nichts von der Eigentümerstellung des Geschäftsherrn weiß? Und wie ist es, wenn er zufälligerweise Kenntnis von dem Botendienst hat? Liegt nunmehr ein derart gersteigertes Unrecht vor, das die Anwendung des § 239a Abs. I rechtfertigen könnte? Diese Fragen sprechen- so meine ich- für sich. Wenn der Erste Senat die Außenwirkungstheorie damit zu begründen sucht, daß die alte Dreiecksstruktur der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zumindest partiell beizubehalten sei, dann liegt es nahe, eine tatbestandsrelevante Außenwirkung nur in den Fällen zu bejahen, in denen die Opferreaktion den Dritten zu irgendeinem Verhalten veranlassen soll. Der Erste Senat erkennt derartige Beschränkungen freilich nicht an. So muß § 239b Abs. I den Ausführungen von BGHSt 39, 36 zufolge auch dann Anwendung finden, wenn der.Täter sein Opfer dazu zwingen will, ein für die Öffentlichkeit bestimmtes Tonband mit rechtsradikalen Texten oder Heil-HitlerRufen zu besprechen 289 • Worin aber der Bezug zu § 239b Abs. 1 1971 in einem Fall erblickt werden könnte, in dem die erstrebte Opferreaktion drittverhaltensneutral ist, die Außenwirkung des abzunötigenden Verhaltens mithin auf nichts anderem als der vom Täter erstrebten Medienwirksamkeit beruht290 , bleibt unerfindlich. Der Sache nach gibt der Erste Senat seine Prämissen hier preis. Soll das Festhalten an der klassischen Dreiecksstruktur der §§ 239a Abs. I I971, 239b Abs. 1 1971 überhaupt einen Sinn haben, so muß man mehr fordern als eine nicht näher konkretisierte und deshalb notwendig vordergründige Drittbetroffenheit Wie erwähnt bietet es sich an, eine Beschränkung der Außenwirkungstheorie auf drittverhaltensveranlassende Opferreaktionen zu befürworten. Auch dies ist indessen kein gangbarer Ausweg. Denn die einzige Übereinstimmung, die die Zwei-Personen-Verhältnisse mit drittverhaltensveranlassender Opferreaktion und die klassischen Dreiecksverhältnisse aufweisen, besteht in der Verursachung des Drittverhaltens durch den Zwang des Täters. Nun ist es aber sichtlich etwas anderes, ob man freiwillig, wenn auch möglicherweise aufgrund gesellschaftlicher oder vertraglicher Verpflichtungen, handelt oder ob man handelt, weil Nötigungsmittel dazu zwingen. Die klassischen Dreiecksverhältnisse, auf die sich der Erste Senat beruft, haben nur den zuletzt genannten Fall im Auge. Über den zuerst genannten, hier allein interessierenIm Anschluß an Graul, Unmöglicher ZustandS. 353. Bsp. nach Graul, Unmöglicher ZustandS. 364 f. 290 So die treffende Umschreibung von Bohlander, NStZ 1993 S. 439; TenckhoffI L. A. Baumann, JuS 1994 S. 839; vgl. auch Renzikowski, JZ 1994 S. 499, der herausstellt, daß die "größere Beunruhigung der Öffentlichkeit" kein relevantes Unrechtskriterium verkörpere. 288 289

C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

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den Fall treffen sie keine Aussagen. Wenn der Erste Senat konstatiert, daß die ,,Struktur der Tatbestände ... nur insoweit geändert werden (sollte), als auch die in der Gewalt des Täters befindliche Person als Opfer der Nötigungshandlung einbezogen, das übrige Tatbestandsbild hingegen beibehalten werden sollte"291 , so widerspricht er sich selbst. Denn entweder man behält das "übrige Tatbestandsbild" bei, oder aber man erkennt die Tatbestandsmäßigkeit "lediglich" intern bedeutsamer Nötigungen an. Ersterenfalls kann die bloße Verursachung des Drittverhaltens nicht ausreichen, muß vielmehr überdies die Involvierung des Dritten in die Zwangskette verlangt werden (notwendige Konsequenz: praktische Aufgabe der Zwei-Personen-Verhältnisse und damit offener Rechtsbruch); letzterenfalls interessiert der Dritte nicht. Es ist deshalb ungenau zu sagen, die Außenwirkungstheorie ignoriere die legislatorische Entscheidung zugunsten des Zwei-Personen-Verhältnisses, indem sie an der herkömmlichen Dreiecksstruktur der§§ 239a Abs. 1 1971, 239b Abs. 1 1971 festhalte 292 . Ein derartiges Festhalten wird überhaupt nicht bewirkt, kann überhaupt nicht bewirkt werden. Der entscheidende Irrtum der Außenwirkungstheorie beruht auf der Annahme, es sei möglich, die verschiedenen Personen-Konstellationen der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 in Ansehung des ("Unrechts-") Aspekts "Drittbetroffenheit" sachangemessen (tatbestandsregulierend) zu verbinden. (b) Sonstige Einwände

Nach alledem kann nicht zweifelhaft sein, daß das Kriterium der Außenwirkung des abzunötigenden Verhaltens in der Sache verfehlt ist. Sonstige Ungereimtheiten, die die Diskussion in Rechtsprechung und Lehre bislang beherrscht haben, brauchen daher im folgenden nur kurz angerissen zu werden. Das Kriterium der Außenwirkung des abzunötigenden Verhaltens wird weder vom Text293 noch von der Genese der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 gestützt. Was letztere angeht, so würdigt der Erste Senat die Materialien nicht lediglich recht frei 294, sondern eindeutig falsch 295 . So wurde das Zwei-Personen-Verhältnis des § 239a Abs. 1 im Rechtsausschuß mit dem Fall begriindet, daß "Straftäter einen führenden Mann der Wirtschaft entführen ... und ihn durch eine länger andauernde Gefangenschaft letztlich zwingen, nach und nach oder in größerem Rahmen über BGHSt 39, 36, 44; ebenso BGHSt 39, 330, 334. So aber BGHSt 40, 350, 358; Heinrich, NStZ 1997 S. 369; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 116; Renzikowski, JR 1995 S. 349; auch Hauf, NStZ 1995 S. 185 betont die "strukturelle Ähnlichkeit" des Außenwirkungskriteriums "mit den .. . Drei-Personen-Verhältnissen". 293 Fahl, Jura 1996 S. 459 f.; Hauf, NStZ 1995 S. 185; Hellmann, JuS 1996 S. 527; gegen die o. S. 166 in Fn. 223 erwähnte a.A. des Ersten Senats bereits o. S. 143 f. 294 So aber Tenckhoff/L. A. Baumann, JuS 1994 S. 838; fehlgehend auch Geerds, JR 1993 S. 424 f.; ferner Hauf, NStZ 1995 S. 185. 295 Zutreffend Renzikowski, JZ 1994 S. 497 ("Verkehrung der gesetzgebensehen Motive"). 291

