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German Pages [361] Year 2014
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NEUE PHÄNOMENOLOGIE
A
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Das alte China gilt als Ort ganzheitlicher Lehren vom Menschen. Nur so versteht sich, warum Akupunktur, Schattenboxen, Qigong, asiatische Kampfkünste und Meditationsformen hierzulande überzeugen und faszinieren: Die östlichen Fertigkeiten versprechen Ganzheit, die unserer eigenen Tradition abhanden gekommen scheint. Dem gegenüber wäre einzuwenden: Erstens lehrt auch die chinesische Geschichte Unterdrückung von Körper und Gefühl. Zweitens machen Menschen überall Lebenserfahrungen, die sie zwar in unterschiedliche Worte fassen, die aber in einer tiefen Schicht übereinstimmen, so daß sich – wo auch immer – Kohärenzund Ganzheitsempfinden einstellen kann. Auf dem Umweg über die chinesische »Kosmo-Anthropologie« zeigt sich die verdeckte Flanke unserer spezifisch abendländischen Begriffsfestlegung. Vor allem geht es darum, sichtbar zu machen, warum in China der Monismus überlebte, und zwar als Einheit des Menschen und als Einheit von Mensch und Welt – trotz der Anwandlungen von Antagonismus und Dualismus zwischen Körper/Materie und Geist. Leib oder Körper? Körperleib könnte die Übersetzung analoger chinesischer Begriffe lauten, denn ganzleibliches Spüren schätzten die alten Philosophen hoch, ohne den tast- und sichtbaren Körper aus den Augen zu verlieren. Die Autorin Gudula Linck wurde 1943 in Mainz geboren. Studium in Paris, Germersheim, Salamanca, Tübingen, Taibei, Osaka, München, Freiburg, Beijing und Berkeley. Diplomübersetzerin für Französisch und Spanisch (1968); Magister in Ethnologie, Sinologie und Japanologie (Tübingen 1975); Promotion in Sinologie, Ethnologie und Japanologie (München 1978); Lektorin für Chinesisch (1980– 1989); Habilitation für das Fach Sinologie (Freiburg 1985), Heisenberg-Stipendiatin (1985–1990); Professorin für Sinologie in Kiel (1990–2008). Seit 2008 im Ruhestand; derzeit Lehrauftrag für Sinologie in Freiburg.
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Gudula Linck
Leib oder Körper
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Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Band 16
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Gudula Linck
Leib oder Körper Mensch, Welt und Leben in der chinesischen Philosophie Mit einem Vorwort von Hermann Schmitz
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Eine frühere Fassung dieses Buches ist 2001 unter dem Titel »Leib und Körper. Zum Selbstverständnis im vormodernen China« im Verlag Peter Lang erschienen.
2. Auflage 2012 der vollständig überarbeiteten Neuausgabe 2011 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48451-7
(Print)
ISBN 978-3-495-86018-2 (E-Book) https://doi.org/10.5771/9783495860182 © Ver
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Vorwort
Die Wasserscheide der europäischen Intellektualkultur liegt in der zweiten Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts. Wenig später schreibt Isokrates: »Wir stimmen alle überein, daß unsere Natur aus dem Körper und der Seele zusammengesetzt ist und die Seele mehr Führer und mehr wert ist.« Zwischen Körper und Seele wird der spürbare Leib vergessen, zwischen Seele und Außenwelt alles Atmosphärische; dies trifft besonders die Gefühle, die in einem flächenlosen Raum (wie u. a. der Schall und das Wetter) ergossen sind und die Menschen leiblich spürbar ergreifen. Sie werden mit vielem anderen in die Seele gesteckt, aber dort ist nicht einmal für Kopfund Bauchschmerzen Platz, denn Schmerz soll seelisch sein, aber Kopf und Bauch sind körperlich. Die von mir entwickelte Neue Phänomenologie ist bestrebt, unter solchen und vielen anschließenden geschichtlich geprägten Verkünstelungen die unwillkürliche Lebenserfahrung aufzudecken und zusammenhängendem Begreifen zugänglich zu machen. Dieser Aufgeschlossenheit verdankt sie eine sie vor anderen Richtungen des Philosophierens auszeichnende Anschlußfähigkeit, die sich auf verschiedenen Gebieten schon bewährt hat. Dazu gehört dank der hervorragenden Leistung von Gudula Linck die Sinologie, speziell die Geschichte des menschlichen Selbstverständnisses im vormodernen China. Frühere Umkreisungen dieses Themas leiden an der Unangemessenheit der auf dem Boden der europäischen Intellektualkultur gewachsenen Terminologie, mit Wörtern wie »Körper«, »Seele«, »Geist« sagen zu wollen, was die vormodernen Chinesen meinten. Mein Konzept der spürbaren Leibesinseln, dessen Fruchtbarkeit sich u. a. an den leiblich lokalisierten Regungsherden im Menschenbild der homerischen Ilias erwiesen hat, liefert einen neuen Schlüssel zum Verständnis dessen, was die Chinesen als Herz 7 https://doi.org/10.5771/9783495860182 © Ver
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Vorwort
bezeichneten, was sich hinter Worten wie »hun« und »po« (Hauchund Körperseele nach Wilhelm Wundt) und vielen anderen an Phänomenen verbirgt. Den archaischen Griechen mit ihrer Offenheit für das Atmosphärische und die Gefühle als leiblich ergreifende Atmosphären standen sie auch näher als die nachdemokritischen Europäer. Aber das gilt ohne Einschränkung nur für die alte Zeit bis zur Errichtung des chinesischen Zentralstaates. Danach setzt sich, wie in Europa seit Demokrit und Platon, gegen die Aufgeschlossenheit für Leib und Gefühl eine Umdeutung im Interesse personaler Selbstermächtigung gegen die unwillkürlichen Regungen durch und führt auch langfristig zu Exzessen der Unnatürlichkeit wie der Fußverkrüppelung der Frauen. Solchen Gegentendenzen gelingt es gleichwohl nicht, die ältere, der unwillkürlichen Lebenserfahrung aufgeschlossene Denkweise aus dem Feld zu schlagen. Diese Geschichte wird in inspirierender, eine festgefahrene Diskussion belebender Weise von Gudula Linck mit umfassender und durchdringender Fachkenntnis und souveräner literarischer Gestaltung neu und einprägsam erzählt. Ihr – soweit ich das als Nichtsinologe beurteilen kann – bahnbrechendes Werk, zuerst in kleiner Auflage 2001 erschienen und jetzt in neuem Gewand wieder erhältlich, dürfte nicht nur den Kennern und Freunden (alt)chinesischen Denkens und (alt)chinesischer Lebensart Wichtiges zu bieten haben, sondern auch als Muster für den Zugang zu den fremdartigen Denkweisen anderer Kulturen zeigen, was eine nicht mehr in den traditionellen Verkünstelungen verfangene Phänomenologie leisten kann. Hermann Schmitz
Kiel, im Januar 2011
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言教不如身教 yánjiào bù rú shēnjiào Das Lehren mit Worten ist nicht so gut wie das Lehren mit dem Leib (Chinesische Redewendung) Diagramm 1: Kalligraphische Schreibweisen von shen (Leib)
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Anlaß und Aufbau des Buches . . . . . . . . . . . . . .
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2. Zur Neuauflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erster Teil: Leib und Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
1. Außen und Innen, Körper und Leib . . . . . . . a) Tod, Lebenspflege, Unsterblichkeit . . . . . . b) Innere und äußere Schönheit und Häßlichkeit c) Die Kunst der Physiognomik . . . . . . . . .
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35 35 43 56
2. Die signifikanten Leib- und Körperbegriffe a) Die Menschwerdung des qi . . . . . . . b) Die yin- bzw. Außenseite des Menschen c) Die yang- bzw. Innenseite des Menschen
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61 63 70 77
Exkurs: hun und po . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
3. Die Selbstermächtigung des Herzens . . a) Das Herz als Lehrer . . . . . . . . . b) Das Herz als Fürst . . . . . . . . . . c) Die Herrscher- und Kampfmetapher
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. 98 . 99 . 103 . 109
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Inhalt
4. Exkurs: Die Metaphorik des Herzens . . . . . . a) Das Herz in der chinesischen Dichtung . . . b) Das Herz in der Alltagssprache . . . . . . . . c) Das Herz in Schriftzeichen . . . . . . . . . .
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117 118 123 125
Zweiter Teil: Leib und Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 1. Die Macht der Gefühle . . . . . . . . . . . . . . a) Selbstzeugnisse leiblichen Spürens . . . . . . b) Gefühlsatmosphären im religiösen und philosophischen Gewand . . . . . . . . . . . . . . c) Introjektion der Gefühle . . . . . . . . . . .
. . . . 130 . . . . 131 . . . . 141 . . . . 154
2. Die angeborene menschliche Natur . . . . . . . . . . a) Die störenden Emotionen . . . . . . . . . . . . . . b) Ist der Mensch von Natur aus gut oder schlecht? . . c) Menschliche Natur und Emotionen im Widerstreit
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161 162 168 172
3. Gefühl und Begehren im Prozeß der Zivilisation . . a) Körper- und Leibeshygiene . . . . . . . . . . . . b) Essen und Trinken, Mann und Frau . . . . . . . c) Selbstgestaltung und Maßregelung . . . . . . . .
. . . .
. . . .
178 179 184 202
4. Exkurs: Leibbemeisterung, Kampfkunst und Spiel a) Schwimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kampfkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fußballspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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214 216 219 225
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Dritter Teil: Mensch und Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 1. Eine Welt aus qi . . . . . . . . . a) Einheit der Welt . . . . . . . b) Reduktionismus als Dualismus c) qi als Naturphänomen . . . .
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236 237 245 251
Inhalt
2. Die komplexen Leibbilder . . . . . . a) Der Mensch als Mikrokosmos . . b) Die Landschaft im Innern . . . . . c) Abbild der himmlischen Hierarchie
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
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. . . .
. . . .
. . . .
257 258 263 268
3. Die Selbstbehauptung des Menschen . . . . . . . . a) Erste Distanzierungen . . . . . . . . . . . . . . . b) Gegen die Remystifizierung der Welt . . . . . . . c) Die Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur
. . . .
. . . .
271 272 276 288
4. Exkurs: Körper, Leib und Welt. Spielerische Identifikation . . . . . . . . . . . a) Körper als Namensvetter für Natur . . . . . b) Körper, Umwelt und Zwischenmenschliches c) Natur als Quelle für Beschreibung von Körper und Leib . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
. . . .
. . . . . 295 . . . . . 296 . . . . . 297 . . . . . 300
Lebens- und Denkformen: Eine Zusammenfassung nach Wendepunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 1. Begriffe aus der Neuen Phänomenologie . . . . . . . . . 335 2. Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 3. Verzeichnis der Abbildungen und Diagramme . . . . . . 353 4. Zeittafel
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
5. Karte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 6. English Summary
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Einführung
1. Anlaß und Aufbau des Buches Fernöstliche Fertigkeiten versprechen Ganzheit, die – so könnte man meinen – unserer eigenen Tradition abhanden gekommen ist – hat doch die offizielle europäische Philosophie seit Demokrit und Platon einen Weg beschritten, der Leib und Geist, Körper und Seele, Gefühl und Vernunft voneinander abspaltete und gegeneinander ausspielte, so daß sie bis heute miteinander im Streit zu liegen scheinen. Noch in dem Wort »psychosomatisch« oder engl. body-mind ist der Dualismus 1 enthalten, obwohl doch gerade diejenigen, die diese Begriffe verwenden, damit zum Ausdruck bringen wollen, daß psyche /mind und soma / body eben nicht zu trennen sind, daß der Mensch als Existenzform vielmehr eine Einheit, eine Ganzheit ist. Wer diese Ganzheit nun aus dem Gefühl des Verlustes heraus hilfesuchend in Ostasien vermutet, der verkennt zweierlei: Zum einen machen Menschen hier wie dort Lebenserfahrungen, die sie 1 Dualismus, in der Alltagssprache häufig mit Polarität/Dualität verwechselt, bedeutet im Folgenden, daß zwei grundverschiedene Wesenheiten unterstellt sind: Gott vs. Welt, Bewußtsein vs. Materie oder auch Geist vs. Körper, von denen das jeweils erstere als ewig unveränderlich, das jeweils letztere als vergänglich gedacht ist. Zugleich ist damit eine Hoch- bzw. Geringschätzung verknüpft. Den Dualismus zwischen materieller und immaterieller Welt hat das Christentum von der Antike übernommen und ausgebaut. Neben diesen beiden »Verkünstelungen« in der europäischen Philosophie nennt Schmitz 2010 das moderne naturwissenschaftliche Weltbild, sofern es den »überzogenen Anspruch einer umfassenden Welterklärung mißbraucht« (Klappentext). Zum Dualismus im abendländischen Denken und Monismus chinesischer Vorstellungen in kulturvergleichender Perspektive vgl: Hertzer 2006.
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Anlaß und Aufbau des Buches
zwar in unterschiedliche Begriffssysteme transportieren, die aber in einer tiefen Schicht übereinstimmen, so daß sich Empfinden von Kohärenz und Ganzheit auch bei uns einstellt. Zum anderen hat die chinesische Welt eine Kehrseite der Medaille, denn auch ihre Geschichte lehrt, daß durch die Jahrhunderte Körper und Leib, Gefühl und leibliche Regungen unterdrückt wurden – um einer im moralischen Sinne vernünftigen Einsicht willen. Selbstverstümmelung tugendhafter Frauen und Männer und Fußverkrüppelung bei kleinen Mädchen sind in dieser Hinsicht die krassesten Beispiele aus der Körpergeschichte Chinas, und bis heute leiden Chinesen und Chinesinnen unter bewegungshemmenden Konventionen und Tabuisierung von Gefühlsausdruck und Sexualität, unter Krankheiten, die eindeutig auf Verdrängung von Zorn und Aggression zurückzuführen sind. 2 Ganzheit – oder auch im Osten nur Unterdrückung der menschlichen Natur? Selbst China-Experten lösen diesen Widerspruch nicht auf, tragen eher zur Verwirrung bei, wenn sie in Übersetzungen Begriffe verwenden, die doch dem abendländischen Dualismus verpflichtet sind, als verstünde sich das im chinesischen Kontext von selbst: Begriffe wie »Körper«, »Geist« und »Seele«. 3 Nun hält die deutsche Sprache zwei Wörter bereit, deren Unter2
Kinsey-Report aus China von Liu, Dajian (Hg.) 1992, Ots 1982, 1990. Neuerdings bemüht sich die VR China um Transfer westlicher psychotherapeutischer Techniken nach China. Das kann nur bedeuten, daß auch dort psychische und psychosomatische Krankheiten zunehmen; dazu die Ankündigung eines Kongresses »Konzepte in Ost und West« an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg vom 27.–29. 5. 2011. 3 Hier ließe sich Beispiel an Beispiel reihen; vgl. Rappe 1994, der sich auf den Seiten 378–400 kritisch mit verschiedenen Übersetzungsvarianten auseinandersetzt. Eine der frühen Ausnahmen, welche die unterschiedliche Terminologie reflektierten, waren Needham 1977, 51–52, Schwartz 1959, 1973 sowie Ames 1984, 1993. In den 1980er und 90er Jahren haben sich vor allem japanische und taiwanesische Philosophen bemüht, die Diskussionen um westlichen Dualismus und östlichen Monismus durch sorgfältige philologische und historische Recherchen abzustützen: allen voran Ishida 1982, Sakade 1983, Ogawa 1983, Kuriyama 1994 und Yamaguchi 1997 in Japan sowie Yang 1993 und Lee 1995 auf Taiwan. In der VR China wurde das bahnbrechende Werk von Onozawa u. a. 1988 über die Lehre vom qí 氣, auf das fast alle zurückgreifen, von Li, Qing ins Chinesische übersetzt. Unter den genannten Autoren machen sich einzig Rappe, Ogawa und Yamaguchi einen phänomenologischen Ansatz zunutze.
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Anlaß und Aufbau des Buches
scheidung eine weniger verwirrende Sicht der Dinge eröffnen kann: »Körper« und »Leib«. Die begriffliche Differenzierung ergibt sich schon aus der Etymologie. Hinzu kommt, daß sie mit der uns allen jederzeit zugänglichen Lebenserfahrung korrespondiert. Darüber hinaus hat sie sich bereits philosophisch bewährt, denn die Neue Phänomenologie 4 begründet damit ganz wesentlich ihre Lehre vom Menschen: »Körper« – lat. corpus, u. a. der Leichnam – ist das solide, »das sicht- und tastbare Ding«, das ich als Objekt an anderen, aber auch an mir selber wahrnehme, wenn ich z. B. an mir herunterschaue. Im Grunde existiert der tast- und sichtbare Körper auch dann noch, wenn Leben schon daraus entwichen ist. Er ist zugleich Gegenstand der modernen naturwissenschaftlichen Medizin, der nicht zuletzt um der klinisch relevanten Präzision und Meßbarkeit willen in seine Einzelteile zerlegt wurde: Deshalb versteht der Ohrenarzt etwas von den Ohren und der Augenarzt von den Augen, und sie pfuschen sich im allgemeinen nicht gegenseitig ins Handwerk. »Leib« hingegen hat etymologisch mit »Leben« zu tun 5 und paßt als Begriff wunderbar auf das, was jedes lebendige menschliche Wesen an sich und von sich spürt, ohne die fünf Sinne, insbesondere Augen und Hände, zu Hilfe zu nehmen 6: leibliche Regungen, die 4 Die von Schmitz begründete Phänomenologie wird in Abgrenzung zu der durch die Namen Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty, Sartre, Waldenfels usw. repräsentierten älteren Phänomenologie auch die Neue Phänomenologie genannt: »Sie unterscheidet sich von der älteren hauptsächlich darin, daß sie die Abstraktionsbasis, die darüber entscheidet, was so wichtig genommen wird, daß es in Begriffe und Bewertungen eingeht, tiefer legt als das traditionelle konstruktive Denken. Dadurch kann man auch der unwillkürlichen Lebenserfahrung mit scharfen Begriffen gerecht werden. In dieser Tiefenschicht kommen die Kulturen überein; sie heben sich voneinander durch die Art und Weise ab, wie das Betroffensein in der Lebenserfahrung durch Vergegenständlichung verarbeitet wird.« Schmitz, aus der Skizze für das Vierte Symposion der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Lebenserfahrung und Denkformen vom 19.–21. April 1996, Kiel) vgl. auch ders., 1964–1980, 1982, 1987, 1990. Zu den in der vorliegenden Untersuchung verwendeten leibphänomenologischen Begriffen s. Anhang 1. 5 Vgl. Kluge 1960, 431. 6 Das »Ohne-Augen-und Hände« soll hier den Unterschied in der Wahrnehmung über die Sinnesorgane einerseits und über das leibliche Spüren andererseits verdeutlichen. Selbstverständlich kann mit sinnlich erfaßten Eindrücken, wie Farben und
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Anlaß und Aufbau des Buches
nur vage zu lokalisieren sind, wie Jucken, Kribbeln, Schmerz, freudiges Herzklopfen und Prüfungsangst in der Magengrube, oder ganzheitliches Spüren von Frische und Mattigkeit sowie Atmosphärisches, wie die Stille der Nacht, Weite und Tiefe der Ostsee, heitere Anwandlungen eines Sommernachmittags, gedrückte Stimmung einer Trauergesellschaft, feierlicher Ernst in einer Kirche. 7 Mit anderen Worten, die Einheit von Körper und Leib macht das aus, was zutreffend, wenn auch umständlich, als die »physiologisch-biologische, psychisch-mentale und religiöse-kosmische Ganzheit des Menschseins« (Kubny) bezeichnet werden kann. Körper und Leib sind nicht identisch: So wie der Körper nach dem Tode noch eine Weile fortexistiert, wenn leibliches Spüren schon nicht mehr möglich ist, so reicht umgekehrt der Leib im oben definierten Sinne über die Grenzen des tast-und sichtbaren Körpers hinaus: Der Amputierte spürt seinen Schmerz, obwohl ihm das körperliche Substrat an dieser Stelle fehlt; deshalb reden wir vom Phantomglied: Nicht sein Körper schmerzt, sondern sein Leib. Gefühle in Form der genannten Stimmungen und Atmosphären sind körperübergreifend und räumlich ergossen. Aus alledem ergibt sich zugleich, daß körperliche Behinderungen und Schwachstellen nicht zwangsläufig mit Beeinträchtigung im leiblichen Spüren einhergehen und umgekehrt. 8 Im allgemeinen aber sind Körper und Leib aufeinander angewiesen: Die Ganzheit des Leibes setzt den Körper voraus, ebenso wie teilheitliche Regungen des jeweiligen körperlichen Substrats bedürfen; Enge- und Weiteempfindungen beim Einatmen und Ausatmen (chin. Füllen bzw. Leeren) gehen mit dem rhythmischen Heben und Senken des Brustkorbs einher. Liegt Tönen, Atmosphärisches Hand in Hand gehen so, wie umgekehrt Stimmungen und Atmosphären auch auf Sinneseindrücken beruhen; auch das Streicheln, ein Tastvorgang, ruft teilheitliches und ganzheitliches Spüren hervor; vgl. Linck 2003a sowie 2007. 7 Bei aller Möglichkeit, Atmosphären systematisch herzustellen, was die Werbung uns täglich vor Augen führt, ist das subjektiv-leiblich-atmosphärische Spüren unverfügbar: »Gemeint ist einfach ein So-oder-so-Gestimmtsein des ganzen Menschen, und zwar gestimmt in einer Weise, die der Willkür und dem Belieben entzogen bleibt: Stimmung wird nicht gemacht oder gerufen, sondern steigt auf in uns und überkommt uns.« Pfeiffer 1952, 39. 8 Vgl. Linck 1995, 185.
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Anlaß und Aufbau des Buches
darin vielleicht sogar der Anfang aller räumlich gespürten Erfahrung, so wird Räumlichkeit des Körpers auch am dreidimensionalen Aufbau offenbar; zugleich ist die Fähigkeit, sich in Raum und Weite zu begeben, an Motorik und Dynamik der einzelnen Glieder des festen Körpers gebunden. Umgekehrt ist ein Körper ohne leibliches Spüren tot. Der Untertitel verspricht Philosophisches. 9 Wenn im vorliegenden Buch ein Stück chinesischer Philosophie aus dem Blickwinkel von Leib und Körper heraus entfaltet wird, so geschieht das unter folgendem Bedacht: Das Leben eines jeden Menschen ist vor allem ein körperlich-leibliches Phänomen: Nur über Körper und Leib hat der Mensch Zugang zur Welt. Sein »In-der-Welt-Sein« (Heidegger) 10 und die daraus erwachsende Betroffenheit sind körperlich und leiblich vermittelt: Unsere Traumreisen, unsere höchsten Gedankenflüge, noch die abstraktesten Begriffe tragen häufig den Stempel von Körper und Leib, erst recht dichterische Metaphorik und Redewendungen. In der chinesischen Selbst- und Weltdeutung ist der Boden unmittelbarer Leib- und Lebenserfahrung, der Sitz im Leben der Begriffe, dem Alltagsverstehen leichter zugänglich als im konstruktiven Denken der offiziellen europäischen Philosophie und Wissenschaft. Darüber hinaus hat es den Anschein, als ob das offizielle europäische Denken den Menschen auf den tast- und sichtbaren Körper reduzierte; Hand in Hand damit wurden Gefühls-Atmosphären und Stimmungen nach innen verlegt in eine »Seele«, als ob sie, dergestalt inkorporiert und zentriert, desto besser zu kontrollieren wären. 11 Die vormoderne chinesische Lehre vom Menschen registrierte den tast- und sichtbaren Körper zwar, war aber mehr am leiblichen Spüren interessiert und blieb so unmittelbarer Leib- und Lebens9
Zur Frage: Gibt es außerhalb des Abendlandes Philosophie oder Ontologie? vgl. Elberfeld 2004, 33 ff. Wagner 2003b, 83 will mit Tang Yongtong den Begriff Ontologie erst mit der Xuanxue, der Lehre vom Dunkeln, also im 3./4. Jh. beginnen lassen. In dem hier zugrunde gelegten Verständnis als ein »Sich-Besinnen des Menschen auf das Sich-Finden in seiner Umgebung« (Schmitz) erübrigt sich diese Frage. 10 Bei Merleau-Ponty 1945, IX: »[…] prise dans le monde«. 11 Die Neue Phänomenologie nennt diesen Vorgang Introjektion, s. Anhang 1 »Begriffe aus der Neuen Phänomenologie«.
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Anlaß und Aufbau des Buches
erfahrung weitgehend treu – trotz reduktionistischer Anwandlungen. Beide Traditionen suchten sich im Verlauf der Jahrhunderte verschiedene und doch auch wiederum analoge Wege. Diese Wege mit dem Kompaß der Unterscheidung von Leib und Körper im oben definierten Sinne am chinesischen Beispiel abzuschreiten, an Wendepunkten Halt zu machen und dabei den Blick immer wieder auf unsere eigene Kultur zu richten, ist Gegenstand des vorliegenden Buches. Somit ist es in gewisser Weise von therapeutischem Interesse, wenn auch nicht in dem Sinne, daß es praktische Hilfe anböte; doch erhellt es Zusammenhänge, die dann in Praxis umzumünzen wären: Menschen leiden bei uns nicht nur an allgegenwärtigen Stressoren, sondern auch an körperlichen Besonderheiten, Störungen und Behinderungen, nicht zuletzt weil die moderne westliche Zivilisation den Menschen weitgehend über den tast- und sichtbaren Körper definiert. 12 Andere wiederum haben mit Störungen im leiblichen Spüren zu tun, da wir uns daran gewöhnt haben, uns als gespalten zu erleben zwischen den Anforderungen einer zweckbestimmten, funktionstüchtigen Vernunft auf der einen und emotionalen Bestrebungen auf der anderen Seite. Insbesondere hat die europäische Intellektualkultur die reflektierende Abstandnahme – la distance de soi im Sartre’schen Sinne – derart kultiviert, daß beim erwachsenen Menschen das ausgewogene Hin und Her zwischen »Sich-selbstSein mit Haut und Haar« und Selbstdistanzierung häufig nicht mehr möglich ist. 13 Auf dem Umweg über China zugleich etwas über eine Tiefenschicht unserer eigenen Existenz zu erfahren, die in unserer eigenen Begriffs-Tradition verschüttet, nicht verloren ist, könnte hilfreich sein. 14 Wenn auch dieses Buch aus einem philosophischen Antrieb her12
Vgl. Linck 1995a. In der Sprache der Neuen Phänomenologie handelt es sich um den Spielraum zwischen Eintauchen in das Chaotisch-Mannigfaltige undifferenzierter Gegenwart auf der einen Seite und Distanzierung auf der anderen – anders gesagt, zwischen personaler Regression und personaler Emanzipation; vgl. Schmitz 1990, 153 ff. S. auch III.1.a (2) bzw. Anhang 1. 14 Vgl. den Titel von Soentgen 1998: Die verdeckte Wirklichkeit. Selbstverständlich gehe ich nicht davon aus, daß Unmittelbarkeit pur im Selbst- und Weltbezug mög13
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Anlaß und Aufbau des Buches
aus entstand, so handelt es sich nur zum Teil um eine, wenn auch etwas andere, Geschichte der chinesischen Philosophie. Erstens kommt ein Stück Alltagsgeschichte Chinas ebenfalls zum Tragen: Aus Platzgründen kann sie nur exemplarisch abgehandelt werden. Dabei sind möglichst Bereiche gefragt, die in der westlichen sinologischen Geschichtsforschung bisher kaum oder nur vereinzelt Beachtung fanden, wie Bewegungsspiele und Kampfkunst, Hygiene, Schönheit und Häßlichkeit, Physiognomie und Lebenspflege, Essen und Trinken, Erotik und Sexualität … Zweitens geht es darum, bestimmte Aspekte des chinesischen Denkens einmal anders zu betrachten – etwa Kalligraphie als gekonnter Umgang mit dem qi, anders gesagt als »Qigong mit dem Pinsel« – und philosophische Begriffe und Denkfiguren neu zu interpretieren. Das Umarrangieren von bereits Gewußtem ist wie das Öffnen eines bisher verschlossenen Tores, durch das sich der Charakter einer Stadt auf ganz neue Weise erschließt: Altvertraute Gassen und Gebäude erscheinen in einer anderen Perspektive, in anderem Licht und Schatten. Der Schlüssel zu diesem Tor ist die kategoriale Differenzierung von Leib und Körper. Andere Schlüssel schließen andere Tore auf und zeigen ein anderes Bild. Im Ersten Teil des Buches »Leib und Körper« geht es um Wahrnehmung von Leib-Innen und Leib-Außen und um die Unterscheidung von sichtbarem Körper und spürendem Leib, einschließlich der vom Gegenüber her gespürten leiblichen Präsenz. Hier wird offenbar, daß im vormodernen China der Glaube an die Ganzheit des Menschen im Vordergrund steht. Dies gilt eindeutig für das vorbuddhistische China, d. h. bis in die Anfänge der Kaiserzeit (s. Zeittafel). Danach sind Fremdeinflüsse unübersehbar, aber auch Auswirkungen verschiedener Zivilisationsschübe, die sich im Denlich wäre, vielmehr daß sprachliche Festlegungen Wahrnehmung und Denken in bestimmte Geleise lenken. Andererseits sind Habitus-bedingte kultur-, schichtund genderspezifische Wahrnehmungsmuster im Sinne eines impliziten Leib-Körper-Wissens, erst recht situatives Verhalten, nicht zwangsläufig auf Sinnzuschreibungen oder Diskursivierungspraktiken zu reduzieren.
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ken niederschlagen. Unter diesen Einflüssen wandelt sich z. B. die Auffassung vom Herzen, das sich zunächst als ein ungeteilter Regungsherd darstellt und schließlich zu einem Schauplatz wird, wo Emotionen/Begehren und Einsicht/Moral miteinander kämpfen. Gleichzeitig halten entscheidende Traditionsstränge, wie die chinesische Medizin, am Ganzheitsgedanken fest. Der Zweite Teil ist mit dem Verhältnis von »Leib und Gefühl« befaßt. Werden Gefühle zunächst als Atmosphären wahrgenommen, die der Mensch als räumlich ergossen um sich herum spürt, so zeichnet sich im Zuge der Selbstdistanzierung und Selbstbeherrschung auch in China eine Verinnerlichung und partielle Zentrierung der Gefühle ab. Analog kommt es zur Einwirkung auf das menschliche Begehren: Zunächst wird es von den Philosophen als Lebensäußerung gerechtfertigt, wobei sie von Anfang an Mäßigung fordern aus Gründen der Lebens- und Charakterpflege. Nur so schien Harmonie im Zusammenleben zwischen den Menschen möglich zu sein. Anderen wiederum war es an der bewußten Gestaltung des Begehrens gelegen – um eines subtileren Lebensgenusses willen. Doch nicht nur dazu wurden Moral und vernünftige Einsicht eingesetzt, vielmehr wirkten sie letztlich hemmend und mindernd auf Körper und leibliches Spüren ein. Der Dritte und letzte Teil behandelt das Verhältnis zwischen »Mensch und Welt«. Aus unserer Sichtweise mag es zunächst verwundern, daß die Welt zur Thematik von Körper und Leib gehört. Und doch, wer wollte daran zweifeln, daß nicht nur Welterleben, sondern auch das Nachdenken darüber an körperliche und leibliche Wahrnehmung gebunden sind. Im chinesischen Denken, wo der Mensch als Mikro-Kosmos begriffen wurde, liegt der Zusammenhang offen zutage. So eng sind Mensch und Welt miteinander verbunden, daß die vormoderne chinesische Philosophie auch als eine »Anthropo-Kosmologie« (Schwartz) bezeichnet wurde. In diesem Dritten Teil geht es darum, das Verhältnis von Mensch und Welt in seinem historischen Werdegang zu verfolgen. Im Mittelpunkt steht die Emanzipation des Menschen von numinosen Atmosphären. Indem sich die Philosophen von Göttern und Geistern zu distanzieren begannen, bekamen sie mehr und mehr auch die Natur im engeren Sinne objektivierend in den Blick. Und doch hielt die 22 https://doi.org/10.5771/9783495860182 © Ver
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chinesische Philosophie grundsätzlich an der Verklammerung von Mensch und Welt fest, an ihrem Mit-einander-Schwingen, am Denken in Resonanzen. 15 Mit anderen Worten, die zunehmende Selbstbehauptung des Menschen wird ebenso deutlich wie das fortdauernde Bedürfnis nach Einheit mit Welt und Natur. Zum Schluß sollen die Wendepunkte chinesischer und abendländischer Denkweisen einander gegenüber gestellt werden, um so noch einmal Gemeinsamkeit und Unterschied im Hinblick auf Ganzheit und Antagonismus zusammenzufassen. Am Ende dieser Einleitung steht ein Hinweis zur erhofften Lesefreundlichkeit dieses Buches: Ich habe versucht, so zu schreiben, daß das Buch auch neben dem Sofa bereit liegen kann. Zugegeben – um leichte Lektüre handelt es sich nicht. Schließlich geht es um ein Sich-Besinnen. Andererseits lösen die abstrakteren philosophischen Ausführungen und die anschaulicheren Passagen aus der chinesischen Sozial- und Alltagsgeschichte einander ab; so wird von Leser und Leserin nicht ununterbrochen höchste Konzentration verlangt. Auch daß immer wieder anregende Zitate und reizvolle Anekdoten in den Text eingestreut sind, dürfte die Geschichte lebendiger und greifbarer machen. Drei technische Anmerkungen: 1. Das Buch verwendet für die Transkription chinesischer Zeichen die in der Volksrepublik übliche Pinyin-Umschrift, außer in Zitaten, die aus der Sekundärliteratur übernommen wurden, sowie bei Personennamen, die sich in der westlichen Literatur eingebürgert haben. 2. Die Übersetzungen aus dem Chinesischen stammen von mir, es sei denn, sie sind mit »Übs.« gekennzeichnet; auch in diesem Fall wurden sie am Original überprüft; falls das nicht möglich war, ist die Stelle mit »zit. nach« versehen. 3. Die Nachnamen moderner chinesischer Autoren sind mit Komma vom Vornamen getrennt in Analogie zu westlichen Namen; bei den Namen vormoderner Autoren ist dies nicht der Fall. 4. Die unterschiedliche Verwendung von Leerstellen, Bindestrichen, Zusammenschreibung bei der Transkription der chinesischen Ausdrük15
Dies schloß in der Praxis weder Naturüberwältigung noch Naturzerstörung aus; vgl. Franke 1983 sowie Linck 1989.
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ke wird nur Nichtsinologen verwirrend erscheinen: Grundsätzlich beruhen Leerstellen auf grammatikalischen Überlegungen, Bindestriche sind eher bei der vormodernen Schriftsprache und Zusammenschreibungen eher in modernen Ausdrücken üblich. Mein besonderer Dank gilt Hermann Schmitz. Nicht nur, daß er das wissenschaftliche Instrumentarium schuf, mit dem sich zentrale Aspekte der chinesischen Kultur – auf etwas andere Weise als bisher üblich und, wie ich meine, »bewußtseins-erweiternd« – begreifen lassen. Die Suche in anderen Kulturen nach analoger leiblich fundierter Wahrnehmung war ihm immer ein Herzensanliegen, auf das ich als Kulturwissenschaftlerin, Kollegin und Freundin bauen konnte.
2. Zur Neuauflage Die Neuauflage des Buches ist dem Vorstand der Gesellschaft für Neue Phänomenologie und dem Alber Verlag zu verdanken, insbesondere dem Betreuer Lukas Trabert. Anlaß war die immer wiederkehrende Nachfrage, denn die Erstauflage aus dem Jahre 2001 16 war rasch erschöpft. Dem damaligen Herausgeber, Dr. Hubert Christian Ehalt, sei ebenso gedankt wie dem Peter Lang Verlag für das Entgegenkommen bei der Abtretung der Rechte. Die erneute sorgfältige Durchsicht und Überarbeitung des Textes, der Anmerkungen sowie des Anhangs ist zum einen dem Bedürfnis nach inhaltlicher Präzisierung geschuldet, zum anderen greift sie Forschungsergebnisse, insbesondere meiner eigenen bis heute anhaltenden und vertieften Beschäftigung mit dem Thema auf: Ganze Passagen wurden gestrichen, neue hinzugefügt. Nicht zuletzt geht es um Korrektur von Fehlern, die sich – woher auch – immer wieder einschleichen. Ebenfalls neu sind die Seitenverweise 16
Historisch-Anthropologische Studien des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Historische Anthropologie, Wien Bd. 12; Frankfurt (Lang).
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im Verzeichnis chinesischer Begriffe, Personen und Werktitel, so daß sich das Buch auch zum wiederholten Nachschlagen und zum leichten Auffinden ursprünglicher Textstellen eignet. Angesichts modernisierter Druckverfahren ist es nunmehr selbstverständlich, die chinesischen Zeichen im Text selbst an gegebener Stelle aufzuführen, wobei die chinesischen Begriffe, Personennamen und Titel im allgemeinen nur beim ersten Mal zusätzlich zur Umschrift auch in ihrer Zeichengestalt erscheinen. Über den Anhang lassen sich die Zeichen jederzeit abrufen. Zeichen für chinesische Werke, die im Literaturverzeichnis aufgeführt sind, entfallen sowohl im Text als auch in den Anmerkungen. Die für die Aussprache relevanten Töne sind nur bei chinesischen Begriffen und auch nur beim ersten Mal gesetzt, d. h. wenn diese von ihrer Zeichengestalt begleitet sind – nicht aber bei Personennamen und Buchtiteln. Seit der Erstauflage des Buches sind zehn Jahre vergangen, in denen die westliche Sinologie, in Europa wie in den USA, zur Körpergeschichte Chinas umfassend geforscht hat. 17 Auch das Bemühen um medizinwissenschaftlich abgesicherte Befunde zur Wirkung chinesischer Körpertechniken und Bewegungskünste – Akupunktur, Taijiquan und Qigong – gehört in diesen Kontext. 18 Doch differieren die Ansätze von dem hier zugrunde gelegten: Entweder geht es um gesellschaftlich – diskursiv oder performativ – hergestellte Körper, nicht zuletzt geschlechtsspezifischer 19 Prägung, oder um implizites Körperwissen, um Körpertechniken und therapeutische Wirkungen. 17
Einschlägige Arbeiten sind Furth 1999, Despeux/Kohn 2003, Geany 2003, Kohn 2003, Bray 2006, Messner u. a. in Santangelo/Middendorf 2006 sowie Silk 2006. Zuweilen mögen in einzelnen Beiträgen leiblich-atmosphärische Phänomene unter anderen Bezeichnungen jeweils in den Blick kommen, wie im Begriff sensations bei Messner oder sensing the wind bei Geany; implizites Wissen bei Polanyi wäre eine eigene Untersuchung wert, nicht zuletzt um die Anschlußfähigkeit und Fruchtbarkeit leibphilosophischer Begriffe aufzuzeigen. 18 An dieser Stelle sei exemplarisch auf folgende Institutionen verwiesen: »Kontaktstudium Qigong« an der Universität Oldenburg, Naturheilkundeklinik Essen sowie Ärzte und Ärztinnen im Umkreis der Gesellschaft für Qigong Yangsheng. 19 Daß auch Butler davon abgerückt ist, Körper und Gender als reine Konstruktionen zu betrachten, zeigt bereits ihr Buch Bodies that Matter aus dem Jahre 1993.
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Im Sinne poststrukuralistischer bzw. postmoderner Ansätze könnte im vorliegenden Buch auch vom disziplinierten Körper (Foucault) die Rede sein statt vom Prozeß der Zivilisation 20, von Diskursen (Foucault) über Schönheit und Häßlichkeit statt von Gefühlsatmosphären, vom Habitus (Bourdieu) des chinesischen Kampfkünstlers statt von Einleibung und Situation, von offiziellen Menschenbildern als Kontrollinstrumente im Medium der Wahrheit (Luhmann) … Wenn auch diesen prinzipiell 21 vielversprechenden Ansätzen und Konzepten zum Trotz die kategoriale Differenzierung von Körper und Leib nach wie vor sämtliche Überlegungen bestimmt, so hat das mehrere Gründe: Erstens, das Buch hätte komplett umgeschrieben werden müssen! Zweitens konnte dies gar nicht mein Anliegen sein, verstehe ich es doch nach wie vor als ein Plädoyer für das 20
Elias’ Buch mit dem gleichnamigen Titel stammt schon aus den 40er Jahren, wurde aber erst Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre in Deutschland rezipiert. Das geschah im Zuge eines damals in den Geisteswissenschaften sich anbahnenden Paradigmenwechsels hin zur Struktur- und Sozialgeschichte. Die bald darauf einsetzende Absage von Postmoderne bzw. Poststrukturalismus an »in Geschichte und Realität eingelassene objektive Strukturen« läßt das Konzept vom Zivilisationsprozeß nicht zwangsläufig antiquiert erscheinen: Ob diskursiv, performativ oder kommunikativ hergestellt – die Tabuisierung von Gefühl und Begehren hat sehr wohl mit der historischen Selbstbewegung von Gesellschaften zu tun, die bemüht sind, das Trieb- und Lustbündel Mensch zu zähmen. Gelingt es, Elias’ Zivilisationsprozeß nicht unilinear-fortschreitend zu denken und sein Verständnis von in Gesellschaft eingelassenen Strukturen etwa durch den Bourdieu’schen Praxisbegriff zu ersetzen, in dem subjektives Reden und Handeln ebenso enthalten sind wie objektive in gesellschaftlicher Praxis hergestellte Strukturen, so ist m. E. nichts gegen den Gebrauch der Formel vom »Prozeß der Zivilisation« einzuwenden. 21 Grundsätzlich entscheidet m. E. nicht zuletzt auch das Material, welcher methodische Zugriff sinnvoll ist. Man könnte dann auch gegen die überall vermuteten (Macht-)Diskurse einwenden, daß es nicht nur Machtverhältnisse gibt, so unbestritten Foucaults Verdienst bleibt, diese Perspektive aus dem Marxismus herübergerettet zu haben. Mein Aufsatz über Kinderliteratur aus dem 17. Jh. (2003) zeigt z. B., wie sich mit unterschiedlichen Konzepten, in diesem Fall Diskurs und Situation, an demselben Material Unterschiedliches explizieren läßt. Auch der Disputationsvortrag von Dietsche zum »Habitus des chinesischen Kriegers. Aktuelle und überlieferte Konfigurationen« ist dem Versuch geschuldet, unterschiedliche Ansätze einander gegenüberzustellen oder miteinander zu verknüpfen, in diesem Fall Bourdieu (Habitus) und Schmitz (Situation).
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Begriffsinventar der Leibphilosophie, das im Hinblick auf außereuropäische Kulturen bisher kaum fruchtbar gemacht wurde, geschweige denn sich erschöpft hätte. 22 Drittens geht damit eine bewußte Absage an den »Taumel« 23 von Konstruktivismus und Semiotik einher, an die Ausschließlichkeit konstruktivistischer und hermeneutischer Ansätze, die den menschlichen Körper reduktionistisch als Text (cultural script) »lesen« und auf Sinn hin interpretieren. Demgegenüber wird im Folgenden eine »Nähe-zu-den Dingen, ein Auf-Reichweite-Sein evoziert« 24, indem konkret-lebensweltliche Erfahrung, situativ-leibliche Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung hinter Terminologie und Semantik gefragt sind. Wenn – um es mit Einstein zu sagen – die Theorie entscheidet, was wir wahrnehmen, dann verwundert es nicht, wenn andere Perspektiven andere Forschungsergebnisse zutage fördern: »Dieses Buch richtet sich in engagierter Form gegen die in der heutigen Kultur vorherrschende Tendenz, die Möglichkeit einer auf Präsenz basierenden Beziehung zur Welt preiszugeben und sogar aus dem Gedächtnis zu streichen.« 25
Gumbrechts Satz aus der »Gebrauchsanleitung« zu seinem 2004 publizierten Buch Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz 26 möchte ich auch als Motto für die Wiederauflage des vorliegenden Buches geltend machen, während die Arbeit am ersten Buch, die Ende der 80er Jahre begann, mehr oder weniger dem »Zufall« geschuldet war: der gerade einsetzenden kulturwissenschaftlichen Reflexion über die »Wiederkehr des Körpers« (Kam22
In kulturvergleichender Perspektive vgl. Rappe 1994, zur Philosophie im alten Indien Sellmer 2005. 23 So Gumbrecht 2004, 22. 24 Ebd. 10. 25 So gesehen könnte die Phänomenologie, die in ihrer älteren und neueren Gestalt im frühen bzw. mittleren 20. Jh. entworfen wurde, eine Brücke schlagen zu der sich aktuell abzeichnenden postkonstruktivistischen und posthermeneutischen Wende. Vgl. Seel 2000, Anders 2002, Iser 2003, Gumbrecht 2004, Waldenfels 2005, Martinez 2006, Demmerling/Landweer 2007, Bachera/Bucher 2008, Raab 2008, Dolar 2009, Mersch 2010, Andermann/Eberlein 2011. 26 Ders. 2004, 12.
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per/Wulf) ebenso wie persönlichen Begegnungen mit Hermann Schmitz, Gernot Böhme u. a. 27, Studierenden in Kiel, die sich für die besondere Thematik und Methodik begeisterten, 28 aber auch meiner heimlichen Freude an »leibhaftiger« Präsenz und Ko-Präsenz und an der Gestaltung von Atmosphären aller Art – nicht zuletzt der eigenen Praxis von Yoga, Qigong und Meditation und der bis heute anhaltendenden Neugier, dieser Art von »Präsenzphänomenen« und »Präsenzeffekten« (Gumbrecht) auch selbstreflexiv auf der Spur zu sein. So hat sich an dem ursprünglich vierfachen Anliegen des Buches nichts geändert: 1. Begriffe und Konzepte traditionell-chinesischer Welt- und Selbsterklärung daraufhin abzuklopfen, wo ihr »Sitz im Leben« ist – anders gesagt: mit dem methodischen Schlüssel der LeibKörper-Differenzierung neue Pforten zur Geschichte Chinas aufzuschließen und damit eine erweiterte – nicht »bessere« oder »adäquatere« – Sicht auf die chinesische Philosophie und Kultur zu eröffnen. 2. Entgegen der in der westlichen Sinologie üblichen Praxis einer Fokussierung auf einzelne Dynastien bzw. Epochenformationen gilt es – wenn auch aus heutiger Perspektive – die historische Selbstbewegung der chinesischen Gesellschaft exemplarisch zu verfolgen, wiederkehrende und abweichende Muster der Selbstund Weltwahrnehmung auszumachen – so skizzenhaft auch die einzelnen Epochen bzw. Dynastien dabei in Erscheinung treten. 3. Wissenschaftliche Betrachtung und Forderung nach methodischer Transparenz sowie sorgfältigen Beleg- und Anmerkungsapparat mit Lesefreundlichkeit zu verknüpfen. 4. Und nicht zuletzt ein weiteres Mal zu zeigen, daß China bei aller Besonderheit nicht das ganz Andere ist und die chinesische Philosophie Phänomene menschlicher Selbst- und Weltwahrneh27
Hartmut Böhme, Rolf Elberfeld, Michael Hauskeller, Rudolf zur Lippe, Angelika Messner, Axel Michaels, August Nitschke, z. B. anläßlich von Tagungen der Neuen Phänomenologie und der Breuninger-Stiftung. 28 Einige Magisterarbeiten bzw. Dissertationen sind daraus hervorgegangen: Arne Eichberg, David Funk, Joachim Boldt, Florian Feuser, Sonia Schoon, Jing Wang, Liyuan Wang-Scheerer.
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mung auf eigene, aber auch analoge Weise verhandelt und gestaltet hat. Gudula Linck
Freiburg im Frühjahr 2011
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Erster Teil: Leib und Körper
Wer im chinesischen Denken naive Einheit vermutet zwischen Mensch und Natur, einschließlich seiner eigenen, den kann bereits die frühe Geschichte eines Besseren belehren. 1 Wie jede andere Philosophie begann auch die chinesische mit dem Nachdenken über Sein und Sollen des Menschen und über die Dinge der Welt. Beides setzte Abstandnahme voraus. In diesem Ersten Teil des Buches steht im Vordergrund, wie die Menschen im vormodernen China sich selbst als Einheit erlebten, zugleich aber auch aus der Distanzierung heraus an sich Differenz wahrnahmen – Differenz zwischen Innen und Außen ebenso wie Differenz zwischen dem spürenden Leib und dem sichtbaren Körper 2 – ja, wie Differenz schließlich in Widerstreit mündete zwischen verschiedenen leiblichen Bestrebungen. Nicht zwangsläufig ist Differenz Spaltung, wie sie für den europäischen Dualismus 3 charakteristisch ist: Danach war der Mensch geteilt in Oben und Unten; Oben – sind die höheren geistigen und moralischen Regungen, die ratio, Vernunft; Unten – die Gefühle und Triebe. Im allgemeinen sind Oben und Unten miteinander verfehdet. Gelegentlich wird zwischen Oben und Unten eine »Seele« angesiedelt, die ihrerseits noch einmal in höhere und niedere Bestrebungen gespalten ist. Diesen Dualismus pflegte die offizielle europäische Philosophie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Die chinesischen Philosophen unterschieden am Menschen sehr wohl ein Oben und Unten, Vorne und Hinten, Rechts und Links, vor allem aber ein Innen und Außen. Gleichzeitig differenzierten sie den tast- und sichtbaren Körper und den spürenden Leib. Mit zunehmender Reflexion setzten sie neben die Lebenskraft als weitere wesentliche Aspekte des Menschseins: Persönlichkeit, Charakter, Bewußtsein, Geisteskraft und verwendeten für alle diese gespürten Aspekte häufig ein- und denselben Begriff: shén 神 (s. I.2.c). Nun wäre es verfehlt, diese jeweiligen Dispositionen auf das Innere des Menschen zu beschränken, denn sie strahlten nach außen und bezogen umgekehrt vom Außen mannigfaltige Anregung und Nah1 Zumindest gilt das für die Philosophie der Jahrhunderte v. Chr. S. Karte im Anhang. Zum Klischee des Universismus und der Kritik daran vgl. Roetz 1984, 1–109. 2 Zur kategorialen Unterscheidung von Körper und Leib s. Einführung. 3 Zum Verständnis von Dualismus im vorliegenden Buch s. Einleitung Anm. 1.
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rung. Auch der tast- und sichtbare Körper war nach chinesischer Vorstellung nicht auf das Außen, die sichtbare Gestalt, beschränkt, denn Leichensektionen offenbarten im Inneren ebenfalls Tast- und Sichtbares. So nahmen die chinesischen Philosophen zwar die verschiedenen Aspekte des Menschen wahr, verschränkten aber Innen und Außen, Körper und Leib derart miteinander, daß eine radikale Trennung – trotz dualistischer und antagonistischer Anwandlungen – letztlich nicht infrage kam. Im Gegenteil, in ihren Welterklärungen beschworen sie immer wieder die Ganzheit. Die Ganzheit von Körper und Leib sei im Folgenden auch Körperleib genannt. 4 Das erste Kapitel dieses Ersten Teiles beschäftigt sich mit den beiden Aspekten von Differenz: Außen vs. Innen, Körper vs. Leib in verschiedenen Kontexten. Eine analoge Differenzierung finden wir in den signifikanten Körper- und Leibbegriffen, die im zweiten Kapitel vorzustellen sind. Erst recht kennzeichnen Differenzerfahrungen die Begriffsgeschichte des Herzens: Es ist die Geschichte einer zunehmenden Abstandnahme des Menschen gegenüber seiner eigenen Natur, die sich als Selbstermächtigung des Herzens darstellt. Diese ist Gegenstand des dritten Kapitels. Beides, Differenzerleben und Selbstermächtigung, schlug sich auch in der Metaphorik des Herzens nieder; davon soll im vierten Kapitel die Rede sein – weniger umfangreich als die vorangegangenen Kapitel und deshalb als Exkurs abgehandelt.
4
Bei der erneuten Lektüre eines Aufsatzes von Böhme fiel mir auf, daß er Leibkörper verwendet; ders. in: Hauskeller 2003, 41. Der chinesische Kontext legt die umgekehrte Wortzusammensetzung nahe: Körperleib, weil in letzterer die spezifisch chinesische Gewichtung auf Leib, ohne den Körper zu unterschlagen, m. E. besser zum Ausdruck kommt. Auch mir geht es nicht um eine neue Wortschöpfung für den allgemeinen Gebrauch, sondern um eine Schärfung des Bewußtseins, für welchen Begriff man sich auch immer entscheidet: »Sind doch alles bloß Worte!« (Florian Kesting).
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Außen und Innen, Körper und Leib
1. Außen und Innen, Körper und Leib Am Beginn der Unterscheidung von Innen und Außen, von tastund sichtbarem Körper und dem spürendem Leib stand womöglich das Betroffensein vom Tod eines nahen Menschen. Beim Anblick der leblosen äußeren Hülle drängte sich die Frage auf nach dem Verbleib von Lebenskraft und Persönlichkeit. Aus der Begegnung mit dem a) Tod entstand der Wunsch nach Lebenspflege und Unsterblichkeit. Eine andere Art der Differenz von Innen und Außen, Körper und Leib erlebten die Menschen im Umgang mit ihren Mitmenschen: Die Enttäuschung blieb nicht aus, wenn sie immer wieder feststellten, daß ein schönes Äußeres durchaus nicht zwangsläufig mit einem schönen Inneren gepaart war; vielmehr klafften b) äußere und innere Schönheit bzw. Häßlichkeit sehr wohl auseinander. Auch die Nachfrage nach Experten in der c) Kunst der Physiognomik beweist, daß die Menschen nicht naiv an Übereinstimmung von äußerer Erscheinung und inneren Werten glaubten. a) Tod, Lebenspflege und Unsterblichkeit Da über das Schicksal nach dem Tode eigentlich nichts gewußt werden kann, sind den daran geknüpften Vorstellungen auch keine Grenzen gesetzt. Vieles spricht dafür, daß der Glaube an die Wirkungen der verstorbenen Ahnen bereits zu den Anfängen der chinesischen Kultur gehört. 5 Er ging nie ganz verloren, auch wenn eine Elite, die sich für aufgeklärt hielt, eher Skepsis walten ließ. Konfuzius (551–479 v. Chr), chin. Kong Qiu 孔丘 oder auch Kongfuzi 孔夫子, war wohl einer der ersten, die über den Tod nachsannen, ohne darüber ins Spekulieren zu verfallen, denn, davon war er überzeugt: »Wer vom Leben noch nichts weiß, wie sollte der den Tod kennen!« 6 Und doch hielten er und seine Nachfolger an 5 6
Vgl. Chang, Tsung Tung 1970, Keightly 1985 sowie Ma, Kan-wen 1985. Lunyu 11.12 »Xianjin«, Zhuzi jicheng Bd. 1, 243; vgl. Wilhelm, R. 1985, 115.
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Außen und Innen, Körper und Leib
den Opferriten für die Toten fest, so daß der chinesische Ahnenkult im allgemeinen auch mit der konfuzianischen Tradition 7 verbunden ist. Hinzu kommt, daß die für die früheren Staatsbildungen brauchbaren hierarchischen Ordnungsvorstellungen nach Alter und Generation sich quasi naturwüchsig aus der Verehrung der Ahnen ergaben. Trotz der überraschend nüchternen Einstellung der frühen Konfuzianer waren dem chinesischen Ahnenkult in seiner weiteren Entwicklung noch einige Höhepunkte beschieden. Namentlich in der Frühen Kaiserzeit wurde die Götter- und Geisterwelt phantasievoll ausgeschmückt; gleichzeitig entstanden moralisierende Geschichten über merkwürdige Ereignisse und Erscheinungen. Nicht ganz unschuldig an dieser Entwicklung war der (Mahayana-)Buddhismus, der seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert in China nachgewiesen ist. Bald wimmelte es nur so von guten und böswilligen Geistern, welche die Menschen für schlechte Taten bestraften und für gute Werke belohnten, und es entwickelten sich Vorstellungen von einem regen Verkehr zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten. 8 Diese Tradition riß im Grunde nie ab, wenn es auch späteren Geschichtenschreibern offensichtlich mehr an guter Unterhaltung als an Moralpredigten gelegen war. 9 Im Volk wurde der Glaube noch im 19. Jh. so intensiv gelebt, daß europäische Missionare mehrbändige Werke füllen konnten mit Schilderungen von Prakti7
Der Begriff Konfuzianismus wird sich nicht vermeiden lassen, obwohl er doch sehr unterschiedliche Ausprägungen umfaßt: das Denken des Konfuzius, das seiner unmittelbaren Nachfolger Xunzi und Mengzi, die hanzeitliche Staatsideologie, der Neokonfuzianismus der Mittleren und Späten Kaiserzeit, die ihrerseits differieren. 8 Vgl. das Bowuzhi 博物志 (Umfassende Abhandlung über Dinge und Phänomene) aus dem 4. Jh., das Soushenji 搜神記 (Aufzeichnungen von der Suche nach Übernatürlichem) und das Yuanhunzhi 冤魂志 (Abhandlung über Rachegeister) aus dem 6. Jh. Auszüge davon finden sich in: Der Mann, der seinen Geist verkaufte. Geschichten aus dem 3.–6. Jahrhundert. Beijing (Guiji shudian) 1984. 9 Vgl. etwa die Erzählungen Liaozhaizhiyi 聊齋志異 (Aufzeichnungen merkwürdiger Begebenheiten aus dem Studierzimmer Liao) von Pu Songling 蒲松齡 (1640– 1715); dazu liegen verschiedene Übersetzungen vor, z. B. in deutscher Sprache: Liao-chai chih-i. Chinesische Geschichten aus dem 17. Jahrhundert, Stuttgart (Reclam) 1965 und Chinesische Gespenstergeschichten, Frankfurt a. M. 1975.
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ken, die sie aus ihrem christlichen Selbstverständnis heraus als »Aberglauben« bezeichneten. 10 Mit solchen anthropomorphen Vorstellungen hatten die frühen Daoisten, mehr oder weniger Zeitgenossen des Konfuzius, nichts im Sinn. Ihnen erschienen Leben und Tod als eine ununterbrochene Wandlung von Formen und Gestalten (xíng-huà 形化) – ein Gedanke, den Zhuang Zhou 莊周 (4./3. Jh. v. Chr.), dem die ersten sieben Kapitel des nach ihm benannten Klassikers Zhuangzi 莊子 zugeschrieben werden, in der schönen Parabel vom Schmetterlingstraum zum Ausdruck gebracht hat: »Woher weiß ich, ob unsere Lehre vom Leben nicht eine Illusion ist und der Haß auf den Tod nicht der Irrweg eines jungen Menschen, der nicht weiß, daß er heimkehrt […]? Woher weiß ich, daß die Toten ihr früheres Hängen am Leben nicht bereuen? […]. Das große Erwachen wird kommen. Und dann werden wir wissen, daß dieses hier ein langer Traum war […]. Einst träumte ich, Zhuang Zhou, ich wäre ein Schmetterling, flatterte hin und her ganz wie ein Schmetterling, und spürte, wie wohl ich mich fühlte. Ich wußte dabei nicht, daß ich Zhou war [der bloß träumte]! Plötzlich erwachte ich und war wieder Zhou! Jetzt weiß ich nicht, war ich Zhou, der träumte, er sei ein Schmetterling, oder bin ich der Schmetterling, der träumt, er sei Zhou! Zwischen Zhou und dem Schmetterling muß es einen Unterschied geben. Dies nenne ich die Wandlung der Dinge!« 11
Zhuang Zhou wollte ganz offensichtlich dem Tod seinen Schrecken nehmen. Immer wieder kam er auf das Thema zurück, und jedes Mal war er bemüht, den Tod als etwas Natürliches darzustellen: als Wandlung der Dinge – ja, ihn den Menschen nahezubringen als Anlaß zur Freude. 12 Aus der Vorstellung heraus, Tod bedeute Heimkehr in die unermeßliche Weite des dào 道 haben in seiner Nachfolge unzählige chinesische Dichter und Denker ihr Leben und Sterben den Wellen
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Vgl. Doré 1926 bzw. 1966 sowie de Groot 1907. Zhuangzi, Kap. 2.9. u. 2.12 »Qiwulun«; vgl. Legge o. J., 242, 243, 245; Wilhelm, R. 1992, 50 u. 52; Watson 1968, 47 u. 49. 12 Zhuangzi, Kap. 6.10 »Dazongshi«; vgl. Legge o. J., 297; Watson 1968, 85. 11
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der Großen Wandlungen anheimgestellt. In diesem Kreislauf der Wandlungen galten äußere Formen als belanglos. Manche gingen regelrecht verspielt mit dem Sterben um, so z. B. Zheng Quan 徵 泉, ein hoher Würdenträger des Herrschers von Wu 吳 (181–252). Als jener das Sterben nahen fühlte, soll er die Seinen gebeten haben, ihn in der Nähe einer Töpferwerkstatt zu begraben, mit folgender Begründung: »In hundert Jahren könnte ich in Erde verwandelt sein, und wenn ich Glück habe, macht [der Töpfer] aus mir einen Weinkrug. Das würde in der Tat mein Herz erfreuen.« 13 Ein solcher humorvoller Gleichmut angesichts des Todes war nicht jedermanns Sache; für viele verlor der Tod seinen Stachel nicht. 14 Dies belegen anschaulich zeitgenössische Praktiken zum Zwecke der Lebensverlängerung, Unsterblichkeit und Erleuchtung. Bereits aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert liegt in Gestalt einer Inschrift auf dem Knauf eines Wanderstabs der Nachweis vor, daß yogaähnliche Übungen zum Dehnen yǐn 引 des Körpers und zum Leiten dǎo 導 bzw. Sammeln von Atem und Lebenskraft praktiziert wurden. Sie beginnt mit den Worten xíng-qì 行氣 (Führen von qi) und endet mit den Worten: »Wer dem folgt, der wird leben; wer dem zuwider handelt, wird sterben.« 15 Die Grabfunde seit den 1970er Jahren von Mawangdui und Guodian haben vor Augen geführt, wie beliebt und verbreitet diese Praktiken zur Lebensverlängerung und Unsterblichkeit in Kreisen des frühchinesischen Adels waren. Sie umfaßten damals bereits konkrete Vorstellungen über die richtige Ernährungsweise, die Wirksamkeit bestimmter Sexualpraktiken sowie die Anpassung an jahreszeitliche Gegebenheiten. 16
Sanguozhi 三國志, Bd. 5, Wu-Shu, Kap. 2 »Wuzhuzhuan«, 229. Zu altchinesischen Vorstellungen über Räume der Toten vgl. Linck 2003b. 15 Xingqi yupeiming 行氣玉佩銘, vgl. H. Wilhelm 1948 sowie Harper 1998, 126. Einflüsse aus Indien, dessen frühe Zivilisation immerhin ein Jahrtausend älter ist als die chinesische, sind auch bereits für die Zeit vor der Ausbreitung des Buddhismus in China sehr gut möglich – wenn auch die chinesische Lebenspflege ganz eigene Schwerpunkte setzte; vgl. Eliade 1960, 67 ff. sowie Linck, Vortrag am 9. 2. 2011 in Essen »Gemeinsamkeit und Differenz von Yoga und Qigong«. 16 Harper 1998, Engelhardt 1998b, Pfister 2003 sowie Linck 2006. 13 14
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Solch zielgerichtetes Handeln konnte den zeitgleichen Autoren des Daodejing 道德經 17 oder Zhuangzi 18 nicht recht gewesen sein, widersprach es doch dem Prinzip des Nichthandelns (wú-wéi 無為), nach dem der Mensch sich hüten sollte, absichtsvoll oder gar gewaltsam in den natürlichen Lauf der Dinge einzugreifen. Auch die Kaiser der nachfolgenden Dynastien Qin 秦 (222–206 v. Chr.) und Han 漢 (206 v.–220 n. Chr.) pflegten nicht daoistische Gelassenheit und vertrauten nicht auf die »Wandlung der Dinge«. Im Gegenteil, auch sie strebten nach Unsterblichkeit, und zwar nach Unsterblichkeit von Körper, Leib und Leben. Aus dem Glauben heraus, Edelmetalle und Edelsteine könnten den Leichnam vor Fäulnis und Zersetzung bewahren, ließen sie Totenhemden aus Gold und Jade fertigen und sorgten dafür, daß nach ihrem Ableben die Neun Körperöffnungen (jǐu-qiào 九竅) 19 mit Gold- und Jadeplättchen verschlossen wurden – ein Grund mehr für spätere Grabräuber, die in der Erde versteckten Kostbarkeiten aufzuspüren. 20 In den Jahrhunderten, die auf die Reichseinigung folgten, war nahezu die gesamte frühkaiserzeitliche Elite wie besessen von dem Wunsch nach Langlebigkeit (bù-lǎo cháng-shēng 不老長生) und ganzheitlicher Unsterblichkeit. 21 Ebenso fieberhaft suchten Alchimisten der Epoche nach dem Lebens-Elixier. Ihren Experimenten, die ironischerweise nicht selten mit einem frühen Tod endeten, verdankt die vormoderne chinesische Medizin und Wissenschaft wertvolle Beobachtungen und Erfindungen. 22 Vertrauten die einen den Wirkungen der verschiedenen Lebens-Elixiere, einschließlich von Dro17
Zu den textlichen Grundlagen der verschiedenen Daodejing-Versionen vgl. Gerstner o. J., Wagner 2003a und zusammenfassend Simon 2009, 265 ff. 18 Vgl. dazu die ausführliche Zhuangzi-Bibliographie in Hoffmann 2001. 19 Im Huangdi neijing 黄帝內經, dem Klassiker der traditionellen chinesischen Medizin, sind die Körperöffnungen auf die Fünf Wandlungsphasen abgestimmt; dazu gehören dann die Augen (Holz), die Ohren (Feuer), die Nase (Erde), der Mund (Metall) sowie die unteren Öffnungen (Wasser); vgl. Veith 1972, 21. 20 Seidel 1985. 21 Vgl. die nach wie vor grundlegenden Ausführungen von Maspéro 1950, Sakade 1983, 1987 und Kubny 1995. 22 Needhams u. a. vielbändiges Werk Science and Civilization in China 1985 ff. ist bei aller Kritik nach wie vor die umfassendste Wissenschafts- und Technikgeschichte; zusammenfassend Needham 1977; vgl. auch Sivin 1968.
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gen, 23 scheuten die anderen, an die frühen Atemtechniken anknüpfend, keine Mühe der Leibbemeisterung: Dazu gehörten: Diätetik, rituelles Fasten, Massage, Drogen aus Pflanzen und Mineralien, raffinierte Sexualpraktiken, Gymnastik und Atemübungen und nicht zuletzt Meditation. Diese Körperleibtechniken nannten die Adepten nunmehr: Lebenspflege yǎng-shēng 養生 oder auch yǎng- qì 養 氣 (Nähren von qi) 24. Deren Ziel war es, letztlich als verfeinerter Leib zu den Unsterblichen aufzusteigen – so wie ein Gefiederter bzw. ein Kranich davonfliegt. 25 Indem die Anhänger der Lebenspflege nichts unversucht ließen, verfolgten sie allerdings ganz andere Ziele als die frühen philosophischen Daoisten, auf die sie sich dennoch beriefen. Ihr Anliegen teilten sie mit dem altindischen Yoga, aus dem im Gefolge des Buddhismus 26 mannigfaltige Einflüsse die chinesische Lebenspflege anreicherten. Ein Vergleich der jeweiligen philosophischen Hintergründe und Wirkungen zeigt dann auch, dass es sich mehr um unterschiedliche Gewichtungen als um zwei gänzlich verschiedene Heilsysteme handelt. 27 Eine ganz andere Vorstellung vom Schicksal des Menschen nach dem Tode setzte sich mit dem (Mahayana-)Buddhismus 28 durch, der seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert in China belegt ist: Der Glaube, daß eine individuelle »Seele« 29 durch unzählige irdische Existenzen hindurch nach Erlösung sucht, war im Grunde ein 23
Wagner 1976. Vgl. Sakade 1985, 60–70, Engelhardt 1998a, Linck 2006. 25 Vgl. z. B. die von Legge o. J., 711–712 übersetzten Appendices zu den Büchern Daodejing und Zhuangzi; ebenso Strickmann o. J.; Sakade 1983 und 1987; Engelhardt 1985; Kohn 1986, 1987. 26 Der Buddhismus ist seit dem 1. nachchristlichen Jahrhundert in China offiziell nachgewiesen. 27 Vgl. Linck, Vortrag in Essen am 4. 2. 2011 über Gemeinsamkeit und Differenz von Yoga und Qigong. 28 Ebenso wie der Begriff Konfuzianismus umfaßt auch der chinesische Buddhismus verschiedene Strömungen. Jedenfalls kannte der ursprüngliche Buddhismus keinen Dualismus von Körper und Geist/Seele, und das reine Asketentum war ihm ebenso zuwider wie überschwengliche Lebenslust; vgl. Yamaguchi 1997, 147 u. 149. 29 Ein Pendant zur altindischen Seelenwanderungslehre findet sich übrigens im Fragment des Xenophanes; vgl. Schmitz 1981, 82–83. Die Seele im Sinne eines 24
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vorbuddhistischer altindischer Gedanke, der mit dem Buddhismus nach China gelangt war. Fortan prägte er das chinesische Denken, zumal er sich ohne Weiteres mit dem altchinesischen Ahnen- und Geisterglauben verknüpfen ließ. Daraus entwickelte sich seit der Frühen Kaiserzeit ein Geflecht verschiedener Varianten von Vergeltungsgedanken, die vor allem im Volksglauben lebendig waren. 30 Ziel der Hauptrichtung des für China gültigen (Mahayana-)Buddhismus war Weltüberwindung, so daß sich im Umkreis dieser Glaubensrichtung auf Dauer eine Lebensfeindlichkeit breit machen konnte, die nicht nur einer verschärften Innen-Außen-Trennung 31 gleichkam, sondern den Körper von der sich immer wieder inkarnierenden »Seele« abspaltete. Besonders kraß zeigt sich diese Lebensverweigerung in den Worten des Dichters Wang Ji 王績 (585–655): »Das Leben erschien ihm wie eine vorstehende Beule, wie ein hängendes Geschwür, der Tod wie das Abfallen dieses Geschwüres, wie das Platzen einer Schwäre.« 32
festen Selbst war dem chinesischen Denken ursprünglich ebenso fremd wie die Unsterblichkeit. Dazu sehr treffend Friedrich 1984, 112: »Der chinesische Geist muß sich diese individuelle Substanz, die ›Seele‹, erst schaffen, damit er sie anschließend in seinem Verständnis des Buddhismus wieder zerstören kann.« 30 Naundorf u. a. 1985. Die chinesische Elite neigte vor allem dem Chan 禪Buddhismus zu (jap. Zen), der stark vom frühen Daoismus zehrte und sich spätestens seit der Tangzeit (618–906) als ein eigenwilliger schöpferischer Beitrag Chinas zum Buddhismus entwickelte. Er prägte ganz wesentlich die chinesische Gelehrtenkultur. 31 Yamaguchi 1997, 49–50. 32 Grabinschrift des Wang Ji; Übs. Bauer 1990, 162. Dabei hatte sich Wang Ji offensichtlich vom Zhuangzi inspirieren lassen; und zwar handelt es sich um Worte, die dort dem Konfuzius in den Mund gelegt wurden in einer kritischen Charakterisierung der »exzentrischen« Menschen: »Sie betrachten das Leben wie eine Eiterbeule, die ihnen anhaftet, wie ein Geschwür, das ihnen anhängt, und den Tod wie die Trennung von dem Geschwulst, wie das Aufplatzen der Schwäre«; Kap. 6.11 »Dazongshi«; vgl. Legge o. J., 300; Wilhelm, R. 1992, 91. An keiner anderen Stelle haben weder Zhuang Zhou selbst, dem nur die ersten sieben Kapitel des Buches zugeschrieben werden, noch Konfuzius ein solches Verständnis von den vorbildlichen Menschen propagiert, ging es ihnen offenbar doch darum, den Tod ebenso schicksalhaft anzunehmen wie das Leben selbst. Diese Stelle wirft ein weiteres Licht auf
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Dabei ging es zunächst nur um Gelassenheit angesichts von Krankheit, Verfall und Tod. Von der Gleichgültigkeit gegenüber dem bloß Äußeren war es dann aber offenbar nur ein kleiner Schritt zur Minderbewertung von Körper, Leib und Leben. So verstanden nahm der Buddhismus neokonfuzianische Ansätze eines chinesischen Dualismus geradezu vorweg. 33 Hielten die Philosophen der vorchristlichen Jahrhunderte die körperliche Behausung noch für ein kostbares Gut, das »Lebenskraft schützend umfaßt« 34, so erschien sie tendenziell nun als ein wertloser Behälter, der als Hort von Krankheit und Leiden so rasch wie möglich abzustreifen sei. 35 Die ursprüngliche Vorstellung von Leben und Tod als Wandlung überlebte in gewisser Weise im Rahmen der traditionellen chinesischen Medizin, die heute noch lebendig ist, wenn auch in veränderter Form. Vor allem zeugen zahlreiche Gedichte von der langlebigen Wirkkraft dieses Gedankens. Als Beispiel sei Su Dongpo 蘇東坡 (1037–1101) zitiert, ein Staatsmann und Gelehrter der Songzeit (960–1278), der in einem Gedicht an seinen Bruder den Zauber der Vergänglichkeit in wunderschönen Bildern eingefangen hat: »Des Menschen Dasein in der Welt, womit vergleich’ ich dies? Mit einem Schwan, der auf den Schnee, den Schlamm sich niederließ. Da watet er, tritt eine Spur, wie sie der Zufall fügt. Und wieder schwingt er hoch hinauf, sorglos, wohin er fliegt. Verstorben ist der alte Mönch, er ward ein steinern’ Mal.
den möglichen Einfluß einer bestimmten Richtung des buddhistischen Denkens, bevor der Buddhismus in China (1. Jh. n. Chr.) nachgewiesen ist. 33 S. III.1.b. 34 Zhuangzi, Kap. 12.8 »Tiandi«; vgl. Legge o. J., 364; Wilhelm, R. 1992, 134. 35 Nicht nur im meditativen Buddhismus war nach wie vor Platz für leibliches Spüren; vgl. auch Wilhelm, R./Jung 1986.
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An dem zerfallenen Mauerwerk schwand unser Vers im Saal. Gedenkst du jener Reise noch, da Steig um Steig sich hob? Lang war der Weg, ermüdet wir; mein lahmes Maultier schnob.« 36
Schon vor Su Dongpo hatten Gelehrte wie Liu Zongyuan 柳宗元 (773–819) die alten Vorstellungen von der großen Leere, in die sich der Mensch nach dem Tode hinein verstreut, oder von den möglichen Verwandlungen in Licht, Regen oder Tau, Donnergrollen, Phönix oder Drachen, Gold, Zinn oder Jade oder auch die erneute Inkarnation als Mensch nur mehr spielerisch bzw. metaphorisch verwendet. 37 b) Innere und äußere Schönheit und Häßlichkeit Lustvolles Genießen eines schönen Äußeren, auch unabhängig von einem entsprechenden Inneren, belegt die chinesische Geschichte zuhauf. 38 Vor allem Männer wurden offenbar nicht müde, die Schönheit der Frauen zu preisen. Dagegen zeigte man sich auffallend zurückhaltend bei der Schilderung von Häßlichkeit. Was für die Literatur gilt, trifft auch auf die Bildende Kunst Chinas zu: Maler und Bildhauer vermieden es gleichermaßen, die Kategorie des Häßlichen zu gestalten, als ob jenes weit verbreitete Märchen von der häßlichen Gottheit allen zur Warnung gedient hätte: Der betreffende Gott war derart häßlich, daß er sich nicht sehen lassen wollte. Als ein Maler ihn dennoch heimlich zu Gesicht bekam und ein Bild von ihm schuf, da rächte er sich und tötete ihn. 39 Zunächst ein Blick auf die Kriterien von Schönheit und Häß36 »He Ziyou mianchi huan-jiu« 和子由澠池懁舊, in: Su Shi shījí 蘇軾詩集, Beijing (Zhonghua shuju) 1982, Bd. 1, 96; Übs. Debon 1988, 262. 37 Chen, Jo-Shui 1992, 194; s. auch III.3.b. 38 Van Gulik 1971, z. B. 243; Wilhelm, R. 1931; Rousselle 1941; Levy, H. S. 1974; des Rotours 1968. 39 Eberhard 1937, 194.
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lichkeit. Die chinesische Mythologie will als Inbegriff (1) weiblicher Schönheit die Göttin vom Luo 洛-Fluß gelten lassen: »Wer mochte das sein – eine so schöne Frau an einem so einsamen Ort? […]. Schwerelos bewegt sie sich wie ein Vogel, der fliegt, zart wie Regenelfen beim [nächtlichen] Spiel, leuchtet heller als [das Gelb] der Sonnenblumen im Herbst, als [das Grün] der Kiefern im Frühling. Nur schemenhaft nehm’ ich sie wahr, wie eine leichte Wolke, die quer über dem Mond liegt. […] Ihre Schultern – wie gemeißelt, ihre Hüfte – wie ein Bündel Seide.« 40
Mit der Vogel-, Elfen- und Seiden-Metaphorik zielt die Beschreibung auf leiblich gespürte Anmutungen von Leichtigkeit, Zartheit und leuchtender Transparenz. Etwas handfester mutet folgende Passage aus dem 15. Jahrhundert an. Sie stammt von Frau Phönix, die – angeregt durch die Gedichte eines anderen – folgende Verse über weibliche Schönheit verfaßt haben soll: »Wolkengleiche Frisur: […] voll kühlem Salbenglanz, wie Rabenfedern, wie Zikadenflügel […]. Weidenblattgleiche Brauen: […] gewölbt wie Frühlingshügel. Sandelholzroter Mund: […] die wohlgesetzten Worte atmen leichten Jasminduft […]. Die Zähne: ebenmäßig weiß wie Kerne der Melone […]. Milchweiße Brüste: […] nach dem Bade ein Ort zarten Spiels für den Geliebten; kühl wie betaute Blumen mit purpurner Beere. Schlanke Figur: biegsam zart wie weiche Jade. Zarte Füße: […]. Doch wann zeigen sich die Füße, da gar zu lang der schmetterlingsbestickte Rock?« 41
In beiden Beschreibungen fällt auf, daß konkrete Details des tastund sichtbaren Körpers zwar genannt sind: die Frisur, die Augenbrauen, die Zähne, Brüste und Füße; doch scheint der leiblich-atmosphärische Gesamteindruck, angedeutet in den Naturanalogien, zu überwiegen. 42 Mit anderen Worten, die Aufmerksamkeit gilt 40
Übs. in Anlehnung an Hay 1994, vor allem 46–47. Li Changji, Übs. Bauer, W./Franke, H., Die Goldene Truhe, München (Carl Hanser) 1959, 300–301. 42 Bereits im Buch Huainanzi, das dem Prinzen Liu An 劉安 und seiner Philosophenrunde zugeschrieben wird, findet sich eine konkrete Beschreibung weiblicher Schönheit, die beides im Blick hat: den sichtbaren Körper ebenso wie das Atmosphärische. Genannt sind Duft, Augenbrauen, Kleidung, Ohrschmuck, Fächer, Ge41
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vornehmlich der gespürten Aura oder Ausstrahlung eines Menschen, die im Chinesischen z. B. mit fēng 風, wörtl. Wind, umschrieben wird. (S. II.l.b)
Abb. 1: Dame mit Pflaumenblüten (Mingzeit 1368–1644) 43
sichtsfarbe, Jaderinge, kleine Schritte, verschwommener Blick, charmantes Lächeln; auch fehlt die Naturmetaphorik nicht im Hinweis auf die Pflaumenblüten und das [zarte] Gras; vgl. Huainanzi zhuzi suoyin, Kap. 19 »Xiuwuxun«, 209. 43 Unbekannter Künstler, Ming-Dynastie; aus: Schätze der Himmelssöhne. Ostfildern-Ruit (Hatje Cantz) 2003, 289
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Im Sinne dieser atmosphärischen Schönheit hat noch Li Yu 李魚 (1611–1670), der Verfasser von Theaterstücken und Leiter einer Theatergruppe, die Merkmale »der vollkommenen Frau« wie folgt geschildert: »Worauf beruht [weibliche] Schönheit? [Ich meine], sie beruht einzig und allein auf Anmut 44. Die gewöhnlichen Menschen wissen das nicht und verwechseln Anmut mit äußerer Schönheit 45. Sie wissen nicht, daß äußere Schönheit, so schön sie auch sein mag, doch ein Äußerliches 46 ist. Wie kann äußere Schönheit ausreichen, um Menschen zu bestrikken? Erst wenn die Anmut sich hinzugesellt, liegt [wahre] Schönheit vor. Wenn jemand behauptet, ein schönes Äußeres mache die Schönheit aus und vermöchte Menschen zu bestricken, [so halte ich ihm Folgendes entgegen]: Warum sieht man nirgendwo, daß die aus Seide gefertigten Frauenfiguren, die man heutzutage überall findet, und die auf Gemälden abgebildeten schönen Frauen jemanden bestricken und bei jemandem Liebessehnsucht entfachen, so daß er davon schwermütig und krank würde – obwohl diese doch zehnmal schöner 47 sind als lebendige Wesen?! Dies macht deutlich, daß Anmut auf keinen Fall fehlen darf. Die Anmut eines Menschen 48 ist wie die Flamme eines Feuers, wie der Lichtschein einer Lampe, wie das wunderbare Glänzen von Perlen, Gold und Silber.« 49
měi-tài 美態, wörtl. »schöne Haltung«. Nicht von ungefähr haben unsere Wörter »Anmutung« und »Anmut« denselben etymologischen Ursprung einer zwischenmenschlichen Situation, der noch im modernen Wort »jem. etwas zumuten« anklingt: anemuot, »der an etwas gesetzte Sinn«, »das Verlangen nach etwas«, »die Lust an/auf etwas«. Seit dem 16./17. Jh. verschiebt sich die Bedeutung tendenziell zum reinen Attribut eines Gegenüber im Sinne der amabilitas: »anmutig, gefällig, lieblich«. Kluge 1960, 24. 45 měi-sè 美色, wörtl. »schöne Farbe«. 46 wù 物, wörtl. »Ding«, auch wài-wù 外物 »Außending«. 47 yán-sè 顏色, wörtl. »Farbe«, davon abgeleitet: »Aussehen«, »Frauenschönheit«. 48 rén-shēn 人身, wörtl. »Des Menschen Leib«/»Gesamtpersönlichkeit«. 49 Xianqing ouji 閒情偶寄, Kap. 3 »Shenrong bu«, 106–107; vgl. auch die etwas freiere Übersetzung von Eberhard 1963, 18. Die zuletzt genannten Metaphern erinnern an die tǐ-yòng 體用-Metaphorik von Kerze und Flamme bzw. Messer und Schärfe sowie Wasser und Wellen; s. I.2.c (1). 44
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Ganz klar unterschied Li Yu zwischen äußerer körperlicher Schönheit und jener leiblich gespürten zwischenmenschlichen Faszination lebendiger Menschen – und gab der zweiten den Vorzug. Auch (2) männliche Schönheit wurde vor allem als etwas eindrucksvoll Gespürtes empfunden: Von Xi Kang 稽康 (223–262), einem der Sieben Weisen vom Bambushain, heißt es, er stand »gewaltig wie eine Kiefer« 50; Wang Gong 王恭 (?–398) wiederum, der Schwager des Kaisers Xiaowu 孝武 (373–396), wird uns geschildert als »leuchtend wie eine Weide unter dem Frühlingsmond«. 51 Zwei Schwurbrüder, die am liebsten gemeinsam auftraten, bezeichneten die Zeitgenossen als zwei »miteinander verbundene Jadescheibchen«. 52 Das Atmosphärische, das von einem Mann ausgehen, den ganzen Raum erfüllen und die Anwesenden berühren konnte, kommt auch im folgenden Zitat zum Ausdruck: »Als ich klein war, hatte ich einmal im Palasthof Gelegenheit, den Kanzler Wang Dao 王導 zu Gesicht zu bekommen. Es war mir, als ob eine erfrischende Brise mich gestreichelt hätte.« 53
Offensichtlich hatte es die Natur mit Wang Daos Familie besonders gut gemeint, vermochten doch sein Sohn Wang Tian 王恬 und sein Neffe Wang Xizhi 王羲之 54 die Zeitgenossen gleichermaßen zu beeindrucken. Der Neffe wird uns wie folgt geschildert: »[…] mitunter dahintreibend wie eine wandernde Wolke, mitunter sich aufbäumend wie ein erschrockener Drache.« 55
Die beeindruckende Aura eines Menschen erscheint auch im Bild des ausgleichenden Maßes 56, einer spezifischen Haltung, die in der 50
Die Beschreibung setzt sich wie folgt fort: »Aber wenn er betrunken ist, dann hängt er da wie der Jadeberg, der gerade in sich zusammenfällt.« Shishuo xinyu 世 說新語, 14.5, 335; vgl. Mather 1976, 309. Xi Kang wird auch der Lehre vom Dunkeln zugeordnet; s. II.1.c. 51 Ebd. 14.39, 342; vgl. Mather 1976, 317. 52 Ebd. 14.9 Ebd. 14.9, 336; vgl. Mather 1976, 310. 53 Ebd. 14.25, 340; vgl. Mather 1976, 314. 54 307?–365. Er gilt als der Vater der chinesischen Kalligraphie. Vgl. Debon 1978. 55 Ebd. 14.30, 341; vgl. Mather 1976, 315. 56 gai ist ursprünglich ein Holzmaß zum Einebnen und Abmessen von Getreide. CY 0879.4.
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folgenden Beschreibung des Wang Na 王? 57 mit »Magnetwirkung« übersetzt ist: »[…] wohlgestaltet und schön von Angesicht; von erhabener Gesinnung; [zugleich] geht eine Magnetwirkung (gài 概) von ihm aus. 58 Wenn er sich diese bewahren und zunutze machen sollte, so vermag er, alle möglichen Dinge zu tun.« 59
Die zitierten Metaphern und »eindrucks-vollen« Analogien vermitteln mit einem Schlag die persönliche Gestimmtheit und leibliche Wirkkraft der betreffenden Personen. Daneben achteten die Mitmenschen sehr wohl auch auf Einzelheiten des sicht- und tastbaren Körpers: Augenbrauen galten z. B. beim Mann als schön, wenn sie scharf geschnitten waren »wie die Ecken eines Amethyst« 60; und Augen faszinierten, wenn sie aussahen wie »schwarze Lacktupfen« 61. Sämtliche Beispiele stammen aus der Frühen Kaiserzeit, und zwar aus dem Shishuo xinyu 世說新語, einer Anekdotensammlung, die Liu Yiqing 劉義慶 (403–444) besorgte. Damals galt männliche Schönheit noch viel, erst recht gepaart mit Talent und Originalität. In der Späten Kaiserzeit mußte ein Mann nicht mehr schön sein. Im Gegenteil, man befürchtete, Schönheit könnte Moral und Charakter verderben. Für eine glückliche Ehe sollte es z. B. genügen, wenn sich Schönheit auf weiblicher Seite zur Begabung auf männlicher Seite gesellte – neben einem einwandfreien moralischen Verhalten beiderseits, versteht sich. 62 Insgesamt ist männliche Schönheit in chinesischen Quellen weniger ausschweifend geschildert, und wenn, dann mutet die Me-
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Der Vorname Na, der nicht in meinem chinesischen Zeichensatz aufgeführt ist, setzt sich zusammen aus: »sprechen« 言 und »innen« 內. Wang Na war Vater des Wang Meng 王濛 (309–347), dessen Tochter mit einem Kaiser der Östlichen Jin 晉-Dynastie verheiratet war. 58 Übs. in Anlehnung an Mather 1976, 312. 59 Shishuo xinyu, 14.21, 338 bzw. Mather 1976, 312. 60 Ebd. 14.27, 340; vgl. Mather 1976, 314. 61 Ebd. 14.26, 340; vgl. Mather 1976, 314. 62 Vgl. die Motivübersicht in A. Lévy, Inventaire analytique et critique du conte chinois en langue vulgaire. Paris (Mémoires de l’Institut des Hautes Études Chinoises, vol. VIII.2) o. J.
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taphorik nicht ganz so stereotyp an wie bei der Schilderung von Frauen und jungen Mädchen. Da Schönheit ganz entschieden mit der atmosphärischen Ausstrahlung einer Person zu tun hatte, verwundert es nicht, wenn die chinesischen Maler und Bildhauer kaum an der Darstellung des nackten menschlichen Körpers interessiert waren. Nacktheit war im chinesischen Kontext zudem mit Armut bzw. Wildheit verknüpft. 63 Die Kleidung gehörte zum Menschen, so wie das gestreifte Fell den Tiger ganz wesensmäßig ausmacht. Damit ist Kleidung nach chinesischer Vorstellung ein Teil der persönlichen Würde und Ausstrahlung. In der europäischen Kunst, die vom antiken Griechenland die Freude an der Gestaltung des tast- und sichtbaren Körpers ererbte, geht seit der Renaissance hingegen die Skizze immer vom Körperbau (Substanz) aus, und die Kleidung wird als bloßes Zubehör (Akzidens) aufgetragen. Im Gegensatz zu den Schönheitsschilderungen fällt bei der Beschreibung (3) weiblicher Häßlichkeit auf, daß hier rein körperliche Merkmale herhalten mußten. Die Kriterien weiblicher Häßlichkeit sind wohl zum ersten Mal im Lienüzhuan genannt, einer Sammlung von Biographien vorbildlicher Frauen. Es stammt aus der Hanzeit (206 v. – 220 n. Chr.), d. h. aus den Anfängen des Kaiserreiches, und wurde in den darauffolgenden Jahrhunderten immer wieder aufgelegt und illustriert. Dadurch bestätigten und verstärkten sich die Urteile bzw. Vorurteile und wirkten mit der Zeit abgenutzt und stereotyp. An charakteristischen körperlichen Attributen häßlicher Frauen lassen sich folgende aufzählen: tiefliegende Augen, grobe Gelenke, Himmelfahrtsnase, Adamsapfel, dicker Hals und dünne und gekrümmte Hüften, Hühnerbrust und Haut wie fester Lack und – ob es uns im Westen nun gefällt oder nicht – blaue Augen und gelbe, d. h. wohl blonde Haare! 64 (4) Männliche Häßlichkeit wiederum wurde entweder nur als solche konstatiert 65 und nicht weiter präzisiert; oder aber sie wurde als Gesamteindruck erfaßt und dann als etwas Tierhaftes empfun63 Vgl. Zhou Chen, Liu-min-tu 流民圖 (Gemälde von Bettlern und Straßengängern), in: Eight Dynasties of Chinese Paintings (Ausstellungskatalog), ed. by S. Joodfellow (The Cleveland Museum of Art) 1988; vgl. Brinker 1995. 64 Zur Übersetzung des ersten Lienüzhuan vgl. O’Hara 1971.
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den, z. B. durch ein »Hundegesicht« oder eine »affenartige Gestalt« angedeutet. 66 Aber auch Dämonen mußten herhalten zum Vergleich, was sich noch im heutigen Langzeichen für häßlich (chǒu 醜) zeigt, denn sein rechtes Zeichenelement guǐ 鬼 bedeutet Dämon. 67 Ein ausgesprochen häßlicher Mann konnte auch schlicht als »anders« (yì 異) charakterisiert sein, worin vage die Abweichung von der Norm zum Ausdruck gebracht ist. 68 Die folgende Schilderung eines häßlichen Mannes, die einem spätkaiserzeitlichen Roman entnommen ist, zeigt anschaulich, wie hier rein körperliche Merkmale – Glatzkopf, nackte Beine, großer Mund, Schlitzaugen, Bauchwanst – mit dem Bettelsack als Zubehör zu einer erweiterten Persönlichkeitsbeschreibung aus Körper und leiblich-atmosphärischer Erscheinung zusammengefügt sind: »Ein Glatzkopf, der vom Mutterleib an noch keine Haare gehabt hatte; ein paar nackte Beine, die von Kindesbeinen an niemals Stiefel getragen hatten; der vom Reisessen weit geöffnete große Mund – gut vergleichbar dem Bau eines roten Tores; die beim Lächeln und Lachen dicht geschlossenen Augen – ein Abbild von zwei jungen Mondsicheln; der gegen den Himmel aufragende Bauchwanst, aufgebläht und schwellend – geräumig, daß man ein Boot darin umherstaken konnte […]. Der Schnappsack aus Zeug schleppte am Boden nach, ausgebeult und höckrig.« 69
Schönheit und Häßlichkeit wurden bereits in den Jahrhunderten unmittelbar v. Chr. diskutiert, als die chinesische Philosophie in ihren Grundzügen Gestalt annahm, denn schon damals war die Welt überhaupt nicht in Ordnung: Das Daodejing warnt davor, daß schöne Worte nicht gut und gute Worte nicht schön seien 70. Im allgemeinen als wù 惡 (häßlich) bezeichnet und so graphisch mit è 惡 (schlecht) identisch; Shishuo xinyu, 21.12, 459 u. 335; vgl. Mather 1976, 447. 66 Ebd. 25.57, 438; vgl. Mather 1976, 423. Analog, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, verhält es sich mit den Tierimitationen in Kampfkunst und Tierspielen (wǔ-xì 五戲). Dabei kommt es darauf an, in Positionen und Bewegungen, in Handhaltung und Fußeinsatz die je spezifische Anmutung (Krafteinsatz, Geschmeidigkeit, Leichtigkeit, Fokus, Verspieltheit) von Bär, Vogel, Hirsch und Affe zu verkörpern bzw. diese sich einzuverleiben. 67 Shishuo xinyu 14.7, 335; vgl. Mather 1976, 310. 68 Ebd. 14.31, 341; vgl. Mather 1976, 315. 69 Zhongkuizhuan 鐘馗傳 1980, 21; Übs. in: Zhong Kui 1987, 51–52. 65
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Konfuzius und andere behaupteten, daß die innere Schönheit die eigentliche Schönheit sei. Dabei verwendeten sie den Begriff měi 美, der heute für das Schöne im ästhetischen Sinne steht. 71 Im Lunyu, den Gesprächen des Konfuzius, werden folgende »Fünf Schönheiten« (wǔ-měi 五美) genannt, die eindeutig moralisch-ethischer Natur sind: »Geben, ohne verschwenderisch zu sein; arbeiten, ohne zu murren; wünschen, ohne gierig zu sein; würdevoll sein ohne Arroganz; Achtung gebietend, ohne grausam zu sein.« 72
Auch Xunzi 荀子 (? 298–238 v. Chr.) wollte in erster Linie unter mei die innere, charakterliche Schönheit verstanden wissen. Da diese – davon ging er aus – im Sinne einer Innen-Außen-Entsprechung nach außen wirkte, bezog mei sich also auf ein Inneres und Äußeres, d. h. auf die schöne Gesamterscheinung eines Menschen: »Das Lernen des Edlen geht durch die Ohren hinein, setzt sich fest im Herzen, breitet sich aus in allen vier Gliedern (sì-tǐ 四體) und nimmt Gestalt an im Sein und Tun 73. Das Lernen der kleinen Leute geht durch die Ohren hinein und durch den Mund wieder hinaus. Zwischen Mund und Ohren liegen nur vier Zoll. Wie wäre das ausreichend, um einen Körper (qū 軀) von sieben Fuß zu verschönern (mei)?! Das Lernen des Edlen dient dazu, seine Gesamtpersönlichkeit (shēn 身) zu verschönern.« 74
Wenn nach Differenz gefragt wird, geht es nicht um Frauen und Männer, die im Verlauf der knapp dreitausendjährigen chinesischen Geschichte durch Übereinstimmung von wohlgefälliger äußerer Erscheinung und herausragenden inneren Werten ihre Zeitgenossen betörten. Ebensowenig interessieren diejenigen, denen man die in70
Daodejing, Vers 81, vgl. Legge o. J., 171; Schwarz 1980, 131. Vgl. etwa Lunyu 論語 1.3, 4.1, 12.16; Wilhelm, R. 1985, 37, 58, 126. Noch heute bezieht sich mei häufig auf die Schönheit der Gesamtpersönlichkeit, während piàoliáng 漂亮) (hübsch) für das ansprechende Äußere steht; vgl. Linck 1995a, 140–146; měi-xué 美學) ist heute noch die Lehre vom Schönen: Ästhetik. 72 Lunyu 20.2., Zhuzi jicheng, Bd. 1, 417; vgl. Wilhelm, R. 1985, 192. 73 Wörtl. dòng-jìng 動靜 »Bewegung und Stille«. 74 Xunzi, Kap. 1 »Quanxue«, Zhuzi jicheng, Bd. 2, 7; vgl. Knoblock 1988, vol. 1, 140; vgl. Watson 1967, 20. 71
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nere Verderbtheit schon äußerlich anzusehen glaubte. 75 Vielmehr geht es um den Bruch zwischen Innen und Außen, 76 der die Gemüter von Philosophen, Historiographen und Gelehrten ganz besonders beschäftigte. 77 Dies trifft vor allem auf die Konstellation (5) äußere Schönheit bei innerer Häßlichkeit zu. Wenn sich die männlichen Geschichtsschreiber zur Veranschaulichung dieses Musters vor allem weibliche Gestalten aussuchten, so spricht das sicher mehr für Männerphantasien bzw. -ängste als für eine besondere Disposition chinesischer Frauen in dieser Richtung. In den frühesten Schriften begegnet uns jedenfalls der Topos von den verheerenden Einflüssen weiblicher Schönheit auf Familie, Staat und Gesellschaft, der wie ein roter Faden die Historiographie der Kaiserzeit durchzieht. Hier der locus classicus aus dem Shijing 詩經, dem Buch der Lieder aus dem 8. bis 2. vorchristlichen Jahrhundert, in der etwas altertümlichen, dafür aber umso eindrucksvolleren Übersetzung von Victor von Strauß: »Der kluge Mann erbaut die Mauer Das kluge Weib zerstört die Mauer. Ist jenes kluge Weib auch schön: Sie ist ein Leichhuhn, eine Eule. Das Weib von langer Zunge ist Die Treppe zum Tumultgeheule, Vom Himmel wird der Aufruhr nicht gesandt Vom Weibe kommt er in das Land.« 78
Die schon erwähnte Sammlung von Frauen-Biographien, das Lienüzhuan, konnte hierzu immerhin mit fünf Beispielen unter 125 75
Vgl. Linck 1995a, 147–148. Daß innere Schönheit oder Häßlichkeit erst durch ihre Erscheinungsform hindurch erschlossen werden muß, hat Auerbach auch für die jüdisch-christliche Geisteshaltung im Unterschied zur hellenischen behauptet; diesen Hinweis verdanke ich Hanne Chen. 77 Eine analoge Trennung von Inhalt und Form lief auf Säkularisierung und Ästhetisierung von Kunst und Literatur im 3./4. Jh. hinaus; vgl. Obert 2007. 78 Shijing, Lied Nr. III.3.10; Übs. von Strauß 1880, 459; vgl. Legge 1991, vol. IV, 561. 76
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Geschichten aufwarten. 79 In späterer Zeit finden wir kaum eine im öffentlich-politischen Leben aktive Frau, die nicht von der offiziellen Geschichtsschreibung in diesem Sinne dämonisiert worden wäre. 80 Die Anspielung auf ihr gefälliges Äußeres reichte dann häufig schon aus als Zeichen für deren innere Verderbtheit und als Erklärung für das Unheil, das ihr die Geschichtsschreiber anlasteten. Die sprichwörtliche Lüsternheit oder Grausamkeit jener chinesischen Schönheiten blieb zur Beruhigung der Gemüter allerdings nicht ungestraft, wobei auch die schuldhaft oder schuldlos mit ihnen verstrickten Männer, manchmal der ganze Hof oder die ganze Dynastie, an ihren Machenschaften zugrunde ging. Im Laufe der Jahrhunderte wurde die äußere Schönheit immer geringer geschätzt, so daß zwangsläufig das andere Muster: (6) äußere Häßlichkeit bei innerer Schönheit in den Vordergrund rückte. Dies geschah so umfassend, daß wir dazu Beispiel an Beispiel, Zitat an Zitat reihen könnten. Dabei wurde innere Schönheit sehr wohl unterschiedlich aufgefaßt: Verstanden die offiziellen Geschichtsschreiber darunter moralische Schönheit, so plädierten die Schreiber von Kurzgeschichten und Anekdoten eher für charakterliche Originalität. 81 Letzteres führte auch dazu, daß einige Zeitgenossen bewußt eine unansehnliche äußere Erscheinung gepaart mit kauzigem Verhalten geradezu als ihr ganz persönliches Markenzeichen stilisierten. Nicht zuletzt sollte damit zum Ausdruck kommen, wie wenig den Betreffenden an Moral und Sitte gelegen war: Eremiten, Mönche, Philosophen, alle möglichen komischen Leute und »Aus79
Vgl. O’Hara 1971 das Kap. »Biographies of Pemicious and Depraved Women«, und zwar die Geschichten 1, 9, 11, 13 und 15, 186, 201, 205, 209 und 213. 80 Paradebeispiele sind die Kaiserin Lü 呂, die 187 v. Chr. den Thron usurpiert haben soll, und Wu Zetian 武則天, die ihre eigene Dynastie ausrief und von 684 bis 704 herrschte; vgl. R.-W. L. Guisso, Wu Tse-T’ien and the Politics of Legitimation in Tang China. Washington (Western Washington) 1978; S. Henry, Guo Moruo’s Schauspiel ›Wu Zetian‹ und seine künstlerische Gestaltung einer bedeutenden Frau der chinesischen Geschichte. Freiburg (unveröffentl. Magisterarbeit) 1994; Mao Peiqi (Hg.), Shi da houfei 十大后妃 (Die zehn großen Kaiserinnen), Shanghai (Guoji chubanshe) 1991; zum Motiv der femme fatale vgl. auch Englert 1980 sowie Monschein 1986. 81 Auch dazu verschiedene Anekdoten im Shishuo xinyu, Kap. 4.15, 5.20, 8.15 etc.; vgl. Mather 1976, 605.
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steiger« 82. Diese Selbststilisierung war in der Frühen Kaiserzeit in der Oberschicht beliebt, während sich in den späteren Jahrhunderten die moralischen Kriterien durchsetzten auf Kosten der Originalität. Das Muster von innerer moralischer Schönheit bei äußerer Häßlichkeit hatte sich die chinesische Gesellschaft in der Späten Kaiserzeit längst zu eigen gemacht, so daß Geschichtenerzähler und Stükkeschreiber davon ausgiebig Gebrauch machten: Ebenso beliebt wie unvermeidlich war in der volkstümlichen Literatur der hǎo-hàn 好 漢, der männliche Held, der als ein derber und häßlicher Mensch geschildert wird, zugleich aber durch und durch aufrecht und wohlwollend seinen Mitmenschen gegenüber auftritt. Einen solchen »ganzen Kerl« präsentiert uns z. B. eine Kurzgeschichte aus dem 17. Jahrhundert, in der ein Richter sein Gegenüber mit folgenden Worten charakterisiert: »Du magst ja ein häßliches und böses Gesicht haben, aber du hast einen aufrechten und ehrlichen Charakter.« 83 Auch Frauen wurden zusehends in diesem spezifischen Muster von »äußerer Unansehnlichkeit und innerer Schönheit« wahrgenommen: Hielt das oben genannte Lienüzhuan dazu unter insgesamt 125 Geschichten nur vier bereit, so zeichnete sich bereits in der Frühen Kaiserzeit eine Umwertung ab. Zwar thematisierten die offiziellen Historiographen nicht ausdrücklich die Bedeutung dieses Musters. Doch zeigt sich die Interessenverschiebung z. B. in der zahlenmäßigen Verringerung der erwähnten »wunderschönen« Frauen. Sind diese nämlich in der vorchristlichen Epoche noch mit zehn Beispielen unter 101 vertreten, in der Tangzeit (618–906) mit sechs unter 195, so ist ihre Zahl in den biographischen Kapiteln der Dynastiengeschichte der Songzeit (960–1278) auf zwei unter insgesamt 511 geschrumpft. Dafür steigen die nicht genauer spezifizierten »tugendhaften« Frauen von acht auf siebenundvierzig an, ganz zu schweigen von den pietätvollen, den pflichtbewußten und keuschen Frauen. 84 82
Eine Fundgrube für solche Gestalten ist Bauer 1990. Übs. McMahon, R. K., The gap in the wall: Containment and abandon in seventeenth-century Chinese fiction. Ann Arbor (UMI) 1984, 201. 83
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Für das zunehmende Interesse an dieser Konstellation spricht auch das Selbstverständnis und die Selbststilisierung von Frauen: In den Freudenhäusern von Chang’an 長安, der Hauptstadt der Tangzeit (618–906), spielte äußere Schönheit nicht gerade eine untergeordnete Rolle. Doch waren den Kurtisanen bzw. Prostituierten, die mit Männern der Oberschicht liiert waren, Werte wie Bildung und Schlagfertigkeit, aber auch Aufrichtigkeit, bei ihrem Geschäft ebenso wichtig wie äußere Schönheit. 85 Auch das Qinglouji 青樓記, eine Sammlung von Prostituierten/Kurtisanen-Biographien aus der Zeit der Mongolenherrschaft in China (1278– 1368), legt davon Zeugnis ab. Und nicht nur das: Darin finden sich Gedichte von Männern, in denen sogar liebevoll auf körperliche Abweichungen einer Geliebten angespielt wird, z. B. auf den gekrümmten Rücken, der den Dichter an die Sichel des Mondes erinnert. 86 So ist neben den Vorstellungen über Tod und Unsterblichkeit auch der Umgang mit Schönheit und Häßlichkeit geeignet, die etwas andere chinesische Sichtweise von Außen und Innen, von Körper und Leib zu veranschaulichen: Den Menschen im vormodernen China, die zwar auf die sichtbaren Details menschlicher Erscheinung achteten, war es letztlich doch wichtiger, welche atmosphärische Gestimmtheit ein Gegenüber ausstrahlte. Gleichzeitig differenzierten sie zwischen inneren Werten und äußerem Auftreten; dabei wurde letzteres entweder als körperliches Aussehen oder auch als gespürte Anmutung oder als beides zusammen wahrgenommen: nämlich als Körperleib. Mehr als alles andere beschäftigte die Moralisten der Gegensatz zwischen innerer und äußerer Schönheit bzw. Häßlichkeit, und es bekümmerte sie weiter nicht, daß eine Frau oder ein Mann unansehnlich waren, wenn sie nur ihre inneren Werte pflegten, die als Charakter nach außen wirkten. 87
84 85 86
Vgl. Englert 1980. Auch diesen Hinweis verdanke ich Hanne Chen; vgl. Chen 1996. Linck 1995a, 47–48.
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c) Die Kunst der Physiognomik Die Überzeugung, daß die Natur dem Menschen etwas ins Gesicht bzw. »auf den Leib« geschrieben habe und so vom Außen auf das Innen eines Menschen zu schließen sei, geht in China auf vorchristliche Zeiten zurück: Bereits im Zuozhuan 左傳, dem interessantesten der drei Kommentare zum Chunqiu 春秋 88, findet sich folgende Stelle: »Gong Sun Ao 公孫敖 hatte gehört, daß Shu Fu 叔服 die Physiognomik beherrschte, und er stellte ihm seine beiden Söhne vor. Shu Fu sagte: ›Gu 穀 wird dich ernähren, und Nan 難 wird dich begraben. [Außerdem] ist der untere Teil von Gu’s [Gesicht] breit, also wird er gewiß im Staate Lu 魯 eine Nachkommenschaft haben.‹« 89
Wie bei Schönheit und Häßlichkeit mögen Täuschung und EntTäuschung und das daraus genährte Mißtrauen dafür verantwortlich sein, daß sich die Kunst der Gesichts- und Körperwahrsagerei entwickelte, chin. xiāng-rén 相人 (Menschen prüfen). In jedem Falle geht dem auch hier die Überzeugung voraus, daß eine Übereinstimmung von Innen und Außen durchaus nicht selbstverständlich ist. So traten alsbald Experten 90 auf, die sich berufen fühlten, im Auftrag von Laien mit Hilfe äußerer Merkmale das Innere eines Menschen auszuspähen. Gleichzeitig meldeten sich immer wieder die Skeptiker zu Wort, welche die Physiognomik rundweg ablehnten. Einer der frühsten war der Philosoph Xunzi (? 298–238 v. Chr.): »Die [äußere] Gestalt [eines Menschen] zu prüfen (xiāng-xíng 相形) ist nicht so gut, wie dessen Herz zu erörtern […]. Ergibt das Prüfen der 87
Analoge Einstellungen zu körperlicher Behinderung im vormodernen China und Beijing der 1980er und 90er Jahre finden sich in: Linck 1995a. 88 »Die Frühlings- und Herbstannalen [des Staates Lu 鲁]« im heutigen Shandong, die den Zeitraum 722 bis 481 v. Chr. abdecken; vgl. Legge 1991, vol. V. 89 Zuozhuan, Wengong 1. Jahr, Legge 1991, vol. V, 227. Der Name des erstgenannten Sohnes Gu bedeutet auch »Korn«, der des zweiten Nan bedeutet »schwierig«. 90 Zu den Persönlichkeiten, die das kulturelle Gedächtnis mit der Kunst der Physiognomik verbindet, vgl. Kohn 1986, 233–235.
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Gestalt ein Schlechtes, aber das Herz und die Methoden [des Betreffenden] sind gut, so wird man nicht umhin können, ihn einen Edlen zu nennen; ergibt das Prüfen der Gestalt ein Gutes, aber das Herz und die Maßnahmen [des Betreffenden] sind schlecht, so wird man nicht umhin können, ihn einen geringen Menschen zu nennen.« 91
Systematische Anweisungen zur Physiognomik sind uns erst aus dem 5./6. Jahrhundert n. Chr. in Manuskripten aus Dunhuang 敦 煌 überliefert. 92 Die heute noch gültige Tradition läßt sich geradlinig auf die Mittlere Kaiserzeit zurückverfolgen. Damals entwickelte sich die Physiognomik zu diesem wohldurchdachten Gedankengebäude, das auf Taiwan, in Hongkong oder in verschiedenen Chinatowns der Welt ungebrochen bis heute praktische Anwendung findet. Spätere Autoren, denen die Handbücher des 16. und 17. Jahrhunderts zu verdanken sind, hatten mehr enzyklopädisches Interesse, so daß darin kaum neue Ideen enthalten sind. 93 Vergleichen wir die physiognomischen Anweisungen der drei Epochen der Frühen, Mittleren und Späten Kaiserzeit, so stimmt vieles miteinander überein. Allen gemeinsam ist die Überzeugung, daß Eingeweihte in der Lage sind, nicht nur Gesundheit und Temperament, sondern auch Schicksal, Persönlichkeit und Moral an äußerlich wahrnehmbaren Zügen abzulesen. Als strukturierendes Element liegt der Kunst der Physiognomik die Theorie der Fünf Wandlungsphasen (wǔ-xíng 五行) zugrunde, die uns noch mehrfach beschäftigen wird. Doch kam es auch zu einigen relevanten Verschiebungen. Der Unterschied zwischen den Handbüchern der Frühen und Späten Kaiserzeit tritt vor allem in der Liste der Körperteile zutage, die als bedeutsam galten. In der späteren Epoche sind nämlich die Intimbereiche, einschließlich der Fußsohlen, ausgeklammert. Dies hatte folgende Gründe: einmal die zunehmende Tabuisierung des sexuellen Lebens, zum anderen das Füßebinden: Seit der Mittleren Kaiserzeit entwickelten sich die sogenannten Goldlotusfüße (jīn-lián 金蓮) von einer Mode zu einem »Muß« in fast allen Schichten der Gesellschaft, und seither gehörten 91 92 93
Xunzi, Kap. 5 »Feixiang«, Zhuzi jicheng, 46; vgl. Knoblock 1988, vol. 1, 203. Zu den in den Quellen vereinzelt genannten Vorläufern, vgl. Kohn 1986, 233 ff. Ebd.
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sie zum Intimsten und Erotischsten, was eine Frau aufzuweisen hatte. 94 Die Mittlere Kaiserzeit brachte eine weitere Neuerung: Sie hat mit der zunehmenden Werteverschiebung von Außen nach Innen zu tun, die auch für die Umorientierung der Schönheitskriterien verantwortlich war. So paßt es zur Geringschätzung äußerer Schönheit, wenn Chen Tuan 陳摶 95 im 10. Jahrhundert alle diejenigen zu trösten wußte, die von der Natur rein äußerlich eher benachteiligt waren – behauptete er doch, daß die rechte Pflege des Inneren unglückverheißende äußere Merkmale sehr wohl zu neutralisieren vermöchte. Es liegt auf der Hand, daß Chen Tuan damit die Gesichts- und Körperwahrsage im Grunde ad absurdum führte. 96 Einige der wichtigsten Besonderheiten der chinesischen Physiognomik kann folgende Anekdote veranschaulichen, denn alle wesentlichen Elemente sind hier versammelt. Die Geschichte ist ins 9. Jahrhundert verlegt und rankt sich um die Gestalt der Kaiserin Wu Zetian 武則天, an der die offizielle vormoderne Geschichtsschreibung kein gutes Haar gelassen hat: Zwar war sie nicht die erste Frau in der Geschichte Chinas, die politisch aktiv wurde; doch war sie die einzige Frau, die persönlich den Drachenthron bestieg und ihn zwanzig Jahre lang (684–701) unter dem Namen einer eigenen Dynastie Zhou 周 besetzt hielt. 97 Im Folgenden eine Zusammenfassung dieses biographischen Details aus dem jungen Leben der Kaiserin Wu: Als Wu Zetian noch ein Säugling war, ließ die Mutter ihre Kinder dem in der Kunst der Physiognomik bewanderten Yuan Tiangang 袁天綱 vorführen. Jener, der die kleine Wu zunächst für einen 94
Levy 1990 sowie Podach 1951 und van Gulik 1971, 275–277. Die Sitte der Fußdeformation begann als Mode in der Tangzeit (618–906), setzte sich seit dem 13. Jahrhundert in der Oberschicht durch und erfaßte in der Späten Kaiserzeit auch die unteren Schichten der chinesischen Bevölkerung. S. auch II.3.c. 95 Ein berühmter daoistischer Heiliger des 10. Jahrhunderts, der auch als der Begründer der neuzeitlichen Physiognomik gilt; seine Biographie findet sich im Kapitel 266 des Songshi 宋史, vgl. Knaul 1981. 96 L. Kohn, Mirror of Auras: Chen Tuan on Physiognomy, unveröffentlichtes Manuskript. 97 Zur Gestalt der Wu Zetian s. w. o. I.1.b.
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Knaben hielt, weil sie in Knabentracht gekleidet war, soll sich bei ihrem Anblick wie folgt geäußert haben: »Dieser junge Herr hat eine Gesichtsfarbe, die geistige Fähigkeiten verspricht. Er strahlt Lebendigkeit und hohe Intelligenz aus. Aber ich kann die Einzelheiten nicht unterscheiden, so laßt mich bitte das Kind von nahe betrachten!« Er trat auf das Bett zu, damit er dem Kind in die Augen blicken könnte. Erstaunt soll er ausgerufen haben: »Oh, der junge Herr hat Drachenaugen und einen Phönixhals, Anzeichen von höchstem Adel!« Nun machte er sich daran, das Kind von der Seite zu untersuchen; als ihm dabei der Gedanke kam, es könnte sich womöglich um ein Mädchen handeln, zeigte seine Verwunderung keine Grenzen mehr: »Sollte dies’ Kind ein Mädchen sein, dann wird ihr Leben jenseits all dessen verlaufen, was man sich ausmalen kann. Sehr wohl könnte sie Herrscherin über das ganze Reich werden […].« 98
Betrachten wir etwas eingehender die für die Physiognomik signifikanten äußeren Aspekte, so ist die Liste nicht nur erstaunlich komplett, sondern wird auch dem tast- und sichtbaren Körper mehr als gerecht. Hier finden sich: Fünf Sinnesorgane, Gesicht bzw. Sechs Gesichtsbereiche und dazugehörige Knochen, Haare, Stirn, Augenbrauen und Augen, Nase und Ohren, Lippen, Mund, Zähne, Stimme, Zunge, Wange, Hinterkopf-und-Kopfscheitel, die zu einer Kopfpartie zusammen gefaßt sind, Stirnlinien bzw. Stirnfalten, Handinnenlinien, Gesichtsfarbe und Beschaffenheit der Gesichtshaut, Rücken-und-Brust, Rippen-und-Magenbereich, Beine-undFesseln, Gang, Arme-und-Hände, Körperbehaarung – um nur die wichtigsten Teile des tast- und sichtbaren Körpers zu nennen. 99 Darüber hinaus liegt der Physiognomik die Typeneinteilung nach den Fünf Wandlungsphasen zugrunde: So korrespondiert der Metalltyp mit einer quadratischen Erscheinung, der Holztyp mit einer hageren Gestalt, Wasser mit Leibesfülle, Feuer mit scharfen Zügen und Erde mit Festigkeit. Diesen äußeren Merkmalen entsprechen jeweils Charaktermerkmale bzw. Lebensumstände: Entschlossenheit, Reichtum, literarisches Talent, Mut und Vorsicht. Über dünne 98 Jiutangshu 舊唐書, Beijing (Zhonghua shuju) 1975, Bd. 16, Biographie 141, 5093–5094; sowie Xintangshu 新唐書, Beijing (Zhonghua shuju) 1995, Bd. 18, Biographie 129, 5801. 99 Kohn 1986.
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Menschen, also Holztypen, ist weiter zu erfahren, daß sie hektisch und anfällig für Krankheiten sind, nörgelnd und verräterisch, unfreundlich gegenüber ihren Älteren, frivol und unzuverlässig. Außerdem, so heißt es, neigten sie zu Überheblichkeit und Kurzlebigkeit. 100 Neben der Einteilung von Menschentypen nach den Fünf Wandlungsphasen kommen auch Tieranmutungen und damit das Leiblich-Atmosphärische zum Tragen, z. B. in den Drachenaugen und dem Phönixhals der Wu Zetian. Aussagekräftig für bestimmte Charaktereigenschaften und Schicksalskonstellationen sind insbesondere Analogien zu Tiger, Wolf und Kranich. Solche Vergleiche suggerieren nicht so sehr feste Formen als vielmehr atmosphärische Anmutungen aufgrund verwandter Gestaltverläufe und Bewegungssuggestionen, so daß ein ganzheitlicher Eindruck entsteht. Neben der Tierentsprechung zielt die Beachtung der Aura auf die leiblich gespürte Gestimmtheit, den Gesamteindruck einer Person. Auch die Fachbegriffe für Aura, nämlich fēng 風 (Wind) und qi, unterstreichen das atmosphärisch Spürbare. (S. II.l.a) Die Versuche, mit Hilfe der äußeren Erscheinung auf das Innere eines Menschen zu schließen, wo Charakter, Temperament, Moral, Lebens- und Geisteskraft sowie das jeweilige Schicksal angesiedelt sind, scheinen demnach universal zu sein. Auch wir nehmen heute noch gelegentlich den Fingerzeig auf das fliehende Kinn wahr, das mangelnde Durchsetzungskraft bedeuten soll, auf schmale Lippen, welche manche unserer Mitmenschen als Ausdruck von Ehrgeiz oder auch Verklemmtheit werten; abstehende Ohren, die als Zeichen für Ungeschicklichkeit und Schüchternheit gelten, während die großen Ohren vermeintlich Klugheit verkünden; Grübchen im Kinn wiederum sollen uns vor Genußsucht des Betreffenden warnen. Als aufgeklärte Menschen verweisen wir solche Zuordnungen in die Welt der Vorurteile oder setzen sie eher ironisch-spielerisch ein. Doch noch im 18. Jahrhundert stellte Caspar Lavater (1747–1801), ein Freund Goethes, in seinen Physiognomischen Fragmenten zur Be100
Ebd. 15–18.
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Die signifikanten Körper- und Leibbegriffe
förderung der Menschenkentnnis und Menschenliebe Bezüge zwischen Außen und Innen her, die an die chinesische Kunst der Physiognomik erinnern, auch wenn sie uns heute stark befremden: »Je mehr Kinn, desto mehr Mensch! […]. Allemal ist ein breiter Rükken der Nase, verlaßt Euch drauf, zuverlässiges Zeichen von mehr als gemein bürgerlichem Charakter […]. Leute mit zarten, feinen, scharf gezeichneten, eckigen, unten spitzen, etwas gegen die Lippen niederhängenden Nasen sind witzreich […]. Unsterblich sind die Werke aller Künstler, deren Nasenrücken von der Wurzel an bis zum Kopfe parallel und von merklicher Breite ist […]. Eine schöne Nase […] ist mehr wert als ein Königreich!« 101
Solch »spitznasiges« Räsonieren – damals schon nicht unwidersprochen 102 – macht uns heute lachen. Und doch ist das Bild, das wir uns von einem Menschen bei der ersten Begegnung machen, voll der Eindrücke, die – gepaart mit einer gewissen Lebenserfahrung – letztlich der Kunst des Gesichterlesens zugrunde liegen. So ist auch die Physiognomik geeignet zu veranschaulichen, daß im vormodernen chinesischen Denken zwischen Innerem und Äußerem nicht nur Differenz, sondern flagranter Widerspruch, ein Riß, empfunden wurde. Zugleich zeigte sich, daß die Experten Körperliches registrierten und interpretierten, es aber gegenüber dem LeiblichAtmosphärischen nicht unbedingt höher schätzten, geschweige denn verabsolutierten.
2. Die signifikanten Körper- und Leibbegriffe Nicht alle chinesischen Zeichen und Wörter, die mit der menschlichen Erscheinung zu tun haben, können hier zur Sprache kommen, schon gar nicht in der Vielseitigkeit und Widersprüchlichkeit ihrer Begriffsgeschichte. 103 Signifikant meint hier regelmäßig wie101 102
Zit. n. Michel 1990, 44. Herder z. B.; vgl. Michel 1990, 43.
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Außen und Innen, Körper und Leib
derkehrende Termini, welche die Unterscheidung von Außen und Innen, von Körper und Leib veranschaulichen. Wir werden sehen, ob diese Wörter und Zeichen in erster Linie Differenz beschreiben und damit immer noch den Menschen als Ganzes begreifen; oder ob der eine oder andere Begriff über die bloße Differenz hinaus einen Gegensatz enthält, der sich mit dem europäisch-christlichen Körper-Geist/Seele-Dualismus sehr wohl vergleichen läßt. Der erste Abschnitt dieses zweiten Kapitels gibt bereits eine vorläufige Antwort, indem er eines der grundlegenden Konzepte chinesischen Denkens betrachtet, und zwar in seiner Bedeutung für Werden und Sein des Menschen: 104 Der Anteil des a) qi bei der Menschwerdung verhinderte nämlich, daß sich die chinesische Anthropologie einseitig auf den festen Körper konzentrierte, an dem der offiziellen europäischen Philosophie seit Demokrit und Platon so viel gelegen war. Die überall präsente Denkfigur qi stand vor allem für das Atmosphärisch-Fließende und Durchdringende in der Welt. (S. II.l.b) Doch auch die festen, tast- und sichtbaren, Körper waren aus qi geschaffen, so daß qi Körper und Leib gleichermaßen zugrunde lag. Das bedeutet, daß sämtliche Körper- und Leibbegriffe auf jeweils verschiedene Aspekte ein- und desselben Phänomens qi bezogen sind, mochten sie nun der b) yin- bzw. Außenseite oder der c) yang- bzw. Innenseite des Menschen zugeordnet sein. Wir kommen bei dieser Wort- und Zeichenanalyse nicht umhin, ein weiteres Begriffspaar als Exkurs am Schluß dieses zweiten Kapitels näher in Augenschein zu nehmen, da hier viel Verwirrung herrscht und gängige Übersetzungen und Erläuterungen bestimmte Aspekte nicht in den Blick bekommen: hún 魂 und pò 魄.
103
Vgl. Linck, Vortrag in Halle »Deutsche Qigong-Tage« im September 2010 mit dem Titel »Phänomenologie des Qigong. Propriozeption, Aufmerksamkeitstraining und Selbstkultivierung«. 104 Die anderen Aspekte des qi kommen im Zweiten und Dritten Teil zur Sprache; so behandelt II.1.b seine atmosphärische Beschaffenheit, während III.1 vor allem das kosmische qi und das qi der Natur aufgreift.
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Die signifikanten Körper- und Leibbegriffe
a) Die Menschwerdung des qì 氣 105 Im Vers 42 des Daodejing erfahren wir, wie qi durch einen abgestuften Prozeß der Individuation aus dem chaotisch-mannigfaltigen Urzustand des dao über die yin-yang-Zweiheit in die Welt kommt und, frei zwischen Himmel und Erde fließend, nunmehr seinerseits die Zehntausend Wesen und Dinge (wàn-wù 萬物) hervorbringt: »Das dao bringt das Eine hervor, das Eine bringt das Zweifache hervor, das Zweifache bringt das Dreifache hervor, das Dreifache bringt die Zehntausend Wesen und Dinge (wan-wu) hervor, die Zehntausend Wesen und Dinge: getragen vom yin, umhüllt vom yang; Das hervortreibende qi bringt beide in Harmonie […].« 106
Augenfällig im Sinnbild des yin und yang 107 bzw. yinqi und yangqi wird Polarität im frühen chinesischen Denken im allgemeinen vorausgesetzt: yang bringt yin hervor und umgekehrt; yang ist die initiierende Kraft, und yin folgt nach; beide sind aufeinander angewiesen und stets aufeinander bezogen. Diese polare bzw. bipolare Sichtweise mag dafür verantwortlich sein, daß die chinesischen Philosophen über lange Strecken ihrer Geschichte hinweg die horizontale InnenAußen-Gliederung des Menschen bevorzugten. Zwar ist von Beginn der schriftlichen Überlieferung an eine vertikale Sicht der Din105
Nach wie vor wird in westlichen Sprachen qi ganz unterschiedlich übersetzt: Atem, Hauch, Fluidum, Lebensodem und Pneuma oder Luft, Einflüsse und Ausstrahlungen bis hin zu Weltstoff, Materie, Kraft, Energie bzw. energetische Konstellation; vgl. Porkert 1961 und Sivin 1987; den umfassendsten und zugleich kritischen Überblick über die verschiedenen Übersetzungsvorschläge in der westlichen Literatur gibt Rappe 1995, 424–443; eine durchgängige Geschichte der Lehre vom qi und anderer Lebenskraftkonzepte versucht Kubny 1995; verwirrend ist nur seine Verwendung dualistischer Begriffe. 106 Vgl. Schwarz 1980, 92, Legge o. J., 133, Gerstner o. J., 226–230, Wagner 2003a, 265–267; Simon 2009, 134. Letzterer erinnert in diesem Zusammenhang an die Frage von Eduard Erkes, »ob nicht das vom Tao hervorgebrachte Eine, das seinerseits die Zwei hervorbringt, ursprünglich das von der tiergestaltigen Urgöttin gelegte Weltei war, aus dem durch Teilung Himmel und Erde hervorgingen«. Auch zitiert er Ellen M. Chen, wonach das Eine »der Strudel, die wirbelnde schöpferische Energie am Anfang der Welt« sei. 107 Das uns von Halsketten, Ohrringen und Aufklebern vertraute Diagramm selbst stammt erst aus der Songzeit (960–1279) mit ihrer Vorliebe für die »Verplanung des
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ge unverkennbar, d. h. Über- und Unterordnung, z. B. von Mann und Frau, die auch zur Legitimation für hierarchische Verhältnisse diente, vor allem im gesellschaftspolitischen Bereich, während in den medizinischen Texten die Polarität vorherrschte. Die Begriffsgeschichte des qi im Sinne dieser allumfassenden Wirkkraft setzte relativ spät ein. Weder auf den Orakelknochen 108 noch in den ältesten Texten, dem Shijing 詩經 (Klassiker der Lieder) und dem Shujing 書經 (Klassiker der Urkunden), entdecken wir das Zeichen in der uns vertrauten Form bzw. mit der für uns relevanten Bedeutung. 109 Erstmalig ist es im Zuozhuan 左傳 erwähnt. 110 In einer dieser Passagen erfüllt qi eine verbale Funktion im Sinne der Nahrungsaufnahme bzw. Nahrungsgabe, denn es bedeutet: »den Gästen ein Essen darbieten« 111. Auf eben diese Textpassage bezieht sich einige hundert Jahre später der Verfasser des ersten chinesischen Zeichenlexikons 112, um seine etymologische Erklärung zu untermauern: Das Zeichen, so erfahren wir, setzt sich zusammen aus Reis und Wolkendunst und bedeutet Dampf bzw. Wasserdampf über kochendem Reis. 113 Diese Definition unterstreicht offensichtlich den nährenden Aspekt des qi. Auch im Lunyu, den Gesprächen des Konfuzius, erscheint qi im Zusammenhang mit Nahrung: in der Wortzusammensetzung shí-qì 食氣 (das qi der Nahrung). Erläutert wird an dieser Stelle das Eßverhalten des Feinschmeckers Konfuzius, der sich den Geschmack Denkens« in Form von Diagrammen; vgl. die Abbildungen in Kubny 1995, 304 u. 309 sowie Lackner, »Zur Verplanung des Denkens am Beispiel der t’u«, in: Schmidt-Glintzer 1990, 133–156. 108 Benannt nach den Schulterblättern größerer Haustiere und Schildkrötenpanzern, in die Zeichen zum Zwecke der Weissagung eingeritzt werden. Die durch Hitzeeinwirkung entstandenen Risse und Muster hat dann der König selber oder einer seiner Priester zu interpretieren. 109 Onazawa u. a. 1988, 13–15; zur Begriffsgeschichte vgl. Porkert 1961, der am Begriff qi die im Kosmos frei fließende unkonstellierte, disponible Energie und die im Menschen konstellierte Energie unterscheidet; s. auch II.1.b. 110 Kommentar zum Chunqiu, den »Frühlings- und Herbstannalen des Staates Lu«. 111 In den einschlägigen modernen Reproduktionen schreibt sich qi an dieser Stelle mit dem Radikal »Nahrung«, Zuozhuan, Huangong 10. Jahr; vgl. Legge 1991 vol. V, 54. 112 Shuowen jiezi aus dem 2. nachchristlichen Jahrhundert.
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Die signifikanten Körper- und Leibbegriffe
von Reis oder Hirse nicht verderben lassen wollte durch einen vorherrschenden Fleisch-Geschmack. 114 Neben Geschmack bedeutet das qi der Nahrung auch heute noch die Frische der Lebensmittel, d. h. deren ureigene Lebenskraft und davon abgeleitet seinen Nahrungswert für den Menschen. Nun hatte der qi-Begriff in den Jahrhunderten v. Chr. bereits eine weitere Bedeutung, 115 wobei es uns gleichgültig sein kann, welche denn nun die ursprünglichere war. Sie sind ohnehin eng miteinander verknüpft: die nährende Kraft des qi und die menschliche Lebenskraft selbst. Die im Buch Zhuangzi geschilderte Entstehung des Menschen liest sich wie die Fortsetzung des oben zitierten Vers 42 aus dem Daodejing, wenn der betreffende Autor unter den Zehntausend Wesen und Dingen der Welt den Menschen selbst nunmehr ins Blickfeld rückt: »Das Leben des Menschen ist Sammeln (jù 聚) von qi; sammelt es sich, gilt das als Leben; zerstreut es sich (sàn 散), gilt das als Tod.« 116
Das im Menschen gesammelte qi ist demnach zunächst einmal nichts anderes als seine Lebenskraft, die ihm für die Dauer seines Daseins in der Welt zur Verfügung steht. 117 Fragen wir nach der leiblichen Grundlage dieser Denkfigur, so ist Sammeln und Zerstreuen von qi letztlich Ein- und Ausatmen: Sammeln und Zerstreuen von Luft mit jedem Atemzug – der Luft zum Leben. Tatsächlich lassen sich neben der nährenden Kraft auch diese beiden Bedeutungen: Lebenskraft und Atemluft in den Gesprächen des Konfuzius, aber auch bei den nachfolgenden Philosophen Mengzi 孟子 (372– 289 v. Chr.) und Xunzi (ca. 298–238 v. Chr.) nachweisen. In der Bedeutung Lebenskraft erscheint qi in allen drei Schriften 118 als Ein-
113
Ebd. 333a. Lunyu 10.8, Zhuzi jicheng Bd. 1, 222; vgl. Wilhelm, R. 1985, 108. 115 Zur Bedeutung des qi als Atmosphäre im weitesten Sinne des Wortes s. II.1. 116 Zhuangzi, Kap. 22.1 »Zhibeiyou«; vgl. Legge o. J., 499; Watson 1968, 235. 117 Daß beim Tod mit dem Atemhauch Lebenskraft bzw. Seele entflieht, ist auch im Abendland eine weit verbreitete Vorstellung vom Judentum über Plinius bis hin zu den Kernsprüchen eines Freidank (1229): »Die Seele fährt von mir wie ein Blass (Luftblase G. L.) und läßt mich liegen wie ein Aas.« Bargheer 1931, 20–21. 114
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zelzeichen sowie in der Wortverbindung xuè-qì 血氣 (Blut-undqi) 119: »Der Edle hüte sich vor dreierlei. In der Jugend, wenn Blut und qi (xueqi) noch nicht gefestigt sind, hüte er sich vor Sinnlichkeit (sè 色). Hat er das Alter erreicht, wo Blut und qi in voller Stärke sind, hüte er sich vor Streitsucht. Im Alter, wenn Blut und qi geschwächt sind, hüte er sich vor Geiz.« 120
Wilhelm übersetzt xue-qi mit »Lebenskraft«. Hier wird die wörtliche Übersetzung »Blut und qi« vorgezogen, denn sie führt uns näher an die anfänglichen Vorstellungen heran: »Blut und qi«, d. h. ein Sichtbares und ein als Lebenskraft Spürbares, kreisen im Inneren des Menschen und nähren Körper und Leib. In den beiden anderen Passagen im Lunyu, in denen qi erscheint, steht das Wort schlicht für Atemluft – z. B. wenn die Schüler des Konfuzius schildern, wie ehrfurchtsvoll sich ihr Meister während der Audienz am Fürstenhof verhielt: »Er verbeugte sich (qū-gōng 屈躬) 121, wie es sich gehörte, und hielt die Luft an (bǐng-qì 屏氣), als [wagte er nicht] zu atmen.« 122
Oder wenn sie Zengzi 曾子 zitieren, einen anderen zeitgenössischen Meister, der im Lunyu mehrfach zu Worte kommt. An der betreffenden Stelle erläutert dieser das rechte Verhalten eines Fürsten: Haltung und Gebärden seien weder grob noch nachlässig, der Gesichtsausdruck vertrauenerweckend, und beim Reden (chū-cí-qì 出 118
Im Mengzi ist im Buch II »Gongsunchou« 1.2 mehrfach von qi die Rede; vgl. Legge 1991, vol. I-II, 188–190; im Buch Xunzi, Kap. 1 »Quanxue«, heißt es: »Durch geregeltes qi sein Leben nähren«, Xunzi jijie, 21; vgl. Knoblock 1988, vol. I, 152. 119 Eine Zusammensetzung, die sich übrigens als sehr langlebig erwies, ist xue-qi doch heute noch ein terminus technicus in der Traditionellen Chinesischen Medizin bzw. im modernen Qigong; vgl. Kubny 1995, 401. 120 Lunyu, 16.7, Zhuzi jicheng Bd. 1, 359; vgl. Wilhelm, R. 1985, 167. 121 Wörtl. »Er krümmte den Körper«. 122 Lunyu, 10.4, Zhuzi jicheng Bd. 1, 203; vgl. Wilhelm, R. 1985, 106. In der modernen chinesischen Hochsprache steht dafür bǐng-xī 屏息 (Atemanhalten), was im buddhistischen Kontext auch bedeutet, »sich von äußeren Ablenkungen des Bewußtseins zurückziehen«.
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Die signifikanten Körper- und Leibbegriffe
詞氣) hüte er sich vor Rohheit und Falschheit. 123 Die Wendung chu-ci-qi, hier mit »Reden« übersetzt, bedeutet: »Wörter und qi ausstoßen« bzw. »qi der Wörter ausstoßen«; sie veranschaulicht gleich auf doppelte Weise die Atemkraft, die beim Reden aufgewendet wird: in der wörtlichen Bedeutung, aber auch in den aspirierten Anlauten aller drei Wörter. In dieser mehrdeutigen begrifflichen Festlegung erscheint qi nun allenthalben in den Texten aus den Jahrhunderten vor und nach Chr.: Manifestation kosmischer Schöpferkraft, Luft zum Atmen, Geschmack oder Wert der Nahrung und die Lebenskraft, die der Mensch nicht zuletzt aus allem schöpft. 124 Nun fällt auf, daß die Philosophen in der Tradition des Konfuzius das qi nicht ganz so hoch schätzten wie die frühen Daoisten. 125 Der Unterschied war zunächst kaum erkennbar: Den Verfassern des Daodejing und Zhuangzi war das qi im Menschen die Brücke, die für Verbundenheit sorgte mit allen anderen Wesen und Dingen der Welt und mit dem Urgrund allen Seins, dem dao. 126: Jede absichtsvolle Einflußnahme auf das qi widersprach dem Prinzip des wú-wéi 無為 127. Mengzi (372–289 v. Chr.) und Xunzi (298–238 v. Chr.) hingegen achteten offenbar sehr wohl auf ihre Lebenskraft, doch legten sie gleichzeitig Wert darauf, das qi der Willenskraft (zhì 志) bzw. dem einsichtigen Herzen unterzuordnen: »Der Wille ist der Lehrer des qi; qi erfüllt den Körperleib (tǐ 體) 128; der Wille gelangt dahin; [dann erst] folgt qi nach. Deshalb sage ich: Halte an deinem Willen fest und schädige nicht dein qi.« 129
Dabei bleibt offen, ob ihnen mehr an der Schonung der Lebenskraft selbst gelegen war: »Ist das Blut-qi hart und stark, dann mache es
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Ebd. 8.4, Zhuzi jicheng Bd. 1, 157; vgl. Wilhelm, R. 1985, 92. Onozawa u. a. 1988 sowie Yang 1993. 125 Mit Ausnahme des gewöhnlich als Neokonfuzianer klassifizierten Zhang Zai 張 載 (1022–1077); s. III.l.a. 126 Herriegel 1958, 21 spricht von einer »fundamentalen Kommunikation« mit den Dingen. 127 Wörtl.: Nicht-Handeln; gemeint ist das Nicht-Absichtsvoll-Eingreifen in den Lauf der Dinge. 124
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Außen und Innen, Körper und Leib
weich durch Ausgeglichenheit und Harmonie!« 130 oder ob es ihnen um das friedliche Zusammenleben ging: »Setzt man sein Blut-qi, seine Willensbestrebungen (zhì-yì 志意), sein Wissen (zhī 知) und sein Nachdenken (lǜ 慮) auf der Grundlage der Riten ein, so dringt die gute Ordnung überall hin.« 131
Wahrscheinlich ging es um beides, zumal das eine das andere nicht ausschließt. In jedem Fall wollten Mengzi und Xunzi Willenskraft (zhì 志) und Herz (xīn 心) 132 bemühen, die im Gegensatz zur ungebändigten Lebenskraft für Selbstkontrolle sorgten: Ihr Anliegen, die Harmonie zwischen den Menschen in einer Zeit des »Jeder-gegen-Jeden« zu gewährleisten, ist ohne weiteres nachvollziehbar – und doch ist es bereits ein Eingriff in das unvermittelte leibliche Spüren, das dem Daoisten in seiner Spontaneität und Absichtslosigkeit als lebenserhaltend galt. In dieser Hinsicht standen die frühkaiserzeitlichen Adepten der Lebenspflege (yǎng-shēng 養生) womöglich den frühen Konfuzianern näher als den frühen philosophischen Daoisten, setzten deren Techniken der Leibbemeisterung doch Willenskraft voraus, eine willentliche Manipulation des qi. Hand in Hand mit der Kunst der Lebenspflege entwickelten sich in der Frühen Kaiserzeit komplexere medizinische Vorstellungen auch von der Entstehung menschlichen Lebens. Dem waren Schwangerschaftsbeschreibungen magisch-sympathetischer Art vorausgegangen, die noch Spuren eines alten Analogiezaubers enthalten. 133 Die Texte der auf dem Entsprechungs- bzw. Resonanzdenken gǎn-yìng 感應 134 beruhenden Medizin wirken dagegen geradezu nüchtern: Sie schildern, wie das qi in seinen verschiedenen Manifestationen am Werden und Vergehen des menschlichen Körpers und Leibes 128
Zu dieser Übersetzung s. in: I.2.b die Begriffsklärung von ti. Mengzi, Buch II »Gongsunchou« 1.2; vgl. Legge 1991, Bd. I-II, 189–190; Wilhelm, W. 1982, 69 u. Röllicke 1992, 117. 130 Xunzi jijie, Kap. 2 »Xiushen«, 25; vgl. Knoblock 1988, vol. 1, 153. 131 Ebd. 22; vgl. Knoblock 1988, vol. 1, 152. 132 Vgl. Xunzi jijie, Kap. 1 »Xiushen«, 25; vgl. Knoblock 1988, vol. 1, 153. 129
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Die signifikanten Körper- und Leibbegriffe
beteiligt ist. Folgende Zusammenhänge können in der Frühen und Mittleren Kaiserzeit als Allgemeinwissen der Elite gelten: Während der Vereinigung von yin und yang, d. h. von Frau und Mann, wird qi aufgenommen. Durch Verdichtung bzw. Sammeln des qi bereitet sich im mütterlichen Schoß ein individuelles Leben vor. Wachsen bedeutet Anfüllen und Nähren mit differenziertem qi. Das gilt vor wie nach der Geburt: Während der Schwangerschaft bewirkt qi nacheinander die Herausbildung der menschlichen Gestalt, der Knochen und Sehnen, der Haut und Haare, der Fünf Sinnesöffnungen 135 und nicht zuletzt der Speicher und Paläste 136, deren körperliches Substrat dem entspricht, was wir als die inneren Organe bezeichnen. Relativ spät in der Schwangerschaft steigt, so erfahren wir, shén 神 oder, anders gesagt: ein spezifischer feiner yang-Aspekt des qi, vom Himmel herab und geht in das werdende Leben ein; shen ist Inbegriff der leiblichen Disposition einer Person, ihrer Vitalität und Individualität. Im zehnten Monat ist qi dann ausreichend vorhanden, so daß der kleine Mensch sich anschickt, den Mutterleib zu verlassen. Wachstum bis zur Geschlechtsreife ist weiteres Anfüllen von qi; Altern bedeutet Verminderung, und Tod ist Zerstreuung von qi. 137 Lassen wir die verschiedenen Manifestationen des qi in seiner Dynamik und wenden uns nun dem qi in der Struktur von Körper und 133 Vgl. das in Mawangdui entdeckte Taichanshu 胎產書 (Geburtsbuch), das uns auf Seidenstoffen bzw. Bambustäfelchen überliefert ist; dazu Messner 1990, Harper 1998. 134 Statt von Entsprechungsdenken und Entsprechungsmedizin ist im vorliegenden Buch von Resonanzdenken und Resonanzmedizin die Rede, da die Metaphorik dieses Denkgebäudes ursprünglich der altchinesischen Musiklehre entnommen ist. Das chinesische Wortzeichen für Resonanz setzt sich aus gǎn 感 (bewegen, berühren) und yìng 應 (antworten, Widerhall, kl. Trommel) zusammen. Karlgren 671.l, 298 sowie CY 0633.1. 135 wǔ-guān 五官, wörtlich: Fünf Beamte; vgl. das dem bürokratischen Staat nachempfundene Leibschema in: III.3; nicht zu verwechseln mit dem Begriff der Neun Körperöffnungen (jiǔ-qiào 九竅), die nur teilweise mit den Sinnesöffnungen identisch sind; vgl. auch Zhuangzi, Kap. 2.2. »Qiwulun«; vgl. Legge o. J., 228. Zur chinesischen Anthropologie der Sinne vgl. Linck 2007. 136 S. Tabelle in: III.2.a.
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Außen und Innen, Körper und Leib
Leib zu: Das folgende Diagramm zeigt Manifestationen des im Menschen individuierten qi: Es findet sich sowohl im yin wie im yang, im Aspekt Erde wie im Aspekt Himmel, in seinen Außenwie in seinen Innenaspekten: 138 yīn 陰
陽 yáng
Erde Leib-Außen Gestalt
xíng
Himmel Leib-Innen
形
氣 qì
神 心 精
shén xīn jīng
Geist Herz Essenz
Gliederung Struktur Körperleib
tǐ
體
心 神 精神
xīn Herz shén Geist jīng-shén Feinstessenz
Rumpf
shēn
身
心 神 精神
xīn Herz shén Geist jīng-shén Feinstessenz
質
zhì
Gestalt – Leib xíng-tǐ 形體
身 shēn Leib Gesamtpersönlichkeit
Wesensbeschaffenheit
Diagramm 2: Körperleibbegriffe
Der Erläuterung der einzelnen Begriffe sind die folgenden beiden Abschnitte gewidmet.
b) Die yin- bzw. Außen-Seite des Menschen Auf der yin-Seite greifen wir zunächst die beiden häufigsten Begriffe 137
Vgl. v. Kleist 1984, Messner 1990 sowie insbesondere Lu, Yali 1992. Die vertikale Anordnung der jeweiligen Innenaspekte auf der rechten Seite entspricht der Häufigkeit ihrer Zuordnung.
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Die signifikanten Körper- und Leibbegriffe
auf: xíng 形 und tǐ 體, um in Anschluß daran den Begriff shēn 身 zu erläutern, der im Diagramm sowohl auf der yin-Seite als »Rumpf« erscheint als auch in der Mitte in seiner Bedeutung »Gesamtpersönlichkeit«. (1) xíng 形 Das Zeichen steht seit den frühesten Quellen für Form und Gestalt. 139 Somit ist xing die körperliche Gestalt, die äußere Erscheinung eines Menschen, die allerdings ein lebendiges Inneres, nämlich shén 神, xīn 心 oder jīng 精, »schützend umfaßt« 140; wir haben es hier mit dem Bild der Behausung shè 舍, zu tun, wie es sowohl im Zhuangzi als auch im Guanzi 141 Verwendung findet. Verfolgen wir die Begriffsgeschichte weiter, so fällt in lexikalischen Definitionen der Frühen Kaiserzeit eine Veränderung auf: Im Huangdi neijing 142 blieb xing nun nicht mehr nur auf die bloß äußere gestalthafte Erscheinung des Menschen beschränkt: Sie umfaßte nunmehr auch Tast- und Sichtbares im Innern, wie z. B. die Speicher- und Palastorgane, Knochen und Fleisch. 143 An den Speichern und Palästen interessierte allerdings weniger das tast- und sichtbare anatomische Substrat, das wir Organ nennen; sehr viel entscheidender war deren Relation bzw. Wirkfunktion im Gesamtgefüge. Da zudem im Umkreis dieser verschiedenen leiblichen Regungsherde die einzelnen Gefühle angesiedelt waren (s. II.l.b), umfaßte xing also beides: sowohl Äußeres als auch Inneres, sowohl Tast- und Sichtbares als auch Spürbares. Mit anderen Worten, neben der frühen umrißhaften Außenansicht bestand nunmehr die Vorstellung von einem räumlich ausgedehnten Körperleib. An der Einheit der menschlichen Existenz änderte sich mit dieser BegriffsVgl. Karlgren 1966, 808d; 337; CY 0574.1; Shuowen jiezi 說文解字, 424 xia; Shiming 釋名, 411; Kangxi zidian 康熙字典, 363; vgl. Rochat de la Vallée o. J., 46. 140 Zhuangzi, Kap. 12.8 »Tiandi«; vgl. Legge o. J., 364; Wilhelm, R. 1992, 134. 141 Das äußerst heterogene und im 1. Jh. v. Chr. zusammengestellte Buch Guanzi reicht in seinen ältesten Teilen ebenfalls ins 4. vorchristliche Jh. 142 Klassiker der chinesischen Resonanzmedizin, dessen Niederschrift sich über ein ganzes Jahrtausend hinzog. Es wurde zwischen dem 2. vorchristlichen und 8. nachchristlichen Jahrhundert kompiliert, enthält aber mit Sicherheit älteres Gedankengut. Vgl. Unschuld 1980. 143 Vgl. Huangdi neijing Bd. 1, 81. 139
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verschiebung jedoch nichts, da xing stets auf seine inneren Pendants von Bewußtseinsregungen bezogen blieb und beiden ohnehin einund dasselbe qi zugrunde lag. (2) tǐ 體 Auch mit dem zweiten Zeichen, das der yin- und Außenseite des Menschen zugeordnet ist, haben wir zunächst den festen, sichtund tastbaren Körper im Blick, bedeutet sein linker Bestandteil doch Knochen. Das rechte Bildelement, ein Ritualgefäß, lenkt dabei die Aufmerksamkeit auf dessen Gliederung, Struktur. So erklärt es jedenfalls Liu Xi 劉熙 (?–126): Mit einem Wortspiel, dem die Gleichlautung der Zeichen zugrunde liegt, behauptet er eine bestimmte Aufeinanderfolge – analog der geordneten Aufeinanderfolge [von Ritualhandlungen]: »ti, das ist die geordnete Aufeinanderfolge (dì 第); denn Knochen und Fleisch, Körperhaare und Blut, Außenseite und Innenseite, Großes und Kleines folgen geordnet aufeinander.« 144
Neben der kontrastiven Gliederung in Knochen und Fleisch, d. h. Hartes und Weiches, sowie Großes und Kleines fällt in diesem Zitat auf, daß die Körperhaare dem Blut und die Außenseite [der Haut] ihrer Innenseite gegenüber gestellt sind – auch hier also eine Unterscheidung von Innen und Außen. Wie xing umfaßt der Begriff ti also Tast- und Sichtbares, und zwar sowohl Innen wie Außen. So ist die Versuchung groß, in ti das chinesische Pendant unserer eigenen räumlichen substantiellen Körper-Vorstellung zu vermuten. Genau das verbietet aber die stets mitgedachte Polarität, denn ti tritt in den frühen Texten wie die vorstehend besprochene Gestalt (xing) im allgemeinen paarweise mit den verschiedenen Begriffen der Innenseite auf. Doch nicht nur das: Schon der rechte Bestandteil des Zeichens, das Ritualgefäß, sollte uns ein Fingerzeig sein, ist damit doch in der Graphik eine religiöse bzw. kosmische Dimension assoziiert. Gleich drei Wortverbindungen von ti bestätigen das: erstens sì-tǐ 四體, das Vierfache ti 145: Gemeint ist der Mensch in seiner vertikalen und horizontalen räumlichen Ausdehnung – augenfällig bei 144
Shiming, 411.
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Die signifikanten Körper- und Leibbegriffe
Streckung der Gliedmaßen, die unmittelbar auf die Vier Himmelsrichtungen verweisen und damit, zumindest nach chinesischer Vorstellung, dem kosmischen Aspekt Erde entsprechen. Deutlicher noch wird die religiöse Dimension von ti in zwei anderen Zeichenkombinationen, nämlich tǐ-dào 體道 und tǐ-tiān 體天, eine VerbObjekt-Verbindung mit der wörtlichen Bedeutung: »das dao bzw. tian (Himmel) zum Leib machen« oder besser: »sich das dao oder den Himmel einverleiben«. Dabei handelt es sich um nichts anderes als das mystische Eintauchen in die Einheit des Alls – leiblich betrachtet: um das Bedürfnis, aus der Enge des Körpers auszubrechen in die Weite des kosmischen Raumes. 146 Mit diesen Wortverbindungen und Assoziationen kommen wir nicht umhin, auch dem Begriff ti neben dem Körperlich-Sichtbaren ein Leiblich-Spürbares zu unterstellen. Das bedeutet, wie xing bezieht sich auch ti auf den Körperleib. (3) shēn 身 Erweist sich schon bei xing und ti die unbekümmerte Übersetzung mit Körper als verfehlt, so trifft das erst recht auf den dritten Begriff zu: shen. Sogar in der ohnehin seltenen Bedeutung »Rumpf« scheint er pars-pro-toto-Funktion zu erfüllen. Im Diagramm ist shen dann auch in die Mitte gerückt, um zu veranschaulichen, daß dieser Begriff auf die Ganzheit menschlicher Existenz verweist: Mit seiner graphischen Etymologie ist shen das chinesische Wort schlechthin für den deutschen Begriff Leib, mit dem wir schon vom Wortklang her bzw. etymologisch Leben/Lebendigsein assoziieren: 147 Das ursprüngliche chinesische Piktogramm zeigt eine menschliche Gestalt mit einem vorgestellten Fuß und einem großen inhaltsschweren Bauch: Noch in der modernen chinesischen Sprache bedeutet yǒushēn 有身 (einen shen haben) bzw. shēn-zhòng 身重 (shen ist 145 Synonym mit sì-zhī 四支, auch 四枝 und 四肢 (Vier Gliedmaßen), die schon in vorchristlicher Zeit auch als pars pro toto stehen; vgl. CY 0303.4 sowie 0305.3. 146 Zur Beschreibung der All-eins-Erfahrung und seiner Bedeutung im frühen chinesischen Denken vgl. die Bibliographie von Rappe 1995, 406 ff. 147 Die etymologische Erklärung von »Leib« lautet: »[…] althochdeutsch: lib sowie mittelhochdeutsch: lip, beides bedeutet »Leben«, in: Kluge 1960, 431; s. die kategoriale Differenzierung von Körper und Leib in der Einführung.
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schwer): schwanger sein. 148 So steht das Zeichen für den lebendigsten Leib, den wir uns überhaupt vorstellen können, den Leib, der mit werdendem Leben schwanger geht. Aber nicht nur die graphische Etymologie verweist auf den spürenden lebendigen Leib. Der schon erwähnte Liu Xi greift einen weiteren Aspekt von shen auf, der die Motorik des lebendigen Menschen voraussetzt: »[…] shen (Leib) kommt von shēn 申 (sich strecken); shen (Leib) kann sich zusammenkrümmen qū 屈 und kann sich strecken shēn 申.« 149
Liu Xi spielt nicht nur mit der Gleichlautung von shen »Leib« und shen »sich strecken, dehnen«; er spricht darin die leibliche Dimension von Weitung an, 150 die beim Ausatmen mitgeschieht oder beim Öffnen der Arme, beim Strecken und Dehnen der Glieder. Umgekehrt zeigt sich im qu »sich krümmen, sich beugen« das Spüren von Enge bzw. Engung, z. B. beim tiefen Einatmen, beim Schließen der Arme, beim Zusammenkrümmen der gesamten Gestalt, sei es aus Scham, Schmerz oder Angst. Reichen Etymologie sowie der Fingerzeig auf die leibliche Dynamik von Weite und Enge schon aus, um shen mit dem ganzheitlich spürenden Leib zu identifizieren, so kommt noch ein anderes dazu. In zahlreichen Textstellen aus der Zeit vor und nach Chr. ist shen nur mit »Ich« zu übersetzen, z. B. im folgenden Satz aus dem Liji 禮 記, dem Ritualhandbuch der Hanzeit (206 v. – 220 n. Chr.): »Ich (shen) bin ein Zweig meiner Eltern.« 151 Der Kontext eines Ritualklassikers legt es nahe, daß hier nicht die rein biologische Abstammung gemeint ist, sondern ein individuelles Leben, dem durch den Ahnenglauben zugleich eine kosmisch-religiöse Dimension zuge148
Karlgren, 386a, 223; ZWDZD Bd. 8, 38895.49; vgl. Rochat de la Vallée o. J.,
57. 149
Shiming, 411. Schmitz’s »Alphabet der Leiblichkeit« umfaßt zwei Kategorienpaare: die Dimensionen leiblichen Befindens, d. h. Weitung und Engung sowie leibliche Tendenzen, d. h. epikritische (schärfende, spitzende, Punkte und Umrisse setzende) Tendenz und protopathische (dumpfe, diffuse, ausstrahlende) Tendenz. Beide lassen sich im chinesischen Resonanzdenken den Polen von yang (Weitung bzw. epikritisch) und yin (Engung bzw. protopathisch) zuordnen; vgl. ders. 1990, 121–127. S. auch Anhang 1.
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Die signifikanten Körper- und Leibbegriffe
sprochen wird. Die folgende Zeichenanalyse aus einem medizinischen Lexikon macht das noch deutlicher: »[…] shen ist eine umfassende Bezeichnung für den [menschlichen] Leib (ti). Der obere Teil des Zeichens sieht aus wie ein Kopf [und erinnert damit an den runden Himmel]; der untere Teil sieht aus wie ein Fuß [und erinnert damit an die viereckige Erde] 152; der vordere Teil sieht aus wie der Bauch, der hintere Teil wie der Rücken, [shen] vermag sich zusammenzuziehen und sich zu strecken; [shen] hat teil am [Wirken von] Himmel und Erde, ist der Gipfel des Menschseins und macht den Heiligen aus.« 153
Die Teilhabe am Kosmos ergab sich für die Daoisten, vermittelt über das qi, quasi von selbst; für die Konfuzianer war sie Ergebnis einer ununterbrochenen Persönlichkeitspflege, die bereits Xunzi (298–238 v. Chr.) erläutert hatte: Nicht von ungefähr lautet der Titel des gleichnamigen Kapitels: xiū-shēn 修身 (Kultivierung des Selbst). Auch im Guanzi 管子 findet sich an zahlreichen Stellen shen, z. B. im Sinne der Gesamtpersönlichkeit des Herrschers. 154 In der modernen chinesischen Sprache bildet shen zusammen mit dem Kurzzeichen von ti das Kompositum: shēntǐ 身体, das für den tast- und sichtbaren Körper steht, denn in der Moderne faßte auch in China dualistisches Denken Fuß. 155 Die Rezeption der westlichen Medizin seit dem letzten Jahrhundert trieb diese Sichtweise voran. 156 Und doch überlebt in der heutigen Wortverbindung shenti immer noch ein wenig von der alten Bedeutung im Sinne des Körperleibs in verschiedenen Redewendungen: So bedeutet wǒde shēntǐ hǎo 我的身体好 (wörtl. mein shenti ist gut): »Ich bin gesund«, und dies umfaßt nach chinesischem Verständnis mehr als intakte Glieder, nämlich ein leibliches Rundum-Wohlbefinden. 157 151
Kap. »Aigongwen«, 0849 xia; vgl. Wilhelm, R. 1981, 231. S. III.3.b die sogenannte Lehre vom bedeckenden Himmel gài-tiān 蓋天. 153 Zhongguo yixue dacidian 中国医学大词典 (Großes Wörterbuch der Chinesischen Medizin), zit. n. Rochat de la Vallée o. J., 59. 154 Guanzi zhuzi suoyin 2001, Kap. 20, 149, Zeile 28–29. 155 In diesen Zusammenhang gehören die Bemühungen des Wang Qingren 王清 任 (1768–1831), das Denken vom Herz in den Kopf zu verlagern; vgl. Wang, Yousan 1982, 307 ff. 156 Elvin 1993. 152
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Für die beiden signifikanten Begriffe, die mit der yin-Seite des Menschen identifiziert werden, xing und ti, erst recht shen, gilt demnach, daß die Übersetzung mit Körper eine unzulässige Reduzierung wäre: xing ist ursprünglich die äußere Gestalt, die auch ein davon nicht zu trennendes lebendiges Inneres durch- bzw. erscheinen läßt; ti als der räumlich ausgedehnte und gegliederte Körperleib hat über die Polarität hinaus eine religiös-mystische Dimension; shen hingegen entpuppt sich als der Begriff für den lebendigen Leib schlechthin, das eigenleibliche Spüren von Engung (Krümmen) und Weitung (Strecken) sowie für das Selbst der Person im Sinne der Gesamtpersönlichkeit, einschließlich seiner moralischen Fähigkeiten und religiösen Einbettung in übergreifende Dimensionen. Am Ende dieser Begriffsgeschichte zur Außen- bzw. yin-Seite des Menschen noch ein Hinweis: Auch die chinesischen Ärzte nahmen Leichensektionen vor und konnten sich auf diese Weise ein exaktes Bild vom tast- und sichtbaren Körper machen. Anlässe, wie Kriege, Seuchen oder Hinrichtungen, gab es genug! Das Huangdi neijing, der schon mehrfach erwähnte Klassiker der Resonanzmedizin, enthält Passagen mit genauen Angaben über Gewicht, Durchmesser, Umfang und Fassungsvermögen von Herz, Leber, Niere usw. 158 Damit kamen sie dem westlichen Organ- und Körperbegriff sehr nahe. So wundert es nicht, wenn neben den Wörtern für Leichnam shī 屍 und Skelett gǔ-hái 骨骸 eine Reihe weiterer Begriffe figuriert, in denen der tast- und sichtbare Körper im Vordergrund steht, wie ròu-tǐ 肉體 (ti aus Fleisch), gǔ-ròu 骨肉 (Knochen und Fleisch), xùe-ròu-zhi-tǐ 血肉之體 (ti aus Blut und Fleisch) oder auch die Vier-Zeichen-Kombinationen shen-tǐ-fà-fū 身體髮膚 (KörperleibHaar-und-Haut) und bǎi-gǔ-jiǔ-qiào 百骨九竅 (Hundert-Kno157
Hier sei auf das Interviewprojekt verwiesen, das ich in den Jahren 1989/1990 in Beijing durchführte. Die körperlich behinderten Interviewpartner betrachteten sich als gesund unabhängig davon, ob sie taub, stumm oder blind waren, ob ihnen ein Arm fehlte oder Kinderlähmung die Füße verkrüppelt hatte; vgl. Linck 1995a. 158 Huangdi neijing lingshu, Bd. 1, 12. Kap. »Jingshui«, 290 und 31. Kap. »Changwei«, 503; vgl. Ishida o. J., 92; Unschuld 1980, 62–63. Wer die Zuordnung yin = Außen und yang = Innen irritierend findet, da tieferliegende Leitbahnen i. A. dem yin zugeordnet sind und umgekehrt, der möchte sich vor Augen halten, daß das alte chinesische Denken situativ bzw. kontextuell ist.
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chen-und-Neun-Körperöffnungen), wiederum im Sinne des parspro-toto. 159 Doch blieben solche Vorstellungen im Rahmen der traditionellen chinesischen Medizin nur marginal: Im offiziellen Menschenbild herrschten die Lebenskraftkonzepte vor, die im leiblichen Spüren begründet waren. Drei weitere Begriffe, die ebenfalls schon in vorchristlicher Zeit vorkommen, sollen hier zumindest genannt sein, auch wenn sie seltener gebraucht sind als die erläuterten. Alle drei verwenden als Sinnelement das Zeichen shēn 身 (Leib bzw. Gesamtpersönlichkeit) und bedeuten wie xing und ti nichts anderes als Körperleib: qū 軀 und gōng 躬 sowie ein aus 身 +呂 zusammengesetztes und ebenfalls gōng ausgesprochenes Zeichen. 160 c) Die yang- bzw. Innen-Seite des Menschen Das Diagramm zeigt auf der yang-Seite des Menschen vier Begriffe: shén 神, xīn 心 und jīng 精 sowie die Zusammensetzung aus dem letzt- und erstgenannten: jīng-shén 精神 (Feinstessenz). Da xin (das Herz) uns im dritten und vierten Kapitel dieses Ersten Teils ausführlich beschäftigen wird, erübrigt es sich, an dieser Stelle darauf einzugehen außer dem Hinweis, daß es im vormodernen chinesischen Denken als Sitz sowohl des Denkens als auch der Gefühle steht. So verbleiben zur Erläuterung shen und jing, denn die Bedeutung von jing-shen (Feinstessenz) ergibt sich folgerichtig aus deren Zusammensetzung. 161 (1) shén 神 Das Zeichen – im zweiten Ton ausgesprochen und mit dem gleichlautenden shēn 身 (Leib) im ersten Ton nicht zu verwechseln – wird in der westlichen Literatur im allgemeinen mit Geist oder auch mit Seele übersetzt. Wie problematisch es ist, dualistisch besetzte Begrif159
Belege dazu finden sich in: Karlgren 1006a-e, 392–393; Shuowen jiezi, 388; CY 1638.2; ZWDCD Bd. 8, 38992; Lunyu 10.4 u. Wilhelm, R. 1985, 106; CT 1637.4; ZWDCD, Bd. 8, 38899; CT 0303.4, 0305.4; ZWDCD, Bd. 7, 11677.27; CY 1889.4; vgl. auch I.3.a. 160 CY 1637.4 und 1638.2.
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Außen und Innen, Körper und Leib
fe in eine Gedankenwelt hineinzutragen, die grundsätzlich Polarität und leibliche Einheit unterstellte, wurde schon mehrfach deutlich. Und doch hat gerade dieses chinesische Wort in seiner Vielseitigkeit durchaus einiges mit dem weiten Bedeutungsfeld unseres Begriffes Geist gemeinsam: 162 shen ist nämlich ebenfalls das »Gespenst«, d. h. der »Totengeist«; es bedeutet auch – als yang-Manifestation des qi: »Lebenskraft«, »Vitalität«, ganz im Sinne unserer Lebensgeister, die nach Ermattung oder langer Krankheit allmählich wiederkehren; auch die schöpferische Phantasie, im Deutschen mit »Geisteskraft/ Esprit« ausgedrückt, ist in dem chinesischen Begriff ebenso enthalten wie »Persönlichkeit und Charakter«, etwa im Sinne des HamletZitats: »Oh, welch eine edler Geist ist hier zerstört!« Nicht zuletzt bedeutet shen – ganz wie der »Heilige Geist« – das Numinose sowie personalisierte Götter und Geister, die den Raum zwischen Himmel und Erde bevölkern. Diese vielfaltigen Übereinstimmungen mögen es rechtfertigen, in Übersetzungen das Wort »Geist« beizubehalten. Das vorliegende Buch bietet drei Übersetzungsvorschläge, manchmal alle drei zusammen: Lebenskraft, Bewußtsein und Geisteskraft. 163 Im medizinischen Kontext ist mit shen fast immer die Lebenskraft gemeint: die Vitalität oder leibliche Disposition einer Person. Mit wachsender personaler Emanzipation, d. h. mit wachsender Selbstreflexion, nimmt shen zusätzlich die Bedeutung von Bewußtsein an. In philosophischen Kontexten ist »Bewußtsein« also unter Umständen treffender als »Lebenskraft«. Dabei sollten wir nicht vergessen, daß auch Bewußtsein und Intellekt unmittelbar an Lebenskraft gebunden sind. Die leibliche Ganzheit des Menschen vorausgesetzt, handelt es sich dabei jedenfalls nicht um einen frei über den Dingen schwebenden Geist; vielmehr ist die bewußte Zu161
Sorgfältige Begriffserläuterungen finden sich auch in: Hertzer 2006. Wie sinnvoll und fruchtbar es dann auch in einer komparativen Perspektive sein kann, nicht nur mit dem Begriff »Geist«, sondern auch mit dem des »Seelischen« zu operieren, hat Hertzer in ihrer zweiten Dissertation aus dem Jahre 2006 beeindrukkend vorgeführt. 163 Daß auch bei uns noch in den 30er Jahren ganz ähnliche Vorstellungen lebendig waren, belegt Bargheer in seinem umfangreichen Buch über Eingeweidemantik und -zauber: »[…] es [ist] stets schwer, scharf zwischen den Begriffen Seele und Lebenskraft zu unterscheiden. Meistens ist nur ein wunderliches Gemisch aus beiden festzustellen […].« Vgl. Bargheer 1931, 5. 162
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Die signifikanten Körper- und Leibbegriffe
wendung zu sich selbst und Anderem letztlich immer auch leiblich begründet, denn Welthaftigkeit oder, um es mit Heidegger zu sagen: Das In-der-Welt-zu-sein bedeutet zugleich, mehr oder weniger affektiv betroffen zu sein, ist doch der Leib »der universale Resonanzboden, wo alles Betroffensein des Menschen seinen Sitz hat«. 164 Sämtliche Errungenschaften des Person-Seins: Wissen (zhī 知), Sichbesinnen (lǜ 慮), Urteilsvermögen (shì-fēi 是非), Willenskraft (zhì 志) sowie Erinnerungsvermögen (yì 憶), sind im Begriff shen als Bewußtsein enthalten. Der dritte Übersetzungsvorschlag: »Geisteskraft« berücksichtigt die mannigfaltigen Bedeutungen, die shen und das deutsche Wort »Geist« miteinander teilen. Mitunter ist »Geist« den Wörtern »Lebenskraft« und »Bewußtsein« vorzuziehen, vor allem im religiösen Kontext. Das Wort »Geisteskraft« unterstreicht allerdings besser als »Geist« das Wirkkräftige, das von einem Menschen ausgeht, eine leibliche Richtung, eine situative Relation. Die besondere Wirkkraft von shen zeigt anschaulich die frühe Begriffsgeschichte: In den Texten aus den Jahrhunderten v. Chr. steht es am häufigsten für kosmische und göttliche Atmosphären, denen sich der Mensch ausgesetzt fühlt: So ist shen die Lichtkraft der Sonne, des Mondes und der Sterne und davon abgeleitet die Wirkkraft der legendären Kaiser, die zugleich Kulturschöpfer waren. Auch die schon erwähnten Toten- und Ahnengeister sind Teil der atmosphärischen Wirkung des Numinosen und damit leiblicher Art! 165 164
Schmitz 1990, 115; Bei Husserl und Merleau-Ponty liest sich dieser Gedanke wie folgt, wenn auch etwas komplizierter ausgedrückt: »Indem aller Seinssinn von Außendingen zurückbezogen ist hinsichtlich aller ontischen Gegebenheitsweisen, der orientierten, auf die Nahsphäre der Berührbarkeit und Greifbarkeit, der praktischen, unmittelbaren Vermöglichkeit des Schiebens, Stoßens etc., sind alle Außendinge – immer in der Primordialität, im Rahmen meiner eigenen originalen Erfahrung – eo ipso zurückbezogen auf meinen berührenden Leib. Er ist in aller erdenklichen Dingwahrnehmung und Weltwahrnehmung appräsentiert.« (Husserl 1973, 309; Hervorhebung G. L.) und Merleau-Ponty: »[…] daß mein Leib sich durch eine Art Aufklaffen ins Zweigeteilte öffnet und es zwischen ihm als gesehenem und sehendem, zwischen ihm als berührtem und berührendem zu einer Überlappung oder einem Übergreifen kommt, und man schließlich sagen muß, daß die Dinge in uns eingehen, so wie wir auf die Dinge eingehen.« (Merleau-Ponty 1986, 164; Hervorhebung G. L.).
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Dazu gehört folgende Etymologie: Das linke Element von shen enthält fünf Striche, von denen die beiden oberen als das alte Zeichen für »Oben« gedeutet werden; sie verweisen also auf den Himmel; die drei unteren Striche wiederum werden als die Strahlen von Sonne, Mond und Sternen identifiziert, die in den frühen Epochen ebenfalls göttlich-numinose Atmosphären repräsentieren. 166 Einer anderen Etymologie zufolge handelt es sich bei den fünf Strichen um die Schafgarbenstengel, die beim Orakeln Verwendung finden, oder auch um das, was vom Himmel an Einflüssen herunterkommt. 167 Nun steht shen auch für einen der Zwölf Erdenzweige 168, die den zwölf Himmelsrichtungen entsprechen; damit wird eine dritte Etymologie verknüpft: shen gehört nämlich in dieser kosmischen Anordnung zur Südwestecke, mit der ganz bestimmte Vorgänge, die schöpferischen und erneuernden Lebensprozesse, assoziiert sind: »Wenn die Sieben Sterne des Großen Wagens nach Südwesten zeigen, dann ist die Deichsel genau nach Nordosten gerichtet […]; dann herrscht Frühling in der Welt; dann heben die schöpferischen qi-Bewegungen an: Himmel und Erde bringen die Zehntausend Wesen und Dinge hervor. Dasjenige, das die Wesen und Dinge ausrichtet, das nennt man shen (Schöpferkraft).« 169
Es ist nicht möglich, und es ist auch nicht nötig, sich für die eine oder andere Etymologie zu entscheiden, zumal alle Erläuterungen auf ein- und dasselbe hinauslaufen: Der linke Zeichenbestandteil von shen verweist auf eine vom Menschen empfundene göttlich-numinose Wirk- und Schöpferkraft. Das rechte Zeichenelement stellt das Phonetikum dar und gibt als solches die Aussprache an. Es ist aber aus der Leibperspektive gesehen gleichermaßen bedeutungsträchtig, indem es auf das Spüren der leiblichen Dimensionen Engung und Weitung abzielt, wie aus der folgenden Passage hervor165
CY 1231.3–4; vgl. Zhu, Wenfeng u. a. 1987, 19–22. Ebd. 167 Ebd. Vgl. Shuowen jiezi, 2; ZWDCD, Bd. 6, 25211; vgl. Wieger 1965, 29. 168 dì-zhī 地支, im Unterschied zu den Zehn Himmelsstämmen tiān-gān 天干. Beide Reihen miteinander kombiniert ergeben einen Sechziger-Zyklus, der der vormodernen Jahres- und Tageszählung zugrunde lag. 169 Shuowen jiezi, 2 u. 3 bzw. Zhu, Wenfeng u. a. 1987, 19. 166
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geht, die schon in einem anderen Kontext w. o. zitiert wurde: »Wenn qi sich weitet (shēn 申) so entspricht das shén 神; wenn qi sich zusammenkrümmt (qū 屈), so enspricht das den guǐ 鬼.« 170 Lassen wir gui hier zunächst einmal beiseite, so teilt uns das betreffende Lexikon mit, daß shen leibliche Weitung beschreibt. Damit entspricht es dem Vorgang der Zerstreuung von qi, der wiederum dem yang-Aspekt des Kosmos zugeordnet wird und mit dem shen von Anfang an auf vielfältige Weise verknüpft ist. Mit den Assoziationen: Streckung, Weitung, Zerstreuung von qi ist shen also auch durch seinen zweiten Zeichenbestandteil im lebendigen Spüren verankert. So ist die Denkfigur shen im Sinne von Lebenskraft, Bewußtsein und Geisteskraft auf doppelte Weise ein leiblich Gespürtes: erstens die leibliche Regung der Weite bzw. Weitung und zweitens ein Atmosphärisches, das Mensch und Kosmos gleichermaßen durchdringt. Mit letzterem ist seine Bedeutung als aktive und initiierende Kraft des Himmels verknüpft, die kurz vor der Geburt herabsteigt und in den werdenden Menschen eingeht, lebenslang bei ihm als dessen individuelle Lebenskraft, Geisteskraft, Persönlichkeit, Bewußtsein, Charaktervermögen verweilt und sich bei dessen Tod wieder himmelwärts verflüchtigt. 171 In seiner weiteren Begriffsgeschichte hat sich shen durch die Jahrhunderte hindurch seine anthropologische und kosmisch-atmosphärische Bedeutung bewahrt, zumindest in den philosophischen und medizinischen Schriften. Im Rahmen des Ahnenkultes zeichnete sich allerdings eine Entwicklung ab, die womöglich für die Frage relevant ist, wann und warum in der chinesischen Geschichte Polarität in Antagonismus umschlagen konnte: Betrachten wir etwas eingehender das Verhältnis zwischen shen und dem im Zitat zuletzt genannten guǐ 鬼. An dieser Stelle erscheint gui als Pendant zu shen und zielt auf die leibliche Dynamik der Engung; andererseits hatte gui seinen festen Platz in den weiter oben erläuterten Vorstellungen vom Tod: »Wenn sich die Feinstessenz (jing-shen) von der Gestalt (xing) trennt, kehrt jedes in seinen wahren Zustand zurück. Deshalb sprechen wir 170 171
ZWDCD, Bd. 6, 25211.IV; zum Begriff gui s. auch w. o. I.1.a. Vgl. »Die Menschwerdung des qi« in: I.2.a.
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von gui, den Geistern der Toten, denn gui (Totengeist) hat mit guī 歸 (heimkehren) zu tun: heimkehren zur wahren Behausung.« 172
In beiden Fällen sind shen und gui polar aufeinander bezogen, und in beiden Bedeutungen suggeriert gui Analoges: Nicht nur die Engung des lebendigen Leibes, auch der Rückzug in den Tod wird als ein Sich-zusammen-ziehen, Sich-krümmen wahrgenommen, während shen für leibliche Weitung und die Entfaltung von Leben steht. Folglich repräsentiert shen den yang- und gui den yin-Aspekt, denn yang steht für die Welt der Lebenden und yin für die Schattenwelt der Toten. Dieselbe Polarität unterliegt auch der Wortverbindung shén-guǐ 神鬼, die in den Jahrhunderten v. Chr. für Götter und Geister im weiteren und für die Geister der Verstorbenen im engeren Sinne gebraucht wurde. Die shen-gui, so erfahren wir, können den Lebenden sowohl Segen spenden als auch Schaden zufügen; genau das erforderte Vorkehrung und Manipulation, nicht zuletzt in Form von Gebeten und Opfergaben. Spätestens in der Gründungszeit des Kaiserreiches, wenn nicht schon zuvor, zerfällt diese Einheit in zwei Wesenheiten, die nunmehr nicht mehr komplementär, sondern gegeneinander wirken: shen ist ein gutwilliger Ahnengeist im Gegensatz zu gui, der als Angst einflößender, Schaden stiftender Totengeist, eben als Dämon, sein Unwesen treibt. 173 Der Glaube an bedrohliche Totengeister war ja nicht neu (s. 1.1.a). Doch schiebt er sich nunmehr derart in den Vordergrund, daß sich die Frage stellt: Warum? Wir kommen darauf zurück. 174 An dieser Stelle sei nur auf einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang hingewiesen: Offenbar war dem neugegründeten Einheitsstaat neben allen anderen Vereinheitlichungen auch an einer Standardisierung bzw. Monopolisierung der Kulte gelegen. Mit anderen Worten, seit der Hanzeit, als der Konfuzianismus erfolgreich seinen Einfluß im Ritualbereich geltend machen konnte, wurden die lokalen Götter- und Geisterverehrungen »verteufelt« und systematisch vom Staat bekämpft. 175 Liezi 列子, Zhuzi jicheng Bd. III.5. Daneben wirkt die alte Vorstellung ungehindert fort. Zu dieser Wende und deren religionsgeschichtlichen Bedeutung: Seiwert 1983 sowie Strickmanns 2005 posthum veröffentlichtes Buch.
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Eine ganz neue Wendung nimmt die Begriffsgeschichte von shen unter dem Einfluß des Buddhismus, der den altindischen Gedanken der Wiedergeburten mit nach China gebracht hatte (s. I.1.a). Gegen derlei Vorstellung behauptete sich jedoch die alte chinesische Position, die sich wie folgt zusammenfassen läßt: Ob nun als Ahnengeist, als yang-Aspekt menschlicher Lebenskraft, als menschliches Bewußtsein oder als Persönlichkeit: Über kurz oder lang würde shen sich zerstreuen und verflüchtigen. Die Vorstellung von Wiedergeburt und Seelenwanderung setzte im Gegensatz dazu den Glauben voraus, daß eine individuelle Fortexistenz möglich sei, und zwar unabhängig von der jeweiligen Inkarnation. In aller Heftigkeit prallten im 4./5. nachchristlichen Jahrhundert die Meinungen aufeinander, nachdem man zuvor in Übersetzungen mit allen möglichen Körperleibbegriffen operiert hatte, z. B. anhand von Texten, in denen erörtert wurde, wie mit Buddhas Leichnam bzw. seinen Reliquien zu verfahren sei. 176 So verwendete der buddhistische Mönch Zhu Sengfu 竺僧敷 (ca. 300–370) die Zusammensetzungen gǔròu 骨肉 (Knochen und Fleisch) und xíng-tǐ 形體 (Körperleib), um sie dualistisch dem nie verlöschenden »Geist« (shén 神) bzw. der unsterblichen »Seele« gegenüberzustellen. 177 Unter den Verfechtern des ursprünglichen chinesischen Glaubens tat sich vor allem Fan Zhen 范縝 (ca. 450– 515) 178 hervor, der unbeirrt am Postulat vom »Verlöschen des menschlichen Bewußtseins« (shén-miè 神滅) fest- und es der Behauptung vom »Nicht-Verlöschen des menschlichen Bewußtseins« (shén-bù-miè 神不滅) entgegenhielt. Fan Zhen argumentierte, indem er an den Wesen und Dingen ein Grundlegendes (zhì 質) und dessen Befähigung, Wirkung, Gebrauch, Funktion (yòng 用) unterschied. 179 Um das Verhältnis von Leib und Bewußtsein zu veranschaulichen, zog er zum Vergleich das Bild vom Messer heran: Das Messer ist das Grundlegende, seine Schärfe ist des Messers Wir174
S. w. u. Ausführungen zu hun und po. Seiwert 1983, 321–323. Auch der Daoismus der Frühen Kaiserzeit versuchte, sich gegen die Volkskulte mit ihren »Dämonenverehrungen« abzugrenzen; vgl. Cedzich 1985. 176 Vgl. Silk 2006. 177 Dem »unerschöpflichen Geistigen« (wú-jìn shén 無盡神) stellt Zhu Sengfu in 175
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kung, dessen Funktion, Verwendung, Gebrauch. 180 Der Mensch in seiner lebendigen Existenz entsprach dem Messer, sein Bewußtsein shen als eine Wirkung des lebendigen Menschen entsprach der Schärfe des Messers. Fazit: Ohne Messer keine Schärfe, ohne die lebendige Leiblichkeit kein Bewußtsein! 181 Auf diese Weise gelang es Fan Zhen, die Differenz begrifflich zu fassen, ohne einem Dualismus anheimzufallen, ist doch das eine ohne das andere nicht denkbar, gehört vielmehr beides zueinander und existiert nur miteinander. Offenbar war mit dem Begriff shen nach wie vor so unseiner Schrift Shenwuxing lun 神無形論 (Über den formlosen Geist) die begrenzten/erschöpflichen (yǒu-jìn 有盡) Wesenheiten gegenüber, die der Wandlung unterworfen sind und gestalthaft (xíng 形) in Erscheinung treten. Diese nennt er [zählbare] Entitäten shù 數. Zürcher 2007, 147–148. 178 Fan Zhens Biographie findet sich im Liangshu 梁書, der Dynastiengeschichte der Liang, Buch 48; die Zeitgenossen nannten ihn auch mit Spitznamen den »Heiligen des Verlöschens« (miè-shèng 滅聖), da er so vehement seine These vertrat; vgl. Wang, You-san 1982, 125–133, insbes. 127, sowie Tadao 1986, 246–253. 179 Fan Zhen greift hier eine alte Unterscheidung auf, die bereits Xunzi getroffen hatte: tǐ-yòng 體用. Dabei verwendet er statt ti allerdings zhi (s. w. o. zweites Diagramm sowie w. u.), meint aber dasselbe: das Eigentliche, die Grundlage. Die Lehre vom Dunkeln wird auf Xunzis ti-yong-Konzept zurückgreifen, das auch Zhu Xi 朱 熹 (1130–1200) übernehmen wird (s. III.l.b); vgl. Zhongguo ruxue cidian, 700–701. Man beachte den Unterschied zur europäischen Sichtweise, die an den Dingen zuerst einen festen Körper (Substanz) und dann dessen Eigenschaften (Akzidens) feststellte; ganz zuletzt interessierte des festen Körpers Funktion bzw. Wirkung in einem Gesamtzusammenhang (Relation); mit anderen Worten, das An-sich-Sein einer Sache, eines Wesens rangiert vor dem Für-anderes-Sein. Nach chinesischer Sicht verhält es sich anders, wenn nicht umgekehrt, d. h. die Funktion bzw. Relation gehört nicht nur untrennbar zur Sache selbst, sondern macht u. U. sogar das eigentliche Wesen einer Erscheinung aus; darüber hinaus wird manche Eigenschaft, die wir als bloßes Zubehör definieren, als wesensmäßig angesehen, wie z. B. das o. e. gestreifte Fell des Tigers oder auch die Farbe Rot, die dafür sorgt, daß ein Phänomen mit anderen Phänomenen (wie Feuer, Herz, Zunge, Dünndarm, Freude bzw. Lust, Hitze, Sommer, der Geruchsrichtung »verbrannt«, der Tierart der Gefiederten, dem Haustier Schaf, der klebrigen Hirse usw.) ein- und derselben Daseinskategorie zugeordnet wird; zu den mannigfaltigen Entsprechungen vgl. Porkert 1973, 4. Kap. Die Denkfigur des ti-yong – ein Grundlegendes und seine Wirkung/Funktion – hatte also in der chinesischen Ontologie die Bedeutung, die im europäischen Denken dem Dreistufenschema (Substanz-Akzidens-Relation) zugesprochen werden kann: Da die Wirkung von der Sache selbst nicht zu trennen ist, begründet auch das ti-yong-Konzept neben dem qi den chinesischen Monismus.