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I zu den Nötigungsdelikten

seine Vermögenswerte zu ihren Gunsten zu verfügen" 296 . Von dem vermeintlich ausschlaggebenden Dritten (etwa: der Hausbank, dem Vermögensberater, den Angestellten, den Angehörigen des Opfers?) war nicht die Rede297 . Und selbst wenn man dem widersprechen, also unterstellen wollte, die Schöpfer des Artikelgesetzes von 1989 hätten sich ausschließlich an Lebenssachverhalten mit Außenwirkung orientiert, so folgte daraus keine legislatorische Grundentscheidung. Der Erste Senat berief sich insofern auf nicht mehr als den Zufall der Exemplifizierung. Demgegenüber ist daran festzuhalten: Es geht nicht an, einen solchen Zufall zum Anlaß normativer Auslegungsrichtlinien zu nehmen298 • Die Außenwirkungstheorie machte aus teleologischer Sicht nur Sinn, wenn man sagen könnte, Taten mit (lediglicher?) Innenwirkung beschwörten geringere Gefahren für Leben und Leib des Opfers herauf als Taten mit Außenwirkung299 . Eine derartige Aussage träfe aber nicht zu 300. Der Täter, der (nur?) die Preisgabe bestimmter Informationen erstrebt, ist keineswegs weniger gefährlich als der Täter, der sein Opfer dazu zwingen will, bestimmte Erklärungen Dritten gegenüber abzugeben. Wenn gesagt wird, daß die Ergebnisse der Außenwirkungstheorie wenig unrechts- und schuldangemessen, ja zufallsbehaftet seien301 , so manifestieren sich in dieser (richtigen) Aussage nur die zuvor aufgezeigten Sachwidrigkeiten. Dies läßt sich besonders gut an dem vieldiskutierten Banküberweisungs-Pali (Beispiel 3302) verdeutlichen, einem Fall, in dem der Opferreaktion deshalb Außenwirkung zuerkannt wurde, weil sie zur Einbeziehung der Hausbank des Opfers hatte führen müssen303 . Denn derartige Erwägungen laufen auf die Anerkennung einer "unrechtssteigernden Wirkung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs"304 hinaus. Wer § 239a Abs. 1 hier anwendet, nicht aber - mangels Außenwirkung - dort, wo der Täter (lediglich?) die Übergabe von im Haustresor befindlichen Wertgegenständen erzwingen will, argumentiert sachwidrig. Entsprechenden Bedenken sieht sich der Beschluß des Zweiten Senats zum Codekarten-Fall (Beispiel 4305) ausgesetzt; daStocker; in: Prot. 11/38 S. 130, 545. Graul, Unmöglicher ZustandS. 355. 298 Hierzu bereits o. S. 125; vgl. ferner Bohlander; NStZ 1993 S. 439. 299 Zurratio der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 o. S. 106 ff. 300 Heinrich, NStZ 1997 S. 369; ferner Renzikowski, JZ 1994 S. 498 f.; ders., JR 1995 s. 349. 301 BGHSt 40, 350, 358; BGH, NStZ 1994, 430, 431 f.; Bohlander; NStZ 1993 S. 439; Fahl, Jura 1996 S. 460; Geppert, in: JK §§ 239a, 239b K. 4, 6a; Graul, Unmöglicher Zustand S. 350 ff.; Heinrich, NStZ 1997 S. 369; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 116; Otto, in: JK § 239a K. 5; ders., BT § 29 II, 3; Renzikowski, JZ 1994 S. 498; ders., JR 1995 S. 349; Tenckhoff/L. A. Baumann, JuS 1994 S. 840. 302 0. s. 167. 303 BGH, NStZ 1993,539,539. 304 So schon fast spöttisch Renzikowski, JZ 1994 S. 498. 305 0. s. 167 f. 296

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C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

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nach handelt auch derjenige tatbestandsmäßig, der beabsichtigt, dem Opfer dessen Codekarte samt Geheimnummer abzunötigen 306 . Ergänzend sei bemerkt: Die Gleichstellung von Banküberweisung und Codekarte mag zwar insoweit stimmen, als der Bankautomat gewissermaßen den Bankangestellten des Computerzeitalters verkörpert307 . Sie widerspricht jedoch dem gedanklichen Ansatz der Außenwirkungstheorie, die klassische Dreiecksstruktur der§§ 239a Abs. 11971, 239b Abs. 1 1971 so weit als möglich zu wahren. Computer sind ja keine "Dritte" im Sinne des Gesetzes 308 . c) Ergebnis

Die Außenwirkungstheorie des Ersten Senats ist abzulehnen.

3. Das Kriterium des unmittelbaren Bevorstehens der Realisierung der Drohung aus Opfersicht a) Übertragbarkeit des Kriteriums auf die Drei-Personen-Verhältnisse?

Gegen die These des Fünften Senats, den Ausschlag gebe die Bedrohlichkeit des Situation aus Opfersicht, spricht nicht, daß sie expressis verbis auf strukturelle Unterschiede der verschiedenen Personen-Konstellationen der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 gegründet wird. Denn es lassen sich auch im Drei-Personen-Verhältnis Fallgestaltungen denken, die - den Prämissen des Fünften Senats zufolge - eine Reduktion nahelegen, ja bedingen (vgl. einmal mehr das sogenannte verkappte DreiPersonen-Verhältnis 309). Mag der Fünfte Senat auch nicht beabsichtigt haben, sein Kriterium über das Zwei-Personen-Verhältnis hinaus auf das Drei-Personen-Verhältnis zu erstrecken; der argumentative Ansatz läßt ihm keine Wahl.

b) Die sachliche Angemessenheil des Kriteriums

Der Argumentation des Fünften Senats werden von seiten der Rechtsprechung und Lehre namentlich zwei Einwände entgegengehalten. Das vorgeschlagene Kriterium sei einerseits unpraktikabel; im nachhinein sei regelmäßig schwer zu rekon306 BGHR § 239a Abs. 1 Entführen 2 S. 1 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf BGH, NStZ 1993, 539. 307 Auf eine dritte Person verzichtend weiterhin BGH, NStZ 1994, 481, 482; so offenbar auch BGH, Beschl. v. 24. 06. 1993- 1 StR 30/93 S. 2. 308 Hellmann, JuS 1996 S. 527. 309 0 . s. 46 f.

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

struieren, ob das angedrohte Übel aus der Sicht des Opfers tatsächlich unmittelbar bevorgestanden habe310. Es entbehre andererseits einer sachlich richtigen Aussage; das Vorliegen "eines Straftatbestandes" könne nicht davon abhängig gemacht werden, ob bei gleicher objektiver wie subjektiver Tathandlung das Opfer die Drohung ernst nehme beziehungsweise die Realisierung der Drohung als nahe bevorstehend empfinde311 . aa) Einwände gegen den Verweis auf die fehlende Praktibilität des Kriteriums Wenig überzeugend ist zunächst der Verweis auf die vermeintlich fehlende Praktibilität des Kriteriums des Fünften Senats. Die Bedrohlichkeit der Situation aus Opfersicht umschreibt nichts weiter als einen subjektiven, im Vorstellungsbild einer Person angesiedelten Sachverhalt. Sie läßt sich als solcher ebenso ergründen und beweisen wie andere subjektive Sachverhalte, beispielsweise der Vorsatz (§ 15) oder besondere Tendenzen des Täters (§§ 211 Abs. 2, 242 Abs. 1, 253 Abs. 1, 263 Abs. 1) oder ein etwa erforderlicher Irrtum des Opfers(§ 263 Abs. 1). bb) Sonstige Einwände Unzutreffend erscheint weiterhin der Einwand, das Vorliegen "eines Straftatbestandes" dürfe bei gleicher objektiver wie subjektiver Tathandlung nicht davon abhängig gemacht werden, welche Vorstellungen das Opfer leiteten. Denn wenn es auch sicherlich zu weit ginge, ein allgemeingültiges viktimologisches Strukturprinzip zu konstatieren, demzufolge die Mitverantwortung des Opfers generell täterbegünstigende Wirkungen auf das vertatbestandlichte Unrecht zeitigt312 (bekanntes Beispiel: auch das extrem leichtgläubige oder zweifelnde Opfer kann sich in einem Irrtum im Sinne des§ 263 Abs. 1 befinden3 13 ) , so wird man doch anerkennen müssen, daß die Opfersphäre eine Haftungsbegrenzung im Einzelfall aus anderen, tatbestandsspezifischen Gründen tragen kann. Exemplarisch sei auf den Fall verwiesen, in dem das vom Täter bedrohte Opfer wie gewünscht reagiert, obgleich es die Ernsthaftigkeit der Drohung subjektiv ausschließt; eine Haftung des Täters wegen vollendeter Nötigung kommt hier nicht in Betracht, da eine zentrale Voraussetzung BGHSt 40, 350, 358 f. ; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 116; Renzikowski, JR 1995 S. 349. BGH, NStZ 1994, 284, 284; Heinrich, NStZ 1997 S. 366; Renzikowski, JR 1995 S. 349. 312 Jescheck/Weigend, AT§ 25 V, 2; Roxin, AT 1 § 14 Rdn. 19 ff. 313 Ganz h. M., vgl. nur BGH, wistra 1992, 95, 97; Arzt/Weber, BT 3 Rdn. 416, 418; Cramer, in: Schönke/Schröder § 263 Rdn. 40; Lackner/ Kühl§ 263 Rdn. 18; Maiwald, in: Maurach, BT § 41 Rdn. 59 ff.; Rengier, BT 1 § 13 Rdn. 21 ; Samson/Günther, in: SK § 263 Rdn. 53 ff.; für das Korrektiv der Kausalität Blei, BT § 61 111, 3; für eine Reduktion des liTtumsbegriffs des § 263 Abs. I mittels der Viktimodogmatik Amelung, GA 1977 S. 4 ff.; vgl. auch Krey, BT 2 Rdn. 371 ff. 310 311