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trennbar die lebendige Wirkkraft bzw. Lebenskraft verknüpft, daß es für Fan Zhen und seinesgleichen überhaupt nicht vorstellbar war, shen 182 könnte unabhängig vom lebendigen Menschen existieren. (2) jīng 精 Das Zeichen jing enthält in der auch heute noch gültigen Schreibung als Sinn angebenden Bestandteil: Reis – der auch im Zeichen für qi enthalten ist – und bedeutet in den frühesten Texten, »feiner, reiner Reis« und bereits in einem davon abgeleiteten Sinne »erlesen« »ausgezeichnet«, »Essenz« und nicht zuletzt »männlicher Samen«. Um es mit einer uns geläufigen Redewendung zu erläutern: jing ist das, was übrigbleibt, wenn, »die Spreu vom Weizen getrennt wird«: das Erlesene, das Reine, die Essenz. Der lautangebende Bestandteil suggeriert die Frühlingsfarbe Grün und damit eine blühende Vegetation bzw. des Himmels Blau und damit den yang-Aspekt des qi. 183 So erklärt sich nicht nur der Zeichenbestandteil »Reis«, sondern auch seine Anordnung auf der yang bzw. Innenseite des Menschen, den Bezug zum verfeinerten flüchtigen qi und damit zur reinen Schöpferkraft des Himmels. Daraus ergibt sich wiederum die Bezeichnung für die männliche Schöpferkraft im engeren Sinne, d. h. für die in chinesischer Vorstellung lebensspendende Samenflüssigkeit. 184 Mit solchen Zuschreibungen kommt also auch diesem Begriff eine fundamentale körperliche (Nahrung, Sperma) sowie leiblich-atmosphärische Bedeutung zu. (S. II.l.b)
180 Um eine moderne Metapher zu gebrauchen, könnten wir ti auch als Hardware und yong als Software verstehen: Das eine macht ohne das andere keinen Sinn. 181 Eine analoge Metapher hatte ein halbes Jahrtausend zuvor Huan Tan 桓 譚 (?– 56 n. Chr.) verwendet, ein Himmelskundler der Hanzeit: »Das Bewußtsein (wörtl. Feinstessenz jing-shen) wohnt im körperlichen Leib (xíng-tǐ 形體); es ist wie die Flamme, die auf der Kerze brennt […]. Hat sich die Kerze erschöpft, wie sollte die Flamme allein in die Leere (xū-kōng 虚空) eingehen?!« Zit. n. Wang, Yousan 1982, 58. 182 Im Grunde polemisierte Fan Zhen gegen Nachwirkungen altindischer Vorstellungen von atman, einem substantiell und ewig gedachten metaphysischen Ich; vgl. Yamaguchi 1997, 159. 183 Vgl. Karlgren, 812 g’, 338; Shuowen jiezi, 331; CY, 1296.3.
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(3) zhì 質 Als einziger unter den signifikanten Körper-/Leibbegriffen hat zhi zumindest etymologisch nichts mit dem leiblichem Spüren zu tun. Das Zeichen enthält als sinnangebenden Teil die Kaurimuschel und als Lautbestandteil ein Gewichtsmaß, seine graphische Etymologie ist ungewiß. 185 Die Erklärung im Shuowen jiezi 186 als Unterpfand paßt dennoch ins Bild: Mit Gewichtsmaß und Kaurimuschel, die in frühester Zeit als Zahlungsmittel diente, verbinden wir kaufmännische Transaktionen. Seine Verwendung in älteren Texten aus den Jahrhunderten v. Chr. zeigt in dieselbe Richtung, reicht seine Bedeutung doch von einem Holzblock, auf dem Werkzeuge zur weiteren Bearbeitung festgeklemmt sind, über das Vertragsdokument als »Unterpfand« bis hin zu »Zuverlässigkeit« und »Aufrichtigkeit«. 187 Damit verweist es im übertragenen Sinne auf ein Eigentliches, das z. B. auch einem Menschen zugrunde liegt. So kam es, daß dieses Zeichen in der chinesischen Anthropologie – trotz seiner »handfesten« Graphik – ebenfalls der Innenseite des Menschen zugeordnet wird. Dort steht es der äußeren Erscheinung (xing) und dem gegliederten Körperleib (ti) komplementär gegenüber als das Wesen, das einer bestimmten Person ganz individuell zu eigen ist: ihre durch Charakter und Temperament geprägte grundlegende persönliche Beschaffenheit. Fassen wir zusammen, was die altchinesischen Körper-Leibbegriffe uns vermitteln: Die chinesische Anthropologie differenzierte zwischen Außen und Innen, zwischen leiblichen und körperlichen Aspekten, wobei Körper bzw. Leib nicht zwangsläufig mit dem Außen bzw. Innen in eins gesetzt wurden: Vielmehr nahmen die Menschen den gespürten Leib auch äußerlich wahr 188 und erkannten im Innern Tast- und Sichtbares. Eine solche Perspektive setzte die Einheit menschlicher Existenz voraus. Der Antagonismus, der sich in 184
Nach Yamaguchi 1997, 180 könnte sich die Bedeutung für »Samen« auch davon ableiten, daß der Samen »Potentialität« ist, ebenso wie die »alle Keime enthaltende Schöpferkraft«. 185 Karlgren, 493, 251. 186 Shuowen jiezi, 281. 187 CY 1615.3.
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Die signifikanten Körper- und Leibbegriffe
der Frühen Kaiserzeit neben der Polarität der Begriffe entwickelte, vermochte nicht grundsätzlich diese Einheit in Frage zu stellen. Dafür sorgte schon das Konzept qi, das Herzstück in einem komplexen System von leiblich-atmospärischen Wirkkräften. 189 Zwar war qi am Aufbau des tast- und sichtbaren Körpers ebenso beteiligt wie am leiblich Gespürten; und doch bedeuteten den chinesischen Philosophen auf Dauer gesehen die Wirkungen des AtmosphärischFließenden mehr als die Realität eines festen Körpers. Der Philosoph Zhuang Zhou (4.–3. Jh. v. Chr) hat diesen Sachverhalt in der Geschichte von der Sau veranschaulicht, die gerade dabei war, ihre Ferkel zu säugen, als sie tot umfiel: »Plötzlich fiel die Sau zur Seite und war tot. Die Ferkel stoben davon: Das, was sie an der Mutter geliebt hatten, war nicht ihre Gestalt, sondern das, was deren Gestalt belebt hatte.« 190 Wie wenig die chinesische Anthropologie letztlich am festen Körper (Substanz) interessiert war, zeigt sich ein weiteres Mal, wenn wir uns daoistisch orientierte Leibbegriffe der frühen Kaiserzeit kurz vor Augen führen: Diese berücksichtigten nämlich überhaupt nicht den festen Körper. Als Grundlegendes (běn 本) menschlicher Existenz und als Voraussetzung für die Einverleibung des dao sind drei Wirkkräfte genannt, die uns bereits bestens vertraut sind: erstens shen, was in diesem Kontext allerdings die im Menschen residierenden Gottheiten meint; 191 zweitens qi und drittens jing (Essenz). Was den Menschen über diese atmosphärischen Gegebenheiten hinaus kennzeichnet, sind reine Flüssigkeiten, und zwar suǐ 髓 (Knochenmark), tì 涕(Nasenschleim), tuò 唾 (Spucke), jīn 津 (Säfte), xuè 血 (Blut), hàn 汗 (Schweiß) und lèi 淚 (Tränen). 192 Noch in einem medizinischen Werk aus dem 18. Jahrhundert werden als die 188
S. Gefühlsatmosphären in: II.1.b. Und doch ging auch der Antagonismus nicht am qi-Konzept spurlos vorüber: In der Hanzeit etablierten sich – analog zu den anderen Antagonismen shen vs. gui (w. o.) und hun vs. po (w. u.) – die gegensätzlichen Begriffe zhèng-fēng 正風 (rechter Wind bzw. rechtes qi) und xié-fēng 邪風 (übler Wind bzw. übles qi); vgl. Kuriyama 1994, 35. 190 Wörtlich heißt es: »[…] das, was dafür gesorgt hatte, daß ihre Gestalt in Erscheinung getreten war.« Zhuangzi 5.4 »Dechongfu«; vgl. Legge o. J., 278 sowie Watson 1968, 73. 189
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drei wichtigsten Bestandteile, aus denen sich menschliches Leben aufbaut, qi, xuè 血 (Blut) und jing (Essenz) genannt, d. h. Atmosphärisches und Fließendes. 193
Exkurs: hún 魂 und pò 魄 Eine begriffliche Analyse chinesischer Körper- und Leibvorstellungen wäre unvollständig, blieben die Begriffe hun und po ausgespart, zumal sie sich nicht einem Innen oder Außen zuordnen lassen, sondern als Wirkkräfte rein leiblich zu verstehen sind. Beide Zeichen schreiben sich mit dem Sinnelement gui (Totengeist, Dämon), unterscheiden sich also nur durch den lautangebenden Teil: Auch dieser mag auf Inhaltliches verweisen, zumindest im Falle von hun, stellt doch der Lautbestandteil eine Wolke dar, mit der sich das Flüchtige dieser atmosphärischen yang-Erscheinung assoziieren läßt; im Falle von po hat das Lautelement die Bedeutung »weiß«: Als Farbe der Trauer ist mit »weiß« auch die unterirdische Welt der Toten 191
S. das Bild vom Körperleib als Landschaft in: III.2.c. Homann 1971, 21 sowie Ishida o. J. Allerdings scheint die Texte der in den 1970er Jahren ausgegrabenen Fundstätte von Mawangdui (2. vorchristliches Jh.) ein relativ ausgewogenes Verhältnis von tast- und sichtbarem Körper und spürendem Leib auszuzeichnen; vgl. Linck 2006. 193 Unschuld 1990. Vgl. auch die Drei Schätze (sān-bǎo 三寶) aus qi, shen (Geist) und jing (Essenz), ein Begriff, mit dem die spätere chinesische Medizin die wichtigsten Lebensprozesse im Menschen zusammenfaßt. Als Körperleib-Konzept sind sie erstmals im Buch Guanzi genannt: Hertzter 2006, 205. Das Fließende erinnert zugleich an die altgriechische Säftelehre, während das Atmosphärische an das »Bemerken« von ganzheitlichen Eindrücken bei Parmenides denken läßt; vgl. Rappe, »Das Volle ist nämlich die Bemerkung. Zur Ontologie und Erkenntnistheorie des Parmenides und deren außereuropäischen Parallelen«, in: Großheim 1994, 179–19. Beide Sichtweisen wurden in der Folge vom Physiologismus des Alkmaion von Kroton (ca. 500 v. Chr.), vom Festkörpermodell eines Demokrit (574. Jh. v. Chr.) und von der spezifischen Seelenkonstruktion des Platon (427–348 v. Chr.) nach und nach verdrängt; vgl. Schmitz 1980, 28–31. 192
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verknüpft. So sind hun und po als komplementäre Begriffe dem yang bzw. dem Himmel und dem yin bzw. der Erde zugeordnet. Als klassische, und zwar hanzeitliche Belegstelle kann das folgende Zitat aus dem Huainanzi gelten: »Das Himmels-qi ist hun, das Erd-qi ist po.« 194 Darüber hinaus entsprechen hun und po mit ihren graphischen Sinnelementen den Totengeistern shén 神 und guǐ 鬼, die ihrerseits yang bzw. yin zugeordnet sind (s.o). Nicht zuletzt definiert sich das Begriffspaar über shén und líng 靈, wobei shen nicht für den Ahnengeist steht, sondern für die yang-Wirkkraft des Himmels; líng 靈 wiederum ist ein alter Begriff aus der Welt der Magie und des Shamanismus 195 und repräsentiert im yin-yang-Denken die Wirkkraft der Erde (yin). So ergibt sich folgende Zuordnung: yīn guǐ líng pò
陰 鬼 靈 魄
yáng shén shén hún
陽 神 神 魂
Diagramm 3: Zuordnungen von hun und po
Wie shen dringen auch hun und po in den späteren Monaten der Schwangerschaft in den werdenden Menschen ein, verweilen bei ihm sein Leben lang und zerstreuen sich nach dem Tode unabhängig voneinander – ganz wie shen und gui, d. h. analog zu den Wandlungen des qi: Während po sich mit dem tast- und sichtbaren Körper allmählich zersetzt, 196 verweilt hun in der Nähe seiner früheren Heimstatt, um sich irgendwann gleichfalls zu verflüchtigen und zu zerstreuen – ein schönes Bild für die atmosphärische und damit leiblich spürbare Anwesenheit eines Verstorbenen, der uns lieb und nahe war; po und hun sind also erstens untrennbar mit der Individua194
Huainanzi zhuzi suoyin, Kap. 9 »Zhushuxun«, 67. Das älteste Zeichen setzt sich zusammen aus »Regen« + zwei bis drei Mündern und verweist vermutlich auf Regenzauber in Form von Bittgesängen. Das Zeichen bedeutet »Shamane« und ist in seiner heutigen Gestalt bereits im Chuci 楚詞 (Elegien von Chu) aufgeführt, Sammlung von Gedichten und Liedern, die konventionell Qu Yuan 屈原 (3. Jh. v. Chr.), einem Würdenträger am Hofe des Königs von Chu 楚, zugeschrieben werden; vgl. Karlgren 1966, 836.d sowie 836.i, 345–347. 195
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tion des lebendigen Menschen verknüpft; darin unterscheidet sich das Begriffspaar auch von gui und shen, den Totengeistern; zweitens stellen sich beide Wirkkräfte als leibliche Manifestationen der yinyang-Polarität dar. 197 Nun sind yin und yang sehr wohl lokalisierbar, schon durch die Zuordnung zu den Speicher- und Palastorganen; 198 darüber hinaus gliedern sie den Menschen räumlich in vier Dimensionen: yin – innen, yang – außen; yin – vorne, yang – hinten; yin – unten, yang – oben; yin – rechte und yang – linke Seite. Auch po läßt sich in seinen Wirkungen örtlich umschreiben: So sind z. B. die unwillkürlichen Bewegungen der Gliedmaßen, die Hellhörigkeit der Ohren, aber auch das Weinen und Saugen des Neugeborenen alles Wirkungen von po (pò-zhī-yòng 魄之用); hun wiederum steht in der Wortverbindung líng-hún 靈魂 für eine Regung, die wir bis heute als die schöpferische Geisteskraft eines Menschen, seine Phantasie und Auffassungsgabe, seine Sensibilität identifizieren können. 199 Gelegentlich gelten hun und po auch als Manifestationen der Feinstessenz (jing-shen) und sind als solche der Lunge (po) und der Leber (hun) zugeordnet. 200 Die Vorstellung, daß hun und po sich nach dem Ableben des Betreffenden trennen, führte schon früh dazu, daß die Erfahrung von Traumreisen in diesen Begriffen erklärt wurden: hun löst sich im Traum vom Körper und wandert umher. Zu Beginn der frühen Kaiserzeit änderten sich die Inhalte von hun und po auf zweifache Weise: Erstens, aus der Zweisamkeit wur196
Die abendländische Vorstellung, daß im Körper, nachdem die Seele ihn verlassen hat, noch Reste von Lebenskraft zurückbleiben, bis der Körper zu Staub verfällt, ist Grundlage des weit verbreiteten Eingeweidezaubers; dabei kommt es darauf an, sich die restliche Lebensenergie des Toten nutzbar zu machen; vgl. Bargheer 1931,7. 197 Es mag mit der Lautarmut der chinesischen Sprache und der damit verbundenen Gleichlautung zusammenhängen, daß im Chinesischen die Begriffe eines Begriffspaares immer in ein- und derselben Reihenfolge auftreten, auch wenn die Logik der Zuordnung es anders verlangen würde: So heißt es immer hun-po und immer yin-yang, obwohl hun dem yang angehört und po dem yin zugeordnet ist. 198 S. Tabelle in III.2.a. 199 Zhu, Wenfang 1987 u. a., 23 ff. Die Wortverbindung steht in der modernen chinesischen Hochsprache auch (dualistisch?) dem tast- und sichtbaren Körper, der Materie gegenüber und wird dann mit »Seele« und »Geist« übersetzt.
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de eine Vielgestaltigkeit, die nunmehr aus Drei hun und Vier sowie Sieben po bestand; zweitens unterschieden sie sich nunmehr durch entgegengesetzte Bestrebungen. Hier wiederholte sich der Antagonismus, der schon am Begriffspaar shen-gui aufgefallen war. 201 Die Vervielfältigung von hun und po ging mit einer Personalisierung und Visualisierung Hand in Hand und kennzeichnet vor allem diejenigen Texte der Frühen Kaiserzeit, die im Daozang, dem daoistischen Kanon, enthalten sind. Hier stellen sich die Drei hun als wohlmeinende Wesen dar, die Sieben po hingegen als ganz ungemütliche Gesellen und hinterhältige Dämonen (gui), wie die w. u. folgende Abbildung 2 veranschaulicht: Alle Sieben po warten nur darauf, daß der Mensch in seiner Achtsamkeit nachläßt, um dessen Ende zu beschleunigen und selbst, so schnell wie möglich, in die dunkle Erde zurückzukehren, der sie entstammen. Philosophisch gesprochen arbeiteten die Vier bzw. Sieben po ganz offensichtlich an der Auflösung der Individualität. Dabei gingen ihnen die sogenannten Drei Leichname (sān-shī 三 屍) zur Hand, die man sich ebenso gut als Drei Würmer (sān-chóng 三虫) vorstellte. 202 Auch diese schädigenden Wirkkräfte waren leiblich fundiert und als Regungsherde örtlich umschrieben: So nisteten sich die Drei Leichname in den drei Lebenszentren ein, die sich jeweils im Kopf, in der Brustgegend und im Rumpf des Menschen befinden, d. h. in den lebenskräftigen Zinnoberfeldern (dān-tián 丹 田). 203 Dort standen sie wiederum für menschliche, allzu menschliche Bestrebungen, wie die Gier nach materiellem Wohlstand, nach Völlerei und Wollust. Auch die Sieben po symbolisieren leibliche Regungen, die zwar nicht weiter präzisiert sind, die wir uns aber ebenso verwerflich wie lebensbeeinträchtigend ausmalen können. Ihre bildliche Darstellung und die dazugehörigen Namen sprechen für sich: Hundekadaver, Schlabberpisse, Vogelpenis, Klebriger Dieb, Fliegender Fisch, Drecks[kerl] und Stinkende Lunge. 204 Die w. o. schon gestellte Frage nach dem Warum und Woher 200
Ishida 1982, 3, Sakade 1985, 3 sowie Veith 1972, 23. S. I.2.c (1); vgl. auch Seiwert 1983 sowie Strickmann 2005. 202 Ein Konzept der Dämonenmedizin; vgl. etwa Sakade 1985 sowie van Straten 1983; s. auch III.2.c. 203 Vgl. den Sitz der Chakren in der indischen Anthropologie: Ajna-Chakra oder 201
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dieses Antagonismus 205 ist nicht eindeutig zu beantworten: Er mag mit der Auferstehung des altchinesischen Dämonenglaubens zusammenhängen oder mit dessen Überformung durch buddhistische Höllenvorstellungen zu tun haben; auch ist es möglich, daß bestimmte gesellschaftspolitische Entwicklungen ihren Anteil daran hatten: So wurden mit der Reichseinigung und der Erweiterung des Friedensgebietes im Inneren die Grenzen zwischen Innen und Außen schärfer gezogen, und es entstand ein klares Feindbild an den Rändern des Reiches, zumal die nördlichen Steppennomaden gerade in dieser Zeit den Chinesen besonders zu schaffen machten. Vor allem die xiōng-nú 凶奴 prägten dieses Feindbild nachhaltig. 206 Nach dem Zerfall des Reiches im 3. Jahrhundert n. Chr. herrschten ohnehin chaotische Zustände: Sehen wir von dem Zwischenspiel einer neuerlichen Reichseinigung durch die Jin 晉-Dynastie (220–265) einmal ab, so war China bis Ende des 6. Jahrhunderts innerlich zerrissen, von Kriegen geschüttelt und von zahlreichen, temporären Fremdherrschaften besetzt: Das Leben war aufs Höchste unsicher, immer bedroht und im allgemeinen von ziemlich kurzer Dauer. 207 Nicht zuletzt einen Blick auf die Interpretation von hun und po, die in Anlehnung an den Ethnologen Wilhelm Wundt (1832–1920) in der westlichen Literatur üblich ist; und zwar erscheint im allgemeinen für hun: »Hauchseele« und für po: »Körperseele«. Gelegentlich wird hun auch mit »Atemseele« und po mit »Vital- oder Erdseele« übersetzt. 208 Diese Übertragungen entstammen dem Konzept des Animismus, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Völkerkunde in Mode kam. Damals glaubten die Ethnologen, bei allen sogenannDrittes Auge; das Anahata-Chakra oder Herz-Chakra und das Manipura-Chakra oder Sonnengeflecht. 204 Eine eindrucksvolle Abbildung findet sich in Levi 1989, 112–21. 205 S. I.2.c (1). 206 Die xiongnu werden häufig fälschlich als die »Hunnen« bezeichnet; mit Sicherheit waren sie keine Hunnen, haben aber möglicherweise an den Völkerwanderungen mitgewirkt, welche die Hunnen dann vor die Tore Europas brachten; vgl. Linck 1995, 271 Anm. 22. 207 Gernet 1979, 150 ff.
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ten Naturvölkern die Vorstellung von einer Art innerem Doppelgänger entdeckt zu haben. Dieser löse sich in Traum-, Ohnmachtsoder ekstatischen Zuständen von seiner körperlichen Behausung, um in fernen Weltengegenden herumzuirren und sich dadurch in höchste Gefahr zu bringen. Nun kennt China seit vorchristlicher Zeit einen Ritus, der die Animismusthese zu bestätigen schien: das zhāo-hún 招魂, das Zurückrufen von hun. Man befürchtete bei Krankheit, daß der »Lebensgeist« des Betroffenen sich vor der Zeit davonmachen könnte. Auch bei Eintritt des Todes versuchte man, hun schleunigst ins Leben zurückzurufen. Dies geschah z. B., als sich Qu Yuan 屈原 (3. Jh. v. Chr.), ein Dichter und halblegendärer Minister aus dem Staate Chu, wegen politischer Intrigen in den Fluß gestürzt hatte, um aus dem Leben zu scheiden. 209 Da die Gedichtsammlung des Qu Yuan zu einem Kultbuch der chinesischen Elite wurde, ist der Ritus des zhao-hun aus jener Zeit auf uns gekommen, und zwar in Form eines Gedichtes. Demnach ist der Neffe des Qu Yuan bemüht, den Onkel mit Hilfe einer Schamanin ins Leben zurückzuholen: »Da unten ist ein Mensch, dem wünsche ich zu helfen; sein hun und po haben sich zerstreut (sàn 散) […]! Oh, hun, kehre zurück! Du hast deinen gewohnten Stamm (gān 干) verlassen. Was treibst du dich in den Vier Weltengegenden herum? Du hast deine heitere Heimstatt (chù 處) aufgegeben um anderer unglückverheißender Orte willen!« 210
Nach der anschaulichen Schilderung der schrecklichen Ungeheuer und Gefahren, die in den einzelnen Himmelsrichtungen auf hun lauern, erfolgt wiederholt die eindringliche Beschwörung zurückzukehren: »Unsicher umherirrend hast Du nichts, worauf du Dich stützen kannst. Die große Weite (gǔang-dà 廣大) hat keine Begrenzung! Kehre zurück, kehre zurück […], steige Du nicht zum Himmel empor!« 211 Dieser Ritus, den der Missionar de Groot ganz ähnlich noch fürs letzte Jahrhundert beschrieb, 212 läßt sich leiblich erklären, ohne das 208 209 210
Vgl. Steininger 1953. S. w. o. Anm. zum Shamanismus. Übs. Erkes 1914, 14.
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animistische Konzept von der Beseelung aller Dinge und Wesen zu bemühen: Die moderne Ethnologie ist ohnehin davon abgerückt: hun steht hier eindeutig für die Lebenskraft des Betreffenden, die – ungebunden – in Todesgefahr gerät. Die zitierte Klage des Neffen schildert eine leibliche Erfahrung, die jedem von uns vertraut ist: die Entgrenzung aus der Enge des körperlichen Leibes heraus, das SichVerlieren in Weite, das wir beim Einschlafen oder beim Träumen täglich erleben. Auch die gefürchtete Autobahn-Trance ist ein Beispiel für eine solche Entgrenzung oder Ausleibung. Im Grunde geschieht dabei nichts anderes als eine im allgemeinen vorübergehende Dissoziation der leiblichen Ökonomie, die im Wachzustand sehr wohl die Mitte zu halten vermag zwischen Engeund Weiteimpulsen. 213
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Ebd. 20. Ders. 1892/1989, vol. I, 243 ff.; vgl. auch folgende Schilderung, die zeigt, daß noch Anfang dieses Jahrhunderts Krankheitszustände damit erklärt wurden, daß sich hun, hier »Seele« genannt, vorübergehend davon gestohlen hatte: Lockhart (Arzt und Missionar in China) erzählt, daß er eines Abends in einer Straße einen Mann vor der Tür eines Hauses stehen sah, der in Abständen eine Laterne über seinem Kopf hin und her bewegte und dabei mit lauter Stimme etwas rief. »Auf seine Frage, warum der Mann das tue, bekam Lockhart zur Antwort, daß das Kind des Mannes an Fieber leide und deliriere und daß dies daher komme, weil die Seele des Kindes verschwunden sei. Das Rufen des Mannes und das Schwenken mit der Laterne bezweckten, daß die Seele auf das Licht zueilen und auf diese Weise wieder zu dem Kind gelockt werden sollte.« (Kleinweg und Zwaay, Völkerkundliches bei den Japanern und Chinesen, Haarlem 1917, 52. Zeitgenössische Filme aus Taiwan und Japan thematisieren gerne das anhaltende Herumwesen von hun nach dem Tode in Gestalt eines Schmetterlings, der wiederum dem Zhuangzi entnommen sein mag (s. I.1.a), z. B. Hudie 蝴蝶 (Soul of a Demon) von Chang, Tso-chi 長作驥, Taiwan 2008; Dietsche, Taiwanweseness. Situativ fluide Identitäten im Post Taiwan New Cinema, Norderstedt (Books on Demand) 2010, 193 und 223–224. 213 Schmitz 1990, 151–153. Zur leiblichen Ökonomie, Einleibung und Ausleibung; s. Anhang 1. 212
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Abb. 2: Drei hun und sieben po 214
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Hunpotu 魂魄圖 ca. 1615 aus Needham 1985 ff., vol. V, 91.
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Am Schluß dieses Exkurses zu hun und po folgt eine weitere Abbildung. Der dazugehörige Text veranschaulicht, daß mit fortschreitender Begriffsgeschichte durchaus nicht zwangsläufig eine Präzisierung der Inhalte verbunden war. Das Bild zeigt die Drei hun und Sieben po als personalisierte Wesen, die hier übrigens nicht in gutund bösartige Körper- und Leibgottheiten aufgespalten sind. Vielmehr scheinen sie einvernehmlich eine Vollversammlung abzuhalten, um die entscheidenden Leibbegriffe zu definieren. Der Begleittext selbst belegt noch in der Späten Kaiserzeit, daß hun und po im Grunde leibliche Wirkkräfte darstellen und mit anderen Wirkkräften zu einem Netz verwoben sind. »hun ist die shen-[Wirkkraft] von qi und kennt Klares (qīng 清) und Trübes (zhuó 濁). Bei dem durch Mund und Nase bewirkten Ausatmen (hū 呼) und Einatmen (xī 吸) gilt Ausatmen (hu) als yang und als Weitung (shēn 伸), während Einatmen xi als yin und als Engung (qū 屈) gilt. 215 po ist die shen-[Wirkkraft] der Essenz (jing) und kennt Leere (xū 虛) und Fülle (shí 實). Beim Sehvermögen der Augen gilt das Sehen als Leuchtkraft (míng 明) des yang; beim Hörvermögen der Ohren gilt das Hören als Wirkkraft (líng 靈) des yin. Die yang-Kraft (yang-shen) visualisiert die hun–(Geister); die yin-Kraft (yin-shen) visualisiert die po–(Geister), die in ihrem Verhältnis zueinander wie die [unterschiedlichen] Räume eines Hauses (shì-zhái 室宅) sind. Am Lebendigen wirkt das essentielle qi 216; auf den Tod hin wirken hun und po. Das, was Himmel und Erde gemeinsam haben, sind Geister und Götter (guǐ-shén 鬼神).« 217
Unabhängig von den wechselseitigen Wirkungen fallt uns zweierlei auf: erstens, daß hun, das im allgemeinen dem Himmel, yang und damit dem Klaren zugeordnet wird, offensichtlich sehr wohl auch trübe sein kann – ein Zustand, der in Übereinstimmung mit der Polarität im allgemeinen dem yin, der Erde und damit po zugeschrieben wird. Analog kennt po die Polarität von Fülle und Leere, obwohl die Leere im allgemeinen dem yang und damit hun ent215
Die chinesischen Begriffe für »Sichstrecken« und »Sichkrümmen« entsprechen der leiblichen Dynamik von Weitung und Engung; s. o. sowie Anhang 1. 216 Chin. jīng-qì 精氣. 217 Text zum Xingming guizhi 性命圭旨; vgl. Needham 1985 ff., vol. V, 91.
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spricht. Das kann nur bedeuten, daß hun und po jeweils noch einmal in sich in yin- und yang-Aspekte differenziert werden können, so wie auch eine Frau, ein yin-Wesen, und ein Mann, ein yang-Wesen, beide gleichermaßen yin- und yang-Aspekte auf sich vereinigen. Zweitens heißt es, hun und po verflüchtigten sich beim Tode eines Menschen, und zwar hun himmelwärts, während po noch eine Weile beim Leichnam verharrt, bevor es sich gleichfalls auflöst und als yin-Aspekt zur Erde zurückkehrt. Wenn dieser Text nun behauptet, daß hun und po gleichermaßen auf den Tod hinarbeiten, dann kann das nur eins besagen: Die leiblichen Wirkkräfte, welche die Individuation des betreffenden Menschen ausprägen, sind auf Dauer auch an der Auflösung des Individuums beteiligt. Auch uns ist dieser Gedanke vertraut, daß das Leben von Anfang an den Keim des Todes in sich trägt. Fassen wir die Analyse der chinesischen Körperleibbegriffe zusammen: Der Außenseite des Menschen zugeordnet und zugleich sichtund tastbare Körperaspekte sind xíng 形 (Gestalt), tǐ 體 (Körperleib) und shēn 身 in seiner allerdings seltenen Bedeutung »Rumpf«. Auf der Innenseite sind als spürbare Lebenskraftaspekte außer dem Herzen (xīn 心), shén 神 (Lebenskraft, Bewußtsein, Geisteskraft), jīng 精 (Essenz) und zhì 質 (Wesensbeschaffenheit) angesiedelt. Bei aller Differenzierung werden diese Aspekte doch als Einheit wahrgenommen. Die Außen-Innen-Differenz entfällt ganz bei shēn 身, dem chinesischen Begriff schlechthin für »Leib« bzw. Gesamtpersönlichkeit, sowie bei hún 魂 und pò 魄, denn alle drei Konzepte gehören zum leiblichen Spüren und stehen damit für die Ganzheit des Menschen. Unter dem Einfluß des (Mahayana-)Buddhismus dringen altindische dualistische Konzepte ein und schlagen sich sprachlich mit eindeutiger substantiell gemeinten Körperbegriffen in Übersetzungen nieder: wie ròu-tǐ 肉體 (ti aus Fleisch), gǔ-ròu 骨肉 (Knochen und Fleisch), xùe-ròu-zhi-tǐ 血肉之體 (ti aus Blut und Fleisch) oder auch shen-tǐ- fà-fū 身體髮膚 (Körperleib-Haar-und-Haut) oder bǎigǔ-jiǔ-qiào 百骨九竅 (Hundert-Knochen-und-Neun Körperöffnungen). Auch zeichnete sich in der Frühen Kaiserzeit in den Begriffspaaren shen und gui sowie hun und po eine antagonistische Entwicklung ab, so daß neben Göttern-und-Geistern (shen-gui) 97 https://doi.org/10.5771/9783495860182 © Ver
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nunmehr gutwillige (shen) und böswillige (gui) Totengeister ihr Wesen trieben. Analog differenzierten sich Sieben po heraus, die auf den raschen Tod ihres menschlichen Wirtes hinarbeiteten.
3. Die Selbstermächtigung des Herzens xīn 心 218 Keinem leiblichen Regungsherd ist so viel Beachtung zuteil geworden wie dem menschlichen Herzen. Im Kulturvergleich stellt es sich so vielseitig dar, daß z. B. »herz-los«, je nach Kultur und Kontext: gefühllos, absichtslos, furchtsam oder unvernünftig besagen kann. 219 Auch dem chinesischen Herzen kommen fast alle diese Bedeutungen zu. Nun ist das Herz, chin. xīn 心, nicht nur ein leiblicher Regungsherd par excellence. An seiner Begriffsgeschichte läßt sich darüber hinaus eindrucksvoll veranschaulichen, wie Polarität in Antagonismus, wie Einheit in Spaltung umschlagen konnte. Von Beginn der schriftlichen Überlieferung an wurde dem Herzen in China – neben den Gefühlen – die Fähigkeit zur Einsicht in kosmische und moralische Zusammenhänge zugeschrieben; so war es auch von Anfang an prädestiniert, zwischen einander widerstrebenden Regungen auszugleichen, vor allem, wenn Gefühl und Begehren den Menschen in Wallung versetzten und moralisch vernünftige Einsicht geboten schien. Daraus erwuchs dem Herzen eine Doppelfunktion: Da es sensibler und heftiger reagierte als alle anderen Regungsherde, siedelten zumindest die Philosophen dort Gefühl und 218
Die beiden letzten Kapitel dieses Ersten Teils, die das Herz in den Mittelpunkt einer eingehenden Betrachtung rücken, beruhen im Wesentlichen auf meiner Antrittsvorlesung in Kiel im Februar 1991; dies erklärt den eher »mündlich-lockeren« Stil dieser Ausführungen. Etwas abgewandelt erschienen sie in dem von Berkemer und Rappe 1996 herausgegebenen Sammelband. Zum Konzept der Selbstermächtigung s. Anhang 1. 219 Zum Herzen in der europäischen Kulturgeschichte vgl. Schipperges 1989; zum Herzen im Kulturvergleich vgl. Berkemer/Rappe 1996 sowie Dr. Karl Thomae (Hg.), Das Herz im Umkreis des Denkens. Biberach/Riss 1969; s. auch Eichhorn 1969 sowie Bargheer 1931, 28–57.
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Emotionen 220 an; die chinesische Medizin hingegen machte die Zentrierung 221 der Gefühle nicht mit, hielt vielmehr an der Vorstellung von einem »Konzert leiblicher Regungsherde« (Schmitz) fest; zugleich zeichnete sich von Anfang an das Herz vor allen anderen Regungsherden aus: als Instanz des Bewußtseins, der Urteilsfähigkeit, des Willens, der Erinnerung und der Selbstkontrolle. 222 Auf Anhieb lassen sich drei Etappen auf dem Weg vom ungeteilten zum gespaltenen Herzen erkennen: a) das Herz als Lehrer im frühen Daoismus; b) das Herz als Fürst im Buch Xunzi. Mit der Entstehung des zentralisierten Kaisserreiches erfuhr das Herz analog zum Kaiser an der Spitze des Reiches einen auffallenden Machtzuwachs und tritt nicht von ungefähr als ein Herrscher (zhǔ 主) die dritte Wegstrecke seiner Begriffsgeschichte an. Diese letzte Etappe überdauert im Grunde die gesamte Kaiserzeit, wobei die Mittlere Kaiserzeit den Höhepunkt markiert in der Entwicklung c) der Herrscher- und Kampfmetapher. a) Das Herz als Lehrer Wenn den frühen Daoisten die Differenz zwischen der Welt der Menschen und einer Welt des dao zu schaffen machte, dann, weil dem eine schmerzvolle Erfahrung vorausgegangen war: der Verlust der Einheit des Menschen mit Welt und Natur. 223 Das war der Sündenfall aus daoistischer Perspektive. Die Philosophen dieser Richtung machten dafür die auswuchernden Zivilisationserscheinungen ihrer Epoche verantwortlich. 224 So erschien ihnen der Beginn menschlicher Gesellung als das verlorene Paradies, ebenso wie das Säuglingsalter den Heils-Zustand symbolisierte: »Zu jener Zeit der höchsten Gestaltungskraft (dé 德) war das Wandeln 220
Zum Unterschied zwischen Gefühl und Emotion s. II.2.a. S. Anhang 1. 222 Auch in der volkstümlichen Tradition Europas gab es offenbar Vorstellungen vom Herzen als Sitz des Denkens, bevor eine spätere Zeit das Denken in den Kopf verlegte; vgl. Bargheer 1931, 16. 223 S. Dritter Teil. 224 Roetz 1984. 221
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der Menschen gefestigt und ihr Blick gerade. Zu jener Zeit führten keine Wege über die Berge noch Boote und Brücken übers Wasser. Die Zehntausend Wesen und Dinge gediehen miteinander […]. Alle lebten in gleicher Unwissenheit, und ihr de verließ sie nicht. In gleicher Weise frei von Begehren, waren sie rein und unverdorben zu nennen.« 225
Die auf die frühe Kindheit bezogene Stelle im Daodejing findet sich im Vers 55: »Wer die Fülle des de in sich birgt, gleicht dem Säugling Wespen, Skorpione, Nattern und Schlangen stechen ihn nicht Das Raubtier schlägt ihn nicht, der Raubvogel hackt ihn nicht […] Ungeschwächt in ihm ist der Einklang.« 226
Wen wundert es, wenn die frühen Daoisten auf der Suche waren nach der verloren geglaubten Einheit mit der Welt. Indem Laozi 老子 das vorbewußte Dahingleiten des Säuglings als vorbildlich beschwor, forderte er die Menschen auf, »zu werden wie die Kinder«. 227 Zhuang Zhou (4./3. Jh. v. Chr.) wiederum vertraute nicht zuletzt auf die meditative Schau als Weg der Rückkehr in primitive Gegenwart im Sinne der Selbstvergessenheit. 228 Die Meditation, das Sitzen und Vergessen (zuò-wàng 坐忘), war vor allem eine Angelegenheit des menschlichen Herzens. Nun stellte Zhuang Zhou aber fest, daß jenes Etwas mitten in der Brust des Menschen sich zunächst in nichts von den anderen leiblichen Regungsherden unterschied: Alle Sechs Speicher (liù-zàng 六臟) – so nannte man Herz, Leber, Milz, Lunge, Niere und Schicksalspforte (mìng-mén 命門) 229 – müssen bei Ablauf der Lebensspanne zusammen mit den Hundert Knochen (bǎi-gǔ 百骨) und den Neun Kör225
Zhuangzi, 9.2 »Mati«; vgl. Legge o. J., 325–326 sowie Watson 1968, 105. Vgl. Legge o. J., 147. Übs. in Anlehnung an Schwarz 1980, 105. 227 Obwohl die Historizität eines Verfassers mit dem Namen Laozi höchst unwahrscheinlich ist, wird im vorliegenden Buch gelegentlich der Einfachheit halber auch von Laozi als Autor des Daodejing die Rede sein. Zur Seinsweise des Säuglings vgl. Vers 55; Schwarz 1980, 105, Simon 2009, 168–169. 228 Kapitel 2, 4 und 6, 11 im Buch Zhuangzi. S. auch III.1.a (2). 229 Die Resonanzmedizin macht daraus Fünf Speicher (wǔ-zàng 五臟) und Sechs Paläste (liù-fǔ 六腑) (s. III.2.a); sie unterschlägt also die Schicksalspforte, die anatomisch ohnehin umstritten war; s. auch III.2.b. 226
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peröffnungen (jiǔ-qiào 九竅) vergehen. 230 Wer jedoch in der Lage sei, sein »Herz zu leeren« (xū-xīn 虛心), und zwar von allen emotionalen Wallungen und willentlichen Bestrebungen, dem sei ein »vollkommenes Herz« (chéng-xīn 成心) gewiß. Andere Ausdrücke im Buch Zhuangzi für das Herzleeren sind das »Herzstillen« (jìngxīn 靜心) und das »Herzfasten« (xīn-zhāi 心齋) 231: Nur ein leeres und stilles Herz oder ein Herz, das fastet, vermochte demjenigen ein Lehrer zu sein, der bereit war, in den Zustand des dao zurückzukehren, wo die Dinge noch nicht bzw. nicht mehr geschieden sind: »Wer seinem [eigenen] Herzen gegenüber wahrhaftig ist und daraus sein Urteilsvermögen schöpft, der wird [in ihm] einen Lehrer (shī 師) haben.« 232 Zhuang Zhou unterschied also zum einen das Herz, das der Welt und ihren Verstrickungen ausgeliefert war; zum anderen das Herz als Geistes- bzw. Bewußtseinkraft, die in meditativem Spüren versunken dem differenzierenden Wachbewußtsein zu entkommen versuchte. 233 Die Undifferenziertheit, mit anderen Worten der Zustand chaotischer Mannigfaltigkeit 234, ist im Buch Zhuangzi sehr schön im Gleichnis vom Ungeschiedenen veranschaulicht: »Der Herr des Südmeeres war der Hastige; der Herr des Nordmeeres war der Unachtsame; der Herr der Mitte war der Ungeschiedene. Der Hastige und der Unachtsame trafen sich zuweilen im Lande des Ungeschiedenen, und der Ungeschiedene behandelte sie äußerst zuvorkom230
Die Hundert Knochen und Neun Körperöffnungen stehen hier als pars pro toto für den tast- und sichtbaren Körper, s. I.2.b. 231 Z. B. Zhuangzi, Kap. 4.2 »Renjianshi«; vgl. Legge o. J., 256–257. Herzfasten bedeutet, dem Herzen keine Nahrung zu geben in Form von Außenreizen über die Sinne. 232 Zhuangzi, Kap. 2.3 »Qiwulun«; vgl. Legge o. J., 229. An anderer Stelle verwendet Zhuang Zhou den Begriff jūn-zi 君子(Fürst) allerdings als Metapher für eine ursprüngliche Antriebskraft, das dao: Auch in diesem Zitat ist letztlich das dao der Lehrer bzw. Meister (shi), der demjenigen den Weg weist, der um Wahrhaftigkeit bemüht ist; vgl. Legge o. J., 227–229. 233 Die im Zhuangzi angelegte Differenzierung zweier verschiedener Herzensbestrebungen kehrt in einer ganz anderen Schärfe als Antagonismus und Spaltung in spätkaiserzeitlichen Meditationsanweisungen wieder, z. B. in dem von Wilhelm, R. und C. G. Jung übersetzten Buch Das Geheimnis der Goldenen Blüte; s. w. u. I.3.c. 234 Vgl. Schmitz 1990, vor allem 67–71; s. Anhang 1.
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mend. Also überlegten der Hastige und der Unachtsame, wie sie des Ungeschiedenen Freundlichkeit vergelten könnten, und sprachen: ›Die Menschen haben alle sieben Öffnungen zum Sehen, Hören, Essen und Atmen […]. Er allein hat keine. Wir wollen versuchen, sie ihm zu bohren.‹ So bohrten sie ihm täglich eine Öffnung, und am siebten Tag war der Ungeschiedene (hún-dùn 渾沌) tot.« 235
So läuft also die Aufforderung, das Herz zu leeren, zu stillen oder mit dem Herzen zu fasten, darauf hinaus, die Sinnesöffnungen zu verschließen, damit das lebendige leibliche Spüren desto ungestörter möglich sei; die Fülle der Sinnesreize hingegen käme – so gesehen – einer Überwältigung gleich, denn »am siebten Tag war der Ungeschiedene tot«. Auch im Daodejing ist mehrmals die Aufforderung ausgesprochen, die Sinne zu verschließen. 236 Dazu gehört auch das Schweigen 237 als Voraussetzung für die meditative Verschmelzung mit dem dao, die im Vers 56 mit xuán-tóng 玄同, der dunklen Gemeinsamkeit, umschrieben ist: »Der Wissende redet nicht, der Redende weiß nicht, verstopft seinen Mund, verschließt das Tor, [durch das er spricht]. Entwirrt die Verwirrungen, eint den [Viel]glanz gemeinsam im Staube. Dunkle Gemeinsamkeit (xuán-tóng 玄同) sei dies genannt […].« 238
235
Kap. 7.7 »Yingdiwang«; vgl. Legge o. J., 314 ff.; Watson 1968, 97; Wilhelm, R. 1992, 99–100; hún-dùn 渾沌 oder auch hùndùn 混沌 bedeutet das Urchaos vor jeder Differenzierung. CY 0994.4 236 Z. B. Vers 12; Daodejing, Legge o. J., 103, Schwarz 1980, 62, Simon 2009, 40– 41. 237 Eine aufschlußreiche systemtheoretische Untersuchung zum Schweigen in der (zen-buddhistischen) Meditation findet sich in Luhmann/Fuchs 1997, 46–69. 238 Daodejing, Vers 56; vgl. Legge o. J., 148; übs. in Anlehnung an Schwarz 1980, 106; vgl. auch Simon 2009, 172–173 sowie Wagner 2006, 307–309, Gerstner o. J. mit ausführlichen Textvergleichen, 281–285.
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b) Das Herz als ein Fürst Hegten die frühen Daoisten All-Einheitswünsche, so waren Konfuzius (551–479 v. Chr.) und seine Anhänger sehr viel mehr den Herausforderungen des Diesseits zugewandt: »Fan Chi 樊遲 fragte, was Weisheit sei. Der Meister sprach: Seine Pflicht erfüllen gegenüber den Menschen; Geister und Götter (guishen) ehren und ihnen doch fern bleiben, das mag man Weisheit nennen.« 239
»Seine Pflicht erfüllen«, war dann auch die Devise seiner Nachfolger: Mengzi (372–289 v. Chr.) und Xunzi (298–238 v. Chr). Beide Philosophen stimmten darin überein, daß dem Herzen als Instanz der Selbstkontrolle dabei eine besondere Funktion zukäme; ansonsten vertraten sie eher gegensätzliche Positionen, denn Mengzi war der Meinung, der Mensch sei von Natur aus gut (rén-xìng-shàn 人 性善); Xunzi behauptete hingegen, der Mensch sei von Natur aus – als ein Bündel aus vielerlei Begehren – schlecht (rén-xìng-è 人性 惡). 240 Vor allem die Position des Xunzi verlangte geradezu eine Machtweiterung des Herzens als diejenige Instanz, die für Einsicht und Selbstkontrolle zuständig war. Xunzi entwickelte seine Argumente im Kontrast zu denen des Mengzi, so daß es sinnvoll erscheint, beider Anschauungen nacheinander zur Sprache zu bringen 241 – umso mehr, als sich die Neokonfuzianer mehr als tausend Jahre später Mengzis Herzverständnis zu eigen machten. Mengzi 242 veranschaulichte seine Position mit der Geschichte von einem Kleinkind, das in den Brunnen fällt; oder anders gesagt, mit der Behauptung, daß jeder beliebige Mensch, der Zeuge eines solchen Unfalles ist, selbstverständlich und ohne weitere Überlegung das Kind aus dem Brunnen retten würde. Spontan habe 239
Lunyu 6.22, Zhuzi jicheng Bd. 1, 126; vgl. Wilhelm, R. 1985, 78. S. II.2.b. 241 Geht es hier um das Verhältnis von menschlicher Natur und Vernunft bzw. Moral, so wird die Kontroverse in II.2.a und b noch einmal aufgegriffen unter dem Aspekt des Verhältnisses von menschlicher Natur und Emotionen. 242 Ein Vergleich der Herzvorstellungen im Zhuangzi und Mengzi findet sich in Enzinger 2002. 240
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nämlich jeder ein mitleidvolles Herz (cè-yǐn-zhī-xīn 惻隱之心). 243 Das mitleidvolle Herz galt ihm geradezu als das Kriterium, das den Menschen vom Tier unterscheidet: »Wie wenig ist das, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Die Masse geht darüber hinweg, der Edle hält es fest.« 244
Neben dem Mitleid zeichnete sich das Herz Mengzi zufolge durch drei weitere spontane Bestrebungen aus: Scham (kuì 愧), bescheidene Zurückhaltung bzw. Nachgiebigkeit (cí-ràng 辭讓) und die Einsicht in Gut und Böse (shì-fēi 是非). Diese Vier Herzensbestrebungen (sì-duàn 四段) seien dem Menschen wie die Vier Gliedmaßen (sì-tǐ 四体) von Natur aus angeboren. 245 Folgerichtig wollte Mengzi sein Herz nicht leeren oder stillen wie die frühen Daoisten. Auch wollte er seine Natur nicht durch eine Intervention des Herzens regeln (zhì 治), wie das Xunzi fordern sollte. Ihm genügte es, sein Herz zu düngen (féi-xīn 肥心), um die natürliche Veranlagung voll zur Entfaltung zu bringen, so wie der Bauer sein Feld düngt, um den Ertrag zu steigern. Auch die anderen Sprachbilder, mit denen Mengzi sein Anliegen erläuterte, zielten auf Unterstützung der angeborenen guten menschlichen Natur: das Nähren des Herzens (yǎng-xīn 養心), das Erweitern-und-Auffüllen des Herzens (kuòchōng 括充), das Bewahren des Herzens (liú-xīn 留心); denn so, wie es ist, entsprach es Mengzi zufolge dem Göttlich-Numinosen, dem Himmel (tiān 天) und dessen Auftrag an den Menschen (tiānmìng 天命) und war somit gut: »Wer sein Herz ergründet, der kennt seine menschliche Natur; wer seine menschliche Natur kennt, der kennt den Himmel […]. Wer sein Herz bewahrt und seine menschliche Natur nährt, dient dem Himmel (shì-tiān 事天).« 246 243
Von ce (schmerzen) und yin (verschwommendes unangenehmes Gefühl, Schmerz); Mengzi, Buch II »Gongsunchou« 1,6; vgl. Legge 1991, vol. I-II, 202 sowie Wilhelm, R. 1982, 74; s. auch II.3. 244 Mengzi, Buch IV »Lilou« 2.19; Legge 1991, 325; vgl. Wilhelm, R. 1982, 127; s. II.3.b. 245 Mengzi, Buch II, »Gongsunchou« 1.6; vgl. Legge 1991, 203. 246 Mengzi, Buch VII »Jinxin« 1.1; vgl. Legge 1991, 448–449; vgl. Wilhelm, R. 1982, 184.
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So sah Mengzi das Herz als Sachwalter einer verbindlichen, weil jenseitigen, moralischen Autorität: Das Herz als besseres Wissen (liǎng-xīn 良心, wörtl. das gute Wissen) steht heute noch für das menschliche Gewissen als Restinstanz einer moralischen Macht, die einst als göttlich-numinose Atmosphäre erfahren wurde. Mengzis Herzensbestrebungen werden in deutschen Übersetzungen im allgemeinen als Tugenden qualifiziert. Nun zielt das Wort Tugend in unserem Sprachgebrauch auf eine verinnerlichte Charaktereigenschaft und damit im Grunde an Mengzis Verständnis vorbei: Alle vier Herzensbestrebungen sind nämlich relationale Verhaltensweisen 247, d. h. Wirkungen zwischen den Menschen und als solche (moralische) Atmosphären. Xunzi wiederum begann damit, die Himmelsmacht tiān 天, von der Mengzi sich noch betroffen fühlte, gründlich zu demontieren: »Das Walten der Natur (tiān 天) hat seine Stetigkeit. Sie existiert weder um des Yao 堯 willen, noch vergeht sie wegen Jie 桀!« 248 Yao und Jie, zwei legendäre Herrschergestalten, von denen Yao als vorbildlich galt, während Jie den Gegentypus des Tyrannen verkörperte, 249 dienten dem Xunzi hier zur Veranschaulichung seiner Überzeugung, daß tian unbekümmert um Moral und Unmoral der Menschen agiere. So verstand er, anders als Mengzi, tian als eigengesetzlich wirkende Natur. 250 Der Mensch schafft sich in der Auseinandersetzung mit der Natur zugleich seine eigene Welt. Natur (tian) und menschliche Kultur (wén 文) sind Xunzi zufolge zweierlei. Auch am Menschen unterschied Xunzi das Angeborene (tian) Analoges gilt für das chinesische dé 德, das aus eben diesem Grunde besser mit »Gestaltungskraft« zu übersetzen ist. Auch die ursprüngliche Bedeutung unseres Wortes »Tugend« verweist auf »Kraft« (Kluge 1960, 796) – eine Bedeutung, die noch in den entsprechenden englischen (virtue) und französischen Wörtern (vertue) anklingt. 248 Xunzi jijie, Kap. 17 »Tianlun«, 306–307; vgl. Knoblock 1994, vol. III, 14. 249 Vgl. Gernet 1979, 90. 250 Es ist auffallend, daß vor Ausbildung der frühchinesischen Philosophie die Mythologie wenig Aufhebens machte von Schöpfungsgeschichten: »The great difficulty for the radical view of creativity is to account for the apparent interconnectedness of things given the fact that each process is self-creative. It is the polar character of each process that establishes the ground for such an explanation.« Vgl. Hall 1982, 248. 247
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und das, was am Menschen gemacht ist (wéi 為). Von Natur aus war der Mensch in höchstem Maße untauglich für ein geordnetes Zusammenleben mit anderen: »Der Mensch ist von Natur aus schlecht. Was gut an ihm ist, ist gemacht. Die menschliche Natur ist so beschaffen, daß er mit der Lust auf Vorteil und Gewinn geboren wird. Folgt er diesem, so kommt es zu Streit und Kampf, und [Werte wie] Verzicht und Bescheidenheit gehen verloren; er wird geboren [als ein Bündel aus] Haß und Abneigung; folgt er diesen, so gehen Loyalität und Vertrauenswürdigkeit verloren.« 251
Will der Mensch also seinem angeborenen Begehren und den Emotionen, die darauf folgen, nicht hilflos ausgeliefert sein, so bedarf er ganz entschieden der Erziehung und Selbsterziehung. So und nicht anders war Xunzis Behauptung gemeint, der Mensch sei »von Natur aus schlecht!« 252 Dem Herzen kam diese Aufgabe der Erziehung und Selbsterziehung zu. Das bedeutete, Gefühl und Begehren zu regeln (zhì 治) und zu lenken (dǎo 導). Fungierte im Buch Zhuangzi noch das vollkommene Herz als Lehrer, so hatte das Herz bei Xunzi bereits die Autorität eines Fürsten (jūn 君) inne: »Das Herz ist der Fürst (jūn) des Körperleibs (xíng 形) und sorgt für die Klarheit des Bewußtseins.« 253 In der unterschiedlichen Metaphorik – das Herz als Lehrer bzw. als Fürst – sind zugleich die unterschiedlichen Auffassungen des Daoisten Zhuang Zhou (4.–3. Jh. v. Chr.) und des Konfuzianers Xunzi (298–238 v. Chr.) angedeutet: Zhuang Zhou wählte das Meister-Schüler-Verhältnis, während sich Xunzi für das Bild des Fürsten an der Spitze der einzelnen Lehensstaaten entschied: 251
Xunzi jijie, Kap. 23 »Xing’e«, 434; vgl. Knoblock 1994, vol. III, 150–151 sowie Watson 1967, 157. 252 »Xing’e«, der Titel des 23. Kapitels im Buch Xunzi. Von einer im Sinne der christlichen Erbsünde ontologisch begründeten Heillosigkeit oder Bosheit kann hier also nicht Rede sein. 253 Xunxi jijie, Kap. 21 »Jiebi«, 397; vgl. Knoblock 1994, vol. III, 105; »sorgen für« steht hier für zhǔ 主, eben jenes Zeichen, das in der nachfolgenden Etappe mit Herrscher übersetzt wird. Um nicht die Etappen mit ihrer unterschiedlichen Gewichtung zu verwirren, wurde zhu hier in der ebenfalls häufigen Bedeutung »ausrichten«, »für etwas verantwortlich sein« etc. übertragen.
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»xin (Herz) […] erteilt Befehle und empfängt keine Befehle […]. Der Mund kann vom ihm gezwungen werden, und dann ist er entweder still oder er redet; Körperleib (xing) kann von ihm gezwungen werden, dann zieht er sich entweder zusammen, oder er streckt sich […].« 254
Zur menschlichen Gestalt xing gehören laut Xunzi die angeborenen Fünf Sinnesöffnungen 255, die er entsprechend der Leib-Staat-Analogie (s. III.2) als tiān-guān 天官, d. h. als die angeborenen Beamten, 256 bezeichnet. Dazu zählen die Ohren (ěr 耳), die Augen (mù目), der Mund (kǒu 口), die Nase (bí 鼻) und Körperleib (xíng 形). Mit Hilfe dieser nach außen gewandten Beamten nimmt das Herz in Xunzis Sichtweise die Außendinge (wài-wù 外物) wahr. Nun lassen die Sinnesöffnungen eine Vielfalt von Reizen herein, die das Begehren (yù 欲) wecken und in der Folge Gefühle und Emotionen (qíng 情) hervorrufen, denn »[…] Emotionen (qing) sind das, was auf das Begehren (yù 欲) folgt.« 257 Bei aller Skepsis gegenüber Gefühl und Begehren war Xunzi jedoch nicht bereit, das Kind mit dem Bade auszuschütten. So wendet er sich auch gegen die Aufforderung, das Begehren zu mindern (guǎ-yù 寡欲). Dies bewirkt nach Xunzi nur das Gegenteil; denn menschliches Fühlen und Begehren – davon war er überzeugt – hatten sehr wohl ihre Berechtigung: »Alle Menschen sind darin gleich, daß sie bei Hunger zu essen begehren, bei Kälte nach Wärme verlangen, bei körperlicher Anstrengung zu ruhen wünschen, daß sie den Nutzen lieben und den Schaden hassen. Das haben sie auch mit [den vorbildlichen Herrschern] Yao und Shun gemeinsam.« 258
Auch Askese und Selbstvergewaltigung waren ihm zuwider. Ihm lag ein Herz am Herzen, das besonnen genug war, die Extreme nach beiden Richtungen zu vermeiden (s. II.3.c). Die klare Gedankenführung im Buch Xunzi hat manchen veranlaßt, seinen Autor für einen rationalen Denker zu halten. 259 Doch 254 255 256 257 258
Xunzi jijie, Kap. 21 »Jiebi«, 397–398; vgl. Knoblock 1994, vol. III, 105. Zur chinesischen Ordnung der Sinne vgl. Enzinger 2006 und Linck 2007. Sozusagen Beamte an der Grenze zwischen Landesinnern und -außen; s. o. Xunzi jijie, Kap. 22 »Zhengming«, 428; vgl. Knoblock 1994, vol. III, 136. Xunzi jijie, Kap. 4 »Rongru«, 63; vgl. Knoblock 1988, vol. I., 191.
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auch Xunzi war ein Kind seiner Zeit und trotz seiner Demontage des Himmelsbegriffs kein »ungläubiger Thomas«. Götter und Geister mochten ihm gleichgültig sein; doch zeigte er sich sehr wohl betroffen durch eine numinose Macht, die er wie die Daoisten dao nannte. Zugang zu diesem dao erhoffte sich Xunzi nun über sein Herz, das er bereits mit verschiedenen anderen Funktionen versehen hatte, wie Differenzierung der verschiedenen Gefühle 260 sowie eine umfassende Erkenntnisfähigkeit (zhēng-zhì 徵智) 261. Ganz in der Nähe zu den Daoisten gestand er seinem Herzen darüber hinaus eine weitere Fähigkeit zu: durch meditative Praxis Zugang zu jener Wirkkraft dao zu erlangen, die der Gesamtheit des Lebens zugrunde liegt. Wie Zhuang Zhou (4.–3. Jh. v. Chr) war sich auch Xunzi (298–238 v. Chr.) bewußt, daß das Herz still und leer sein mußte, um shén 神, jener Manifestation des Numinosen, eine friedvolle Behausung (shè 舍) zu sein: »Das, wodurch der Mensch das dao erkennen kann, nenne ich das Herz; das, wodurch das Herz [das dao] erkennen kann, nenne ich die Leere (xū 虛), [nenne ich die Konzentration auf] das Eine (yī 一), [nenne ich] die Stille (jìng 靜).« 262
Trotz unterschiedlicher Positionen kam dem Herzen bei allen großen Philosophen in den Jahrhunderten v. Chr. also eine zentrale Bedeutung zu, um die Brücke zwischen Mensch und Kosmos zu schlagen. Doch Mengzi und Xunzi würden kaum der konfuzianischen Tradition zugerechnet, stünde nicht im Mittelpunkt ihrer Gedanken das rechte zwischenmenschliche Zusammenleben. Um dieses zu garantieren, berief Mengzi sich auf die spontanen moralischen Bestrebungen, die der Himmel im menschlichen Herzen verankert hatte. Xunzi wiederum argumentierte an dieser Stelle sehr viel nüchterner. Er leitete aus der angeborenen emotionalen Natur des Menschen die Notwendigkeit ab, daß das Herz Gefühl und Be259
Roetz 1984. Freude/Lust (xǐ 喜), Zorn/Wut (nù 怒), Kummer (āi 哀), Heiterkeit (lè 樂), Liebe (ài 愛), Abneigung/Haß (wù 惡) und Begehren (yù 欲); Xunxi jijie, Kap. 22 »Zhengming«, 417; vgl. Knoblock 1994, vol. III, 129; Watson 1967, 142. 261 Ebd. 262 Xunzi jijie, Kap. 21 »Jiebi«, 395; vgl. Knoblock 1994, vol. III, 104. 260
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gehren zu lenken hatte, wie ein Fürst, von dem alle Welt erwartet, daß er souverän die Angelegenheiten seines Staates leitet. Xunzis Fürstmetapher kehrt in der Herrschermetapher wieder (s. u.). In der weiteren Begriffsgeschichte erwies sich allerdings Mengzis Herzverständnis als folgenreicher, gründeten die Neokonfuzianer doch darauf die Spaltung des Herzens, obwohl Mengzi selbst noch das ungeteilte Herz im Sinne hatte. Davon wird im Folgenden die Rede sein. c) Die Herrscher- und Kampfmetapher Die nächste Etappe in der Begriffsgeschichte des Herzens setzte in der Frühen Kaiserzeit ein. Nicht von ungefähr wurde zu diesem Zeitpunkt aus dem Fürsten ein Herrscher (zhǔ 主). Zwar war die Herrschermetapher nicht neu, denn sie findet sich neben der Fürstmetapher sowohl im Xunzi (s. 1.3.b) als auch im Buch Guanzi 官 子 263. Nunmehr schien es jedoch an der Zeit zu sein, das Verhältnis von Herz und anderen leiblichen Regungsherden mit Vorliebe in diese Metapher zu kleiden: Die Lehensordnung der vorchristlichen Jahrhunderte mit dem zunehmend schwachen König an der Spitze war längst zusammengebrochen und ein einheitliches und zentralisiertes Kaiserreich mit einem mächtigen Kaiser an ihre Stelle getreten. Der Machtzuwachs des Herzens spiegelte sich z. B. in den Schriften der Medizintheoretiker, denen der menschliche Leib ein Staat im Kleinen war (s. III.2.a). So heißt es im Huangdi neijing, dem Klassiker der chinesischen Resonanzmedizin 264: »Das Herz ist der Herrscher (zhǔ 主) […]. Wenn der Herrscher erleuchtet ist, dann bedeutet das Frieden für die Untertanen. Wer auf dieser Grundlage sein Leben nährt, dem ist Langlebigkeit sicher […]. 263
Die Fürstmetaphorik findet sich im Guanzi zhuzi suoyin 2001 in Kap. 13.1, 95, Zeile 25; die Herrschermetapher ebd. Kap. 10.5, 79, Zeile 24–25. 264 Gleichwohl bewahrt die Resonanzmedizin gegen die Bemühungen, alle Empfindungen auf das Herz zu zentrieren, die Vorstellung von einem »Konzert leiblicher Regungsherde« (Schmitz), indem es die verschiedenen Gefühle bzw. Emotionen dem Herzen, der Leber, der Lunge, der Niere, Milz zuordnete; s. w. u.
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Wer auf dieser Grundlage das Reich regiert, der wird es zu großer Blüte erheben.« 265
Hinter der Herrschermetapher stand zum einen die neue Verfassung des zentralisierten Staates, zum anderen ein vermehrtes Bedürfnis nach Kontrolle der eigenen unbändigen Natur, nach Affektund Triebverdrängung im »Prozeß der Zivilisation« 266. Die Metaphorik des Herzens als Herrscher überlebte die Jahrhunderte nach dem Zerfall des großen Hanreiches (206 v. – 220 n. Chr.), in denen der chinesische Staat immer wieder um die erneute Einheit des Reiches rang. Der Machtzuwachs des Herzens in dieser Epoche ist nicht zu trennen vom Einfluß dualistischer und lebensfeindlicher Aspekte des Mahayana-Buddhismus, so daß sich eine bisher unbekannte Strenge gegen Emotionen und Begehren bemerkbar machte. Beispielhaft dafür stehen nicht nur die w. o. zitierten Worte des Wang Ji (585–655) 267, sondern auch Meister Lius Traktate zur Erneuerung in Krisenzeiten aus dem 6. Jahrhundert. Zwar hebt Liuzi 劉子 ausdrücklich nur auf Mäßigung ab; doch kommt die im Vergleich zu vorher vermehrte Leibfeindlichkeit in seiner Sprache zum Vorschein: Das zweite Kapitel ist mit »Den Begierden wehren« überschrieben, denn er vergleicht sie mit dem gefräßig-gefährlichen Borkenkäfer! Das Herz ist also aufgefordert, mit besonderer Sorgfalt die Fünf Pforten der Wahrnehmung zu kontrollieren, Einlaßstellen und Depots für Lüste und Vorlieben. 268 So wirkte die Herrschermetapher weiter, bis sie unter den Neokonfuzianern der Songzeit (960–1278) ihre konsequentesten Anhänger fand. Der Neokonfuzianismus, chin. dào-xué 道學 oder lǐ-xué 理學, die Lehre vom dao oder vom li 269, setzte im 11. und 12. Jahrhundert ein mit einem ausgeprägten Synkretismus aus konfuzianischem, daoistischem und buddhistischem Gedankengut. Mit einigen Abwandlungen beherrschte er das Denken der gesamten Späten Kai265
Huangdi neijing suwen, Bd. 1, 8. Kap. »Linglan midian lun«, 131; vgl. Unschuld 1980,62. 266 Zur Verwendung dieses Begriffs s. Einleitung Anm. 19. 267 S. I.1.a. 268 Vgl. Liuzi xinlun 劉子新論, Kap. 2; Arndt 1994, insbes. 22–24. 269 Strenggenommen sind die beiden chinesischen Begriffe nicht synonym: dao-xue
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serzeit und wirkt heute noch fort. Unter der Hand der Neokonfuzianer nahm nun die Herrschermetaphorik antagonistische Züge an. Dahinter stand zum einen eine rigidere Vorstellung vom Umgang mit der menschlichen Natur (s. II.2), zum anderen eine neue Konzeption vom Kosmos. Der Himmel der Neokonfuzianer war keine anthropomorphe Gestalt mehr, aber dennoch ein geordnetes Gebilde; zugleich war seine Ordnung eine moralische. Der Mensch hatte dabei eine große Verantwortung: Indem er diese Moral in seinem Leben verwirklichte, trug er zur Ordnung im Kosmos bei bzw. brachte sie eigentlich erst hervor. Als Stellvertreter des kosmischen Ordnungsprinzips lǐ 理 im Menschen bot sich dank seiner bisherigen Begriffsgeschichte das Herz an. Ganz in der Tradition des Mengzi wurde es für ursprünglich gut befunden. Das Dilemma des Menschen rührte einzig und allein daher, daß das Herz immer wieder von Emotionen und Begehren geschüttelt wurde und in Wallung geriet (s. II.3.c). Die menschlichen, allzu menschlichen Regungen machten den Neokonfuzianern offenbar mehr zu schaffen als den Philosophen je zuvor – zumindest manchen, z. B. Zhen Dexiu 真德秀 (1178–1235): »Die selbstsüchtigen Wünsche verwunden mehr als ein zweischneidiges Schwert und brennen heißer als das heißeste Feuer […]. Die Gewalt der Begierden (yù 欲) ist schlimmer als Pferde, die durchbrennen, und Achtsamkeit heißt, sie mit dem Lasso einzufangen. Die Wildheit der Begierden ist schlimmer als ein überflutender Strom, und Achtsamkeit ist wie der Deich, der ihn eindämmt.« 270
Den solcherart aggressiven Bedürfnissen und Regungen mußte ebenso aggressiv begegnet werden, und die Aufforderung, sich selbst zu besiegen (kè-jǐ 克己), läßt sich in diesem Kontext sehr wohl als Selbstüberwältigung interpretieren (s. II.3.c). Nun sahen sich die Neokonfuzianer veranlaßt, diesen Antagonismus auch begrifflich wird i. a. umfassender für den Konfuzianismus der Song-, Yuan- und Mingzeit gebraucht, während li-xue im engeren Sinne auf das spezifische Gedankengebäude des Zhu Xi 朱熹 (1130–1200) abzielt; vgl. Gardner 1991 u. Tillman 1982; de Bary 1953 wiederum dehnt den westlichen Begriff Neoconfucianism auf analoge Strömungen in der Späten Kaiserzeit aus. 270 Zhen Dexiu, Xishan wenji, 西山文集, zit. n. de Bary 1981, 81 bzw. 79.
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zu klären. Dazu bedienten sie sich jenes Konzeptes, mit dem es bereits in den Auseinandersetzungen zwischen Fan Zhen (ca. 450– 515) und den Buddhisten gelungen war, das Verhältnis zwischen Leib und Bewußtsein zu bestimmen (s. I.2.c). Das Bild vom Messer und seiner Schärfe wurde nunmehr wie folgt umgedeutet: Das angeborene gute Herz war die Grundlage (ti), die durch nichts zu erschüttern war; die situative Hingabe des Herzens an Gefühl und Begehren war sein Gebrauch (yong), 271 der sich unter Umständen lebens- bzw. bewußtseinsschädigend auswirkte und damit den kosmischen Moralprinzipien (li) zuwiderlief. So begann man, das Herz selbst zu spalten, analog der guten und schlechten Triebe der »europäischen« Seele: Nunmehr unterschieden die Neokonfuzianer nämlich ein »mit Tugendkraft ausgestattetes Herz« (dé-xīn 德心) und ein »menschliches Herz« (rén-xīn 人 心), dem Gefühl und Begehren eigen waren: »[…] je nachdem ob es aus der Eigensucht (sī 私) entsteht, die mit dem Körperleib (xing) verknüpft ist, oder ob es seinen Ursprung im richtigen angeborenen Tugendverhalten hat […]. Wenn diese beiden im menschlichen Herzen vermengt werden und wir nicht wissen, wie wir sie kontrollieren können […], dann wird es nicht möglich sein, mit den himmlischen Prinzipien (tiān-lǐ 天理) den Egoismus menschlichen Begehrens (rén-yù 人欲) zu überwinden.« 272
Antagonismus und Spaltung: Wen wundert es, wenn sich zur Herrschermetapher die Kampfmetapher gesellte: »Menschliches Begehren verletzt den Menschen, deshalb gebraucht man die Worte erobern und bezwingen; hier ist die Sprache der Kriegsführung angebracht, denn menschliches Begehren ist der Feind des Menschen.« 273
So mutet das neokonfuzianische Herz denn auch nicht mehr wie die friedliche Behausung eines Numinosen an oder wie ein Fürst, der als primus inter pares seine Wirkungen entfaltet (Xunzi), auch nicht wie 271 272 273
Zum Begriffspaar ti-yong s. I.2.c (1). Zhu Xi, Zhongyong zhangju 中庸章句, zit. n. de Bary 1981, 74. Zhen Dexiu, Daxue yanyi 大學衍義 II: IIb, zit. n. de Bary 1981, 120.
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ein Acker, der nur zu bestellen und zu düngen war (Mengzi). Noch weniger ähnelte es dem Herzen eines Zhuang Zhou, dem beim »Sitzen und Vergessen« das Vollgefühl der All-Einheit mit dem dao geschah. Das neokonfuzianische Herz erscheint mitunter eher als ein gestrenger Moralist, der darauf aus war, den Leib, dessen lustvolles Spüren und Behagen, am Gängelband zu halten um einer höheren Moral, der himmlischen Ordnungsprinzipien (tiān-lǐ), willen. 274 Nicht nur der gespürte Leib, auch der tast- und sichtbare Körper wurde im wahrsten Sinne des Wortes eingeschnürt, denn in dieser Zeit begann man, den kleinen Mädchen die Füße zu binden bzw. zu verkrüppeln. 275 Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß sich hier europäisch-christliches und chinesisches Denken in einer ausgeprägten Körper- und Leibfeindlichkeit ziemlich nahe kamen. (S. II.3.c) Die Saat buddhistisch-neokonfuzianischer Lebensverneinung 276 war aufgegangen: Nirgendwo war bei den Klassikern der ursprünglichen chinesischen Philosophie dieser Widerspruch, von dem mancher Neokonfuzianer wie besessen schien, so prägnant und dominant formuliert. Uns heutigen Menschen muten die mitgelieferten Verhaltensempfehlungen, wie die des Fang Xiaoru 方孝儒 (1357– 1402), der zur Zeit der Mongolenherrschaft lebte, wahrhaftig verbissen an: »Wenn dich die Leute loben, so hüte dich, darüber Freude zu empfinden. Denn die Freude über das Lob macht dich hochnäsig und deine Tugendkraft täglich geringer […]. Wodurch entsteht [wahre] Freude? Durch Freisein im Herzen von Gewissensbissen und Scham! Wodurch entsteht Kummer? Durch leichtfertiges Beginnen und viele Wünsche […]. Freust du dich in deinem Herzen, so sollst du doch darum nicht lachen […].« 277
Nur durch unermüdliche Selbstkontrolle und penible Introspekti274
Dies entpricht dem Verlauf der von van Gulik 1971 gezeichneten Sozialgeschichte der Sexualität in China; vgl. auch Linck 1990. S. III.1.b. 275 Zum Füßebinden s. auch I.1.c. 276 Letztlich war dies wohl ein Erbe des altindischen Asketentums. Buddha selbst hatte den Weg der Mitte zwischen Askese und Lebenslust propagiert; vgl. Yamaguchi 1997, 149; auch der Chan -Buddhismus (jap.: Zen) kennt diese Extreme nicht.
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on, um den »Schmutz im Herzen« aufzuspüren, konnte sich nach dieser Vorstellung das »Tugendvermögen« des Herzens durchsetzen. Wir empfinden heute die Strenge, die uns aus diesen Verhaltensregeln entgegenschlägt, als Leibfeindlichkeit und Lebenshemmung; sie prägte entscheidend das Selbst- und Weltgefühl der chinesischen Elite bis in die Gegenwart hinein. 278 Die Späte Kaiserzeit fügte diesen Entwicklungen nichts grundsätzlich Neues mehr hinzu. Sie verbreitete jedoch dieses Gedankengut in anderen Schichten der Gesellschaft. Dem kamen der Buchdruck und die Existenz einer breiten städtischen Mittelschicht entgegen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Roman Xiyouji 西游記 (Die Reise nach dem Westen) aus dem 17. Jahrhundert, der heute noch auf mannigfaltige Weise sein Publikum anspricht. Eine Lesart 279 ist z. B., den Roman als den buddhistischen Weg des Herzens zur Erleuchtung zu begreifen: Im Mittelpunkt steht das in mehrere Bestrebungen gespaltene menschliche Herz. Hier eine Zusammenfassung des Geschehens unter diesem Aspekt: Held des Romans ist der Affe Sun Wukong 孫悟空, dessen Name programmatisch ist, bedeutet wù-kōng 悟空 doch »Erwachen in die Leere«. Der Affe repräsentiert das im Grunde gute menschliche Herz und damit die Fähigkeit, zur Einsicht oder Weisheit zu gelangen. Er begleitet und beschützt den Mönch Tripitaka, der mit drei weiteren Gestalten – einem Mönchsschüler, einem Pferd und dem Schweinchen Zhubajie 豬八戒 – von China aus nach Indien aufgebrochen ist, um die heiligen Schriften zu holen. Tripitaka ist auf dem Weg der Loslösung von den Verstrickungen der Welt bereits fortgeschritten. Dies hindert ihn aber zugleich daran, sich in der Welt des roten Staubs mit ihren Trugbildern und Verstrickungen zurechtzufinden. So führt er sich nach der Logik des Romans und seiner Leser zuweilen höchst lächerlich auf, d. h. aus weltlicher Sicht wenig aufgeklärt und erleuchtet. Sein Mönchsschüler symbolisiert das schweigsame und meditative Element, mit dem es das Herz zu festigen (dìng 定) gilt; das Pferd hingegen steht für die Willenskraft (zhì 志), da es bereit 277
Fang Xiaoru, Übs. Epping-von-Franz 1983, 76, 24, 15. Eberhard 1977, 1982 sowie Linck 1990. 279 Neben dem Verständnis des Romans als eines sozialkritischen Sittengemäldes der Mingzeit (1368–1644). 278
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ist, andere über weite Strecken auf seinem Rücken zu tragen. Der fünfte Gefährte auf dem gefährlichen und beschwerlichen Weg ist Zhubajie, das Schweinchen: faul, genußsüchtig, aber auch schlicht im Gemüt und von daher irgendwie liebenswert. So repräsentiert das Schweinchen Zhubajie die Aufforderung zur Disziplin (jiè 戒), denn offensichtlich hat es seine Probleme damit. Die Sechs Räuber, die der Affe bzw. das menschliche Herz als erste zu besiegen hat, sind nichts anderes als das absichtsvolle Handeln und die Fünf Sinnesöffnungen: Augen, Ohren, Nase, Zunge und der Körperleib. Dies ist der erste Schritt zur Erleuchtung: die Reinigung des Herzens. Der zweite Schritt besteht im Abtöten der Sieben Emotionen (qī-qíng 七情) 280 und des Sechsfachen Begehrens (liù-yù 六欲). 281 Alle einundachtzig Katastrophen und Prüfungen, die von den Gefährten auf dem Weg nach Indien zu bestehen sind und die zugleich den Roman ausmachen, sind vor allem durch die verwirrenden Emotionen verursacht. Der Affe handelt auf dieser Reise letztlich vernünftig und bringt dadurch jede Katastrophe zu einem guten Ende. Voraussetzung ist jedoch, daß alle Figuren einheitlich sind im Wollen und Handeln. Im Laufe des Romans gelingt nach und nach die Einheit der Fünf Gestalten, d. h. die Vereinheitlichung der verschiedenen Herzensbestrebungen. So dominiert auch hier, in der buddhistischen Sicht des Romans, das Bild vom Herzen als Herrscher und Bezwinger von leiblichem Genuß, Gefühl und Begehren: das Herz als Sitz von vernünftiger Einsicht und Moral. 282 Wirkte dieser bis heute volkstümliche Roman in alle Schichten der Gesellschaft hinein, so begegnet uns die Spaltung des Herzens auch in eher esoterischen Kreisen: z. B. in einer spätkaiserzeitlichen Form der Meditation. Das entsprechende Handbuch wurde gegen 280
S. II.2.a. Das Zhongying foxue cidian 中英佛學词典 (A Dictionary of Chinese Buddhist Terms) liefert folgende Definition: »The six sexual attractions arising from color, form, carriage, voice (or speech), softness (or smoothness), and features.« Gaoxiong (Foguang chubanshe) 1990, 136. 282 A. Waley (Übs.) Monkey. London (Unwin Paperbacks) 1979 sowie G. Dudbridge, The Hsi-yo-chi. A Study of Antecedents to the Sixteenth-Century Novel. Cambridge (Univ. Pr.) 1970; vgl. Auch Lin, Qingkun, Vortrag gehalten am 2. 2. 1984. 281
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Ende des 18. Jahrhunderts veröffentlicht. Es erschien in den zwanziger Jahren auch bei uns in der gemeinsamen Übersetzung bzw. Bearbeitung von Richard Wilhelm und C. G. Jung unter dem Titel: Das Geheimnis der Goldenen Blüte. 283 In diesem Buch ist die Spaltung des Herzens inzwischen sogar räumlich fixiert. An die Stelle der ursprünglichen Innen-Außen-Anordnung war – wie in der offiziellen europäischen Philosophie – die Hierarchie von Oben und Unten getreten: Das sogenannte »himmlische Herz« (tiān-xīn 天 心) war nun in den Kopf verlegt, und zwar zwischen die Augen. Das »fleischerne Herz« (ròu-xīn 肉心) in der Form eines großen Pfirsichs war nach wie vor mit dem leiblichen Regungsherd in der Mitte der Brust identisch; es galt als in höchstem Maße abhängig: »[…] von der Außenwelt: Wenn man auch nur einen Tag nichts ißt, so fühlt es sich äußerst unbehaglich; wenn es etwas Erschreckendes hört, so klopft es; wenn es etwas Erzürnendes hört, so stockt es; wenn es sich dem Tod gegenüber sieht, so wird es traurig. Wenn es etwas Schönes sieht, so wird es verblendet. Aber das himmlische Herz im Kopf, wann hätte das auch nur sich im Mindesten bewegt […]. Am besten freilich ist es, wenn das Licht sich schon zu einem Geistleib verfestigt und allmählich […] die Triebe und Bewegungen durchdringt […].« 284
Bei der Erläuterung der sich verklärenden Lichtexistenz taucht der Antagonismus erneut in den vertrauten Herrscher-, Palast- und Kampfmetaphern auf: »Das untere Herz bewegt sich wie ein starker mächtiger Feldherr, der den himmlischen Herrscher ob seiner Schwäche mißachtet und die Führung der Staatsgeschäfte an sich gerissen hat. Wenn es aber gelingt, das Urschloß zu festigen und zu wahren, so ist es, wie wenn ein starker und weiser Herrscher auf dem Thron sitzt. Die Augen bringen das Licht in Kreislauf wie zwei Minister zur Rechten und zur Linken […]. Wenn so die Herrschaft im Zentrum in Ordnung ist, so werden alle jene aufrührerischen Helden mit umgekehrter Lanze sich einfinden, um ihre Befehle entgegenzunehmen.« 285
Ist zwar in der Trennung des himmlischen vom fleischernen Herzen ein Dualismus angelegt, so erscheint doch in dieser spätkaiserzeitli283 284
Wilhelm, R./Jung 1986. Ebd. 79–80.
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chen Vision noch das himmlische Herz als leiblich fundiert: Jener Ort zwischen den Augen ist nichts anderes als eines der Chakren 286 oder Energiezentren, die in indischen Leibübungen als Regungsherde besonderer Art aktiviert werden. Auch die mitgelieferten Atemtechniken, ein Erbe frühkaiserzeitlicher Leibbemeisterung, setzen die Vorstellung von einem zusammenhängenden, eben nicht gespaltenen Leib voraus, in dem das qi ungehindert kreist. Und nicht zuletzt zielt alles Bestreben darauf ab, den Menschen als Ganzes in ein Lichtwesen 287 zu verwandeln, wobei das Licht wiederum ganz leiblich als Wärmestrom empfunden wird. So gelang es nicht einmal mit dieser spätkaiserzeitlichen Zuspitzung eines Antagonismus zwischen Vernunft bzw. Moral und Gefühl, eine konsequente KörperGeist/Seele-Dichotomie, wie wir sie aus der europäischen Geschichte kennen, durchzusetzen.
4. Exkurs: Die Metaphorik des Herzens Auf den frühesten Zeugnissen der chinesischen Schrift, den Orakelknochen, scheint das Herz eine getreue Abbildung dessen zu sein, was wir in unserem modernen Körperverständnis Organ nennen: das sicht- und tastbare anatomische Substrat.
285
Ebd. 80. Ajna-Chakra. 287 Intensive Licht- und Wärmeempfindungen gelten als eine Wirkung der Meditation; vgl. den Begriff »Leuchtkraft des Geistes« (shén-míng 神明), der in der Bedeutung »göttlicher Klarheit« erstmals im Shujing erscheint; vgl. Hertzer 2006, 146; zur späteren Verwendung im Kontext der Meditation vgl. dies., 201–202 sowie Linck 2006. Auch im Huainanzi, Kap. 3 »Tianwenxun«, 18, Zeile 18 erscheint die Lichtmetaphorik zur Kennzeichnung des Urchaos vor der Weltentstehung in der Zeichenzusammensetzung tài-zhào 太照 (das Große Leuchten), vorausgesetzt, daß diese Einfügung der Manuskriptforscher stimmt; auch dà- shǐ 大始 (der Große Anfang) kommt infrage; ebd. 286
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Diagramm 4: Zeichen für Herz Das heutige Zeichen Das Piktogramm auf den Orakelknochen (links) (rechts)
Und doch wäre es verfehlt, daraus zu schließen, die frühen Chinesen seien reine Physiologen gewesen: Das Herz war vor allem ein Ort leiblicher Regungen, wo alle möglichen Empfindungen einen Platz fanden: Freude und Mut, Willenskraft und moralische Urteilsfähigkeit, Wissen und Einsicht. Nach und nach, das hat das vorangegangene Kapitel vorgeführt, zeichnete sich schärfer die Teilung, ja ein Antagonismus ab zwischen Gefühl und Begehren auf der einen Seite und vernünftiger Einsicht im Sinne von Ethik und Moral auf der anderen. Dieser Doppelaspekt des chinesischen Herzens, der sich analog zu den anderen Antagonismen herausbildet, prägt nicht nur die vormoderne chinesische Philosophie und Erziehungslehre, er zieht sich wie ein roter Faden auch durch die chinesische a) Dichtung, ist noch lebendig in der b) heutigen Alltagssprache und wirkt nach wie vor in Bildern und Begriffen der chinesischen c) Schrift. Diese Bereiche sollen nacheinander betrachtet werden. a) Das Herz in der chinesischen Dichtung Überall scheint die Poesie am besten geeignet zu sein, Gefühle kundzutun, insbesondere Liebesfreud und Liebesleid. Sobald die Liebenden zu Wort kommen, ist das Herz stets mit von der Partie, denn Liebende, das sind Frühlingsherzen (chūn-xīn 春心). Blättern wir in einer beliebigen Sammlung chinesischer Volkslieder aus alter und neuer Zeit, 288 so begegnen uns Herzen, die vor Glück lächeln oder auch lachen, und Herzen, die sich wie eine Blume öffnen (kāi 118 https://doi.org/10.5771/9783495860182 © Ver
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開), wenn Freude sie ergreift. Sind die Gefühle heftiger, so wird das Herz geschüttelt (xīn-tāng 心蕩) oder Herz und Leber zusammen bewegen sich im Rhythmus der Ruderschläge (gān-xīn rú tuī-lǔ 肝 心如推櫓). Dies ist übrigens eines der wenigen Bilder, in denen der Rhythmus der Herzschläge angedeutet ist, die für uns ganz selbstverständlich mit freudiger Aufregung einhergehen: Rhythmus ist in der chinesischen Anthropologie vielmehr mit dem Ein- und Ausatmen der Atemluft verknüpft, und so werden auch Lebensrhythmus und Lebensspanne mit der Lunge und nicht mit dem Herzen assoziiert. 289 Nur gelegentlich taucht in den Volksliedern ein Herz auf, das trunken ist (xīn-zuì 心醉) vor Liebe; häufiger jedoch bedeutet dieser Ausdruck das Benommensein aus Leid. Das vor Liebesglück überschäumende, jubelnde oder gar ausgelassen tanzende Herz suchen wir in diesen Sprachbildern vergebens, repräsentieren sie doch eine Kultur der Mitte. 290 In den Liebesliedern ebenso wie in Sprichwörtern 291 überwiegen eher die bedrückenden Herzenserlebnisse; das mag damit zusammenhängen, daß Liebesleid aus der Beengung heraus eher nach sprachlicher Gestaltung drängt als Liebesglück, das vor allem ausgelebt und nicht zerredet werden will. Wie auch immer – das Herz ist häufig wund vor Weh (xīn-zhī-yōu 心之憂), etwa in der Klage der verstoßenen Gattin; hoffnungslose Liebe schüttelt das Herz (yáo-xīn 搖心) oder macht es krank (xīn-bìng 心病). Die Trauer über die Vergänglichkeit der Liebe zerschneidet das Herz wie ein Messer (dāo-gē-xīn 刀割心) oder durchbohrt das Herz (xīn-chuān 心穿) – nicht etwa der Pfeil Amors. Einmal schmeckt das Herz sauer (suān 酸), ein andermal bitter (kǔ 苦), manchmal fühlt es sich an, als sei es benommen (mēn 悶) – ein ausdrucksstarkes Zeichen: ein Herz eingeklemmt zwischen zwei 288
Vgl. Shijing (Buch der Lieder); Übs. von Strauß 1969; Lou Tsu-k’uang (Ed.), Types of Modern and Ancient Chinese Lovesongs by Liang Ch’i ch’ao. Taibei (Dongfang wenhua) 1960. 289 Huangdi neijing suwen, Bd. 1, 8. Kap. »Linglan midian lun«, 131; vgl. Unschuld 1980, 62. 290 S. auch II.3.c; als Kontrast zur europäischen Geschichte des Herzens vgl. Schipperges 1989, 16. 291 Zhongguo suyu da cidian. 中国俗话大词典 1989.
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Türflügeln 292; oder als sei es wie ausgeklopft vom Wäscheschlagen (chuí-xīn 捶心) – ein Bild aus dem Alltag der Frauen und jungen Mädchen. Falscher Liebe wird nachgesagt, sie hege Gift im Herzen oder sie gebärde sich wie die Maus, die den Tod der Katze beweint. Von diesen eher schmerzvollen Erfahrungen ist übrigens nicht bloß das Herz betroffen. Die Leber wurde schon erwähnt, und so wollen Herz und Leber auch gemeinsam bei Liebesweh zerbrechen (xīn-gān-cuī 心肝摧). Dies ist naheliegend, denn junge Mädchen reden ihren Liebsten mit »Mein-Herz-und-meine-Leber« (wǒ-xīngān 我心肝) an. Ein anderes Mal sind Herz und Leber so zugerichtet, als hätte einer mit Eisenstangen auf sie eingeschlagen (tiě-dǎxīn-gān 鐵打心肝). Doch nicht nur Herz und Leber sind in Mitleidenschaft gezogen: Die Pein dringt durch Herz und Knochen (rùxīn-gǔ 入心骨), so wie auch uns etwas durch Mark und Bein geht. Liebesleid klemmt Herz und Gedärm ab (xīn-cháng-duàn 心腸斷) oder eben nur das Gedärm (duàn-cháng 斷腸) – eine Regung, die uns heute vielleicht fremd anmutet; 293 doch noch Goethe wußte ein Lied davon zu singen, denn es brannten ihm vor Sehnsucht die Eingeweide. 294 So ging es im vormodernen China bei Liebesfreud eher gemäßigt und gedämpft zu als überschäumend. Zumindest entsteht dieser Eindruck, wenn wir eine beliebige deutsche Volksliedersammlung zum Vergleich heranziehen. Wichtiger als Rausch und Leidenschaft waren den Chinesen Treue und Aufrichtigkeit: Das treue Herz ist 292
S. auch das chinesische Wort für »beklommen sein« vor Angst in: II.2.a. Daß auch Leber und Darm von extremen Gefühlsregungen betroffen waren, ergibt sich aus der Zuordnung der Gefühle zu den Organen, die als ein »Konzert der Regungsherde« (Schmitz) zusammenwirken: Leber-Wut, Herz-Freude, MilzGrübeln, Lunge-Trauer und Niere-Angst. Mit anderen Worten, die Mit-Leidenschaft rührt von der mangelnden Zentrierung der Gefühle auf das Herz her, wie sie für die chinesische Resonanzmedizin charakteristisch blieb; s. III.l.b. 294 Die ganze Stelle aus Wilhelm Meister lautet: »Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide/allein und abgetrennt von aller Freude/seh’ ich ans Firmament nach jener Seite/Ach, der mich liebt und kennt, ist in der Weite/Es schaudert mir, es brennt mein Eingeweide«. Ein anderes Beispiel für dezentral gespürte Regungsherde, hier die Galle, ist Gretchens Klage »Die ganze Welt ist mir vergällt«, Goethe, Faust, V. 3380; vgl. auch die zahlreichen Beispiele in Bargheer 1931, insbes. das II. Kapitel. 293
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wie der immergrüne Baum. Steine, Muscheln oder Gold, die als beständig gelten, dienten ebenfalls als Sinnbilder für ein getreues Herz, das am liebsten »wie ein Schatten« immer um die geliebte Person herum sein wollte. Vor allem ein Bild kehrt in den Liedern und Gedichten immer wieder: Zwei Liebende wollen ihre Herzen miteinander verknoten (jié-xīn 結心) 295, wo wir es verschenken, falls wir es nicht schon »in Heidelberg verloren haben«. Wohl aber konnte auch der chinesische Mann oder die chinesische Frau das Herz zurückfordern und wie Grönemeyer singen: »Gib mir mein Herz zurück … !« bzw. chinesisch: »Laß mein Herz los!« (fàng-wǒxīn 放我心), was ja durchaus zum Bild des Herz-Verknotens paßt. Auch die großen Dichter Chinas faßten vor allem die leidvollen Herz-Erfahrungen in Worte und Bilder, wenn auch weniger als Liebesleid, als vielmehr im Sinne einer Art Weltschmerz. So drückte dem Dichter Tao Yuanming 陶淵明 (365–427) ein überwältigender [weltlicher] Wind aufs Herz (kǎi-fēng fù-xīn 凱風負心) 296, und Li Taibo 李太百 (701–762) erlebte sogar, wie der Wind ihm sein verrücktes Herz davonwehte (kuáng-fēng chuī-wǒ-xīn 狂風吹我 心) 297. Vor allem ist die hohe Dichtkunst vom kühlen Hauch der Vergänglichkeit, vom Gefühl der Nichtigkeit menschlichen Seins und Tuns angeweht. Aus diesem Herzens-Wissen (xīn-zhì 心智) heraus warnen die Dichter vor den menschlichen Verstrickungen und raten schon deshalb zur Dämpfung und Mäßigung der Gefühle. So ist es auch kein Wunder, wenn wir in dieser Dichtung philosophische, vor allem daoistisch-buddhistische Begriffe wiederfinden, wie das leere Herz (xū-xīn 虛心), das klare, abgeklärte Herz (qīng-xīn 清 心) und das stille Herz (jìng-xīn 靜心). Im Mittelpunkt aber steht auch hier immer wieder die Absichtslosigkeit, chin. Herzlosigkeit (wú-xīn 無心): »[Absichtslos wandert] das Herz wie die einsame Wolke am Himmel, die keiner Stütze bedarf« 298 oder das Herz Vgl. das erste von vier Gedichten der Xue Tao 薛濤 (768–831?) mit dem Titel »Chunwang« 春望 (Im Frühling Ausschau halten); Übs. Chen 1996, 30. 296 Fang 1980, 3. 297 Vgl. das Gedicht »Jin Xiang song Wei Ba zhi Xijing« 金鄉送韋八之西京 (Auf dem Weg in die Westliche Hauptstadt zum Geleit); vgl. Sun Yu (Transl.), Li Po – A New Translation. Hongkong (The Commercial Pr.) 1982, 211. 295
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treibt »[frei und ledig] wie ein losgelöster Kahn [auf den Wellen] (bù-jì-zhōu 不繫舟).« 299 Eine solche Herzensruhe nannte der Dichter Tao Yuanming (365–427) »ohne Lust und ohne Furcht sein« (bù-xǐ yì bù-jù 不喜亦不懼) 300. Damit meinte er jenen Zustand der Mitte in heiterer Gelassenheit, von dem die »geschäftigen Herzen« (wéi-xīn 為心) und »törichten Herzen« (chī-xīn 痴心), die umtriebigen »Affenherzen« (hóu-xīn 猴心), geilen »Hundeherzen« (gǒu-xīn 狗心) und beutegierigen »Tigerherzen« (hǔ-xīn 虎心) unter den Menschen nicht einmal zu träumen wagten. 301 Im Unterschied zu den Volksliedern, in denen das Herz als Sinnbild für Gefühle, insbesondere der Liebe, die Jahrhunderte überlebt, überwiegt in der hohen Dichtung der andere Bedeutungspol: das Herz als Sitz der Einsicht und Gemütsruhe. Sobald die großen Dichter die Gefühle selbst sprachlich gestalteten, kam selten das Herz als Metapher infrage; sie benutzten viel mehr ein anderes Wort: qíng 情, das von Anfang an in Philosophie und Medizin die eher beunruhigenden Regungen und Wallungen kennzeichnete (s. II.2.a). Demnach war jede Gefühlsregung tendenziell beunruhigend. Nachdem dieser Begriff Eingang in die Dichtung gefunden hatte – spätestens war das seit der Mittleren Kaiserzeit (7.–13. Jh.) der Fall –, nahm er auch hier dieselbe Bedeutung an, bezog sich also auf Emotionen und Affekte, die Gelassenheit und Gleichmut nur beeinträchtigen konnten.
298 Han Shan 寒山, Gedicht Nr. 204; vgl. Red Pine (Transl.), The Collected Songs of Cold Mountain. Washington (Copper Canyon Pr.) 1983; zur Absichtslosigkeit (wúxīn 無心) vgl. auch die Gedichte 105, 122, 224 ebd. sowie das Gedicht »Chou-si« 愁思 (Gram des Herbstes) der Nonne Yu Xuanji 魚玄機 (844–868), Übs. Chen 1996, 60. 299 Ein Bild aus dem Buch Zhuangzi, Kap. 32.1 »Lieyukou«; vgl. Legge o. J., 644; das Bild findet sich auch in einem Gedicht mit dem Titel »Xiangsi« 鄉思 (Heimweh), das der Prostituierten Xue Tao (768–831?) zugeschrieben wird; vgl. Fu, Yuyan 1985, 47. 300 Das 3. Gedicht aus »Xing-ying-shen sanshou« 形影神三首 (Drei Gedichte über Körperleib, Schatten und Lebenskraft; Fang 1980, 173. 301 Vgl. Linck, »Das Zeichen für Herz xin. Gedanken zu einem chinesischen Begriff«, in Berkemer/Rappe 1996,71–81.
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Exkurs: Die Metaphorik des Herzens
b) Das Herz in der Alltagssprache Die verschiedenen Bedeutungsnuancen der Metapher Herz, die uns bisher begegnet sind, hält auch die moderne chinesische Alltagssprache bereit: vom Gefühl und den überwältigenden Emotionen über die Willenskraft und die moralische Urteilsfähigkeit, einschließlich des guten und schlechten Gewissens, bis hin zu vernünftiger Einsicht und Verstand. Vor allem, wenn es um Gefühle geht, sind die alten topoi vollzählig versammelt, auch wenn sie gelegentlich ihre Bedeutung etwas verändern: So ist das leere Herz (xū-xīn 虛心) heute im allgemeinen nicht mehr das Ergebnis philosophischer Einsicht; vielmehr deutet es auf Bescheidenheit, also meint ein Herz, das nicht aufgeblasen ist. Ein von Gefühlen aufgewühltes Herz ist verworren wie Hanfstroh (xīn luàn rú má 心亂如麻) oder rasend wie Feuer (xīn jí rú huǒ 心急如火), und manchmal hüpft es dabei in die Mundhöhle (xīn tiào zài kǒulǐ 心跳在口里) – vor Aufregung. Vertraut sind uns die Bilder vom Stein, der einem auch in China vor Erleichterung vom Herzen fällt (xīnlǐ luòxià yīkuài shítóu 心里 落下一 塊石頭); oder auch vom Dorn im Auge, der bei Chinesen allerdings im Herzen sitzt, während die Klarsicht des Auges durch einen Nagel behindert ist: yǎnzhōng dīng, xīntóu cì 眼中釘心頭刺. Nach alldem, was bisher über Herz und Gefühl gesagt wurde, verwundert es nicht, wenn die im Alltag gern zitierten Redewendungen ebenfalls vor zu viel Herzensregungen und Herzenswünschen warnen, denn ein Herz, das viele Träume hegt, hat auch viele Probleme. 302 Sternstunden erlebt das Herz als Sitz von Gefühl und Liebe auch heute noch in Schlagern und Popsongs, die nunmehr aus Lautsprechern dröhnen, denen früher Propagandasprüche vorbehalten waren. In jedem Lied taucht das Herz ein halbes Dutzend Mal auf. Und sogar hier übt es sich vor allem in Verhaltenheit, Selbstmitleid und Melancholie: Man »versteckt« (cáng 藏) mit Vorliebe seine Zuneigung, insbesondere das vor lauter Verliebtheit ver302
Die Herz-Sprichwörter, die genannten wie die noch folgenden, stammen aus einschlägigen modernen Lexika bzw. sind lebendiges Redegut, das ich während meines einjährigen Aufenthaltes in Beijing 1989/90 sammelte; viele verdanke ich Wang, Jing.
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rückte Herz (jí-xīn 疾心); denn das Herz wird sich im Netz der Emotionen nur verstricken: Es weint und weint, ja, es läuft nur so über vor Sentimentalität! Die gesammelte Willenskraft ist vor allem damit beschäftigt, das Herz auf etwas zu konzentrieren. Dazu ist es notwendig, daß man es nicht für zwei Dinge gleichzeitig beansprucht (xīn wú èr yòng 心無 二用) 303 oder daß es zumindest »präsent« ist: xīn-cún 心存. Vor allem hat das Herz im Auge anwesend zu sein, 304 denn der Ausdruck (xīn bùzài yǎn 心不在眼) zielt in der Negation auf Geistesabwesenheit bzw. Unaufmerksamkeit. Sollte unser westliches Herz höher schlagen, wenn wir im chinesischen Kontext endlich einmal auf ein »süßes Herz« (gān-xīn 甘心) stoßen, so folgt die Enttäuschung auf dem Fuße: Es hat durchaus nichts mit Wohlbefinden, Genuß oder mit Liebe zwischen den Menschen zu tun. Das süße Herz ist vielmehr eine Willensäußerung, denn der Entschluß, sich auf ein besonders mühsames und selbstloses Unterfangen einzulassen, macht ein chinesisches Herz erst süß! Teil der Willenskraft ist auch das Bemühen um Ausdauer und Beharrlichkeit, d. h. um ein geduldiges Herz, eine der wichtigsten chinesischen Tugenden (s. II.3.c). So prangen die beiden Zeichen 耐心 (nài-xīn): ein Herz, das viel, wenn nicht alles, »erträgt«, auf Kalligraphien, Wandbehängen und inzwischen auch bei uns auf T-Shirts aus Taiwan und Hongkong, wobei deren Träger selten wissen, auf welches Programm sie sich mit diesen magischen Zeichen womöglich eingelassen haben. 305 Das Herz als Metapher für Gefühl und Willenskraft! Nicht nur das: Auch in modernen Redewendungen und Wortspielen steht es für vernünftige Einsicht und Verstand. Doch trennen uns Welten von der Gedankentiefe der Philosophen und großen Dichter. Im Alltag geht es mehr um Kopfrechnen, chin. eben Herzrechnen (xīn-suàn 心算), oder auch um den klaren Überblick und durch303
Der Ausdruck findet sich in zenbuddhistischen Meditationshinweisen auch als bù-èr 不二 (Nicht-Zweiheit). 304 Bei uns gilt das Auge als Spiegel der Seele. In der chinesischen Medizin ist es der Leber zugeordnet. 305 Zur Ambivalenz der Geduld in der Mentalitätsgeschichte Chinas vgl. Lang-Tan 1995.
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Exkurs: Die Metaphorik des Herzens
dachten Plan, über den einer verfügt, wenn er Zahlen bzw. Mathematik im Herzen hat (xīnzhōng yǒu-shù 心中有數). Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit wiederum liegen vor, wenn »Herz und Mund einig« sind (xīn kǒu rú yī 心口如一); und wo uns »ein Licht aufgeht«, hat sich bei Chinesen im Herzen ein Fensterchen geöffnet (xīnlǐ kāile yīgè chuānghù 心里開了一个窗户). c) Das Herz in den Schriftzeichen Das Gesamtbild, das sich bereits abzeichnete, bestätigt sich, wenn wir die Schriftzeichen daraufhin befragen. Dort erscheint das Herz im allgemeinen als sinntragendes Element (Signifikum) von allerlei Zeichen, die verschiedene Gefühle, Willens- und Urteilskraft sowie Denkvermögen repräsentieren. Noch das moderne Wort für Denken (sīxiǎng 思想) wird zweimal mit Herz geschrieben. Erneut fällt bei der Betrachtung der Schriftzeichen auf, daß die Gefühle, die das Herz im Zeichen haben, vor allem störende Emotionen sind: Eifersucht, Kummer, Schreck, Furcht, Wut, Nachlässigkeit, Haß, Verwirrung, Einschüchterung, um nur einige zu nennen. 306 So drängt sich die Frage auf: Wo bleibt hier das positive Denken, mein Herz? Wie werden in den chinesischen Zeichen die angenehmen Gefühle ausgedrückt, die in unserer Metaphorik doch häufig mit dem Herzen verknüpft sind? Hier hilft der Blick auf die Anfänge der chinesischen Schrift weiter: 307 Die alten Zeichen für Freude, Heiterkeit und Glück, die auf Orakelknochen überliefert sind, tragen nämlich das Sinnelement Musik im Bild: Gleich zwei Zeichen für Freude, die heute noch gültig sind, bilden vermutlich Musikinstrumente ab, und zwar eine Trommel oder Pauke (xǐ 喜) und einen Schellenbaum mit Glocken daran (lè 樂). 308 Musik in früher Zeit – ob sie nun die religiösen Rituale begleitete oder für ausgelassene Volksfeste sorgte – war vor allem ein gemeinschaftliches Ereignis (s. II.l.b). Wenn also die heu306 307 308
Vgl. Pao 1985; s. II.3.c. Vgl. Bauer 1971, 29–30. Vgl. Karlgren 1966, 955 a-c bzw. 1125 a-c.
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tigen Zeichen für Freude, Heiterkeit und Glück mit Musik und Gesang assoziiert sind, so schließen wir daraus, daß diese Gefühle ursprünglich in Gemeinschaft erlebt wurden, d. h. zwischen den Menschen atmosphärisch spürbar waren, bevor eine spätere Wahrnehmung sie ins Innere des Menschen verlegte und vor allem dem Herzen zuordnete (s. II.l.c). Auch das alte Zeichen für »seine Freude haben an etwas« bzw. »lieben« (hào 好) zeigt durchaus kein Herz im Bild: Das Shuowen jiezi erläutert uns die Graphik als ein »schönes Kind«, d. h. ein schönes weibliches Wesen, 309 wenn auch eine populäre Etymologie, die heute immer wieder ins Feld geführt wird, das Zeichen als »Frau mit Kind« deutet, zumal es heute im dritten Ton ausgesprochen »gut« bedeutet. Die beiden häufigsten modernen Ausdrücke für angenehmes Empfinden lassen gleichfalls das Element Herz vermissen. So setzt sich das Wort für »froh«, »guter Dinge sein« (gāoxìng 高興) aus »hoch« und »erhebend« zusammen, was dieselbe raumerobernde Bewegung suggeriert wie z. B. unser Ausdruck: »vor Freude hüpfen« oder wenn einem »schwebend« und »leicht« wird vor Freude. In der modernen Wortverbindung für »gerne etwas tun«, »sich freuen an«, »mögen« (xǐhuān 喜欢) wiederum ist das erste Zeichen die erwähnte Trommel oder Pauke (s.o). Fragen wir zum Schluß unserer Betrachtung des chinesischen Herzbegriffs mit Goethe: »Herz, mein Herz, was soll das geben?«, so hinterläßt die bewegte Begriffsgeschichte folgenden Eindruck: In China schwankte das Herz bis in unsere Zeit hinein zwischen Gefühl und Emotion auf der einen und Willensanstrengung im Sinne von Moral und vernünftiger Einsicht auf der anderen Seite. Diesen Doppelcharakter hat sich das Herz auch in Sprache und Schrift durchgängig bewahrt: In der hohen Dichtkunst rangierte es mehr als Instanz einer philosophischen Einsicht; in den Volksliedern wie in der heute noch gültigen Alltagssymbolik läßt das Herz mehr seinen Gefühlen freien Lauf, wenn auch überwiegend den leidvollen.
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Shuowen jiezi, 618a.
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Zweiter Teil: Leib und Gefühl
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Leib und Gefühl
Nach der Differenzierung von Leib und Körper geht es im Zweiten Teil um Gefühle, die wir im und am eigenen Leibe spüren oder auch um uns herum als Stimmungen wahrnehmen. Einige verschaffen Wohlbehagen, andere beunruhigen und verwirren. Wie in Europa sahen sich die Menschen auch in China gezwungen, das eigene übermächtige Begehren ebenso wie von außen andrängende Atmosphären nicht einfach nur hinzunehmen: Sie wollten Abstand gewinnen, um die damit einhergehenden Gefühlsaufwallungen zu lenken und zu dämpfen. Genau diesem Bedürfnis war die oben geschilderte Selbstermächtigung des Herzens entsprungen. Von der Macht der Gefühle im weitesten Sinne des Wortes und ihren Spuren in religiösen und philosophischen Vorstellungen, Begriffen und Konzepten soll im ersten Kapitel die Rede sein. Eng mit Leib und Gefühl verknüpft ist das Problem der angeborenen menschlichen Natur, das hatten schon Mengzi (372–289 v. Chr.) und Xunzi (298–238 v. Chr) erkannt. 1 Vor allem interessierte die Philosophen, wie die menschliche Natur und Gefühlsregungen miteinander oder gegeneinander wirkten. Das jeweils unterschiedlich bestimmte Verhältnis von der angeborenen Natur des Menschen, das im zweiten Kapitel zur Debatte steht, bildet das Grundmuster einer chinesischen Gefühlstheorie. Die beiden letzten Kapitel dieses Zweiten Teils sind mehr der Alltagsgeschichte zugewandt: So zeigt das dritte Kapitel exemplarisch, wie die Menschen im vormodernen China leibliches Wohlbefinden auskosteten und pflegten, wie sie aber auch auf Leib und Körper einwirkten, indem sie sich manches versagten, verdrängten und unterdrückten. Mit anderen Worten, es geht nicht zuletzt auch um Gefühl und Begehren im Prozeß der Zivilisation 2. Das vierte Kapitel wiederum skizziert als Exkurs eindrucksvolle Beispiele von Leibbemeisterung und Körperertüchtigung sowie den Niedergang der betreffenden Spiele im Verlauf zunehmender Körperleibhemmung.
1 Das Herzverständnis des Mengzi und Xunzi war Teil dieser Diskussion über das Wesen des Menschen, s. I.3.b. 2 S. Einleitung Anm. 19.
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Leib und Gefühl
1. Die Macht der Gefühle 3 Seit Platon haben wir uns im Abendland daran gewöhnt, unsere Gefühle in einer Art Truhe, »Seele« genannt, aufzubewahren. 4 Nun widerspricht eine solche Sichtweise zwar unserer ureigenen Alltagserfahrung, denn allenthalben sind Gefühle um uns herum und zwischen uns und anderen atmosphärisch spürbar. Doch erscheint uns die Introjektion so selbstverständlich, daß es einer bewußten Umstellung bedarf, von dieser Denkfigur bis zu einem gewissen Grade Abschied zu nehmen: Es würde bedeuten, Gefühle, wie Freude oder Zorn, nicht nur innerlich bzw. am eigenen Leibe zu spüren, sondern sie zugleich als hüpfende, schwebende Freude oder ausfahrenden Zorn räumlich zu erfahren: als zwischenmenschlich wirkende, anziehende oder abstoßende Kräfte. Es würde weiter bedeuten, die Mitmenschen ebenso wie andere Wesen und Dinge der Welt weniger als »Objekte gegenüber« wahrzunehmen, als vielmehr eine Durchlässigkeit, eine gemeinsame Situation 5 zu unterstellen, die uns zunächst einmal verbindet und nicht trennt. Der Blick in eine andere Kultur, die anderes für wahr nahm und nimmt, kann uns dabei umso schneller auf die Sprünge helfen. Wir beginnen im ersten Abschnitt mit a) Selbstzeugnissen leiblichen Spürens, die exemplarisch für verschiedene Epochen der chinesischen Tradition stehen. Im Anschluß daran machen wir uns auf die Suche nach den machtvollen b) Gefühlsatmosphären, die hinter zentralen Begriffen und Konzepten der chinesischen Religion und Philosophie verborgen sind. Dieses erste Kapitel abschließend, soll in einem dritten Abschnitt die chinesische Variante einer c) Introjektion der Ge3
Zum Verständnis von Gefühl und Emotion im Hinblick auf China unter anderen methodischen Vorzeichen vgl. Hansen 1995, Beiträge von Messner u. a. 2007 sowie Santangelo/Middendorf 2006. 4 Auch das Herz wurde bei der europäischen »Introjektion« der Gefühle immer wieder als ein solcher Aufbewahrungsort reklamiert, dem im Gegensatz zur »Seele« des Platon ein leiblicher Regungsherd zugrunde lag; vgl. Schmitz 1996, Stockinger 1996 sowie Hertzer 2006. 5 Zum Situationsbegriff s. Anhang 1.
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Die Macht der Gefühle
fühle zur Sprache kommen, denn auch dort fand eine gewisse Distanzierung von Gefühlsatmosphären statt. a) Selbstzeugnisse leiblichen Spürens Die Einstellungen zum leiblichen Spüren sind in den beiden Traditionen des (1) Daoismus und des (2) Konfuzianismus höchst unterschiedlich. Darüber hinaus entwickelte sich vor der Tangzeit (618– 906) eine spezifische (3) chinesische Gelehrtenkultur, mit der sich offenbar die Vertreter sämtlicher Denkrichtungen identifizieren konnten. Wesentliches Merkmal dieser Elitekultur war, daß sie bei aller Aufforderung zur Selbstkontrolle dem leiblichen Spüren viel Raum gewährte. Möglicherweise hängt es auch damit zusammen, wenn im chinesischen Denken Gefühlsatmosphären durchgängig ihren Platz behaupten konnten. Den vom (1) philosophischen Daoismus inspirierten Philosophen war leibliches Spüren Inbegriff der Einheit mit dem dao und als Teil meditativer Leibbemeisterung unaufhörlich zu pflegen. Verschiedene Stellen im Daodejing, auf die wir schon aufmerksam machten, weil sie auch als »körperfeindlich« interpretiert wurden, 6 zeigen deutlich, daß das eigenleibliche Spüren am besten mit geschlossenen Sinnesöffnungen vor sich geht: »Farben machen die Augen blind Töne machen die Ohren taub […].« 7
Auch dem Mund ist Zurückhaltung geboten, denn Schweigen 8 gilt als unabdingbare Voraussetzung für meditative Verschmelzung mit dem dao, die im Vers 56 als »dunkle Gemeinsamkeit« umschrieben ist: »Der Wissende redet nicht, der Redende weiß nicht, 6
Hendrischke 1995. Daodejing, Vers 12; vgl. Legge o. J., 103; vgl. Schwarz 1980, 62, Simon 2009, 40– 41, Gerstner o. J., 73–76 und Wagner 2006, 155–156. 8 Vgl. I.3.a sowie Luhmann/Fuchs 1997, 46–69. 7
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Leib und Gefühl
verstopft den Mund, verschließt das Tor, [durch das er spricht]. Entwirrt die Verwirrungen, eint den [Viel]glanz gemeinsam im Staube: Dunkle Gemeinsamkeit (xuán-tóng 玄同) sei dies genannt […].« 9
Die Stelle ist insofern »sinnenfeindlich«, als es darum geht, die Sinnestore sowie das Sprechorgan zu verschließen, um desto besser spürend wahrzunehmen; ist Meditation ein Erkenntnisvorgang besonderer Art, so läßt sich daraus die Aufforderung ableiten, die Wirklichkeit nicht auf das zu reduzieren, was die sogenannten Sinnesöffnungen an Reizen bieten. Ähnliche Worte finden sich im Zhuangzi, dem zweiten großen daoistischen Klassiker aus vorchristlicher Zeit. Aus didaktischer Absicht vermutlich legt der Autor diese Worte dem Konfuzius in den Mund: »Auf das Eine richte deinen Willen. Versuche nicht, es mit deinem Ohr zu hören, sondern [eher] mit deinem Herzen (xīn 心). Beschränke dich auch nicht darauf, es mit deinem Herzen zu hören. Vernimm es mit deinem Atem (qì 氣). Das Hören bleibt bei den Ohren stehen. Das Herz bleibt beim Prüfen [des Willens] stehen. Der Atem aber ist leer und so für alle Dinge empfänglich. Nur in der Leere sammelt sich das dào 道.« 10
Die Konzentration auf den Atem ist laut Zhuangzi begleitet von Ichlosigkeit und Absichtslosigkeit. 11 So kommt es auch, daß Zhuang 9
Daodejing, Vers 56; vgl. Legge o. J., 148; übs. in Anlehnung an Schwarz 1980, 106 und Simon 2009, 172–173, vgl. auch Wagner 2006, 307–309 und Gerstner o. J., 281–285. 10 Zhuangzi, Kap. 4.2 »Renjianshi«; vgl. Legge o. J., 257. 11 Das schließt fokussierte Aufmerksamkeit nicht aus. Im Gegenteil, es hat den Anschein, als ob der leibliche Ort der Meditation als »Einspitzigkeit« (ekâgra) bzw. (Nicht-Zweiheit) genau in der Mitte zwischen schläfrigem Dahindämmern (personaler Regression) und hellwachem Bewußtsein (personaler Emanzipation) anzusiedeln wäre. S. Anhang 1. Demnach wäre »Erwachen ins Nirwana« (samadhi) leiblich gesehen nichts anderes als plötzliches Umschlagen extremer intensiver Engung in verströmende Weite: »Gewinn maßloser leiblicher Weite, die Ekstase«, Soentgen
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Zhou und andere Mitverfasser des Buches sich wiederholt lustig machen über die angestrengten Bemühungen mancher Zeitgenossen, durch Atem- und Bewegungsübungen ihr Leben zu verlängern: »Schnaubend ein- und ausatmen, das Alte ausstoßen, um das Neue aufzunehmen, sich wie ein Bär bewegen und wie ein Vogel [die Flügel] ausbreiten – dies einzig und allein um der Langlebigkeit willen – darin [beruhen die Bemühungen] der Adepten, welche das Leiten und Dehnen (dào-yǐn 導引) üben, ihren Körperleib (xíng 形) nähren und dadurch ein langes Leben zu erlangen suchen wie [der legendäre] Pengzu.« 12
Nach Zhuang Zhou läßt sich das dao nicht zwingen: Nur absichtsloses »Sitzen und Vergessen« (zuò-wàng 坐忘) will er gelten lassen. Doch waren es gerade die Adepten dieser belächelten Tradition, die durch die Kaiserzeit hindurch bis heute entschieden am leiblichen Spüren festhielten, an den entsprechenden Leibbildern und Leibpraktiken arbeiteten, sie systematisierten und verbreiteten. 13 Als alltägliches und zugleich intensives Spüren spielte dabei die gekonnte Tiefatmung, chin. tāi-xī 胎息 (Embryonalatmung), 14 eine wichtige Rolle, denn die Adepten waren davon überzeugt, nur auf diese Weise könnte es gelingen, die kosmischen Einflüsse aufzunehmen, im Leibkörper kreisen zu lassen und so das Leben zu verlängern. Hier ein Zitat aus der Abhandlung (fú-qì-jīng yì-lùn 服氣精義論) 15 von Sima Chengzhen 司馬承禎 (647–735), einem schon zu seinen Lebzeiten berühmten tangzeitlichen Daoisten: 1998, 43. Neben den leiblichen Dimensionen Engung (Fokus) und Weitung kommen hier die leiblichen Tendenzen epikritischer (Fokus) und protopathischer Art zum Tragen. Vgl. dazu auch die chinesische Anthropologie der Sinne in: Linck 2007. 12 Zhuangzi, Kap. 15.1 »Keyi«; vgl. Legge o. J., 412. Vgl. Eberhard 1983, 220: »[…] der chinesische Methusalem soll 800 Jahre alt geworden sein und mit 70 noch wie ein Baby ausgesehen haben.« 13 Vgl. die Übersicht in Kubny 1995, Stein 1998, 263–301. 14 Eine chinesische Variante des mit dem Yoga verknüpften Pranayama, in dem zwischen Einatmen (puraka) und Ausatmen (recaka) ein Anhalten des Atems (kumbhaka) durch Setzen von bandhas, visualisierte Sperrungen zwischen Körperbereichen, vorgesehen ist; vgl. Eliade 1960, 55 ff. 15 »Über die essentielle Bedeutung der Aufnahme des qi«; übs. und kommentiert von Engelhardt 1987.
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Leib und Gefühl
»Mit dem Gesicht nach Osten sitzt man aufrecht, ballt die Hände zu lockeren Fäusten, schließt die Augen und richtet seine Gedanken auf die ›konstellierende Kraft‹ 16, man klappert 360 Mal mit den Zähnen. Nun entspannt man den Körper 17, läßt das qi ausgewogen werden und geht folgendermaßen vor […].« 18
Was folgt, ist die ausführliche Beschreibung gymnastischer Übungen, die von Atemübungen begleitet sind. Mit dem bewußt gepflegten Atemrhythmus verbunden war das Rezitieren von Zauberformeln, Bittgesuchen und Lobgesängen, nicht zuletzt um »die Stimme mächtig zur Entfaltung zu bringen« 19, wie es Sima Chengzhen selbst formulierte. Alle diese Übungen, die aus späteren Jahrhunderten auch illustriert überliefert sind (s. Abb. 3), zielten auf die Einheit mit dem dao, d. h. leiblich gesprochen auf Selbstvergessenheit im Erleben von Weite. Seine Weitungserlebnisse, auf die Sima Chengzhen im Vorwort eingeht, schildert er als Schweben, Sich-Emporheben und »Verwandeln durch Fliegen« 20 oder auch als Fahren auf dem Feder- oder Wolkenwagen, um Zeit und Raum zu überwinden – alles Metaphern, die Leichtigkeit, Unbeschwertheit und Ungebundenheit suggerieren: »So vermag man Wolkenwagen anzuhalten, in kürzester Zeit auf einem Federwagen davon zu galoppieren und über die Weite zu spotten.« 21
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Was Engelhardt hier in Übereinstimmung mit der energetischen Terminologie von Porkert als »konstellierende Kraft« übersetzt, ist im Chinesischen shen, die dem yang zugeordnete »Lebens-, Bewußtseins- oder Geisteskraft«; s. I.2.c (1). 17 Da ich das Original nicht vorliegen hatte, war nicht zu überprüfen, welchen chinesischen Begriff Engelhardt mit »Körper« übersetzt; in dem hier zugrunde gelegten Verständnis handelt es sich jedenfalls nicht um den tast- und sichtbaren Körper, ist doch Entspannung ein ganz-körperleibliches Geschehen. 18 Kap. »Daoyinlun«; Übs. Engelhardt 1987, 124. 19 Engelhardt 1987, 117. Womöglich auf das Om-Singen in indischen Meditationspraktiken zurückzuführen. Auch das sogenannte 6-Laute-Qigong könnte dort seinen Ursprung haben. Echternacht 2008. 20 Ebd. 220. 21 Übs. Engelhard 1987, 87.
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Abb. 3: Acht Brokatübungen 22
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Aus: Stein 1998, 275.
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Leib und Gefühl
Noch die Selbstzeugnisse der Mittleren und Späten Kaiserzeit, aber auch heutige Praktiken belegen die nach wie vor ganzheitlich-leibliche Fundierung solcher Übungen. Im allgemeinen sind es die (2) konfuzianischen Philosophen, denen nachgesagt wird, um des harmonischen Zusammenlebens willen allzu sehr um Mäßigung und Selbstkontrolle bemüht gewesen zu sein; so wird ihnen ein Großteil Verantwortung für Körper- und Leibfeindlichkeit in der Geschichte Chinas zugeschoben. 23 Dieser Vorwurf ist nur zum Teil berechtigt, denn erstens hatten bestimmte Strömungen innerhalb des Daoismus und Buddhismus ihren Anteil am Prozess der Hemmung von Gefühlsäußerung; und zweitens war auch den Philosophen konfuzianischer Prägung durch die Jahrhunderte hindurch leiblich-atmosphärisches Spüren ein unveräußerlicher Aspekt menschlichen Lebens. 24 Dies gilt umso mehr für die Anfänge des Konfuzianismus, d. h. für eine Zeit, in welcher das philosophische Bemühen um Bändigung menschlicher Gefühle und Begehrlichkeiten gerade erst einsetzte. Die Schüler des Konfuzius berichten z. B. von einem Gespräch, in dem der Meister vier seiner Schüler nach ihrem Herzensbestreben 25 befragte. Drei von ihnen unterbreiteten ihm daraufhin ihre weitreichenden weltverbessernden Pläne, die von hoher sozialer Verantwortung zeugten. Der zuletzt Befragte, ein gewisser Dian 點, gestand sich jedoch ein ganz anders geartetes Herzensbestreben zu: »[Dian: 點] ›Ich möchte im Spätfrühling, wenn wir die [luftigen] Frühlingskleider tragen, in Begleitung von fünf oder sechs erwachsenen [Freunden] und sechs oder sieben Knaben im Yi 沂-Fluß baden und auf dem Wuyu 舞雩[-Hügel] des Windes Kühlung [genießen] und singend heimwärts ziehen.‹« 26
Die spontane Reaktion des Konfuzius fiel wortkarg, aber umso eindringlicher mit einem Seufzer aus: »Ach, ich [halte es] mit Dian.« 27 23 24 25 26 27
S. das Zitat von Liu E in II.2.c. S. die Ausführungen zur Gelehrtenkultur im nächsten Abschnitt (3). Wörtl. »Wille« (zhi). Lunyu 11.26; vgl. Wilhelm, R. 1985, 120. Ebd.
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Sie verrät des Meisters eigene Lust an geselligem Beisammensein 28 und wohltuender Atmosphäre. Zugegeben – solche Textpassagen, die dem leiblichen Spüren offen das Wort reden, halten die philosophischen Schriften der konfuzianischen Tradition eher selten bereit. Dies gilt nicht nur für die Freude am Leben, sondern ebenso für Gefühle von Schmerz und Trauer. Auch hier ist eine Geschichte über Konfuzius aufschlußreich. So soll er, betroffen vom frühen Tod seines Lieblingsschülers Yan Hui, verzweifelt ausgerufen haben: »Oh weh! Der Himmel will mir ans Leben!« 29 So erschüttert war er, daß er – im Gegensatz zu dem, was er lehrte – seine Gemütsaufwallungen nicht zu beherrschen vermochte und »in heftiges Weinen ausbrach«. Als seine Schüler ihn daraufhin ermahnten, soll Konfuzius erwidert haben: »Klage ich zu heftig? Wenn ich um diesen Mann nicht bitterlich weine, um wen dann?« 30 Doch diente diese Geschichte der Nachwelt offenbar als Ausnahme von der Regel, denn nach konfuzianischer Vorstellung sollten Gefühle grundsätzlich nur verhalten geäußert werden – sei es, um das Zusammenleben harmonischer zu gestalten oder um Würde und Selbstachtung aufrecht zu erhalten. Dieses Anliegen konnte auf Dauer dem spontanen Ausleben von Körper und Leib sehr wohl abträglich sein – und war es auch. In allen Kulturen sind es vor allem die Schöpfer der Künste, die mit Vorliebe Ergriffen- und Betroffensein zum Ausdruck bringen. Nun gehörte in China Dichten und Malen ebenso wie das Kalligraphieren und Musizieren über lange Strecken der Geschichte hinweg so eng zum Selbstverständnis der (3) chinesischen Gelehrtenkultur, daß spätestens seit der Songzeit (960–1278) grundsätzlich jeder aufgefordert war, sich dahingehend zu betätigen und zu vervollkommnen. Hinzu kam, daß das Verfassen von Gedichten zur Zeit der Tang-Dynastie (618–906) in die Liste der Prüfungsaufgaben der Beamten-Kandidaten aufgenommen wurde. Erst recht war dies denjenigen ein tägliches Bedürfnis, die weder ein öffentliches Amt 28
Ob hier homo- oder pädophile Praktiken angedeutet sind, sei in diesem Kontext dahingestellt. 29 Lunyu 11.9; Übs. Wilhelm, R. 1985, 144. 30 Lunyu 11.10; vgl. Wilhelm, R. 1985, 114.
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bekleideten noch gesellschaftliche Würden anstrebten, sondern in Muße lebten, um durch die angesprochenen künstlerischen Aktivitäten, aber auch durch ausgedehnte Spaziergänge in der Natur ihre »Lebenskraft zu nähren« (yǎng-shēng 養生). An dieser Elitekultur, die bereits vor der Tangzeit für das Selbstverständnis der Oberschicht prägend war, hatten Konfuzianer wie Daoisten und Buddhisten gleichermaßen Anteil, zumal es nicht selten vorkam, daß ein und derselbe Gelehrte sich in allen drei Traditionen heimisch fühlte oder in verschiedenen Phasen seines Lebens, wenn nicht sogar situativ, mehr der einen oder mehr der anderen zuneigte. 31 Warum ausgerechnet das Dichten so selbstverständlich zu dieser Elitekultur gehörte, mag damit zusammenhängen, daß im kulturellen Gedächtnis der Gelehrten am Beginn der schriftlichen Tradition Chinas kein Heldenepos stand; den Anfang machte vielmehr eine Sammlung von Gedichten bzw. Liedern, die zwischen dem sechsten und zweiten vorchristlichen Jahrhundert kompiliert wurden. Wie kein anderes Werk hat das Shijing (Buch der Lieder) das chinesische Denken ausgerichtet, gehörte es doch untrennbar zum Bildungsinventar der Elite, daß wir allenthalben auf direkte und indirekte Zitate, Symbole und Metaphern aus diesem Liedergut stoßen. Nun zeichnet sich lyrische Dichtung gerade dadurch aus, daß affektives Betroffensein derart sprachlich ver»dichtet« und zugleich schonend gestaltet wird, daß die Ganzheit der Empfindungen möglichst bildhaft unversehrt zum Ausdruck kommt. 32 Die ungenannten Dichter des Shijing pflegten aus ihrer damals noch selbstverständlichen Naturnähe 33 heraus, menschliche Stimmungen mit Hilfe von Naturbildern zu umschreiben: Sie beschworen Atmosphären, die sie mit der sie umgebenden Natur teilten. Uns modernen westlichen Menschen, zumal am Ende des 20. Jahrhunderts, fällt dabei auf, daß sie Naturerleben nicht in ein menschliches Subjekt auf der 31
So spiegeln Gedichte aller Jahrhunderte, daß sich auch der ambitionierteste Anwärter einer konfuzianischen Beamtenkarriere in Zeiten der Verfolgung oder des Exils im daoistischen bzw. buddhistischen Welt- und Selbstverständnis aufgehoben wußte. 32 Vgl. Schmitz 1980, Kap. V »Philosophische Grundlagen der Dichtungstheorie«, 80–101. 33 Vgl. Kubin 1985.
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einen und Landschaft als Objekt auf der anderen Seite zerlegten, sondern sich selbst als in einer gemeinsamen Befindlichkeit mit der Natur wahrnehmen. Vielleicht ist es auf die Prägung durch das Buch der Lieder zurückzuführen, daß die gemeinsame Situation von Mensch und Natur ganz allgemein ein Kennzeichen chinesischer Dichtung ist – offenkundig in der frühesten Dichtung, aber auch in (chan-)buddhistischen Versen. 34 Folgende Zeilen aus diesem altchinesischen Liederbuch, die der Autor einem einfachen Soldaten in den Mund legt, schildern eine Situation der Lebensfülle: Die frohe Heimkehr ins Dorf nach langer Abwesenheit in Todesgefahr findet ihren Ausdruck in der Schilderung der verschwenderischen Natur im Frühling: »Zögernd vergeh’n die Frühlingstage, Pflanzen und Bäume üppig stehen. jiē-jiē 喈喈 schreien die Oriole. Artemisia pflücken gehen die Frauen in Scharen.« 35
Erst recht fühlt sich der Dichter betroffen, wenn die Stimmung in der Natur im Widerspruch zum eigenen Befinden steht, wie in dem folgenden Vers von Du Fu 杜甫 (712–770). Die alljährlich wiederkehrende Fülle der Natur kontrastiert hier mit Trauer und Heimweh des Dichters: »Smaragdgrün der Fluß, umso heller die Wasservögel. Blau die Berge, umso [röter] die Blüten. Auch diesen Frühling seh’ ich vorüber gehen! Wann kommt das Jahr der Heimkehr?« 36
In beiden Fällen setzt sich der jeweilige Dichter mit jahreszeitlichen Atmosphären auseinander. Noch Liang Qichao 梁啟超 (1873– 1929), ein moderner und bereits westlich beeinflußter Philosoph 34
Zur Natur als Objekt in der chinesischen Dichtung vgl. Kubin 1985, 83 ff., zu (chan-)buddhistischen Gedichten vgl. Döhrn 1993 und Linck 2011. 35 Shijing, »Xiaoya«, Lied Nr. 168; vgl. Legge 1991, vol. 4; vgl. die Übersetzung in Kubin 1985, 38. 36 Einer der beiden fünfsilbigen Vierzeiler jué-jù èr-shǒu 絕句二首; Wu Juntao 1881, 177; Kubin 1985, 300. Der Strom ist der Yangzi 揚子江, die Heimat des Dichters Chang’an 長安, die Hauptstadt der Tang-Dynastie.
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im Übergang von der Kaiserzeit zur Republik, achtet auf das Ergriffensein des Menschen durch die Natur, wobei ihm allerdings an der jeweils ganz subjektiven leiblichen Erfahrung gelegen war: »Hundert Personen an dieser Stelle, angerührt von diesem Berg, diesem Strom, diesem Frühling, diesem Herbst, diesem Wind, diesem Mond, dieser Blume, diesem Vogel – doch […] die daraus aufsteigenden Stimmungen sind unübersehbar an der Zahl.« 37
Die Beispiele zeigen exemplarisch, daß sich chinesische Gelehrte bei aller Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle nicht in derselben Konsequenz, wie sie für die offizielle europäische Philosophie typisch war, vom leiblichen Spüren distanzierten, sich vielmehr nach wie vor Atmosphären und ganzheitlichen Eindrücken bewußt aussetzten. Und dafür sorgte nicht zuletzt das spezifische Selbstverständnis der chinesischen Gelehrtenkultur, denn jeder Beamte, jeder General und jeder Privatgelehrte war immer zugleich auch Dichter und Philosoph: Den größten Staatsmännern und Kriegern verdanken wir einige der schönsten Gedichte. 38 Zur Bedeutung der Dichtung im Selbstverständnis der chinesischen Elite kam noch ein anderes hinzu: die Eigenheiten der vormodernen Schriftsprache, derer sich die Beamtengelehrten bedienten: In ihrer Knappheit und Eindringlichkeit ebenso wie in ihrer Vieldeutigkeit erinnern Abhandlungen, einschließlich der nüchternen Eingaben von Beamten, eher an poetische als an diskursive Texte. 39 Neben den durch Natur und Landschaft oder durch die spezifische Art des Wohnens 40 bewirkten Gefühlsatmosphären beLun ziyou 論自由; zit. n. Pang Xuequan 1994, 7. Deren Gedichte drehen sich nicht allein um Krieg und Politik, sondern gleichermaßen um Landschaft und Heimweh, fremde Sitten; vgl. die Gattung der »Grenzgedichte«, z. B. in: Linck, »Visions of the Border in Chinese Frontier Poetry«, in: S. Dabringhaus/R. Ptak/R. Teschke (Hg.), China and Her Neighbours. Borders, Visions of the Other, Foreign Policy 10th to 19th Century. Wiesbaden (Harrassowitz) 1997, 99–117. 39 So ist das einzelne Wort an und für sich nicht ausschlaggebend für sein Verständnis. Angesichts der Vieldeutigkeit chinesischer Wörter und Zeichen ist einzig und allein die Stellung im Satz, die jeweilige Beziehung zu anderen Satzgliedern entscheidend für die situative Sinngebung. Mit anderen Worten: Nicht irgendeine festgelegte »substanzielle« Bedeutung eines Wortes macht seinen Sinn aus, sondern das Rela37 38
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schäftigten die chinesischen Gelehrten seit Mengzi (372–289 v. Chr.) auch die komplexeren moralischen Gefühle, wie Mitleid, Scham, das Empfinden für das, was situativ richtiges oder falsches Verhalten sei und die bescheidene Selbstzurücknahme. Auch diese Gefühle, die bereits eine gewisse Sozialisation voraussetzen, gelten im chinesischen Kontext als relationale, d. h. als Gefühle räumlicher bzw. zwischenmenschlicher Natur. 41 b) Gefühlsatmosphären im religiösen und philosophischen Gewand Nicht jede subjektive Körperleiberfahrung kristallisiert sich in Begriffen und Konzepten. Gewiß aber solche, die nachhaltig und immer wieder betroffen machen. Im chinesischen Denken, in Religion und Philosophie, lassen sich die Dimensionen leiblichen Spürens allenthalben nachweisen, allen voran Enge und Weite, chin. Fülle und Leere, 42 sowie Gefühlsatmosphären verschiedenster Art. Nacheinander interessieren uns (1) die numinosen Atmosphären; (2) yin und yang; (3) qi als Atmosphärisches und, wenn auch an dieser Stelle nur beiläufig, (4) Musik und Riten. Was (1) numinose Atmosphären bzw. göttliche Wirkkräfte den Menschen in der Frühzeit der Geschichte bedeuteten, d. h. im 2. vorchristlichen Jahrtausend, findet sich auf den Orakelknochen eingeschrieben. Die Schriftzeichen veranschaulichen, was sich die Menschen von numinosen Mächten für Leib und Leben erhofften und welche Gefühle sie jenen gegenüber hegten. So wurden den tionale, Kontextuelle und nicht zuletzt Atmosphärische der jeweiligen Sprachsituation. 40 Vgl. die unveröffentlichte Magisterarbeit von Stocken 1997. Begreift man Wohnen als »Kultur im umfriedeten Raum« (Schmitz), so versteht sich von selbst die Bedeutung von Wohnatmosphären; zur chinesischen Geomantik (fēng-shuǐ 風水) als »Arbeit am qi (Qigong) mit dem Kompaß« vgl. Linck 2000 bzw. 2006, 105 ff. 41 S. w. u. II.2.a. sowie Anm. 98. 42 Davon war und wird noch mehrfach die Rede sein. Das Begriffspaar »Fülle und Leere« ist für das chinesische Denken ebenso signifikant wie dao, qi, yin und yang. Es dient nicht nur zur Beschreibung des Vorgangs der Atmung und anderer medizinisch-leiblicher Phänomene, sondern findet sich ebenso in der Philosophie, Malerei, Kalligraphie, Dichtung, ja sogar in der Grammatik; vgl. auch Cheng 1979.
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»oberen und unteren Wolken[göttern]« und den »Wolken[göttern] in den Vier Himmelsrichtungen« Schweine geopfert, um Regen zu erbitten. 43 Mit Wolken und Regenguß verknüpft war das Phänomen der Winde bzw. Stürme, welche die Menschen schreckten und ängstigten. Der höchste Gott, Ahnherr des Shang/Yin-Staates, (shàng-dì 上帝) erhielt Schafe, Hunde und Schweine als Opfergabe, damit er den Stürmen, die aus den vier Himmelsrichtungen tosten, Einhalt geböte. Auch dem Erdgott wurde geopfert, in einem Fall bekam er allein zehn Rinder vorgelegt, damit anhaltender Sturm und Regenguß ein Ende hätten. In allen vier Himmelsrichtungen – so glaubten die Menschen – hielt sich darüber hinaus eine Vielzahl weiterer Geister und Götter der Erde auf. Außer der Erdgottheit selbst waren dies vor allem Gottheiten der Berge, Flüsse und Seen, die man nicht sehen, nicht greifen, nicht hören kann – und doch waren sie den Menschen leiblich spürbar nahe! Auch die Experten der entwickelteren Divinitationskünste der nachfolgenden Zhouzeit (ca. 1025–221 v. Chr.) zeigten sich souverän im Umgang mit göttlich-numinosen Atmosphären und suchten jene Wirkkräfte durch Schildkröten- und Schafgarbenorakel zu beeinflussen und zu manipulieren. Gleiches gilt für Shamanen und Shamaninnen, welche die durch Träume vermittelten Botschaften zu deuten wußten. 44 Zu den numinosen Mächten, die auf den Orakelknochen figurieren, gehörten neben Göttern, Berg-, Fluß- und anderen Geistern auch die Geister der Toten. Ihnen diente der chinesische Ahnenkult (s. I.l.a). Die frühen Zeichen veranschaulichen, daß den Ahnen ein Großteil der Verantwortung zukam für Wohlbefinden, Gesundheit, Krankheit, Geborgenheit und Angst der Lebenden. Die späteren Ritenbücher, die den Umgang mit den Toten regeln, bestätigen diese Erwartungshaltung gegenüber den Toten- und Ahnengeistern. 43
Onozawa u. a. 1988, 18. Deren Rolle wird im Zuozhuan 左傳, einem der drei Kommentare zu den Frühlings- und Herbstannalen (Chunqiu 春秋), ausgiebig gewürdigt und auch kritisiert; vgl. Legge 1991, vol. V. 44
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Die genannten leiblichen Befindlichkeiten und Gefühle wurden als Wirkungen numinoser Herkunft wahrgenommen und allgegenwärtig umhüllend gespürt. Religiöse Glaubensinhalte verschiedenster Prägung – vom Ahnenkult über Geisterbeschwörungen und Götterverehrung bis hin zum Grenzbereich von Religion und Philosophie in erleuchtender Meditation – bewegten zu allen Zeiten und in allen Teilen der Welt die Menschen; sie drücken der chinesischen Gesellschaft bis heute ihren Stempel auf. Sogar in der VR China hat ein marxistischer Atheismus sie nie gänzlich auslöschen können; im Gegenteil, man hat den Eindruck: Die Religionen sind zurückgekehrt – auf dem Lande mit aller Macht. (2) yin und yang als räumlich ergossene Atmosphären. Nicht nur die anthropomorphen Götter und Geister wurden atmosphärisch erlebt, auch die frühen philosophischen Konzepte, allen voran das dao 45, aber auch yin und yang erweisen sich als Quintessenz leiblich spürbarer Atmosphären. Die allgemein akzeptierte Etymologie der beiden Begriffe lautet im Shuowen jiezi, dem Lexikon aus dem 2. nachchristlichen Jahrhundert, wie folgt: Das Dunkel bzw. die Nord- oder Schattenseite des Berges steht für yin, während yang als das Gegenteil definiert wird, die Süd- und Lichtseite des Berges: 46 So figuriert im alten Schriftzeichen für yīn 陰 die Wolke 云 47, während in seinem modernen Pendant 阴 der Mond 月 erscheint. Die
45
Dies ist so offensichtlich, z. B. in der Meditation, daß dem dao hier kein eigener Abschnitt gewidmet ist; vgl. die Verse 25, 34, 39, im Daodejing; analog Schwarz 1980, 75, 85, 89. Den in Wagner 2003b, 123 aufgeführten Synonymen für das dao: Mutter (mǔ 母), Anfang (shǐ 始 bzw. tài- shǐ 太始 sowie tài-chū 太初), Ahne (zōng 宗), Grund (běn 本), das Beständige (cháng 常) und Geheimnisvolle (ào 奧) lassen sich weitere hinzugefügen, ohne erschöpfend sein zu wollen: das Dunkle (xuán 玄), das Undifferenzierte (wú 無) und Gestaltlose (wú-xíng 無形), das Unerschöpfliche (wú-jìn 無盡), das Große Gemeinsame (dà-tóng 大同), dunkle Gemeinsamkeit (xuán-tóng 玄同), das Verschwommene/Dumpfe (hùn-dùn 混沌), das Eine (yī 一) bzw. das Große Eine (tài-yī 太一), das Urchaos (hóng-méng 鴻蒙, s. III.1.a) und in Begriffen der Leibphilosophie: das Chaotisch-Mannigfaltige, Dauer-Weite-Kontinuum. 46 Shuowen jiezi, 731. 47 Langzeichen:雲, Aussprache: yún.
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Schriftzeichen für yáng tragen in der alten (陽) und neuen (阳) Variante jeweils die Sonne 日 im Bild. Bekanntlich lagerten sich mit der Systematisierung der yin-yangTheorie in den Jahrhunderten unmittelbar vor und nach Chr. an das Begriffspaar alle anderen nur denkbaren Gegensatzpaare an. Davon seien nur einige aufgeführt: yin wird der Erde und yang dem Himmel zugeordnet, yin dem Mond und yang der Sonne, yin der Nacht und yang dem Tag, yin dem Winter, yang dem Sommer, yin der Kälte, yang der Hitze, yin der Feuchtigkeit, yang der Trockenheit usw. Die genannten Erscheinungen sind offensichtlich nichts anderes als klimatische, tages- und jahreszeitliche Atmosphären, denen der Mensch in seiner ganz alltäglichen Lebensbewältigung jahraus und jahrein ausgeliefert war und ist. So läßt sich auf Anhieb erraten, was sich hinter den beiden Begriffen verbirgt an ursprünglichen und unwillkürlichen Gefühlen des Wohlbefindens oder Unbehagens, Lebensfreude oder Lebensangst: Selbst wir, die wir im Winter mit Hilfe der Heizung die Wärme ins Haus holen und mit künstlichem Licht »die Nacht zum Tage machen«, sind nach wie vor von solchen kosmischen Einwirkungen beeinflußt und betroffen. 48 Über die genannten Verknüpfungen hinaus sind dem Begriffspaar optische und gespürte Wirkungen zugeteilt, wie das Trübe/ Matte (zhuó 濁) auf der einen Seite und das Klare/Glänzende (qīng/míng 清/明) auf der anderen. Aber auch Stille (jìng 靜) und Bewegung (dòng 動) werden atmosphärisch empfunden und yin bzw. yang zugeordnet, ebenso wie das Schwere (zhòng 重) und Leichte (qīng 輕), das Weiche (ruò 弱) und Harte (gāng 剛). 49 In allen Fällen gilt das jeweils Erstgenannte als eine Wirkung des yin und sein Gegenteil als eine Wirkung des yang:
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Namentlich im hohen Norden leiden zahlreiche Menschen an der sogenannten Winterdepression. 49 Die genannten Qualitäten können auf zweifache Weise wahrgenommen werden: erstens, als tast- oder sichtbare oder auch meßbare Eigenschaft von Körpern; zweitens, aus der Leibperspektive heraus als Anmutungen, wie Trübsinn und Schwermut, der Festtagsglanz einer Feier, die Stille im Auge des Taifun, die schwüle Schwere vor einem Gewitter, die heitere Leichtigkeit eines Frühlingstags.
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yin 陰 Trübes Mattes Weiches Stille Schwere
yang 陽 Klares Glänzendes Hartes Bewegung Leichtigkeit
Diagramm 5: Zuordnungen von yin und yang
Nicht zuletzt sind yin und yang mit den Fünf Geschmäckern assoziiert, d. h. mit den aus bestimmten Speisen aufsteigenden geruchlichgeschmacklichen Atmosphären: süß, scharf und salzig (yin), sauer und bitter (yang). (S. Tabelle 3 in: III.2.a) In allen Fällen interessierte die Philosophen der Gesamteindruck, die atmosphärische Wirkung und nicht eine genaue Bestimmung dieser Qualitäten durch exaktes Messen von Schwere bzw. Gewicht usw. 50 Somit ist eine der wichtigsten Denkfiguren der chinesischen Philosophie letztlich Ausdruck gespürter Gefühlsatmosphären, die unzerlegt, d. h. ganzheitlich, auf den Menschen einwirken. Sogar die Dynamik, die yin und yang anhaftet, d. h. ihr Wachsen und Schwinden, ihre wechselseitige Hervorbringung und Überwindung, lassen sich im doppelten Sinne auf leibliches Spüren zurückführen: einmal als Wechsel zwischen den leiblichen Dimensionen der Engung und Weitung, beim Ein- und Ausatmen: Weitung beim Leeren der Luft bewirkt an ihrem äußersten Punkt ein Gefühl der Engung, mit der das erneute Atemholen einhergehen muß; die Engung beim Luftholen wiederum erreicht einen Punkt, wo die Fülle derart überhandnimmt, daß sie sich nur durch erneutes Weiten und Leeren Platz schaffen kann; 51 zum anderen als wechselnde 50
Bekanntlich verdanken wir der chinesischen Zivilisation eine Reihe von imponierenden wissenschaftlichen und technischen Erfindungen; vgl. Needhams Lebenswerk 1985 ff., Wang, Yousan 1982, Temple 1991 und Vogel 1993. Es ist also auch exakt gemessen und konstruiert worden. Das Verhältnis zwischen beiden Sicht- und Umgangsweisen im vormodernen chinesischen Kontext war m. W. zwar bisher noch nicht Gegenstand sinologischer Untersuchung, scheint mir reizvoll zu sein, zumal der traditionelle chinesische Gelehrte grundsätzlich beide in sich vereinigte und situativ in Anschlag gebracht haben mag.
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Atmosphären im Tages- und Monatsverlauf im Wachsen und Schwinden des Mondes oder in der Aufeinanderfolge der Vier Jahreszeiten. (3) Nach yin und yang hat uns der Begriff qi zu beschäftigen, den wir im Ersten Teil bereits in seiner Bedeutung für den Aufbau von Körper und Leib des Menschen gewürdigt hatten. Im Folgenden geht es um qi als Atmosphärisches: Wie alle anderen Erscheinungen der Welt ist auch das Phänomen, für das der Begriff steht, polar gedacht, d. h. qi wird in yin-qi und yang-qi differenziert. Daß allem Geschehen im Kosmos wie beim Menschen das Sich-Sammeln (jù 聚, jí 集) und Sich-Zerstreuen (sàn 散) des qi zugrunde liegt, weist das Konzept aller Konzepte im chinesischen Denken bereits als Gegebenheit aus, die atmosphärisch wirkt 52 (s. I.2.a). Die Begriffsgeschichte von qi zeigt zugleich, daß »atmosphärisch« in frühgeschichtlicher Zeit nicht im Sinne einer bloßen Naturerscheinung gemeint sein konnte: Die im spät-zhouzeitlichen Denken mit qi verbundenen Phänomene, wie Wolken, Regen und Wind, waren für die Menschen zunächst Manifestationen des Göttlich-Numinosen (s. II.1.a). So war vor allem der Wind, der »Urahne des qi« 53, eine vielfältige Windgottheit, die in allen vier Himmelsrichtungen ihr Wesen und Unwesen trieb. Die schon erwähnte Verknüpfung mit Wolken und Regen ist auch graphisch belegt. So findet sich auf den Orakelknochen ein Zeichen, das als drei übereinander geschich51
Jedem, der Yoga, Qigong oder eine andere Form von Atemübungen praktiziert, ist dies auf Anhieb nachvollziehbar; zu Engung und Weitung s. Anhang 1; Zum Atemvorgang vgl. folgende Zeilen aus dem Gedicht »Talismane« von Goethe: »Im Atemholen sind zweierlei Gnaden/die Luft einziehen, sich ihrer entladen/Jenes bedrängt, dieses erfrischt/So wunderbar ist das Leben gemischt/Du, danke Gott, wenn er Dich preßt/und dank’ ihm, wenn er Dich wieder entläßt.« Echtermeyer/von Wiese, Deutsche Gedichte. Düsseldorf (August Bagel) 1963, 227–228. 52 Am ehesten entspräche dem qi-Konzept im antiken Griechenland die Lehre des Anaximenes von Milet (gest. 525 v. Chr.), der die Vielfalt der Stoffe ebenfalls durch Verdichtung und Verdünnung der Luft (aer) erklärte. Auch läßt sich eine Parallele zur Philosophie der Stoa (ca. 300 v. Chr.) ziehen: Die Stoiker setzten einen universellen Wirkstoff (pneuma) voraus, der die Natur als kontinuierliches Medium durchdringt. Modern drängt sich die Vorstellung von Wirkungsfeldern auf.« Mainzer 1996, 16–17. 53 Grundsätzlich waren die Begriffe qi und feng 風 (Wind) austauschbar; vgl. Kuriyama 1994, 34 sowie Ogawa 1967.
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tete Wolken gedeutet wird. Diese drei Linien sind im späteren und heutigen Zeichen für qi immer noch präsent: Piktogramm: drei übereinander geschichtete Wolken
氣
Zeichen für qi Diagramm 6: Graphische Etymologie des Zeichens für qi
Auf den Orakelknochen kommt qi als Zeichen darüber hinaus nicht vor; dafür findet sich ein anderes Zeichen mit derselben Graphik, jedoch ohne das Element »Reis«. Es wird analog ausgesprochen und bedeutet »erbitten«, »erflehen«, »betteln«, »Almosen«:
氣 气
Zeichen für qi Zeichen für »erbitten«, »betteln« Diagramm 7
Obwohl meines Wissens nirgendwo in den frühesten Schriftzeugnissen ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen diesen beiden Schreibvarianten explizit hergestellt wird, liegt er doch nahe: Windund Wolkengötter wurden im Gebet angefleht bzw. durch Opfergaben beschwichtigt. Für die Verwandtschaft beider Zeichen spricht auch, daß sie in späteren Texten immer wieder vertauscht sind. 54 Zu den Zeichen mit und ohne Reis gesellte sich bald ein drittes hinzu, dem wiederum zusätzlich zum Reis das Sinnelement »Nahrung«, »Essen« (食) beigefügt war; es wird heute xì ausgesprochen und bedeutet »Opfertier«, »Proviant«, »Versorgung«: 55 餼 Damit wird noch einmal mehr unterstrichen, wie existentiell die Anrufung der Götter und Geister war: Sie geschah eben aus Anlaß der Lebenspflege nicht zuletzt auch im Sinne der Nahrungsaufnah54
Vgl. die Kommentarbelege in Kubny 1995, 70–79. Auch das heutige Kurzzeichen für qi 氣 schreibt sich: 气 Man beachte in der Wortzeichenzusammensetzung 乞丐 qǐgài (betteln, Bettler) die analoge Graphik und Homophonie mit dem 1. Zeichen. 55 Kommentarbelege in Kubny 1995, ebd.
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me. So unterstreicht die graphische und inhaltliche Verwandtschaft mit den beiden anderen Zeichen – qi (anflehen) und xi (Opfertier, Nahrung) – zusätzlich die beiden Aspekte, die im Zeichen qi selbst enthalten sind: ein Atmosphärisches, nämlich Wind, Wolken und Regen, sowie das Essen (Reis), dessen nährende Qualitäten sowohl konkret (tast- und sichtbar) als auch atmosphärisch in Form und Geruchs- und Geschmacksatmosphären wahrgenommen werden kann. Im Verlauf des ersten vorchristlichen Jahrhunderts – so hat es den Anschein – sind alle göttlich-atmosphärischen Gegebenheiten frühchinesischer Glaubensvorstellungen in dem qi-Begriff der nachfolgenden zhouzeitlichen Philosophie zusammengeschmolzen, einschließlich der oben genannten jahres- und tageszeitlichen sowie klimatischen Atmosphären. So nennt das Buch Mengzi als Ausdruck tageszeitlicher Atmosphären die Zusammensetzungen yè-qì 夜氣 und píng-rì-qì 平日氣, womit im ersten Fall die erneuernde Kraft der Nachtfrische und im zweiten Fall das Atmosphärische des [negativ einwirkenden] Alltags gemeint ist. 56 An »klimatischen« qi-Atmosphären werden im Zuozhuan 57 wiederum sechs qi (liù-qì 六氣) aufgeführt: yīn 陰 und yáng 陽, Wind und Regen, Dunkelheit und Helligkeit. Diese … »Sechs qi, indem sie nach unten sinken, bringen die Fünf Geschmäcker hervor, entfalten die Fünf Farben, manifestieren sich in den Fünf Tönen und bewirken, sofern sie überhand nehmen, die Sechs Krankheiten […].« 58
Demnach zieht ein Zuviel an yin-qi Kältekrankheit (hán-jí 寒疾) nach sich, ein Zuviel an yang-qi Hitzekrankheit (rè-jí 熱疾), ein Zuviel an Windzug (fēng-qì 風氣) Beschwerden an den Gliedmaßen (mò-jí 末疾), ein Zuviel an Regen (yǔ-qì 雨氣) Magenverstimmung (fù-jí 腹疾), ein Zuviel an Dunkelheit (huì-qì 晦氣) Wahrnehmungstörung (gǎn-jí 感疾) und ein Zuviel an Helligkeit (míng-qì 明氣) Probleme am Herzen (xīn-jí 心疾). 59 56
Mengzi, Kap. VI »Gaozi« 1.8; vgl. Legge 1991, 408; Wilhelm, R. 1982, 165. Kommentar zum Chunqiu (Frühlings- und Herbstannalen) aus dem 4. vorchristlichen Jh.; vgl. Legge 1991, vol. V. 58 Zhaogong 1. Jahr; Legge 1991, vol. V, 573. 57
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Die jahreszeitliche Differenzierung der qi-Atmosphären findet sich im Lüshi chunqiu 呂氏春秋, einem synkretistischen Werk aus dem 4. Jahrhundert v. Chr.: 60 Zunächst tritt das Frühlings-qi in Erscheinung. Danach liegen zur Zeit der Sommersonnenwende das lebenspendende qi (shēng-qì 生氣) und das todbringende [herbstlich-winterliche] qi (shā-qì 殺氣) im Kampf (zhēng 爭) 61, bis sich schließlich das herbstliche qi durchsetzt, das seinerseits vom Kälteqi (hán-qì 寒氣) abgelöst wird. 62 Die traditionelle chinesische Medizin unterscheidet mehr als dreißig qualitativ verschiedene qi-Konstellationen, die sowohl nährende und schützende als auch schädigende Wirkung auf Körper und Leib haben. 63 Nun ist qi nicht nur kosmische Ausstrahlung im weitesten Sinne des Wortes. Auch im gesellschaftlichen Leben erscheint qi als atmosphärisch wirkende Kraft: Im allgemeinen sind Blutsverwandte im Chinesischen zwar körperlich definiert als gǔ-ròu zhī qīn 骨肉之親 (Verwandte durch Knochen und Fleisch). Doch im Lüshi chunqiu 呂氏春秋 erfahren wir, daß Knochen- und Fleisch-Verwandte auch leiblich-atmosphärisch miteinander verbunden, sozusagen qi-verwandt sind: »Mögen sie auch an verschiedenen Orten sein, so dringen ihre geheimsten Willensregungen doch zueinander hin; in Schmerz und Leid sind sie sich gegenseitig eine Hilfe und empfinden miteinander Gedanken der Trauer.« 64 59
Ebd. Die Frühlings- und Herbstannalen des Lü Buwei 呂不韋 (gest. 235 v. Chr.) gelten als Klassiker der Resonanzphilosophie, dessen Autor bzw. Autoren vor allem am rechten Zeitpunkt jeglichen Tuns gelegen war. Wolfgang Bauer charakterisiert dieses Buch, dessen Entstehung auf das Jahr 239 v. Chr. datiert wird, wie folgt: »[…] ein Werk, das interessanterweise dem illegitimen Vater Ch’in Shih Huang-tis (Qinshi Huangdi 秦始皇帝, G. L.) zugeschrieben wird, in Wirklichkeit aber aus Texten des 4. vorchr. Jhs. und später besteht und als ein Sammelbecken der verschiedensten daoistischen Mischformen gelten darf.« Bauer 1974, 167–168. 61 Vgl. die verschiedenen Antagonismen von shen vs. gui, hun vs. po, zheng-qi vs. xie-qi, zwischen angeborener Natur und Emotionen sowie die Spaltung im Herzen. 62 Die Kapitel 2 »Zhongchunji«, 3 »Jichunji«, 8 »Zhongqiuji« und 9 »Jiqiuji« (Aufzeichnungen des mittleren und letzten Frühlingsmonats sowie des mittleren und letzten Herbstmonats); Lüshi chunqiu, 12, 17, 45 u. 50; vgl. Wilhelm, R. 1979, 15, 27,93 u. 105. 63 Vgl. Engelhardt l987, 4. 60
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Die atmosphärische Übertragung geschieht Lü Buwei zufolge über das essentielle qi, d. h. das qi in seiner feinsten, erlesensten Manifestation, über das jing (s. I.2.c (2)): »Beider jing erreichen einander. Wozu braucht es da der Worte!« 65 Gefühlsatmosphären prägten auch das politische Leben. 66 Von Persönlichkeit (shēn 身) und Wirkkraft (dé 德) des Fürsten hing das geregelte Miteinander in Staat und Gesellschaft ab; und nicht nur das: Gesellschaft und Natur galten als derart mit einander verwoben, daß der Fürst sogar für die rechte Aufeinanderfolge der jahreszeitlichen qi verantwortlich war. 67 Darüber hinaus verwendeten die Verfasser von Kriegshandbüchern den Begriff qi: einmal, um damit den Mut der einzelnen Krieger und den Kampfgeist der Truppe, also individuelle Tatkraft und kollektive Gefühlsatmosphären, zu bezeichnen; aber auch im Sinne der Widerstandskraft einer belagerten Stadt, also eine räumlich erweiterte Atmosphäre: Auch wurde vor jeder kriegerischen Handlung orakelt, um die gebündelte Wirkkraft der verschiedenen Gegebenheiten auf Seiten des Feindes herauszufinden. Als terminus technicus figuriert in den entsprechenden Divinationspraktiken der Ausdruck wàng-qì 望氣, wörtl: »das qi betrachten« bzw. »begutachten«. 68 Seiner verdichteten Manifestation als fester Körper und allen weiteren begriffsgeschichtlichen Veränderungen zum Trotz (s. I.2. a; III.1) hat qi im chinesischen Denken nie seinen ausgeprägt atmosphärischen Charakter verloren. Im Gegenteil, Leiblich-Atmospärisches überlebt bis heute in Kampf- und den anderen Bewegungskünsten (s. II.4.b), in Meditationsformen und Therapiepraktiken der sogenannten Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) 69. Wenn auch heute in Qigong und Taijiquan das Kreisen des qi innerhalb des Körperleibes im Vordergrund steht und eine naturwissenschaftliche Medizin auch in China das qi »ding«fest zu machen 64
Lüshi chunqiu, Kap. 9 »Jiqiuji«, 55; vgl. Wilhelm, R. 1979, 115–116. Ebd. 66 Das altchinesische Orakelbuch Yijing 易經 ist voll davon; vgl. Jullien 1995 sowie Hertzer 1996a und b. 67 Onozawa u. a. 1988, 79–80. 68 Onozawa u. a. 1988,154. 65
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versucht, so legt die chinesische Medizin in Diagnose und Therapie doch nach wie vor großen Wert auf klimatische, tages- und jahreszeitliche 70 Einflüsse und dadurch bewirkte Befindlichkeiten. Noch in zahlreichen metaphorischen Ausdrücken und Redensarten der modernen chinesischen Umgangssprache sind qi und fēng 風 (Wind) als Gefühlsatmosphären präsent, einschließlich der atmosphärischen Ausstrahlung einer Person. Davon nur eine kleine Kostprobe aus einem beliebigen modernen Wörterbuch: Qi in seiner leiblichen Grundbedeutung: qìxī 氣息: qi und Atem, d. h. Atem bǐngqì 屏氣: den Atem anhalten shàngqì bùjiē xiàqì 上氣不接下氣: das obere qi trifft nicht aufs untere qi, d. h. außer Atem sein Qi als Gefühlsatmosphäre: tànqì 嘆氣: seufzendes qi; d. h. seufzen shēngqì 生氣: qi hervorbringen; d. h. ärgerlich sein qìsǐrén 氣死人: Mit qi Menschen zu Tode bringen; d. h. jemanden zu Tode ärgern fāxiè nùqì 發泄怒氣: wütendes qi loslassen und ableiten; d. h. seinem Unmut Luft machen qìhèn 氣恨: qi und Haß; d. h. Haß qìfèn 氣憤: qi und Wut; d. h. Wut qì chōng niúdǒu 氣充牛斗: qi erfüllt [die Welt bis hin zu den Sternzeichen des] Rindes und des Großen Bären; d. h. sehr zornig sein, wutentbrannt Qi als Atmosphärische Ausstrahlung einer Person: qìxiàng 氣象 71: qi und Erscheinung/Bild, Luftbild; d. h. persönliche Gestimmtheit, Wirkung sowie Ausstrahlung eines Menschen qìzhì 氣質: qi und »ein Grundlegendes« (s. I.2.c); d. h. Veranlagung, Begabung 69
Akupunktur, Akupressur, Taijiquan (Schattenboxen) und Qigong (Bewegungsund Atemübungen zur Lebenspflege). 70 Dies geschieht heute allerdings ohne jede kosmologische bzw. göttlich-numinose Komponente.
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píqì 脾氣: Milzqi: d. h. Temperament, [unangenehmes] Naturell yǔqì 語氣: Sprache und qi; d. h. Sprechverhalten, Redeweise Qi als weite-räumlich ergossene Atmosphäre qìxí 氣習: qi und Sitten; d. h. Sitten und Gewohnheiten dìqì 地氣: Erdqi; d. h. Klima kōngqì 空氣: leeres qi; d. h. Luft qìxiàng 氣象: qi-Bild; d. h. atmosphärische Erscheinung, Wetter (s. o.) Feng in seiner Grundbedeutung Wind: fēnghé rìnuǎn 風和日暖: der Wind ist ausgewogen, die Sonne ist warm; d. h. warmes freundliches Wetter fēngzhú cánnián 風燭殘年: wie eine [brennende] Kerze im Wind – die verbleibenden Jahre, d. h. am Lebensabend angekommen sein Feng als atmosphärische Ausstrahlung einer Person: fēng 風: Wind; d. h. Aura fēngzī: 風姿: Wind und Aussehen [einer Frau]; d. h. Anmut, Charme fēngdù: 風度: Wind und Maß, Grad; d. h. Ausstrahlung, Charme fēnggé: 風格: Wind und Stil; d. h. Schreibstil Feng als weite-räumlich ergossene Atmosphäre: fēngqì 風氣: Wind und qi; d. h. Sitten und Gebräuche fēngliú 風流: Wind und fließen; d. h. Leichtigkeit einer Lebensweise, Bohémien fēngjǐng 風景: Wind und Anblick; d. h. Landschaft fēngshuǐ 風水: Wind und Wasser; d. h. die chinesische Geomantik fēngmào 風貌: Wind und Aussehen, d. h. das Gepräge einer Stadt, einer Landschaft fēngwèi 風味: Wind und Geschmack, d. h. lokale Spezialitäten (4) Musik und Ritus. Zu den mächtigen Gefühlsatmosphären zähl71
Friedrich hat dem Begriff einen Aufsatz gewidmet; vgl. ders. o. J.
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ten bereits in früher Zeit Musik und Ritual, über die vor allem in der Tradition des Konfuzius wiederholt reflektiert wurde: An zahlreichen Stellen im Lunyu ist von der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung der Musik (yuè 樂) und der Riten (lǐ 禮) die Rede. 72 Auch der Philosoph Xunzi befaßte sich im Kapitel 20 seines gleichnamigen Buches ausgiebig mit beiden Phänomenen. So würdigte er die zündende und mitreißende Wirkung der Musik, die zu seiner Zeit grundsätzlich von Singen, Klatschen, Tanzen und Stampfen begleitet war. Deren einleibende Funktion hatte jedoch zwei Seiten: Musik konnte harmonisierend, aber auch aufstachelnd und moralisch beeinträchtigend sein. So sind die Texte nicht nur voll des Lobes, sondern auch voller Mahnungen. Nicht zuletzt wird vor der unberechenbaren Wirkmacht der mit Göttern und Geistern verknüpften Musik gewarnt. 73 Dieselben Gedanken finden sich in späteren Klassikern der konfuzianischen Tradition, z. B. im Musik-Kapitel des Liji, dem hanzeitlichen Ritenbuch, oder auch in dem Großen Vorwort zum Shijing, das ebenfalls in der Hanzeit (206 v. – 220 n. Chr.) dem Buch der Lieder hinzugefügt wurde. 74 Wenn im Musikkapitel des Liji behauptet wird, die Töne und Musik entstünden im Herzen der Menschen, so bedeutet das an dieser Stelle nichts anderes, als daß sich die von außen angeregten Herzensbestrebungen in den Tönen niederschlagen. Demnach liegt also eine Wirkung von außen nach innen (Erregung) und von innen nach außen (Musik) vor: »Wenn das Herz von Kummer (āi 哀) bewegt ist, so wird der Laut unruhig und ersterbend. Wenn das Herz von Heiterkeit (lè 樂) bewegt ist, so wird der Laut [freudig] schnaubend und entspannt. Wenn das Herz von Lust (xǐ 喜) bewegt ist, so wird der Laut stark, und er zerstreut sich. Wenn das Herz von Zorn (nù 怒) bewegt ist, so wird der Laut grob und grausam. Wenn das Herz von Ehrfurcht (jìng 敬) bewegt ist, so wird der Laut aufrecht und bescheiden. Wenn das Herz von Liebe (ài 愛) bewegt ist, so wird der Laut harmonisch und weich. Diese sechs Äußerungen sind nicht etwas Angeborenes [und Spontanes]; sie 72 73 74
Z. B. Lunyu 11.1, 8.8 sowie 15.11; vgl. Wilhelm, R. 1985, 112, 93, 155. Vgl. auch Dahmer 2003, 25 ff. Röllicke 1992.
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Leib und Gefühl
sind vielmehr die Folge einer Bewegung, die durch die [Außen]dinge (wù 物) bewirkt ist. Darum waren die früheren Könige vorsichtig mit Beziehung auf das, was sie [bei den Menschen] an Empfindungen weckten.« 75
Häufig sind Lieder und Musik in einem Atemzug mit Ritual und Zeremoniell (lǐ 禮) genannt, so bei Konfuzius, im Buch Xunzi, im Liji und im eben zitierten Großen Vorwort zum Shijing. Das verwundert nicht, denn Rituale und Zeremonien wirken ebenso einleibend und situativ verbindend wie Gesang und Musik. Nach den genannten Schriften sorgten die Riten eher für Ordnung und Disziplin, während die Musik mehr die Gefühlswelt beeinflußte. Doch sollte das Verhältnis ausgewogen sein, denn alle Einseitigkeit sei von Übel: »Die Musik bewirkt Gemeinschaft, die Riten bewirken den Unterschied. In der Gemeinschaft nähern sich die Menschen einander an; die Unterschiede sorgen für Achtung [und Abstand] zwischen ihnen. Überwiegt [allerdings] die Musik, so [besteht Gefahr] des Übermaßes; überwiegen die Riten, so besteht Gefahr der Erstarrung.« 76
Viele der Riten, die im Volk praktiziert wurden, mochten im Verlauf der Kaiserzeit verloren gegangen sein, erst recht im »Jahrhundert der Revolution« 77; Musik als Gefühlsmacht aber wurde gepflegt, eignete sie sich doch bis in die jüngere Vergangenheit hinein für Begeisterung, Beeinflussung und Manipulation der jüngeren Generation.
c) Introjektion der Gefühle So ist es denn auch kein Wunder, daß alle einschlägigen Textstellen die Gefühle zwar im Innern des Menschen ansiedeln, aber gleichzeitig unterstreichen, daß sie von außen atmosphärisch bewirkt sind. Nur einige wenige Philosophen verfolgten eine Richtung, die 75
Liji, »Yueji«, 0663; Wilhelm, R. 1981, 71–72. Liji zhuzi suoyin, Kap. 19.1 »Yueji«; vgl. Wilhelm, R. 1981, 75. 77 So der Titel eines Buches von W. Franke, München 1959, das den Zeitraum von ca. 1850–1950 im Blick hat. 76
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wir in Anlehung an die europäische Entwicklung als Versuch einer Introjektion der Gefühle bezeichnen könnten. In Europa ging diese vielfach Hand in Hand mit einem sensualistischen Reduktionismus, der die Wahrnehmung auf die fünf Sinnesorgane Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten reduzierte und damit das Spüren von Stimmungen und Atmosphären aus der philosophischen und wissenschaftlichen Betrachtung ausklammerte. 78 In China war es (1) Xunzi (298–238 v. Chr.), der sich als erster systematisch mit der Funktion der Sinnesöffnungen befaßte, ohne jedoch einem sensualistischen Reduktionismus das Wort zu reden. (2) Die Reichseinigung mit ihrer verschärften Gliederung der Welt in ein Innen (China) und ein Außen 79 brachte offenbar auch im Bereich von Selbstwahrnehmung eine verschärfte Innen-AußenDifferenzierung mit sich. Danach waren es vor allem Vertreter der (3) Lehre vom Dunklen (xuán-xué 玄學), einer philosophischen Strömung im 3./4. nachchristlichen Jahrhundert, welche die Introjektion der Gefühle erstmals reflektierten und als Zugewinn menschlicher Selbstbehauptung befürworteten. An starken Gefühlen unterschied (1) Xunzi (298–238 v. Chr.) sechs: Zuneigung (hào 好), Abneigung (wù 惡), Freude/Lust (xǐ 喜), Wut (nù 怒), Kummer (āi 哀) und Heiterkeit (lè 樂). Das Herz hat als Sitz der Gefühle also die Aufgabe »auszuwählen« (zé 擇), d. h. zu entscheiden, ob es diesem oder jenem Gefühl nachgeben oder ob es – gewissermaßen als Blitzableiter – jeweils beschwichtigend einzugreifen hat. Dieses Auswählen, das jedem Verhalten und Handeln vorausgehen sollte, nannte Xunzi »Nachdenken« (lǜ 慮). 80 Neben dem Nachdenken und der daraus resultierenden Selbstkontrolle oblagen dem Herzen aber noch weitere wichtige Aufgaben. Vor allem galt es als befähigt, die Dinge der Welt zu erkennen, nicht zuletzt für die ganz praktische Daseinsbewältigung. Als 78
Schmitz 1980, 28–29. Ganz offensichtlich in der Anordnung der Wesen und Menschen im Shanhaijing 山海經 (Klassiker der Berge und Gewässer) sowie in der Unterscheidung der nördlichen »Barbaren« in »innere« nèi 內), d. h. befriedete bzw. unterworfene, und »äußere« wài 外, also nicht unterworfene; analog der südlichen Fremdethnien in »gekochte« shóu 熟, d. h. befriedete bzw. unterworfene, und »rohe« shēng 生, nicht unterworfene. 79
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Instanz der Erkenntnis der Außendinge war das Herz auf die Sinnesöffnungen angewiesen: »Das rechte Wissen (zhèng-zhì 正智) 81 setzt voraus, daß die Sinnesöffnungen 82 die verschiedenen [Außendinge] registrieren.« 83 An Sinnesöffnungen nannte Xunzi fünf: die Augen (mù 目) zur Wahrnehmung der gemusterten Gestaltverläufe (xíng 形) sowie zur Differenzierung von Farben und Mustern; die Ohren (ěr 耳) zur Wahrnehmung von Tonqualitäten, tiefen und hohen Tönen, Tonarten und rhythmischen Geräuschen; den Mund (kǒu 口) zur Wahrnehmung von Süßem, Bitterem, Salzigem, Fadem, Saurem und anderer Geschmäcker (wèi 味); die Nase (bí 鼻) 84 für die Wahrnehmung von Duft und Gestank, Parfüm und fauligen Gerüchen; den Körperleib (xíng-tǐ 形體) für das Spüren von Schmerz und Juckreiz, von Kälte und Hitze, aber auch für das Ertasten von weichen und rauhen Gegenständen. 85 Nun ist die Wahrnehmung mit Hilfe der Sinne Xunzi zufolge nur halb: Wirkliches Wissen setzt bewusste Differenzierung nach Identität (tóng 同) und Verschiedenheit (yì 異) 86 der Dinge voraus, und dieses zu leisten, vermag nur ein aufmerksames, d. h. emotionsfreies Herz: »Ist das Herz traurig oder fürchtet sich, dann hält der Mund zwar die feine fleischliche Nahrung, aber man weiß nichts von ihrem [besonderen] Geschmack; dann hört das Ohr zwar Glocken und Trommeln, aber man weiß nichts von deren Ton[höhe, -folge und -intensität]; 80 Xunzi jijie, Kap. 22 »Zhengming«, 412; vgl. Knoblock 1994, vol. III, 127. Als extreme bzw. anhaltende und damit schädigende Gefühlsregung ist lǜ 慮, vor allem im medizinischen Kontext, mit »Grübeln« zu übersetzen. 81 Modern gesprochen im Sinne der Evidenz gemeint. 82 tiān-guān 天官, wörtlich angeborene Beamte; s. III.2.a. 83 Xunzi jijie, Kap. 22 »Zhengming«, 417; vgl. Knoblock 1994, vol. III, 130. 84 Im Zhuangzi ist die Nase für das Atmen zuständig. Kap. 2 »Qiwulun«; Legge o. J., 225; Wilhelm, R. 2000, 39; Kap. 7.7 »Yingdiwang«; Legge o. J., 31; Wilhelm, R. 2000, 99 ff. Vgl. Linck 2007. 85 Xunzi jijie, Kap. 22 »Zhengming«, 416–417; vgl. Knoblock 1994, vol. III, 129. Man beachte, daß in Europa, wo eine Fixierung auf den tast- und sichtbaren Körper gegeben war, das Tasten als 5. Sinn erscheint; selbst wenn dafür das Wort »fühlen« steht, hat es i. a. die Bedeutung von »tastend erfühlen«; bei Xunzi hingegen umfaßt das Kompositum xing-ti sowohl das Tasten als auch das leibliche Spüren, wie sich im Folgenden zeigen wird.
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dann sieht das Auge zwar das schwarz-weiß-und-blau Gestickte 87, aber man weiß nichts vom darin gestalteten Blumenmuster; dann mag der Körper (tǐ 體) zwar warm und leicht [gekleidet sein] und auf einer glatten Matte sitzen, aber man weiß nichts vom Wohlbehagen, [das davon ausgeht].« 88
Als Instanz der Erkenntnis fungiert das Herz demnach als innerer Ort, der Botschaften aus der Außenwelt, welche die Sinnesöffnungen einschleusen, differenziert und verarbeitet. Als solches erinnert es an die »Seele« des Alkmaion von Kroton (ca. 400 v. Chr.) oder auch an die ratio der späteren europäischen Philosophie bzw. das Gehirn der modernen Neurophysiologie. Alkmaion, der die psyche bereits im Gehirn 89 ansiedelte, betrachtete sie als Endpunkt von Kanälen, »zu dem sich alle Empfindungen durch die Kanäle fortpflanzen, welche von den Sinneswerkzeugen zu ihm hinführen«. 90 Gleichzeitig ist das Herz als Sitz der Gefühle bei Xunzi ein Ort intensiven leiblichen Spürens und damit offen für göttlich-numinose Atmosphären. Mehr noch als im Falle der Aufnahmebereitschaft für die Botschaften aus der Außenwelt muß das Herz in dieser Funktion frei von Begehren und Emotionen sein. 86
Die Erläuterung dieser beiden Begriffe findet sich ebd. 418. Farbige Blumenmuster auf einem Ritualkleid. 88 Xunzi jijie, Kap. 22 »Zhengming«, 431; vgl. Knoblock 1994, vol. III, 137–138. 89 Daß in Europa schon sehr früh das Gehirn als Sitz dieser Instanz galt, mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, daß sich vier der fünf Sinnesorgane am Kopf befinden. Reduziert man die Wahrnehmung auf die fünf Sinne, so ergibt sich folgerichtig eine Überbewertung des Kopfes; wenn die frühen chinesischen Philosophen hingegen die fünf Sinne lieber verschließen wollten, um dem leiblichen Spüren desto mehr Raum zu bieten, so kam im Grunde nur das Herz als Regungsherd par excellence infrage. An diesem Ort wurden Gefühlsaufwallungen, aber auch die anderen Aspekte des Personseins besonders intensiv gespürt. Mit anderen Worten, die Vorstellung vom Herzen als Sitz der Gefühle und als Sitz von Einsicht und Moral war im leiblichen Spüren begründet. 90 Alkmaion, ein Arzt im Umkreis des Pythagoras, gilt als Begründer des Physiologismus. Letzteren charakterisiert Schmitz als die Lehre, nach der »Botschaften aus der Außenwelt zum Menschen nur auf dem Weg über gewisse Körperteile wie Auge, Ohr, Haut, Nase, Gehirn und peripheres Nervensystem gelangen, und nur in dem Maße, in dem solche Körperteile Reize einfangen, aufnehmen oder durchlassen können. Es leuchtet ein, daß dieses Dogma das Spektrum des Wahrnehmbaren 87
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So redete Xunzi der Kontrolle von Gefühl und Begehren das Wort, nicht unbedingt aus einer grundsätzlichen Sinnenfeindlichkeit heraus, sondern um der Erkenntnis der Außendinge und um des Spürens numinoser Mächte willen. Indem Xunzi diese doppelte Aufgabe des Herzens unterstrich, vermied er einen sensualistischen Reduktionismus, wie ihn Alkmaion von Kroton in die Wege leitete, der nur noch die Reize gelten ließ, mit denen die Sinne die »Seele« füttern. (2) Am Beginn der Kaiserzeit, d. h. in der Epoche der Konsolidierung der Reichseinheit, hielten die chinesischen Philosophen nach wie vor die atmosphärische Ergriffenheit hoch, umso mehr als an die Stelle alter Weltentwürfe ein Netz von beeindruckenden Entsprechungen bzw. Resonanzen getreten war. 91 Doch verstärkte sich die Tendenz, Gefühle eindeutiger im Innern anzusiedeln: Spätestens in der Hanzeit (206 v. – 220 n. Chr.) war auch eine Zentrierung der Gefühle auf das Herz vollzogen, zumindest in der Philosophie: Lü Buwei, der vermeintliche Verfasser des Lüshi chunqiu, behauptet, die Trauer nage im Herzen; 92 und im Buch Huainanzi heißt es, daß äußerlich umhüllende Atmosphären, wie Musik, oder Atmosphären zwischen den Menschen nichts gegen eine innere Traurigkeit ausrichten können: »Wer bekümmert ist (āi 哀), wird weinen, auch wenn er Lieder hört; und wer fröhlich (lè 樂) ist, wird lachen, auch wenn er einen weinenden Menschen sieht.« 93 Die verstärkte Anbindung der Gefühle an das Innere des Menschen 94 war gewiß Ausdruck einer zunehmenden Ichbehauptung gegenüber der äußeren Natur (s. III.3), aber auch zunehmender Erwartungen im Hinblick auf Selbstkontrolle. Beides läßt sich mit den Zivilisationsschüben des vierhundert Jahre andauernden Zentralstaates der Hanempfindlich beschränkt. Jeder normal wahrnehmungsfähige, vollsinnige Mensch nimmt Dunkelheit, Stille, leeren Raum, Zeit (etwa am Schall und an der Bewegung) sowie Atmosphären wahr von der Art des Klimas, der klimatisch-optischen Atmosphären (z. B. heiterer Morgen, friedlicher Abend, Gewitterstimmung) und der Gefühle (z. B. Ausgelassenheit, Verlegenheit, bleierner oder feierlicher Ernst, dumpfe Schwermut) ganz besonders aber Sachverhalte und Situationen so gut wie Farben, Schälle, Flächen und Bewegungen […] oder schärfer und prompter noch.« Vgl. Schmitz 1980, 28–29. S. Anhang 1. 91 S. Tabelle in: III.2.a. 92 Vgl. Onozawa u. a. 1988, 96.
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Dynastie in Zusammenhang bringen. Der seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert nach China einströmende Buddhismus mit seinen Bestrebungen nach individueller Erlösung mag die Tendenz zu einem ausgeprägten Ichbewußtsein noch verstärkt haben, setzt doch die Auflösung des Ich eben dieses Ichbewußtsein erst einmal voraus. 95 Auch Rückzugsbewegungen der chinesischen Elite aus der Politik machten sich bemerkbar; dabei spielten die allgemeine politische Unsicherheit und das als unwägbar empfundene Schicksal ebenso eine Rolle wie Individualitäts- und Originalitätsansprüche 96. (3) Lehre vom Dunkeln (xuán-xué 玄學). Überlegungen dieser Art, die auf einen Zugewinn an personaler Emanzipation abzielten, stellten vor allem die Philosophen im Umkreis einer philosophischen Strömung an, die später als die Vertreter der Lehre vom Dunkeln zusammengefaßt wurden. 97 Einer von ihnen, der schon genannte Dichter und Philosoph Xi Kang (223–262), trieb die Introjektion der Gefühle im Sinne einer logischen Trennung von Subjekt und Objekt am weitesten voran. So kritisierte er unverblümt die traditionelle oben zitierte Sicht, wonach Gefühle vom Außen angeregt seien, als »[…] absurde Aufzeichnungen gewöhnlicher Gelehrter!« 98 93
Huainanzi zhuzi suoyin, Kap. 11 »Qisu«, 96. Offenbar war die Zentrierung der Gefühle auf das Herz vor allem Anliegen der Philosophen, während die Medizin die Gefühle zwar »verinnerlichte«, aber auf mehrere Regungsherde verteilt sah – übrigens bis heute. So ist im Huangdi neijing von Fünf Emotionen (wǔ-qíng 五情) die Rede, die wie folgt auf die Fünf »Speicher« verteilt sind: Wut gehört zur Leber, Freude zum Herzen, Grübeln zur Milz, Trauer zur Lunge, und Furcht zur Niere; s. Tabelle in: III.2.a. 95 Vgl. auch Friedrich 1984, 112. 96 Vgl. dazu die von Liu Yiqing (403–444) im Shishuo xinyu gesammelten Anekdoten; vor allem das Kapitel 23 über die Freigeister; sowie die englische Übersetzung von Mather 1976. Vgl. auch Bauer 1990, eine Fundgrube für Material über Außenseiter, Aussteiger und komische Käuze. 97 Vgl. Friedrich 1984 sowie Wagner 2003, der diese philosophische Richtung als »scholarly investigation of that which is dark« umschreibt. Ebd. 1. Weder hier noch in: III.1.b geht es um eine gedankliche Durchdringung der xuan-xue; eine solche Beschränkung ist ohnehin geboten, da die Lehre vom Dunkeln bisher kaum erforscht ist. Außerdem haben wir es mit einem nicht auf Anhieb durchschaubaren Gedankengebäude zu tun, das ohne Kenntnis des Buddhismus unverständlich bleibt. Dieser, als komplexes Gedankensystem nach China gelangt, setzte nachhal94
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Xi Kang zufolge gehörten Gefühle – wie Freude, Zorn, Trauer, Heiterkeit, Liebe, Haß, Scham und Schrecken – vielmehr zum Ich (wǒ 我) des Menschen selbst: »Wenn ich einen, der klug ist, im Herzen liebe und einen anderen, der dumm ist, im Gefühl verabscheue, so gehören Liebe und Abscheu selbstverständlich zu mir (wo) und Klugheit und Dummheit zu jenen. Wie kommt es, daß wir einen, weil wir ihn lieben, einen lieben Menschen und den anderen, weil wir ihn verabscheuen, einen abscheulichen Menschen nennen; den Geruch, über den wir uns freuen, als erfreulich und den, über den wir uns ärgern, als Ärgernis bezeichnen? So läßt sich behaupten, daß Innen und Außen jeweils anders zu verwenden und Jenes und Ich unterschiedlich zu benennen sind. Selbst wenn Töne von sich aus ein Gutes oder Schlechtes zum Prinzip haben sollten, so hat das mit Trauer und Heiterkeit nichts zu tun. Da Trauer und Heiterkeit auf Gefühlen (qíng-gǎn 情感) beruhen, sind sie nicht an Töne geknüpft.« 99
Entscheidender noch für die Ausgestaltung einer von Gefühl erfüllten Innenwelt waren womöglich die zeitgenössischen Überlegungen über die den Menschen umgebende äußere Natur. Stimmten die Philosophen der Epoche darin mit Xunzi (298–238 v. Chr.) überein, daß die kosmisch gedachte Natur ein »Von-selbst-Seiendes« (zìrán 自然) 100 sei, so ging einer von ihnen, Guo Xiang 郭象 (?–312), so weit zu behaupten, daß auch die einzelnen Wesen und Dinge »von selbst so sind« und nicht von etwas Übergreifendem dazu veranlaßt werden. Damit minderte er die Bedeutung der Gesamtheit des Kosmos: das umhüllende Numinose, das in den alten Begriffen dao und tian ebenso enthalten war wie in den Begriffen tài-yī 太一 und tài-jí 太極, die seit der Hanzeit mehr in den Vordergrund traten. 101 Auf die Gefühle (qíng 情) übertragen, bedeutete seine Sicht der Dinge, daß Gefühl und Begehren »von selbst zum Ich gehören« und tige »hochbrisante und kreative Prozesse der Kulturbegegnung« in Gang. Elberfeld/ Obert, 2000, 14; vgl. auch Mayer 1991, Teil 2, 9. 98 Xi Zhongsanji 嵇中散記, Wenjin chubanshe, 1979, 15a; Übs. Friedrich 1984, 58. 99 Ebd. 14a; vgl. Friedrich 1984, 58. 100 Zum Begriff zìrán 自然 vgl. van Houten 1988, Linck 1999 sowie III.3.