C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

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des Merkmals "nötigt" (vgl. § 240 Abs. 1), der Kausalzusammenhang zwischen dem eingesetzten Zwangsmittel und der Opferreaktion314, unerfüllt bleibt. Die korrekte Fragestellung lautet mithin: Ist es im Rahmen der §§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1 (also: hier) zulässig, nach der zeitlichen Nähe der Übelszufügung aus Opfersicht (also: nach diesem Kriterium) zu differenzieren? Diese Frage wird man nun in der Tat verneinen müssen. Wenn der Fünfte Senat auf das Opfer in seiner Funktion als Nötigungsadressat abstellt, so muß dem schon deshalb widersprochen werden, weil der Aspekt des Nötigungsschutzes im Rahmen der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 keine, jedenfalls keine entscheidende Rolle spielt315 . Im übrigen ist es bedenklich, der Drittbedrohung tendenziell größere Zwangswirkungen zuzuschreiben als der herkömmlichen Drohung im Zwei-Personen-Verhältnis. Auf der Grundlage nötigungsstrafrechtlicher Prämissen hätte gerade das Gegenteil nahegelegen 316. Der Fünfte Senat verkennt, daß dem Gesetz eine Differenzierung nach der zeitlichen Nähe des Übelseintritts fremd ist317 . Die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 stellen allgemein auf die Androhung bestimmter qualifizierter Übel ab, ohne darüber hinaus der Gegenwärtigkeil des Übels Bedeutung beizumessen; Einschränkungen entsprechend dem Vorbild der§§ 177 Abs. 1, 249 Abs. 1, 252, 255 sind nicht vorgesehen. Das macht auch durchaus Sinn, wie ein Blick auf die für die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 typischen Kidnapping-Fälle zeigt. Diese Fälle zeichnen sich dadurch aus, daß der Täter seine Drohungen mit einem Ultimatum verknüpft, um so dem Nötigungsadressaten den notwendigen zeitlichen Freiraum für die Erfüllung der Forderungen zu schaffen. Käme es tatsächlich darauf an, wie bedrohlich die Situation aus der Sicht des Opfers ist, so müßten die§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 solange verneint werden, bis das Ende des Ultimatums herannaht; denn für den Zeitraum des Ultimatums wäre das Opfer ja gewissermaßen "sicher", und es wüßte dies auch 318 . Dieses Hinauszögern des Vollendungszeitpunkts widerspräche indes314 Vgl. nur BayObLG, NStZ 1990, 281, 281 f.; Eser, in: Schönke/Schröder § 240 Rdn. 14; Schäfer, in: LK § 240 Rdn. 58; Wessels/ Hettinger, BT 1 Rdn. 417. 315 0. s. 84 ff. 316 0. s. II! f., 142 f. 317 Zutreffend BGH, NStZ 1994,283, 283; ferner Hel/mann, JuS 1996 S. 527. 318 Konkretisiert man die von BGHSt 40, 90 und BGH, NStZ 1994, 128 verlangte zeitliche Nähe zum Übelseintritt in Anlehnung an die h. M. zur "gegenwärtigen Gefahr" i. S. d. §§ 249 Abs. 1, 255, so wird man bei Ultimaten, die die Dauer von einem Tag merklich überschreiten, eine Tatbestandsreduktion erwägen müssen (s. zu der noch weitgehend ungeklärten Frage nach der Gegenwärtigkeil der Gefahr in derartigen Fällen BGH, MDR 1957, 691, 691; Herdegen, in: LK § 249 Rdn. II, § 255 Rdn. 2; Geilen, Jura 1979 S. 110; dens., Jura 1980 S. 50; Gössel, BT 2 § 13 Rdn. 28, § 31 Rdn. 48; extensiv argumentieren diejenigen, die ausreichen lassen, daß "das Opfer unabhängig vom Zeitpunkt des Schadenseintritts unter ,gegenwärtigem Verhaltenszwang' steht", so Küper, BT S. 104 f.; ferner BGH, NStZ 1996, 494, 494; BGH, NStZ-RR 1999, 266, 267; Kindhäuser, in: NK § 249 Rdn. 21, § 255 Rdn. 4; Tröndle/ Fischer§ 255 Rdn. Ia; Wessels/ Hillenkamp, BT 2 Rdn. 707; Zaczyk, JR 1999 S. 344 f.), wenn nicht, was für den Text ausgeschlossen werden soll, eine Dauergefahr vorliegt (s. zu ihr

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

sendem kriminalpolitischen Grundkonzept der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I, dessen wesentliches Kennzeichen die Vorverlegung der Strafbarkeit ist. Ein letztes Bedenken gegen das zur Diskussion gestellte Kriterium rekrutiert sich aus dem Drohinhalt der mehr als einwöchigen Freiheitsentziehung. Es ist zwar nicht ganz sicher, ob der Lösungsvorschlag des Fünften Senats auch ihn umfaßt319. Sachgesichtspunkte, die entsprechende Differenzierungen tragen könnten, sind jedoch nicht ersichtlich; und auch der Fünfte Senat selbst spricht an immerhin einer Stelle von der "Drohung mit dem Tod oder einer schweren Körperverletzung oder einer lang andauernden Freiheitsentziehung"320. Die Konsequenzen dieses Anerkenntnisses liegen nun sichtlich auf der Hand: Beschränkt sich der Täter darauf, dem Opfer eine mehr als einwöchige Freiheitsentziehung in Aussicht zu stellen, so fehlt es an den Voraussetzungen des § 239b Abs. 1 solange, wie der Ablauf des siebten Tages der Gefangenschaft aus der Sicht des Opfers unmittelbar bevorsteht. Das kann nicht richtig sein. c) Ergebnis

Auch das Kriterium des Fünften Senats ist abzulehnen.

4. Das Entführungskriterium a) Übertragbarkeit des Kriteriums auf die Drei-Personen-Verhältnisse?

Das Entführungskriterium läßt sich sowohl auf das Zwei- als auch auf das Drei-Personen-Verhältnis anwenden; verfehlte Differenzierungen werden nicht erzwungen. b) Die sachliche AngemessenheU des Kriteriums

In der Sache überwiegen freilich die Bedenken. Die Argumentation des Zweiten Senats liegt genaugenommen schon deshalb neben der Sache, weil sie auf konkurrenzrechtlichen Prämissen gründee21 , das BGH, NJW 1997, 265, 266; Geilen, Jura 1979 S. llO; dens. , Jura 1980 S. 50; Gössel, BT 2 § 13 Rdn. 27, § 31 Rdn. 48; Herdegen, in: LK § 249 Rdn. ll, § 255 Rdn. 2; Kindhäuser, in: NK § 249 Rdn. 21, § 255 Rdn. 4; Trändie I Fischer§ 249 Rdn. 5, § 255 Rdn. 1a, § 34 Rdn. 4). 319 Vgl. vor allem BGHSt 40, 90,90 (Leitsatz); BGH, NStZ 1994, 128, 128 (Leitsatz). 320 BGH, NStZ 1994, 128, 130. 321 Graul, Unmöglicher ZustandS. 361.- Nur am Rande bemerkt sei, daß die umschriebenen konkurrenzrechtlichen Prämissen des Zweiten Senats zumindest ungenau sind: Die Aussage, § 239b Abs. 1 Alt. 1 umschreibe eine Iex specialis gegenüber § 237 a. F., ist - gründet