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Die angeborene menschliche Natur
somit nicht in erster Linie von außen veranlaßt, vielmehr im Innern des einzelnen Menschen (tǐ-zhōng 體中) angesiedelt sind. Allerdings blieben Xi Kangs und Guo Xiangs Überlegungen mit ihrer ansatzweise formulierten Introjektion, insgesamt gesehen, in der chinesischen Philosophiegeschichte marginal. Selbst die neokonfuzianische Schule, die im 11./12. Jahrhundert an der Herzmetaphorik (s. I.3.c) und am qi-Begriff entscheidende Bedeutungsveränderungen vornehmen und aus der Lehre vom Dunkeln immerhin den Begriff lǐ 理 aufgreifen sollte (s. III.1.b), hielt an der Anregung des Innen vom Außen letztlich fest. Das bedeutet zugleich, daß nach wie vor leibliches Spüren von Atmosphären ebenso zur bewußten Welt-Wahrnehmung gehörte wie das Erkennen einzelner Sachverhalte und Außendinge. 102
2. Die angeborene menschliche Natur Geht es um das Zusammenspiel von Leib und Gefühl, so liegt es nahe, einen Aspekt der chinesischen Philosophie besonders in Augenschein zu nehmen, die Überlegungen zum Verhältnis zwischen der angeborenen menschlichen Natur (xìng 性) einerseits und den menschlichen Gefühlen andererseits. Als erstes fällt auf, daß die chinesischen Philosophen unter den Gefühlen die a) störenden Emotionen ausmusterten, ohne sie allerdings begrifflich von den Gefühlen anderer Art zu differenzieren. Beide werden als qíng 情 bezeichnet. Die Grundpositionen standen schon in dem Jahrhunderten vor Begriffe, die bereits im Zhuangzi (tài-yī 太一, das Große Eine) und Daodejing (tài-jí 太極, der Große Pol) vorkommen, um dann in der Hanzeit zur Bezeichnung für das Höchste im Kosmos zu avancieren; letzteres wird auch in eins gesetzt mit yuán-qì 元氣 (Ursprüngliches qi) sowie tài-chū 太初 bzw. tài-shǐ 太始 (der Große Anfang); Onozawa u. a. 1988, 136–140. 102 Dies wird im Verlauf dieses Buches auf vielfache Weise belegt, etwa in der Art, wie Gefühle/Emotionen verstanden wurden (s. II.3.c), oder in der Bedeutung atmosphärisch-jahreszeitlich-klimatischer Einflüsse (s. II.l.b). 101
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Leib und Gefühl
Chr. fest: b) Mengzi (372–289 v. Chr.) behauptete, der Mensch sei von Natur aus gut, während Xunzi (298–238 v. Chr.) dem entgegen hielt, daß der Mensch von Natur aus schlecht sei. Ein Zeitgenosse und Gesprächspartner des Mengzi, ein gewisser Gaozi 告子, wiederum formulierte eine Zwischenposition, an der sich die nachfolgenden Philosophen orientierten, sei es im Sinne eines »Sowohl-als-auch« oder eines »Weder-noch«. Daraus entwickelte sich dann in der Frühen Kaiserzeit – analog zu den anderen bereits erläuterten Antagonismen – ein Gegeneinander: c) Der Widerstreit zwischen der für gut befundenen menschlichen Natur und den schlechten Emotionen. a) Die störenden Emotionen Stand im vorangegangenen Kapitel (II.1) die »Macht von Gefühlsatmosphären« ganz allgemein und in ihrer positiven Einflußnahme im Vordergrund, so geht es an dieser Stelle um Gefühle, die sowohl von den Philosophen als auch von den Medizinern als beunruhigend und störend empfunden wurden. Da die chinesische Sprache nicht zwischen den akzeptierten Gefühlsatmosphären einerseits 103 und den störenden Gefühlen andererseits begrifflich differenziert, wird im vorliegenden Buch immer dann, wenn es sich um »Quertreiber« unter den Gefühlen handelt, der chinesische Begriff qíng 情 mit unserem Wort »Emotionen« übersetzt. 104 Ansonsten erscheint in dem vorliegenden Buch das Wort »Gefühl«, das auch im Deutschen eher wertneutral ist. Dabei ist es gleichgültig, ob »Gefühl« oder »Emotion« als eine mehr am oder im Leib gespürte Sensation erscheint oder als eine von außen sich aufdrängende Gefühlsatmosphäre. Im Buch Zhuangzi (4./3. Jh. v. Chr.) ist der Begriff qing bereits 103
Z. B. Landschaftsatmosphären und die Atmosphäre intensiver Konzentration beim Malen, Musizieren oder Kalligraphieren; mit solchen Gefühlsatmosphären »nährten« die chinesischen Gelehrten ihr qi. (S. w. o. II.1.a sowie II.3.c) 104 In Übereinstimmung mit der lat. Bedeutung emotio Erregung. Auch das Wort »Affekte« (von lat. ad-ficitur, was einer Sache angetan wird) im Sinne der Affektenlehre der Stoiker oder eines Thomas von Aquin (12247–1274) wäre keine schlechte Übersetzung: Den Stoikern galt ganz analog das Pathos als eine »unvernünftige,
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Die angeborene menschliche Natur
negativ gefärbt, da jegliche Gefühlsaufwallung im daoistischen Verständnis der angestrebten Harmonie von Mensch und Kosmos im Wege steht. Sie erschien auch überflüssig, denn der im daoistischen Verständnis vollkommene Mensch differenzierte nicht zwischen sich und den Wesen und Dingen der Welt. Das Wissen um Zusammenhänge und Verbundenheit in der Welt bewahrte davor, von den Wandlungen des Werdens und Vergehens, erst recht von Alltagssorgen, affiziert zu sein. Die Geschichte vom Tode der Frau des Zhuang Zhou veranschaulicht sehr schön die gleichmütige Haltung gegenüber Ereignissen, welche die gewöhnlichen Menschen in höchstem Maße traurig machen (s. I.2): »Als Zhuangzis Frau gestorben war, wollte Huizi 惠子 ihm sein Beileid aussprechen. Zhuangzi aber saß auf einer Matte, trommelte auf einem Bassin und sang dazu. Da sagte Huizi: ›Mit einem Menschen zusammenzuleben, ein Kind großzuziehen, alt zu werden und, wenn der [Mensch] dann stirbt, nicht zu weinen – das ist schon zu viel! Doch damit nicht genug: Du trommelst auf einem Bassin und singst dazu! Geht das nicht zu weit?!‹ Worauf Zhuangzi erwiderte: ›Dem ist nicht so! Als sie gerade gestorben war, war ich allein, wie hätte ich da nicht traurig sein können!? Betrachte ich aber ihren Anfang, so war sie ursprünglich ohne Leben. Sie war nicht nur ohne Gestalt (xíng 形), sie war auch ohne qì 氣. Sie war ein undifferenzierter Teil der chaotischen Mannigfaltigkeit (huāng-wú 荒無) 105, wandelte sich und wurde zu qi; qi wandelte sich und nahm Gestalt an; die Gestalt wandelte sich und nahm Leben an. Und ihr erneuter Wandel heute ist der Tod. Diese Aufeinanderfolge ist wie der Gang der Vier Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Da liegt sie nun in der großen Weite 106; und wenn ich nun seufzend einherginge und weinte, würde ich nur beweisen, daß ich das kosmische Gesetz nicht durchdrungen habe. Deshalb habe ich damit aufgehört!‹« 107
Der extreme Gleichmut der Daoisten faszinierte immer wieder die Elite der chinesischen Gesellschaft und hilft heute noch manchem widernatürliche Bewegung der Seele oder ein überhandnehmender Trieb«, während Thomas von Aquin den Affekt als ein Erleiden des sinnlichen Strebens definierte (passio appetitus sensitivi); vgl. Schmitz 1992, 19. 105 Wörtl. Zusammensetzung von: Ödnis und Leere/Nichts bzw. das Undifferenzierte.
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über Schicksalsschläge hinweg, die das Leben beschert. Auch der Buddhismus, der jegliches Hängen an der Welt als in höchstem Maße hinderlich auf dem Weg zur Erleuchtung ansah, predigte Gleichmut. Die Positionen beider Schulen lagen von Anfang an nahe beieinander 108 und erfuhren im Lauf der Jahrhunderte keine wesentlichen Neuerungen. Sie prägten aber das gesamte chinesische Denken, auch das der konfuzianischen Elite. Bis heute ist das Ideal des Gleichmuts ein Anliegen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). Hier eine analoge Stelle aus dem Klassiker der Resonanzmedizin: »Der Mensch hat Fünf Speicher; diese wandeln die Fünf qi um, und so entstehen Lust, Zorn, Trauer, Melancholie und Furcht. Lust und Zorn schädigen das qi […], heftiger Zorn schadet den yin[-Anteilen des Menschen], heftige Lust schadet den yang[-Anteilen]. Dann steigt das qi auf, anstatt abzusinken, bewirkt Überfülle in den [entsprechenden] Leitbahnen und verläßt den Körperleib (xíng 形). Werden Lust und Zorn nicht in Maßen gehalten, dann übersteigen [auch] Kälte bzw. Hitze ihr Maß, und das Leben ist nicht mehr gefestigt.« 109
Es gibt eine Reihe von Übereinstimmungen in den verschiedenen Strömungen chinesischen Denkens. Die Skepsis gegenüber Gefühlswallungen, die als zwischenmenschlich störend und zugleich lebensschädigend empfunden wurden, gehört eindeutig dazu. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, die Emotionen, welche die Philosophen und Mediziner beschäftigten und irritierten, im Einzelnen abzuhandeln. Hier nur so viel: Die Liste der jù-shì 巨室, wörtl. großer Raum [zwischen Himmel und Erde]. Kap. 18.2 »Zhile«; vgl. Legge o. J., 444–445 sowie Wilhelm, R., 1992, 195– 196. 108 So nahe beieinander, daß von Sinologen behauptet wurde, der philosophische Daoismus im Zhuangzi und Daodejing könnte bereits ein früher Ableger des Buddhismus gewesen sein. (Gespäch mit G. Debon in Heidelberg im WS 86/87). Mit Sicherheit hat es Einflüsse und Anstöße gegeben. Andererseits läßt sich manches, das allzu rasch als Ergebnis eines Kulturkontakes gewertet werden könnte, auch als Ausdruck universaler Lebenserfahrung interpretieren, nicht zuletzt leiblicher Art. 109 Huangdi neijing suwen, Bd. 1, Kap. 2.5 »Yinyang yingxiang dalun«, 75; vgl. Unschuld 1980, 226–227 sowie Veith 1972, 117. 106 107
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Emotionen umfaßt manchmal sechs 110, manchmal sieben 111 oder auch unter dem Einfluß der Lehre von den Fünf Wandlungsphasen fünf 112. Am häufigsten sind folgende aufgeführt: Freude/Lust (xǐ 喜), Zorn/Wut (nù 怒), Grübeln (sī 思), Trauer (yōu 憂) und Kummer/Furcht/Angst (āi 哀). 113 Sie entfalten sich aus den primären Empfindungen, die wir mit zwei ebenso grundlegenden wie spontanen Bewegungssuggestionen verbinden können: »Nichts wie weg hier!« (Abneigung wù 惡) und »Nichts wie hin!« (Zuneigung hào 好). 114 Alle Emotionen sind Manifestationen von qi, das in Wallung geraten ist und so den gesamten Leib in Mitleidenschaft zieht – ein Zustand, der die Klarheit von Bewußtsein und Willen trübt. 115 Die leibliche Fundierung sämtlicher Emotionen zeigt sich eindrucksvoll in verschiedenen Bildern von Sprache und Schrift. So tragen, wie schon ausgeführt, die Zeichen für Heiterkeit und Freude die alten Zeichen für Musikinstrumente im Bild, Schellenbaum (lè 樂) und Pauke (xǐ 喜), und erinnern an das gesellig-atmosphärische Erleben dieser Gefühle. 116 Musik hat mit ihren spezifischen Bewegungssuggestionen eine mitreißende, einleibende Wirkung, und nicht von ungefähr setzt sich das chinesische Wort für »Resonanz« aus »berühren« und »Trommel« zusammen, 117 deren Rhythmus in besonderer Weise in die Glieder fährt. Verweist schon die Freude an der Bewegung auf den gesamtleiblichen Ausdruck dieses Gefühls, so zielt auch das modern-chinesische Wort für »froh« auf diesen raumerobernden Impuls, setzt es sich doch aus gāo 高(hoch) und xīng 興 (Aufbruch) zusammen. Wie Freude sucht auch Zorn die Weite, z. B. im Blick, den das zornige Auge ausschickt (fā-nù 發怒). 118 Yue Fei 岳飛 (1103–1142), der den Widerstand gegen die von 110
Vgl. Xunzi jijie, Kap. 22 »Zhengming«, 412 und Knoblock 1994, vol. III, 127. Vgl. CY 0012.2. 112 Als solche sind z. B. in der Dynastiengeschichte der Drei Reiche (Sanguozhi) (s. Zeittafel): Freude, Zorn, Kummer, Heiterkeit und Haß/Groll (yuàn 怨) genannt; vgl. CY 0074.1. 113 S. die Tabelle in: III.2.a; zum Gefühl der Vorsicht, die im Umkreis von Furcht und Angst anzusiedeln wäre, liegt von Trauzettel 1992 ein schöner Aufsatz vor. 114 Vgl. das Gegensatzpaar eros und phobos. 115 Noch heute bedeutet »wütend, ärgerlich sein«: shēng-qì 生氣 (qi hervorbringen). 116 S. I.4 Exkurs: Die Metaphorik des Herzens. 117 Vgl. Karlgren 1966, 671.l, 298, CY 0633.1. 111
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Norden eindringenden Jurchen leitete, hat leibliche Richtung von Zorn in ein schönes Bild gesetzt: »Vor Wut geht mir die Kappe hoch […].« 119 Angesichts dieses ausfahrenden Bewegungsimpulses verwundert nicht, wenn in altchinesischen Texten das Wortzeichen für »zornig« (nù 怒) gleichermaßen für üppig blühende Gräser und Bäume, heftig anschwellende Wasser und wild rasende Stürme stehen kann. 120 Umgekehrt sind metaphorische Umschreibungen für Angst und Furcht mit leiblicher Engung und Spannung 121 assoziiert, wie in dem folgenden Gedicht aus dem Shijing, das anläßlich eines Feldzug entstanden sein soll: »So geht es zitternd, bänglich leis Als wäre man am tiefen Abgrund Als schritte man auf dünnem Eis […].« 122
So schreibt sich dann auch ein chinesisches Wort für Beklemmung: 悶 (mēn), d. h. mit einem zwischen zwei Türflügeln eingeklemmten Herz. 123 Unser Wort Angst hat ebenfalls etymologisch mit Engung zu tun. Auch bei Scham, einer weiteren störenden Emotion, die es am Besten zu vermeiden gilt, liegt leibliche Engung nahe: So will man sich am liebsten »verstecken« oder »in einer Felshöhle verkriechen.« 124 Daß aus einem zutiefst empfundenen Engegefühl heraus Schamgefühle mit Schweißausbrüchen und Hitzewallungen, ja Gedächtnisverlust, Todessehnsucht, Selbstmord und plötzlichem Tod einhergehen konnten, ist ebenfalls belegt. 125 Schweißausbrüche gestand z. B. Sima Qian 司馬遷 (ca. 145–90 v. Chr.), der zur Strafe kastriert worden war und glaubte, darum Schande über seine Vorfahren gebracht zu haben: »[…] Ununterbrochen muß ich über meine Schändung nachgrübeln, 118
CY 0604.1; vgl. Linck 2000 bzw. 2006, 136. Linck 1995, 281. 120 CY 0604.1. 121 Spannung ist im Begriffsinventar der Leibphilosophie privative Engung. S. Anhang 1. 122 Lied Nr. 195. Übs. v. Strauß 1969, 319. Hervorhebungen G. L. 123 S. I.4.a. 119
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der Schweiß tritt immer wieder hervor auf meinem Rücken und benetzt mir die Gewänder […]. Ach, wenn mir doch vergönnt wäre, mich aus allem herauszuziehen und mich fernab in einer Felsenhöhle zu verkriechen.« 126
Auf Hitzewallungen aufgrund leiblicher Engung wiederum verweist noch die heutige Redewendung »Rotwerden bis zu den Ohrwurzeln« (hóng dào ěrgēn 紅到耳根), die womöglich auch dem Zeichen für Scham chǐ 恥 zugrunde liegt, denn es schreibt sich mit »Ohr« und »Herz«. Auch uns treibt Scham die Hitzeröte ins Gesicht bis hinter die Ohren. Eine ganze Reihe von eindrucksvollen Metaphern verwendet Yan Zhitui 顏之推 (531–590), ein hoher Würdenträger, der sich gezwungen sah, seine Loyalität zu verteilen, lebte er doch unter vier aufeinander folgenden Herrscherhäusern – eine Schamsituation besonderer Art für einen kaiserlichen Beamten: »Ein einziges Leben war mir bloß gegeben, aber drei Umstürze habe ich in ihm erfahren, in denen mir die Bitternis der Saudistel und die Schärfe des Knöterichs zuteil wurden. Ein Vogel bin ich, dem man seinen Wald verbrannt und dessen Flügel man gestutzt hat, ein Fisch, dem man das Wasser genommen hat und dessen Schuppen in der Sonne dörren. Ach, so wild und weit ist die Welt – ich schäme mich, keinen Ort gefunden zu haben, um meinen Leib zu bergen.« 127
In den frühen Schriften werden alle diese Emotionen über das Spüren am eigenen Leibe hinaus als von außen bewirkte Atmosphären wahrgenommen. So ist im Zuozhuan von Sechs Willensregungen bzw. Bestrebungen (liù-zhì 六志) die Rede, die wie folgt aufgeschlüsselt sind: hào 好 (Zuneigung, Liebe), wù 惡 (Abneigung, Haß), xǐ 喜 (Freude), nù 怒 (Zorn, Wut), āi 哀 (Kummer) und lè 樂 (Heiterkeit). Sie entstehen aus den Sechs klimatischen Atmo124
Vgl. Linck 2000 bzw. 2006, 137–139. Vgl. Linck 2000 bzw. 2006, 138. 126 Zit. n. Bauer 1990, 83. 127 Übs. Bauer 1990, 178. Hervorhebungen G. L. Es würde sich lohnen, analog meiner Durchsicht nach Scham und Zorn die von Bauer übersetzten autobiographischen Notizen auf den leiblichen Ausdruck anderer Gefühlsregungen hin zu überprüfen, scheint mir doch metaphorische Umschreibung am ehesten einen Weg zum Empfinden von Gefühl und Emotion im vormodernen China zu eröffnen. Vgl. 125
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sphären (liù-qì 六氣), nämlich 1. yin, 2. yang, 3. Helligkeit, 4. Dunkelheit, 5. Wind und 6. Regen und sind damit leibliche Entsprechungen kosmischer bzw. klimatischer Atmosphären. Auch schildert der Autor, wie sich diese Gefühlsregungen äußern: Kummer in Weinen; Heiterkeit in Singen und Tanzen; Freude und Lust in Hingabe; Zorn in Kampf und Streit. 128 In der Frühen Kaiserzeit setzt die schon erläuterte Verinnerlichung der Gefühle ein, die ihren Höhepunkt im Neokonfuzianismus findet. 129 Und doch gelingt die Introjektion nicht ganz. Das herrschende Leitbild des Atmosphärischen sorgt im Grunde bis heute dafür, daß Gefühl und Emotionen als etwas Relationales, Kontextuelles empfunden werden, als etwas, das zwischen den Menschen wirkt und sie in gemeinsamer Situation wie eine Stimmungsglocke umhüllt. Dafür spricht auch die zweite Grundbedeutung von qing: zwischenmenschliche Situation, Umstände. 130 b) Ist der Mensch von Natur aus gut oder schlecht? Mit der Kontroverse zwischen (1) Mengzi und (2) Xunzi sind wir bereits vertraut (s. I.3.b). Beide waren sich immerhin darin einig, daß Gefühl und Begehren dem Menschen angeboren seien. Für angeboren verwendete (1) Mengzi (372–289 v. Chr.) shēng 生, dessen Grundbedeutung »Leben« ist. Die menschliche Natur (xing) ist danach nichts anderes als die ganze lebendige Leiblichkeit. Doch Mengzi legte zugleich großen Wert darauf, seinem Gesprächspartner Gaozi zu verdeutlichen, daß sich die menschliche Natur nicht auf Leiblichkeit und rohe Lebenskraft reduziert: Worin bestünde sonst der Unterschied zwischen menschlicher und tierischer Natur?! 131 Der Mensch kommt Mengzi zufolge zur Welt mit der Fähigkeit, zwischen moralisch Gut und Schlecht zu unterscheiden. auch Linck 2011. In den im Umkreis von P. Santangelo realisierten Projekten steht die Durchsicht literarischer Texte zum Ausdruck von Gefühl und Emotionen im Mittelpunkt; vgl. ders. sowie Messner. 128 Zhaogong 25. Jahr; vgl. Legge 1991, vol. V, 704. 129 S.II.1.c. 130 CY 0612.1; vgl. auch Linck 2003a.
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Das Gleichnis von der spontanen menschlichen Mitleidsreaktion beim Anblick eines Kindes, das ins Wasser fällt, galt Mengzi als Beweis für ein präreflexives gefühlsmäßiges Handeln. Indem er diese spontane, moralisch einwandfreie Reaktion auf das Wirken des Himmels tian zurückführte, stellt sich das gute bzw. wahre Herz (shàn-xīn 善心 resp. zhēn-xīn 真心), das Gewissen 132, als Restinstanz autoritativer göttlich-numinoser Gefühlsmächte dar. Wenn Mengzi also das Angeborene geltend machte, so wollte er nicht auf leibliche Regungen wie Hunger und Schmerz, auch nicht auf Emotionen wie Kummer und Zorn hinaus; ihm ging es vielmehr um die komplexeren Empfindungen, die moralischen Gefühle wie Mitleid und Scham. Xunzi hingegen zielte, wenn er von der menschlichen Natur sprach, auf etwas anderes ab: auf die egozentrischen und egoistischen Bestrebungen des einzelnen, die ein geordnetes und friedliches Zusammenleben gefährdeten, d. h. auf das ungezügelte Begehren und daraus resultierende Emotionen wie Zorn und Gier. Wenn Mengzi also behauptete, der Mensch sei von Natur aus gut, und Xunzi dem entgegensetzte, der Mensch sei von Natur aus schlecht, hatten beide ganz Unterschiedliches im Sinn, und so redeten sie im Grunde aneinander vorbei, 133 und die in gängigen Philosophiegeschichten darauf abhebende Kontrastierung der beiden Gedankenwelten entbehrt so gesehen einer gewissen Logik. Die Überlegungen des (2) Xunzi (298–238 v. Chr.) zu diesem Thema finden sich im 23. Kapitel des nach seinem Autor benannten Buches unter der Überschrift: »[Der Mensch ist] von Natur aus schlecht« (xìng-è 性惡). Diese Abhandlung wirkt auf uns 131
Vgl. Lang-Tan 1995. Das Kriterium moralischer Urteilsfähigkeit, das dazu dient, die menschliche von der tierischen Existenz zu unterscheiden, zieht sich wie ein roter Faden durch die konfuzianische Tradition; ebd. 19, 59, 80, 148–150. Auch Zhuang Zhou sieht in der Unterscheidung zwischen Gut und Schlecht das Merkmal, das den Menschen von allen anderen Wesen unterscheidet; allerdings bewertet er dies negativ, weil damit gewaltsame Eingriffe in das »Von-selbst-Sein« verbunden sind: »[Der vorbildliche Mensch shèngrén 聖人] verletzt nicht seine lebendige Leiblichkeit (shēn 身) durch Vorlieben und Abneigungen.« Zhuangzi, Kap. 5.5 »Dechongfu«; vgl. Legge o. J., 282–283. 132 Das moderne Wort für Gewissen ist liáng-xīn 良心 (das-gute-Herz), und »Ich habe ein schlechtes Gewissen« lautet wǒ-liáng-xīn bù hǎo 我良心不好, wörtl. »Mein Gutes-Herz ist nicht gut«.
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heute ebenso einfach wie überzeugend: Der Mensch kommt als ein Bündel aus Hunger und Durst, Schmerz und Angst auf die Welt und macht die daraus entstehenden Regungen und Bestrebungen von Anfang an geltend. Für Xunzi sind denn auch Emotionen (qíng 情) und Begehren (yù 欲) kaum voneinander verschieden. Beides zusammen entspricht dem, was wir als das »Sinnlich-Triebhafte« bezeichnen würden. 134 Bei Xunzi sind die menschliche Natur xìng 性 und die Emotionen qíng 情 nicht nur miteinander verknüpft, sondern an manchen Stellen sogar zu einem Begriff verschmolzen: »Die vorbildlichen Könige des Altertums hielten die menschliche Natur für schlecht und glaubten [deshalb], der Mensch sei [von seiner Anlage her spontan] der Gewalttätigkeit und Unaufrichtigkeit, dem Chaos und der Unordnung zugeneigt. Deshalb dachten sie sich Riten und Pflichten aus, stellten Regeln und Gesetze auf, um die emotionale Natur (qíng-xìng 情性) des Menschen zu verschönern […]. Es liegt nun einmal in der Natur des Menschen, daß er, wenn er hungrig ist, satt zu essen begehrt; wenn er Kälte empfindet, Wärme begehrt; wenn er von der Arbeit erschöpft ist, Ruhe begehrt – dies ist die emotionale Natur (qing-xing) des Menschen.« 135
Von der emotionalen Natur aus gesehen sind alle Menschen »von Natur aus« gleich, nur die Gewohnheit unterscheidet sie voneinander. 136 Damit aber das dem Menschen angeborene »SinnlichTriebhafte«, das bis zu einem Grade seine Berechtigung hat, nicht überhandnimmt und das Zusammenleben stört, mußte also entschieden und nachhaltig auf die Gewohnheiten Einfluß genommen werden: sei es über belehrende Vorbilder, welche die Riten und Sitten der früheren Könige erzieherisch vermittelten; sei es durch Strafe und Belohnung. 137 Xunzi vertraute also nicht mehr – wie noch Mengzi – auf das moralisch verbindliche Einwirken göttlich-numinoser Mächte und ein dadurch spontan bewirktes menschliches 133
Sie »redeten« natürlich nicht miteinander, da Mengzi schon tot war, als Xunzi zur Welt kam. 134 Im Buch Guanzi, Kap. »Neiye«, ist das Begehren eindeutig an die fünf Sinnesöffnungen gebunden, denn er nennt als das Fünffache Begehren (wǔ-yù 五欲): Ohr, Auge, Nase, Mund, Herz; vgl. ZWDZD Bd. 1, 262.774. 135 Xunzi jijie, Kap. 23 »Xing-e«, 435–436; vgl. Knoblock 1994, vol. III, 151–152. 136 Das hatte schon Konfuzius festgestellt; vgl. Lunyu 11.2; Wilhelm, R. 1985, 171.
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Verhalten. Die Moral war seiner Meinung nach »künstlich gemacht« (wéi 為) – mit anderen Worten, er hielt sie für eine Erfindung 138 der früheren vorbildlichen Menschen. Deren Verbindlichkeit rührte einzig und allein daher, daß die Könige im Altertum in ihrer Vollkommenheit als Vorbildliche/Heilige shèng-rén 聖人) verehrt wurden. 139 Auf die Frage, ob überhaupt dieses Ego-Bündel Mensch zum Guten gelangen konnte, hielt Xunzi im Grunde zwei Antworten bereit: Ein erstes Argument lieferte ihm die menschliche Fähigkeit zur Differenzierung (fēn 分). Darunter verstand er die Fähigkeit, auf der Grundlage von Sitten und Riten ein geordnetes Zusammenleben in Staat und Gesellschaft zu organisieren. Allein diese Fähigkeit unterscheidet den Menschen vom Tier. 140 Xunzis zweites Argument wirkt auf uns zunächst überraschend, weil es so banal anmutet: »Daß der Mensch gut sein will, liegt daran, daß seine Natur schlecht ist. Dünn will dick, häßlich will schön; eng will weit, niedrig will hoch werden.« 141
Und doch überzeugt es vor dem Hintergrund eines Denkens, nach dem die Gegensätze auseinander hervorgehen. 142 Nicht zuletzt unterstellte Xunzi dem Menschen eine gewisse Selbstliebe, eine Variante des angeborenen Strebens nach Eigennutz, der ihn auf dem Weg zu moralischer Vervollkommnung vorwärts treibe. So heißt denn auch das zweite Kapitel im Buch Xunzi: »Die Pflege der Persönlichkeit« (xiū-shēn 修身). Es liegt auf der Hand, daß den Überlegungen der beiden Philosophen ein unterschiedliches Verständnis von Gefühl und Emotionen zugrunde lag: Xunxi hatte die 137
U. a. wird damit auch Xunzis Nähe zu den Legisten begründet, findet sich doch im Buch Hanfeizi 韓非子 ein »den zwei Handhaben« (Strafe und Belohnung) gewidmetes Kapitel, und zwar das Kap. 7; vgl. Watson 1967, 30–34. 138 Postmodern gesagt: eine Konstruktion des menschlichen Bewußtseins. 139 Xunzi jijie, Kap. 23, »Xing-e«, 437; vgl. Watson 1967, 160; Roetz 1992, 348. 140 Im Gegensatz zu Mengzi, der die allein dem Menschen angeborenen moralischen Empfindungen an und für sich ins Feld führt. 141 Xunzi jijie, Kap. 23 »Xing-e« 439; Übs. Roetz 1992, 360; vgl. Knoblock 1994, vol. III, 154–155. 142 S. das yin-yang-Konzept.
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primären Alltagsempfindungen vor Augen, Mengzi jedoch die komplexeren moralischen Gefühle, die Xunzi für anerzogen und eben nicht für angeboren hielt. c) Menschliche Natur und Emotionen im Widerstreit Die Philosophengenerationen, die auf Mengzi (372–289 v. Chr.) und Xunzi (298–238 v. Chr.) folgten, hielten es insofern mit Gaozi, jenem ansonsten unbekannten Gesprächspartner des Mengzi, als sie die extremen Positionen vermieden. Drei Varianten, die sämtlich auf die Möglichkeit erzieherischer Beeinflussung pochen, sind dabei zu unterscheiden. Alle drei lagen spätestens zur Hanzeit (206 v.– 220 n. Chr.) ausformuliert vor. Gaozi selbst hatte die menschliche Natur (1) weder für gut noch für schlecht befunden und das nach Mengzi wie folgt begründet: »Die menschliche Natur ist wie wirbelndes Wasser. Läßt man im Osten einen Ausweg, so fließt es nach Osten; läßt man im Westen einen Ausweg, so fließt es nach Westen. Die menschliche Natur macht keinen Unterschied zwischen Gut und Nicht-Gut, so wie das Wasser keinen Unterschied macht zwischen Ost und West.« 143
Die zweite Zwischenposition, die einige Jahrhunderte später Wang Chong 王充 (27–100) vertrat, läßt sich wie folgt zusammenfassen: (2) Manche Menschen sind gut, manche Menschen sind schlecht: »Nimm eine gute Natur und nähre sie, und Gutes wird dabei herauskommen; nimm eine schlechte Natur und nähre sie, und Schlechtes wird dabei herauskommen. Da dem so ist, hat also [auch] die emotionale Natur [des Menschen] zwei Seiten (yǒu yīn-yáng 有陰陽): Ob sie gut oder schlecht gerät, hängt [allein] von der [jeweiligen] Förderung ab.« 144
Weil beides möglich ist, muß Wang Chong zufolge ein vorbildlicher Herrscher versuchen, die Gefühle und Regungen seiner Untertanen zu beeinflussen, um sie zum Guten hin zu lenken. Ganz in der Tra143
Mengzi, Buch VI »Gaozi« 1.2; vgl. Legge 1991, vols. I-II, 395; Übs. Wilhelm, R. 1982, 160.
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dition hielt er Ritual und Musik für besonders geeignet, dies zu bewirken. 145 Die dritte Zwischenposition sieht in jedem einzelnen Menschen grundsätzlich (3) eine Mischung aus Gut und Schlecht. Dafür plädierten drei hanzeitliche Persönlichkeiten: Dong Zhongshu 董仲舒 (179–104 v. Chr.), Liu Xiang 劉向 (1. Jh. v. Chr.) und Yang Xiong 楊雄 (53 v. – 18 n. Chr.). Von den genannten Gelehrten der Hanzeit (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) hatte Dong Zhongshu den größten Wirkungsgrad: Mit einem synkretistischen Ansatz avancierte er zum Chefideologen der Han-Dynastie: Seine Philosophie der systematischen Entsprechungen – etwas verkürzt auch als yin-yang-Konfuzianismus bezeichnet – eignete sich hervorragend, die Stellung des Zentralherrschers und dessen Friedenspostulat im Innern des Einheitsstaates kosmisch zu legitimieren: Da alle Dinge und Wesen in der Welt aufeinander abgestimmt, in Resonanz sind, sich wechselseitig beeinflussen und verändern, zieht jede Störung der Harmonie Folgen nach sich, die sich in Himmelszeichen und anderen Omina ankündigen und in Feuer-, Flut- und Dürrekatastrophen äußern. Folgender Passus aus Dong Zhongshus Buch (Üppiger Tau auf Frühling- und Herbst[annalen]) ist in mehrerer Hinsicht aufschlußreich: erstens, weil der Verfasser die individuelle Mischung aus Gut und Schlecht erläutert; zweitens, weil er seine Staats- und Herrscherideologie gerade aus dem Verhältnis von menschlicher Natur (xing) und Emotionen (qing) ableitet; und drittens, weil dieses wiederum kosmologisch begründet wird: »Daß ein Mensch eine angeborene Natur und Emotionen hat, entspricht der Tatsache, daß der Himmel yin und yang hat. Zu behaupten, der Mensch sei in seinem eigentlichen Wesen (zhì 質) 146 ohne Emotionen, ist, als ob man behaupte, der Himmel habe yang und kein yin. Was wir die angeborene menschliche Natur nennen, bezieht sich weder auf [moralisch] hoch[schwellige] noch auf [moralisch] nieder[schwellige] Menschen, sondern auf den Durchschnitt. Die Natur des Menschen ist wie ein Seidenkokon oder ein Ei. Das Ei muß bebrütet werden, damit ein Küken daraus wird, und der Seidenkokon muß Aus Lunheng 論衡, s. Lunheng zhushi, Kap. »Benxing«, 31; vgl. Chan 1970, 294. 145 Vgl. Chan 1970, 293. 144
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abgehaspelt werden, damit Seide daraus wird; und der Mensch bedarf der Erziehung, bevor er gut wird […]. 147 […] Da der Himmel die Natur des Menschen hervorbringt, die eine gute Grundlage hat, aber nicht in der Lage ist, [von sich aus] gut zu werden, hat er den König eingesetzt, um [die menschliche Natur] gut zu machen. Das liegt im Sinn des Himmels. [Der Weg der] [Menschen und [der Weg des] Himmels sind gleich. Deshalb kann yin sich nicht in Frühling und Sommer 148 einmischen, und der volle Mond wird stets vom Sonnenlicht überwunden […]. 149 So schränkt der Himmel yin ein. Warum sollte also der Mensch nicht in der Lage sein, Begehren zu mindern und Emotionen Einhalt zu gebieten, um dem Himmel zu entsprechen?« 150
Nun impliziert die Berufung auf yin und yang von alters her allenfalls beider Notwendigkeit, aber durchaus nicht zwangsläufig, daß das eine schlecht und das andere gut sei. 151 In der zitierten Textstelle ist die Umwertung nur angedeutet. Sie geht allerdings klar aus einer längeren Textstelle hervor, z. B. wenn die menschliche Natur dem rechten zwischenmenschlichen Verhalten (rén 仁) und die Emotionen der menschlichen Gier (tān 貪) zugeordnet sind. 152 Was bleibt, ist die Botschaft, daß die Emotionen unbedingt einzuschränken sind, um Harmonie und Frieden in Staat und Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Dieser Antagonismus im Ansatz entsprach zeitgleich den schon skizzierten begriffsgeschichtlichen Entwicklungen, die mit der Reichseinigung und Konsolidierung des zentralisierten Staates Hand in Hand gingen. 153 D. h. Differenz implizierte nun nicht mehr bloß polare Ergänzung, sondern nun auch im Falle von menschlicher Natur und Emotionen den Antagonismus zwischen Gut und Schlecht. 146
S. I.2.c (3) sowie Diagramm 2. Chunqiufanlu zhuzi suoyin, Kap. 10.1, 46; vgl. Chan 1970, 275–276. 148 Frühling und Sommer stehen unter dem Einfluß des yang. 149 Chunqiufanlu zhuzi suoyin, Kap. 10.1, 45; vgl. Chan 1970, 274. 150 Ebd. 151 Zur ideologischen Verwendung des yin-yang-Konzeptes seit der Hanzeit im Sinne einer Rechtfertigung von gesellschaftspolitischen und gender-spezifischen Hierarchien vgl. Jullien 1995, 163–164. 152 Chunqiu fanlu zhuzi suoyin, 10.1, 45; vgl. Chan 1970, 274. 147
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Die späteren Philosophen der Lehre vom Dunkeln setzten diese Argumentationslinie geradlinig fort, kam sie doch dem Bedürfnis nach Selbstkontrolle im Sinne einer Emanzipation der Person von äußerlich andrängenden Gefühlatmosphären und einer damit einhergehenden Verinnerlichung der Gefühle entgegen (s. II.l.c). Gleichgültig, ob sie nun die Emotionen der menschlichen Natur zuordneten oder nicht – das Ich war ihrer Meinung nach nicht nur in der Lage, sondern auch aufgefordert, sich von Emotion und Begehren weitgehend freizumachen. Genau diese selbstauferlegte Entbindung von leiblichen Regungen sei es, die den wissenden und vorbildlichen bzw. heiligen Menschen (sheng-ren) vom gewöhnlichen Menschen unterscheide. 154 Manche gingen dabei so weit, daß sie auf dem Weg der Selbstvollendung von sich eine kühle Entrücktheit erwarteten. Dies wird zumindest He Yan 何晏 (?–249) unterstellt, während Wang Bi 王 弼 (226–249), der uns w. u. noch zu beschäftigen hat, einen solchen Rigorismus rundweg ablehnte, zumindest wurde ihm das nachgesagt: »He Yan meint, daß der Heilige (shèng-rén 聖人) ohne Fröhlichkeit, Zorn, Trauer und Freude sei […]. [Wang] Bi stimmt darin jedoch nicht mit ihm überein, meint vielmehr, der Heilige sei zwar durch seinen Geistesglanz (shén-míng 神明) anderen Menschen überlegen, teile aber mit ihnen die [Empfindung der] Fünf Gefühle. Aufgrund der Überlegenheit seines Geistesglanzes verkörpere der Heilige die hervorquellende Harmonie (chōng-hé 冲和) 155 und sei in der Lage, mit dem Undifferenzierten 156 zu verschmelzen (tóng-wú 同無). Aufgrund der Gemeinsamkeit über die Fünf Gefühle sei er in der Lage, auf die Wesen in Trauer oder Freude einzugehen (yìng-wù 應物). Doch, obgleich er mit seinen Gefühlen auf die Wesen eingehe, sei er durch diese nicht 153
S. I.2, Exkurs sowie I.3. So charakterisiert Friedrich das Ideal des Edlen bei Xi Kang wie folgt: »Den natürlichen Zustand der Identität gewinnt [der Edle], indem er sich von allen Begierden (yü bzw. yù 欲, G. L.) freimacht und solchermaßen in seinem Bewußtsein nicht mehr eigensüchtiges Verlangen (ssu bzw. sī 私, G. L.) nach äußeren Dingen (Ruhm etc.) hegt, sondern seine »wahren Gefühle« (ch’ing bzw. qíng 情, G. L.) frei von allen Bindungen bewahrt. Dieses Ziel des detachement heißt dann »Gemeinsinn« (kung bzw. gōng 公, G. L.) und beinhaltet zugleich die ethische Kategorie des Guten (shàn 善).« 1984, 62. 154
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gebunden. Daraus allerdings zu schließen, er ginge nicht auf die Wesen ein, sei völlig daneben.« 157
Die sich anschließende Epoche der Tangzeit (618–906) brachte an Inhalten nichts grundsätzlich Neues hervor. 158 Die Ansicht, daß menschliche Natur und Emotionen nun einmal nicht voneinander zu trennen seien, aber auch nicht unbedingt miteinander harmonierten, wird dann in der Songzeit (960–1278) erneut aufgegriffen. Sie findet sich im buddhistisch inspirierten Buch Guanyinzi 關尹 子 159 im Bild von Wasser und Wellen: Die menschliche Natur ist wie das Wasser 160, und die Emotionen entsprechen den durch die Außenwelt bewegten Wellen. 161 Etwas differenzierter verwendet auch Zhu Xi 朱熹(1130–1200), Vollender der li-xue, der neokonfuzianischen Schule, die WasserMetaphorik: Die menschliche Natur gleicht dem stillen Wasser, Gefühle gleichen dem fließenden Wasser, und das Begehren entspricht den Wellen. 162 Die Stille des Herzens zu bewahren – unbewegt von Emotionen und Begehren – darauf kam es dieser Schule an. 163 Nun verknüpfte Zhu Xi die Frage nach der angeborenen Natur des Menschen mit der allgemeinen Ordnung alles Seienden, die er mit dem Begriff lǐ 理 (Ordnungsprinzip) bezeichnete. Spätestens an dieser Stelle wurde Mengzi (372–289 v. Chr.) den Neokonfuzianern unentbehrlich. 164 Wie Mengzis Himmel (tian) waren auch die 155
Zitat aus dem Daodejing Vers 42; vgl. Schwarz 1980, 92, Legge o. J., 133. Die Stelle lautet: »[…] Das hervortreibende qi bringt beide (yin und yang) in Harmonie.« 156 In der Übersetzung von Mayer 1992, Bd. 1, 162–163 steht für wú 無 »Nichts«. Die von mir gewählte Übersetzung macht m. E. deutlicher, daß der Vorbildliche/ Weise von Anfechtungen und Verstrickungen frei ist, eben weil im undifferenzierten Zustand alle Unterschiede entfallen. 157 Sanguozhi, Weizhi. Übs. in Anlehnung an Mayer 1992, Bd. 1, 162–163. 158 Vgl. Chan 1970, 453–454. 159 Mit einem Vorwort aus dem Jahre 1254. 160 Auch der Buddhismus, den die Neokonfuzianer zu integrieren suchten, verwendet die Wasser-Metaphorik ausgiebig; vgl. Yamaguchi 1997, 180–181. 161 Guanyinzi, Kap. 5 »Jianlun«, 19. Vgl. die Analogie der Wasser-Wellen-Metapher zu den anderen im Kontext des ti-yong-Konzeptes gebrauchten Metaphern: Kerze-Flamme, Messer-Schärfe; s. I.2.c (1). 162 Zit. n. Chan 1970, 631.
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neokonfuzianischen Ordnungsprinzipien moralischer Natur. Wie Mengzis Herz, war die menschliche Natur an sich gut, konnte aber falsch »verwendet« werden, so daß die Bewegungen der Emotionen – erst recht Wogen und Wellen des Begehrens 165 – das im Grunde stille und reine Wasser in Unruhe versetzten und trübten. Die menschliche Natur war damit letztlich zweigeteilt: in die an sich guten, moralischen, d. h. li-gemäßen Gefühle, und in die schädlichen, verunreinigenden Emotionen. (S. III.1.b) Der Versuch des Neokonfuzianers Zhu Xi, den längst vorgezeichneten Antagonismus begrifflich und theoretisch zu fassen, 166 markierte den letzten entscheidenden Einschnitt in der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner angeborenen emotionalen Natur. Anders als in Europa lagen in China allerdings nicht Gefühl und Vernunft im Sinne der ratio 167 miteinander im Streit. Vielmehr war die Moral, die als gefühlsmäßig verankert gedacht wurde, von schädlichen Emotionen bedroht. Mit anderen Worten, im chinesischen Denken standen zwei unterschiedlich bewertete Aspekte der Gefühlsnatur des Menschen schließlich gegeneinander. Auch hier zeigt sich noch einmal die im Leiblichen begründete Ganzheit des Menschen.
163
S. I.4 sowie II.3. Zhu Xi schätzte Mengzi so hoch, daß er dem Buch den Status eines Klassikers verlieh und es mit den Gesprächen des Konfuzius sowie zwei Kapiteln aus dem Liji zu den sogenannten Vier Büchern (sì-shū 四書) zusammenfaßte. 165 Hinzu kommt, daß das Begehren i. a. auf die Emotionen folgt; vgl. Chan 1970, 631. 166 S. w. u. in: III.1.b. 167 Ratio – neben der begrifflich-diskursiven Betätigung des menschlichen Intellekts um der »Wahrheit« willen – nicht zuletzt auch verstanden im Sinne eines rein zweckmäßigen, funktionstüchtigen Verhaltens. 164
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3. Gefühl und Begehren im Prozeß der Zivilisation 168 Das Bedeutungsfeld des chinesischen Begriffes für Gefühl und Emotion qíng 情 ist bereits zur Sprache gekommen: Es reicht von den mit Gefühlswallungen einhergehenden leiblichen Regungen über die störenden Emotionen bis hin zu Stimmungen im Sinne der atmosphärischen Situation, zumal qing auch für die zwischenmenschliche Situation infrage kommt 169. Für Begehren steht im Chinesischen das Wort yù 欲, das im Buch der Lieder, einem der ältesten schriftlichen Dokumente, im Sinne von Wunsch und Lust nachgewiesen ist. Die einschlägigen Lexika definieren das Wort analog: Seine Bedeutung reicht demnach vom Drang nach Essen, Trinken, Schlafen und der Wollust bis hin zu Wunsch, Begehren und Gier im weiteren Sinne des Wortes. 170 Nach Xunzi sind Emotionen (qing) eine Folge des Begehrens (yu). Manchmal schließt das Begehren neben den genannten Bestrebungen die Sieben Emotionen mit ein, ja sogar das Bedürfnis zu sprechen gilt als störende Gefühlsaufwallung! 171 Das Bemühen um kontrollierten Umgang mit körperlich-leiblichen Bedürfnissen, starken Gefühlen bzw. Emotionen läßt sich mit dem in Verbindung bringen, was sich in gesellschaftlicher Praxis als Zivilisierungsprozeß durchsetzt: Im Verlauf sich verdichtender gesellschaftlicher Komplexität und Arbeitsteilung rückt eine wachsende Anzahl von Menschen auf immer engerem Raum zusammen. 168
Zur Bedeutung dieses Konzeptes im vorliegenden Buch s. Einleitung Anm. 19. So ist z. B. rén-qíng 人情 (zwischenmenschliche Situation/Umstände) in den Fallgeschichten der Songzeit neben fǎ 法 (Gesetz) und lǐ 理 (moralisches Ordnungsprinzip) das entscheidende Kriterium in der Rechtsprechung. Vgl. G. Linck, Zur Sozialgeschichte der chinesischen Familie im 13. Jahrhundert. Untersuchungen am ›Ming-gong shu-pan qing-ming ji‹«. Wiesbaden (Steiner) 1986, 47 ff. 170 Karlgren 1966, 1202d, 443; CY 0894.3: Wie das frühgriechische Wort eros bezieht sich das chinesische Wort yu auf jene »unbestimmte unheimlich erregende, aber schwer faßbare Drangmacht […] mit einer stark ausgeprägten Tendenz zur Realisierung im Geschlechtsleben, dem aber viele andere Felder der Wirksamkeit (Hunger, Durst, Habsucht […] zur Seite stehen.« Schmitz 1993, 18–19. 171 Vgl. Sakade 1985, 63–64. 169
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Vor allem verlangten Bürokratisierung und Urbanisierung einen zunehmenden Selbstzwang im zwischenmenschlichen Verkehr und bewirkten damit ein Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwellen. Auch für China ist dieser Prozeß – zumindest für die Elite – ohne Weiteres nachzuvollziehen, denn die großen Zivilisationsschübe der Han- (206 v. – 220 n. Chr.), Tang- (618–906) und vor allem Songzeit (960–1279) gingen mit verstärkter Selbstdisziplin einher. So sind Zusammenhänge zwischen dem Wandel von Persönlichkeitsstrukturen, auch im Sinne habituellen Verhaltens, auf der einen und Staatsbildung und »Pazifizierung« auf der anderen Seite nicht von der Hand zu weisen. 172 Für systematische Zivilisierung des Menschen im Sinne eines harmonischen Zusammenlebens steht vor allem die Tradition, die sich auf Konfuzius berief, legte sie doch großen Wert auf geregeltes Verhalten, gesittetes Benehmen und würdevolles Auftreten. In diesem dritten Kapitel des Zweiten Teils geht es um einige ausgewählte Aspekte zivilisatorischer Bemühungen, vor allem um solche, die, wenn überhaupt, bisher nur punktuell ins Blickfeld der mit China befaßten Wissenschaft gerieten. Kommen im ersten Abschnitt Einstellungen zur a) Körperhygiene zur Sprache, so geht es im Anschluß daran um Veränderungen im b) Ess-, Trink- und Sexualverhalten. Im letzten Abschnitt steht die die spezifisch chinesische Gratwanderung zwischen c) Selbstgestaltung und Maßregelung zur Debatte. a) Körper- und Leibeshygiene Hygiene im engeren Sinne hatte ursprünglich mit Ritus und Zeremoniell zu tun. Das schließt nicht aus, daß von Anfang an auch Gefühle von Wohlbefinden und Behaglichkeit damit verknüpft waren. Manche Bade- bzw. Waschsituationen, die in den Quellen geschildert sind, bewahrten sich ihren zeremoniellen Charakter über die Jahrhunderte: so die Waschung des neugeborenen Kindes, das 172
Ohne einer einfachen Homologie zwischen Text und Gesellschaft das Wort zu reden. Vgl. Linck 1990.
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Bad vor der Hochzeit oder vor der Audienz bei Hofe oder auch die Reinigung der Toten. Andere Bade- und Waschvorgänge hatten sich bereits in der Epoche um Chr. verselbständigt, obwohl der religiöse Hintergrund erkennbar blieb: Wenn die jüngere Generation z. B. den Eltern bei der Hygiene zur Hand ging, so war das als Ausdruck kindlicher Pietät letztlich im Rahmen des Ahnenkultes rituell begründet. Das zeigt sich deutlich im Kapitel »Regeln für den inneren Bereich« im Liji, dem Ritenbuch der Hanzeit (206 v. – 220 n. Chr.). Es lohnt sich, daraus etwas ausführlicher zu zitieren, denn es hat im Verlauf der Jahrhunderte der gesamten chinesischen Gesellschaft seinen Stempel aufgedrückt, wenn es auch ursprünglich nur an die Adresse des altchinesischen Adels gerichtet war: »Ein Sohn soll seinen Eltern also dienen: Beim ersten Hahnenschrei steht er auf, wäscht sich, spült den Mund, kämmt sich […]. Eine Schwiegertochter soll ihren Schwiegereltern dienen wie ihren eigenen Eltern. Beim ersten Hahnenschrei steht sie auf, wäscht sich, spült den Mund aus, kämmt sich […]. Dann bindet sie die Schnüre ihrer Schuhe und begibt sich in das Zimmer der Schwiegereltern. Wenn die beiden, [Sohn und Schwiegertochter], dort angekommen sind, fragen sie mit verhaltenem Atem und freundlicher Stimme, ob ihre Kleider warm genug seien, ob ihnen nichts fehle, ob sie nirgends Schmerzen oder Jukken haben, und sie reiben oder kratzen sie in aller Ehrfurcht. Beim Waschen halten die jüngeren Töchter den Eltern die Schüssel, die älteren das Wasser. Sind die Eltern gewaschen, so reichen sie ihnen ein Abtrockentuch; sie fragen nach, was [die Eltern] wünschen und bringen es ehrfurchtsvoll herbei […]. Sollten die Eltern spucken oder sich schneuzen, so entfernen sie sofort die Spuren […]. Alle fünf Tage bereiten sie heißes Wasser und bitten die Eltern zu baden; alle drei Tage bereiten sie eine Kopfwäsche vor. Sollte in der Zwischenzeit das Gesicht schmutzig sein, bitten sie die Eltern, sich mit Reiswasser zu waschen. Sollten die Füße schmutzig sein, bereiten sie heißes Wasser und bitten die Eltern, [auch] diese zu waschen. So dient die Jugend dem Alter […].« 173
Die anderen Mitglieder des ganzen Hauses, einschließlich der Dienerschaft, wurden nicht minder zur Reinlichkeit angehalten. Aber auch außerhalb der Familie, z. B. im Amt, wurde Körper- und Lei173
Liji, »Neize« 0517–0520; zit. in Anlehnung an Wilhelm, R. 1981, 318–319.
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beshygiene offensichtlich geschätzt, denn zur Hanzeit (206 v. – 220 n. Chr.) galt die Regel, daß sich jeder Beamte alle fünf Tage Haare und Körper zu waschen hatte. An den übrigen Tagen mochte er sich mit »Katzenwäsche« begnügen, dem Waschen der Hände, dem Kämmen der Haare und einer Mundspülung. 174 Sogar über das Verhalten der Oberschicht in der Toilette läßt sich aus der Frühen Kaiserzeit etwas in Erfahrung bringen: Shi Chong 石崇, ein Günstling des Jin-Kaisers Wu 武 (265–290), hatte in seiner Toilette stets ein Dutzend Dienerinnen bereitstehen, die in prachtvollen Kleidern den Gästen seiner Familie Duftöle und Salben reichten. Außerdem drängten sie jeden, nach der Verrichtung die Kleider zu wechseln! Noch in spätkaiserzeitlichen Romanen, z. B. im Traum der Roten Kammer (Hongloumeng 紅樓夢) wird der Gang auf die Toilette als gēng-yī 更衣 (Kleiderwechseln) bezeichnet. 175 Den meisten der einund ausgehenden Besucher scheint dieses Ansinnen damals zumindest höchst ungewöhnlich vorgekommen zu sein: So geblendet war z. B. ein Gast im Hause des Shi Chong von den roten Vorhängen, dem riesigen Bett mit den wundervoll bestickten Kissen und von den Dienerinnen, die in Brokat gekleidet gingen und ihre Duftsäckchen betätigten, daß er noch vor seiner Verrichtung schleunigst kehrt machte, sich tief beschämt beim Gastgeber entschuldigte, glaubte er doch, aus Versehen dessen Schlafzimmer betreten zu haben; Shi Chong aber beruhigte ihn mit den Worten: »Das war doch nur die Toilette!« 176 So hatten offenbar schon in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten zumindest die oberen Ränge der chinesischen Gesellschaft ein Gespür für das entwickelt, was wir Intimsphäre nennen. In der nachfolgenden Epoche der Mittleren Kaiserzeit hatte das Bewußtsein für Hygiene, Gesundheit und Sauberkeit auch breitere Schichten der Gesellschaft erreicht. Namentlich in der Zeit der Südlichen Songzeit (1126–1279) florierte eine öffentliche Badekultur. 174
Maspéro 1921–32, 190. Diesen Hinweis verdanke ich Wang, Jing. 176 Shishuo xinyü, 30.2, 468; vgl. Mather 1976, 459; vgl. ebd. die Geschichte über Wang Dun 王敦 (266–324), der sich so ungewöhnlich souverän auf Shi Chongs Toilette verhielt, dass die Dienerinnen meinten, er habe das Zeug zu einem Rebellen. 175
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Inwieweit der Song-Staat bemüht war, von Oben für hygienische Verhältnisse zu sorgen, ist meines Wissens bisher noch nicht untersucht worden. 177 Das verstärkte Bedürfnis nach Sauberkeit kann sich jedoch auch spontan durchgesetzt haben als Folge der sprunghaften Urbanisierung, d. h. des Zusammenrückens großer Menschenmassen und dem damit vermutlich einhergehenden Vorrücken der Schwellen von Peinlichkeit und Scham. 178 Allein die südchinesische Hauptstadt Hangzhou soll noch zur Zeit der Mongolen (1279–1368), als der Venezianer Marco Polo sich in China aufgehalten haben will, über dreitausend Bäder verfügt haben. Auch ein buddhistischer Mönch aus Japan, der im Jahre 1072 in Hangzhou weilte, wußte davon zu berichten. Womöglich hatte er ausgiebig davon Gebrauch gemacht, denn er kannte die Bedingungen und Eintrittspreise: Zehn Kupfermünzen pro Bad – Massage eingeschlossen! Da wohlhabende Häuser über ein eigenes Bad verfügten, dürften die Kunden dieser Etablissements gewöhnliche, wenn auch begüterte Einwohner gewesen sein. 179 Wie hygiene-bewußt sich die Chinesen in der Mittleren Kaiserzeit verhielten, beweist übrigens auch der Gebrauch von Spucknäpfen und Zahntüchern, der im urbanisierten China offenbar allgemein verbreitet. 180 Auch darin war China der damaligen Welt weit voraus. 181 Selbstverständlich stellte die Hauptstadt eine Ausnahme dar, denn deren Bewohner, die »Leute von Song 宋«, waren stolz auf ihr zivilisiertes Verhalten; jedenfalls mokierten sie sich über die mangelnde Sauberkeit anderer. So waren die Leute von Wu 吳, in der Gegend der heutigen Provinz Sichuan, die damals noch Ausland oder Grenzland war, dafür berüchtigt, besonders schmutzig zu sein. Von ihnen hieß es verächtlich, sie wuschen sich nur dreimal im 177
Es paßt durchaus ins Bild, wenn wir an andere Maßnahmen der Song-Bürokratie denken; vgl. Linck »Bürokratisierung und Soziale Fürsorge«, in: Saeculum 36 (1985), 334–350. 178 Vgl. Elias 1978. 179 Gernet 1976, 123–127. 180 Ebd. 181 Vgl. G. Linck, »Bürokratisierung und Soziale Fürsorge im ausgehenden chinesischen Mittelalter«, in: Saeculum XXXVI, 4 (1985), 334–350. Der Titel dieses Aufsatzes läßt zu wünschen übrig, denn die geschilderten Umstände beweisen, daß die Song-Dynastie (960–1279) die chinesische Neuzeit einläutete.
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Leben: bei Geburt, Hochzeit und Tod, d. h. immer nur, wenn es rituell vorgeschrieben war. 182 Wang Anshi 王安石 (1021–1086), der berühmte Reformer der Songzeit, soll in dieser Hinsicht besonders nachlässig gewesen sein: Es heißt, daß er sich ungewaschen und ungekämmt in Gesellschaft begab, so daß seine Freunde ihn zwingen mußten, sich wenigstens einmal im Monat einem Bad zu unterziehen. Ein Zeitgenosse des Wang Anshi, der Kalligraph und Maler Mi Fu 米芾 (1051–1107), wiederum litt unter Sauberkeitszwang und soll sich ständig die Hände gewaschen haben. 183 Diese und andere Geschichten dokumentieren eine fortgeschrittene Körper- und Leibespflege im vormodernen China. Gleichzeitig legen sie Zeugnis davon ab, wie ungleichmäßig Peinlichkeits- und Schamgrenzen verlaufen konnten. So scheint das Absuchen von Läusen während der gesamten Kaiserzeit in aller Öffentlichkeit vor sich gegangen zu sein: Aus der Songzeit (960–1278) schildert uns ein zeitgenössischer Beobachter, wie die Chefin eines Teehauses »mit goldgelackter Tür«, was an Vornehmheit einer Fünf-Sterne-Auszeichnung entsprochen haben dürfte, höchstpersönlich ihre Kleider auf einem Tisch ausbreitete und jede Laus, derer sie habhaft werden konnte, in den Mund steckte und auf diese Weise vernichtete – und zwar so geschickt und geschwind, daß die Hand-Mund-Bewegung ununterbrochen vor sich zu gehen schien. 184 In der Späten Kaiserzeit hatte sich weder an der Läuseplage noch am ungenierten öffentlichen Umgang etwas geändert: So berichtete ein westlicher Reisender von seinem Aufenthalt am Mandschu-Hof Ende des letzten Jahrhunderts: »[…] die höchsten Staatsbeamten zögerten keinen Augenblick, ihre Diener herbeizurufen, um in aller Öffentlichkeit in ihren Nacken nach jenen Quälgeistern zu suchen, die sie, wenn man ihrer habhaft geworden war, sehr gelassen zwischen ihre Zähne schoben.« 185
Heute noch gehen Chinesen und Chinesinnen in aller Öffentlichkeit für unsere Begriffe recht freizügig mit bestimmten leiblichen Bedürfnissen um, die bei uns eindeutig zur Intimsphäre gehören – 182 183 184 185
Ebd. 123 Ebd. 125–126. Ebd. 123. Zit. n. Warner 1974, 12.
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mit einer einzigen Ausnahme: Alles, was mit Sexualität zu tun hat, ist tabu! Allerdings machen sich auch in diesem Bereich im Zuge der Öffnung Auflockerungen bemerkbar, nicht zuletzt unter westlichen Einfluß oder dem, was dafür gehalten wird. b) Essen und Trinken, Mann und Frau 186 Daß die bis heute in China ausgeprägte Vorliebe für Essen und Trinken eine lange Tradition hat, zeigen die alten Lieder aus den vorchristlichen Jahrhunderten, die uns auf Anhieb davon überzeugen, wie üppig und genüßlich sich der frühchinesische Adel an Essen und Trinken labte. 187 (1) Zunächst zum Essen (shí 食): Eine gängige Redewendung lautet: mín yǐ-shí wéi-tiān 民以食為天, d. h. »dem Volk bedeutet Essen der Himmel«. 188 Daß auch Konfuzius großen Wert auf rechtes Essen legte, behaupten zumindest seine Schüler: »Beim Essen verschmähte er nicht das Feinste, beim Hackfleisch verschmähte er nicht das Erlesene. Was verdorben war und schlecht, Fisch, der alt war, und Fleisch, das madig war, aß er nicht. Was eine schlechte Farbe hatte, aß er nicht. Was einen schlechten Geruch hatte, aß er nicht. Wenn es nicht an der Zeit war, aß er nicht; was nicht rechtmäßig geschlachtet war, aß er nicht; was nicht mit der richtigen Sauce angerichtet war, aß er nicht. Auch wenn genügend Fleisch vorhanden war, ließ er es nicht zu, daß es den Geschmack der anderen Speise überdeckte. Allein beim Wein erlegte er sich kein Maß auf, doch ließ er sich davon nicht verwirren. Gekauften Wein und Trockenfleisch vom Markt nahm er nicht zu sich […].« 189
Hier mischten sich Sorge um Gesundheit und rituelle Angemessenheit mit einer Freude am Kulinarischen, wobei dem Meister nicht an Übermaß und Luxus gelegen war, denn auch ein bescheidenes 186
S. w. u. (4). Vgl. etwa Debon 1988, 118 ff. oder auch das Gedicht in: Böttger 1977, 132 sowie Ling, Li 1990. 188 Ling, Li 1990, 80. 189 Lunyu 10.8; vgl. Wilhelm, R. 1985, 108. 187
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Mahl wußte er zu genießen: »Der Meister sprach: Auch im Essen grober Gemüsespeise, im Trinken von Wasser, im Schlafen mit dem Arm als Kissen – auch darin liegt Freude (lè 樂)!« 190 In der Frühen Kaiserzeit entwickelte sich aus solchen altchinesischen Vorstellungen vom rechten Essen unter dem Einfluß des Entsprechungs- bzw. Resonanzdenkens eine regelrechte Diätetik. Nunmehr diente die Nahrung vor allem dazu, die kosmischen Einflüsse von yin und yang im Leib harmonisch zur Geltung zu bringen, um Wohlbehagen zu fördern und Krankheit zu vermeiden. Grundsätzlich waren Getränke dem yang und Eßwaren dem yin zugeordnet. Doch wurde innerhalb der Eßwaren noch einmal unterschieden: Zum yang gehörten die mit Feuer gekochten Fleischgerichte, zum yin Getreide und Reis. Neben yin und yang waren selbstverständlich auch die Fünf Wandlungsphasen (wu-xing) bei der Nahrungszubereitung zu berücksichtigen, insbesondere ob sie miteinander harmonierten wie Erde mit Metall oder ob sie gegeneinander wirkten wie Feuer und Metall. Den Fünf Wandlungsphasen waren die Fünf Geschmäcker (wǔ-wèi 五味) zugeordnet: sauer (Holz), bitter (Feuer), süß (Erde), scharf (Metall) und salzig (Wasser). 191 Philosophen und Pädagogen galt Mäßigung als die Grundregel beim Essen, denn Übersättigung machte krank, und Verschwendung konnte ganze Dynastien zu Fall bringen. Auch klangen gelegentlich sozialkritische Töne an: War die Aufforderung zur Mäßigung zu allen Zeiten an die Oberschicht mit ihren Luxusbedürfnissen gerichtet, so schildern die Quellen gleichzeitig den Erfindungsreichtum der ärmeren Bevölkerungsschichten, wenn es darum ging, aus Nichts ein Essen zu bereiten: von Graswurzeln über Baumrinde bis hin zu Hühnerkrallen. Spuren dieses Speiseplans, der »aus der Not eine Tugend macht«, finden sich heute noch im Süden Chinas, vor allem in der Kanton-Küche sowie auf Taiwan. Doch auch Angehörige der chinesischen Elite kamen immer wieder in Situationen, wo sie sich zwangsläufig zu bescheiden hatten. 190
Lunyu 7.15; vgl. Wilhelm, R. 1985, 85. Vgl. Chang, K. C. 1977; Zu den Geschmacksarten als aus der Nahrung aufsteigende Gefühlsatmosphären s. II.1.b, zu deren Zuordnung im Resonanzdenken s. Tabelle in III.2.a.
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Dafür sorgte schon der vorprogrammierte soziale Abstieg von Familien der Oberschicht. 192 Erst recht brachte der Krieg Zwangslagen mit sich. Daß selbst dann noch – in kritischer Lage – die reine Bedürfnisbefriedigung nicht unbedingt im Vordergrund stand, geht z. B. aus den »Gedichten aus dem Stabszelt« des Zhao Wannian 趙 萬年(ca. 1169 – ca. 1210) hervor. Als Berufsoffizier zur Zeit der Südlichen Song-Dynastie (1127–1278) war er Kummer und Hunger gewohnt. Das folgende Gedicht verfaßte er, nachdem er in der von Feinden belagerten Stadt überraschend zum Essen geladen worden war. Eindrucksvoll schildert er die hoffnungsvoll beflügelnde Stimmung und das Atmosphärische des gemeinsamen Mahles: »Vor den Dachrändern folgen Pfirsichblüten, Blatt für Blatt. Uns wurde der Mund wässerig über dem fetten Mandarin-Fisch aus dem Han-Fluß. Nachdem Tung 桐-Baum-Rinde unsere hungrigen Mägen gesättigt hatte, war es, als ob wir Elitetruppen bekommen hätten, die uns von der Umzingelung durch die Barbaren befreien könnten.« 193
Während die Sexualität seit der Mittleren Kaiserzeit einer zunehmenden Tabuisierung unterworfen wurde, 194 verlor das Essen offensichtlich nichts von seiner zentralen Bedeutung für die chinesische Kultur. Heute noch kommt kein gesellschaftliches Ereignis, kein privates Zusammentreffen, kein offizielles Gespräch, kein Vertragswerk zustande ohne das ausgiebig genossene gemeinsame Mahl. Wenn wir im Westen direkt »zur Sache kommen«, ist man in China zunächst um das Schaffen guter Atmosphären bemüht, nicht zuletzt um die emotionale Gestimmtheit der Beteiligten zu erkennen – ein schwacher Abglanz eines alten Ritus, bei dem die Vertreter der einzelnen Lehensstaaten zusammentrafen, Lieder vortrugen, um wechselseitig den jeweiligen »Herzenssinn zu ersehen«. 195 So betrachtet, ist es unzutreffend, wollten wir die Bedeutung des Essens in China im Freudschen Sinne ausschließlich auf eine »orale 192
Vgl. das für die Sozialgeschichte Chinas entscheidende Phänomen der downward mobility (H. Franke). 193 Übs. Franke 1986, 86. 194 S. w. u. (4) Mann und Frau. 195 Röllicke 1992, 65–66.
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Fixierung« zurückführen. 196 Wenn es auch einleuchten mag, die Lust am Essen als Ersatzbefriedigung für verdrängte Sexualität zu interpretieren, so ist das doch nur eine Seite neben der Lust an leiblichem Wohlbefinden und atmosphärischem Spüren. Wie wichtig in China die Behaglichkeit durch Sättigung ist, zeigt sich jedenfalls noch in gängigen Redewendungen der heutigen chinesischen Sprache. Sie greifen ausgiebig auf die Metaphorik des Essens zurück, wo wir ganz andere Sprachbilder verwenden: Ein häufiger Gruß lautet: »Hast du schon gegessen?« (chīguò fàn le ma 吃过 饭了吗) »Einen Job haben« bedeutet wörtlich: auf Körner beißen (jiáo-gǔ 嚼谷) »Seinen Job verlieren«: zerbrochener Reisnapf (dǎpòle fànwǎn 打破了饭 碗) »Eifersüchtig sein«: Essig essen (chī cù 吃醋) »Geschlechtsverkehr haben«: Tofu essen (chī dòufu 吃豆腐) »Rauchen«: Rauch essen (chī yān 吃烟) »Sich erschrecken«: Schrecken essen (chī jīng 吃惊) »Im Elend leben«: Bitterkeit essen (chī kǔ 吃苦) »Stottern« heißt wörtlich: die Zunge essen (chī shé 吃舌) »Eine Strafe absitzen«: bei der Behörde essen (chī guānsī 吃官司) »Schaden erleiden«: Verluste essen (chī kuī 吃虧) »Tiefgang eines Schiffes«: Wasser essen (chī shuǐ 吃水) »Beliebt sein«: Duft essen (chī xiāng 吃香) »Glück und Unglück teilen«: geteilte Süße, gemeinsame Bitterkeit (fēn’gān gòngkǔ 分甘共苦) »Sich selber etwas in die Tasche lügen«: Pfannkuchen malen, um den Hunger zu stillen (huàbǐng chōngjī 画饼充饥) »Routine«: Zu Hause stets Reis (jiācháng biànfàn 家常便饭) »Langweilig«: Es schmeckt wie Beißen auf Wachs (wèi tóng jiáolà 味同嚼 蜡) »Nichtigkeit«, »Nebensache«: Kleines Gemüse auf dem Teller (xiǎocài yīdié 小菜一碟) 196
Vgl. Bo 1988.
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»Selber schuld sein«: sich selber das bittere Essen suchen (zìzhǎo kǔchī 自找 苦吃) 197
(2) Trinken von Wein (yǐn-jiǔ 飲酒). Wenn das Essen in China bis heute seine große Bedeutung im Alltags- und Festtagsgeschehen behauptet, so gilt das nicht mehr in demselben Maße für den Genuß von Wein. 198 Heute werden Feste, bei denen ordentlich dem Wein zugesprochen wird, gern den Nationalen Minderheiten Chinas nachgesagt. In früheren Zeiten war Wein jedenfalls fester Bestandteil der chinesischen Elite-Kultur: Bei keiner religiösen und rituellen Veranstaltung, von der Frühjahrs-Aussaat und der Herbsternte über die Hochzeit bis hin zum Bestattungszeremoniell, bei keinem geselligen Beisammensein durfte er fehlen; und viele Kunstwerke, Gedichte und Kalligraphien wären ohne die lockernde und verzaubernde Wirkung von Wein nie entstanden. Unbeschwerter Genuß dieses alkoholischen Getränks, das aus Hirse, Gerste und später Reis gebraut wurde 199, spricht aus den frühen Liedern im Shijing: »Es quillt in Üppigkeit der Tau, Wird trocken nicht, bevor der Tag beginnt. So trinkt in Fröhlichkeit die ganze Nacht! Wir geh’n nach Hause nicht, bevor wir trunken sind. Es quillt in Üppigkeit der Tau, liegt auf den fetten Gräsern fahl. So trinkt in Fröhlichkeit die ganze Nacht, versammelt in der Ahnen Saal …« 200 197
Bei dieser Zusammenstellung war mir freundlicherweise Wang, Jing behilflich. Die folgenden Ausführungen beruhen auf einem Vortrag im Freundeskreis im September 1996. Sie sind Liesel und Berti vom Bio-Weingut Schmitt gewidmet – mit Dank für die atmosphärisch aufgeladene Hoffeste in »meinem« Dorf. Vgl. auch Linck 2000 bzw. 2006, 112–130. 199 Genau genommen stellt sich der chinesische Wein (jiǔ 酒) als ein »Bier« heraus, handelte es sich doch um eine Mischung aus folgenden fünf Kornarten: Hirse (36 %), Weizen (16 %), Reis (22 %), Mais (8 %) und einem besonders klebrigen Reis (18 %); vgl. den Artikel »Liquor in Chinese Life and Culture« in: China Daily vom 1. 2. 1990; vgl. auch The Story of Top Liquors in Sichuan, 5 Bde. Chengdu (Bashu Chubanshe) 1990. Dennoch wird weiterhin vom »Wein« die Rede sein, denn »Bier« und »Biergedichte« transportieren andere Inhalte und Assoziationen. 198
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Die Weingedichte späterer Epochen lassen dieses Schwelgen in naiver und heiterer Gegenwart mehr und mehr vermissen. So sind zahlreiche Exemplare dieser lyrischen Gattung aus der Frühen Kaiserzeit nur vordergründig rein genüßlich und dem vollen Leben zugewandt – von den Gedichten eines Ruan Ji 阮藉 (210–263) oder Tao Yuanming 陶淵明 (365–427) bis zu den großen Dichtern der Tangzeit (618–906). Dahinter verbergen sich eher Gefühle der Resignation und Weltflucht: aus Selbstschutz vor den politischen Wechselfällen der Zeit, aus Verachtung von Konvention und Sitte, aus Verlangen nach Vergessen in Ekstase und Rausch – erschien doch das menschliche Dasein so hoffnungslos beiläufig und von so kurzer Dauer. Hier ein Gedicht von Tao Yuanming mit dem Titel »Beim Wein« (Yǐn-jiǔ 飲酒): »Was mir behagt, die Freunde schätzen’s auch: Hier kommen sie, in ihrer Hand den Krug. Wir breiten Spreu zum Sitz am Fuß der Kiefer, Und größer wird der Rausch mit jedem Zug. Die greisen Männer halten wirre Reden; Die Regel ist beim Schänken schon verkehrt. Da wir nicht wissen, ob es gibt ein Ich, Kennt ohnehin kein Mensch der Dinge Wert.« 201
Gewiß war sich Tao Yuanming der Folgen seiner weinfreudigen Ausschweifungen bewußt, denn unter seinen Gedichten findet sich eines, das mit einem energischen »Schluß mit dem Wein« (zhǐ-jiǔ 止酒) überschrieben ist. Diese Aufforderung konnte ihm nicht eindringlich genug sein, denn in jeder Zeile erklingt das unvermeidliche: »Schluß damit!« 202 Auch von Liu Ling 劉伶 (nach 265), einem der Sieben Weisen vom Bambushain 203, wissen wir, daß er kräftig dabei war, sich zu Tode zu trinken. Die folgende Anekdote veranschaulicht, daß alle Bitten und Beschwörungen seiner Frau, ihn von seiner Trunksucht abzubringen, nichts fruchteten: 200
Lied Nr. 174; Übs. Debon 1988, 118; vgl. Legge 1991, vol. IV, 276. Übs. Debon 1988, 119: das vierzehnte seiner insgesamt zwanzig Weingedichte; vgl. Fang 1980, 86–95. 202 Fang 1980, 68–69. 201
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»Liu Ling war so krank vom Wein, daß er bei seiner Frau um neuen Wein anhielt; doch hatte sie den [restlichen] Wein weggeschüttet und die Trinkgefäße zerschmettert. Unter Tränen flehte sie ihn an: ›Ihr trinkt zu viel! Das ist nicht der rechte Weg, Euer Leben zu bewahren! Hört auf damit!‹ Ling erwiderte: ›Gut! Doch ich kann es mir selber nicht verwehren! Nur wenn ich vor Göttern und Geistern schwöre, kann ich aufhören. Du solltest also Opferwein und Opferfleisch besorgen!‹ ›Wenn dem so ist, gehorche ich ehrfürchtig‹, erwiderte die Frau, stellte [bald darauf] Wein und Fleisch auf den Altar und forderte Ling auf, zu beten und zu schwören. Ling kniete nieder und sprach das folgende Gebet: ›[Einst] brachte der Himmel Liu Ling hervor und taufte ihn auf den Namen »Wein«. Mit einem einzigen Schluck verleibt er sich einen Humpen ein, nach fünf Scheffeln [erst] verflüchtigt sich der Kater (chéng 酲). Ich fürchte, ich kann auf die Worte der Frau nicht hören!‹ Daraufhin schüttete er den Wein hinunter, schob sich das Fleisch hinein und fiel um, weil er erneut volltrunken war.« 204
Gerade das Wissen um Vergänglichkeit menschlichen Daseins legte es manchem Dichter nahe, des Lebens Würze in vollen Zügen zu genießen, und dazu gehörte der Genuß von Wein. Ein Meister in der Gestaltung einer heiteren carpe diem-Stimmung war ohne Zweifel der schon zu seinen Lebzeiten berühmte Dichter Li Taibo 李太 百 (701–762). Von ihm heißt es sogar, er sei über Bord gefallen und ertrunken, weil er vom Boot aus in weinseligem Zustand das Spiegelbild des Mondes im Wasser 205 zu fassen versuchte. Der Titel des folgenden Gedichtes lautet: »Vor uns ein Becher Wein« (Qian you cun-jiu 前有樽酒): »Da sind die Blüten, von Wirbelgewalt entführt, zu Boden gegangen, mein schönes Mädchen ist trunken bald mit ihren geröteten Wangen. Am blauen Gaden der Pfirsichbaum, weißt du, wie lange der blüht? Ein zitterndes Leuchten ist es, ein Traum, er täuscht uns nur und entflieht. Komm auf zum Tanz! Die Sonne verglüht! 203
Bauer 1974, 207 ff. Shishuo xinyu, 23.3, 391; vgl. Mather 1976, 372. 205 Das Spiegelbild des Mondes im Wasser, das der Mensch vergeblich zu fassen versucht, ist seit der Yuanzeit (1279–1368) eine Metapher in der buddhistischen Kunst für das Hängen des Menschen an der Scheinwirklichkeit seines Daseins. 204
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Wer nie voll drängenden Lebens war und toll war in jungen Tagen, der wird, vergebens, wenn erst das Haar weiß ist, seufzen und klagen.« 206
Die Dichtung der nachfolgenden Epoche der Mittleren Kaiserzeit ist bereits geprägt von einer gewissen Leib- und Lusthemmung: Sie enthält vergleichsweise weniger Verse über den Wein. 207 Außerdem wirken die Wein-Gedichte der Songzeit (960–1278) irgendwie abgeklärt und distanziert. So ist bei Su Dongpo 蘇東坡 (1037–1101) auch eher vom Vollrausch eines anderen als vom eigenen die Rede: »Unterwegs treffe ich auf einen betrunkenen Alten, der ausgestreckt liegt in der Abendsonne […]. Der Mann des dao 208 [Zaubersprüche feilbietend] sammelt sein Geld ein und schleicht davon, um Wein einzukaufen. Betrunken fällt er zu Boden und sagt zu sich selbst: ›Meine Zaubersprüche wirken Wunder!‹« 209 Lu You 陸游 (1125–1210) wiederum, einer der großen Dichter der Songzeit, soll wegen häufiger Trunkenheit und daraus resultierender Vernachlässigung seiner Pflichten zweimal des Amtes verwiesen worden sein. In einer beliebigen Auswahl 210 von 68 Gedichten kommt Lu You immerhin fünfzehnmal auf Wein zu sprechen. Aber selbst er feiert in seinen Gedichten nicht – wie vor ihm Liu Ling (nach 265) oder Tao Yuanming (365–427) – in erster Linie den ekstatischen Rausch. Seine Wein-Gedichte, die vielfach besinnliche Reflexionen enthalten, wirken ebenso distanziert wie die des oben zitierten Su Dongpo: So teilt uns der Dichter z. B. mit, ob der vor 206
Übs. Debon 1976, 21; es handelt sich um das erste von zwei Gedichten unter diesem Titel; vgl. Sun Yu, Li Po. A New Translation. Hongkong (The Commercial Pr.) 1982, 240–243. 207 Vgl. Cheng/Collet 1988. 208 Die Bezeichnung »Ein Mann des dao« (dào-rén 道人) stand für Gestalten, die auf öffentlichen Plätzen alles Mögliche feilboten, von Kräutern bis zu Zaubersprüchen, wie in diesem Fall. 209 Das Gedicht, dem die erste Zeile entnommen ist, lautet nach der Melodie, auf die es geschrieben ist: »Huanxisha 浣溪沙« (Den Sand des Baches waschen); das zweite Zitat stammt aus dem Gedicht mit dem Titel »He Ziyou taqing 和子由踏青« (Antwort auf Ziyou’s [Gedicht] ›Das grüne [Gras] betreten‹), Su Shi, zit. n. Cheng/Collet 1988, 60 u. 118; vgl. Xu Yuan-zhong (Transl.), Su Dong-po. A New Translation, Hongkong (The Commercial Pr.) 1982, 104–105. 210 Vgl. Watson 1973.
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ihm stehende Wein »wässrig« oder »schwer« ist bzw. einer von der Sorte, »die einen in Trance versetzt«. Gleichzeitig verfällt Lu You beim Genuß von Wein ins »Sentimentalische«, ist er ihm doch Anlaß zu weitläufigen philosophischen Betrachtungen: über längst vergangene Zeiten, den Weltenlauf, die politischen Zustände, die verflossene Jugendzeit, die versäumten Schlachten gegen die »Barbaren« in der Steppe; Anlaß zu distanzierter Beobachtung auch, etwa wenn der Sohn den Wein verschüttet und es ihn nur tröstet zu wissen, daß ja noch Wein vorhanden ist, falls Zuspruch nötig sein sollte; Anlaß auch zu Selbstironie, wenn er als alter Mann in »sein langes Gewand mit purpurnem Kragen« schlüpft, bevor er sich zum »Alt-Männer-Gelage« begibt; nicht zuletzt überkommt ihn kein Rausch, sondern ein Hauch von Glück – nicht einmal beim Weingenuß selbst, sondern bei dem Geräusch des Wein-Auspressens, das erst vom zukünftigen Genuß kündet. Oder auch bei der bloßen Mitteilung, daß der Wein im kleinen Krug reif sei zum Trinken: »Ein kalter Regen nieselt eintönig und düster, ein Durcheinander von Büchern und ich mittendrin. Da erfahr’ ich: Der neue Wein im kleinen Krug ist reif! Hastig ruf’ ich den Knaben, den alten Becher auszuspülen.« 211
Jedes einzelne Gedicht kann als Ausdruck von Vorfreude für sich stehen und damit gelebte Leiblichkeit bezeugen. Wenn sich allerdings Genußaufschub und distanzierende Betrachtung häufen, so scheint mir das Botschaft genug zu sein; erst recht, wenn sie mit den großen sozialen Entwicklungen übereinstimmt. Daß zunehmende Zivilisierung als Prozeß von Gefühlshemmung auch den Menschen in China letztlich nicht die Freude am Wein vergällen konnte, zeigt ein Weinklassiker (Jiujing 酒經), der noch im 19. Jahrhundert veröffentlicht und von einer inzwischen breiten Mittelschicht rezipiert worden sein mag. 212 Diesem Zeitzeugnis zufolge scheint es nach wie vor üblich gewesen zu sein, bei jedem religiösen Zeremoniell »Himmel und Erde« bzw. Göttern und Geistern Wein zu opfern. Auch galt es als »großzügig und 211 Das Gedicht »Vermischtes aus der Schildkrötenhalle« (Guitang zati 龜堂雜題) in: Cheng/Collet 1988, 77; zu den anderen Motiven vgl. Watson 1973, 5, l0–13, 19, 32 u. 49.
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hochherzig« (hǎo-xiá 好俠), in Geselligkeit Wein anzubieten. Wenn einzelne für sich allein dem Wein zusprachen, so scheint es aus Enttäuschung über den Gang der Welt geschehen zu sein. 213 Die Markennamen, die in diesem Weinklassiker versammelt sind, lassen erahnen, was sich ein Weinkenner vom Weingenuß versprach: Einheit mit der Natur stellte z. B. ein Huālù 花露 (Blumentau) in Aussicht; Geborgenheit versprach ein Yùyǒu 玉友 (jadefarbener Freund); Weisheit verhieß ein Xiánrén 賢人 (weiser Mensch), und leibliches Wohlbefinden garantierte ein Pòmēnjiàngjūn 破悶將 軍 (Beklemmungen vertreibender General). Auch die in diesem Weinklassiker der späten Kaiserzeit enthaltenen Redensarten veranschaulichen analoge leibliche Wirkungen, nämlich wohlige Geborgenheit, Heiterkeit, das Vergessen und nicht zuletzt das Erleben von Weite und Leichtigkeit: tiān rǔ-bǔ rén 天乳哺人: Der Himmel säugt den Menschen, [wenn er Wein trinkt]; d. h. sich aufgehoben und geborgen fühlen kuān-xīn táo-xìng 寬心陶性: [Wein] weitet das Herz und macht eine Natur wie aus [weichem] Lehm; d. h. fröhlich und guter Laune sein. yǎng-zhēn pò-hèn 養真破恨: [Wein] nährt die Aufrichtigkeit und zerschlägt Kummer und Haß; zumindest der erste Teil erinnert an unser Sprichwort: Im Wein liegt Wahrheit. yú-cháng hé-shén 娛腸和神: [Wein] belebt die Eingeweide und harmonisiert Lebenskraft/Bewußtsein/Geisteskraft. hé qì-xuè shèng hán-xié 和氣血勝寒邪: [Wein] harmonisiert qi und Blut 214 und überwindet das Übel der Kälte. tōng dà-dào hé zì-rán 通大道和自然: [Vom Wein beflügelt] das große dao durchdringen – im Einklang mit der Natur; d. h. Wein bewirkt Erleben von Weite und Selbstvergessenheit. bǎi-lǜ qí xī wàn-yuán jiē kōng 百慮齊息萬緣皆空: Hundertfaches Nachdenken hört gänzlich auf, zehntausend Verstrickungen sind allesamt leer; d. h. Wein vertreibt die Sorgen. 215
Gleichzeitig versäumte es der Autor dieses spätkaiserzeitlichen Weinklassikers nicht, seine Leser vor den eventuellen gesundheit212 213 214
Ling, Li l990. Ling, Li l990, 101 ff. qi und xue (Blut) als Kompositum auch: Lebenskräfte, Lebensgeister.
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lichen, moralischen und gesellschaftlichen Folgen eines ungebührlichen Weingenusses zu warnen: yánsè è 颜色惡: Die Gesichtsfarbe verschlechtert sich. qì lǐ sàn yǎn bù míng 氣理散眼不明: qi und li 216 zerstreuen sich, die Augen sehen nicht mehr klar. fǔ cháng-gāo 腐腸膏: [Wein] bringt die Gedärme zum Verfaulen. zēng jí-bìng 增疾病: [Wein] vermehrt die Krankheiten. zhì-huì xián shǎo 智慧咸少: Das Wissen wird insgesamt geringer. huài tián-zī 壞田資: [Wein] zerstört Land und Vermögen. yì dòu-sòng 易鬥 訟: [Wein] führt zu Zank und Streit. shēn-chǎng mìng-zhōng duō-zhū è-dào 身敞命終多諸惡道: Die Persönlichkeit gerät aus den Fugen; die Lebensspanne geht zu Ende; man gerät vielfach auf schlechte Wege. 217
Beim Lob des Weines wie bei der Aufforderung zur Selbstdisziplin im Alltagsgeschehen wird in diesem Weinklassiker durchweg leiblich argumentiert: Mäßiger Weingenuß bewirkt Weitung, die als angenehm empfunden wurde, vor allem wenn Engung, hier als eine durch die Lebenssituation bedingte Beklemmung begriffen, allzu groß war. Bei ungezügeltem und notorischem Weingenuß bestand jedoch die Gefahr, daß Weitung bzw. Ausleibung überhandnahm und der Mensch Halt und Begrenzung verlor – unfähig, sich in der Mitte leiblicher Ökonomie zwischen Engung und Weitung einzupendeln. Kein Wort von einer vergrößerten Leber, die als Folge exzessiver Trunksucht »mit ihren Aufgaben wächst« 218. Auf den sichtbaren Körper bezogen scheinen allerdings auf den ersten Blick die beobachteten Veränderungen von Gesichtsfarbe und Augen. Da aber in der chinesischen Medizin Gesichtsfarbe und Sehfähigkeit nicht zuletzt mit der Lebenskraft qi verknüpft sind, haben wir es auch hier mit dem Körperleib zu tun und nicht mit dem reinen Körper der westlichen naturwissenschaftlichen Medizin. Da jener Weinklassiker im Umlauf war, hatte (3) der Genuß von 215
Ling, Li 1990, 100–113. qi steht hier für Lebenskräfte und li (Ordnungsprinzipien, Muster, Struktur) für die Moral. 217 Zit. n. Ling, Li 1990, 105–107. 216
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grünem Tee (chá 茶) als Nationalgetränk längst den Wein verdrängt. Tee, als Strauchgewächs neben Indien in Südchina heimisch, war lange Zeit nur als Heilpflanze verwendet worden. Mit der Ausbreitung des Buddhismus gewann die aus den Blättern gewonnene Flüssigkeit neue Bedeutung: Als erfrischendes und belebendes Getränk vertrieb der grüne Tee den Mönchen die Schläfrigkeit während der Meditation. Die Daoisten der Frühen Kaiserzeit hielten ihn sogar für einen wichtigen Bestandteil des Lebenselixiers. Bis heute gilt grüner Tee als der Gesundheit höchst zuträglich, »löst er doch die Blockaden« (chú-zhì xiāo-yōng 除滯消壅) 219 Schon um die Mitte des 8. Jahrhunderts soll Lu Yu 陸羽 (733–804) einen aus drei Bänden und zehn Kapiteln bestehenden Klassiker vom Tee (Chá-jīng 茶經) verfaßt haben, nachdem zahlreiche Dichter vor ihm in Versen und Liedern den »Schaum von flüssigem Nephrit« besungen hatten. 220 Daß grüner Tee, wie Drogen und Wein, einen Zustand mystischer Versenkung hervorrufen konnte, bestätigt uns ein anderer Dichter der Tangzeit (618–906): »Die erste Tasse feuchtet mir Lippen und Kehle. Die zweite zerbricht meine Einsamkeit, die dritte dringt mir ins unfruchtbare Gedärm, um dort nichts als einige fünftausend Bände wunderlicher Ideogramme zu finden. Die vierte Tasse bringt mich leicht in Schweiß – das ganze Unrecht dieses Lebens zieht durch die Poren ab. Bei der fünften Tasse ist die Reinigung vollzogen; die sechste Tasse ruft mich in die Regionen der Unsterblichkeit. Die siebente Tasse – ach, ich kann nicht weiter trinken. Ich liebe nichts als den kühlen Windhauch, der meine Ärmel hebt. Wo ist Penglai [蓬萊, die Insel der Seligen]? Laßt mich auf diesem lieblichen Winde fahren und dorthin entschweben.« 221
Einige hundert Jahre später schildert die Dichterin Li Qingzhao 李 清照 (1084–1155?) ebenfalls die höchst stimulierende Wirkung 218
Titel eines Buches von Eckart von Hirschhausen. Ling, Li 1990, 115. 220 Vgl. das Selbstporträt des Lu Yu in Bauer 1990, 244–249: Demnach war er ein »Mann von unbekannter Herkunft, der, von Mönchen aufgezogen, später auch eine Schauspielgruppe leitete. Sein berühmter Tee-Klassiker (Ch’a-ching), das erste über den Tee geschriebene Buch Ostasiens, ist das einzige seiner vielen Werke, das bis in die Gegenwart überliefert wurde«. Ebd. 245. 219
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von grünem Tee, der sie und ihren Mann beim Ratespiel in der Bibliothek ganz ausgelassen, ja trunken machte: »Jeden Abend nach dem Essen begaben wir uns in die Empfangshalle, die den Namen ›Heimkehr‹ trug. Hier bereiteten wir die Tee[stunde]. Vor einem turmhohen Stapel historischer Texte vergnügten wir uns damit zu erraten, in welchem Werk, in welchem Kapitel, auf welcher Seite und in welcher Spalte dieses oder jenes Ereignis beschrieben stand. Wer gewann, trank jedes Mal einen Schluck Tee. Nachdem wir es eine Weile so getrieben hatten, brachen wir schließlich, wenn […] wir die Teeschalen ansetzten, in ein solches Gelächter aus, daß sich der Tee über uns ergoß […].« 222
Trotz dieser Beweise ekstatischer Anwandlungen galt der Tee im Gegensatz zum einlullenden Wein vor allem als Bewußtsein schärfendes Getränk. Hinzu kamen gesundheitliche Gründe, die für Tee sprachen und gegen Wein. Eben aus solchen Erwägungen heraus hatte z. B. Lu Guimeng 陸龜蒙 (gest. 881) dem Weine abgeschworen und sich dem Tee zugewandt: »So besuchen ihn denn immer wieder Äbte und Eremiten, um mit ihm seine Liebe [zum Tee] zu teilen. Früher freilich war es der Wein gewesen, dem er freudig zugesprochen hatte, bis er schließlich krank darniederlag: Sein Blut war verdorben, seine Lebenskraft ausgelaugt gewesen, und es dauerte zwei volle Jahre, ehe er wieder das Bett verlassen konnte. [Seitdem] hat er, wenn Gäste kommen, zwar die Becher gereinigt und die Krüge mit Wein bereitgestellt, aber er selbst läßt sich nicht mehr dazu verleiten, den Becher zum Munde zu führen.« 223
Die Abkehr vom Wein und die Hinwendung zum Tee hatte verschiedene Gründe, subjektive und objektive: Neben den Gewohnheiten bzw. Bekehrungen von Einzelpersonen dürften die philosophischen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen der Mittleren Kaiserzeit ebenso entscheidend gewesen sein: Die philosophischen Trends einer zunehmenden Körper- und Leibhemmung sind schon vielfach erläutert worden; neu war die wechselseitige gedankliche Durchdringung der drei großen Strömungen: Daoismus, Buddhismus und Neokonfuzianismus. Die schon genannten gesellschafts221 222
Zit. n. Okakura 1988, 25. Jinshilu 金石錄, V: 2a, 28; vgl. Hervouet 1976, 116.
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politischen Umorientierungen wiederum sind vor allem durch zwei Stichworte gekennzeichnet: Urbanisierung und Bürokratisierung. 224 Alles lief darauf hinaus, Begehren zu hemmen und Emotionen zu dämpfen. So ist denn der Weingenuß auch in den kernigen Merksätzen des Neokonfuzianers Fang Xiaoru (1357–1402) nicht ausgespart. Hier finden wir nichts von einem ausgewogenen Für und Wider, und mit keinem Wort erwähnt er die Annehmlichkeiten, die Wein und Geselligkeit sehr wohl mit sich bringen. Kategorisch lautet sein Urteil: »Der Wein ist von Übel. Den Vorsichtigen macht er unvorsichtig, den gestandenen Mann macht er zum überschäumenden Jüngling, den Vornehmen macht er gemein, und was bestehen soll, bringt er zum Untergang. Haus- und Landesväter also mögen vor dem Wein sich immer hüten!« 225
Diese Einstellung unter neokonfuzianischem Einfluß wirkt bis in die Gegenwart nach, gilt doch sogar uns Tee als das Nationalgetränk der Chinesen. Und mehr als anderswo begegnen wir dort Zeitgenossen, die Alkohol entschieden meiden aus Furcht vor rotem Kopf, damit einhergehender Bewußtseinstrübung und dem Verlust der Selbstkontrolle. (4) Mann und Frau (nán-nǚ 男女) 226 Schon im Liji, Ritenbuch der Hanzeit, ist die Reihung formuliert, die diesem Gesamtabschnitt den Titel gab, wenn auch in etwas anderer Aufeinanderfolge: »Trinken-Essen-Mann-Frau – darin liegt das große Begehren des Menschen.« 227 An dieser Stelle wie überhaupt im altchinesischen Denken ist die wechselseitige Anziehung der Geschlechter Ausdruck der kosmischen Lebensprozesse von yin und yang. In der Tradition des Konfuzius sollten Liebe und Sexualität allerdings auf die eheliche Gemeinschaft beschränkt sein zum Zwecke der Fortpflanzung im Sinne des Ahnenkultes. Eine etwas andere Vorstellung herrschte unter den Adepten der Lebenspflege 223
Zit. n. Bauer 1990, 252. Zu den demographischen und gesellschaftspolitischen Veränderungen vgl. Hartwell 1982, insbesondere 395 ff. 225 Übs. Epping-von-Franz 1983, 14. 224
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und Daoisten, die allerdings die Elitekultur der Kaiserzeit maßgeblich beeinflußte. Diesen war seit den vorchristlichen Jahrhunderten das richtige Sexualverhalten Bestandteil jener Körperleibtechniken, die langes Leben und Unsterblichkeit versprachen. 228 Im Zuge der Ausbreitung des Buddhismus war auch die mystische Erotik Indiens nach China gelangt. Dort hatte sie sich zwischen dem 4. und 6. nachchristlichen Jahrhundert unter der Bezeichnung Tantrismus zu einer panindischen Mode entwickelt. In China wiederum vermischten sich die tantrischen Anweisungen mit der einheimischen Lebenspflege und Spiritualität. Sämtliche Dynastiengeschichten von der Han- bis zur Tangzeit nennen in ihren bibliographischen Kapiteln die Titel von Handbüchern zu Techniken der Inneren Gemächer (fáng-shù 房術 bzw. fáng-nèi 房內), deren Inhalte nicht überliefert sind. Ein auf dem Umweg über Japan erhaltenes medizinisches Werk aus dem 10. Jahrhundert Ishimpo enthält allerdings im Kapitel 28 229 eine aufschlußreiche Sammlung von Sexualregeln, die sich spätestens seit den Grabfunden von Mawangdui Anfang der 1970er Jahre als jahrhundertealte Tradition herausstellten. Hier wird vor einem enthaltsamen Lebenswandel eindeutig gewarnt: »Ist der Jadestock untätig, so muß der Mann sterben.« 230 Umgekehrt konnte ein allzu häufiger Samenerguß gleichermaßen gesundheitsschädlich sein. Die Lösung des Problems fand sich in einer Theorie des coitus reservatus, nach der der Mann meditativ seine Samenkraft über das Rückenmark ins Gehirn leitet, um dort die Lebenskraft zu sammeln. Aber auch die yin-Essenz der Partnerin – je jünger desto besser – sollte auf demselben Wege kanalisiert und konzentriert werden, um auf diese Weise die Lebenskraft doppelt zu steigern. »Sexuellen Vampirismus« taufte van Gulik, der sich wie kein anderer mit der Geschichte der Sexualität im vormodernen China befaßt 226
Die folgenden Ausführungen beruhen in abgewandelter Form auf Linck 1990, 205–210 sowie dies. 2000 bzw. 2006, 123–130. 227 yǐn-shí nán-nǚ, rén zhī dà-yù cún yân 飲食男女人之大欲存焉. Liji, 3. Kap. »Liyun«. Wilhelm, R. 1981, 64 übersetzt: »Trank und Speise und der Liebesgenuß, darin bestehen die wichtigsten Triebe der Menschen.« 228 S. I.1.a sowie I.2.a. 229 Chin. Yixinfang 醫心方 (Wichtige Rezepte aus der chinesischen Medizin). Vgl. die wenn auch umstrittene Übersetzung von Ishihara/Levy 1968 des Kapitels 28.
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hat, diese Technik. Die Bezeichnung trifft in jedem Fall auf spätkaiserzeitliche Sexualhandbücher zu, lesen diese sich doch wie Militärtraktate und haben womöglich nur aus diesem Grunde die damalige sexualfeindliche Zensur überlebt: »Während ich ohne Eile bin, ist der Feind in Zeitnot und wirft seine ganze Kraft in die Schlacht. Prallen die Truppen aufeinander, stoße ich vor und ziehe mich zurück, ganz nach meinem Willen, brauche den Proviant des Feindes auf und erschöpfe seinen Vorrat.« 231
Auch die Literatur der Mingzeit (1279–1644), allen voran die Romane Jinpingmei 金瓶梅 und Rouputuan 肉蒲團 232, deren Helden unter Versagensängsten leiden und sich gleichzeitig durch Zynismus und Sadismus auszeichnen, bekundet eine Weltverneinung und Lebensverweigerung, die im Kontext des chinesischen MahayanaBuddhismus nicht überrascht. Mochten diese Texte auch gleichzeitig als Ventile für unterdrückte Sexualität fungiert haben! Doch sind wir hier Welten von der frühkaiserzeitlichen Lebenspflege entfernt, erst recht von Vorstellungen und Regeln der vorchristlichen Zeit, die nicht zuletzt einen achtsamen und liebevollen Umgang mit dem Partner nahelegen. 233 In beiden Fällen wurde der Sexualakt, ob in hetero- oder homosexueller Praxis, als ein Ritual begriffen, bei dem neben Gesundheit und langem Leben nichts Geringeres auf dem Spiel stand als der Einklang mit kosmischen Vorgängen, den Wandlungen von yin und yang und die eigene Unsterblichkeit. Nur auf diese frühen Sexualpraktiken bezogen, hat Foucaults Kennzeichnung als ars erotica ihre Berechtigung. 234 Am Unterschied zwischen altchinesischen und frühkaiserzeitlichen Sexualtechniken auf der einen Seite und spätkaiserzeitlichen auf der anderen zeigt sich eben jener gesellschaftliche Prozeß zunehmender Körperleibfeindlichkeit, der auch in anderen Bereichen der Gesellschaft zu konstatieren war. Am ehesten blieben die unteren Schichten der spätkaiserzeitlichen Gesellschaft von Verhaltenheit 230
Ebd. S. 3. Zit n. van Gulik 1971, 279. 232 Letzerer ging ca. ein halbes Jh. nach ersterem in Druck (1693). Als Verfasser gilt Li Yu, eine schillernde Künstlerfigur des 17. Jhs., dem auch die Ausführungen über Frauenanmut zu verdanken sind (s. I.1.b). Vgl. Schmidt-Glintzer 1990, 475 ff. 231
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und Verklemmtheit vorerst verschont. So erzählen Volkslieder und Gedichte, die Feng Menglong 馮夢龍 (1574–1646) nicht zuletzt im Freudenviertel seiner Stadt sammelte, freimütig, deftig und ironisierend von »ungeduldigen jungen Mädchen, ausschweifenden Frauen, gehörnten Ehemännern, lüsternen Nonnen und Mönchen« 235, die den Idealvorstellungen von Mann und Frau diametral entgegengesetzt waren: »Ich bin wie eine aus den Tempeln und Klöstern, die jedem [Bettelmönch], der zur Speisehalle kommt, sein Teil gibt. Meine Liebhaber gleichen den Stocherkahnbrüdern Jeder hat seinen eigenen Weg, jeder rudert für sich.« 236
Fragen wir nach konkreten körperleiblichen Ausdrucksformen des Verlangens zwischen Mann und Frau, so fehlt es nicht an ebenso phantasievoller wie amüsanter Metaphorik: Wie schon bei der Beschreibung von weiblicher und männlicher Schönheit 237 überwiegen Eindrucksanalogien aus der Natur, sei es aus der Welt der Pflanzen, z. B. in den Bezeichnungen für die weibliche Körperlandschaft: Pfingstrose und schwarze Rose (Vulva), duftendes Gras und heiliges Haar (Schamhaare), Dampfnudeln (Brüste) und Datteln (Brustwarzen). Für das männliche »Ding aus yang« wiederum kamen folgende Synonyme infrage: Berg, Insel[berg], Jadestengel, Jadezweig, Jadebaum und Orchidee oder auch spezifische Anleihen aus der Tierwelt: Aal, Schlange, Schildkrötenkopf, Pferd, Spatz und kleiner Affe. Aus der menschlichen Umwelt konnten auf Seiten des Mannes folgende Metaphern dienen: Kahlkopf, Kanone, Nagel, Pinsel, Staubwedel, Waschklöppel, Feuerbohrer, Turm und Pavillon und für den Intimbereich der Frau: die Jadeterrasse oder die Saite einer Laute (Klitoris). Neben dieser Leiblich-Atmosphärisches heraufbeschwörenden Bilderwelt ist auch das Erleben leiblicher Engung 233
Vgl. die Übersetzung der Sexualtexte von Mawangdui in Pfister 2003 ebenso Linck 2006. 234 Dieser Ausprägung von Erotik, die Foucault auch für Indien, Japan, das alte Rom sowie die arabisch-islamische Welt gelten lassen will, stellte der französische Philosoph die scientia sexualis als »Machtwissen« gegenüber, das er in Europa zwischen Mittelalter und dem 19. Jh. verwirklicht sah. Ders. 1983, 70. 235 Linck 2000 bzw. 2006, 124. 236 Feng Menglong »Kokett«, Übs. Töpelmann 1973, 289.
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und Weitung, das bereits in jedem Liebesseufzer spürbar ist, bezeugt: So beeindruckt im folgenden Gedicht der Prostituierten Guan Panpan 關盼盼 238 die sechsfache Aneinanderreihung von Enge-Metaphern, mit denen sie Gefühle von Verlassenheit und Trauer zum Ausdruck bringt: »Oben im Turm die verlöschende Lampe Begleitet den Frost der Dämmerung […] Pinien und Zedern am Nordmangberg Eingeschlossen von Nebeln des Grams […] Jaspiszither und Jadeflöte Verstummten von selbst Bedeckt von Spinnennetzen Bedeckt von Staub.« 239
Sehnsuchtsgefühle – leiblich gesehen nichts anderes als gerichtete Kräfte, die aus der Enge in die Weite führen – bemächtigten sich der daheimgebliebenen Frauen, wenn sie den Turm bestiegen, um von dort die Gedanken zum Geliebten in die Ferne schweifen zu lassen: »Die Träume der Verlassenen gehen so weit wie Straßen lang sind, die zur Grenze führen […]« 240 »[…] Ich denk an dich, wie gleichen die Gefühle Dem Westfluß, seines Wassers Lauf. Sie strömen Tag und Nacht nach Osten fort Und hören keinen Augenblick mehr auf.« 241
Das Erleben am Pol leiblicher Weitung wiederum, ist in einer ungewöhnlichen Gedichtsammlung aus dem Jahre 353 mit dem viel237
S. I.1.b. Bekannt ist von ihr nur, daß sie während der Tangzeit (618–906) lebte und »Zeitgenossin des Dichters Bo Juyi 白局易 (772–846) gewesen ist, der sie in den Selbstmord getrieben haben soll«. Chen 1996, 26. Auf die Vorwürfe soll sie, bevor sie sich zu Tode hungerte, wie folgt reagiert haben: »Wie konnte man die Rotgeschminkte lehren, sich nicht in Asche zu verwandeln? […] Nicht, daß ich nicht hätte sterben können! Ich fürchtete, daß noch hundert Generationen später die Leute meinetwegen den Herrn für allzu zügellos [halten würden].« Übs dies, 26–28. 239 Übs. Chen 1996, 27. S. die leibliche Dimension der Engung im Falle von Trau238
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sagenden Titel Orchideenpavillon (s. o.) belegt – zumindest für den Geschlechtsakt aus männlicher Sicht. Ungewöhnlich war auch der Anlaß dieser Anthologie: 42 Männer waren an einem abgelegenen Ort mit ihren Söhnen und Neffen zusammengetroffen, um im Sinne homosexueller Lebenspflege »ihr qi zu vereinen«. 242 Exemplarisch schildert das folgende Gedicht das Verströmen in Weite: »[…] Federnkind seufzt Unter dem aufgerichteten Bambus Der hochfliegende Fisch Löst eine Flutwelle aus […].« 243
c) Selbstgestaltung und Maßregelung Es ist gut möglich, daß keine Gesellschaft so entschieden auf die Wirkung von Erziehung und Selbsterziehung vertraute wie die chinesische. Das »Lernen wozu?« zieht sich jedenfalls wie ein roter Faden durch die Geschichte Chinas. 244 Viel deutet daraufhin, daß es den frühen Philosophen um (1) Selbstkultivierung ging, um lebenslange Arbeit an sich selbst und weniger um Beherrschung und Selbstbeherrschung im Sinne einer (2) Maßregelung. Beides lief allerdings darauf hinaus, den (3) Prozeß der Zivilisation im Sinne einer Triebverdrängung und Dämpfung im Ausdruck der Gefühle voranzutreiben. (1) Selbstkultivierung. Den Konfuzianern stand gewiß ein friedvolleres Zusammenleben der Menschen vor Augen, ein Bedürfnis, das angesichts der gewaltförmigen und hemmungslosen Zustände in der Zeit der Kämpfenden Staaten leicht nachvollziehbar ist; aber er, Angst, Furcht und Gram im Gegensatz zur Dimension der Weitung im Falle von Freude und Zorn in: II.2.a. 240 Aus einem Gedicht der Prostituierten Xue Tao (768–831?), Übs. Chen 1996, 33; vgl. auch Linck 2000 bzw. 2006, 128. 241 Aus einem Gedicht der Nonne Yu Xuanji 魚玄機 (844–868), Übs. Chen ebd. 56; vgl. auch Linck 2000 bzw. 2006, 128 242 Übs. Bischoff 1985. 243 Ebd. 114.
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auch Selbstkultivierung aus Selbstachtung heraus war Konfuzius und seinen Anhängern ein dringendes Anliegen. Daoisten und Konfuzianern gleichermaßen wiederum diente Selbstkultivierung dazu, angesichts der Verlockungen der »Außendinge« und Verstrickungen der Welt souverän und autonom zu bleiben. Die Daoisten wußten sich vor allem im Einklang mit dem dao, wenn sie sich der nur weltlichen Gütern nachjagenden Geschäftigkeit enthielten. 245 Nicht zuletzt übten chinesische Gelehrten Selbstbeschränkung um einer subtileren Genußfähigkeit willen: 246 Ihnen ging es also weder darum, die elementaren Lebensbedürfnisse zu befriedigen noch darum, »den Mund zu stopfen« oder »den Bauch zu füllen«, sondern um das feine Schmecken: »Alle Menschen trinken und essen, aber nur wenige wissen zu schmecken.« 247 Selbstbeschränkung bedeutete dann also nicht Verzicht, sondern umgekehrt höheren Genuß. Entsprechend war Askese um der Askese willen den frühen Konfuzianern sehr wohl verhaßt. So verhöhnte Mengzi einen gewissen Chen Chongzi 陳仲子, der im 4. Jh. v. Chr. gelebt haben soll und sich eben durch selbstauferlegte, seines Erachtens maßlos übertriebene Verzichtsleistungen einen Namen gemacht hatte: »So jemand wie Chongzi muß sich erst in einen Erdwurm verwandeln, bevor er seine Prinzipien verwirklichen kann.« 248 Demnach wäre es sicher verkürzt, auch die Aufforderung zur Selbstbeschränkung seitens der frühen Philosophen als Körper- oder Leibfeindlichkeit zu deuten. 249 Zu Beginn der Reichsgründung erfuhr die Tradition des Konfuzius, die um Harmonie im Staatswesen besorgt war, eine Wiederbelebung: Das geeinte, stark zentralisierte und bürokratisch zu verwaltende Kaiserreich als ein erweitertes Friedensgebiet bedurfte der konfuzianischen Werte, wie Selbstkontrolle und zwischenmensch244
Beginnend mit folgendem Satz aus den Gesprächen des Konfuzius: »Der Meister sprach: Von Natur aus stehen die Menschen einander nahe, durch Übung entfernen sie sich voneinander.« (zǐ yuē: xìng xiāng jìn, xí xiāng yuǎn. 子曰: 性相近, 習 相遠), Lunyu, 17.2; Übs. Wilhelm, R. 1985, 171. 245 Vgl. dazu das Kapitel 18 »Zhile« im Buch Zhuangzi; Wilhelm, R. 1992, 194– 195. 246 Eine These, die Fabian Heubel 1995 in seiner Frankfurter Magisterarbeit »Zur Selbstkultivierung im frühen Konfuzianismus« verbindet mit der Aufforderung der Kritischen Theorie, von der groben Reizkultur unserer Zeit Abschied zu nehmen, um einer »subtileren Sinnlichkeit« willen.
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licher Harmonie, sozusagen als Kontrastprogramm zur Epoche der »Kämpfenden Staaten«, aber auch zur Friedenssicherung im Innern des Reiches. So ist es kein Wunder, daß im Liji dieser Idee ein ganzes Kapitel gewidmet ist: das schon erwähnte Kapitel »Zhongyong« 中庸, das mehr als ein Jahrtausend später der Neokonfuzianer Zhu Xi 朱熹 (1130–1200) in den Status eines eigenständigen Klassikers erhob. Schon im Titel enthält es die Aufforderung nach »Mitte und Beständigkeit«: die Mitte als Zustand, in dem keine störenden Emotionen den Menschen aus dem Gleichgewicht bringen. 250 Auch im 7. Kapitel des Buches Huainanzi, das dem Prinzen Liu An 劉安 (179–122 v. Chr.) und seiner Philosophenrunde zugeschrieben wird, ist das Freisein von Emotionen ein Merkmal der vorbildlichen Menschen. Da sich die Verfasser des Huainanzi in der daoistischen Tradition verstanden, suchten sie den Weg der Mitte aus dem Bedürfnis nach Einssein mit dem dao, einem Zustand, in dem alle Differenzierungen und damit auch Vorlieben und Wünsche entfallen. Das Finden der eigenen Mitte war ihnen Teil der großen Gelassenheit von Kosmos und Natur. So kommt es auch in der konfuzianischen wie in der daoistischen Tradition zu einer Unterscheidung zwischen der wahren Heiterkeit der »Heiligen« und der Heiterkeit der »gewöhnlichen Menschen«: »Der Heilige tut alles zur rechten Zeit, um sich seiner Position gewiß zu sein. In seiner Welt tut er in gelassener Heiterkeit (lè 樂) seine Arbeit: Wörtlich: »[…] nur wenige wissen um den Geschmack« (zhī-wèi 知味); Liji, »Zhongyong« 4.2, vgl. Legge 1991, vol. I-II, 387. 248 Mengzi, Buch III »Tengwengong« 2.10; vgl. Legge 1991, 287; Wilhelm, R. 1982, 110. Im Shishuo xinyu wird erzählt, daß Huan Wen 桓溫 (312–372), ein Militär zur Zeit der Östlichen Jin, bei der Lektüre von Einzelheiten aus Chen Chongzis Biographie äußerst unduldsam, ja angewidert reagiert und das Buch beiseite geworfen haben soll mit den Worten: »Wie kann man nur so kleinlich und pervers sein!« Vgl. Shishuo xinyu 13.9; vgl. Mather 1976, 304. 249 Analog der daoistischen Aufforderung, die Sinnesöffnungen zu schließen. S. I.3. a. Auch Guanzi, der sich als einer der nachweisbar ersten für Selbstpflege stark machte, möchte ich nicht Körperleibfeindlichkeit unterstellen, denn auch seine Aufforderung, »Trauer, Heiterkeit, Lust, Wut, Begehren und [das Streben nach] Profit zu unterlassen« (qù yōu lè xǐ nù yù lì 去憂樂喜怒欲利), scheint im Hinblick auf extreme Gefühle bzw. anhaltende Gemütszustände gemünzt zu sein; vgl. Guanzi, ed. Zhuzi jicheng, Bd. 5, Kap. 16.49 »Neiye«, 268–269. 247
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Kummer (bēi 悲) und [gewöhnliche] Heiterkeit (lè 樂) sind Abweichungen von der Gestaltungskraft (dé 德); Lust (xǐ 喜) und Zorn (nù 怒) sind Überschreitungen des rechten Wegs (dao). 251
Der Diskurs über den Weg der »Mitte und Beständigkeit« setzte sich in der nachfolgenden Epoche der Frühen Kaiserzeit vor allem in daoistischen Kreisen fort, die ihm aber im Sinne der Lebenspflege bzw. Lebensverlängerung (s. I.1.a) eine etwas andere Richtung gaben. 252 Auch die Entsprechungsmedizin befürwortete Maß und Mitte, denn die extremen Gefühle störten die Ausgeglichenheit des qi und führten auf Dauer zu Unwohlsein und Krankheit. 253 In daoistischen ebenso wie in chan-buddhistischen Kreisen der Frühen Kaiserzeit wurde die Vermeidung der Extreme als anzustrebende »Fadheit« 254 bzw. als »Geschmack des Schmacklosen« 255 zelebriert. Auf die Selbstkultivierung des Menschen bezogen bedeutete das, ein unaufdringliches und schlichtes Wesen zu pflegen bis hin zum Ideal der Unbeholfenheit (zhuō 拙). Diese Art der Selbststilisierung kehrt im autobiographischen Schrifttum der gesamten Kaiserzeit immer wieder. 256 Dem Ideal der Selbstkultivierung fügte der Neokonfuzianismus in der Mittleren Kaiserzeit eine besondere Note hinzu: Nicht nur Edle und der Herrscher waren dazu aufgefordert, jeder konnte und sollte »ein Berufener« 257 sein: »Vom Himmelssohn bis hin zum einfachen Mann (shù-rén 庶人) gilt die Pflege der Persönlichkeit (xiū-shēn 修身) als Grundlage (des Lebens): Wer seine Persönlichkeit pflegen will, der mache zuerst sein Herz richtig (zhèng 正). Das nennt man [Selbst]achtung (jìng 敬).« 258
So gesehen, ließe sich das neokonfuzianische Ideal der Selbstüber250
Zhongyong, 1.4; vgl. Legge 1991, 384; dieser Gedanke wird häufig auch als »Maß und Mitte« im Sinne der Mäßigung und eines mittleren Weges zwischen den Extremen wiedergegeben. 251 Huainanzi zhuzi suoyin, Kap. 7 »Jingshenxun«, 56. Im Buch Huainanzi werden beide Glücksformen durch das Lachen unterschieden; d. h. die ausgelassene diesseitige Heiterkeit geht mit Lachen – lauthals und zwerchfellerschütternd – einher, während der Mensch im Zustand »höchster Glückseligkeit nicht [lauthals] lacht«; ebd. Kap. 17 »Yuelin«, 169; zur Heiterkeit in der konfuzianischen Tradition s. w. u. die Merksätze des Fang Xiaoru. 252 Vgl. die Ausführungen über Ge Hong 葛洪 (ca. 280–340) in: Kubny 1995, 223–229.
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windung (kè-jǐ 克己) als Ausdruck der Selbstachtung und »Selbsteinkehr« (fǎn-gōng 反躬) 259 verstehen. Letztlich ging es – genau wie im medizinischen und daoistischen Diskurs der Frühen Kaiserzeit – um das richtige Haushalten mit der eigenen Lebens- und Geisteskraft, und je nach Kontext wurde die Forderung nach der rechten leiblichen Ökonomie 260 philosophisch, religiös oder medizinisch begründet. (2) Maßregelung. Und doch sprechen die philosophischen Texte auch eine andere Sprache, die Sprache der Maßregelung im Sinne von Leib- und Lebenshemmung, vor allem seit der Mittleren Kaiserzeit: Besonders deutlich geht das aus den Merksätzen des schon mehrfach zitierten Fang Xiaoru (1357–1402) hervor. Auch Fan Zhongyan 范仲淹 (989–1052) äußerte sich um der »Mitte und Beständigkeit« willen kritisch über das »Nähren von qi« (yǎng-qì 養 氣), das die Landschaftsmalerei und Dichtkunst der Epoche beflügelte: Die Vorstellung, daß Gefühle, die beim Kontakt mit einer Landschaft entstehen (chù-jǐng shēng-qíng 觸景生情) und den Künstler, Maler, Musiker oder Kalligraph, zu ästhetischer Gestaltung auffordern 261, hatte sich schon vor der Tangzeit (618–906) als eine Besonderheit der chinesischen Gelehrtenkultur durchgesetzt. Genau diese Empfindsamkeit lehnte ein paar Jahrhunderte später Fan Zhongyan ab und hielt ihr sein eigenes Ideal der ungerührten Mitte entgegen, wie sie die vorbildlichen Menschen des Al253 Huangdi neijing suwen, Kap. 23 »Xuanming wuqi« Bd. 1, 370 sowie Huangdi neijing lingshu, Kap. 2 »Benshen«, Bd. 1, 174–183; den Hinweis auf die betreffenden Originalstellen verdanke ich Angelika Messner, Kiel. 254 Jullien 1991. 255 Debon 1970. 256 Bauer 1990. 257 Lackner 1988. 258 Lu Dalin (1046–1092), Liji jishuo, Siku quanshu Bd. 117, 23; Übs. Heubel 1995, 58. 259 Heubel 1995, 58–59 zitiert weitere Begriffe der Selbstpflege: wie fǎn-shēn 反身, fǎn-jǐ 反己, zì-fǎn 自反, die alle drei mit »Rückkehr zu sich selbst/Selbsteinkehr« zu übersetzen sind, sowie zì-zài 自在 (Bei-sich-selbst-sein), zì-shěng 自省 (Selbstprüfung), zì-dé 自得 (Selbstfindung) und nicht zuletzt zì-jìn 自盡 (sich selbst ergründen), das Wang Fuzhi 王夫之 (1619–1692) in seinem Kommentar zum Liji verwendet; ebd.
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tertums für ihn verkörperten: »Was waren sie für Menschen? Sie waren Menschen, die sich nicht an äußeren Dingen erfreuten und nicht traurig über ihr eigenes Schicksal waren.« 262 Nun mag man den Verfechtern des Wegs der Mitte zu Gute halten, daß es der Lehre selbst nicht anzulasten ist, wenn deren Anhänger bei der Anwendung diesem im Sinne eines Gleichmuts nahe liegenden Bemühen dann doch vom Weg der Mitte abkamen und abglitten in Strenge und Selbstgerechtigkeit. 263 Genau das widerfuhr manchem Neokonfuzianer, zumal gerade das Gedankengebäude des Zhu Xi (1130–1200) Konzepte bereit hielt, die dieser praktizierten Einseitigkeit die philosophische Grundlage bieten konnten: Die angeborene gute menschliche Natur, die ihm als Manifestation der »himmlischen Ordnungsprinzipien« (tiān-lǐ 天理) imponierte, wurde gegen die verschmutzenden Wallungen des qi, der Emotionen und des menschlichen Begehrens (rén-yù 人欲) ausgespielt: 264 »Wo die himmlischen Prinzipien verweilen, da erlischt das menschliche Begehren.« 265 Es gab also nicht nur die dogmatischen oder fanatischen Anwender der sogenannten Mitte und Beständigkeit. Auch die neokonfuzianische Philosophie befürwortete Lebenshemmung, zumindest eine Richtung, und m. E. nicht von ungefähr ausgerechnet die des Zhu Xi (1130–1200), der als einziger vormoderner Denker eine reduktionistische, und zwar dualistische Weltsicht vertrat (s. III.1.b). Auch im kulturellen Gedächtnis der Chinesen figuriert der Neokonfuzianismus als eine Lehre von Körper- und Leibfeindlichkeit. Ganz entschieden hat Liu E 劉鄂 (1857–1909), Autor des Romans Laocanyouji 老殘游記, Zhu Xi selbst dafür verantwortlich gemacht: »Die drei Geschäfte 266 stellen Gemischtwarenhandlungen dar, wo jeder Brennholz, Reis, Öl und Salz kaufen kann […]. Im Konfuzianismus finden wir Brüderlichkeit und Selbstlosigkeit in ihrer höchsten Ge260
S. Anhang 1. Wörtl. »Der Kontakt mit Landschaft bringt Gefühle hervor«. Mit anderen Worten, es handelt sich um die bewußte Pflege von Gefühlsatmosphären bzw. chin. um ein Nähren von qi. Zur Bedeutung dieses Konzeptes in den chinesischen Theorien zur Landschaftsmalerei vgl. Obert 2007. 262 »Yuegang louji« in Fan Wenzheng gong wenji 范文正公文集 Bd. 3, 80b; vgl. die etwas freiere Übersetzung in Lang-Tan 1995, 233. 263 Vgl. die Merksätze des w. u. zitierten Fang Xiaoru. 261
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stalt […]. Zhu Xi kam aus diesen engen Denkschemata nicht mehr heraus. Gestützt auf Han Yüs 267 Ursprünglichen Weg vollbrachte er die glorreiche Tat, die Aussage von Konfuzius’ Lehrgesprächen 268 bis zur Unkenntlichkeit zu verdrehen […]. Konfuzius hatte einmal gesagt: ›Was ist aufrichtiges Denken? Es bedeutet, sich selbst nicht zu belügen. Es ist wie der Ekel vor schlechtem Geruch oder wie die Zuneigung zu einem anmutigen Mädchen!‹ und ›[Die Menschen] sollten die Tugend lieben, wie sie [gewöhnlich] die Frauen lieben‹. Die Konfuzianer der Songzeit aber predigten allein die Liebe zur Tugend, von der anderen Liebe sollen wir, so scheint es, lassen. Ist das nicht ein eklatanter Selbstbetrug […]?! Konfuzius hat zwar die Gefühle und die guten Sitten einander gegenübergestellt, aber einen solchen Gegensatz der Begriffe Prinzip (li) und Begierde (yu) finden wir bei ihm nicht.« 269
In dieser Zeit war die Sitte des Füßebindens – euphemistisch als Goldlotus (jīn-lián 金蓮) bezeichnet – bei kleinen Mädchen ab dem vierten bis sechsten Lebensjahr auch in den unteren Schichten der Bevölkerung allgemein verbreitet. Die Fußdeformation war ein sehr schmerzhafter Prozeß, der sich über drei bis vier Jahre erstreckte und die Bewegungsfreiheit stark einschränkte. Mehrere Versuche der Mandschu-Regierung, die Fußverkrüppelung zu verbieten, scheiterte am Widerstand der Bevölkerung, die aus patriotischen Gründen daran festhielt. Nur die Bootsleute im wasserreichen Mittel- und Südchina sowie Hakka-Bauern und Hakka-Händler ließen ihren Töchtern nicht die Füße binden, so daß die Bezeichnung Großfüßige (dà-zú 大足) auch als Schimpfwort, etwa im Sinne un264
S. II.2.c sowie III.l.b. Kenji 1987, 99; vgl. auch Zhuzi daquan 朱子大全, Kap. 42, 14b–15a, zit. n. Chan 1970, 618: »In my opinion, what is called human desire is the exact opposite of the Principle of Nature.« 266 Gemeint sind die drei großen Strömungen der chinesischen Tradition: Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus, eine ironisierende Metapher für das seit der Tangzeit (618–960) propagierte sān-jiāo hé-yī 三教合一: die Überzeugung, daß alle drei Lehren zu verbinden seien, weil sie im Grunde auf Ein- und Dasselbe hinausliefen, auch wenn sie verschiedene Wege verfolgten. 267 Tangzeitlicher Gelehrter (768–824), der angesichts der Herausforderungen seitens des Buddhismus und Daoismus in Philosophie und Religion die konfuzianische Tradition wiederzubeleben suchte. S. Briefwechsel zwischen Han Yu 韓愈 und Liu Zongyuan 柳宗元(773–819) in: III.3.b (3). 268 Gemeint ist das Lunyu, die Aufzeichnungen der Schüler des Konfuzius. 265
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seres Ausdrucks »Bauerntrampel«, in Umlauf war. 270 Erst im Verlauf des 20. Jh. wurde die Praxis des Füßebindens sowohl in Taiwan als auch auf dem Festland abgeschafft, nachdem sie um die Jahrhundertwende bereits im Kontext eines revolutionären Aufbruchs in Mißkredit geraten war. 271 Es sollte noch einmal betont werden, daß nicht der (Neo)konfuzianismus allein für Leib- und Gefühlshemmung sorgte. Die emotionslose Gelassenheit, die der Daoismus propagierte, trug ebenso zu den späteren Entwicklungen bei wie der (Mahayana-)Buddhismus, der nicht minder auf Lebens- und Leibüberwindung abzielte. Die Praxis der Selbstverstümmelung von »pietätvollen« Söhnen und Töchtern um der Genesung der Eltern willen sowie die von Witwen, die sich der als verwerflich geltenden Wiederheirat zu widersetzen suchten, scheint z. B. buddhistisch inspiriert zu sein, auch wenn sie sich nahtlos in den konfuzianischen Moralkodex der Späten Kaiserzeit einfügte. 272 So strickten letztlich alle drei großen Traditionen an demselben Muster, und der Weg der Mitte – allzu rigoros verfolgt – konnte zu jener Leibfeindlichkeit und Gefühls-Erstarrung führen, die Liu E sowie Kang Youwei 康有為 (1858–1927) und dann im 20. Jahrhundert die Vertreter der Neuen Literaturbewegung (1917–1942) beklagten und zu überwinden suchten. 273 (3) Der Prozeß der Zivilisation: Ob Maßregelung vorherrschte oder Selbstkultivierung, kann nicht nur philosophisch, sondern auch alltagsgeschichtlich betrachtet werden. Um letzteres geht es im Folgenden, d. h. um den Prozeß von Zivilisierung im Sinne einer gesellschaftlich vermittelten Hemmung und Verdrängung, die sich sozusagen hinter dem Rücken der Akteure vollzieht. Die Quellen sind häufig dieselben, doch ist die Perspektive eine andere. Um sich ein Bild zu machen von der Ungehemmtheit, die noch in der Epoche unmittelbar v. Chr. herrschte, mag jede beliebige Biographie aus dieser Zeit herhalten, z. B. die des Prinzen Dan von Yan 燕丹子 bzw. die seines Gefolgsmanns Jing Ke 荊軻 oder die des Reichseinigers 269 270 271
Übs. Kühner 1989, 128–133. Vgl. Podach 1951, 163 sowie Levy 1990; s. auch I.1.c. Linck 1988, 100 ff.
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Qinshi Huangdi selbst, den Jing Ke umbringen sollte. 274 Zumeist sind es die negativen Seiten ihrer Spontaneität, die in den Quellen genannt sind: Mord und Totschlag, Verstümmelung und Selbstmord. Ungezügelt ließen in einer Zeit des »Jeder gegen Jeden« die »Helden« der »Kämpfenden Staaten« ihren Regungen freien Lauf 275. Der Gedanke von Mitte und Beständigkeit im zwischenmenschlichen Verhalten erhielt mit der Reichseinigung (222 v. Chr.) nicht zuletzt durch die Neuordnung von Gesellschaft und Staat Auftrieb: Das nunmehr bürokratisch verwaltete Kaiserreich brauchte prinzipiell verläßliche Staatsdiener. Leidenschaften und Ungehemmtheit, die zum selbstverständlichen Umgangston einer vergangenen Epoche gehörten, mußten zurückgedrängt werden. Nicht von ungefähr läutete der Chefideologe der Hanzeit, Dong Zhongshu 董仲舒 (179–104 v. Chr.), das Gegeneinander von der (guten) menschlichen Natur und der (schlechten) Emotionen ein. (S. II.2.c) Nun zeigen allerdings die Quellen der Frühen Kaiserzeit auch, wie wenig im realen Leben Selbstbeherrschung und Maß und Mitte geübt wurden. Die schon mehrfach zitierte Anekdotensammlung Shishuo xinyu aus dem 5. nachchristlichen Jahrhundert ist eine Fundgrube für das Sozialverhalten der Epoche. Was auch immer die Zeitgenossen für bewundernswert oder verabscheuungswürdig hielten, wird an über sechshundert historisch nachgewiesenen Persönlichkeiten exemplarisch vorgeführt. Versuchen wir 272
Als Ausdruck kindlicher Pietät pflegten Söhne und Töchter, sich ein Stück Fleisch aus der Hüfte zu schneiden, um dem erkrankten Elternteil eine Suppe daraus zu kochen, während sich Witwen Nasen und Ohren abschnitten oder anderweitig das Gesicht verstümmelten, um der Wiederverheiratung zu entgehen; vgl. T’ian Ju-kang, Self-mutilating Behavior of Ko-ku. Shanghai (unveröffentlichtes Manuskript) 1986 sowie Linck 1990, 203. 273 Vgl. Lang-Tan 1995. 274 Erstere liegt in der Übersetzung von H. Franke (1969) vor. Die Filme von Chen Kaige 陈凯歌 oder Zhang Yimou 长艺谋 aus den 1980er und 1990er Jahren über den ersten Qin-Kaiser und Reichseiniger Qinshi Huangdi sind alles andere als dokumentarisch, vermitteln dennoch ein Bild dieser Epoche der Kämpfenden Staaten; s. Karte. 275 Diese gelten als »wölfisch und tigergleich in ihrem Wandel« Übs. H. Franke 1969, zit. n. Linck 1990, 214–215.
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aufgrund dieser biographischen Einzelheiten die Frage nach Gestaltung und Beherrschung der Gefühle zu beantworten, so ergibt sich folgendes Bild: Die Menschen dieser Epoche lebten in einer Übergangsgesellschaft: Zerfalls- und Refeudalisierungsperioden, in denen sich die großen Adelsfamilien in beständigen Kriegen gegenseitig zerfleischten, wechselten mit Versuchen, das Ideal eines dauerhaft geeinten Beamtenstaates zu verwirklichen. So schwankten die Zeitgenossen zwischen kämpferischem und zivilem Verhalten, zwischen leidenschaftlichem Draufgängertum und Feinsinnigkeit, zwischen Spontaneität und Etikette, zwischen Skrupellosigkeit und Verantwortungsbewußtsein, zwischen Ungehemmtheit und Selbstbeherrschung. 276 Stellt sich die Frühe Kaiserzeit als eine lange Epoche des Übergangs dar, so scheint der Prozeß der Triebkontrolle und Affektregulierung in der Mittleren Kaiserzeit sprunghaft vorangekommen zu sein. In dieser Epoche setzt sich als Mode in der Oberschicht das Füßebinden durch. Es ist die Zeit, in der eine zunehmende Menschenmenge dichter zusammenrückt, das chinesische Kernland sich allmählich auffüllt, zumal auf einem verkleinerten Territorium. Die zunehmende demographische Dichte 277 bewirkte, daß der zwischenmenschliche Umgang geregelter und weniger spontan, also beherrschter vor sich zu gehen hatte. Es ist die Zeit, in der Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle ihren ersten Höhepunkt erlebten, denn das »In-sich-gehen« in sogenannten »Selbstprüfungskammern« (zì-zhāi 自齋) setzte bereits bei deren Verfechtern die starke Verinnerlichung moralischer Werte voraus. (S. I.3) Dabei berief man sich auf Konfuzius, der gesagt haben soll: »Ich denke dreimal täglich über mich selbst nach.« 278 Wie sehr auch hier noch das äußere Auftreten als Spiegel innerer Einstellung galt, zeigt sich in neokonfuzianischen Vorschriften, die auf Selbstbeherrschung im Sinne einer gehemmten Motorik abzielten. Auch in dieser Hinsicht sind einige Merksätze des schon zitierten Fang Xiaoru (1357–1402) aufschlußreich: »Das Sitzen: Wie man sitzen soll: den Rücken gestreckt, die Haltung würdevoll, die Hände auf der Brust zusammengelegt. Dabei den 276
Linck 1989.
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Leib und Gefühl
Kopf nach hinten zu werfen, macht einen arroganten Eindruck. Ihn auf die Brust fallen zu lassen, macht einen traurigen Eindruck. Sitze nicht mit weit gespreizten Knien und neige dich auch nicht zur Seite. Fest und ruhig wie ein Berg – so ist beständige Tugend! Das Stehen: Die Füße gerade nebeneinander – fest wie ein Baum; die Hände ehrerbietig ausgestreckt – elegant wie die Flügel eines Vogels […]. Laß dich nicht von den Dingen hin- und herschieben! […] Das Gehen: Die Schritte von gemessenem Ernst […] Das Schlafen: […]. Beruhige zuvor dein Herz und deine Leidenschaften: An nichts Ungebührliches sollst du denken! Liege nicht zusammengekrümmt auf deinem Bett […] und auch nicht mit dem Gesicht nach oben […] Das Lachen: Freust du dich in deinem Herzen, so sollst du doch darum nicht lachend deine Zähne entblößen […]. Echauffierst du dich durch Händeklatschen und Hutbandlösen, so bist du wie ein Schauspieler und Possenreißer! Die Heiterkeit: Die Heiterkeit, die man durch das dao erlangt, wie könnte diese Freude jemals enden? Die Freude, die man aus der Befriedigung der Begierden zieht, auf den Kummer muß man nicht lange warten […] Der Zorn: Wie schnell sind die Menschen mit Zornesausbrüchen bei der Hand! Sie fangen an, mit den Zähnen zu knirschen und die Ärmel ihrer Kleider aufzukrempeln, noch bevor sie einmal ihre Gedanken prüfen […]. Plötzliche Gefühlsausbrüche sind höchst tadelnswert […] Die Zuneigung: Was an den Dingen Liebenswertes ist, sollst du nicht lieben! Was an der Tugend Liebenswertes ist, sollst du nachahmen! So achte die Dinge gering und schätze hoch die Tugend […].« 279
Damit begann eine Tradition, die in ihren Wirkungen der europäischen Minderwertung von Körper und Leib durchaus vergleichbar ist. Fragen wir nach dem Ausdruck von Gefühlen in der Späten Kaiserzeit, so stellen wir in der Entwicklung einzelner Bereiche Ungleichheiten fest, selbst wenn wir schichtspezifische Verzögerungen außer Acht lassen: Während die Tabuisierung alles Geschlecht277 278
Vgl. Hartwell 1982, 395 ff. Lunyu, 1.4; vgl. Wilhelm, R. 1985, 38.
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Gefühl und Begehren im Prozeß der Zivilisation
lichen weitgehend gelang, 280 scheinen andere Körperfunktionen und Leiberfahrungen den Prozeß der Zivilisierung unversehrter überstanden zu haben, wie das Rülpsen und Spucken und ein für unser Empfinden sehr viel ungenierteres Verhalten auf Toiletten: In einem Land, wo Menschen auf engstem Raum zusammenleben und immer noch die Mehrheit der Bevölkerung nur öffentliche Toiletten benutzt – zumeist ohne Zwischenwände und Türen, ist die Intimsphäre selbstverständlich anders definiert als bei uns. Doch waren Selbstgestaltung und Selbstbeherrschung bei Gefühl und Begehren nach wie vor ein Anliegen der Pädagogen. Sie machten sich nun auch ernsthaft, ähnlich wie bei uns nach der Aufklärung, über die Kinder her. Die Kinderreime eines Lü Desheng 呂 德生 (gest. 1568) und seines Sohnes Lü Kun 呂坤 (1536–1618) erinnern manchmal durchaus an den drohenden Zeigefinger in den Versen des »Struwwelpeter« oder auch in den Poesiealben unserer Ur-Großmütter: »Mißmut schafft viel Unbehagen, Freude macht verrückt. Unbesonnenes Betragen bringt nur Reue und kein Glück.« 281 »Mit kühlem Auge betracht’ die Menschen mit kühlem Ohr hör ihnen zu. Mit kühlem Gefühl mußt du empfinden, ein kühles Herz hab immerzu.« 282 »Der Mund muß ständig sauber sein, die Hände bleiben immer rein.« 283 »Wasser, Feuer, Schere, Messer, hüpfen, springen sind nicht besser.« 284
Ganz im Sinne unseres Sprichwortes »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr« sollte ein ritualisierter Verhaltenskodex möglichst früh eingeübt werden. Es ist offensichtlich, daß gerade kindliche Spontaneität und Motorik den Pädagogen ein Dorn im Auge waren. 279 280
Übs. Epping-von-Franz, 12–16. Van Gulik 1971 und Linck 1990.
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Leib und Gefühl
So hat gesellschaftliche Praxis im Sinne einer Zivilisierung auch in China tiefe Spuren im Erleben von Gefühl und Emotionen hinterlassen ebenso wie in der Äußerung körperlichen und leiblichen Begehrens: Im positiven Sinne lief dies auf Selbstgestaltung hinaus, die ganz unterschiedlich motiviert sein konnte: Den einen ging es darum, die Einheit mit dem dao zu erlangen, den anderen um ein friedliches Zusammenleben; wieder anderen um Würde und Selbstachtung oder auch um eine »subtilere Sinnlichkeit«; manchen mochte an allem gleichermaßen gelegen sein. Im Übereifer betrieben und als rigide Erwartungshaltung anderen Menschen gegenüber schlug die Selbstgestaltung in Maßregelung, Körper- und Leibhemmung um. Als Wendepunkte im Umgang mit Atmosphären, aufwallenden Emotionen, körperlichen Bedürfnissen, Essen, Trinken und Sexualität sind die Reichsgründung um die erste Jahrtausendwende und der Neokonfuzianismus der Mittleren Kaiserzeit auszumachen.
4. Exkurs: Leibbemeisterung, Kampfkunst und Spiel 285 Chinesen erleben wir heutzutage auf den Straßen Pekings häufig als starke Raucher, gebeugt dahinschlurfend und alles andere als mit Körperspannung gesegnet und athletisch durchtrainiert. So ist es kaum zu glauben, daß diese Kultur schon in sehr früher Zeit vielfältige Bewegungsformen zur Körper- und Leibesertüchtigung entwikkelte. Von einem Freizeitverhalten in unserem Sinne, das einem bewegungsverarmten Arbeitsleben entspricht, kann im vormodernen China jedoch keine Rede sein. Auch im heutigen China setzt sich nur langsam eine eigenständige Freizeitkultur durch, am ehesten in den modernisierten großen Städten – und selbst da nur in bescheiLü Desheng, Xiaoeryu 小兒語, 9a; Übs. Englert 1986, 71. Lü Kun, Xuxiaoeryu 續小兒語, »Siyan«, 9.2; Übs. Englert ebd. Vgl. auch die Dissertation von Wang, Jing sowie Linck/Wang. 283 Lü Desheng, Nüxiaoeryu 女小兒語, »Siyian«, 1; Übs. Englert ebd., 74. 284 Ebd. 3. 281 282
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Exkurs: Leibbemeisterung, Kampfkunst und Spiel
denem Maße. Die meisten traditionellen chinesischen Bewegungsspiele und -künste waren ursprünglich mit Jahresfesten und den dazugehörigen Ritualen verknüpft. Sie sind also religiösen Ursprungs. Andere Künste und Wettkämpfe gingen aus dem militärischen Training hervor, wie der Schwert- und Ringkampf, das Gewichteheben und Bogenschießen, Wettrennen und Polo zu Pferde. Die Epoche, die dann erstmals reichlich Material zu diesem Thema bereit hält, die Frühe Kaiserzeit, kannte schon den ausgeprägten »Spaß an der Freude«, d. h. sowohl die Lust an aktiver Leibesertüchtigung als auch das passive Vergnügen an den Bewegungskünsten anderer. Im Bild von der Türangel, die nicht rostet bzw. nicht »wurmstichig« wird, hat die Aufforderung zur eigenen Ertüchtigung die Jahrhunderte überdauert: »Fließendes Wasser fault nicht Die Türangel wird nicht wurmstichig; Das nennt man: Bewegung! Analog verhält es sich mit Körperleib (xíng 形) und qi: Regt sich der Körper nicht, kommt die Essenz (jīng 精) nicht ins Fließen; fließt keine Essenz, so stockt das qi.« 286
Die Quellen beschreiben vor allem Anlaß der Spiele und Wettkämpfe; auch die Techniken der Bewegungsarten und Spielabläufe nehmen einen breiten Raum ein. Leibliches Spüren und Selbstvergessenheit im Spiel sind selten ausführlicher geschildert, am ehesten im Zusammenhang mit dem a) Schwimmen. Verfolgen wir die Bewegungsspiele und Kampfkünste durch die Jahrhunderte, so stellen wir eine Tendenz der Bewegungsverarmung fest, die den skizzierten Entwicklungen im Leib- und Körper-Erleben entspricht. Auch hier entpuppt sich die Mittlere Kaiserzeit (10.–13. Jh.) als entscheidender Einschnitt, der den Übergang zu einer Gesellschaft von Beamten und Gelehrten, sozusagen von »Schreibtischtätern«, vollzog. Be-
285
Das historische Material zu den folgenden Ausführungen stammt, wenn nicht anders vermerkt, aus der von Liu Bingguo 1987 zusammengestellten Geschichte der chinesischen Bewegungskultur.
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sonders deutlich zeigt dies die Entwicklung der b) Kampfkunst und des c) Fußballspiels. a) Schwimmen Einen ersten Hinweis auf das Schwimmen findet sich im Shijing (Buch der Lieder), wenn auch an dieser Stelle nicht deutlich wird, ob Zweckmäßigkeit im Sinne des Lebensunterhalts oder schlicht die Freude an der Bewegung im Wasser der Anlaß war: »Dort, wo der Fluß tief ist, fahren wir mit dem Boot; dort, wo er seicht ist, schwimmen wir.« 287
Im Buch Zhuangzi erfahren wir dann, warum der mit dem Element des Wassers bestens vertraute Fischer den daoistischen Philosophen zu einem Symbol wurde für die Einheit mit der Natur: 288 »Sich im Wasser bewegen und Schlangen und Drachen nicht ausweichen, das macht der Mut des Fischers!« 289 Auch die Geschichte vom Wasserfall 290 dreht sich um den Einklang mit dem dao: »Meister Kung (Konfuzius) betrachtete den Wasserfall von Lü Liang, der dreißig Klafter hoch herabstürzt, also daß meilenweit das Wasser schäumt und selbst Schildkröten, Fische und Molche nicht hinunterschwimmen können. Da sah er einen Menschen, der hinunterschwamm. Er meinte, der habe Bitternis und wolle sich den Tod geben, und ließ seine Jünger an den Fluß eilen, um ihn aufzufangen. Aber nach ein paar hundert Schritten kam er wieder heraus, trocknete sein Haar und sang im Gehen, während er unten am Ufer umherwandelte. Meister Kung ging ihm nach […] und sprach: ›Darf ich fragen, ob es geheimen Sinn gibt, der das Wandeln in dem Wasser lehrt?‹ Jener sprach: ›Nein, ich habe kein Geheimnis. Anfangs Gewöhnung, wurde es mir zur Natur und ist mir nun Schicksal. Mit dem saugenden Wirbel zusammen gehe ich hinein, mit dem schäumenden Strudel zusammen komme ich heraus. Ich folge dem Sinn des Wassers und tue nichts selbst. Das ist es, warum ich darin wandeln kann.‹« 291 286 287
Lüshi chunqiu, Kap. 3.2 »Jinshu«, 19a; vgl. Wilhelm, R. 1979, 30. Maoshi zhuzi suoyin, »Beifeng« 35.4 gufeng, 16.
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Zur leiblichen Virtuosität des Schwimmers gesellen sich in dieser Parabel zunächst Betroffenheit und dann Verwunderung des Zuschauers Konfuzius, der erst nachträglich zu begreifen scheint, daß hier Kunst und leibliche Hingabe gleichermaßen am Werke waren. Die rein körperliche Technik des Schwimmens ist kurz und bündig im Buch Huainanzi formuliert: »[…] Mit den Füßen schlagen und mit den Händen das Wasser teilen.« 292 Es ist anzunehmen, daß zu allen Zeiten überall auf dem Lande oder auch in der Stadt, sofern sich Gelegenheit dazu bot, Schwimmen als Spaß und Spiel weit verbreitet war – vor allem im wasserreichen Mittel- und Südchina. Aus der Tangzeit (618–906) liegt dazu ein Hinweis in Form eines Gedichtes vor. Darin ist die Rede von der Ehefrau eines reichen Kaufmannes, die sich vernachlässigt fühlt und im Nachhinein bereut, nicht mit einem nòng-cháo-ér 弄潮兒, einem »Wasserspieler/Taucher«, verheiratet zu sein, der arm sein mochte, aber gewiß mehr Zuwendung für sie übrig hätte. 293 Auch aus der Songzeit (960–1278) sind begeisterte Schilderungen von Schwimmwettkämpfen überliefert. In den entsprechenden Quellen taucht erneut das Wort nong-chao-er auf zur Bezeichnung der Teilnehmer. Die Wasserspiele erforderten nicht nur Geschmeidigkeit und Geschwindigkeit, sondern auch Mut. Berühmt waren die »Schwimmer von Wu 吳« aus der Region, die sich nördlich und südlich des heutigen Yangzi-Flusses erstreckt. Damals hieß der Yangzi 揚子 noch »Fluß von Zhe 浙« und war ein gewaltiger und gefährlicher Strom, der mit einer »Stimme wie Donnergetöse« »den Himmel zu verschlingen drohte und schier die Sonne benetzte«. Von den Schwimmern heißt es, »sie fürchteten nicht den Zorn des Flutdrachens«, selbst wenn 288
Kap. 31 »Yufu«; vgl. Legge o. J., 632–641. Zhuangzi, Kap. 17.9 »Qiushui«; vgl. Legge o. J., 434. 290 Ein schönes altchinesisches Beispiel, wie viele der Ankedoten im Zhuangzi, für das, was man derzeit in den Kulturwissenschaften als implizites Körperwissen erforscht. 291 Kap. 19.9 »Dasheng«; vgl. Legge o. J., 460–461; dieselbe Geschichte findet sich im Kap. II.9 im Buch Liezi aus dem 4.–5. nachchristlichen Jahrhundert. Die hier zitierte Übersetzung ist Wilhelm, R.s Übersetzung des Liezi entnommen; vgl. Wilhelm, R. 1974, 58. 292 Huainanzi zhuzisuoyin, Kap. 17.5 »Yuelin«, 168. 289
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dieser »Wind und Wellen aufpeitschte und das Land überschwemmte«. 294 Außer Schwimmwettkämpfen waren in der Songzeit (960– 1278) noch andere Wasserspiele beliebt, über die wir allerdings nicht viel mehr wissen, als daß dazu ein Brett benötigt wurde – vielleicht eine Art Wasserski zum Wellenreiten. Ein anderes Spiel auf dem Wasser erinnert an die Jahresfeste mediterraner Fischerdörfer, wo junge Männer als Besatzung mehrerer Boote versuchen, sich mit Stangen gegenseitig ins Wasser zu stoßen. 295 Wenn in den Quellen der Späten Kaiserzeit solche Vergnüglichkeiten kaum noch genannt sind, so kann das verschiedene Gründe haben: Entweder wurden sie nicht mehr veranstaltet oder die schriftkundige Elite hielt sie für nicht bemerkenswert. Doch spricht mehr für ersteres als für letzteres, denn die Verfasser der sogenannten Pinselnotizen 296 interessierten sich grundsätzlich für alles. Sie selbst – als Angehörige einer inzwischen eher bewegungsgehemmten Gelehrtenkultur – pflegten Malerei, Kalligraphie, Dichtkunst und das Spiel auf der Zither qín 琴 297, um durch diese Aktivitäten der Selbstkultivierung ihre Lebenskraft zu nähren. Für umtriebige Spiele und körperlich anstrengende Wettkämpfe hatten sie nur Verachtung übrig, zumal der bei diesen Veranstaltungen nackte oder halbnackte Körper für die Elite nicht schicklich war, zeigte die jeweilige Kleidung doch auf den sozialen Status. Mit Sicherheit wurden Schwimmen und Tauchen nach wie vor zum Lebenserwerb geübt: von den Perlentauchern, den Bootsleuten und Fischern im wasserreichen Mittel- und Südchina. Im modernen China bedurfte es erst der spektakulären Yangzi-Überquerung eines Mao Zedong 毛泽东 (1893–1976) in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, um in China die Schwimmkunst wieder in den Rang einer anerkannten Bewegungsart zu erheben.
293 294 295
Liu, Bingguo 1987, 115. Ebd. 115–116. Ebd.
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b) Kampfkunst 298 Zur traditionellen Kampfkunst gehören vor allem Schwert-, Stockund Faustkampf. Beim Schwertkampf ist die militärische Herkunft offenkundig. Schon die frühesten Schilderungen aus der Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. bezeugen, daß der Schwertkampf zwar als wichtige Kriegskunst galt, aber gleichzeitig auch zum Vergnügen des zhouzeitlichen Adels veranstaltet wurde. So enthält das Buch Zhuangzi ein kritisches Kapitel zu dem damals geübten Schwertkampf als ein gesellschaftliches Ereignis. Es beginnt mit folgenden Sätzen: »In einer früheren Zeit pflegte sich der König Wen 文 von Zhao 趙 am Schwertkampf zu ergötzen. Über dreitausend Meister erschienen als seine Gäste und kämpften vor ihm mit einander Tag und Nacht. Im Laufe eines Jahres starben über hundert von ihnen oder wurden schwer verletzt. Dennoch wurde er des Schauspiels nicht müde, so sehr liebte er es.« 299
In ihrer Grausamkeit unterschieden sich diese Veranstaltungen am Königshof kaum von den Gladiatorenkämpfen der Römer im ersten nachchristlichen Jahrhundert: »Die Haare zerzaust, der Hut hängt herab, Bart und Bänder durcheinander, das Gewand zerrissen. Der Kämpfer mit bösem Blick und kaum in der Lage zu sprechen. Da greift ihn der Gegner [ein letztes Mal] an: oben – Kopf ab, unten – ein Stich in Lunge und Leber.« 300
Wir erfahren weiter, daß der Kronprinz seinen Vater von seiner makabren Liebhaberei abbringen wollte. Man empfahl ihm Zhuang Zhou (4.–3. Jh. v. Chr.), der tatsächlich vor den König trat und 296 bǐ-jì 筆記, eine literarische Gattung, die sich seit der Songzeit (960–1279) entwickelte. 297 Vgl. Dahmer 2003, 2007. Im zuletzt publizierten Buch hat der Autor zahlreiche Gedichte aus dem vormodernen China zusammengetragen, die das Zitherspiel und die Wirkung von Musik überhaupt besingen. 298 Materialien zur Kampfkunst verdanke ich Ruf, M., Materialien zur chinesischen Kampfkunst. Kiel (unveröffentlichte Magisterarbeit) 1996, Wang-Scheerer 2007 und Dietsche, T., Der Habitus des chinesischen Kriegers. Aktuelle und frühe Konfigurationen. Kiel (Disputationsvortrag) 2010.
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ihn überzeugen konnte. Ganz beiläufig erläutert der Philosoph dem König in seiner Rede die Taktik des Schwertkampfes: »Ein guter Schwertkämpfer täuscht zunächst den Gegner, demonstriert Leere (xū 虛), [tut so, als öffne er sich], um sich so einen Vorteil zu verschaffen, denn er wartet, bis der Gegner losschlägt und kommt seinem Schlag zuvor.« 301
Obwohl sich Zhuangzis Schwertgeschichte als eine Parabel für rechtes politisches Handeln entpuppt, wurde dieser Merksatz zur goldenen Regel des Schwertkampfes und zur »Finte« der modernen Kampfkunst. Sie bringt zugleich anschaulich zum Ausdruck, daß im Kampf nicht zwei Gegner einander abschätzend gegenüberstehen, körperliche Signale ausschicken bzw. diese registrieren und innerlich verarbeiten, bevor sie reagieren. 302 Vielmehr sind beide aufeinander »eingespielt« und reagieren intuitiv vor jeder bewußten Reflexion, einander wechselseitig »einleibend«. 303 Sie bilden dabei eine übergreifende quasi-leibliche Einheit: eine gemeinsame Situation. Bildliche Darstellungen von Schwertkampf und Schwerttanz mit langen und kurzen Waffen sind uns seit der Hanzeit (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) auf Fresken und Wandgemälden erhalten. Wir sehen sie paarweise und in Gruppen kämpfen. Dem Buch der Riten (Liji) zufolge mußten die Söhne des zhouzeitlichen Adels ab ihrem 15. Lebensjahr neben den Kampfkünsten auch die zeremoniellen Kriegsschritte erlernen, waren diese doch Bestandteil der Opferriten für die Ahnen. Noch nach der Reichseinigung waren diese Kriegstänze nicht vergessen, denen die Kampfkunst ihre frühe ästhetische Ausgestaltung verdankt. Als Liu Bang 劉邦 (Reg. 206–195 v. Chr.), der spätere Begründer der Han-Dynastie (206 v. – 220 n. Chr.), zu Gast bei seinem Mitstreiter Xiang Yu 項羽 (232–202 v. Chr.) 304 weilte, markierte der Schwerttanz eine historische Wende, denn von diesem Zeitpunkt an waren die beiden ehemals verbündeten Rebellenführer offene Feinde: Fan Zeng 范曾, der Berater des 299 300 301
Kap. 30 »Shuojian«; vgl. Legge o. J., 626 ff. Zhuangzi ebd. Vgl. Wang-Scheerer 2007, 38. Ebd. 629.
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Xiang Yu, wollte Liu Bang töten lassen und beauftragte Xiang Zhuang 項莊, dies anläßlich eines Schwerttanzes zu tun: »Xiang Zhuang ging hinein, hob die Weinbecher und sagte: ›[…] In der Armee gibt es kaum Unterhaltung. Darf ich einen Schwerttanz vorführen?‹ Xiang Yu stimmte dem zu. Daraufhin zog Xiang Zhuang sein Schwert und begann zu tanzen. Da zog auch Xiang Bo 項伯 (ein Gefährte des Liu Bang, G. L.) sein Schwert und begann zu tanzen, wobei er Liu Bang mit seinem Leib schützte, damit Xiang Zhuang ihn nicht treffen konnte […].« 305
In die frühe Kaiserzeit fällt auch die Anreicherung der Kampfkunst durch philosophische Bezüge zum yin-yang-Denken und im Verlauf der nachchristlichen Jahrhunderte unter dem Einfluß von Daoismus und Chan-Buddhismus eine spirituell-meditative Überhöhung. Während der Tangzeit (619–906) nahm der Schwerttanz neue, mehr akrobatische und ästhetische Elemente in sich auf und vermochte den Kaiserhof und die hauptstädtische Gesellschaft zu begeistern. Auch die großen Dichter der Tangzeit (618–906) beschrieben den Schwerttanz. Das folgende Gedicht von Du Fu (712–770) trägt den Titel »Den Schwerttanz einer Schülerin der Meisterin 306 Gongsun betrachtend« 307: »[…] Das Schwert: Leuchtend wie die neun Sonnen, die Yi 翼vom Himmel herunterschoß: Kraftvoll wirbelnd in der Luft wie Götter auf einem Drachengespann Stürzt auf uns zu wie Donnern und Blitzen zugleich, bebend vor Zorn! Steht plötzlich still: gefrorener Glanz auf Flüssen und Seen […].« 308
Der Titel des Gedichtes zeigt zugleich, wie selbstverständlich sich damals auch Frauen und Mädchen in den Bewegungskünsten übten 302
Diese Sichtweise, an die wir uns in Europa gewöhnt haben, gründet ebenso auf der Subjekt-Objekt-Trennung wie auf dem sensualistischen Physiologismus, der Reduzierung auf die Körpersinne, insbesondere Augen und Hände. 303 S. Anhang 1. 304 Hierzulande aus dem Film von Chen Kaige: »Lebe wohl, meine Konkubine« als König von Chu 楚 bekannt. 305 Shiji 史記, Bd. 1, »Xiang Yu benji« 7, 313; vgl. Yang Hsien-yi/Gladys Yang (Transl.), Records of the Historian. Hongkong (Commercial Pr.) 1985, 218.
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und zur Meisterschaft gelangten. Als ein begnadeter Schwerttänzer der Tangzeit (618–906) galt schon zu seinen Lebzeiten Fei Min 斐 旻. Eindrucksvoll schildert das Duyizhi 獨異志 (Aufzeichnung von Merkwürdigkeiten) seine Kunst, und wie in dem Gedicht von Du Fu erfahren wir von der Spannung, die von seiner Vorführung unwillkürlich auf die Zuschauer übergriff und die er sich in der gemeinsamen Situation quasi »einverleibte«: »Min läßt das Schwert kreisen, stößt zu, mit der linken oder mit der rechten Hand. Wirft es zehn Fuß bis in die Wolken. Und wie ein Blitzstrahl saust es herunter. Min hebt die Hand, hält die Schwertscheide hoch, um es aufzufangen. Das Schwert stürzt herab, den Raum durchbohrend. Die Zuschauer – unter Tausenden keiner, der nicht vor Schreck erzitterte.« 309
Die Wirkung, die von diesen Schwerttanzvorführungen ausging, war nicht nur eine ästhetische, sondern vor allem eine Wirkung des qi, die es atmosphärisch in anderen Künsten nachzuahmen galt. So heißt es im Lidai minghuaji 歷代名畫集 (Sammlung berühmter Gemälde aus historischer Zeit): »Fei Min war herausragend im Schwerttanz; nachdem Dao Xuan 道玄 310 Mings Schwerttanz gesehen hatte, wurde seine Pinselführung immer besser.« 311 In der städtischen Gesellschaft der Song-Dynastie (960–1278), die das Reich nach dem Zerfall der Tang wieder geeint hatte, kamen neue Formen auf, wie der Kampf mit dem Stock und der Faustkampf. Die Vermittlung beider Kampfkünste entwickelte sich regelrecht zur Profession, wenn auch vor allem »nachberuflich«, denn häufig waren es entlassene Militärs, die sich auf diese Weise ihren Lebensunterhalt verdienten. Dem Geist der Zeit bzw. deren Gelehrtenkultur entsprechend, aber auch bedingt durch neue Kriegstechniken, 312 trat der ursprünglich kriegerische Aspekt dabei immer mehr in den Hintergrund: In erster Linie ging es bereits damals 306 307 308
Bezeichnung für eine ältere Frau, auch »Tante«. Guan Gongsun daniang dizi wujianqi xing 觀公孫大娘弟子舞劍器行. Vgl. Wu Juntao 1981, 217.
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schon um das Vergnügen der städtischen Bevölkerung. In dem mingzeitlichen Volksroman Shuihuzhuan 水湖傳 (Die Geschichte vom Seeufer) 313, der in der Songzeit spielt, fällt anläßlich einer Stockvorführung eines sogenannten Meisters die Bemerkung: »Was ihr die Burschen lehrt, ist der geblümte Stock; nur schön anzusehen, aber nutzlos im Kampf.« 314 Die Ming-Dynastie (1368–1644), die selbst durch eine Aufstandsbewegung an die Macht gekommen war, verbot kurzerhand Schwert- und Stockkampf aus Angst vor Rebellionen. Die Bevölkerung aber wußte aus der Not eine Tugend zu machen und pflegte die Kampftechniken ohne Speer und Schwert, d. h. man benutzte vor allem Hände 315 und Füße. Einige Formen verloren dabei endgültig jeglichen offensichtlichen Kampfcharakter. Sie stellten sich eher als Gymnastik mit Atemübungen dar, wie heute noch das tài-jí-quán 太極拳, das auch bei uns als »Schattenboxen« bekannt und beliebt ist. Wie populär die Kampfkünste aber trotz des Verbots immer noch waren, zeigen zahlreiche zeitgenössische Holzschnitte. Eine Besonderheit der Epoche ist die Herausbildung von regelrechten Schulen mit ihren spezifischen Grifftechniken und Bewegungsabläufen. Am berühmtesten waren die Faust, Stock- und Speerkämpfer von Shaolin. Der Shaolinsi 少林寺 war ein buddhistischer Tempel auf dem Berg Song 嵩山 in der heutigen Provinz Henan, Kreis Dengfeng, einem der Fünf Heiligen Berge Chinas. Die Tempelgründung im Jahre 495 wird Kaiser Xiaowen 孝文 der Nördlichen Wei 魏-Dynastie (386–534) zugeschrieben. Spätestens, nachdem Bodhidharma 316 sich dort niedergelassen hatte, begann die kämpferische Tradition des Klosters. So will es die 309
Zit. n. Liu Bingguo 1987, 60. Dao Xuan ist niemand anders als der berühmte Wu Daozi, 吳道子, Maler und Kalligraph des 8. Jahrhunderts, der als »Heiliger der Malkunst aller Zeiten« gilt; ZWDZD Nr. 3453.616. 311 Zit. n. Liu Bingguo 1987, 60. 312 Vgl. G. Linck. »Das Spiel mit dem Feuer in China«, in B. Busch u. a. (Hg.), Feuer. Schriftenreihe Forum der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Bonn, Bd. 10, Elemente des Naturhaushalts II, Bonn, 2001, 501–512. 313 In der schon in den vierziger Jahren besorgten deutschen Übertragung von Franz Kuhn (Insel-Verlag) unter dem Titel Die Räuber vom Liangshan-Moor bekannt. 314 Zit. n. Liu Bingguo 1987, 61; vgl. Ruf 1996. 310
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Leib und Gefühl
Legende: Aus zwei Gründen soll jener, der als buddhistischer Patriarch doch Gewaltlosigkeit propagierte, beschlossen haben, die Mönche in Kampftechniken ausbilden, um den Tempel vor Übergriffen zu schützen, aber auch um die Mönche vor der Verweichlichung zu bewahren, die das lange Sitzen beim Meditieren auf Dauer mit sich brachte. Das Shaolin-Kloster überlebte die verschiedenen Enteignungen und Verfolgungen mehrerer Dynastien, die sich das Vermögen der buddhistischen Klöster zu eigen machen wollten. Ende der Sui-Dynastie war Shaolin das Zentrum eines buddhistisch inspirierten Bauernaufstandes. Seither war der chinesische Kampfsport mit daoistischen und buddhistischen Kreisen verbunden, die als Geheimsekten agierten und für zahlreiche Aufstandsbewegungen der Späten Kaiserzeit verantwortlich waren. Vor allem der Qing-Dynastie (1644–1911) als einer Fremdherrschaft machten sie immer wieder zu schaffen. So bekräftigte auch im Jahre 1728 der MandschuKaiser Yongzheng 雍正 (Reg. 1723–1735) das von der VorläuferDynastie ausgesprochene Verbot: »Ich habe gehört, daß es immer noch Leute gibt, die Faust- und Stockkampf vorführen bzw. üben. Sie nennen sich Meister und sammeln Schüler um sich und führen sie auf Abwege. Sie vergiften und verwirren gutgläubiges Volk. Sie gehen sogar so weit, den Begriff ›Lehre‹ für ihre verbrecherischen Aktivitäten zu benutzen. Immer wieder sorgen sie für Unruhe im Land. Um Ordnung in die lokale Verwaltung zu bringen, ist der Faust- und Stockkampf streng zu verbieten. Wer sich weiterhin selbst als Meister bezeichnet oder wer sich zum Zwecke der Übungen einem Meister unterstellt, soll gefaßt werden.« 317
Auch gegen das Shaolin-Kloster versuchte die Mandschu-Herrschaft vorzugehen. Doch die Unterdrückung bewirkte das Gegenteil: Die Shaolin-Kampfskunst wurde Teil der antimandschurischen patriotischen Bewegung und breitete sich nur immer weiter aus: »Suchst du die Kampfkunst unter dem Himmel, so gehe nach ShaoDas japanische Wort kara-te 空手 bedeutet »leere Hand«, d. h. »waffenlos«. Ca. 440 – ca. 528; chin. Putidamo 菩提達摩 oder kurz Damo 達摩 war ein indischer Patriarch, der im 6. Jh. nach China kam und dort nicht nur die Kampfkunst, sondern auch den Chan- (jap. Zen-)Buddhismus begründet haben soll. Vgl. Filipiak 2001, Wang-Scheerer 2007. 315 316
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lin! Suchst du die Shaolin-Meister, so begib dich in alle Vier Himmelsrichtungen!« 318 Wenn wir heute östlichen Kampfsport mehr mit Japan und Korea verbinden, so liegt das vor allem an den verworrenen Ereignissen auf dem Festland seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Regierung der Volksrepublik setzte zunächst die Unterdrückung der Kampfkunst-Traditionen fort. Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich die VR China auch in dieser Hinsicht wieder seiner Tradition zu besinnen begonnen und schickt die Shaolin-Mönche regelmäßig auf Reisen in den Westen. 319 Auf Taiwan ist die Tradition der Kampfkunst ungebrochen lebendig. Sämtliche Aspekte, die ihr im Verlauf der Geschichte zugeflossen sind, werden hier im kulturellen Gedächtnis bewahrt: (Kampf)kompetenz nicht zuletzt als Resonanzverhalten 320 und kulturspezifisches Aufmerksamkeitstraining, (Kampf)kunst im Sinne einer tänzerisch-ästhetischen Ausgestaltung und nicht zuletzt philosophische, spirituelle und moralische Überhöhung. 321 c) Fußballspiel 322 Am Beispiel des Fußballs soll nun die Geschichte eines Wettspiels verfolgt werden, das in China lange Zeit sehr populär war. Hier sind die Wendepunkte besonders deutlich zu erkennen, an denen eine vielfältige Bewegungskultur im Prozeß der Leibkörperhemmung zu verarmen und zu degenerieren begann. China hat nicht nur als erstes Land die Seidengewinnung, Papier und Papiergeld, Schießpulver, Buchdruck, Kompaß usw. erfunden; 323 auch das Fußballspiel scheint zum ersten Mal in China belegt zu sein. Der früheste Hinweis – außer bestimmt nicht sehr stoßfesten Keramikbällen aus vorgeschichtlicher Zeit – findet sich im Zhanguoce (Pläne der Kämpfenden Staaten); er stammt also noch aus der Zeit vor der Reichseinigung: 317
Liu, Bingguo 1987, 66; Übs. Ruf 1996, 70. Liu, Bingguo 1987, 67; Übs. Ruf 1996, 74. 319 Wang-Scheerer 2007. Auf Taiwan und in Hongkong war die Kampfkunsttradition ungebrochen. 318
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»[Allein] in der Hauptstadt [von Qi 齊 …] leben 70 000 Menschen […]. Alle vergnügen sich mit Flöten, Trommeln und Zither, [erfreuen sich] an Hahnenkämpfen und Hunderennen, am Schach- und Fußballspiel.« 324
In der Gründungszeit des Kaiserreiches entstand dann bereits der erste Fußballklassiker der Welt, das Daqiu ershiwupian 打球二十 五篇 (Fünfundzwanzig Kapitel über das Fußballspiel). Zahlreiche Steinreliefs sprechen für die Popularität des Fußballs in dieser Epoche, bei der Oberschicht ebenso wie bei der einfachen Bevölkerung. Liu Bang (Reg. 206–195) 325, der schon erwähnte Begründer der Han-Dynastie, soll sich in kindlicher Pietät geübt haben, indem er das Fußballspiel förderte: Nach der Umsiedlung seiner Eltern in den Palast ließ er eigens für sie einen Fußballplatz nach dem Vorbild ihres Heimatdorfes anlegen, um ihren Lebensabend vergnüglicher zu gestalten. Daß auch das Fußballspiel vom makro-mikrokosmischen Resonanzdenken der Hanzeit (206 v. – 220 n. Chr.) nicht ausgespart blieb, geht aus einer Steininschrift hervor: Der runde Ball entsprach dem Himmel und der viereckige Platz der quadratischen Erde! 326 Aus dieser frühen Epoche liegen uns auch spieltechnische Daten vor: Der Ball war aus Leder gefertigt und mit Federn und Haaren ausgestopft; entsprechend plump und schwerfällig muß er gewesen sein. Das erklärt auch die niedrige Höhe von insgesamt zwölf Toren, sechs zu beiden Seiten des Platzes; die Mannschaft bestand aus zwölf Männern, die von zwei Schiedsrichtern zur Einhaltung der Spielregeln angehalten wurden. Wie der Schwertkampf beruht auch das gemeinschaftlich geübte Fußballspiel auf der wechselseitigen Einleibung, auf dem Dialog leiblicher Kommunikation 327. Dies erklärt, warum den Offizieren das Fußballspiel geeignet erschien, nicht nur Körperkraft und Ausdauer, sondern auch 320
In Begriffen der Neuen Phänomenologie: Einleibung in einer übergreifenden gemeinsamen Situation; s. Anhang 1. 321 Dietsche, T., Der Habitus des chinesischen Kriegers. Kiel (Disputationsvortrag) 2010. 322 Auch die Ausführungen über das Fußballspiel entstammen Liu, Bingguo 1987. 323 Beeindruckende Beispiele in: Temple 1991 sowie Needham u. a., Science and Civilization in China, 1985 ff. 324 Zhangguoce zhuzi suoyin, Kap. 112, 54.
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Aufmerksamkeit und Reaktionsgeschwindigkeit der Soldaten zu trainieren. 328 Rund sechshundert Jahre später, gegen Ende der Frühen Kaiserzeit, hatte sich die Spieltechnik verändert: Der Ball war jetzt sehr viel leichter, bestand er doch nunmehr aus einer mit Luft gefüllten Tierblase, die mit einem Lederlappen aus acht miteinander vernähten Teilen überzogen war. Von den zwölf Toren der Hanzeit war nur noch ein Tor übrig geblieben, und zwar ein hohes in der Mitte des Platzes, während die Mannschaften nunmehr an beiden Seiten aufgestellt waren. Wer die meisten Tore erzielte, ging als Sieger aus dem Spiel hervor. 329 Wie der Schwertkampf war auch das Spiel mit dem Fußball bei Frauen und jungen Mädchen beliebt. So schildert uns ein Autor der Tangzeit (618–906) folgende Szene, die er bei einem seiner Spaziergänge durch die Straßen der Hauptstadt Chang’an erlebt hatte: Am Straßenrand standen drei junge Mädchen unter einem Schurbaum, in Holzpantinen und zerlumpten Kleidern. Ganz in der Nähe spielten Soldaten Fußball. Der Ball scherte aus, die Mädchen nahmen ihn an und kickten ihn in hohem Bogen zurück. Ein Spiel begann, und auch die Zuschauer blieben nicht aus. 330 Von den berühmten Tang-Dichtern Wang Wei 王維 (701–761) und Du Fu (712–770) wissen wir, daß am Totenfest, dem Fest der Ahnen, unter anderem auch Fußball gespielt wurde. Das Gedenken der Ahnen fand jährlich im Frühling statt. Da an diesem Tag warmes Essen ohnehin tabu war, verbrachte die Bevölkerung das Fest mit Ausflügen und spielerischen Aktivitäten im Park oder in der freien Natur: »Der Fußball steigt höher als Vogelflug Die Schaukel wetteifert mit der Trauerweide […].« 331
In der nachfolgenden Epoche der Mittleren Kaiserzeit machten sich 325
Jener erfolgreiche Gegenspieler des Xiang Yu; von beiden war w. o. im Zusammenhang mit dem Schwertkampf die Rede. 326 Liu, Bingguo 1987, 13; vgl. die Analogie zum runden Kopf des Menschen und seinen quadratischen Füßen im w. u. skizzierten Leibbild, s. III.2; sowie die gài-tiān 蓋天–Lehre in III.3.b. 327 Schmitz 1990, 135. 328 Liu, Bingguo 1987, 12–13.
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bereits die Schatten neokonfuzianischer Bewegungshemmung bemerkbar: Von Zhu Xi (1130–1200) selbst stammt der folgende Satz: »Die meisten Dinge, an denen junge Menschen ihre Freude haben, bringen sie ab vom eigentlichen Ziel.« 332 Doch lag die neokonfuzianische Ausrichtung zunächst nur in der Theorie vor: Nach wie vor fanden am Song-Hof regelmäßig Freudengelage statt, zu denen auch Fußball-Veranstaltungen gehörten: »Unter den zehntausend modischen Dingen kam die Fußballmannschaft an erster Stelle.« 333 Inzwischen hatte sich eine neue Variante des Spiels durchgesetzt, zumal auch der Ball bereits seit der Tangzeit (618– 906) an Perfektion gewonnen hatte. Das Oberleder war fest vernäht und runder als je zuvor, der Ball wog auch sehr viel weniger. Ein solches »Leichtgewicht« konnte mit allen möglichen Körperpartien gespielt werden. Außer den Kicks mit Füßen, Beinen und Knien waren auch Schulter-, Rücken-, Brust- und Kopfbälle erlaubt, damit der Ball auf keinen Fall den Boden berührte – so wollte es die Regel. Auch Profi-Stars brachte die Epoche hervor. Die ganz großen sind uns sogar namentlich bekannt; nicht selten zeigt ihr Lebenslauf, daß damals schon Talent und Geschicklichkeit Mitgliedern der unteren Schichten eine Chance zum sozialen Aufstieg boten.
329 330 331 332 333
Ebd. 15. Ebd. 14. Ebd. 15. Jinsilu 近思錄, vgl. Chu Hsi/Lü Tsu-ch’ien 1967, 262. Cujupu 蹴鞠譜, zit. n. Liu Bingguo 1987, 17.
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Abb. 4: Hofdamen beim Fußballspiel 334
Vor der Veranstaltung pflegten die Spieler jeweils sechs Becher Wein (!) zu leeren, ein weiterer Hinweis darauf, daß sich neokonfuzianische Moralisierungsbestrebungen noch nicht allgemein durchgesetzt hatten. Das konnte aber auch nur bedeuten, daß die Spieler trinkfest waren, denn das Publikum bewunderte die Fußballstars nur, wenn sie als Sieger aus dem Spiel hervorgingen; dann gehörten ihnen Geld und Sympathie. Wehe aber den Verlierern! Diese sahen sich zusätzlichen Demütigungen ausgesetzt, wurden sie doch zur Schande mit weißem Puder beschmiert oder sogar mit der Hanfpeitsche malträtiert. Die Fußballer der Songzeit (960– 1278) hatten sogar ihre eigene Gewerkschaft, eine Fußballgilde zum Schutz und zur gegenseitigen Hilfe. 335 Die Zeit der Profis bedeutete offenbar zugleich das Ende des »Breitensports«, denn nach der Songzeit sind keine Fußballspiele mehr in der einfachen Bevölkerung erwähnt. Wir erfahren lediglich, daß sich Freudenmädchen der Mingzeit (1368–1644) mit dem Fußball vergnügten, offenbar zum besonderen Amüsement ihrer Kunden. 336 Du Jin 杜堇 (Mingzeit, 368–1644) Rennütu 任女圖; Shanghai Bowuguan; aus Liu Bingguo 1987, Anhang Abb. 6. 334
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Auch am Hofe verkam das Fußballspiel immer mehr. Ein blasser Abglanz früherer Fußballbegeisterung war das Ballspiel auf Eis, an dem sich immerhin noch der Mandschu-Hof, die letzte Kaiserdynastie, ergötzte. Die Literatur der Epoche spiegelt den Niedergang des Fußballspiels: So ist im Roman Hongloumeng 紅樓夢 (Traum der Roten Kammer), der als Sittengemälde des 18. Jahrhunderts gilt, das Fußballspiel nur mit einem Satz erwähnt, und im Liaozhaizhiyi 聊齋志異 (Merkwürdiges aus der Kammer Liao), einer der Kurzgeschichten von Pu Songling (1640–1715), laufen nur noch Gespenster, Fischgeister, dem Ball hinterher: Ein Mann, der sie beobachtet und unter den fünf Geisterspielern seinen verstorbenen Vater vermutet, versucht, an den Ball zu gelangen; doch als er ihn berührt, zerfällt das Lederknäuel, und die Fischgeister sind verschwunden – das traurige Ende einer langen Fußballgeschichte, denn im heutigen China ist das Spiel nicht besonders populär. 337 Jede weitere beliebige Bewegungsart kann, durch die Geschichte verfolgt, den chinesischen Prozeß der Leib- und Körperhemmung ebenso eindrucksvoll veranschaulichen: Gewichteheben und Ringkampf, Wettrennen, Tauziehen und Polo zu Pferde. 338 Die chinesische Gesellschaft war also nicht immer so bewegungsarm, wie sie heute auf uns wirkt. Vielmehr gab es Zeiten, wo sich Männer und Frauen aller gesellschaftlichen Schichten vergnügt und ausdauernd in Wettkampf und Spiel bewegten und dabei Geschick und Geschmeidigkeit, Kraft und Ehrgeiz an den Tag legten und ihre Zuschauer begeisterten. Die entscheidende Wende setzte in der Mittleren Kaiserzeit ein, und sie hatte nicht zuletzt damit zu tun, daß eine kriegerische Adelsgesellschaft durch eine Gesellschaft von Beamten und Gelehrten abgelöst worden war. Eine hübsche Anekdote aus der Geschichte des Ringkampfs kann – den Zweiten Teil abschließend – noch einmal vor Augen führen, wie 335
Liu, Bingguo 1987, 17. Ebd. 20. 337 Ebd. 21. 338 Vgl. die entsprechenden Kapitel in Liu Bingguo 1986. Neben der Kampfkunst überlebte die Akrobatik den Prozeß der Bewegungshemmung, wie Andre Hellers Show der »Begnadeten Körper« und die seither regelmäßig wiederkehrenden Shows des chinesischen Staatszirkus u. a. zeigen; Wang-Scheerer 2007. 336
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Exkurs: Leibbemeisterung, Kampfkunst und Spiel
angestrengt neokonfuzianische Philosophen der Songzeit (960– 1279) bemüht waren, massiv auf die öffentliche Moral und damit bewegungshemmend einzuwirken: »Euer ergebener Diener hat erfahren, daß sich Eure Heiligkeit am 28. Tag dieses Monats zum Xuande 宣德-Tor begab, wo man die Künstler zusammengerufen hatte, damit sie ihre Geschicklichkeit vorführten. Man händigte ihnen Schnüre mit Silbergeld aus. Unter ihnen befanden sich auch weibliche Ringer, die ebenfalls Geld erhielten. Oben saßet Ihr, Respekt erheischender Himmelssohn! Unten war ein Volk von zehntausend Menschen versammelt. Die Kaiserin und die kaiserlichen Nebenfrauen waren an den Seiten placiert. Es war der Befehl an die weiblichen [Ringer] ergangen, eine lockere Schau zu bieten: So wurde dafür gesorgt, daß sie nackt ihre Vorführung darboten. Ich fürchte, das ist nicht das, was man unter dem ›Gedeihen von Sitte und Gesetz sichtbar nach allen Vier Himmelsrichtungen‹ 339 versteht.« 340
339
Konfuzianische Erwartungshaltung gegenüber dem Herrscher. Eingabe des Sima Guang 司馬光 (1019–1086) an den Kaiser Renzong 仁宗; zit. n. Liu Bingguo 1987, 50. 340
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Dritter Teil: Mensch und Welt
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Im Dritten Teil beschäftigt uns das Verhältnis zwischen Mensch und Welt, denn die diesem Buch zugrunde gelegte phänomenologische Sicht verlangt geradezu nach Erweiterung des Horizontes über den Menschen hinaus, ist doch der Leib »Resonanzboden« aller Weltwahrnehmung. Im Kontext der chinesischen »Anthropo-Kosmologie« (Schwartz) kommen wir ohnehin nicht an diesem Aspekt menschlichen Daseins vorbei. 1 Welt ist hier im weitesten Sinne gemeint als das, wodurch der Mensch sich in seiner leiblichen Befindlichkeit beeinflußt fühlt, d. h. einschließlich der Wirkkräfte des Numinosen und der ihn umgebenden Natur 2. Bei aller reflektierenden Abstandnahme und menschlichen Selbstbehauptung hielten die chinesischen Philosophen grundsätzlich an der Einheit der Welt fest. Die chinesische Bezeichnung dafür lautet tiān-rén hé-yī 天人 合一 3. Ein einziges Mal vor der Auseinandersetzung mit dem Westen 4 zeichnete sich eine dualistische Weltsicht ab, und zwar im Gedankengebäude des Neokonfuzianers Zhu Xi (1130–1200). Beides soll hier zur Sprache kommen: der Monismus ebenso wie der Dualismus, auch wenn sich eine konsequent dualistische Weltsicht letztlich nicht durchsetzen konnte. Das erste Kapitel »Eine Welt aus qi« verfolgt Monismus und Dualismustendenzen entlang der Begriffsgeschichte von qi in der chinesischen Lehre vom Seienden. Im zweiten Kapitel »Die komplexen Leibschemata« stehen die Versuche im Mittelpunkt, sich – in einer Phase beeindruckender zivilisatorischer Schübe – der Einheit der Welt neu zu vergewissern; dies gelang z. B. dadurch, daß ein komplexes Netz makro-mikrokosmischer Resonanzen über die Welt gelegt wurde, an dem sich das offizielle Denken während der gesamten Frühen Kaiserzeit orientierte. Doch unaufhaltsam schritt »die Selbstbehauptung des Menschen« gegenüber Himmel und Natur voran, wenn auch nicht geradlinig 5; dies soll Gegenstand des dritten 1 Vgl. Yang 1993, insbes. 31 sowie Liu Zhanglin, Shuoqi 說氣, in: Yang 1993, 101–128. 2 Zur ausführlichen Auseinandersetzung mit Natur im engeren Sinne: Franke 1983, Roetz 1984, Linck 1989, 1999 sowie Zhang Yunfei 1995. 3 »Himmel und Mensch sind eins« bzw. »die Zehntausend Wesen und Dinge sind eins« (wàn-wù yī-tǐ 萬物一體). S. w. u. III.3.c (1). 4 D. h. seit dem 16./17. Jahrhundert.