C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

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hier allein interessierende Tatbestandsproblem der Herausbildung eines Unrechtstyps mithin übergeht. Mit der Ausweitung der Diskussion auf § 237 a. F. ist keineswegs dargetan, daß und warum die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 in Entführungsfallen Anwendung finden müßten. Jene Ausweitung verkörpert vielmehr nichts weiter als ein unbewiesenes Postulat, welches die tatbestandliehe Einschlägigkeit der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 stillschweigend voraussetzt. Man könnte ebensogut umgekehrt argumentieren und von einem (unbewiesenennaßen) zu reduzierenden Geiselnahmetatbestand auf § 237 a. F. rückschließen. Wenn - so die dem Zweiten Senat entgegenzusetzende These - § 239b Abs. 1 nur den Täter erfaßt, der das besondere ungeschriebene, bislang noch unbekannte Tatbestandsmerkmal verwirklicht, dann kann für § 237 a. F. nichts grundsätzlich anderes gelten; auch er ist einzuschränken. Ich meine freilich, daß weder diese noch jene Überlegung eine Vertiefung verdient. Es fehlt einfach an einer hinreichend vergleichbaren Ausgangslage322 . Die Argumentation des Zweiten Senats hat sich jedenfalls mit der inzwischen erfolgen Streichung des § 237 erledigt. Der Erste Senat hält dem Zweiten Senat entgegen, Differenzierungen nach der vom Täter verwirklichten Handlungsalternative widersprächen den Vorgaben des Gesetzes und seien schon deshalb verfehlt. Er geht dabei von der Überlegung aus, daß die Lösung des Zweiten Senatesam Normtext der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 anknüpft, daß also hier wie dort ein und derselbe Entführungsbegriff verwendet wird. Da der Entführungstäter nach Ansicht des Ersten Senates nun stets die Absicht hegt, sich seines Opfers zu bemächtigen323, die zur Entführung notwendige Ortsveränderung mithin nichts anderes ist als eine "Vorstufe zum Sichbemächtigen"324, scheint die am Zweiten Senat geübte Kritik durchzudringen; befürwortet man eine teleologische Reduktion der §§ 239a Abs. 1 Alt. 2, 239b Abs. 1 Alt. 2, so kann in den Fällen der§§ 239a Abs. 1 Alt. 1, 239b Abs. 1 Alt. 1 kaum anders entschieden werden; es würde ja anderenfalls die unrechtsintensive man die Spezialität strikt auf begriffslogische Erwägungen - "eindeutig falsch" (Graul, Unmöglicher Zustand S. 360); "§ 239b Abs. 1 enthält ... in der Entführungsalternative keineswegs den gesamten Tatbestand des§ 237" a. F. (Graul, Unmöglicher ZustandS. 361). 322 Zur Deutung des§ 237 a. F. als eines (sog. "kleinen" Sexual-) Delikts, dessen (eigentliche) Aufgabe darin bestand, jene Angriffe auf das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frau zu erfassen, die (noch) nicht die Voraussetzungen der §§ 177 Abs. I a. F., 178 Abs. 1 a. F. erfüllten, s. etwa BGH, NJW 1981, 2204, 2205 f.; BGH, NStE § 177 Nr. 9 S. 2 f. ; Krey, Gewaltbegriff 2 Rdn. 173 ff.; Lau.fhütte, in: LK § 177 Rdn. 6; Lenckner, in: Schönke I Sehröder § 177 Rdn. 4; zur demgegenüber vertretenen "Beschränkung" des § 237 a. F. auf die Klarstellungsfuntion der Idealkonkurrenz (arg. Ansatz: die Entführung der Frau wider ihren Willen verkörpert zugleich das Nötigungsmittel i. S. d. §§ 177 Abs. 1 a. F., 178 Abs. I a. F., führt also stets auch zu diesen Vorschriften) etwa BGH, Urt. v. 18. 08. 1977-4 StR 176177 S. 5; BGH, Urt. V. 22. 02. 1978-2 StR 460/77 s. 3 f.; BGH, Urt. V. 29. 06. 1983-2 StR 80/ 83 S. 4; Lackner [19.] § 177 Rdn. 4. 323 BGHSt 39, 330, 332 f.; a.A. die h. M., vgl. u. S. 240 f. mit Fn. 54. 324 BGHSt 39, 330, 332.

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. I zu den Nötigungsdelikten

Tat (Sichbemächtigen) der weniger unrechtsintensiven Tat (Vorstufe zum Sichbemächtigen) gegenüber privilegiert. Ist der Ansatz des Zweiten Senates damit aber tatsächlich widerlegt? Kommt es dem Zweiten Senat wirklich auf die Ausscheidung jener Vorstufe an? Ich meine, daß diese Fragen zu verneinen sind. Der Zweite Senat richtet sein Augenmerk offenbar allein auf den Tater, der sein Opfer beherrscht (Sichbemächtigen) und verbringt ("Entführung") 325 ; (nur) dieser Täter soll bestraft werden. Das aber bedeutet: Die "Entführung" als Differenzierungskriterium des Zweiten Senats ist zu unterscheiden vom Entführungsbegriff der §§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1 in seiner Auslegung durch den Ersten Senat. Dessen Einwand findet (bei Licht betrachtet) keine Stütze im Gesetz. Der Zweite Senat stellt nun seinerseits fest, daß "in diesem Zusammenhang" nicht geklärt werden müsse, ob "das Entführen begrifflich ein Sichbemächtigen" in sich schließe326 . Daraus wiederum folgt: Befürwortet man die überwiegende Ansicht, derzufolge der Entführungsbegriff der §§ 239a Abs. I, 239b Abs. I kein Erfolgsmoment in Gestalt eines tatsächlichen Herrschaftsverhältnisses aufweist327 , so fußt auch die Argumentation des Zweiten Senats auf Prämissen außerhalb des (Wortlautes des) Gesetzes. Den Ausschlag geben materielle Erwägungen, solche freilich, die in gewissem Sinne formalisiert sind; "Entführung" ist nichts anderes als die Nachschaltung eines bestimmten die tatbestandsmäßige Zwangslage intensivierenden Tatmittels. Erkennt man dies an, so zeigt sich, daß der Rekurs auf das Kriterium der "Entführung" nicht weiterführt328 . Denn tatbestandsmäßige Zwangslagen werden auch dort intensiviert, wo der Täter nichts weiter tut, als schutzbereite Dritte vom Opfer fern- oder das Opfer selbst an Ort und Stelle festzuhalten. Hier fehlt es an der Grundvoraussetzung einer Entführung. Der Weg zu den §§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1 wäre versperrt329. Die bloße Tatsache, daß der Tater eine Ortsveränderung veranlaßt, kann jedoch schwerlich die Grundlage der in Frage stehenden Strafschärfung bilden330. Zwangslagen, die einander in ihrer Intensität entsprechen, müssen gleich behandelt werden. Das Faktum einer Ortsveränderung interessiert nicht.

325 Selbst BGHSt 39, 330, 333 spricht von einem "durch eine Entführung (unterstützten) Sichbemächtigen". 326 BGH, NStZ 1994, 283, 283; BGH, NStZ 1994, 430, 431.- Der Zweite Senat bleibt sich insoweit freilich nicht treu, heißt es doch einige Zeilen später: "Wesentlich ist ... , daß die Entführung in § 239b Abs. 1 als besondere Tathandlung aufgeführt ist, ihr Gepräge durch das zusätzliche, über ein bloßes Sichbemächtigen hinausgehende Merkmal der Ortsveränderung erhält und ... einen eigenen Unrechtsgehalt besitzt" (BGH, NStZ 1994,283, 283; BGH, NStZ 1994, 430, 431 ). 327 u. s. 240 f. 328 Zur Kritik an formalen Abschiebtungen bereits o. S. 177 f. 329 U. S. 229. 330 Zutreffend Jung, JuS 1995 S. 557.

C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

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c) Ergebnis

Es ist auszuschließen, daß der Ansatz des Zweiten Senats entscheidend weiter führt. 5. Das Kriterium der stabilisierten und gerade deshalb tatbestandsrelevant ausnutzbaren Herrschaftslage a) Übertragbarkeit des Kriteriums auf die Drei-Personen-Verhältnisse?