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Mensch und Welt
Kapitels sein. Im vierten und letzten Kapitel, wiederum als Exkurs gestaltet, folgen Beispiele für eine eher spielerische Identifikation des Menschen mit Welt und Natur, wie sie ihren Niederschlag fand in Sprache und Schrift. 6
1. Eine Welt aus qi Wenn von Anbeginn chinesischer Selbstbesinnung eine Denkfigur wie das qi die Jahrhunderte überdauert, so muß es nicht verwundern, daß sich die damit verknüpften Vorstellungen immer vielfältiger gestalteten. 7 Und doch änderte sich an der Grundkonzeption nichts: Offenbar war die mit der Lehre vom qi verbundene Wahrnehmung einer dynamischen 8 und einheitlichen Welt so fest im chinesischen Denken verankert, daß reduktionistischen Anwandlungen nicht wirklich eine Chance vergönnt war. Geht es im ersten Abschnitt um die durch das qi bedingte a) Einheit der Welt, so hat 5
Die gedankliche Auseinandersetzung in diesem Prozeß kennzeichnet Teile der chinesischen Elite, während die übrige Bevölkerung im praktischen Umgang mit Natur und Umwelt mehr oder weniger unreflektiert die zunehmende Selbstbehauptung des Menschen vollzogen haben mag. 6 Im Sinne Lakoffs »Metaphores we live by«; vgl. Johnson 1987, der in seinem Buch mit dem Untertitel »The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason« fordert: »Putting the body back into the mind« und das folgendermaßen begründet: »The key to an adequate response to this crisis is to focus on something that has been ignored and undervalued in objectivist accounts of meaning and rationality – the human body, and especially those structures of imagination and understanding that emerge from our embodied experience […]. Through metaphor, we make use of patterns obtained in our physical experience to organize our more abstract understanding […].« XIV-XV. Schon in den 50er Jahren stellte van den Berg fest: »We are our body« und »The relationship between the body and the world [is] a continuous conversation«; ders. 1955, 83 bzw. 44. 7 Eine umfassende Übersicht findet sich in: Kubny 1995. 8 Bedingt durch den ununterbrochenen Prozeß der Wandlung des qi zwischen Verdichtung und Zerstreuung bzw. durch die wechselseitige Hervorbringung von yin und yang. Vgl. I.2.a-c.
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Eine Welt aus qi
uns nachfolgend der b) Reduktionismus als Dualismus zwischen lǐ 理 und qì 氣 zu beschäftigen, wie ihn Zhu Xi (1130–1200) begründete. Zuletzt verfolgen wir eine philosophische Tradition, deren Vertreter zwar an der Behauptung festhielten, Mensch und Welt seien eins; gleichzeitig arbeiteten sie kräftig daran, die Welt zu »entzaubern«, d. h. sie (personaler) religiöser Mächte zu entkleiden, waren diese doch damit befaßt, c) qi als Naturphänomen zu erläutern. a) Einheit der Welt Die Vorstellung von der Einheit der Welt ergibt sich (1) aus der Lehre vom qi und (2) aus den Weltentstehungslehren, die ebenfalls kurz zu Sprache kommen. (1) Lehre vom qi. Während uns im Ersten Teil des Buches der Anteil des qi am Sein und Werden des Menschen beschäftigte, einschließlich seines Bewußtseins, (s. I.2.a) stand im Zweiten Teil sein (gefühls-)atmosphärischer Aspekt im Vordergrund. Im Folgenden interessiert qi als ontologisches Konzept oder – um es mit Goethe zu sagen – als das, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. In diesem Zusammenhang wird qi häufig auch als der »Stoff« 9 bezeichnet, der für Beschaffenheit und Dynamik der Welt verantwortlich ist. Im weitesten Sinne des Wortes mag diese Charakterisierung zutreffend sein; doch ist »Stoff« zumindest mißverständlich, weil darunter eine materielle Substanz verstanden werden kann. In dieser Bedeutung würde aber dem substanziell und atmosphärisch verstandenen Terminus Gewalt angetan, zumal im kulturellen Gedächtnis des Abendlandes ein Stoffliches als materielle Substanz ein davon getrenntes Geistiges voraussetzt und damit Dualismus unterstellt. 10 Die nun folgenden quasi-definitorischen Aussagen, mit denen wir uns dem qi als Seinsprinzip annähern, sind chronologisch geord9 Vgl. Friedrich 1984, 80; selbst Schwartz verwendet mehrfach »stuff« 1985, 180, 184, 270, obwohl er ausdrücklich den Substanzbegriff für das chinesische Denken ablehnt. 10 Der Dualismus gründet ja gerade in der Vorstellung von zwei wesensmäßig unterschiedenen Prinzipien, wie Welt und Gott, Materie und Geist, Körper und Seele. S. Einführung Anm. 1.
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Mensch und Welt
net und bewußt den unterschiedlichen Traditionen entnommen. Vor dem Zitat steht die epochenspezifische und geistesgeschichtliche Einordnung, danach folgt eine kurze Erläuterung aus der Leib-Perspektive heraus: 1. 4./5. Jh. v. Chr., Daoismus 11: »yin und yang und die Vier Jahreszeiten bewegen sich kreisend und jedes nach seiner Ordnung. [Zuweilen sieht es aus wie] Verdunkelung, als ob [die Wesen und Dinge] verschwänden, und doch sind sie da. Auch wenn es so scheint, als ob alles dahingleite ins Gestaltlose, so wirkt doch ihr shén 神«. 12 Erläuterung: Obwohl vom qi an dieser Stelle nicht ausdrücklich die Rede ist, geht es um die Wandlungen des qi in seinen Aspekten yin und yang, shen sowie durch die Vier Jahreszeiten 13 hindurch. Gleichzeitig wird deutlich, daß qi sowohl den in der Welt sichtbar gestalteten Erscheinungen zugrunde liegt als auch den unsichtbaren, allenfalls noch gespürten atmosphärischen Einflüssen. 2. Ca. 4. Jh. v. Chr., Kommentar zum konfuzianischen Klassiker Chunqiu (Frühlings- und Herbstannalen): »Der Himmel verfügt über Sechs qi: yin, yang, Wind, Regen, Dunkelheit, Helligkeit.« 14 Erläuterung: qi ist umhüllende kosmische Atmosphäre. 3. Wang Chong (27–100), eigenständiger Denker der Hanzeit: »Alle Wesen und Dinge (wù 物), die leben und atmen, sterben dann, wenn qi abbricht.« 15 Erläuterung: Aus den Wandlungen des qi entstehen in der Welt Leben und Tod; qi ist umfassende Lebenskraft, die sich in den Wesen und Dingen der Welt individuiert; seine Verflüchtigung bewirkt den Tod. 16 11
Zur Rolle des qi bei der Entstehung der differenzierten Welt aus daoistischer Sicht s. den w. o. zitierten Vers 42 aus dem Daodejing: I.2.a. 12 Zhuangzi, Kap. 22.2 »Zhibeiyou«; vgl. Legge o. J., 501. Um die im vorliegenden Buch verwendete Deutung noch einmal in Erinnerung zu rufen: Beim Menschen bezeichnet shen die gespürte Lebens- und Geisteskraft sowie Intellekt und Bewußtsein; im Kosmos bezieht sich shen auf den verfeinerten yang-Aspekt des qi: sichtbar als Lichtkraft der Gestirne, unsichtbar, aber doch spürbar in seiner Wirkung als alles durchwaltende Schöpferkraft; s. I.2.c. 13 Die Vier Jahreszeiten werden gelegentlich auch als die Vier qi (sì-qì 四氣) bezeichnet; vgl. Huangdi neijing suwen, Kap. 1.2. »Aiqi tiaoshen dalun«, Bd. 1, 20 ff. 14 Zuozhuan, Zhaogong 1. Jahr; vgl. Legge 1991, vol. V, 573. 15 Lunheng, Kap. »Daoxu«, Bd. 2, 422; vgl. Kubny 1995, 122.
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Eine Welt aus qi
4. Hanzeit (206 v. – 220 n. Chr.), konfuzianisches Ritenbuch: »Das qi des Himmels sinkt herab, das qi der Erde steigt auf.« 17 Erläuterung: Hier sind Einheit und Bipolarität der Welt ebenso angesprochen wie die Dynamik, die der bipolaren Einheit zugrunde liegt: Das eine geht aus dem anderen hervor; das eine bewirkt und bedingt das andere. 5. Frühe Kaiserzeit, Medizinklassiker: »Die Frühlingsmonate – das bedeutet Entwicklung und Entfaltung; Himmel und Erde sind gleichermaßen lebendig, und die Zehntausend Wesen und Dinge blühen auf […]. Die drei Sommermonate – das bedeutet Fülle und Pracht; Himmel und Erde tauschen ihr qi miteinander, und die Zehntausend Wesen und Dinge blühen [fort] und treiben [schließlich] die Frucht hervor.« 18 Erläuterung: Die jahreszeitlichen Wandlungen des qi bewirken alles Leben und Reifen. 6. Frühe Kaiserzeit, Ge Hong 葛洪 (ca. 280–340), alchimistischer Daoismus der Lebenspflege: »Der Mensch befindet sich inmitten von qi, und qi befindet sich im Menschen. Von den Zehntausend Wesen und Dingen in Himmel und Erde gibt es keines, das nicht des qi bedürfte um zu leben. Diejenigen, die sich gut darauf verstehen, das qi zu bewegen, nähren im Innern ihre lebendige Leiblichkeit, Bewußtsein und Geisteskraft (shén 神) und vermeiden von Außen üble [Einflüsse].« 19 Erläuterung: Beschrieben wird die durch qi bewirkte Einheit von Mensch und Welt. 7. Mittlere Kaiserzeit, Zhang Zai 張載 (1020–1077), ein eher atypischer Vertreter des sogenannten Neokonfuzianismus: 20 »Die Große Leere kann nicht ohne qi sein; qi muß sich sammeln und bringt so die Zehntausend Wesen und Dinge (wàn-wù 萬物) hervor. Die Zehntausend 16
Hier greift Wang Chong offensichtlich auf Zhuangzi zurück: »Das Leben des Menschen ist Sammeln (jù 聚) von qi; sammelt es sich, so gilt das als Leben, zerstreut es sich (sàn 散), gilt das als Tod.« Kap. 22.1 »Zhibeiyou«; vgl. Legge o. J., 499; Watson 1968, 235. 17 Liji, Kap. »Yueling«, 0288; vgl. die damit übereinstimmende Aussage im ebenfalls hanzeitlichen Lüshi chunqiu Kap. 1 »Mengchunji«, 6a bzw. Wilhelm, R. 1979, 2. 18 Huangdi neijing suwen, Kap. 1.2 »Siqi tiaoshen dalun«, Bd. 1, 21; vgl. Unschuld 1980, 222. 19 Baopuzi 保朴子, »Neipian«, Kap. 5.6, 0668. 20 Vgl. Friedrich 1996 sowie Ommerborn 1996.
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Wesen und Dinge müssen sich zerstreuen und gehen so in die Große Leere ein. Die Aufeinanderfolge von Ein- und Austreten [in die Welt bzw. aus der Welt] benötigt kein eigenes Zutun, sondern geschieht von selbst.« 21 Erläuterung: Die Große Leere entspricht keineswegs dem Nichts im Sinne des Nihilismus 22, sondern ist atmosphärisch aufgefüllt mit qi, und zwar mit einem qi bar jeder Differenziertheit und Individuation. Große Leere steht also für den Zustand des chaotisch-mannigfaltigen dao, aus dem alles herrührt und in den alles zurückkehrt. Zhang Zai (1021–1077) wiederholt hier zugleich das Sich-Sammeln und SichZerstreuen des qi 23 und bekräftigt erneut die auf dem qi gründende Einheit der Welt. 8. Späte Kaiserzeit, Wang Yangming 王陽明 24 (1472–1529), Hauptvertreter der sogenannten xin-xue 心學 (Herzschule): »Wind, Tau und Donner, Sonne, Mond und Sterne, die Gefiederten und die Vierbeiner, Gras und Bäume, Berge und Flüsse, Erde und [Fels]gestein bilden mit dem Menschen [durch ihren gemeinsamen] Ursprung eine Einheit (yī-tǐ 一體). Deshalb können die Fünf Getreidearten und die gefiederten [Tiere] und Vierbeiner den Menschen ernähren, Kräuter und Mineralien die Krankheiten des Menschen heilen. Nur weil alles gleichermaßen aus diesem einen qi besteht, kann es sich wechselseitig durchdringen.« 25 Zhangzi quanshu 張子全書 »Zhengmeng«, Kap. 1.1, 11. Zu Zhang Zais QiTheorie vgl. Ommerborn 1996. 22 Zu diesem offensichtlich gängigen westlichen Mißverständnis äußerte sich Dumoulin wie folgt: »Dem Wortsinn nach bedeutet ›Nirvana‹ Auslöschen, ist also dem ›Nicht‹ oder ›Nicht-sein‹ nahe. Trotzdem muß die nihilistische Nirvana-Interpretation abgelehnt werden […]« (Dumoulin 1978, 59) Die mögliche Übersetzung von nirvana mit »Auslöschen der Differenziertheit und Individuation« macht m. E. deutlicher, worauf die Erleuchtung hinauslaufen soll: auf den meditativen Zustand der Leere im Sinne der chaotisch-mannigfaltigen Undifferenziertheit. Vgl. auch Yamaguchi 1997, 149: »Es genügt an dieser Stelle zur Widerlegung der nihilistischen Interpretation der Hinweis, daß die gelebte Wirklichkeit des Nicht-Ich, die als Kern des Nirvana im Zenbuddhismus als ›Nicht-Geist‹ aufgefaßt wird, der positivsten, kreativsten Handlung des Menschen entspricht […] und niemals die Vernichtung oder Auslöschung der Weltwirklichkeit meint.« Vgl. auch Wagner 2003b, 123, der im Kontext mit der Lehre vom Dunkeln (xuan-xue) den chinesischen Begriff wú 無 (hier: das Undifferenzierte) zwar mit negativity übersetzt, aber explizit keinen Nihilismus unterstellt. 23 Mit Zhuangzi als dem locus classicus, Kap. 22.1 »Zhibeiyou«; vgl. Legge o. J., 499, Watson 1968, 235, im vorliegenden Buch: I.2.a. 24 Mit dem persönlichen Namen Wang Shouren 王守仁. 21
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Erläuterung: Auch hier wird die Einheit der Welt noch einmal bestätigt, bevor in den nachfolgenden Jahrhunderten das traditionelle Weltbild auseinanderfällt. 26
Die Reihung von Zitaten sollte verdeutlichen, wie generell und durchgängig im vormodernen China die einheitliche Welt auf der Grundlage ein- und desselben qi unterstellt wurde. Fassen wir noch einmal die paradigmatischen Eigenschaften des qi zu sechs Aspekten zusammen: 1. qi ist eine dem gesamten Kosmos und damit auch dem Menschen zugrunde liegende Lebens- und Antriebskraft. 2. Dies setzt seine Dynamik voraus, die sich aus den ununterbrochenen Wandlungen zwischen den Polen Verdünnung/Zerstreuung/Leere auf der einen und Verdichtung/Sammlung/Fülle auf der anderen Seite ergibt. 3. Charakteristische Manifestationen zwischen beiden Polen – sichtbar, aber noch nicht fest – sind der Morgennebel auf Wiesen, der Rauch des Feuers und das Wasser. 4. Fragen wir nach der leiblichen Erfahrung, die dem qi-Konzept vorausgegangen sein mag, nach seinem »Sitz im Leben«, so könnte qi das durch tiefes Ein- und Ausatmen bewirkte Spüren von leiblicher Fülle (Engung) und Leere (Weitung) sein. Dabei ist für jeden auf Anhieb vollziehbar, wie das eine das andere zwangsläufig hervorbringt (Komplementarität). Auch die jahreszeitlichen qi kommen als »Sitz im Leben« infrage ebenso wie der zunehmende und abnehmende Mond. 5. In der Nähe des yang-Poles Zerstreuung ist qi zwar unsichtbar, aber atmosphärisch spürbar: weich und durchdringend; in der Nähe des yin-Poles Verdichtung ist qi gestaltete und gefestigte Form: tastund sichtbar. 6. Die atmosphärisch-fließende Beschaffenheit scheint zu überwiegen – ganz im Sinne der frühesten Abbildung auf den Orakel25
Yangming chuanxilu, Kap. 3, 95a; übs. in Anlehnung an Kubny 1995, 340. Kubny 1995, 349 formuliert am Ende seiner großangelegten Entwicklungsgeschichte des Begriffs qi diese Auflösung wie folgt: »Die Einheit des Begriffs qi verlor sich in der Pluralität seiner Anwendungsmöglichkeiten und konnte nur noch als Partialkonzept verschiedener Wissensgebiete verstanden werden.« 26
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knochen in Form dreier Wellenlinien, deren Bedeutung sehr schön mit dem deutschen Wort »Wallen« wiederzugeben ist. 27 Zum vorwiegend atmosphärisch-fließenden Charakter des qi passen folgende metaphorische Umschreibungen: »fließendes Wasser« (liú-shuǐ 流 水), »wildes Pferd« (yě-mǎ 野馬), das »Wandernde und Treibende« (xiāo-yáo-yóu 逍遙遊) 28, »streunendes hun« (yóu-hún 遊魂). 29 (2) Entstehung und Struktur der Welt. Die Einheit der Welt tritt neben der Lehre vom qi besonders anschaulich in den chinesischen Weltentstehungslehren zutage, die über die Jahrhunderte hinweg formuliert und variiert wurden. 30 In den Kosmogonien figuriert häufig die Zusammensetzung hùn-dùn 渾沌 31. Beide Zeichen mit dem Signifikum »Wasser« transportieren neben der Grundbedeutung von »reißendem Wasser« die Bedeutungen »trübe« und »ungeordnet«. 32 Die Wortverbindung steht für das Urchaos, den Zustand vor jeder Differenzierung und Individuation. 33 Nun erscheint das Kompositum 34 im Buch Zhuangzi an einer Stelle, die schlagartig die leibliche Grundlage dieses kosmisch gedachten Urzustandes offenbart. Danach handelt es sich um nichts anderes als den Zustand absichts- und gedankenloser Selbstvergessenheit. Anläßlich einer wiederholten Begegnung zwischen einem gewissen Yunjiang 雲將 35 und einem gewissen Hongmeng 鴻蒙 36 gibt letzterer ersterem folgendes zu bedenken: »Dein Herz bedarf der Nahrung! Folge Du dem nicht-[absichtsvollen] Handeln (wú-wéi 無為) 37, und die Dinge wandeln sich von selbst. Laß fallen Deinen Körperleib (xíng-tǐ 形體)! Laß ab 38 von Deiner Hör- und 27
Der Ausdruck »Wallen« (Friedrich o. J.) verweist sowohl auf das Flüssig-Fließende als auch auf das Gespürte, etwa in unserem Wort »Hitzewallungen«. 28 Titel des 1. Kapitels im Zhuangzi. 29 Belegstellen finden sich in Kubny 1995, 82, 102. Zu hun s. auch I. Exkurs. 30 Vgl. dazu Girardot 1983; Friedrich 1984 und Ommerborn 1996. 31 Vgl. dazu ausführlich Girardot 1983. 32 CY, 0989.3 und 0937.4. 33 Ebd. 0989.4 sowie Zhongguo ruxue cidian, 809b. 34 Und zwar jeweils verdoppelt; s. letzten Satz im folgenden Zitat. 35 Wörtl. »Wolken-General«. 36 hong bedeutet »Tiefe«, »Weite« und meng »bedecken« bzw. »Torheit«; hong-meng steht auch synonym mit dem Urchaos. Personifiziert steht Hongmeng hier also für die im Urgrund verwurzelte Weisheit des Großen Menschen, der absichtslos wan-
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Sehfähigkeit (cōng-míng 聪明)! Vergiß, was Dich an die Dinge bindet […]. Laß Dein Herz los (jiě-xīn 解心)! Laß Dein Bewußtsein los (shì-shén 釋神) […]. Die Zehntausend Wesen und Dinge kehren zur ihrer Wurzel zurück (fù-gēn 復根); sie kehren zu ihrer Wurzel zurück und wissen es nicht. [Der Zustand] des hùn-hùn dùn-dùn 渾渾沌沌 verläßt sie nie ganz […]!« 39
Zwar ist hier von der meditativen Rückkehr ins Chaotisch-Mannigfaltige des Urzustandes die Rede – leiblich gesprochen von personaler Regression. 40 Doch kann das Zitat zugleich den umgekehrten Vorgang veranschaulichen, der im Zusammenhang mit den Weltentstehungslehren von Interesse ist und den die Philosophie Individuation nennt. Diesem wiederum entspräche der leibliche Vorgang personaler Emanzipation, der mit dem Zustand primitiver Gegenwart als das Erwachen aus dem Zustand »gedanken-losen« Dahin-Währens, Dahin-Dämmerns einsetzt. 41 Steht im Zhuangzi-Zitat die meditative Leiberfahrung im Vordergrund, so findet sich im Daodejing die reine Beschreibung des kosmischen Vorgangs: »Es gibt ein Etwas, in dem das Chaos 42 vollständig ist, es geht Himmel und Erde voran. Still ist es und grenzenlos, selbständig und stetig. Es dreht sich im Kreise und erschöpft sich nicht. Man kann es als die Mutter bezeichnen von allem, was unter dem Himmel ist. Ich kenne seinen Namen nicht. Sein Zeichen ist dào 道.« 43
Die Hanzeit (206 v. – 220 n. Chr.) fügt diesem Grundgedanken nichts Originelles mehr hinzu, sehen wir einmal davon ab, daß er delt bzw. in diesem Falle »hüpft« und »tanzt« und deshalb von den vordergründigen »Weltmenschen« für tumb und närrisch gehalten wird. 37 Nicht-Handeln bzw. jenes Handeln, das absichtsvolles, erst recht gewaltsames Eingreifen in den spontanen Verlauf der Dinge vermeidet. 38 Wörtl. »ausspucken« (tǔ 吐). 39 Zhuangzi, Kap. 11.5 »Zaiyou«; vgl. Legge o. J., 350. 40 S. Anhang 1. 41 Die Fünf Hauptaspekte primitiver Gegenwart sind: Hier (Raum) und Jetzt (Zeit), Dasein (Wirklichkeit), Dieses (Sosein) und Ich als das Bewußtsein subjektiver Betroffenheit; s. Anhang 1. 42 Zum Urchaos als dem undifferenzierten Zustand vgl. die Umschreibungen in Daodejing, Vers 20; vgl. Legge o. J., 111 und Schwarz 1980, 70.
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im Buch Huainanzi mit dem für die Epoche charakteristischen Resonanzdenken verknüpft ist. Daraus entstand dann eine allerdings atemberaubende Aneinanderreihung von Eindrucksanalogien. 44 Wirklich Neues steuerte die schon im Kontext mit der Introjektion der Gefühle erläuterte Lehre vom Dunkeln 45 zum Weltentstehungsgedanken bei: Wie der Name schon andeutet, handelte es sich um eine philosophische Richtung, die im Vergleich zu den vorangegangenen Kosmogonien den Boden der Phänomene hinter sich läßt und mit scharfen Begriffen ein abstraktes Setzungsvermögen unter Beweis stellt. Damit wurden ihre Vertreter in gewissem Sinne zu Wegbereitern eines neokonfuzianischen Reduktionismus 46, weshalb sie im nächsten Abschnitt etwas ausführlicher zur Sprache kommen. Hier sei lediglich auf eines ihrer signifikanten Konzepte verwiesen, nämlich wú-jí 無極, das die Vertreter dieser Lehre an die Stelle des Urchaos, des dao bzw. des hanzeitlichen tài-jí 太極, setzten. Hier ist wu-ji 47 bewußt im Gegensatz zu tai-ji gedacht und diesem bei der Weltentstehung vorangestellt: Ist mit tai-ji der »Große Pol« bzw. »die höchste Begrenzung« gemeint, so bedeutet wu-ji »ohne Pol« bzw. »ohne Begrenzungen« sein. 48 Nunmehr interpretierten die Philosophen um Umkreis der xuan-xue – womöglich unter buddhistischem bzw. altindischem Einfluß – wu-ji als das NichtSeiende bzw. Nichts, das alles Seiende hervorbringt. Damit war das Postulat von der Einheit der Welt immerhin gefährdet. Einige Jahr43
Vers 25; vgl. Schwarz 1980, 75 sowie Legge o. J., 115. Simon 2009, 85. Huainanzi, Kap. 7 »Jingshenxun«, 54, ebenso Kap. 3 »Tianwenxun«, 19; zu letzterem vgl. die Übersetzung in Linck 2000, 21–22. 45 S. II.1.c. Vgl. auch Friedrich 1984 sowie Wagner 2003a. 46 Damit ist unterstellt, daß philosophische Besinnung, die sich von unmittelbarer Leib- und Lebenserfahrung entfernt, tendenziell zu Reduktionismus neigt. 47 Der Begriff wu-ji findet sich bereits im Daodejing, Vers 28 in der Bedeutung von »Unbegrenztheit« (Simon 2009, 97) bzw. »Urgründigkeit« (Schwarz 1980, 78), aber auch als »man’s first state« übersetzt (Legge o. J., 119), d. h. im Sinne des kosmischen und menschlichen Zustandes der Undifferenziertheit und Nicht-Individuation; der Begriff tai-ji wiederum scheint erst in der Hanzeit aufgekommen zu sein; vgl. CY 0381.3. 48 Wörtl. bedeutet tai-ji »der große Dachfirst« als oberste Begrenzungslinie einer geneigten Dachfläche. Hier wird eine begriffliche Differenzierung zwischen dem dao und dem Beginn der Weltentstehung eingeführt. Auf den Menschen im Zustand 44
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hunderte später sollte Zhang Zai (1020–1077) 49 diese Gefahr eines tendenziellen Dualismus wie folgt auf den Punkt bringen: 50 »Dies läuft auf die daoistische Lehre hinaus, nach der das [Vorhanden-] Sein (yǒu 有) aus dem Nicht-Sein (wú 無) entsteht, und das widerspricht dem grundlegenden Prinzip von der Einheit von [Vorhanden-] Sein und Nicht-[Vorhanden-]Sein.« 51
b) Reduktionismus 52 als Dualismus Keiner der Neokonfuzianer würdigte die (1) Lehre vom Dunklen als Vorläufer, obwohl signifikante Begriffe offensichtlich von dort entlehnt waren, allen voran lǐ 理. 53 So lautet auch das chinesische Wort für Neokonfuzianismus »Lehre von den ordnenden Prinzipien« 學理(li-xue). Aber auch in anderer Hinsicht bauten Neokonfuzianer wie (2) Zhu Xi (1130–1200) auf den Überlegungen dieser abstrakten philosophischen Strömung auf. der Meditation bezogen, zielt wu-ji auf die chaotische Mannigfaltigkeit als dem undifferenzierten Zustand personaler Regression, während tai-ji den Moment primitiver Gegenwart als der anfänglichen Entfaltung personaler Emanzipation bezeichnet. S. Anhang 1. 49 S. w. o. unter: III.1.a. 50 Hierbei bezog sich Zhang Zai auf seinen Zeitgenossen Zhou Dunyi 周敦頤 (1017–1073), der wie er dem Neokonfuzianismus zugeordnet wird, der womöglich nicht einmal diese Position vertrat, aber durch die Verwendung des Begriffes wu-ji falsch verstanden wurde; vgl. Kubny 1995, 306–307; zu Zhang Zai vgl. auch Ommerborn 1996. 51 Zhangzi quanshu, Zhengmeng, Kap. 1, 11. Die analoge Textstelle im Daodejing Vers 40 lautet: »Die Zehntausend Dinge der Welt enstehen aus dem you; das you entsteht aus dem wu«; Schwarz 1980, 90, Simon 2009, 128, Wagner 2006, 257. 52 Zum Reduktionismus s. Anhang 1. Der Reduktionismus, der am qi-Konzept vorgenommen wurde, setzt sich m. E. bis heute fort: Zwar wird die durch qi begründete Einheit der Welt nicht infrage gestellt, zumal sich mit dem Marxismus auch in China ein materialistischer Monismus, zumindest in Kreisen der Intellektuellen, durchgesetzt hat. Doch sowohl die volksrepublikanische Interpretation von qi als Energie, Materie und Information als auch die Versuche im Westen sowie in Japan, qi als meßbare Energie nachzuweisen, sehen vom atmosphärischen Gehalt des traditionellen qi-Begriffs ab; vgl. die Darstellung in Kubny 1995, 17–30, 60 ff. sowie 394–421; vgl. auch Heine 1994 und Liu, Zhangling 1993, 119 ff. 53 Vgl. Friedrich 1984.
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(1) Die Vertreter der Lehre vom Dunkeln deuteten die alten Begriffe, 54 die ihren Sitz im Leben noch preisgaben, auf eine Weise, die zweierlei durchblicken läßt: erstens, das Absehen von unmittelbarer Lebenserfahrung und damit zusammenhängend, zweitens, den Fortfall von Anschaulichkeit – zwei Aspekte, die nicht zuletzt dem Einfluß einer komplexen indischen Philosophie geschuldet waren und die sich in Zhu Xis reduktionistischen bzw. dualistischen Erläuterungen wiederfinden. Besonders deutlich zeigt sich die Neuinterpretation bei Wang Bi 王弼 (226–249), einem der herausragenden Vertreter der Lehre vom Dunkeln. Wang Bi stellte den altbekannten Begriff wú 無 in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Nur noch von ferne ähnelt er in Wang Bis Verständnis der »primordialen bezeichnungslosen Ursprünglichkeit« 55 des dao, dem Undifferenzierten, Chaotisch-Mannigfaltigen in den frühen Kosmogonien, einem Zustand, den es meditativ wieder zu erreichen gilt. Bei Wang Bi gerät wu zu einem »radikalen analytischen Begriff«, zu einer abstrakten »Negativität«, die dem, »was vorhanden ist« (yǒu 有) ontologisch vorausgeht. 56 Liest sich die Entstehung der Welt bei den frühen Philosophen wie eine Projektion der Leiberfahrung aus dem Zustand undifferenzierter Gegenwart 57, so macht Wang Bi offensichtlich daraus ein geradezu modern-konstruktivistisch anmutendes Gedankenspiel. Das zeigt sich deutlich in seinem Kommentar zu dem schon zitierten Vers 42 aus dem Daodejing, der wie folgt beginnt: »Das dao brachte das Eine hervor, das Eine brachte die Zwei hervor; die Zwei brachte das Dritte hervor. Aus der Drei wurde die Vielzahl, die Vielzahl der Wesen und Dinge […].« 58 Wang Bis Kommentar dazu lautet: 54
Zum Begriff li (wörtl. »Muster«, »Maserung«) bei Wang Bi, dem herausragenden Vertreter der Lehre vom Dunkeln, vgl. Wagner 2003b. Er findet sich davor z. B. im Zhuangzi (4.–3. Jh.), im Xunzi, im »Da-xue«-Kapitel des Liji sowie bei Wang Chong (27–100 n. Chr.) im Sinne von wiederkehrenden Mustern und Verhaltensweisen. Allgemein wurden die am Himmel zu beobachtenden Bewegungsmuster als tiān-wén 天文 (Himmelszeichen) den Strukturen der Erde dì-lǐ 地理 gegenüber gestellt. Wagner 2003b, 115. 55 Simon 2009, 106. 56 Wagner 2003b, 123; vgl. auch Elberfeld/Obert 2000, 22. 57 s. w. o. III.1.
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»Alle Dinge und Gestalten gehen auf Eins zurück (kui 59). Woraus wird Eins bewirkt? Aus Nichts 60 heraus. Aus Nichts und Eins: Darf man Eins Nichts nennen? Nennt man es schon Eins, wie kommt es dann zu dem Wort Nichts? Es hat (yu 61) ein Wort und es hat Eins (= das Wort für Etwas yu) und Eins von Etwas: wenn nicht Zwei, was dann? Es hat Eins und hat Zwei (= Eins von Etwas und Zwei von Etwas), so entsteht es dann in Drei. Hierin sind die Zahlen von Nichts zu Etwas vollendet, darüber hinaus gehört es nicht mehr zum Tao 62. So weiß ich um das Prinzip im Entstehen aller Dinge.« 63
Die Welt entsteht demnach aus dem Widerspruch zwischen dem Nichts 64 und seiner Negation, dem Etwas: Damit bleiben zwar Einheit und Dynamik des Weltgeschehens zunächst erhalten, was der letzte Satz im Zitat noch einmal hervorhebt. Und doch sind wir mit dieser eher abgehobenen Erläuterung Welten entfernt vom alten yin-yang-Denken als vielfältige kosmisch-atmosphärische Gegebenheiten bzw. Befindlichkeiten (s. II.1.b). Gleichzeitig erhebt Wang Bi den Menschen als begriffssetzend mit zum Schöpfer der Welt: Eins ist das Nichts, und Zwei ist der für das Nichts gesetzte Begriff (das Wort) 65: Durch diese Namhaftmachung verändert sich näm58
S. I.2.a. In der hier verwendeten Umschrift: guī 歸. 60 Selbst wenn man wu im Sinne früherer Vorstellungen als das »Nicht-Differenzierte« übersetzen wollte anstelle des »Nichts«, würde dies Wang Bis Argumentation m. E. nicht im Sinne der Frage nach dem Sitz im Leben konkreter machen; mit anderen Worten, auch damit läßt sich sein Gedankenspiel nicht dem Boden der Phänomene näherbringen. 61 In der im vorliegenden Buch verwendeten Umschrift: yǒu 有. 62 In der im vorliegenden Buch verwendeten Umschrift: dào 道. Hier ist bereits ein Dualismus zwischen den Dingen der Welt und dem dao vorgezeichnet. 63 Übs. Friedrich 1984, 38; vgl. Wagner 2003a, 266: »[…] On the basis of what is the One brought about? On the basis of negativity. As it is on the basis of negativity that there is the One, is it possible to call the One negativity? As it is already called the One, how could one manage to remain without a word [namely, the word One]? As there are both the word and the One, how could they not be two? Once there is both the One and the two, the three is generated as a consequence. The existing numbers coming from negativity and at this point [i. e. with number three]; from the point of going beyond this [all further entities] do not belong anymore of the realm of the Way […].« 64 Zum Verhältnis zwischen Zeit und Nichts aus unterschiedlicher kulturspezifischer Sicht vgl. Lazarin 1997. 59
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lich Wang Bi zufolge das ursprüngliche Nichts. So steht das begrifflich gefaßte Nichts als die Zwei neben dem ursprünglichen unfaßbaren Nichts. In der Drei erkennt das ursprüngliche Nichts sich selbst und erschafft dadurch die Welt. 66 Damit unterstellte Wang Bi, daß sich alles nur in dem eigenen begriffssetzenden Bewußtsein des Menschen abspielt, ein Gedanke, der womöglich der buddhistischen Idee von der Welt als Illusion des Bewußtseins entnommen war. 67 Schon die frühen Philosophen der Jahrhunderte unmittelbar vor Chr. waren nicht mehr fest und fraglos dem Seienden verhaftet gewesen: Ihre Selbstbesinnung war ja gerade ein Ergebnis früher Differenz-Erfahrung und Abstandnahme. Doch schimmerte durch deren Begriffe dao, qi, yin-yang und wu noch unmittelbare Leibund Lebenserfahrung hindurch 68. Anders in der Lehre vom Dunkeln, die ganz offensichtlich eine neue Art von Abstraktions- und Setzungsvermögen unter Beweis stellt: das Sich-Erheben der Reflexion über die in leiblicher Betroffenheit wahrgenommenen Phänomene. (2) Die Lehre von den ordnenden Prinzipien li: Entfernung vom Boden der Phänomene kennzeichnet erst recht einige Gedanken des Zhu Xi (1130–1200), der knapp ein Jahrtausend später bereits Vorgedachtes in ein geschlossenes System zu bringen vermochte. Seine synthetisierende Leistung bezog sich explizit auf ältere Vorbilder 69 ebenso wie auf die unmittelbaren Vordenker seiner eigenen Epo65
Daran lassen sich einige Assoziationen knüpfen, etwa »Am Anfang war das Wort« oder sprachphilosophisch: Das Undifferenzierte nimmt in dem Moment differenzierte Formen an, in dem der Mensch mit Worten/Begriffen zu unterscheiden beginnt, und nicht zuletzt systemtheoretisch: Differenzbildung durch Bezeichnung als Ersatz für den Zugang zur Welt. 66 Vgl. Friedrich 1984, 38–40. 67 Inbesondere hat die Yogacara-Schule – im Gegensatz zur Schule des Madyamaka (Nagarjuna) – die These vertreten, die Dinge bestünden nur als Erkenntnisvorgänge, nicht als »Objekte«. Zum umstrittenen Verhältnis zwischen Buddhismus und der Lehre vom Dunkeln stellt Friedrich für die weitere Entwicklung in China eher eine wechselseitige Beeinflussung fest und kommt zu dem Schluß: »Die unter dem Schlagwort Lehre vom Dunkeln zusammengefaßten Denker waren allesamt keine Buddhisten, und es nimmt ihren Leistungen nichts, wenn sich herausstellen sollte, daß sie eine gewisse Kongruenz zu buddhistischen Vorstellungen aufweisen sollten.« 1984, 72. 68 S. II.1.b.
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che 70. So gilt Zhu Xi in den Philosophiegeschichten denn auch als der Vollender des sogenannten Neokonfuzianismus, der nach der Songzeit (960–1279) alles spätere Denken entscheidend prägte. Zhu Xi brachte es nun zu einigen für die chinesische Ontologie signifikanten Neuerungen: Wie eingangs erwähnt, übernahm er von der Lehre vom Dunkeln den Begriff li und die damit verbundene Abstraktion. Daraus konstruierte er einen Dualismus von li und qi: Die Denkfigur li bezeichnet nach Zhu Xi die der Welt innewohnenden Ordnungsprinzipien jenseits bzw. »oberhalb aller [differenzierenden] Formen« (xíng-ér-shàng 形而上). Aufgabe des qi war es nun nicht mehr, durch das Hin und Her zwischen Zerstreuung und Verdichtung die Welt »in Atem«, d. h. alle Wandlungsprozesse in Gang zu halten. Vielmehr reduzierte Zhu Xi das qi darauf, die durch li vorgegebenen ewigen (!) kosmischen Ordnungsmuster vorübergehend in den Dingen der Welt in Erscheinung zu bringen: »diesseits aller Formen« (xíng-ér-xià 形而下) 71. Indem er qi nunmehr instrumentell auffasste, degradierte er die vormals umfassende Lebens- und Antriebskraft zu einem bloßen Gerät, Werkzeug, Gefäß (qì 器) 72. Um eine altchinesische Metapher aus dem Daodejing zu gebrauchen: War qi zuvor der Kraftstrom, der den Blaseblag 73 mit Leben füllte, so war davon nunmehr der aufgeblasene Balg selbst zurückgeblieben, ein Schlauch 74 ohne lebendigen Bezug zu seinem Inhalt. 75 Ein weiteres Beispiel kann die reduktionistischen Anwandlungen des Zhu Xi ebenfalls verdeutlichen: So verweist er auf die Geschmacksrichtungen, die er als Ausdruck unterschiedlicher Ordnungsprinzipien (li) interpretiert. Mit anderen Worten, wenn wir Süßes, Saures, Bitteres, Scharfes oder Salziges schmecken, so handelt es sich dabei nicht mehr um ganz69
Mengzi z. B. oder die beiden Kapitel »Daxue« und »Zhongyong« aus dem Liji. Shao Yong 邵雍 (1011–1077), Zhou Dunyi (1017–1073) sowie die Brüder Cheng Hao 程顥 (1032–1085) und Cheng Yi 程頤 (1033–1108). 71 Als locus classicus für diese Unterscheidung gilt das hanzeitliche Orakelbuch Yijing, wo es heißt: »Oberhalb des Gestalteten, spricht man vom dao, unterhalb des Gestalteten von den Gefäßen [für das dao]/Geräten/Werkzeug (qi).« Vgl. Zhongguo ruxue cidian, 692–693; vgl. auch Friedrich 1984, 35. 72 Man beachte das im Chinesischen beliebte Spiel der Gleichlautung. 73 Die Stelle im Vers 5 lautet: 天地之間其猶橐籥乎 und in der Übersetzung von Simon 2009, 23: »Der Zwischenraum, zwischen Himmel und Erde – ist er nicht 70
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heitlich-atmosphärische Qualitäten des qi, die aus bestimmten Nahrungsmitteln aufsteigen (s. II.3.b). Als Feinschmecker mag Zhu Xi diese mehrmals täglich sehr wohl genossen haben; doch sind sie philosophisch für ihn nicht relevant. Menschliche Tugenden sind demnach auch nicht in erster Linie als atmosphärische Ausstrahlung oder lebendige Wirkkraft einer Persönlichkeit spürbar, sondern sind angeborene Ordnungsprinzipien (li). Aus diesem reduktionistischen Verständnis heraus war es dann nur noch ein kleiner Schritt zu dem schon mehrfach angekündigten Dualismus 76. Lassen wir Zhu Xi selbst zu Wort kommen: »Was li (Strukturprinzip) und was qi genannt wird, sind zwei voneinander unterschiedliche Wesenheiten. Vom Standpunkt der Dinge aus gesehen, müssen diese zu einer Einheit verschmelzen und können nicht getrennt werden […] Vom Standpunkt des Strukturprinzips aus gesehen, stand li schon für die Dinge bereit, bevor diese existierten.« 77
Doch damit nicht genug: qi wurde nicht nur in seiner Funktion, sondern auch in seiner Beschaffenheit herabgewürdigt: Im Gegensatz zum ewigen, reinen und unsichtbaren Ordnungsprinzip li charakterisiert Zhu Xi qi als endlich, unrein und grob 78 – analog zur neokonfuzianischen Interpretation der angeborenen guten Natur und den das Bewußtsein verschmutzenden Emotionen (s. II.1.c). wie ein Blasebalg?« Auch Schwarz übersetzt tuó-yuè 橐籥 mit Blasebalg; analog ist die Zeichenzusammensetzung im CY 0883.1 erklärt. Wagner 2003a, 136 nimmt die beiden Zeichen auseinander und übersetzt: »[The space] between Heaven and Earth is like a drum or flute!« Das Eine schließt m. E. das Andere nicht aus, denn an beiden Windinstrumenten (Blasebalg und Flöte) läßt sich die Bedeutung: »leer und doch unerschöpflich« (xū ér bù qū 虛而不屈) veranschaulichen; vgl. auch Wagners Fußnoten s und t, ebd., 134. 74 Die Idee war schon im altchinesischen Bild der »Behausung« (shè 舍) potentiell ebenso enthalten wie im Bild der äußeren Hülle und Haut, welche die Zikade oder der Drache abstreift; doch war für Zhuang Zhou die Hauthülle, »die ein Inneres schützend umfaßt« mit diesem Inneren zu einem lebendigen einheitlichen Leib verschmolzen; Zhuangzi, Kap. 12.8 »Tiandi«; vgl. Legge o. J., 364). Erst der Tod als eine Wandlung des qi setzt letztlich die Möglichkeit des Ablegens der Haut, der Hülle, der Form frei. Die dahinter stehende Vorstellung ist eine ganz andere als die von einem bloß austauschbaren Behälter. 75 Zhuzi quanshu, 49. Kap. 3a.; vgl. Kubny 1995, 326. 76 S. die Definition in der Einführung.
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Somit war dem qi von den beiden Polen, zwischen denen es in vorangegangenen Kosmogonien und Ontologien oszillierte, offensichtlich der spürbare atmosphärisch-flüchtige Aspekt genommen, und qi stellte sich tendenziell als ein Tast- und Sichtbares, als Materie dar: Zhu Xis Reduktionismus implizierte also nicht nur eine dualistische, sondern auch eine materialistische Sicht von der Welt. Mit diesen gedanklichen und begrifflichen Neuerungen war Zhu Xi dem europäischen Dualismus und dessen Leitbild fester Körper erstaunlich nahe gekommen. c) qi als Naturphänomen Einiges spricht dafür, die frühe chinesische Philosophie als eine naturalistische zu interpretieren – mit anderen Worten als einen Versuch, sowohl die Einzelphänomene der Welt als auch deren Gesamtzusammenhang allein aus der Natur als Grund aller Realität zu begreifen. Dafür spricht einiges: die graphische Etymologie des Zeichens qi als Regenwolken (s. I.1.b); die sogenannten Fünf »Materialien« (wǔ-cái 五才) 79: Holz, Feuer, Erde, Wasser, Metall, 80 aus denen sich das spätere Konzept der Fünf Wandlungsphasen (wǔxíng 五行) entwickelte; oder auch die Phänomene, die als Acht Trigramme im altchinesischen Orakelbuch Yijing figurieren: Himmel, Erde, Donner, Wasser, Berg, Wind, Feuer und See. 81 Aus den frühen Quellen selbst sowie aus dem Kontext einer archaischen Agrargesellschaft ergibt sich jedoch, daß alle die genannten, für die Menschen in jeder Hinsicht »bemerkenswerten«, Phänomene nicht die reine Natur im modernen Sinne repräsentierten: Eingebettet in ein 77 Zhuzi quanshu 朱子全書, 49. Kap. 5b; Übs. Kubny 1995, 328. Zhu Xi zog diesen Dualismus selbst nicht konsequent durch, indem auch er »vom Standpunkt der Dinge aus gesehen« die Einheit zwischen dem »Eigentlichen/Grundlegenden« (tǐ 體) und dessen »Funktion/Gebrauch« (yòng 用) voraussetzte. S. I.2.c (1). 78 Zhuzi quanshu, 49. Kap. 1a; vgl. Kubny 1995, 327. 79 Zuozhuan, Xiang 27. Jahr: »Der Himmel bringt die wu-cai hervor, und die Menschen machen sich diese zunutze.«; vgl. Legge 1991, vol. V, 531. 80 Deren früheste Erwähnung findet sich im Kapitel »Hongfan« des Shangshu 尚書, auch Shujing 書經 (Buch der Urkunden) genannt, Legge 1991, vol. III, 325.
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umfassendes kosmologisches Weltbild lag ihnen vielmehr der Glaube an übergreifende göttlich-numinose Wirkkräfte zugrunde. Erst im Buch Xunzi läßt sich eine konsequente Distanzierung gegenüber einem Teilaspekt des Numinosen, nämlich den Göttern und Geistern, feststellen. Für Xunzi (298–238 v. Chr.) war der Himmel (tian) tatsächlich nicht mehr und nicht weniger als eine sich selbst bewegende Naturgesetzlichkeit. Nun dürfte Xunzi mit diesem radikalen Gedanken in seiner Epoche ziemlich alleine gestanden haben. 82 Außerdem hielt er sehr wohl nach wie vor an der Wirkkraft eines Numinosen fest, die er dao nannte (s. 1.3.b). Und doch war es offenbar Xunzi, der einen Prozeß philosophischer Selbstbehauptung des Menschen gegenüber Kosmos und Natur in Gang setzte, der im dritten Kapitel w. u. verfolgt wird. Seither zieht sich die Lehre vom qi als Naturphänomen wie ein dünner roter Faden durch das bunte Gewebe aus den unterschiedlichsten Vorstellungen. Bis ins 17. Jahrhundert hinein hantierten die Philosophen mit dem Begriff, ohne ihn jedoch – über die Bedeutungen Atem, Lebenskraft und Atmosphären hinaus – im alltäglichen Umgang mit Welt und Natur systematisch zu erproben. Song Yingxing 宋應星 (ca. 1600–?) 83 sollte es vorbehalten bleiben, eine wirkliche Naturlehre vom qi zu begründen, die auf aufmerksamer Beobachtung beruhte und eine logische Durchdringung der damit verbundenen Phänomene belegt. Hier interessiert vor allem eine Schrift, welche die Archivare vor nicht allzu langer Zeit erst entdeckten: eine Abhandlung über das qi (Lunqi 論氣). 84 Das qiKonzept erwies sich nämlich für diesen engagierten Naturforscher der Späten Kaiserzeit als höchst brauchbar: Dank seiner wiederholten Beobachtungen formulierte er Sinnzusammenhänge, die uns heute noch in Staunen versetzen, auch wenn er nicht in den Kate81
Wilhelm, R. 1990. Roetz 1984. 83 Song Yingxing war schon zu Lebzeiten berühmt durch die Veröffentlichung seiner handwerklich-technischen Enzyklopädie Tiangong kaiwu im Jahre 1637; davon wird weiter unten noch die Rede sein; s. III.3.c. Vgl. auch Sun, E-tu u. a. 1966 sowie Herrmann 2004. Ein nicht minder berühmter Zeitgenosse des Song Yingxing war Wang Fuzhi (1619–1692), der m. E. irreführend auch als »neokonfuzianischer Materialist« interpretiert wurde (Chan 1970, 692–702). S. III.3.c. 82
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gorien einer exakten Wissenschaft dachte – im Sinne des Nachprüfens durch Messen und Quantifizieren. Was er betrieb, war phänomenologische Naturwissenschaft im besten Sinne des Wortes: eine Naturwissenschaft, die von ganzheitlichen Eindrücken ausgeht, diese beschreibt und sinnvoll erklärt – ähnlich einer Phänomenologie von Wellen- und Windverhältnissen auf hoher See. 85 Song Yingxing beginnt seine Abhandlung mit der Erläuterung des Begriffspaars qi und xing (Gestalt, Körperleib). Ganz in der Tradition stehend setzte er ein dynamisches und einheitliches Weltbild voraus: das Hin und Her zwischen dem [Tast- und] Sichtbaren auf der einen Seite und dem Atmosphärisch-Flüchtigen, das unsichtbar bleibt, allenfalls noch spürbar ist, auf der anderen: »Das, was sich vom qi zu einer Gestalt wandelt, kehrt wieder zum qi zurück […]. Wenn qi beginnt, sich zu einer Gestalt zu wandeln, dann wird es für den Menschen sichtbar; wenn es sich aber plötzlich von der Gestalt zurück zum qi wandelt, dann wird es für den Menschen unsichtbar.« 86
Nach seiner Begriffsklärung handelt der Autor die Fünf Wandlungsphasen nacheinander ab: Song Yingxing will Feuer, Erde, Wasser, Metall und Holz als echte Naturphänomene verstanden wissen, die sich als Manifestationen des qi in ununterbrochener Wandlung befinden. Als erstes klärt er das Verhältnis zwischen Feuer, Wasser und qi: »Es ist so, daß das qi aus dem Nichts 87 kommt. Es setzt sich fort, so daß eine Gestalt entsteht. Die Gestalt separiert Wasser und Feuer […]. Treffen beide aufeinander, dann herrscht wahre Freude, und sie gehen in dieser Freude auf, umarmen sich aus Liebe in ihr, verschlingen sich in ihr, zerstreuen sich in ihr und wandeln sich innerhalb kürzester Zeit zurück zum qi […].« 88
Mit Hilfe des »Dreiecksverhältnisses« zwischen Wasser, Feuer und qi erklärt Song Yingxing nun ganz alltägliche Phänomene, z. B. das 84
Da mir die Abhandlung nicht zugänglich war, muß ich auf Kubnys 1995 Übersetzungen zurückgreifen, verzichte aber auf seine Hinzufügungen in Klammern; vgl. ebd. 356–373. 85 Vgl. Minssen 2003. 86 Lunqi; Übs. Kubny 1995, 461.
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Austrocknen eines feuchtwandigen Raumes oder den Unterschied zwischen einem frischen und einem trockenen Blatt. 89 Das Verhältnis zwischen Wasser und Staub (Erde) wiederum nimmt der Autor zum Anlaß, die unterschiedlichen Lebensräume von Menschen und Fischen zu besprechen. So findet er zu einer Erklärung, warum Fische in »reinem« 90 Wasser sterben und warum der Mensch stirbt, wenn das qi stirbt. 91 In diesem Kontext wird auch die Farbtönung des Wassers, insbesondere die des Gelben Flusses behandelt. 92 Nach der Betrachtung von Feuer, Wasser und Erde nimmt sich der Autor die Metalle vor, ihre Verringerung und Rückverwandlung: »Alles, was verloren geht, wandelt sich wieder zurück zur Erde, bis es sich in nichts aufgelöst hat. Aus diesem Grunde haben sich die vom Menschen genutzten Eisengeräte nicht vermehrt, obwohl das vom Menschen verhüttete Eisen mehrere zehntausend Millionen Massen groß ist.« 93
Nach den Fünf Wandlungsphasen befaßt sich der Autor mit dem qi als klimatischer Erscheinung, wie Regen und Wind, Hagel und Donner, Sommer und Winter. Dies ist ihm zugleich Anlaß, den Kreislauf der Natur wie folgt zu erläutern: »Alles in allem ist es so, daß verdorrte Äste, brachliegende Zweige, abgefallene Blätter, Vergammeltes und Abgefallenes modert und verfault und eine schmierige Masse bilden, die ihre lebende prachtvolle Gestalt verloren hat und nicht einmal mehr ein Zehntel ihrer ursprünglichen [Masse] ausmacht […] Aber es ist [im allgemeinen] unbekannt, daß das Verbrannte, Vermoderte und Verrottete in die Erde zurückkehrt, weg87
Eindeutiger wäre folgende Übersetzung: »[…] daß das qi aus dem Nicht-Differenzierten kommt«, denn das, was danach folgt, ist offensichtlich das sich in Formen und Gestalten zu Differenzierende; ansonsten ist die Abgrenzung gegenüber einer dualistischen Interpretation nicht möglich. 88 Lunqi; Übs. Kubny 1995, 480, 481. 89 Vgl. Kubny 1995, 482, 483. 90 »Reines« Wasser wird erläutert als Wasser, das nicht mit Staub/Erde in Berührung kam. Kubny 1995, 485. 91 Ebd. 485. 92 Ebd. 93 Lunqi; Übs. Kubny 1995, 468.
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geschwemmt wird, in die Abgründe dringt, um an den ›gelben Quellen‹ 94auf das mütterliche qi 95, in den eiskalten Höhlen auf die ursprünglichen Feinstessenzen (jīng 精) zu treffen. Dort wandelt es sich im Verlauf eines Jahres im Verborgenen wieder zum [ursprünglichen] qi.« 96
Auch der Kreislauf menschlichen Lebens, der wiederum von dem der Tiere, Pflanzen und Bäume abhängig ist, wird thematisiert: Die Notwendigkeit des Atmens und der Nahrung erläutert Song Yingxing ebenso ausführlich wie Störungen durch Verstopfung und Durchfall. Was immer er beobachtete, versuchte er durch das Wirken des qi zu erklären: die im Sommer verbrannte Haut und das im Winter feuchte Haar; einen frühen oder späten Tod, die Mumifizierung oder rasche Zersetzung des menschlichen Körpers nach dem Tode. 97 Song Yingxings Steckenpferd aber war das Verhältnis zwischen qi und Musik bzw. zwischen qi und den dadurch bewirkten Geräuschen und Tönen: »Wenn man einen Gegenstand nimmt und mit diesem auf einen [anderen] Gegenstand einschlägt, dann folgt das qi dem Gegenstand, den man ergriffen hat, und komprimiert sich an dem Gegenstand, auf den man eingeschlagen hat, so daß es einen Ton ergibt […]. Ebenso verhält es sich beim Bogenschießen, wobei der Ton nicht [bloß] am Pfeil liegt; oder beim Schlagen mit der Peitsche, wobei der Ton nicht [bloß] an der Peitschen-[Schnur] liegt; oder [beim Spiel mit] der Zither, wobei der Ton nicht [bloß] an der Saite liegt; oder auch beim Reißen eines Stoffes, wobei der Ton nicht [bloß] am Stoff liegt; oder beim Zusammenklatschen der Hände, wobei der Ton nicht [bloß] an den Händen liegt; oder beim Schlagen mit dem Hammer, wobei der Ton nicht [bloß] am Hammer liegt […]. [Der Ton] ist nur eine Bewegung innerhalb eines 94
Ursprünglich eine Bezeichnung für die Unterwelt: Gelb ist die Farbe der Erde, und die Quelle steht für den Ursprung, in den alles nach dem Tode zurückkehrt; vgl. Eberhard 1987, 104 u. 233. 95 In Übereinstimmung mit der Zuordnung Erde/das Weibliche/das Mütterliche. Hier findet sich eine Reihe von Metaphern, welche die Wahrnehmung in »gemeinsamen übergreifenden Situationen« gegenüber vereinzelten Sachverhalten veranschaulichen; s. Anhang 1. 96 Lunqi; Übs. Kubny 1995, 461–462; vgl. auch 467. 97 Kubny 1995, 490, 467, 462, 464, 465, 490.
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sehr kurzen Zeitraumes und ist eine Manifestation von qi […]. Wenn jedoch ein Pfeil lasch trudelt oder eine Peitsche schlaff [die Luft] durchfährt, die Saiten der Zither schlaff hängen […], die Handinnenflächen weich zusammen gelegt und der Hammer ruhig abgelegt wird, dann wird [das qi] im Spalt [zwischen den zusammentreffenden Dingen] weder durchbrochen noch durchbohrt […]. Nur, wenn das qi eine Kraft erfährt, dann bringt es ein Geräusch hervor.« 98
Weiter beantwortet Song Yingxing Fragen nach der Akustik, der Beschaffenheit von Klapphörnern, der räumlichen Ausdehnung von Tönen; er fragt danach, wieso Menschen diese Geräusche und Töne wahrnehmen, warum der Knall einer Kanone töten kann und warum sich in der Stimme die spezifische Lebenskraft eines Menschen kund tut. Alles ist ihm ein Zeichen von den Wirkungen und Wandlungen des qi. So gründet Song Yingxings Naturlehre auf der genauen Beobachtung von Phänomenen, die er alltäglich vorfindet; seine Erklärungen sind jederzeit der Lebenserfahrung zugänglich und damit nachvollziehbar und überprüfbar. Eines bleibt Song Yingxing zufolge allerdings ungeklärt 99: »[…] das größte Wunder [des qi der Erde], [mit anderen Worten] die Fähigkeit der Erde, das Leben aller Wesen zu beginnen: Die Ursachen dafür kennen wir nicht.« 100
98
Lunqi; mit kleineren Modifikationen folgt die Übersetzung Kubny 1995, 471– 472. 99 Die moderne Wissenschaft hat es gar nicht so viel weiter gebracht; vgl. Mainzer 1996, 76: »Die chemischen Elemente, aus denen das Leben auf der Erde entstand, haben sich in der kosmischen Evolution entwickelt. Verschiedene molekulare Modelle zeigen den Weg von der ›unbelebten‹ zur ›belebten‹ Materie in der präbiotischen Evolution. Gen-gesteuerte Wachstumsprozesse werden biochemisch erklärt und bereits in Bio- und Gentechnologie angewendet. Die dabei herausgestellten Kriterien für Leben sind zwar naturwissenschaftlich präzisierbar und relativieren die traditionelle Grenze zwischen ›belebter‹ und ›unbelebter‹ Materie. Es bleiben
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2. Die komplexen Leibbilder Die Einheit von Mensch und Welt behielt während der gesamten Kaiserzeit – mit Ausnahme der dualistischen Tendenzen des Zhu Xi – ungebrochen ihre Gültigkeit. Gründete der chinesische Monismus in der Lehre vom qi, so kamen andere Vorstellungen hinzu, die den Einheitsgedanken stützten: die komplexen Leibschemata. Diese Menschenbilder, die heute noch in der sogenannten Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) ebenso wie in der daoistischen Meditation lebendig sind, hatten sich aus den älteren, schlichteren Leibvorstellungen entwickelt und traten als komplexe Leibbilder in den Jahrhunderten um und nach Chr., d. h. zu Beginn der Frühen Kaiserzeit, in Erscheinung. Auch hier handelte es sich keineswegs um naiv geglaubte Einheitsvorstellungen makro-mikrokosmischer Art: Die Differenz-Erfahrung der frühen Philosophen vorausgesetzt, ging es vielmehr darum, – angesichts der Auswirkungen verschiedener Zivilisationsschübe – mit Hilfe dieser ausgefeilten Leibbilder sich der Einheit von Mensch und Welt immer wieder neu zu vergewissern. 101 In ihrer Komplexität spiegeln die frühkaiserzeitlichen Leibschemata darüber hinaus eine im Vergleich zu vorher sehr viel differenziertere Gesellschaft, der das Ideal eines zentralisierten und bürokratisch verwalteten Einheitsstaates zugrunde lag. Damit eigallerdings auch Fragen offen, die vom gegenwärtigen Forschungsstand aus nicht beantwortet werden können.« 100 Lunqi; Übs. Kubny 1995, 491. 101 Für die europäische Geschichte hat Schmitz 1992, 9–10 die entgegengesetzte Tendenz sehr anschaulich beschrieben: »Als die Schlacht bei Salamis (480 v. Chr.) der aufblühenden europäischen Intellektualkultur freie Bahn verschafft hatte, wäre es Sache der Philosophen gewesen, den Spruch ›Erkenne dich selbst‹, der ihnen als Devise am Tempel in Delphi vor Augen stand, zwar als Anspron, aber auch als Mahnung und Warnung zu berücksichtigen. Stattdessen haben sie sich auf den Kutschbock des schon fahrenden Wagens geschwungen und die Pferde zu immer schnellerem Tempo angetrieben«, in Richtung auf eine zunehmende Distanzierung des Menschen von sich selbst und der ihn umgebenden Natur.
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Mensch und Welt
neten sie sich zugleich als quasi »naturwüchsige« Stütze der neuen staatlichen Verfassung des bürokratischen Kaiserreiches. 102 Ob der menschliche Körper und Leib selbst nun als (a) Mikrokosmos, als (b) Landschaft im Leibesinnern oder als (c) Abbild einer himmlischen Hierarchie gesehen wurde – immer stand das Bild eines umgrenzten und doch eingebetteten Mikrokosmos vor Augen: Wie in einander geschachtelte russische Puppen ähnelten die verschiedenen Mikrokosmen einander. Nur waren diese miteinander und mit dem alle übergreifenden Makrokosmos in ununterbrochener und folgenreicher Wechselwirkung verbunden. a) Der Mensch als Mikrokosmos 103 Dieses Leibkörperbild kommt in zwei Versionen vor, die von Anfang an miteinander verknüpft waren, die wir hier aber aufgrund gesamtgeschichtlicher Zusammenhänge getrennt betrachten wollen: (1) Der Mensch als Kosmos und (2) Der Mensch als Staat. Eine Kurzfassung der Vorstellung vom (1) Menschen als Kosmos en miniature findet sich im 7. Kapitel des Buches Huainanzi aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert: »Das Runde des Kopfes ähnelt dem Himmel; das Viereckige der Füße ähnelt der Erde. [Der Himmel] kennt Vier Jahreszeiten, Fünf Wandlungsphasen, Neun Tore und 366 Tage; analog hat der Mensch Vier Glieder, Fünf Speicher, Neun Körperöffnungen und 366 Gelenke […]. Augen und Ohren entsprechen Sonne und Mond […]. Blut und qi entsprechen Regen und Wind.« 104 102
»Kontrollinstrumente im Medium der Wahrheit« im Sinne Luhmanns; s. Einleitung zur Neuauflage. 103 Auch die abendländische Tradition kennt die Verknüpfung des Mikrokosmos Mensch mit dem Makrokosmos, insbesondere mit Gestirnen und Gestirngöttern, Geistern der Höhe und Dämonen der Tiefe, den Elementen mit ihren verschiedenen Eigenschaften: »Jedes Organ im Körper muß sein Widerspiel in der Natur finden und umgekehrt […]. Nannten in der arabischen Naturphilosophie, die dem Abendland die antiken Geistesschätze in reinster Form überliefert hat, die Weisen die Welt einen Menschen im Großen, so mußten die Teile dieser Welt erst recht in fester Wechselwirkung mit den Körperteilen stehen.« Bargheer 1931, 1–2.
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Die komplexen Leibbilder
Die ausgefeiltere und zugleich philosophisch überhöhte Variante wurde zur Grundlage der sogenannten Resonanzmedizin: Mensch und Makrokosmos bestehen danach gleichermaßen aus qi. Neben dem ursprünglichen und undifferenzierten Zustand des »primären qi« (yuán-qì 元氣) sind folgende Sonderformen des qi im menschlichen Leib wirksam: das dem yang zugeordnete wéi-qì 圍氣, das schädliche Einflüsse abwehrt; das dem yin zugeordnete yíng-qì 營 氣, das schützende Funktionen erfüllt; die wǔ-qì 五氣, die Fünf Temperaturausstrahlungen, über die der Himmel den Menschen nährt, während die Erde ihn mit Hilfe der Fünf Geschmackssorten (wǔ-wèi 五味) am Leben erhält (s. Diagramm 8 w. u.). Hier mischen sich in die Bilder vom menschlichen Leib die yin-yang-Polarität sowie die Lehre von den Fünf Wandlungsphasen. Einmal zu einem System kombiniert, 105 eigneten sich beide Konzepte hervorragend, die gesamte Welt zu ordnen und deren Erscheinungen und Wandlungen sinnvoll zu erklären: Mit Hilfe der Polarität ließen sich sämtliche Phänomene paarig-komplementär anordnen – im Makrokosmos ebenso wie im Mikrokosmos Mensch: yin als die Schattenseite, yang die Sonnenseite des Berges; yin als das Dunkle, die Nacht, yang das Helle, der Tag; yin als das Feuchte und Kalte, yang das Trockene, die Hitze; yin als das Weibliche, yang das Männliche; yin als Unten, yang als Oben; yin als rechte, yang als linke Seite; yin als Fülle/n, yang als Leere/n, yin als Bauch, yang als Rücken; yin als sinkendes qi, yang als aufsteigendes qi usw. Auch die Fünf Wandlungsphasen wurden der Polarität einverleibt: Holz und Feuer entsprachen dem yang, Erde, Metall und Wasser dem yin. Nach dieser Vorstellung durchliefen alle Erscheinungen die Kreisläufe von yin und yang sowie der Fünf Wandlungsphasen, die einander in mehreren Reihenfolgen ablösten. Als die beiden wichtigsten galten die Reihe der gegenseitigen Hervorbringung (shēng 生): Holz bringt Feuer hervor, Feuer bringt Erde (Asche) hervor, Erde bringt Metall hervor usw. sowie die Reihe der gegenseitigen Überwindung (kè 104
Huainanzi, Kap. 7 »Jingshen«, 55; vgl. eine analoge Aussage im Taipingjing, einem frühkaiserzeitlichen Klassiker des Daoismus, Kap. 35, 36. 105 Als Begründer der Lehre von den Fünf Wandlungsphasen und deren Verknüpfung mit sozialpolitischen Abläufen gilt i. a. Zou Yan 鄒衍 (ca. 300 v. Chr.); vgl. Unschuld 1980, 52–58.
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Mensch und Welt
克): Wasser überwindet Feuer, Feuer überwindet Metall, Metall überwindet Holz usw. Eine spezifische Richtung der chinesischen Medizin hat sich dieser frühen Zuordnungen besonders angenommen: die schon mehrfach erwähnte Medizin der systematischen Entsprechungen bzw. Resonanzmedizin, die der heute noch praktizierten Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) zugrunde liegt. Die beeindruckende Verknüpfung von Analogien zwischen Mensch und Kosmos, die für dieses Leibschema charakteristisch sind, gehen aus der unten stehenden Tabelle hervor. In der Zuordnung der Körperöffnungen zu den (inner)leiblichen Regungsherden, d. h. zu »Speichern« (zàng 臟) und »Palästen« (fǔ 腑), kehrt die Vorstellung von Differenz und Einheit von Leib-Außen und Leib-Innen wieder, die uns bereits aus der frühen chinesischen Philosophie vertraut ist (s. I.1; I.2). Die Konzeption der sogenannten Paläste und Speicher selbst veranschaulicht ein weiteres Mal die chinesische Vorliebe für das Relationale bzw. für Wirkungszusammenhänge: Gemeint sind hier nicht die deutlich abgegrenzten Organe eines tast- und sichtbaren Körpers, wie sie die moderne westliche Medizin in den Mittelpunkt rückt: Speicher und Paläste sind zwar an ein körperliches Substrat gebunden, 106 in der Hauptsache aber strahlen sie als vage umrissene Regungsherde in das Gesamt des menschlichen Leibes aus bzw. agieren im Funktionsgefüge eines Staate. Daß ihnen jeweils die unterschiedlichen Gefühle bzw. Emotionen zugeordnet sind, unterstreicht ihre im leiblichen Spüren verankerte Eigenart. So zeigt die Tabelle noch einmal deutlich, daß der chinesischen Medizin in der Tat mehr am spürenden Leib gelegen war als an den sicht- und tastbaren anatomischen Gegebenheiten. Wandlungsphasen
Holz
Feuer
Erde
Metall
Wasser
Mit Ausnahme der Drei Erwärmer (sān-jiāo 三焦), leiblich gespürte Regungsherde, von denen der obere im Bereich von Herz und Lunge, der mittlere im Bereich von Milz und Magen, der untere im Bereich von Dünn- und Dickdarm, Niere und Blase gelegen ist. Der mittlere ist zugleich mit dem Sonnengeflecht bzw. dem altindischen Ort des agni-Feuers identisch. 106
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Die komplexen Leibbilder
Jahreszeiten
Frühling
Hochsommer
Temperaturausstrahlungen
Wind
Hitze
Geschmack
sauer
bitter
süß
scharf
salzig
Körperöffnungen
Augen
Zunge
Mund
Nase
Ohr
Gallenblase Dünndarm
Magen
Paläste Speicher
Leber
Emotionen
Wut
Herz
Nachsommer
Herbst
Winter
Feuchtigkeit Trockenheit
Milz
Freude Nachdenken/ Grübeln
Kälte
Dickdarm Blase Lunge
Niere
Trauer
Furcht
Diagramm 8: Resonanzen
Nicht zuletzt sind laut Tabelle den kosmischen Einflüssen yin und yang bzw. den Fünf Wandlungsphasen die atmosphärischen Aspekte der Jahreszeiten und klimatische Atmosphären zugeordnet. Mit anderen Worten, der einzelne Mensch ist kein freischwebendes Individuum. Im Gegenteil, eingebettet in äußere Kräftefelder, ist er beständig mannigfaltigen Einflüssen und Eindrücken ausgesetzt. (2) Die Ähnlichkeit zwischen Mensch und Staat, in vorchristlicher Zeit bereits angedeutet 107 und zu Beginn des vereinigten Kaiserreiches systematisch ausgearbeitet, springt schon begrifflich ins Auge: Die im Leibesinnern gespürten Regungsherde werden als Paläste und Speicher bezeichnet, d. h. als Orte des Konsums bzw. der Aufbewahrung lebensnotwendiger Güter: Dient das staatliche Transportsystem aus Flüssen, Kanälen und Straßen dazu, die Palastgebäude mit Nahrungsmitteln aus dem ganzen Land oder aus den Speichern zu versorgen, so entspricht dem beim Menschen das Netz aus Leitbahnen und deren Verästelungen, in denen sich Blut und qi bewegen. Das Herz ist der Herrscher; die beiden Lungenflügel erfüllen die Funktion der Minister zur Rechten und zur Linken; die 107
Vgl. die »Fürst«- bzw. Herrscher-Metaphorik für die exponierte Stellung des Herzens im Xunzi und Guanzi. S. I.3.c sowie Unschuld 1980, 54–59.
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Mensch und Welt
Leber ist der für Strategie und Planung zuständige General; die Blase sorgt für die Verwaltung der Städte und Landkreise; und der Dickdarm ist verantwortlich für das so lebenswichtige Transportsystem im Sinne des Durchgangs bei Verdauung und Ausscheidung. Noch die Fünf Sinnesöffnungen werden in dieser Wahrnehmung als Beamte gedacht, sozusagen Grenzbeamte zwischen Innen und Außen: wǔ-guān 五官 (Fünf Beamte). Im Staat wie im Leibkörper kommt es zu Störungen, wenn das Transportsystem versagt, sei es, daß der ungehinderte Fluß von qi, Blut oder anderer Körperflüssigkeiten blockiert ist, sei es, daß in Palästen und Speichern Mangel an qi bzw. Leere (xū 虛) oder auch ein Zuviel des Guten, d. h. Überfluß bzw. Fülle (shí 實) herrscht – gesellschaftspolitisch gesehen: Armut oder Verschwendung – beides von Übel. 108 Wenn auch die Analogie zwischen Leib und Staat etwas »bürokratisch« anmuten mag, geht es dabei doch in erster Linie um leibliches Spüren: In den Begriffen Überfluß/Fülle und Mangel/Leere erkennen wir unschwer die Wandlungen des qi zwischen Sammlung (Füllen) und Zerstreuung (Leeren) ebenso wie den Vorgang des Ein- und Ausatmens sowie die Gefühlsregungen Freude und Zorn (Weitung) bzw. Angst, Trauer und Scham (Engung) – mit anderen Worten die grundlegenden leibkörperlichen Dimensionen und Tendenzen. Außerdem hat noch die Einbettung in die staatliche Ordnung etwas von einer kosmisch-atmosphärischen Umhüllung: Denn der Herrscher an der Spitze des Staates war der »Sohn des Himmels« (tiān-zi 天子) und als solcher mit der schwierigen Aufgabe betraut, die kosmische Harmonie aufrechtzuerhalten, indem er sie in seinem Staatswesen und in der ganzen Welt, chin. »unter dem Himmel« (tiān-xià 天下), verwirklichte. Herrschten Unordnung und moralischer Verfall am Kaiserhof, so reagierte nach dieser anthropomorphen Vorstellung der Himmel und schickte zur Strafe Naturkatastrophen, wie Überschwemmungen, Dürre, Feuersbrunst, und es geschahen alle möglichen merkwürdigen Ereignisse. 109 Hier zeigt sich noch einmal die Legitimationsfunktion dieses Leibschemas, das dem Staat eine kosmisch-religiös überhöhte Realität verlieh. Die Leib-Staat-Analogie liegt der chinesischen Resonanzmedizin 108
Vgl. Unschuld 1980, 54–59.
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Die komplexen Leibbilder
bis heute zugrunde. Sie findet sich in etwas abgewandelter Form sehr wohl auch in daoistischen Quellen mehr philosophischen Inhaltes: »Der menschliche Leib ist das Abbild eines Landes; Brust und Bauch sind seine Paläste und Zufluchten; die vier Glieder sind seine Vororte, und die Gelenke stellen die zahlreiche Beamtenschaft dar. Der Geist 110 ist der Herrscher, das Blut ist der Minister, und die Untertanen sind das qi. Wer seinen Körper zu regulieren weiß, der weiß auch, die Angelegenheiten des Landes zu regeln.« 111
Auch in dem Leibbild des schon mehrfach erwähnten Ge Hong (ca. 280–340) figuriert der Staat als Metapher: »Der Leib (shēn 身) eines Menschen ist das Abbild eines Staates. Die Position von Brust und Magen entspricht dem [Ort des] Palastes; die Vier Glieder sind angeordnet wie Mauern und Grenzregionen. Die Gliederung in Knochen und Gelenke gleicht der der Beamtenschaft. Die Geisteskraft (shén 神) ist wie ein Fürst. Das Blut fungiert als Minister. Das qi ist das Volk. Daher ist jeder, der seinen Leib regulieren (zhì 治) 112 kann, auch in der Lage, einen Staat zu regieren (zhì 治). Wer sein Volk liebt, der befriedet seinen Staat. Wer sein qi nährt, der macht seinen Leib ›ganz und heil‹ (quán 全). Wenn das Volk sich zerstreut, geht der Staat zugrunde. Wenn das qi sich erschöpft, stirbt der Leib.« 113
b) Die Landschaft im Innern Sehr viel phantasievoller als das bürokratisch inspirierte Leibschema fielen die Bilder aus, die den menschlichen Leib als eine von Göt109
Vgl. die Inhalte der »Wuxing«-Kapitel in den offiziellen Dynastiengeschichten sowie Linck 1992. 110 In der hier zugrunde gelegten Terminologie ist shen Lebenskraft, Bewußtsein, Geisteskraft; s. I.2.c. 111 Wushang biyao; Übs. Schipper 1987, 367. 112 Es ist unverkennbar, daß die Ausdehnung des Zeichenbegriffs zhi »ordnen/regulieren« auf die medizinische Bedeutung »heilen« aus der Leib-Staat-Analogie herrührt. 113 Baopuzi, »Neipian«, Kap. 18.5, 0751a; vgl. Kubny 1995, 225.
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tern und Geistern bevölkerte Landschaft gestalteten. Diese Konstruktion läßt sich in ihren Anfängen eindeutig daoistischen Kreisen zuordnen und ist ebenfalls der Gründungszeit des Kaiserreiches zuzurechnen. Wie unterschiedlich innerhalb dieser Traditionslinie die Topographie des Leibes auch ausfallen mochte, 114 diese Vorstellungen dienen im Grunde bis heute dem daoistischen Adepten als Meditationshilfe. Damit ist auch bei dem als Landschaft gestalteten Leibbild 115 offenkundig, daß es in erster Linie darauf ankam und ankommt, seinen Leib zu spüren: Ist doch Meditation nichts anderes als das ins Kosmische gesteigerte Verströmen in Weite, das durch Konzentration so lange in Grenzen gehalten wird, bis sich der Umschlag aus extremer Engung in die Weitung von selbst vollzieht. Kehrt der Adept seine Augen nach innen, dann um »das Eine« zu bewahren, d. h. sich mit dem Einen, dem dao, zu vereinigen. Das Eine visualisiert 116 er in Gestalt von drei Gottheiten, die er vom Himmel in seinen Körperleib herabsteigen läßt. In der innerlich gedachten Landschaft hat er Gelegenheit, sich Seite an Seite mit diesen und anderen Mikro-Göttern wandernd zu ergehen, Gespräche zu führen und Orte aufzusuchen, die besonders gefährdet oder besonders lebenswichtig sind. 117 Auch Sterngottheiten stellte man sich innerlich vor, insbesondere die des Großen Bären, die für Schicksal und Lebensdauer zuständig waren. Nur zum Teil ist die innere Landschaft eine vom Menschen unberührte Natur aus Gebirgen und Wasserfluten, aus Sonne und Mond, Sternen und Wolken. 114
Vgl. Schipper 1987 sowie Despeux 1994. Womöglich ist auch in diesem frühen Kontext eine Unterscheidung zwischen Metaphorik, der Analogisierung zweier unterschiedlich gedachter Phänomenbereiche, und Metonymie möglich, wobei letzteres Austauschbarkeit unterstellt, d. h. daß im einen Phänomenbereich das jeweils andere zugleich mit-läuft bzw. mit-verhandelt wird. Vgl. Messners Habilitationsschrift (Kiel 2006), der eine solche Differenzierung im Hinblick auf medizinische Körperbilder des 17. Jhs. zugrunde liegt. 116 Der chin. Ausdruck für die innere Visualisierung der Gottheiten lautet: nèi-guān 內觀 (innere Anschauung); vgl. Sakade 1985, 72 f. 117 Vgl. auch Homann 1971. Analoge Übungen finden sich laut Eliade 1960, 215 ff. im altindischen Yoga. Daß Gottheiten in den einzelnen Körperteilen wohnen und Dämonen in den Eingeweiden hausen, ist auch im deutschen Volksglauben vielfach belegt; noch unser Wort Hexenschuß verrät diese Spur; vgl. Bargheer 115
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Sehr viel mehr ähnelt sie der vom Menschen gezähmten und gestalteten Natur: mit Pagoden und Türmchen, Brücken, Maulbeerbäumen, dem Webermädchen und Viehhirten, um nur einige charakteristische Elemente zu nennen. Im daoistischen Tempel Baiyunguan 白雲觀 in Peking, der in den 1990er Jahren renoviert wurde und seither öffentlich zugänglich ist, befindet sich eine Stele, auf der im Jahre 1886 eine solche innere Landschaft im Längsschnitt eingraviert wurde. Auf einer Abreibung dieses Inneren Diagramms (Neijingtu 內經圖, s. Abb. 5 w. u.) lassen sich folgende Einzelheiten erkennen: Die Augen stellen sich als Sonne und Mond dar, die das Innere des Kopfes ausleuchten. Das Gebirge in der Schädelgegend ist der heilige Berg Kunlun 崑崙. Seine Ausläufer setzen sich entlang der Wirbelsäule als Bergkette nach unten fort. Am Fuße des Kunlun ruht ein See. Links vor dem See thront eine Gestalt: Laozi. 118 Am unterem Rande des Sees öffnet sich ein Tal, das der Nasengegend entspricht und dessen Eingang zwei hohe Türme, die Ohren, markieren. Im Tal fließt ein Strom, der den großen oberen See mit einem kleineren verbindet, der für Mund und Speichelfluß steht. Eine Brücke, die Zunge, führt zur zwölfstöckigen Pagode, letztere eine Allegorie der Luftröhre. Der Mönch links neben der Brücke breitet die Arme aus – dem Laozi zugewandt. Die Luftröhre trennt zugleich die obere Leibregion vom mittleren Bereich. Hier gelten anderen Beschreibungen zufolge die beiden Brüste, die auf diesem Diagramm nicht eingezeichnet sind, als Sonne und Mond. Die Lungengegend wiederum erscheint als ein Labyrinth bzw. als das mittlere Zinnoberfeld (dāntián 丹田). Hier ist ein Kind zugange, Münzen zur Form des Großen Bären aufzufädeln, wodurch die Verlängerung der Lebensspanne angedeutet ist, eine Wirkung von Atemübungen und Meditation. An der Grenze zur unteren Leibregion kennzeichnet ein Maulbeerhain mit dem Sternbild der Weberin die Position des Herzens. Auf anderen Darstellungen ist hier die Leber gedacht, während das Herz oberhalb davon als ein ansehnliches rot umflammtes Ge1931, 1 bzw. Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens. Berlin und Leipzig 1929/ 30, Bd. 2, 707. 118 Laozi wurde ebenso wie Konfuzius in der Hanzeit vergöttlicht; vgl. Seidel 1969.
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bäude erscheint. Der Weberin ist der Kuhhirte 119 beigesellt, der allerdings eindeutig im unteren Bereich angesiedelt ist und hier auch nicht für Viehzucht steht, sondern – ganz chinesisch – seinen Acker pflügt, d. h. seine Lebenskräfte »kultiviert«. Er repräsentiert auf diesem Diagramm das Zinnoberfeld der unteren Leibregion. Hier stehen die beiden Nieren analog zu den Augen für Sonne und Mond, um den unteren Bereich mit Licht zu füllen. Unterhalb des Kuhhirten erstreckt sich »das Meer des qi« (qì-hǎi 氣海). An seiner tiefsten Stelle ist eine Öffnung gedacht. Manchmal wird sie als das Tor des Schicksals (mìng-mén 命門) 120 bezeichnet, weil die Adepten davon ausgehen, daß hier menschliche Lebenskraft tröpfchenweise entweicht. So kommt es bei den meditativen Übungen darauf an, dieses Tor geschlossen zu halten, um kein qi zu verlieren. 121 Vielmehr muß die Lebenskraft im Leib ungemindert kreisen. Zu diesem Zwecke sind hier zwei Kinder angestellt, die sich, die Wassermühle tretend, eifrig bemühen, das qi in Bewegung zu halten bzw. nach oben zu pumpen. Von dieser Mühle aus gelangt es zunächst in den Schmelztiegel – auf der Abbildung durch die vier yin-yang-Embleme symbolisiert –, wo es im Feuer einer Reinigung unterzogen wird. 122 Danach erreicht die gereinigte Lebenskraft über die Wirbelsäule Kopf und Gehirn. Dort ist in anderen Leibbildern der Embryo der Unsterblichkeit sichtbar angeordnet – weshalb in China auch die hohe Stirn nicht auf Intelligenz, sondern auf langes Leben hoffen läßt. In dem hier abgebildeten Schema ist der Leib insgesamt als Embryo gestaltet. 123
119
Sie gehören als Sternbild nach einer frühchinesischen Legende getreu zueinander; vgl. Eberhard 1983, 298–299. 120 Zum ming-men s. auch I.3.a. 121 Dies entspricht dem Setzen von Bandhas im altindischen Yoga. S. II.1.a. 122 Anleihen aus der Alchimie sind ebenso offensichtlich wie Analogien zu Sexualtechniken, die auf Bewahren der Samen-/Lebenskraft und deren Sammlung im Embryo der Unsterblichkeit hinauslaufen. S. I.1.a. 123 In Anlehnung an die Erläuterungen zur Abbildung in: Schipper 1987.
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Abb. 5: Neijingtu
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Trotz mancher Ungereimtheiten, die sich für den modernen Betrachter beim Vergleich der verschiedenen Leiblandschaften ergeben, 124 ist das Innere des Menschen erstaunlich klar durchstrukturiert: Die drei Bereiche: Kopf, Brust und Unterleib bilden ein Ganzes, stellen aber zugleich auch eine Welt für sich dar, denn wesentliche Elemente, wie Sonne und Mond, das Gebirge Kunlun, die Zinnoberfelder, sind in allen drei Leibregionen anzutreffen. Letztlich scheint der Adept nicht nur das Innere seiner selbst zu durchwandern, sondern zugleich den Leib des Laozi zu begehen, um das dao wandernd zu erfahren (xíng-dào 行道) – eine Vorstellung, die mit der Vergöttlichung des Laozi in der Gründungszeit des Kaiserreiches Gestalt annahm. 125 Der Weltentstehungsmythos, der sich daraus entwickelte, veranschaulicht erneut die Allgegenwart der Leib-Kosmos-Analogie in der Frühen Kaiserzeit. Aus Laozis Leibkörper soll überhaupt erst der Kosmos entstanden sein: »Sein linkes Auge wurde die Sonne, sein rechtes der Mond; sein Kopf verwandelte sich zum Kunlun-Gebirge; aus seinem Bart sprossen die himmlischen Wohnsitze und Planeten; aus seinen Knochen gingen Drachen hervor; sein Fleisch gebar die Vierfüßler, und seine Gedärme wurden zu Schlangen.« 126
Wie kein anderes Schema hob dieses ins Mystische verklärte Leibbild auf Selbsterweiterung und Selbsterhöhung ab: auf die Verschmelzung mit dem Göttlich-Numinosen. c) Abbild der Himmlischen Hierarchie Gleichzeitig mit dem als Landschaft wahrgenommenen Leibschema, das den daoistischen Meditationspraktiken zugrunde lag, entwickelte sich in der frühen Kaiserzeit in Kreisen des sogenannten religiösen Daoismus eine Vorstellung vom Innern des Leibes als ein Pantheon von Göttern, in dem wir unschwer ein Abbild der 124
Vgl. Despeux 1994. Vgl. Seidel 1985. 126 Ebd. Vgl. den altchinesischen Mythos vom Riesen Pangu in: Linck 2000 bzw. 2006, 14 ff. 125
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weltlichen Bürokratie erkennen. So ist dieses Leibbild ebenfalls durch die Herausbildung des Einheitsstaates geprägt. Auch dabei ging es um den Dialog mit den Göttern, denen jeweils bestimmte Leibregionen zugeordnet waren. Auf diese richtete sich die ungeteilte Konzentration des Gläubigen, wenn er an bestimmten Tagen oder während einer bestimmten Stunde die dort zuständige Gottheit anrief und um Beistand bat. Sich der Hilfe der Götter zu vergewissern, war umso notwendiger, da im Innern des Menschen allerhand üble Elemente ihr Unwesen treiben; als die gefährlichsten gelten die sogenannten drei (schlechten) Qualitäten des qi, die sich die Gläubigen auch als Drei Würmer (sān-chóng 三蟲) oder in Gestalt kleiner Kinder (!) als Drei Leichname (sān-shī 三屍) ausmalen. Diese haben nur eines im Sinn: auf die frühe Zerstörung der betreffenden Person hinzuwirken, und dazu setzen sie alles in Bewegung: So verlassen sie z. B. an bestimmten Tagen den schlafenden Menschen, um bei der himmlischen Bürokratie mehr oder weniger willkürlich Klage über ihn zu erheben und so Strafe, d. h. eine Verkürzung seiner Lebensspanne, zu erreichen. An solchen kritischen Tagen muß der Gläubige besonders auf der Hut sein und möglichst auch die Nacht über wachen. Der Drei Würmer bzw. Leichname wegen verzichtet er sogar auf Körnernahrung, denn von Getreide werden sie, so heißt es, kräftig und fett. 127 Außer den genannten Wesen machen dem Menschen die Sieben pò 魄 schaffen, 128 die es gleichermaßen nur darauf anlegen, böswillige Geister auf den eigenen Wirt zu hetzen. Ist dieser nämlich zugrunde gerichtet, können sie sich wieder frei im Reich der Erde bewegen, ihrem eigentlichen Element – wie vor der Individuation der betreffenden Person. Wird der Gläubige nun von schwerer Krankheit heimgesucht, so hängt allein von der Wirkkraft der im Leib 127
Vgl. etwa van Straten 1983, 44–50 sowie Sakade 1985, 69. Die »Vermeidung von Körnernahrung« (bì-gǔ 避穀) bezieht sich in daoistischen Kreisen nicht nur auf Enthaltung von Getreide- bzw. Reisspeisen, sondern auch auf das Fasten um der Langlebigkeit bzw. Unsterblichkeit willen, so dass gu (Körnerarten) in bestimmten Kontexten auch für Nahrung schlechthin stehen kann. CY 1255.3. Vgl. den Dokumentarfilm »Am Anfang war das Licht«, in dem u. a. daoistische Mönche vom Wudangshan 武當山 Konzept und Praxis der umstrittenen »Lichtnahrung« erläutern. 128 S. Begriffsgeschichte von hun und po in: I.2.c.
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anwesenden Mikrogottheiten die Entscheidung über Leben und Tod ab. Um diese zum heilenden Eingreifen zu aktivieren, bedarf es allerdings der Vermittlung eines der Schrift kundigen Priesters, sozusagen eines »Stellvertreters des dao auf Erden« (Strickmann), denn wer hat schon Namen und Zuständigkeiten der über tausend himmlischen Beamten und Generäle im Gedächtnis parat?! Den Priestern hingegen stehen zur Not Handbücher zur Verfügung, in denen alle wichtigen Einzelheiten vermerkt sind, z. B. folgende Zusammenhänge: »Bei Schmerzen in der Brust, aufsteigendem Atem und Husten: Rufe den Herren des nördlichen Viertels mit seinen hundertzwanzig Beamten und Generälen an. Er ist zuständig für die große Waage 129. Er kontrolliert die Hustendämonen und den aufsteigenden Atem, das Erbrechen in Blau, Gelb, Rot und Weiß, die fünf Pestarten, akute magische Infektionen und die sechs Durstgeister. Den Geistern müssen Besen, Papier und Pinsel geopfert werden […].« 130
Nach einem bestimmten Ritual, dem sich der Priester vorbereitend zu unterziehen hatte, rief dieser in seinem eigenen Innern ein kleines Team von gutwilligen Geistern zusammen: Vervielfältigungen seiner eigenen Lebenskraft, die als Boten zwischen den Welten die Bittschrift an die jeweils zuständige Stelle im Himmel überbringen sollten. Solche Botengeister waren z. B. der »Herr der Drachen zur Linken«, der »Herr der Tiger zur Rechten« und der »WeihrauchGesandte«. Sobald diese kleine Reisegesellschaft versammelt war, verbrannte der Priester nur noch den Text der Bittschrift über dem Feuer des Weihrauchgefäßes. Die verändernde Kraft des Feuers bewirkte, daß sich die Botschaft in eine gigantische außerirdische Schrift verwandelte. Dies vollbracht, rief der Priester die Boten wieder zurück. Nun würden die Götter alles daran setzen, um die himmlischen Heerscharen auf die Erde zu schicken und die krankheitserregenden Dämonen zu bekämpfen. Auffallend sind in diesem Leibbild die feindseligen Aspekte, die uns schon bei der Untersuchung verschiedener Leibbegriffe auf129
Sternenpalast und gleichzeitig eine Leibregion; s. o. die Beschreibung des Neijingtu: III.2.b. 130 Übs. Strickmann 1985, 190, ders. 2005.