Auch das vom Großen Senat propagierte Kriterium kann allein unter der Voraussetzung anerkannt werden, daß es sämtliche Personen-Konstellationen der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 umfaßt. Tut es dies? Der Große Senat hebt zwar hervor, daß aus seiner Sicht "kein grundlegender Unterschied für die Fallgruppen besteht, in denen einerseits das unmittelbare Tatopfer (Zwei-Perso11en-Verhältnis), andererseits ein Dritter genötigt werden soll (Dreiecksverhältnis)". Der Täter müsse hier wie dort darauf aus sein, "die durch die Entführung oder das Sichbemächtigen für das Opfer geschaffene Lage zur qualifizierten Drohung auszunutzen und durch sie zu nötigen". Eine tatbestandliehe Einschränkung auch des Drei-Personen-Verhältnisses wird dennoch nicht erwogen, ist doch weiterhin die Rede von der "beim Dreiecksverhältnis außer Frage (stehenden) Unterscheidung zwischen Entführen und Sichbemächtigen einerseits und der beabsichtigten weitergehenden Nötigung andererseits" 331 . Heinrich bemüht sich um Konkretisierungen, indem er konstatiert: "Im Drei-Personen-Verhältnis ist (die vorausgesetzte) Zweiaktigkeit unproblematisch, da hier, selbst bei unmittelbarem zeitlichen Aufeinanderfolgen, stets zwischen der Begründung des Gewaltverhältnisses über das Opfer und der Drohung gegenüber dem Dritten getrennt werden kann. Dies ergibt sich nicht zuletzt daraus, daß in diesen Fällen verschiedene Rechtsgutsträger betroffen sind"332 . Derartige Überlegungen gehen fehl 333 . Auch im Drei-Personen-Verhältnis lassen sich Fälle denken, in denen ein und derselbe Unrechtssachverhalt, etwa das Vorhalten einer Schußwaffe, Grundlage einerseits der Sichbemächtigung sowie andererseits der in Aussicht genommenen weitergehenden Nötigung ist. Daß dieser Unrechtssachverhalt Zwangswirkungen auf eine Mehrzahl von Personen zeitigt, kann BGHSt 40, 350, 356. Heinrich, NStZ 1997 S. 368; ganz ähnlich Lesch, JA 1995 S. 450; ferner Horn, in: SK § 239a Rdn. 7, § 239b Rdn. 6. 333 Zutreffend Renzikowski, JR 1995 S. 350; ders. , JR 1998 S. 127; ders., StV 1999 S. 649; ebenso S. Martin, JuS 1999 S. 1240 unter Betonung der auf Gleichstellung gerichteten Regelungsabsieht des Gesetzgebers von 1989. 331

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13 Imme!

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

die umschriebenen Differenzierungen nicht tragen. Denn die innere Struktur der Tat bleibt dessen ungeachtet sichtlich gleich. Oder genauer: Die personelle Divergenz von Opfer und Erpressungs- I Nötigungsadressat wirkt sich nicht stabilisierend auf das Herrschaftsverhältnis aus 334 . Sie begründet infolgedessen keine Unrechtssteigerung und kann somit nicht Ausgangspunkt eines Rekurses auf die §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 sein.

b) Die sachliche Angemessenheil des Kriteriums Ist der Lösungsansatz des Großen Senats insoweit konzeptionell nicht zu beanstanden, so fragt sich, ob er in der Sache Zustimmung verdient. aa) Einwände gegen die vom Großen Senat behauptete Tatbestandstreue Hierfür könnte das Streben nach größtmöglicher Tatbestandstreue sprechen; eine Rechtskonstruktion erscheint um so annehmbarer, je direkter ihr Bezug zum positiven Recht, namentlich zum Gesetz, ise 35 . Dieser zugegebenermaßen beachtliche Vorzug erweist sich jedoch recht bald als ein lediglich scheinbarer. Bei Licht betrachtet unterschreitet der Große Senat die Grenzen des sprachlich Möglichen ebenso wie dies vor ihm die anderen Senate taten 336• Die "gewisse Stabilisierung", die die Herrschaftsposition des Geiselnehmers nach Ansicht des Großen Senats auszeichnen soll, ist nicht weniger Resultat einer den Gesetzeswortlaut mißachtenden Rechtsfortbildung praeter Iegern als die vom Ersten Senat geforderte Außenwirkung, die vom Fünften Senat favorisierte Bedrohlichkeit der Situation aus Opfersicht oder das vom Zweiten Senat befürwortete Entführungskriterium. Mag man auch nicht widersprechen wollen, wenn der Große Senat die zentrale (und wie ich meine: grammatikalisch allein belegbare) Aussage des § 239b Abs. 1 Hs. 1, es bedürfe eines Handeins in der Absicht weitergehender Nötigung mittels qualifizierter Drohung, dahingehend präzisiert, daß der Täter darauf bedacht sein müsse, "die von ihm geschaffene Lage des Opfers zu seinen Nötigungshandlungen ... auszunutzen" 337 ; immerhin spricht § 239b Abs. 1 Hs. 2 (wichtig, oftmals verkannt: nicht aber § 239a Abs. 1 Hs. 1338) Im Gegenteil, o. S. 142 f. I. d. S. offenbar BGHSt 40, 350, 355 sowie passim. 336 Müller-Dietz, JuS 1996 S. 114. 337 BGHSt 40, 350, 355. 338 Die (bereits erwähnte) a.A. des Großen Senats (BGHSt 40, 350, 355; ebenso Heinrich, NStZ 1997 S. 369) übersieht, daß § 239a Abs. 1 Hs. 1 "das" Ausnutzungserfordernis nicht auf die "geschaffene Lage", sondern auf die "Sorge . .. um das Wohl des Opfers" bezieht. 334

335

C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

195

dieses Ausnutzungserfordernis expressis verbis an339 . Diese Präzisierung trägt keineswegs die mit ihr verknüpften, durchaus weitreichenden Schlußfolgerungen. Ich möchte dies anhand der Sichbemächtigungsalternative des § 239b Abs. I Hs. I verdeutlichen. Sie lasse - so der Große Senat - Raum für Einschränkungen, wenn "die ... Drohung wie das Vorhalten einer Schußwaffe zugleich dazu (dient), sich des Opfers zu bemächtigen und es in unmittelbarem Zusammenhang zu weitergehenden Handlungen oder Duldungen ... zu nötigen". In Fällen dieser Art werde "die abgenötigte Handlung in der Regel ausschließlich mit der Waffe durchgesetzt, ohne daß der Bemächtigungssituation die in § 239b Abs. I vorausgesetzte eigenständige Bedeutung" zukomme 340. Noch straffer formulieren die nach BGHSt 40, 350 ergangenen höchstrichterlichen Entscheidungen, etwa des Ersten Senats, bei dem es -bezogen auf § 239a Abs. 1 - heißt: "Wird das Opfer ... unter Vorhalt einer Schußwaffe zur Herausgabe eines Autoschlüssels genötigt, so nutzt der Täter nicht die hilflose Lage des Opfers aus, sondern setzt seine Forderung ausschließlich mit der Waffe durch"341 • Dem ist "lediglich" zu entgegnen: Das Vorhalten der Schußwaffe konstituiert doch gerade die hilflose Lage des Opfers. Das verbrecherische Unternehmen des Täters hat Erfolg, weil das Opfer hilflos ist; und das Opfer ist hilflos, weil es sich einem mit einer Schußwaffe hantierenden Täter ausgesetzt sieht. Das gesetzlich fixierte, vom Großen Senat zur Problemlösung herangezogene Ausnutzungserfordernis besagt zwar, daß der Täter in der Absicht/ mit dem Vorsatz handeln muß, die Lage eines anderen zu einer weitergehenden Nötigung auszunutzen. Es besagt aber - und das ist letztlich entscheidend - nicht, wie diese Lage beschaffen sein muß, damit sie als Grundlage der weitergehenden Nötigung dienen kann. "Lage" (im Sinne des vom Wortlaut des Gesetzes vorgezeichneten Bereichs) ist auch die "unstabile" Herrschaftslage; eine Lage wird auch dann (im Sinne des vom Wortlaut des Gesetzes vorgezeichneten Bereichs) "ausgenutzt", wenn sie noch keine "gewisse Stabilisierung" erfahren hat, was auch immer das heißen mag. bb) Sonstige Einwände Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse ist das vom Großen Senat entwickelte Unterscheidungskriterium selbst zu würdigen. Um das Ergebnis meiner diesbezüglichen Überlegungen vorwegzunehmen: Ich meine nicht, daß der Rekurs auf die stabilisierte und gerade deshalb tatbestandsrelevant ausnutzbare Herrschaftslage Zustimmung verdient. Ihm stehen (mindestens) zwei durchschlagende Bedenken entgegen.

Zutreffend insoweit BGHSt 40, 350, 355 f. BGHSt 40, 350, 359. 341 BGHR § 239a Konkurrenzen 2 S. I; ferner BGHR § 239a Abs. 1 Sichbemächtigen 4 S. 1; BGH, NStZ 1996, 277, 278; BGH, DAR 1996, 322, 322 f. 339

340

13*

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

(a) Die problematische Handhabung des Kriteriums durch die höchstrichterliche Rechtsprechung

Die differenzierende Lösung des Großen Senats erscheint zwar insofern sinnvoll, als sie auf eine materielle Abschichtung der Entführung beziehungsweise Sichbemächtigung von der weitergehenden Nötigung hinausläuft, die Schwächen formalisierender Erklärungsansätze mithin vermeidet. Sie bietet jedoch keine tragfähige Grundlage für die Beurteilung des Einzelfalles 342. Einschlägige Entscheidungen jüngeren Datums beweisen, daß die zu beseitigenden Auslegungsprobleme nach wie vor aktuell sind. Dies sei anhand einiger Beispiele verdeutlicht. Beispiel 7 (BGH, Urt. v. 22. 06. 1995-5 StR 249/95): Die KriminalbeamtenSund Sch suchten T in einer von dessen Nichte angernieteten Wohnung auf, ohne zu wissen, es insoweit mit einem rechtskräftig verurteilten, aus Sicherungsverwahrung entflohenen Straftäter zu tun zu haben. T bangte um seine Freiheit und entschloß sich daher zur Flucht. Er beabsichtigte, "die auf einem Stuhl unter Bekleidungsstücken liegende nicht geladene Pistole Steyr aufzunehmen, diese Waffe den Polizeibeamten vorzuhalten, so beide Polizeibeamte zu überwältigen, sie zu fesseln, an der Heizung festzubinden und . . . zurückzulassen". In Ausführung dieses Entschlusses nahmT die besagte Waffe an sich. Er richtete sie nacheinander auf die beiden völlig überraschten Beamten, verlangte von ihnen die Herausgabe ihrer Dienstwaffen und forderte sie auf, sich bäuchlings auf den Boden zu legen. S und Sch taten, was ihnen geheißen. In Besitz nunmehr funktionstüchtiger Schußwaffen lud T durch und kündigte an: "Ich knipse Euch ab; ich brauche nur noch einen Schalldämpfer." S und Sch versuchten daraufhin, T zu beschwichtigen. Als dies nicht half, kam es zum offenen körperlichen Kampf, in dessen VerlaufT letztlich überwältigt wurde.

Der Fünfte Senat konstruiert ein verkapptes Drei-Personen-Verhältnis 343 und stellt fest, daß es auf die "Eigenarten der Geiselnahme im Zwei-Personen-Verhältnis" nicht ankomme. Zum Erfordernis einer stabilisierten und gerade deshalb tatbestandsrelevant ausnutzbaren Herrschaftslage führt er (hilfsweise) aus: Es "ist auch diese Voraussetzung erfüllt: Beide bäuchlings auf dem Boden liegenden Tatopfer baten mit verschiedenen Argumenten um ihr Leben und hatten den Eindruck, ,dazuliegen wie Karnickel, die auf den Fangschuß warteten' " 344. Gegen diese rechtliche Würdigung spricht, daß es bereits kurz nach der Entwaffnung der Beamten zum offenen körperlichen Kampf kam. Auf der Grundlage der vom Großen Senat geforderten Stabilisierung hätte eine derartige Gegenwehr eher fern gelegen. Beispiel 8 (BGHR § 239a Abs. I Konkurrenzen 2): A und B drangen in die Filiale einer Bank ein, bedrohten den (einzigen) Bankangestellten mit einer Schußwaffe, zwangen ihn zunächst zur Herausgabe des Schlüssels für die Eingangstür, mit dem sie diese abschlossen, und dann zur Aushändigung von etwa 41.000 DM. 342 Im Anschluß an Eser, in: Schönke/Schröder § 239a Rdn. 13a, § 239b Rdn. 20; Fahl, NJ 1996 S. 71 ; ders. , Jura 1996 S. 460; ders., JA 1997 S. 747; Geppert, in: JK §§ 239a, 239b K. 6b; ders., in: JK § 239b K. I; Hauf NStZ 1995 S. 185; Küper; BT S. 245; Müller-Dietz, JuS 1996 S. 116; Renzikowski, JR 1995 S. 349; ders., JR 1998 S. 127. 343 Zu ihm o. S. 46 f. 344 BGH, Urt. v. 22. 06. 1995 - 5 StR 249 I 95 S. 10.

C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

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Der Zweite Senat verneint die Voraussetzungen einer stabilisierten Lage im Sinne der Vorgaben des Großen Senats ohne nähere Begründung345 und übergeht dabei, daß einerseits das Opfer den Tatern personell unterlegen war und daß andererseits das Abschließen der Eingangstür die Angriffsposition der Täter merklich verbesserte. Beispiel 9 (BGH, NStZ 1996, 277): Die Tater, über deren genaue Anzahl nichts bekannt ist, schmiedeten den Plan, dem Leiter einer Bankfiliale aufzulauern und ihn unter Vorhalten von Schußwaffen zur Öffnung des Tresors beziehungsweise zur Herausgabe des dort gelagerten Bargeldes zu zwingen. Dabei wollten sie sich den Umstand zunutze machen, daß der Filialleiter das Bankgebäude naturgemäß als letzter verläßt.

Der Erste Senat schließt sich dem Antrag des Generalbundesanwalts an und verneint die Voraussetzungen der§§ 239a Abs. 1 Hs. 1, 30 Abs. 1 mangels beabsichtigter Ausnutzung einer stabilisierten Lage346. Der erstrebten personellen Überlegenheit der Täter wird keinerlei Bedeutung beigemessen. Beispiel 10 (BGH, NJW 1997, 1082): T hatte Schwierigkeiten mit verschiedenen Behörden und wollte, daß das ihm aus früheren Strafverfahren bekannte Tatopfer, der Vorsitzende Richter am LG R, sich für ihn einsetzte. Er drang daher in dessen Dienstzimmer ein, um ihn unter Vorhalten einer geladenen Selbstladepistole wie einer scharfen Handgranate dazu zu zwingen, seine an die Behörden gerichteten Forderungen aufzuschreiben und zu versichern, daß er sich für deren Durchsetzung stark machen werde. T hatte die Vorstellung, R werde sich "in seiner Eigenschaft als Angehöriger einer alten Adelsfamilie und als Richter" an sein Ehrenwort gebunden fühlen. Danach verließ er das Zimmer.

Der Erste Senat siedelt das Kernproblem des Falles bei der Nötigungsabsicht des Täters an und vernachlässigt daraufhin die vom Großen Senat in den Vordergrund gerückte stabilisierte Herrschaftslage. Deren Vorliegen wird unumwunden bejaht347 , was sichtlich in Widerspruch zu BGHSt 40, 350 steht. (b) Die Verfehltheit der Einschränkung schon des objektiven Tatbestandes der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1

Der Große Senat verkennt die Reichweite der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1, indem er, anstatt die Lösung entsprechend den Vorgaben des Ersten Senats in den subjektiven Tatbestand vorzuverlegen, das objektive Erfordernis einer stabilisierten Lage konstituiert. Ich erinnere zur Verdeutlichung dieses auch genetisch begründbaren348 Einwandes an die Kernaussage des § 239b Abs. 1 Hs. I, derzufolge BGHR § 239a Abs. l Konkurrenzen 2 S. l. BGH, NStZ 1996,277,278. 347 BGH, NJW 1997, 1082, 1082. 348 Die (bereits erwähnte) a.A. des Großen Senats (BGHSt 40, 350, 356 f.) verkennt, daß die in der Begründung zu § 239b Abs. l E 1988 enthaltene Wendung "(weiterer) Zwang" (BT-Drucks. 11/2834 S. 9) ein subjektives Unrechtsmerkmal umschreibt (vgl. nämlich BTDrucks. 11/2834 S. 9: " ... (weiterer) Zwang ausgeübt werden soll ..."). Der zur Exempli345

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

die Entführung beziehungsweise Sichbemächtigung (lediglich) eine Lage herbeiführen muß, die der Ausnutzung zu einer weitergehenden Nötigung mittels qualifizierter Drohung zugänglich ist. Der Große Senat zieht diese Kernaussage dadurch in Zweifel, daß er bereits objektiv eine stabilisierte Lage verlangt, genauer konstatiert, daß die Entführung beziehungsweise Sichbemächtigung die auszunutzende Lage zwar nach sich ziehen kann, nicht aber nach sich ziehen muß. Damit sind Fehlschlüsse vorgezeichnet, so etwa in dem Fall, in dem der Täter das Herrschaftsverhältnis, das er ohne die in § 239b Abs. 1 Hs. 1 vorausgesetzte qualifizierte Nötigungsabsicht errichtete, in qualifizierter Nötigungsabsicht stabilisiert. Der Große Senat müßte insoweit nämlich die Absichtsmodalität des § 239b Abs. I anwenden, da diese seiner Ansicht nach nicht mehr verlangt als die Herbeiführung einer stabilisierten Lage in Nötigungsabsicht Das aber widerspräche der bereitstehenden Ausnutzungsmodalität, deren Sinn es gerade ist, den Fall zunächst fehlender Nötigungsabsicht zu erfassen respektive an ein zusätzliches objektives Unrechtsmerkmal, dem Ausnutzen der Lage zu einer Nötigung, zu knüpfen 349• Täter, die die besagte Nötigungsabsicht von vornherein, also bereits im Zeitpunkt der Begründung des Herrschaftsverhältnisses, hegten, gerieten demgegenüber in den (wie ich meine: gewiß unverdienten) Genuß, solange vor einer Bestrafung aus § 239b Abs. I Hs. 1 gefeit zu sein, bis das begründete Herrschaftsverhältnis stabilisiert und gerade deshalb tatbestandsrelevant ausnutzbar ist. Wer die Absichtsmodalität in diesem Sinne um eine mehr oder minder lange, den Eintritt der formellen Vollendung hinauszögernde Vorlaufphase ergänzt, setzt sich in Widerspruch zu der vom Gesetzgeber erstrebten Vorverlegung des Strafrechtsschutzes und damit zur kriminalpolitischen Grundkonzeption des § 239b Abs. I Hs. I überhaupt. Ich setze dem Großen Senat daher die These entgegen: Die Täter des obigen350 Beispiels 3 hätten auch dann vollwertiges Vollendungsunrecht verwirklicht, wenn ihr Opfer vor Stabilisierung des begründeten Herrschaftsverhältnisses gestorben wäre; die Milderungsmöglichkeiten des Versuchsrechts (§ 23 Abs. 2) könnten keine Anwendung finden. Das Problem der teleologischen Reduktion der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. 1 in Fällen "typischer" Nötigung im Zwei- und Drei-Personen-Verhältnis ist mittels eines Kriteriums zu lösen, das verbrechenssystematisch dem subjektiven Tatbestand angehört. Für eine Einschränkung schon des objektiven Tatbestandes ist kein Raum.

fizierung herangezogene Politiker-Fall (BT-Drucks. 11/2834 S. 9) schließlich trüge nicht einmal eine Einschränkung des subjektiven Tatbestandes. Denn bezöge man die Wendung "(weiterer) Zwang" auf ihn, so müßte die Willensfreiheit des Opfers (i. S. v.: gemeint ist eine zusätzliche, über die Duldung der Sichbemächtigung hinausreichende Zwangsreaktion) den Ausschlag geben (so offenbar die Interpretationen von BGHSt 39, 36, 39, 43; Geerds, JR 1993 S. 424; Geppert, in: JK §§ 239a, 239b K. 2, 4, 6a); die vom Tater eingesetzten bzw. einzusetzenden Nötigungsmittel (i. S. v.: gemeint ist ein zusätzliches, die tatsächliche Herrschaftsgewalt intensivierendes Zwangsmittel) dürften keine entscheidende Rolle spielen. 349 Hierzu u. S. 287 f., 317. 350 s. 167.

C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

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c) Ergebnis

Das Kriterium des Großen Senats überzeugt nicht. 6. Das Kriterium der Opferreaktion, welche über die bloße - passive - Duldung einer weiteren Straftat hinausgeht

Den Abschluß der Kritik bildet das von Heinrich vorgeschlagene Kriterium der Opferreaktion, welche über die bloße - passive - Duldung einer weiteren Straftat hinausgeht. a) Übertragbarkeit des Kriteriums auf die Drei-Personen- Verhältnisse?

Heinrich beschränkt seine Erörterungen expressis verbis auf Fälle mit Iediglichern Zwei-Personen-Bezug. Das mache durchaus Sinn. Denn der Täter verlege sich gerade deshalb auf das Drei-Personen-Verhältnis, weil er nicht dazu imstande sei, das erstrebte Tatziel durch die bloße Anwendung von vis absoluta (gemeint: gegenüber dem Erpressungs-/Nötigungsadressaten, also im Zwei-Personen-Verhältnis) zu erreichen. Man könne insoweit ausschließen, daß die Problematik des Zwei-Personen-Verhältnisses, der zumindest mögliche Einsatz unwiderstehlicher Gewalt, jemals akut werde351 . Träfe diese Annahme zu, so wäre der Ansatz von Heinrich bereits konzeptionell verfehlt. Es hat freilich den Anschein, als übergehe sie das verkappte Drei-Personen-Verhältnis352 . b) Die sachliche Angemessenheit des Kriteriums

Ich will diesen Gedanken jedoch nicht weiterverfolgen. Denn Heinrich verdient zumindest in der Sache selbst keine Zustimmung. Die zu erhebenden Einwände sind derart augenfällig, daß einige schlagwortartige Bemerkungen genügen mögen. Heinrichs Lösungsansatz ist tatziel orientiert. Er fußt auf Eigentümlichkeiten des Nötigungsstrafrechts und sieht sich somit prinzipiellen Bedenken ausgesetze53 . Die von Heinrich betonte "(aktive) Mitwirkung des Opfers" widerspricht dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes 354 . Einerseits: § 239b Abs. I Hs. I erkennt das 351 352 353 354

Heinrich, NStZ 1997 S. 370. Zu ihm o . S. 46 f. 0. S. 133 ff. sowie passim. Renzikowski, JR 1998 S. 124 mit Fn. 13.

200

3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 zu den Nötigungsdelikten

Streben nach einer "Duldung oder Unterlassung" ausdrücklich als Tatziel der Geiselnahme an. Andererseits: "Erpressung" im Sinne des § 239a Abs. 1 ist nichts weiter als die Abnötigung einer "Handlung, Duldung oder Unterlassung", die "dem Vermögen des Genötigten oder eines anderen Nachteil zufügt" (§ 253 Abs. 1). Diese Voraussetzungen kann nach weit verbreiteter Ansicht auch derjenige erfüllen, der sein Opfer zur Duldung der Wegnahme zwingt355 . Zu erwägende Einschränkungen356 folgen nicht aus dem Normtext, sondern aus intersystematischen Spezifika des Vermögensstrafrechts357 . Sie lassen sich keinesfalls auf§ 240 Abs. 1, 2 (und damit: auf§ 239b Abs. I) übertragen. Heinrich beruft sich unter anderem auf den Willen des historischen Gesetzgebers. Man habe der Ausweitung der§§ 239a Abs. 1 1971, 239b Abs. 1 1971 auf Zwei-Personen-Verhältnisse nur zugestimmt, um Strafbarkeitstücken zu schließen. Solche Lücken bestünden aber dann nicht, wenn der Täter das Opfer dazu nötige, die Begehung einer Straftat zu dulden, da hier regelmäßig wegen dieser Straftat verurteilt werden könne358 . Dem ist zu entgegnen: Die tatbestandlieh verwirklichte Geiselnahme steht praktisch niemals allein. Sie tritt immer neben eine zumindest versuchte Nötigung. Der historische Gesetzgeber war also offenbar nicht darauf aus, straflose Unrechtssachverhalte mit Strafe zu belegen. Es ging ihm vielmehr darum, eine bereits bestehende Strafbarkeit inhaltlich zu verschärfen. Dieser Zweck läßt sich auch dann noch erreichen, wenn das vom Täter verfolgte Tatziel (lediglich?) in der Duldung einer weiteren Straftat besteht. Aus teleologischer Sicht bleibt anzumerken, daß die von Heinrich verfochtene Differenzierung eines materiellen Fundaments359 entbehrt360 . Sie läßt einerseits den Täter verschärft haften, der das Opfer nur kurzzeitig festhält, um es zur Preisgabe einer Information zu zwingen (Tatziel: aktives Tun), ist aber andererseits nicht oder doch nur bedingt dazu in der Lage, außerordentlich gefährliche Unrechtssachverhalte wie die auf unbestimmte Dauer angelegte Entführung in (mehr-, x-facher) Vergewaltigungsabsicht (Tatziel: Duldung einer anderen Straftat)361 zu erfassen. Das verdient keine Zustimmung. 0. s. 72 f. 0. s. 72. 357 Wenn Heinrich, NStZ 1997 S. 370 demgegenüber meint, auf die Genese des § 239b Abs. l verweisen zu dürfen (vgl. BT-Drucks. 11/2834 S. 9: " ... ein bestimmtes Verhalten abzupressen . . ."), weil "unter ,Abpressen' . . . kaum die bloße Duldung der Begehung einer (weiteren) Straftat, sondern vielmehr das aktive Tätigwerden, d. h. die Vomahme bestimmter Handlungen zu verstehen" sei, so kann dem nicht gefolgt werden. 358 Heinrich, NStZ 1997 S. 370. 359 Zur Schutzkonzeption von Heinrich o. S. 66 mit Fn. 17. 360 Renzikowski, JR 1998 S. 127 mit Fn. 13. 361 Zu einem besonders brutalen Fall aus der Vergangenheit (Fall "Dutroux") s. etwa Der Spiegell996/37 S. 151 ff.; 1996/43 S. 188 ff.; 1997/12 S. 120 ff.; ein weiteres (fiktives?) Bsp. bildet die Entführung eines anderen, um ihn über einen längeren Zeitraum hinweg zur Duldung bestimmter medizinischer Experimente zu zwingen. 355

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C. Die Kriterien zur Einschränkung ("Wie")

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c) Ergebnis

Auch Heinrich ist zu widersprechen. 7. Die eigene Ansicht Wenn es bislang nicht gelungen ist, einen argumentativ fundierten Ausweg aus der aufgezeigten Misere zu bahnen, so beruht dies meines Erachtens auf der Verkennung jener systematischer Prämissen, die BGHSt 39, 36 dazu veranlassen, eine teleologische Reduktion der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 überhaupt erst zu erwägen (Vorverlegungsproblematik, Strafrahmenproblematik). Die diesbezüglichen Bedenken von BGHSt 40, 350, denen zufolge "eine Einschränkung des Anwendungsbereichs des § 239b Abs. 1 ... - über die vom Großen Senat ... aufgezeigten Grenzen hinaus- keine Stütze im Gesetz" findet362, übersehen zum einen, daß sich auch das (hier: inter-) systematische Argument aus dem "Gesetz" rekrutiert und damit als "gesetzliches" Argument gelten darf. Zum anderen umgeben sie die vom Großen Senat selbst "aufgezeigten Grenzen" mit dem Schein einer Gesetzestreue, der ihnen in Wirklichkeit nicht zukommt; das Erfordernis einer stabilisierten und gerade deshalb tatbestandsrelevant ausnutzbaren Herrschaftslage wird durch den Text der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 weder erzwungen noch nahegelegt Meine eigene Lösung gründet sich auf die einfache systematische Erkenntnis, daß ein Rekurs auf die strengen §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 allein dort Sinn macht, wo es gilt, Unwertaspekte zu berücksichtigen, die nicht bereits vom Nötigungsstrafrecht erfaßt werden und damit gleichsam durch das Nötigungsstrafrecht "besetzt" sind363 . Den Anknüpfungspunkt bieten insofern die oben364 als maßgeblich herausgestellten Gefähriichkeitsaspekte (rechtsgutsbezogener Ansatz); der Text, die Genese und die innere Systematik der§§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 besagen für sich genommen zu wenig, als daß sie als Fundament eines wirklich tragfähigen Lösungsansatzes dienen könnten. Damit ist der Gang der nachfolgenden Untersuchungen vorgezeichnet: Zunächst muß geprüft werden, ob die einzelnen Nötigungsdelikte des Besonderen Teils überhaupt gesetzliche Wertungen enthalten, die die Annahme rechtfertigen, sie deckten grundsätzlich auch die Gefahrdung des Lebens und Leibes des inhaltlich von der Drohung Betroffenen ab. Führt diese Püfung zu einem negativen Ergebnis, so folgt daraus, daß eine teleologische Reduktion der §§ 239a Abs. 1, 239b Abs. 1 mangels (hinreichender) positiv-rechtlicher Anhalte de lege lata ausscheidet; Abhilfen lassen sich dann nur auf der Grundlage eines künftigen Rechts erzielen. Andernfalls sind die Einzelheiten zu klären, die konkret zu befürwortenden Abgrenzungskriterien herauszuarbeiten. 362 363 364

BGHSt40, 350, 357. Zum Ansatz bereits o. S. 140 f. S. 106 ff.

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3. Kap.: Das Verhältnis der§§ 239a Abs. I, 239b Abs. I zu den Nötigungsdelikten

a) Die Lebens- und Leibesgefährlichkeit der Nötigung aus der Sicht des Nötigungsdelikts

Es fragt sich, ob der Gefahrengedanke überhaupt (hinreichenden) Niederschlag im geltenden Nötigungsstrafrecht gefunden hat. Dies erscheint insoweit zweifelhaft, als dem Nötigungsdelikt gemeinhin ausschließlich die Funktion zugesprochen wird, den Schutz der Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit des Nötigungsadressaten zu gewährleisten365 . Freilich könnten weitere Schutzaspekte hinzutreten. aa) Die Wertungen der §§ 177 Abs. 3, 4, 178, 250 Abs. 1, 2, 251 Argumentativer Wert könnte zunächst den §§ 177 Abs. 3, 4, 178, 250 Abs. l, 2, 251 zukommen. Da die§§ 177 Abs. 3, 4, 178,250 Abs. 1, 2, 251 die§§ 177 Abs. 1, 249 Abs. 1, 252, 255 qualifizieren 366, muß unterstellt werden, daß sie zunächst einmal die durch diese Vorschriften bereits geschützten Rechtsgüter im Auge haben. Sie verbieten also in jedem Fall die Beeinträchtigung fremder Willensfreiheit sowie die Schädigung fremden Vermögens 367 . Darin erschöpft sich ihr sachlicher Gehalt jedoch keineswegs. Wenn der Große Senat in BGHSt 26, 167 demgegenüber meint, den Unrechtskern verschiedener Qualifikationen ein und desselben Grunddelikts auf den Unrechtskern eben dieses Grunddelikts reduzieren zu dürfen368 , so ist ihm in Übereinstimmung mit der ganz herrschenden Lehre369 zu widersprechen. Der Schutzumfang der Qualifikation wird durch den Schutzumfang des Grunddelikts zwar mitbestimmt. Er wird durch ihn aber nicht festgesetzt. Von Bedeutung sind auch - die qualifizierenden Merkmale. Durchleuchtet man sie, so ergibt sich für die§§ 177 Abs. 3, 4, 178, 250 Abs. 1, 2, 251 folgendes Bild: (1) Nach den§§ 177 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 Nr. I, 250 Abs. 1 Nr. 1 Lit. a, Abs. 2 Nr. 1 haftet verschärft, wer eine Waffe oder ein anderes gef