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gefallen waren. 131 Sie kontrastieren mit dem Wunsch nach Einheit und Harmonie, der z. B. in der Leib-Staat-Analogie oder im LeibLandschaftsdiagramm zum Ausdruck kommt. Es ist gut möglich, daß das Abbild der himmlischen Hierarchie, die ja nichts anderes als eine Projektion der weltlichen Bürokratie ist, nicht zuletzt auch die politische Unsicherheit 132 der Menschen spiegelt: das Gefühl des Ausgeliefertseins, aber auch das Bedürfnis, sich des Beistandes von Göttern und Geistern zu vergewissern. Ganz nebenbei vermittelte dieses Leibbild auch, wie die Bürokratie am Besten zu handhaben war: mit Hilfe von Bestechung und Manipulation. In allen drei Leibschemata steht das Erspüren des inneren Bereichs im Mittelpunkt: das Kreisen des qi und die Aktivierung einzelner Leibpartien. Wie bei den signifikanten Körperleibbegriffen ging es dabei nicht nur um Leben und Gesundheit im engeren Sinne; immer erscheint der Mensch als Mikrokosmos eingebettet in religiös überhöhte Sinnzusammenhänge.
3. Die Selbstbehauptung des Menschen 133 Der Weg menschlicher Weltbesinnung bzw. Selbstbehauptung setzte in China etwa zur gleichen Zeit ein wie anderswo: 134 in der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends. Im Folgenden ist dieser Weg nachzuzeichnen als Weg menschlicher Emanzipation von 131
S. shen vs. gui; hun vs. po; zheng-qi und xie-qi, Spaltung des Herzens und menschliche Natur vs. Emotionen. 132 Folge der politischen Zerrissenheit, der unaufhörlichen Kriege und rasch wechselnden Fremdherrschaften in der Epoche nach dem Zerfall der ersten großen Kaiserdynastie der Han (206 v. Chr. – 220 n. Chr.); vgl. Gernet 1979, 152–168. 133 In den folgenden Ausführungen ist eine Reihe von Anregungen enthalten, die ich Wang, Yousan 1980 entnommen habe. 134 Für das Phänomen einer Asien und Europa umfassenden Gleichzeitigkeit intellektueller Selbstreflexion prägte K. Jaspers den Begriff »Achsenzeit der Weltgeschichte«; vgl. N. S. Eisenstadt (Hg.), Kulturen der Achsenzeit. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1992.
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Göttern und Geistern, als Selbstbefreiung von jener anthropomorphen strafenden Himmelsmacht (tian), aber auch als streifender Blick auf die intellektuelle Auseinandersetzung mit Natur und Umwelt im engeren Sinne. 135 Drei große Etappen springen ins Auge, die nacheinander zu betrachten sind: a) Die ersten Distanzierungen in den Jahrhunderten vor Chr., in deren Verlauf die Philosophen nach anfänglicher zögerlicher Skepsis klar zwischen dem Weg des Himmels und dem Weg der Menschen unterschieden. Nach der Reichseinigung standen im offiziellen Denken legitimatorische Bedürfnisse im Vordergrund, so daß die Philosophie vor lauter Entsprechungs- bzw. Resonanzmanie in gewisser Weise hinter die schon erreichten Positionen menschlicher Selbstbehauptung zurückfiel. Doch mangelte es gleichzeitig nie an Stimmen, die an die frühen emanzipatorischen Positionen anknüpften und sich gegen b) die Remystifizierung der Welt zu Wort meldeten. Dieser Abschnitt betrifft die Frühe und Mittlere Kaiserzeit. Der Höhepunkt menschlicher Selbstbehauptung, der in die Späte Kaiserzeit fällt, ist mit den schon genannten Song Yingxing (ca. 1600–?) und Wang Fuzhi 王 夫之 (1619–1692) verknüpft, 136 die sich unabhängig vom Glauben an göttlich-numinose Wirkkräfte auf c) die Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur im engeren Sinne konzentrierten. Ihre Werke markieren nicht nur einen Höhepunkt, sondern auch das Ende des vormodernen chinesischen Denkens, da alle weiteren philosophischen Auseinandersetzungen ganz wesentlich mit der Herausforderung durch westliche Weltbilder zu tun haben. a) Erste Distanzierungen Den Orakelknochen nach zu urteilen war die Welt an der Wende vom zweiten zum ersten vorchristlichen Jahrtausend weitgehend in Ordnung: Hier hatten jenseitige Instanzen noch ihren sicheren 135
Es handelt sich allerdings nicht um eine Umweltgeschichte. Eine solche ist für das vormoderne China noch zu schreiben; Ansätze bieten Franke 1983, Roetz 1985, Linck 1989, 1999. 136 S. III.1.c.
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Platz. Mit dem Sieg der Zhou über den ersten chinesischen Staat der Shang/Yin-Kultur 137 mußte zwar auch Shangdi abdanken, der höchste Gott und Urahn des besiegten Staates. An seine Stelle trat eine Erfindung der Zhou: eine anthropomorphe Himmelsmacht, die lohnend und strafend in das Leben der Menschen eingriff: tiān 天 genannt. 138 Doch schon die frühesten schriftlichen Quellen, wie das Buch der Lieder (Shijing) und das Zuozhuan, legen die Vermutung nahe, daß auch diese Himmelsmacht bald Einbrüche erlebte. So heißt es in den Liedern, auf den Himmel sei kein Verlaß, willkürlich schicke er Unglück und Katastrophen und wolle die Menschen nur vernichten. Stellvertretend für eine Reihe von Liedern diesen Inhaltes sei das folgende zitiert: »Der große, große, weite Himmel entfaltet seine Tugend nicht. Er schickt nur Tod und Hungersnot und allen Staaten Krieg und Schlachten. Der weite Himmel gnadenlos, kennt Überlegung nicht noch Plan, läßt jene Schuldbelad’nen laufen, verdeckt noch die Verbrechen! Doch all jene ohne Schuld läßt endlos er im Leid versinken.« 139
Auf Klage und Selbstmitleid folgten bald Ernüchterung und Selbstbehauptung, die Zi Chan 子產 (?–522 v. Chr.), ein hoher Würdenträger im Staate Zheng 鄭 (s. Karte), wie folgt auf den Punkt brachte: »Der Himmel ist weit, die Menschen sind nah; da ist nichts, wodurch sie einander erreichen würden!« 140 Diese Worte fielen, als in Zheng ein großes Feuer ausgebrochen war und von Zi Chan erwartet wurde, die Gebetsopfer durchzuführen; mit eben dieser Begründung lehnte Zi Chan das Ansinnen ab. Als elf Jahre später der137
Dieser Dynastienwechsel wird i. a. auf das Jahr 1027 oder 1056/55 v. Chr. datiert. 138 Vgl. Roetz 1984, 110 ff. 139 Lied Nr. 194 »Yuwuzheng« (Der ausgebliebene Regen), nach der Übs. von V. v. Strauß 1969, 203; vgl. auch die Lieder 279, 293, 439, 439, 482 sowie Liedbeispiele in Roetz 1984, 130–132. 140 Zuozhuan, Zhaogong 18. Jahr; vgl. Legge 1991, vol. V, 669.
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selbe Staat von einer Überschwemmung heimgesucht wurde, war Zi Chan erneut aufgefordert, der Gottheit zu opfern, zumal vor den Mauern der Stadt ein Drache gesichtet worden sei, was Schlimmes ahnen ließ. Erneut weigerte sich Zi Chan, den Ritus durchzuführen, und zwar mit folgenden Worten: »Wenn wir nichts vom Drachen wollen, dann will auch der Drache nichts von uns!« 141 Zi Chan war nicht der einzige in seiner Epoche, der gegen Götter- und Geisterglauben zu Felde zog: Im benachbarten Staat Song 宋 142 war im Jahre 654 ein Meteorit niedergegangen. Daraufhin wurde Shu Xing 叔興, Historiograph des Königs von Zhou, befragt: »Was ist das für ein Zeichen? Bedeutet es Glück oder Unglück?« Shu Xing, der wußte, daß der Fürst von Song ganz im Glauben an Omina befangen war, gab ihm die Antwort, die jener von ihm erwartete. Doch gestand er im Nachhinein einem befreundeten Mann seine bewußte Unaufrichtigkeit: »Der Fürst hat die Frage falsch gestellt: Das ist eine Angelegenheit von yin und yang, daraus erwächst weder Glück noch Unglück. Glück und Unglück rühren von den Menschen her!« 143 Ähnliche Einstellung bekundete der Leibarzt am Hofe des Staates Qin 秦, indem er die Krankheit des Fürsten von Jin 晉 nicht auf Geister zurückführte, sondern auf dessen ausschweifende Besuche in den Frauengemächern. 144 Im Gefolge solcher aufmüpfigen Ratschläge gerieten mitunter Orakelpriester, Shamaninnen und Shamanen in Mißkredit. 145 Als z. B. der Fürst von Jin nach Gründen suchte für die schmähliche Niederlage gegen den Staat Qin, gab er seinem Vater die Schuld: Der alte Fürst habe die Worte des Orakels in den Wind geschlagen. Doch hielt ihm einer seiner Ratgeber vorsichtig entgegen: »Das Schildkrötenorakel beruht auf Bildern; die Kunst der Shamaninnen und Shamanen beruht auf Zahlen […]. Wie ließe sich [die Ur141
Zuozhuan, Zhaogong 19. Jahr; vgl. Legge ebd. 674. S. Karte im Anhang. 143 Zuozhuan, Xigong 16. Jahr; vgl. Legge, ebd. 170. ebd. 674 144 Zuozhuan, Zhaogong 1. Jahr; vgl. Legge, ebd. 573. 145 Es mag Zufall, in diesem Zusammenhang aber interessant sein, daß sich das heutige Zeichen für »lügen« (wū 誣) aus den Elementen »Sprechen« und »Shamane« zusammensetzt. 142
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sache] für die Niederlage des früheren Fürsten in [Orakelbildern oder] Zahlen ausdrücken?!« 146
Gleichzeitig meldeten sich Stimmen, welche die Menschen sogar über Götter und Geister stellten, und es setzte sich die Überzeugung durch, Erfindungen und Wirkungen der früheren Kulturbringer, der vorbildlichen Könige, seien höher zu veranschlagen als die Macht von Göttern und Geistern. 147 Schließlich wurde der Götterund Geisterglaube selbst für den Niedergang des Staates verantwortlich gemacht: »Wenn der Staat aufstreben soll, muß man aufs Volk hören; wenn er untergehen soll, dann auf Götter und Geister.« 148 Daß der Weg des Himmels (tiān-dào 天道) und der Weg der Menschen (rén-dào 人道) zweierlei sind, wird dann zu einem der Hauptthemen der ersten großen Blütezeit (2) der chinesischen Philosophie im 4./3. vorchristlichen Jahrhundert. 149 Nicht einmal mehr Mengzis (372–289 v. Chr.) Himmel (tian) war ein echter persönlicher Gott, wie ihn z. B. die Etymologie des Zeichens nahelegt. 150 Und doch glaubte Mengzi noch an ein Eingreifen seitens des Himmels, unterstellte ihm also Bewußtsein und Moral: »Der Himmel (tian) redet nicht; nur durch sein Verhalten (xíng 行) und Tun (shì 事) gibt er [seinen Willen] kund.« 151 Xunzi (298–238 v. Chr.) hingegen stellte auch dies in Frage. Für ihn war der Himmel (tian) nicht mehr und nicht weniger als eine anonyme Naturmacht, die unabhängig vom Menschen nach eigenen Gesetzen wirkte. 152 Ein Schüler des Xunxi, Hanfeizi 韓非子 153 (gest. 233 v. Chr.), wiederum bewies ein modern anmutendes psychologisches Gespür, indem er den Götter- und Geisterglauben folgendermaßen erklärte: »Sobald der 146
Zuozhuan, Xigong 15. Jahr; vgl. Legge 1991, vol. V, 165. Zuozhuan, Huangong 6. Jahr; vgl. Legge 1991, vol. V, 46. 148 Zuozhuan, Zhuanggong 32. Jahr; vgl. Legge 1991, vol. V, 119. 149 Vgl. Roetz 1984. 150 Karlgren 1966, 361 a-c, 217: »The graph is a drawing of an anthropomorphic deity«. 151 Mengzi, Buch V »Wanzhang« 1.5; vgl. Legge 1991, vol. I-III, 355 sowie Wilhelm 1982, 141. 152 Vgl. Roetz 1984 sowie Linck 1989; s. auch I.3.b. 153 Han Feizi wirkte am Hofe des Staates Qin und war als Theoretiker des Legismus mit verantwortlich für eine neue Staatsverfassung, die Grundlagen des Einheitsrei147
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Mensch krank wird, [beginnt er], die Ärzte zu schätzen; und wenn ihm Unglück widerfährt, [beginnt] er, die Geister (guǐ 鬼) zu fürchten.« 154 Die frühe Selbstbehauptung des Menschen gründete nicht zuletzt in einer Reihe von Entdeckungen und Erfindungen in Himmelskunde, Landwirtschaft, Medizin, Kriegsführung usw. 155 Mit derlei Errungenschaften kam die andere Seite der chinesischen Tradition zur Geltung, von der im vorliegenden Buch nicht die Rede sein konnte: das Messen und Berechnen sowie die durch den Einheitsstaat und die einheitliche Schrift bedingte unaufhaltsame Anhäufung und Verbreitung von Erfahrungswissen. Allen voran sind an zivilisatorischen Errungenschaften der Jahrhunderte v. Chr. zu nennen: die präzisere Bestimmung von Tag und Nacht sowie der Vier Jahreszeiten durch Messung der Positionen von Sonne, Mond und der Fünf Sterne 156, Kanalbau und Bewässerung, die Nutzung der Eisenpflugschar, schlagkräftige Eisenwaffen, welche die Kriegsgeräte aus Bronze rasch verdrängten, chirurgische Eingriffe und nicht zuletzt die Pulslehre. b) Gegen die Remystifizierung der Welt Die Versuche, alle möglichen Argumente gegen die Remystifizierung der Welt in die Waagschale zu werfen, betrachten wir im Folgenden epochenspezifisch: (1) Erste Reichseinigung, (2) Jahrhunderte unmittelbar nach dem Zerfall des Hanreiches, (3) Wiederherstellung des Zentralsstaates im 6. Jahrhundert und (4) Song-Dynastie (960–1278). An dieser Gliederung ist auf Anhieb ein gewisser ches. Die Stärkung der Staatsgewalt auf Kosten der überlieferten Sitten und Riten brachten ihm zuweilen den Vergleich mit Macchiavelli ein. 154 Hanfeizi, Kap. 6.20 »Jielao«, 104. 155 Zur vormodernen Geschichte von Wissenschaft und Technik in China vgl. Needham u. a., Science and Civilization in China 1985 ff. sowie Sun 1966; Wang, Yousan 1982, Zhong 1984, Temple 1991, Kolb 1991, 1992; Vogel 1993, Herrmann 1997, 2004. 156 Diese sind den Fünf Wandlungsphasen (wu-xing) zugeordnet: Jupiter (Holz), Mars (Feuer) Saturn (Erde), Venus (Metall), Merkur (Wasser).
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Zusammenhang zu erkennen zwischen Zeiten allgemeiner politischer Unsicherheit und Remystifizierung auf der einen Seite und Zivilisierungsschüben und einer aufgeklärt-skeptischen Haltung auf der anderen. Die Folgen der (1) Reichseinigung, erst recht deren Konsolidierung durch die vierhundertjährige Han-Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.), brachte einen spektakulären Zivilisationschub mit sich, der im Widerspruch steht mit der im Titel angekündigten Remystifizierung der Welt. Von der Vielzahl der Neuerungen seien nur folgende genannt: Wassermühle, Schubkarren 157, Kartographie und Kompaß, ein Wagen, der die zurückgelegten Entfernungen maß, der Seismograph zur Feststellung von Erdbeben, 158 Erfindung des Papiers und des Himmelsglobus 159, die Erkenntnis, daß der Mond sein Licht von der Sonne borge und daß der aus qi bestehende Raum unendlich sei. 160 Nicht unabhängig von den Erkenntnissen der Himmelskundler waren die Fortschritte der hanzeitlichen Mathematiker, 161 die bereits die vier Grundrechenarten, das Konzept der kleinen Zahlen sowie das Rechnen mit positiven und negativen Zahlen beherrschten. 162 Angesichts dieser beeindruckenden Leistungen klaffte eine große Lücke zwischen mutigem Forschen auf der Höhe der Zeit und herrschenden Welterklärungen: In den Köpfen der Menschen wimmelte es offenbar nur so von Göttern, 157
Richter hat dem Schubkarren einen schönen Aufsatz gewidmet; dies. 2004. Zhang Heng 張衡 (78–139); vgl. etwa Wang, Yousan 1982, 48 sowie Needham 1986, vol. 3, und zwar das Kap. »Mathematics and The Science of The Heaven and The Earth«. 159 hún-tiān-yí 渾天儀, ein Instrument zur Beobachtung und Messung von Himmelserscheinungen, dessen Erfindung Zhang Heng 張衡 (78–139), Erfinder des ersten Seismographen der Welt, zugeschrieben wird. vgl. Wang, Yousan 1982, 48. 160 Ebenfalls eine Einsicht des Zhang Heng, nachdem er die damals herrschende gài-tiān 蓋天–Himmelslehre durch die sogenannte Kugel- bzw. Eidotter-Theorie ersetzt hatte: Die gai-tian-Lehre (wörtl. bedeckender Himmel) hatte besagt, daß der runde Himmel wie ein Deckel die einem Schachbrett vergleichbare viereckige Erde bedecke. Zhang Heng hingegen behauptete, Himmel und Erde seien eher einem Ei vergleichbar: der Himmel als Eiweiß und die Erde als Eidotter. Wang, Yousan 1982, 48. 161 Womöglich handelte es sich um wechselseitige Anregungen und Beeinflussungen. 162 Vgl. das Werk Jiuzhang suanshu 九章算書, n. Wang, Yousan 1982, 47. 158
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Geistern und übelwollenden Dämonen. 163 Die Philosophen Laozi und Konfuzius wurden in den Rang von Göttern erhoben; der Reichseiniger Qinshi Huangdi (Reg. 221–208 v. Chr.) und Wudi 武帝(Reg. 140–85 v. Chr.), der sechste Kaiser der Han-Dynastie, unternahmen alles Mögliche, um selber unsterblich zu werden. 164 Ein ganz neuer Berufsstand trat in Erscheinung: Magier und Heiler (fāng-shì 方士), die sich selbst als Experten im Umgang mit den überall lauernden numinosen Mächten anboten. Wie ein Glocke, die gleich abzustürzen drohte, hingen über den Menschen alle möglichen Tabuvorschriften, Prophezeiungen der Wahrsagebücher, der Stern- und Traumdeuter, Schafgarbenorakel, Zahlenspekulationen, um nur die wichtigsten Glaubenslehren zu nennen. Daneben sorgten apokryphe Schriften für phantastische und in die Zukunft gerichtete Auslegungen der Klassiker. Allein die Orakelliteratur und die Apokryphen machen im bibliographischen Kapitel der Dynastiengeschichte der Han an die tausend Titel aus. 165 Neben den Lehren und Praktiken, die sich vor allem mit Prophezeiungen befaßten, war die Hauptquelle für die Remystifizierung der Welt der sogenannte yin-yang-Konfuzianismus, d. h. das von Dong Zhongshu 董仲舒 (179–104 v. Chr.) 166 geknüpfte Netz kosmologischer Resonanzen: »[…] Auch der Himmel hat Gefühle (qì 氣), wie Freude (xǐ 喜) und Wut (nù 怒) und ein Herz voll Kummer (āi 哀) und Heiterkeit (lè 樂). Mensch und Himmel sind einander zugeordnet, durch Mannigfaltiges miteinander verbunden; Himmel und Mensch sind eine Einheit (tiānrén yī 天人一). Katastrophen sind der Vorwurf des Himmels, Merkwürdigkeiten sind [der Beweis] seiner Macht […] Die Ursache von Katastrophen und Merkwürdigkeiten liegt einzig und allein in den Verfehlungen im Staat […]; dann schickt der Himmel Katastrophen, um Vorhaltungen zu machen [und zu strafen].« 167
Die Hauptbürde dieser behaupteten allgegenwärtigen Gefahren 163
Vgl. den schon im Ersten Teil wiederholt erwähnten um die Jahrtausendwende zunehmenden Antagonismus. 164 S. I.l.a sowie Linck 2003b, 204–205. 165 Vgl. Wang, Yousan 1982, 45. 166 S. II.2.c.
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und Verstrickungen traf diejenigen, die an der Spitze des Staates standen, insbesondere den Kaiser, der persönlich dem Himmel gegenüber für die Harmonie in der Welt verantwortlich war: »Von oben erfährt der Herrscher 168 in Ehrfurcht den Willen des Himmels, um dem Mandat zu gehorchen; nach unten ist er verpflichtet, das Volk zu erleuchten und zu unterweisen, um es zu verwandeln und seine Wesensnatur zu vervollkommnen […].« 169
Die durch die Entsprechungsmanie bewirkte Remystifizierung mochte zwar der Legitimierung des zentralisierten Kaiserreiches höchst zuträglich gewesen sein; doch erfüllte sie gleichzeitig die Funktion einer neuerlichen Vergewisserung der Einheit von Mensch und Welt angesichts beeindruckender Zivilisationsschübe mit bereits offensichtlichen umweltschädigenden Nebenwirkungen. 170 Auf dem schmalen Pfad intellektueller Selbstbehauptung gegen Götter, Geister, Dämonen und nicht zuletzt Ideologen wandelten Gelehrten-Persönlichkeiten wie der Prinz Liu An (179–122 v. Chr.), Sima Qian (ca. 135–86 v. Chr.), Wang Chong (27–100) und viele andere. 171 Im folgenden eine kleine Auswahl ihrer aufgeklärt anmutenden Gedanken: Liu An, Angehöriger des Kaiserhauses und einer der Verfasser des Huainanzi, fügte den Gründen, die bereits Hanfeizi 172 genannt hatte, um den Götter- und Geisterglauben aus menschlicher Schwäche heraus plausibel zu machen, noch einige hinzu: Erstens, weil viel Merkwürdiges geschieht, sucht der Mensch nach einer Erklärung; zweitens, weil er die Uhr (lì-biǎo 立表) 173 nachts für einen Dämon (guǐ 鬼) hält; drittens, weil er sich gern auf die Macht der Geister verläßt; und viertens, weil er die frühen Kultur167
Chunqiu fanlu zhuzi suoyin, Kap. 8.4, 40; vgl. Wang, Yousan 1982, 40. Auch das Bohutong 白虎通 (Durchdringende Gespräche im Weißen Tigersaal) ist eine Fundgrube für kosmologische Spekulationen der Hanzeit, vor allem Kap. »Wuxing«, 224–226. 168 Wörtlich: »König«. 169 Chunqiu fanlu zhuzi suoyin, Kap. 12.2, 55. 170 Vgl. Linck 1989. 171 Vgl. Wang, Yousan 1982, 79–83. 172 S. III.3.a.
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bringer vergöttlicht. 174 Gleichzeitig setzten Liu An und seine Freunde, wie einst Xunzi (298–238 v. Ch.), der reinen Natur die Größe menschlicher Kulturleistungen entgegen: »Der Himmel hat Licht, aber es bekümmert ihn nicht, daß das Volk im Dunkeln haust. Die Menschen bohren sich jedoch Türen, höhlen Fenster aus und sorgen so selber für Helligkeit. Die Erde birgt Reichtum, aber es bekümmert sie nicht die Armut des Volkes. Doch die Menschen fällen Bäume, schneiden das Gras und sorgen so selber für Wohlstand.« 175
Sima Qian wiederum, Verfasser des Shiji 史記 (Aufzeichnungen des Historiographen), mokierte sich über Meng Tian 孟田, einen Mitarbeiter des Reichseinigers Qinshi Huangdi: Jener Meng Tian habe geglaubt, das Todesurteil, das er an sich selbst zu vollstrecken hatte, dadurch verdient zu haben, daß er einst beim Bau militärischer Anlagen die Erdadern nicht berücksichtigte. Dazu Sima Qian ernüchternd: »[…] weil er Zwangsarbeiter aushob und nichts unternahm, das Elend des einfachen Volkes zu lindern, die alten Menschen zu unterstützen und für Waisenkinder zu sorgen. Und auch, weil er nicht bemüht war, den Frieden im Volk wiederherzustellen […] – ist es nicht recht, daß er dafür den Tod verdiente? Was hatte sein Verbrechen mit den Erdadern zu tun?!« 176
Eine solche Einstellung paßt zum Selbstverständnis des Sima Qian als kaiserlicher Historiograph, ging es ihm doch nicht – wie in der vorherrschenen Entsprechungsmanie seiner Epoche – um Reaktionen des Himmels auf menschliches Fehlverhalten, um Farb- oder 173
Altes Zeitmeßinstrument, um den Lauf von Sonne und Schatten zu messen; vgl. CY 1268.1. An dieser Stelle werden derlei angstbesetzte Verwechslungen vor allem mit dem Konsum von Alkohol verknüpft; Huainanzi zhuzi suoyin, Kap. 13 »Fanlun-xun«, 130. 174 Ebd. 131. 175 Huainanzi zhuzi suoyin, Kap. 14 »Quanyanxun«, 138. 176 Shiji; Übs. A. Waldron, The Great Wall of China. Cambridge (Univ. Pr.) 1990, 195; s. auch die analoge Argumentation des Yang Xiong 楊雄 (58–18 v. Chr.) im Hinblick auf Xiang Yu, den Gegenspieler des Liu Bang (Reg. 206–194 v. Chr.), von dem weiter oben die Rede war (s. II.4.b); vgl. Wang, Yousan 1982, 56.
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Zahlensymbolik in der Aufeinanderfolge der Herrscherhäuser; vielmehr sah er seine Aufgabe darin, »[…] die Grenze zwischen Natur (tiān 天) und Mensch zu erkunden, die Wandlungen in alter und neuer Zeit durchdringend [zu begreifen].« 177 Der schon mehrfach erwähnte Wang Chong (27–100) 178, eine der herausragenden Gestalten unter den aufgeklärten Gelehrten der Hanzeit (206 v. – 220 n. Chr.), wurde nicht müde, die verschiedensten Praktiken und Glaubenslehren einzeln auseinanderzunehmen: angefangen von den Amuletten und Zaubersprüchen, über die Bittgebete, Austreibungen, Schafgarbenorakel, Geomantik und Ahnenkult bis hin zu Regenbeschwörungen, übernatürlichen Schwangerschaften, der Furcht vor Donner, Naturkatastrophen und anderen Merkwürdigkeiten, welche die offiziellen Philosophen sämtlich als Strafe des Himmels (tiān-xíng 天刑) interpretierten. Wie Xunzi (298–238 v. Chr.) begriff er Himmel und Erde (tiān-dì 天地) vielmehr als selbsttätige Natur, deren Wirken allein auf die Wandlungen des qi zurückzuführen sind. Die so verstandene Natur 179 hat Wang Chong zufolge weder Hände noch ein moralisches Bewußtsein: »Im Frühling beobachten wir das Wachsen der Zehntausend Wesen und Dinge, im Herbst beobachten wir deren Vollendung. Was haben [die Gottheiten von] Himmel und Erde damit zu tun? Das ist das Vonselbst-Sein der Wesen und Dinge (wù zì-rán 物自然). Wenn wir behaupten, das sei das Wirken (wéi 為) [der Gottheiten] von Himmel und Erde, dann wären Hände dafür erforderlich. Woher sollten Himmel und Erde Abertausende von Händen haben, um die abertausend Wesen und Dinge zu bewirken?!« 180
Ebenfalls eine Hervorbringung der Hanzeit (206 v. – 220 n. Chr.) ist die schon mehrfach erwähnte Resonanzmedizin und deren schriftliche Fixierung im Huangdi neijing. Wie der Name besagt, übernahm diese medizinische Richtung 181 aus dem Resonanzden177
Shiji, Bd. 10, 3285 ff.; zit. n. Wang, Yousan 1982, 53. Zufferey 1995, Kuhn 1991, 373–374. S. auch II.2.c. 179 Wang Chong verwendete dafür bereits den Begriff zì-rán 自然, wörtl. von selbst (so) sein. 180 Lunheng, Kap. »Ziran«, Bd. III, 1085. 178
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ken das Netz von vielsagenden atmosphärischen Eindrücken und Eindrucksanalogien, ohne sich dabei im Glauben an jenseitige Instanzen zu verlieren. Vielmehr erwiesen sich die Vertreter dieser Richtung als nüchterne Beobachter und konsequente Fortsetzer eines aufgeklärten Denkens, die offenbar bemüht waren, ihre Schlußfolgerungen durch die wiederholte Erfahrung abzustützen. So kamen sie ohne Götter und Geister aus: 182 qi war für sie die treibende Kraft! (2) Die ersten Jahrhunderte nach dem Untergang der Han-Dynastie im 3. nachchristlichen Jahrhundert brachte die Dreiteilung des Reiches und danach dessen erneuter Zerfall in zahllose kleinere Staaten. Man hat die Epoche auch als das finstere Mittelalter Chinas 183 bezeichnet: Politische Zersplitterung, rasch wechselnde Herrschaften, zumal »barbarischer« Abstammung, und unaufhörliche kriegerische Auseinandersetzungen gingen Hand in Hand mit der Willkürherrschaft der großen Clans. Vor dem Hintergrund der einst so mächtigen und langandauernden Han-Dynastie lösten diese politischen und gesellschaftlichen Zustände eine akute Sinnkrise aus. Wen wundert es, wenn Heilserwartungen bzw. Erlösungsversprechen auf fruchtbaren Boden fielen: Zu den Magiern, Heilern und heterodoxen Sekten gesellte sich die Alchimie, die ihre Experimente in den Dienst der Lebensverlängerung und Unsterblichkeit stellte. 184 (S. I.l.a) Dem religiösen Daoismus, der mit dem philosophischen Daoismus der vorchristlichen Jahrhunderte nur noch wenig gemeinsam hatte, war es vor allem gelungen, alle diese verschiedenen Elemente in sich zu vereinigen. Die Verwandlung daoistischen Gedankenguts hatte sehr viel auch mit dem Buddhismus zu tun, der seit dem ersten 181
Sie entwickelte sich in der Folge zur offiziellen Medizinlehre, während die alte Ahnen- bzw. Dämonenmedizin und die Medizin der Heiler und Magier nach und nach in die Subkultur abgedrängt wurden; vgl. Unschuld 1980. Wie unaufhaltsam und üppig sich diese inoffiziellen Strömungen dennoch weiterentwickelten, zeigen die Medizintheoretiker der Qingzeit (1644–1911), die auf zeitgenössische Praktiken zurückgreifen konnten; vgl. Messner 1997. 182 Das Ende des Kapitels 3.11 »Wuzang bielun« im Huangdi neijing suwen Bd. 1, 178 liest sich als klare Absage an den Geisterglauben. 183 Vgl. Fung, Yu-Lan 1966, 216. 184 Vgl. Linck 2003b, 205.
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nachchristlichen Jahrhundert von Indien nach China gekommen war. Zunächst noch als daoistische Sekte mißverstanden, war er bald so weit sinisiert, daß ihm ein regelrechter Siegeszug beschieden war. Unter den Kaisern der Nord- und Süd-Dynastien gab es kaum einen, der den Buddhismus nicht durch Tempelbauten und Klosteranlagen gefördert hätte. Er diente ihrer eigenen Legitimation – schien es doch allzu verlockend, sich selbst den Untertanen als Inkarnation des Buddha zu präsentieren. Auch der Buddhismus trat wie der kaiserzeitliche Daoismus in verschiedenen religiösen Schulrichtungen in Erscheinung. Gleichzeitig faszinierte er die chinesische Elite in seiner mehr philosophischen Orientierung: Namentlich der Chan-Buddhismus (jap. Zen), in dem wesentliche Elemente des frühen philosophischen Daoismus enthalten sind, stellte sich als der schöpferischste Beitrag Chinas zum Buddhismus dar: Daraus entwickelte sich in der Folge eine Welt- und Geisteshaltung, welche die chinesische Gelehrtenkultur, vor allem die Dicht- und Malkunst, Kalligraphie und Musik nachhaltig prägte. Es hat den Anschein, als ob sich die chinesische Gesellschaft der Frühen Kaiserzeit aus einer Sinnkrise heraus verstärkt religiösen Orientierungen zuwandte. Und doch meldeten sich auch in dieser Zeit Stimmen zu Wort, die Kritik an den Heilserwartungen formulierten und ein neues Selbstbewußtsein vortrugen. Allen voran sind hier verschiedene Philosophen der Wei-Jin 圍晉-Zeit (3./4. Jh.) im Kreis der Sieben Weisen vom Bambushain bzw. der Lehre vom Dunkeln zu nennen: Ungeachtet ihrer schon erläuterten reduktionistischen Ansätze war es ihre große Leistung, in verworrenen Zeiten die Selbstfindung des Menschen, seine individuelle Selbstverwirklichung vorangetrieben zu haben – unbekümmert um herrschende Moral und Institutionen. 185 Während der eine oder andere eher abstrakten Welterklärungen nachging, übten andere Zeitgenossen konkrete Kritik am religiösen Daoismus, am Buddhismus 186 und an überkommenen Orakelpraktiken: von Geomantik über Schafgarbenorakel, Geisterund Dämonenglauben bis hin zu den Zahlenspekulationen und überbordenden Tabuvorschriften. 187 Wie schon in den Jahrhunderten zuvor lieferten Himmelskund185
S. II.1.c sowie III.1.b.
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ler und Mathematiker, Mediziner und Theoretiker der Landwirtschaft die beeindruckendsten Beiträge menschlicher Selbstbehauptung. An herausragenden Leistungen der Epoche sind zu nennen: die Vorhersage einer Sonnenfinsternis, die Einführung des Schaltjahres, die Systematisierung der Pulsdiagnostik, die Entfaltung der Lehre von Kälte und Hitze als krankheitsverursachende klimatische Atmosphären, die neue Edition eines Kräuterbuches, das im Vergleich zur Hanzeit die doppelte Anzahl von nunmehr 700 Heilkräutern enthielt. 188 Als vermehrte Einsichten in das Wirken der Natur unterstützten diese Wissenschaftler bewußt oder unbewußt zugleich die Kritik am Götter- und Geisterglauben. Nach (3) Wiederherstellung des Zentralstaates durch die Sui (589–618) und erneuter zivilisatorischer Schübe unter der nachfolgenden Tang-Dynastie (618–960) gewannen Daoismus und Buddhismus noch mehr Auftrieb, zumal sich nach wie vor verschiedene Herrscher als deren großzügige Förderer erwiesen. 189 Damit stieg zugleich der Bedarf bei Teilen der chinesischen Elite, sich mit diesen inzwischen machtvollen Strömungen, insbesondere ihrer Weltabkehr, auseinanderzusetzen. Das lief bei Skeptikern verschiedener Couleur darauf hinaus, die konfuzianische Tradition wiederzubeleben: Han Yu 韓愈 (768–824) und Liu Zongyuan 柳宗元 (773– 819) gehörten zu den Gelehrten der Tangzeit (618–906), die sich aus diesem Anliegen heraus intensiv mit den kanonischen Schriften befaßten. Beide waren einander in Freundschaft zugetan und wußten sich einig in der Kritik an der überwältigenden Religiosität ihrer Zeitgenossen. In einer Hinsicht aber stritten sie miteinander: Liu Zongyan kritisierte mit aller Entschiedenheit die kosmologischen Spekulationen, die seit der Hanzeit (206 v. – 220 n. Chr.) immer noch das offizielle Weltbild beherrschten; Han Yu wiederum hielt 186
Schmidt-Glintzer 1976. Auch das zentrale Thema der Epoche, die Vergänglichkeit bzw. Unvergänglichkeit des Bewußtseins bzw. der »Seele« (shen), war eine Auseinandersetzung mit dem Buddhismus. S. I.2.c (1). 187 Vgl. Wang, Yousan 1982, 99 ff. 188 Vgl. ebd. 110–140. 189 Buddhistenverfolgungen aus fiskalischen Gründen taten der geistigen Ausbreitung des Buddhismus keinen Abbruch; vgl. Gernet 1979, 249 sowie Kuhn 1991, 601–603.
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daran fest, daß der Himmel (tian) mit Bewußtsein und moralischem Gefühl ausgestattet sei – trotz aller Zweifel, die sich gelegentlich seiner bemächtigten. Die freundschaftliche Auseinandersetzung über diese Fragen hat Liu Zongyuan in seiner Schrift Tiandui 天 對 (Antworten [zum Problem] des Himmels) 190 festgehalten; sie beginnt mit den Zweifeln des Han Yu an der Gerechtigkeit des Himmels: »Irgendjemand könnte behaupten: ›Wer dem Volk schadet, wird üppig gedeihen; doch wer ihm nützt, muß es bereuen!‹ Und dann schaut er zum Himmel hinauf und schreit: ›Warum läßt Du solch grenzenloses Unrecht zu?‹ [Ich, Han Yu, bin jedoch der Meinung:] Keiner, der so spricht, vermag, den Himmel zu kennen […] Ich glaube [vielmehr], daß der Himmel seine Schreie und Anklage hört und daß er diejenigen, welche sich ein Verdienst erworben haben, daraufhin umso reicher belohnt, während er diejenigen, welche Unheil gestiftet haben, noch härter bestrafen wird. Was halten Sie von meinen Worten?« 191
Und hier die Antwort des Liu Zongyuan: »Das haben Sie doch sicherlich im Affekt geschrieben! Dabei argumentieren Sie mit Geschick und Schönheit. Lassen Sie mich jedoch ihre Überlegungen zu Ende bringen: Jenes Dunkle da oben nennt man gemeinhin den Himmel; jenes Gelbe hier unten nennt man gemeinhin die Erde; das Unbestimmte zwischen beiden nennt man gemeinhin das Ursprüngliche qi (yuán-qì 元氣); Kälte und Hitze nennt man gemeinhin yin und yang. Obwohl diese alle groß sind, unterscheiden sie sich [ihrer Art nach] nicht von Früchten, Kürbissen, Geschwüren und Hämorrhoiden, Furunkeln, Gräsern oder Bäumen […] Himmel und Erde sind riesige Früchte und Kürbisse; das yuan-qi ist ein riesiges Geschwür und eine riesige Hämorrhoide; yin und yang sind riesige Gräser und Bäume. Wie könnten sie verdienstvolle Taten belohnen und unheilvolles Tun bestrafen?! Verdienste und Unheil sind durch eigenes Verhalten bewirkt. Diejenigen, die vom Himmel Belohnung oder Strafe erwarten, begehen einen großen Fehler […] Sie sollten sich ausschließlich auf rén 仁 (Zwischenmenschlichkeit) und yì 義 (Pflichtgefühl) verlas190
Schon der Titel weist darauf hin, daß die Schrift bewußt in Anlehnung an die Tianwen 天問 (Fragen zum Himmel) des Qu Yuan (3. Jh. v. Chr.) konzipiert war. Zu Qu Yuan s. auch I.2.c im Exkurs. 191 Liu Zongyuanji 柳宗元集, Bd. 2, 244; Übs. Schumacher 1985, 57.
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sen und in Übereinstimmung damit in der Welt wandern und so leben bis zum Tod. Wie können Sie die Ursachen für Leben und Sterben, für Erfolg und Niederlage den Früchten und Kürbissen, Geschwüren und Hämorrhoiden, den Gräsern und Bäumen anlasten?!« 192
Ziehen wir zum Vergleich folgende Stelle aus dem Lunyu (Gespräche des Konfuzius) heran: »Der Edle hat Ehrfurcht vor Dreierlei: vor dem Mandat des Himmels, vor großen Menschen und vor den Worten der Vorbildlichen« 193, so liegen die Unterschiede im Weltbild offen zutage: der Glaube des Konfuzius, der sich im Göttlich-Numinosen grundsätzlich aufgehoben weiß, der nagende Zweifel eines Han Yu und schließlich die Einstellung des Liu Zongyuan, nüchtern und provokant formuliert. Im Vergleich zu Xunzi (298–238 v. Chr.) und Wang Chong (27–100) bringt aber auch Liu Zongyuan an dieser Stelle nichts wirklich Neues in die Diskussion um den Himmel bzw. die Natur (tian) ein. Am ehesten ist seine Umdeutung des Begriffs dao ein originelles Motiv: Frei von jeder Schattierung durch das Numinose steht das Wort synonym für den Weg eines öffentlich-politischen Engagements zum Wohle des Volkes. 194 (4) Zur Zeit der Song-Dynastie (960–1278) setzte sich unter den Gelehrten eine vergleichbare Polarisierung fort: Auf der Linie des Han Yu wären vor allem die schon genannten Philosophen Sima Guang (1019–1086) und Zhu Xi (1130–1200) anzusiedeln. Auf der Linie des Liu Zongyuan stünden Shen Kuo 沈括 (1031–1095), der in Himmelskunde, Erdkunde, Geologie ebenso bewandert war wie in Medizin, 195 und der umstrittene Reformer Wang Anshi 王安 石 (1021–1086) 196, der aus der Perspektive von Politik und Gesellschaft heraus argumentierte. Zwischenpositionen nahmen die beiden Philosophen Zhang Zai (1021–1077) (s. III.I.a) und Chen Liang 陳亮 (1143–1194) ein. Alle waren sich einig in ihrer Ablehnung der altüberkommenen Glaubenspraktiken, seien es nun Orakelsprüche und Zahlenspekulationen oder Geomantik und Physiognomik. Aber auch den verschiedenen stark religiös orientierten 192
Ebd.; Übs. Schumacher 1985, 57–58; vgl. Chen, Jo-shui 1992, 112. Lunyu, 16.8; vgl. Wilhelm 1985, 167. 194 Chen, Jo-shui 1992, 81–98; Liu Zongyuan beteiligte sich an einem Reformversuch, wenn nicht Putschversuch, der allerdings scheiterte; ebd. 66–80. 195 Vgl. Herrmann 1997. 193
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Schulrichtungen des Daoismus und Buddhismus vermochte keiner von ihnen etwas abzugewinnen, zumal wesentliche philosophische Aspekte des Daoismus und Buddhismus Eingang in die »Schule des li« (lǐ-xué 理學) gefunden hatten (s. III.l.b). Darüber hinaus fühlten sich alle gleichermaßen den konfuzianischen Tugenden des zwischenmenschlichen Zusammenlebens verpflichtet. Die Ansichten des Sima Guang und Zhu Xi lassen sich knapp wie folgt zusammenfassen: Der Himmel ist der Vater aller Dinge! Wer ihm gehorcht, den wird der Himmel fördern; wer ihm zuwiderhandelt, den wird er bestrafen. In Zhu Xis Worten: »Der Mensch vermag den Himmel nicht zu besiegen; das währt schon lange so! Kein Unglück und kein Chaos in alter und neuer Zeit, das nicht vom Himmel veranlaßt worden wäre. Und doch gibt es immer wieder Helden, die möchten gerne mit Menschenkraft [den Himmel] bezwingen. Deshalb scheitert so viel, und wenig gelingt, und diese Menschen selbst vermögen dem nicht zu entgehen.« 197
Dem hielt Chen Liang (1143–1194) selbstbewußt entgegen: »Am Lauf der Dinge in der Welt können Himmel und Erde, Dämonen und Geister nichts ändern; wer ihn verändern kann, das ist der Mensch!« 198 Zhang Zai (1020–1077) wiederum war es ein Herzensanliegen, gegen die buddhistische Behauptung zu polemisieren, nach der Phänomene wie Berge, Flüsse und Erde eine Illusion, eine Wahnvorstellung des menschlichen Herzens bzw. Bewußtseins seien: »Sie halten Himmel und Erde, Sonne und Mond für Lug und Trug. Was dabei noch das Geringste ist: Sie verschließen sich vor dem, was ihrer leiblichen Existenz (shēn 身) von Nutzen sein könnte. Was schlimmer ist: Sie ertränken ihren Willen in der Leere.« 199
196
Eben jener, dem nachgesagt wird, daß er sich nicht gerne wusch; s. II.3.a. Huian Xiansheng wenji 晦庵先生文集 in: Zhuzi daquan, Bd. II, Kap. 71, 1259a. 198 Longchuan wenji buyi 龍川文集補遺; zit. n. Wang, Yousan 1982, 222. 197
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c) Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur Zahlreiche Gelehrte 200 der späten Ming- und frühen Qingzeit (16./ 17. Jh.) führten diese skeptische Tradition fort, indem sie alle spekulativen Strömungen, einschließlich der Lehre eines Zhu Xi (1130–1200) oder Wang Yangming (1472–58), ablehnten. 201 An herausragenden Persönlichkeiten sind vor allem zu nennen: Wang Tingxiang 王廷相 (1474–1544), Lü Kun 呂坤(1536–1618), Fang Yizhi 方毅之 (1611–1671), Gu Yanwu 顧炎武 (1613–1682), Yan Yuan 顏元 (1635–1704), Yuan Mei 袁枚 (1716–1797) nicht zuletzt Wang Fuzhi (1619–1692) und Song Yingxing (ca. 1600–?), von denen w. o. die Rede war (s. III.l.c). Was uns heute noch an den Erläuterungen dieser Philosophen fasziniert, sind weniger gänzlich neuartige Gedanken als vielmehr deren Nüchternheit und Stringenz. Beides äußerte sich z. B. in der fortgesetzten Kritik an den Praktiken, welche die Menschen nach wie vor im Glauben an Götter, Geister und Dämonen gefangen hielten: von Tabuvorschriften über Magie und Orakel bis hin zur Lehre von den Wiedergeburten und einem strafenden Himmel. So trug Lü Kun (1536–1618) seinen Nachkommen auf, bei seinem Begräbnis auf Wünschelrutengänger sowie buddhistische und daoistische Priester zu verzichten, denn diese suchten seiner Meinung nach nur, die Menschen zu übertölpeln, um sich ein Einkommen zu verschaffen. 202 Orakelsprüche, die sich gelegentlich ja auch erfüllten, erklärte Lü Kun geDaxin 大心; zit. n. Wang, Yousan 1982, 211. Unsere Vorstellung von »Gelehrten« könnte im Hinblick auf China falsche Assoziationen wecken; es handelte sich in der Mingzeit (1368–1644) ebenso wie in früheren Jahrhunderten um umfassend Gebildete, die in Himmelskunde, Mathematik ebenso bewandert waren wie in Philosophie, Literatur und Kunst; die darüber hinaus noch häufig politisch und/oder militärisch engagiert waren: Vertreter jener spezifisch chinesischen Gelehrtenkultur. Zur Geisteswelt der späten Mingzeit vgl. Ji, Wenfu 1996. 201 Der signifikante Unterschied zwischen li-xue (Zhu Xi) und der xin-xue (Wang Yangming) war, daß ersterer behauptet, die Ordnungsprinzipien li wohnten als Strukturen den Dingen inne, während letzterer von der Identität von Kosmos und Bewußtsein (xin/Herz) ausgeht und die Ordnungsprinzipien folglich durch Innenschau erkennen will. Der Einfluß (zen)buddhistischer Gedankengänge ist unverkennbar. Vgl. auch Chan 1963, 3 ff. 199 200
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radezu als self-fulfilling prophecies: »Die Worte des Orakels 203 dringen ein in Mark und Bein des [betreffenden] Menschen; und da er fürchtet, bald sterben zu müssen, trifft häufig ein, was vorhergesehen wurde.« 204 Auch versuchte er, Zeitgenossen die Angst vor Höllenqualen zu nehmen, die sie nach dem Tod als Strafe der Götter und Geister befürchteten: »Wenn der Mensch zum Sterben kommt, dann ist das wie in einem Traum: hún 魂 fliegt hoch, und das Bewußtsein (shén 神) verwirrt das Auge; 205 qi schwebt davon, will sich zerstreuen, und üble Einflüsse dringen ins Herz; deshalb kommt es zu absurden Erscheinungen; es ist durchaus nicht so, daß es das wirklich gibt.« 206
Neben solcher Nüchternheit und Folgerichtigkeit zeichneten sich die mingzeitlichen Philosophen durch ein weiteres Merkmal aus: das Bedürfnis nach Wirklichkeitsnähe. Dieses lag auch der Kritik zugrunde, die sie gegen die Metaphysik ihrer Vorläufer, wie Zhu Xi (1130–1200), vorbrachten. Mit anderen Worten, der praktische Umgang mit den konkreten Phänomenen der Welt interessierte sie mehr als das Reden und Schreiben darüber: »Die Zeit und die Kraft des Menschen sind begrenzt; ein Tag, den man mit lautem Lesen und Diskutieren verbringt, ist verloren für die wirkliche Praxis. Je mehr man mit Papier und Tusche umgeht, desto weniger wirkliche Erfahrung gewinnt man vom Leben.« 207
Die Wirklichkeitsnähe bzw. das Bedürfnis nach Praxis, welche diese Gelehrten der Späten Kaiserzeit auszeichnete, setzte eine genaue Beobachtung der Phänomene voraus: So wie Lü Kun konkret den Tod erläuterte, wurden Song Yingxing (ca. 1600–?) und andere nicht
Yiming 遺命, zit. n. Wang, Yousan 1982, 259. Wörtl. »Häresie«, »Ketzerei«. 204 Shenyinyu, Kap. »Xingming«, 37; vgl. Wang, Yousan 1982, 258. 205 hun ist der dem yang und shen zugeordnete Regungsherd, der sich nach dem Tod verflüchtigt; shen ist Lebenskraft, Bewußtsein, Geisteskraft, die sich ebenfalls nach dem Tode zerstreut; s. I.2.c. 206 Shenyinyu, Kap. »Xingming«, 37; vgl. Wang, Yousan 1982, 258. 207 Yan Yuan (1635–1704); Übs. Bauer 1971, 348. 202 203
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müde, die tausend Wandlungen des qi an alltäglichen Erfahrungen aufzuzeigen. 208 Sämtlichen Beschreibungen der Umwelt und Natur lagen vier Prämissen zugrunde, welche die Gelehrten der Mingzeit von ihren Vorgängern übernommen hatten: 1. Alles besteht aus qi, auch die Leere ist erfüllt davon. 2. Alles Werden und Vergehen geschieht durch die Wandlungen des qi zwischen Verdichtung und Zerstreuung. 3. Die Dynamik der Welt wird durch die Wandlungen des qi bzw. durch die komplementäre Polarität von yin und yang bewirkt. 4. qi ist unerschöpflich und regeneriert sich immer wieder neu. Durch die Prägnanz, mit der die späten Erben einer schon in den vorchristlichen Jahrhunderten einsetzenden skeptischen Tradition die überlieferte Weltsicht formulierten, gewannen vor allem zwei alte Gedanken eine neue Dimension: (1) der Eigenbeitrag des Menschen zur Welt, in der er lebt, und (2) seine Verantwortung gegenüber der Natur. (1) Den Eigenbeitrag des Menschen zur Welt zu würdigen, setzte voraus, das Verhältnis zwischen Mensch und Natur als eine Wechselwirkung aufzufassen: Der Mensch kann nicht anders, als die Wandlungen der Natur in Rechnung zu stellen, aber er kann sie sich auch zunutze machen und Neues daraus schaffen. An mehreren Beispielen erläuterte Lü Kun (1536–1618) die Fähigkeit des Menschen, über die Eigengesetzlichkeit der Natur hinauszuwirken: »Im Winter ist das qi verschlossen, und es ist unmöglich, daß es Leben 209 hervorbringt; aber der alte Gärtner kann im Winter Blumen blühen lassen und sie verkaufen, wenn der Frühling noch eingefroren ist.« 210
Auch Wang Tingxiang (1474–1544) hob den Anteil des Menschen bei der Gestaltung der Welt hervor und berief sich dabei auf die frühe Geschichte Chinas: Die Überschwemmungen zur Zeit des Yao 堯 und die Dürrekatastrophen zur Zeit des Tang 湯 waren
208 209 210
S. III.I.c. Wörtl. »Wesen und Dinge« (wù 物). Shenyinyu, Kap. »Yingwu«, 169.
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nicht von Menschenhand gemacht; 211 aber die beiden Herrscher setzten der Natur ihr eigenes Werk entgegen: »Als Yao Maßnahmen ergriff, um die Gewässer vollständig zu regulieren, sorgte er dafür, daß das Volk stets Fische und Schildkröten im Netz hatte, obwohl die [Bewegungen von Wasser und] Wellen neun Jahre lang anhielten. Als Tang Maßnahmen ergriff, die Wildnis 212 urbar zu machen, kam es zu keiner Hungersnot, obwohl Entbehrungen und Anspruchslosigkeit sieben Jahre lang dauerten. Eben dieses nennt man: Auch der Mensch kann den Himmel besiegen, wenn er nur entschlossen dazu ist.« 213
Am meisten Aufsehen erregte bereits bei den Zeitgenossen Song Yingxing (ca. 1600–?) mit seinem Werk Tiangong kaiwu, einer Enzyklopädie, in der er dem handwerklichen und landwirtschaftlichen Können seiner Epoche ein bleibendes Denkmal setzte. 214 Schon der Titel ist aufschlußreich: »Die Werke der Natur (tiān-gōng 天功) und die Erschließung der Dinge (kāi-wù 開物) [durch den Menschen]« 215. In der Einleitung unterstreicht der Verfasser das Wirken des Menschen, der durch eigenes Zutun die Schöpferkraft der Natur ergänze. 216 Auch Wang Fuzhi (1619–1662) stimmte ein in den Chor gegen Götter, Geister und Dämonen und feierte zugleich die Selbstbehauptung des Menschen gegen alle Unbill und Schrecknisse der Natur. Wenn andere behaupteten, der Mensch setze das Wirken der Natur schöpferisch fort, ging er noch einen Schritt weiter und sah genau darin das eigentliche Menschsein. So entschieden hatte es vor Wang Fuzhi (1619–1692) noch keiner gesagt: »Daß der Mensch seine Kräfte verausgaben kann, das macht die Natur. Der Mensch selber aber ist es, der diese Kräfte zum Einsatz bringt und seine Fähigkeiten vollendet. So kann er am Leben erhalten, was die 211
Zwei legendäre Herrscher der chinesischen Frühzeit; vgl. z. B. Kuhn, 88 sowie ZWDZD 18246.11. 212 Wörtl. »Brache, Wildnis« (huāng 荒). 213 Zhenyan, Kap. »Wuxing«, zit. n. Wang, Yousan 1982, 250. 214 Vgl. Tiangong kaiwu shizhu sowie Thilo 1964 u. 1967, Sun 1966, Herrmann 2004. S. w. o. III.1.c. 215 Herrmann 2004 übersetzt den Titel mit »Erschließung der himmlischen Schätze«. 216 Vgl. Tiangong kaiwu shizhu, 3.
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Natur sterben lassen will, er kann weise machen, was von Natur aus dumm ist: Er kann etwas zustande bringen, was es in der Natur gar nicht gibt, und er kann Ordnung schaffen, wo von Natur aus Chaos ist. Wer alles der Natur überläßt und nicht selber zu handeln vermag, der ist kein Mensch.« 217
Vermochte der Mensch so gravierend in die Umwelt einzugreifen, so war er zu (2) verantwortlichem Handeln der Natur gegenüber verpflichtet. Auch dies – ein alter Gedanke, der seit dem Zhuangzi, Xunzi und Huainanzi immer wieder aufgegriffen wurde, erst recht in Zeiten zivilisatorischer Sprünge, die sich den Menschen immer auch als Zeiten augenfälliger Natur- und Umweltzerstörung aufdrängten. 218 Vor allem beschäftigte die Gelehrten der Raubbau an den Wäldern und die Grausamkeit gegenüber Tieren. Daoismus, Buddhismus, Neokonfuzianismus spielten dabei ebenso eine Rolle wie ein ganz menschliches Eigeninteresse, mit der Natur auszukommen und in ihr zu überleben. Das folgende Zitat aus dem frühen 16. Jahrhundert paßt zur Nüchternheit, Stringenz und Praxisnähe, die wir den Gelehrten der Mingzeit (1368–1644) bescheinigten. Hier geht es um den Zusammenhang zwischen Entwaldung, Bodenabschwemmung und Naturkatastrophen, bei denen sich herausstellt, daß sie vom Menschen selbst verursacht sind: »Vor der Regierungsperiode Zhengde 正德 (1506–1521) waren die Hänge der Berge von Shangzhi und Xiaozhou [im Landkreis Qi in der Provinz Shanxi] mit blühenden Bäumen bestanden. Weil die Leute wenig Brennstoff schlugen, war [die Gegend] noch nicht kahlgeschlagen. Quellen sammelten sich zum Bande-Fluß, und die Wasser zogen in großen Wellen und mächtigen Schwüngen durch die Dörfer Luji und Fenzha und mündeten zusammen mit dem Fen-Fluß bei Shangduande in den Shangyuan […]. Zu keiner Jahreszeit sah man [die Flüsse] je ausgetrocknet. So kam es, daß weit abgelegene Dörfer im Norden des Kreises Kanäle und Gräben abzweigten, die mehrere tausend qǐng 頃 219 Land bewässerten. Dem hatte der Landkreis Qi seinen Wohlstand zu verdanken. Doch in den zwanziger Jahren brach der Neid unter den Leuten aus, und seither wetteiferten sie miteinander im Bau von Häusern. Pausenlos wurde Holz in den südlichen Bergen gefällt, und 217 218
Übs. Roetz 1985, 9; vgl. Wang, Yousan 1982, 282. Vgl. Franke 1983; Roetz 1984; Linck 1989.
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die kahlgeschlagene Bergoberfläche suchten sie zu nutzen, indem sie sie in Ackerland umwandelten. Auf jedem Fleckchen Erde wurden noch die kleinsten Büsche und Pflänzchen ausgerissen. Und als der Himmel Regen schickte, war nichts mehr da, was den Wasserfluß hätte aufhalten können: Am Morgen regnete es in den südlichen Bergen, und am Abend, als sich das Wasser in die Ebene ergoß, schwollen die wütenden Wellen an, brachen durch die Deiche und änderten so immer wieder den Flußlauf […]. So wurde der Landkreis Qi um drei Viertel seines Reichtums gebracht.« 220
War der Raubbau an den Wäldern alarmierend, weil die Folgen bereits gravierend auf die Menschen zurückschlugen, so rührte die Kritik am lieblosen Umgang mit Tieren woanders her: Der Gedanke der Achtung vor den Tieren kann die buddhistische Herkunft nicht verleugnen; sie erscheint aber bei einigen spätkaiserzeitlichen Autoren als Erweiterung der konfuzianischen Tugend rén 仁 (Zwischenmenschlichkeit) bzw. als Ausdruck der Einheit von Himmel-ErdeMensch (tiān-rén hé yī 天人合一) in der traditionellen Philosophie. So forderte Lü Desheng (gest. 1568), der Vater des Lü Kun, in seinen Kinderreimen die Kleinen auf, den Tieren kein Leid anzutun: 221 »Bienen und Schmetterlinge leiden gleichfalls an Hunger und Kälte; Grillen und Ameisen kennen sämtlich den Schmerz; Wer fürchtet nicht den Tod und wer möchte nicht leben? Töte und schädige kein Leben!« 222
Auch unter den zehn Gedichten, die Chen Hongmou 陳弘謀 (1696–1771) 223 eigens für Schulkinder zusammenstellte wegen ihres erzieherischen Wertes und ihrer sprachlichen Schlichtheit, sind drei, die von Tieren handeln: von einem Fasan, einem nicht Ein qing entsprach etwa 100 mǔ 畝 bzw. ca. 6 Hektar. Shanxi tongzhi 山西通志, Kap. 66, 31a; Übs. Needham 1985, vol. 4.3, 245. 221 Übs. Gernet 1996, 299; zu anderen Kinderreimen des Lü Desheng vgl. Englert 1986, insbesondere die unveröffentlichte Dissertation von Wang, Jing über Lü Kuns Theorie und Praxis der Kindererziehung, Univ. Kiel 1999/2000 sowie Linck/Wang 2004, 268. 222 Xiaoeryu, eines der »Liuyan« 六言 (Sechs-Worte-Verse), 2; vgl. Gernet 1996, 297. 219 220
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weiter bestimmten Vogel und einer Ente. Die moralische Absicht dieser Verse war es, die Kinder durch das Vorbild der fürsorglichen Vogeleltern zu kindlicher Pietät anzuhalten; gleichzeitig sollte auf diese Weise die Identifizierung mit den Vogelkindern gelingen in Übereinstimmung mit dem Gedanken: Natur und Mensch sind eins (tian-ren he-yi) bzw. die Zehntausend Wesen und Dinge sind eins (wàn-wù yī-tǐ 萬物一體). Erwachsene wurden sogar zu Vegetariern, weil sie die Grausamkeit, die Tieren beim Schlachten angetan wurde, für unerträglich und überflüssig hielten: »[…] Wenn ich mich seither jeder tierischen Nahrung enthalte, dann nicht, weil ich Angst hätte vor den Vergeltungen, die der Buddhismus all denen in Aussicht stellt, [die lebende Tiere töten oder töten lassen]. Ich tue schlicht das, was meinem Herzen Ruhe gibt. So bleibe ich in Übereinstimmung mit der [konfuzianischen] Lehre vom universalen [Mitgefühl] (tǐ-rén zhī xué 體仁之學).« 224
Ein erster Blick auf diese spätkaiserzeitlichen Philosophen mag den Eindruck erwecken, daß sie nur »alten Wein in neue Schläuche faßten«. Doch sollte dieser Überblick gezeigt haben, daß das so nicht ganz stimmt. Es ist zwar richtig, daß sie die jahrhundertealte skeptische Tradition noch einmal zusammenfaßten, bevor das vormoderne chinesische Denken zerfasert und westliches Denken der weiteren Philosophiegeschichte seinen Stempel aufdrückt. Doch geschah dieses Bündeln der philosophischen Überlieferung auf eine Weise, daß sie unversehens zu neuen Positionen fanden, die in der genannten Stringenz und Wirklichkeitsnähe zum Ausdruck kamen.
Fugeshi 附歌詩 (Anhang von Gedichten zum Singen), in: Xunmeng jiaoyue 訓 蒙教约, zit. n. Gernet 1996, 297. 224 Peng Shaosheng 彭紹升, Erlinjuji 二林居集; zit. n. Gernet 1996, 300; vgl. auch Tang Zhen 唐真 (1630–1704) im Gespräch mit seiner Frau, zit. in: Gernet ebd. 298. 223
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Exkurs: Körper, Leib und Welt. Spielerische Identifikation
4. Exkurs: Körper, Leib und Welt. Spielerische Identifikation 225 Ein gewisses Maß an Emanzipation von numinosen Atmosphären kann, ist vorauszusetzen, wenn der Mensch beginnt, sich auf spielerische Weise mit Aspekten der Welt und Umwelt zu identifizieren. Andererseits erscheint es plausibel, wenn sich Menschen spontan und vorreflexiv im Rückgriff auf naheliegende Dinge Fremdes vertraut machen. Die moderne chinesische Umgangssprache enthält, wie unsere Sprache auch, zahlreiche Bilder von fiktiven Zuordnungen zwischen der Welt, die den Menschen umgibt, auf der einen Seite und Körper und Leib auf der anderen. 226 So sind diese Wortbilder ein weiterer Beweis für den Körperleib als Resonanzboden unseres In-der-Welt-Seins, als Erfahrungsgrundlage unseres Sprechens und Denkens. Darüber hinaus mochten sie ihrerseits für die fortgesetzte Hochschätzung ganzheitlich wirkender Eindrucksanalogien verantwortlich sein. So hält die Sprache womöglich lebendig, was dem Bewußtsein des Einzelnen entgeht und eine offizielle Wissenschaft längst ad acta gelegt hat. Eine wenn auch kleine Auswahl dieser Wortbilder vorzustellen, unternimmt dieses letzte als Exkurs gestaltete Kapitel des Dritten Teils. Zunächst figuriert a) der Körper als Namensvetter für Natur. Mit Hilfe einzelner Körperteile die Welt namhaft zu machen, mag ursprünglich demselben fundamentalen Bedürfnis entsprungen sein wie die ganzheitlichen Leibbilder (s. III.2): dem Wunsch nach Selbsterweiterung bzw. Weltaneignung. Doch mag auch schlichte Lust am Analogisieren eine Rolle gespielt haben, denn nicht nur die Natur wurde auf den Menschen getauft; auch die vom Menschen selbst geschaffene gegenständliche b) Umwelt und zwischenmenschliche Beziehungen erhielten körperleiblich definierte Namen, 225
Die folgenden Ausführungen stützen sich weitgehend auf Eberhard 1987. Im Sinne des Untertitels von Johnson 1987: The Bodily Basis of Meaning, Imagination and Reason. Vgl. auch die Zusammenstellung japanischer »Körperausdrükke« von Jeffrey G. Garrison, »Body« Language. Tokyo. (Kodansha International) 1992.
226
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sofern sich Analogien aufdrängten. Nicht zuletzt kam umgekehrt Natur als Taufzeugin ebenfalls infrage: c) Natur als Quelle für Beschreibung von Körper und Leib bot sich insbesondere an, wenn es galt, die Faszination menschlicher Schönheit in Worte zu fassen. 227 In allen diesen sprachlich vermittelten Identifikationen, die im folgenden nacheinander vorgestellt werden, zeigt sich der ursprünglich enge Bezug zwischen Mensch und Natur. a) Körper als Namensvetter für Natur Bergnase, Meerbusen und Knoblauchzehe kommen uns in den Sinn, wenn wir unsere eigene Sprache nach demselben Phänomen befragen. Beginnen wir die chinesische Körperschau mit dem Kopf. Wenn der früh-daoistische Philosoph Zhuang Zhou (4./3. Jh. v. Chr.), entsetzt über den Raubbau an der Natur, »den haarlosen Norden« (無髮北 wú-fà-běi) 228 Chinas beschrieb, nahm er die Bäume als »Haare der Berge« wahr. Der Kopf stand Pate nicht nur für die Kuppel eines Berges, sondern auch für den Ursprung eines Flußlaufes, der als Quell-Kopf (yuántóu 源頭) bezeichnet wird; der aboder zunehmende Mond wird nicht nur wie bei uns als Sichel identifiziert, sondern als mond’ner Zahn (yuè-chǐ 月齒). Die Runzeln der Stirn finden sich in der Natur wieder als die Maserung oder Struktur der Rinde von Bäumen, die zu einem terminus technicus in der chinesischen Maltheorie avancierten. 229 Das Auge einer Quelle (quányǎn 泉眼) ist der Ort, an dem Wasser aus der Erde sprudelt, während mit dem Auge des Taifuns (tàifēngyǎn 太风眼) das windstille Zentrum des Wirbelsturms gemeint ist. Der Mund verlieh gleich einer ganzen Reihe von Öffnungen seinen Namen: Der Mund eines Berges (shānkǒu 山口) zielt allerdings nicht auf die Berghöhle, wie man erwarten könnte, sondern auf den Bergpaß. Höhlenmund (xuékǒu 穴口 bzw. dòngkǒu 洞口) wiederum ist der Höhleneingang; Feuermund (huǒkǒu 火口) bezeichnet 227 228 229
S. auch I.1.b. Gelesen und die Stelle nicht wieder gefunden. Debon 1970.
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einen Krater; und beim Mund des Flusses (hékǒu 河口) fällt uns sofort die Flußmündung ein. Steht ein Chinese vor einem See, so mag er sich beobachtet fühlen, denn die Wasseroberfläche erscheint ihm als Antlitz des Sees (húmiàn 湖面). Auch die Gliedmaßen eigneten sich hervorragend, verschiedene Phänomene der Natur danach zu benennen. Während die Hände in der chinesischen Sprache allerdings mehr im zwischenmenschlichen Umgang symbolträchtig sind (s. u.), treffen wir die Füße auch in der Natur an: Vertraut sind wir mit dem Fuß des Berges (shānjiǎo 山腳), während die Füße des Regens (yǔzú 雨足) unserer Phantasie etwas mehr abverlangen: Gemeint sind die dichten Regentropfen, die wir eher wie Bindfäden vom Himmel fallen sehen. Der menschliche Rücken findet sich in der Bezeichnung Bergrücken (shānbèi 山背), womit allerdings die der Sonne abgewandte Seite gemeint ist; unser Wort »Bergrücken« ist hingegen mit Rückgrat des Berges (shānjí 山脊) zu übersetzen. b) Körper, Umwelt und Zwischenmenschliches Es ist leicht nachzuvollziehen, daß der Mensch auch die Gegenstände, die er sich schuf, »nach seinem Ebenbild« taufte. Wenn wir vom Nadelöhr sprechen und vielleicht vergessen haben, daß hier das menschliche Ohr Pate stand, so schreiben die Chinesen der Nadel eine Nase zu und meinen mit Nadelnase (zhēnbí 針鼻) genau dasselbe. Das Ohr oder vielmehr beide Ohren stehen in China hingegen für die Henkel bzw. Griffe eines Kessels (húěr 壺耳). Die Hand verleiht den Griffen von Schubladen und Türen den Namen und wird so zu Schubladenhand bzw. Türhand (bǎshǒu 把手). Auch Zwischenmenschliches wurde und wird mit Hilfe der Körperteile ausgedrückt. Die Liste entsprechender Redewendungen ist schier unerschöpflich; nur einige geläufige seien genannt: Wem bescheinigt wird, daß er »Herz-und-Augen« (xīnyǎn 心眼) besitze, dem wird Intelligenz und die Fähigkeit zu weiser Voraussicht nachgesagt. Die Zusammensetzung aus Ohr-und-Auge (ěrmù 耳目) zielt auf Spione oder untergeordnete Amtsdiener, die alles hören und sehen; das kalte Auge (lěngyǎn 冷眼) verrät Gleichgültigkeit, wenn nicht Unfreundlichkeit, das weiße Auge (báiyǎn 白眼) Unmut und Haß, 297 https://doi.org/10.5771/9783495860182 © Ver
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während das rote Auge (hóngyǎn 紅眼) Neid anzeigt. Waagrechte Augenbrauen (héngméi 橫眉) verleihen dem Gesicht einen unfreundlichen, ärgerlichen Ausdruck, was uns der Spiegel notfalls auf Anhieb bestätigt. Sich-trennende Hände (fēnshǒu 分手) bedeuten, daß zwei Menschen auseinandergehen; Hände von Menschen (rénshǒu人手) gelten allgemein als Helfer, ganz im Sinne unserer hilfreichen Hände. Wenn Hände und Mund Rücken an Rücken stehen (shǒukǒu xiāngbèi 手口相背), unterstellt die chinesische Sprache, daß die Tat nicht hinter den Worten zurückbleibt. Dieb heißt im Chinesischen Dreihänder (sānshǒu 三手), weil sich drei Hände ganz offensichtlich zum Stehlen besser eignen als zwei! Zuletzt ein lustiges Bild für einen duldsamen und toleranten Menschen, in dessen Bauch man mit dem Boot fahren kann (dùzilǐ huáchuán 肚子里 划船), ohne daß es ihn aus der Ruhe bringt. Bisher kamen nur einzelne Teile des sicht- und tastbaren Körpers zur Sprache; doch stellte sich immer wieder auch der Blick aufs Ganze ein. Manchmal bot sich ein einzelner Körperteil an, der dann für den ganzen Menschen genommen wurde. Ein schönes Beispiel für pars pro toto ist die Nase: Wenn wir uns z. B. auf die Brust klopfen und »Ich« meinen, dann deuten die Menschen in China und Japan heute noch spontan auf ihre Nase, zumal eine Etymologie das Zeichen für »Selbst« (zì 自) als Abbild der Nase erklärt oder auch weil das Zeichen für Nase (bí 鼻) im oberen Teil das Element »Selbst« enthält. 230 Es ist aber auch gut möglich, daß der Fingerzeig nur die allgemeine Richtung angibt und vielmehr ein Bereich bzw. Punkt oberhalb der Lippen zwischen Nase und Mund gemeint war: Dieser Punkt gilt in der Traditionellen Chinesischen Medizin als des »Menschen Mitte« (rén-zhōng 人中) und ist als solcher bei der Akupunktur von zentraler Bedeutung. Warum ausgerechnet diese Stelle geeignet sein soll, die Mitte eines Menschen und damit seine Gesamtpersönlichkeit zu symbolisieren, will uns ein Maler, Kalligraph und Gelehrter des 13. Jahrhunderts, Zhao Mengfu 趙孟頫 (1254–1322), glauben machen, von dem folgende Erklärung überliefert ist:
230
Vgl. Karlgren 1966, No. 1237, 450–451.
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»Wenn man von der Mitte des ganzen Körpers redet, so müßte sie doch zwischen Nabel und Unterleib liegen. Warum bezeichnet man wohl gerade diese Stelle [zwischen Nase und Mund, G. L.] als ›Mitte‹ ? Weil nämlich von hier an nach oben Augen, Ohren und Nase paarweise angeordnete Öffnungen darstellen; von hier an nach unten aber sind Mund und, was die beiden Bedürfnisse angeht, jeweils nur eine Öffnung. So bildet das Ganze das Hexagramm t’ai.« 231
Offenbar bezog sich Zhao auf das Hexagramm Nr. 11 im altchinesischen Orakelbuch Yijing 易經. Dieses weist in der oberen Hälfte drei unterbrochene yin-Linien auf, also drei Strichpaare, in der unteren drei durchgängige yang-Linien. Da das Hexagramm als Zeichen für Friede tài 泰, Harmonie und Ausgeglichenheit 232 interpretiert wird, wollte Zhao entweder auf die der menschlichen Gestalt eigene Symmetrie anspielen oder womöglich auf die harmonisierende Wirkung dieses Punktes. Wie auch immer – seine Gäste, die anläßlich einer Malstunde in seinem Hause weilten und die er mit dieser Erklärung überraschte, stimmten ihm jedenfalls – so will es die Überlieferung – »voller Ehrfurcht« vor diesem Geistesblitz zu. 233 Auch das Gesicht (miàn 面) bzw. (liǎn 脸) sowie Auge-und-Gesicht (mùmiàn 目面) stehen heute noch für den ganzen Menschen: für Persönlichkeit und Charakter. Gesicht hat darüber hinaus eine soziale Dimension, denn es bedeutet auch Ansehen. Wer in China sein Gesicht verliert (diūliǎn 丢脸), beschämt nicht nur sich selbst, sondern die gesamte Gruppe, der er angehört und die ihm soziale Identität gewährt. Umgekehrt ist jeder aufgefordert, niemanden zu beschämen; vielmehr soll jeder einem anderen aus einer beschämenden Situation heraushelfen, indem er dem Betroffenen »ein Gesicht gibt« (gěi miànzi 给面子). Als Beispiel für die Übertragung zwischen einzelnen Körperteilen muß noch einmal die Nase herhalten, d. h. Nase und Mund sind gefragt: Die oben erläuterte Mitte des Menschen (ren-zhong) steht nämlich auch für die Freuden der geschlechtlichen Liebe, da die Nase zugleich das männliche Glied und der Mund die Vagina sym231 232 233
Übs. Franke 1956, 59. Wilhelm, R. 1990, 62. Franke 1956, 59.
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bolisiert. Die große Nase bei Männern, davon war man offenbar in China wie im Frankreich zur Zeit Diderots überzeugt, verrät eine entsprechende sexuelle Potenz. Auch der kahle Kopf stand für das männliche Glied, weshalb das Schimpfwort Glatzkopf (tūtóu 禿頭) besonders die kahlgeschorenen buddhistischen Mönche treffen sollte, zumal ihnen die öffentliche Meinung Aktivitäten dieser Art nachsagte – ob zu Recht oder Unrecht, sei hier dahingestellt. c) Natur als Quelle für Beschreibung von Körper und Leib Schon in den Ausführungen über Schönheit von Frau und Mann begegnete uns umgekehrt die Natur als unerschöpflicher Vorrat von ausdrucksstarken Metaphern. (S. I.1.b). Vor allem die Attribute von Weiblichkeit konnten dem Vergleich mit der Natur standhalten. Die Augen einer schönen Frauen wurden als Mandeln (xìngrén 杏仁) oder auch als Meteore (liúxīng 流星) bezeichnet. Die Augenbrauen wiederum sind neben dem Kopfhaar bzw. der schwarzen Wolken[frisur] (hēiyún 黑雲) die wichtigsten Schönheitsattribute der Frau. Deshalb zupften die Frauen im vormodernen China ihre Augenbrauen, um der Natur etwas nachzuhelfen und diese in schöneren Schwüngen desto besser zur Geltung zu bringen: Leicht gebogene Augenbrauen wurden schwärmerisch mit Schmetterlingen (dié 蝶) und Mottenfühlern (é 蛾) verglichen. Ein in der Lyrik immer wiederkehrender Topos sind die Brauen – schön wie ferne Berge (měi rú yuǎnshān 美如遠山). Von einem Kaiser der Tangzeit (618– 906) wird berichtet, er habe ein Bild mit zehn unterschiedlich geformten Augenbrauen anfertigen lassen und höchstpersönlich jeder Form einen eigenen Namen verliehen. Obwohl – oder gerade weil – das Brustband bei Frauen dafür sorgte, die Brüste unauffällig und verdeckt zu halten, hat die weibliche Brust immer wieder die Phantasie der Männer beflügelt. Noch heute wird sie als Jadegipfel (yùdǐng 玉頂) 234 oder als die beiden Berggipfel (shāndǐng 山頂) bezeichnet und das Tal dazwischen analog mit einer Felsschlucht verglichen. 234
Zu den metaphorischen Umschreibungen unter Verweis auf den hoch geschätzten Jadestein s. Erotik und Sexualität in: II.3.b (4).
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Weniger lyrisch, zumindest für unsere Begriffe, dafür aber umso mehr leiblichen Genüssen zugewandt, ist die Bezeichnung Dampfnudel (mántóu 饅頭) für eine weibliche Brust. Die Bezeichnung für die Brustwarzen zielt nicht minder auf oralen Genuß: Weintrauben (pútáo 葡萄). Auch dem Nabel kam in diesem Kontext wichtige Bedeutung zu, und zwar wiederum als Ausdruck der Freude am Essen, denn ein schön geformter Nabel erinnerte an eine Bohne: Immerhin war und ist die Sojabohne wegen ihres hohen Eiweißgehaltes eines der wichtigsten Nahrungsmittel in China. Das zeigt sich nicht zuletzt auch in dem Ausdruck Essen von Bohnenkäse (chī dòufu 吃豆腐), der allerdings für »Beischlaf« steht. Wie die weiblichen Brüste hat das Schamhaar der Frauen die Phantasie angeregt. Man nennt es nie direkt, sondern umschreibt es mit Ausdrücken, die uns z. T. durchaus vertraut erscheinen: Moos (tái 苔), schwarze Rose (hēi méiguī 黑玫瑰) oder auch duftendes Gras (wèicǎo 味草). Chinesische Liebhaber schlossen sogar vom langen und feinen Schamhaar auf die Klugheit der betreffenden Frau. Dumme Frauen wiederum ließen ihrer Meinung nach jedes Schamhaar vermissen. Die Liste der wichtigsten Körperteile und ihrer spielerischen Umschreibungen wäre unvollständig ohne den Lilien- bzw. Lotusfuß, auch Goldlotus (jīn-lián 金蓮) genannt, den heutige Chinesen und Chinesinnen nicht anders als wir als eine Verkrüppelung des Fußes empfinden. 235 Bei der sprachlichen »Einverleibung« von Natur und Umwelt kam offensichtlich beides zum Zuge: der tast- und sichtbare Körper sowie leiblich-atmosphärisch gespürte Anmutungen, vor allem bei der Schilderung von weiblicher Schönheit 236, während umgekehrt, wenn es darum ging, die Natur auf dem Umweg über den Menschen namhaft zu machen, einzelne Körperteile gefragt waren. In beiden Fällen geht es um auffallende Formähnlichkeiten bzw. analoge Gestaltverläufe, auch wenn diese als Anmutung nur vage angedeutet sind. Gleichzeitig ist nicht zu übersehen, daß der ganze Bereich menschlicher Sexualität die Dinge nie bei einem nüchternen anatomischen Namen nennt. Vielmehr verhält es sich geradezu um235 236
S. I.1.c sowie II.3.c. S. I.1.b.
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gekehrt, denn die in der Medizin heute noch gültigen anatomischen Bezeichnungen sind spielerische Umschreibungen von lauter Kostbarkeiten, welche die Körperleibperspektive bestätigen. 237
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Lebens- und Denkformen. Eine Zusammenfassung nach Wendepunkten
I. Frühe Prägungsphase der chinesischen Philosophie im 6. bis 3. vorchristlichen Jahrhundert 1. Am Beginn jeder philosophischen Besinnung steht Abstandnahme, ein Stück personaler Emanzipation. Das bedeutet, daß die frühen chinesischen Philosophen nicht in naivem Einheitsdenken befangen waren, daß sie vielmehr aus dem Erleben von Differenz heraus ihre Welt- und Selbstdeutungen formulierten. 2. Am Menschen selbst nahmen sie zwei Unterscheidungen vor: Außen (Gestalt) und Innen (Lebenskraft, Bewußtsein, Geisteskraft) sowie implizit und explizit die Unterscheidung von tastund sichtbarem Körper und leiblichem Spüren. Außen bedeutete nicht unbedingt Körperliches, denn Tast- und Sichtbares fand sich auch im Innern; ebenso wenig war das leibliche Spüren auf das Innen beschränkt, sondern bezog die dem Körper äußerlichen und räumlich ergossenen Stimmungen und Atmosphären mit ein. 3. Außen und Innen wurden im allgemeinen bei aller Differenzierung als Einheit wahrgenommen. Sie blieben aufeinander bezogen und ergänzten einander; auch der tast- und sichtbare Körper und der gespürte Leib gehörten zusammen als körperleibliche Gesamtpersönlichkeit. 4. Das Grundmuster »Einheit bei Differenz« wurde an unterschiedlichen Aspekten der chinesischen Tradition expliziert: Es lag den Vorstellungen von Leben und Tod ebenso zugrunde wie den Bildern von Schönheit und Häßlichkeit und beherrschte die Kunst der Physiognomik ebenso wie die signifikanten Körperleibbegriffe.
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5. Bei alledem registrierten die Philosophen zwar den tast- und sichtbaren Körper, interessierten sich aber mehr für leibliches Spüren. Auch beim Herzen schauten sie weniger auf das anatomisch-körperliche Substrat als vielmehr auf dessen herausragende Funktion im »Konzert leiblicher Regungsherde«. Das Herz war Sitz der Gefühle und zugleich Sitz des Bewußtsein, des Willens, der Geisteskraft und der Moral. 6. Die Frage, warum nicht wie in Europa der Kopf, sondern das Herz zum Sitz des Denkens auserwählt wurde, könnte wie folgt beantwortet werden: Vier der Fünf Sinnesöffnungen befinden sich am Kopf; indem die offizielle europäische Philosophie bei der Wahrnehmung nur die Fünf Sinne gelten ließ, ergab sich womöglich schon deshalb eine Höherwertung des Kopfes in der Wahrnehmung von Welt. Die frühen chinesischen, insbesondere daoistischen Philosophen hingegen mißtrauten den Sinnesöffnungen um des leiblichen Spürens willen. Folglich wählten sie den Ort, an dem sich leibliches Spüren am intensivsten ereignet, das Herz zu jener Instanz, welche zugleich die Gefühle regelt und kontrolliert. 7. Gefühle wurden nicht nur im und am eigenen Leibe gespürt, sondern auch um den Menschen herum als räumlich ergossene Atmosphären: So entpuppten sich religiöse Vorstellungen als leibliches Ergriffensein von numinosen Atmosphären. In zentralen Denkfiguren der chinesischen Philosophie wie qi, yin-yang, Fülle und Leere, kamen die fundamentalen leiblichen Dimensionen Engung/Verdichtung/Füllen auf der einen Seite und Weitung/ Zerstreuung/Leeren auf der anderen ebenso zum Vorschein wie das Erleben atmosphärischer Einflüsse von Tag und Nacht, Frühling, Sommer, Herbst und Winter, Wärme, Kälte, Trokkenheit und Feuchtigkeit und anderer Wirkkräfte der Natur. 8. Auch das gesellschaftliche und politische Leben war von Atmosphären durchdrungen: Sie wirkten verbindend (Musik) und differenzierend (Ritual) oder auch zerstörerisch (Krieg und Aggression), immer aber »ergreifend« bzw. betreffend in gemeinsamer Situation. 9. Einheit bei Differenz galt nicht nur für das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, sondern auch für das Verhältnis zwischen 304 https://doi.org/10.5771/9783495860182 © Ver
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Mensch und Welt. Sie gründete in den Vorstellungen von der Entstehung und Beschaffenheit des Kosmos, insbesondere in der Vorstellung von den Wandlungen des qi als kosmischer Lebens- und Antriebskraft. Tast- und Sichtbares galt als verfestigtes qi; Unsichtbares galt als flüchtiges, feinst zerstreutes qi. Auch der Mensch war durch und durch qi, seine festen, tast- und sichtbaren Anteile (Sehnen, Muskeln, Blut) ebenso wie seine Gefühlsaufwallungen, sein Bewußtsein, seine Lebens- und Geisteskraft. Weltentstehungslehren entpuppten sich ebenfalls als Ausdruck leiblicher Befindlichkeit: So gesehen stellt sich das ChaotischMannigfaltige des kosmischen Urzustandes als Projektion einer undifferenzierten Bewußtseinslage bzw. leiblicher Befindlichkeit dar, aus der heraus sich im Prozeß personaler Emanzipation das Personsein entfaltet. So hat der Prozeß kosmischer Individuation seine Parallele in der Entfaltung personaler Emanzipation. Umgekehrt ist Meditation Umkehrung von Individuation: personale Regression. Bereits in der frühen Prägungsphase der chinesischen Philosophie setzte das Bemühen ein, die Reize und Extreme zu meiden, sich einzufügen in den spontanen Ablauf der Dinge und sich herauszuhalten aus dem Streit der Welt. Dabei spielte der Wunsch nach Selbstachtung ebenso eine entscheidende Rolle wie die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben. Das Bedürfnis nach personaler Emanzipation gegenüber verstrickenden, beunruhigenden, verhängnisvollen Stimmungen und Gefühlsaufwallungen setzte eine gesellschaftliche Praxis in Gang, die auch der chinesischen Geschichte als Prozeß der Zivilisation ihren Stempel aufgeprägt hat. Grundsätzlich gilt, daß im weiteren Verlauf der Jahrhunderte gänzlich neue Motive selten in Erscheinung traten. So sind nach der Prägungsphase vor der Begegnung mit dem Westen im Grunde nur zwei Wendepunkte auszumachen: die Jahrhunderte unmittelbar vor und nach Chr. sowie im Gefolge des Neokonfuzianismus der Songzeit (960–1279).
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II. Die Jahrhunderte unmittelbar vor und nach Chr. 1. Der erste Wendepunkt philosophischer Besinnung und die damit verbundene Rückwirkung auf individuelle und kollektive Lebensformen fiel mit einer Nahtstelle in der Geschichte Chinas zusammen: Sie entspricht dem Übergang von einer lockeren Lehensordnung, in dem der König nicht viel mehr als ein primus unter Fürsten war, zu einem geeinten zentralisierten bürokratisch verwalteten Staat mit einem Kaiser an der Spitze. Diese umwälzenden politischen Veränderungen hatten zivilisatorische Schübe zur Voraussetzung und erst recht zur Folge. 2. Was die Selbst- und Weltwahrnehmung der Epoche am Augenfälligsten prägte, war die Einigung und Konsolidierung des Reiches sowie eine damit verbundene schärfere Trennung zwischen Innen (China als Friedensgebiet) und Außen (Feindes- bzw. »Barbaren«land). Diese Kontrastierung brachte zwei im Grunde gegensätzliche Einstellungen hervor: Das Bewußtsein von integrierter Einheit und das Bewußtsein von Feindseligkeit. 3. Das Bewußtsein von Feindseligkeit mochte u. a. für die verschiedenen Antagonismen verantwortlich sein, die sich in dieser Epoche in den Vordergrund schoben, ohne die Polaritäten im Sinne des Komplementären grundsätzlich außer Kraft zu setzen: der Antagonismus zwischen gutwilligen und böswilligen Totengeistern (shen vs. gui), gutem und schädigendem qi, zwischen hun und po, yin und yang, zwischen der guten menschlichen Natur und den verwirrenden Emotionen und nicht zuletzt das zwischen Begehrlichkeiten und moralischer Einsicht schwankende menschliche Herz. 4. Dem Bewußtsein von einem gestärkten inneren Zusammenhalt wiederum waren die komplexen Leibbilder zu verdanken, in denen sich der Mensch als Mikrokosmos unter anderen Mikrokosmen (Staat, Kosmos, Landschaft) vorstellte: Mikro- und Makrokosmos erschienen analog aufgebaut, und sie entsprachen einander in ständiger Wechselwirkung im Guten wie im Schlechten. 5. Wenn sich in dieser Epoche das Herz durchaus nicht mehr als primus inter pares – als Lehrer oder Fürst – stilisierte, sondern 306 https://doi.org/10.5771/9783495860182 © Ver
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sich zum Herrscher über die anderen Regungsherde aufschwang, so lugte dahinter der bürokratische Zentralstaat hervor. 6. Die Machtergreifung des Herzens und die erwähnten Antagonismen haben ebenso miteinander zu tun wie die in dieser Epoche vollzogene Introjektion der Gefühle, und diese wiederum war ebenso sehr Reaktion auf die schärfere Innen-Außen-Trennung wie eine Fortsetzung der Errungenschaften der personalen Emanzipation. 7. Während den Philosophen die Zentrierung der Gefühle auf das Herz als ausgemacht galt, blieb die chinesische Medizin der Vielfalt leiblichen Spürens treu und hielt am dezentralen Charakter der inneren Regungsherde fest. In beiden Fällen aber erfüllte das Herz die Rolle einer inneren Instanz, welche bestimmte Gefühle selektierte, zensierte und kontrollierte. 8. Nicht einmal von den Philosophen wurde die Introjektion in letzter Konsequenz verfolgt, zumal kein physiologischer Reduktionismus gegeben war, der die Sinneswahrnehmung verabsolutiert und die gespürten Atmosphären verleugnet hätte: Nur diejenigen unter den Gefühlen, welche die Gelassenheit und Selbstachtung des einzelnen gefährden und das friedliche Miteinander der Menschen stören konnten, wurden negativ bewertet: Emotionen wie übergroße freudige Erregung, Zornesfülle, verbissenes Grübeln, verzehrende Trauer und nagender Kummer, fortgesetzte Melancholie, lautstarke Heiterkeit und lähmender Schrecken, also extreme und anhaltende Gefühle. III. Im Gefolge des Neokonfuzianismus der Songzeit (960–1279) 1. Auch der zweite Wendepunkt kam nicht von ungefähr: Das Zwischenspiel der Lehre vom Dunkeln im 3./4. Jh. war ihm um einige Jahrhunderte vorangegangen, und der Einfluß indischer bzw. buddhistischer Gedanken- und Lebenswelten hatte sich tiefgreifend bemerkbar gemacht, ganz zu schweigen von neuerlichen Zivilisationsschüben. 2. Die Vertreter der Lehre vom Dunkeln verzichteten bei ihren abstrakteren begrifflichen Auslegungen der Welt tendenziell auf 307 https://doi.org/10.5771/9783495860182 © Ver
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Anschauung und Lebenserfahrung. Sie trieben die Introjektion der Gefühle voran und förderten auf diese Weise personale Emanzipation gegenüber Emotionen, Begehren und andrängenden Atmosphären. 3. Der Mahayana-Buddhismus wiederum, der mit der Seelenwanderung eine Form von altindischem Dualismus nach China importierte, verstärkte auf seine Weise die Außen-Innen-Trennung, behauptete die Unsterblichkeit des Geistes bzw. der »Seele« und sorgte so für eine Minderbewertung der körperlichen Hülle. Mit anderen Worten, die neokonfuzianische Leibund Lebenshemmung war durchaus nicht nur der konfuzianischen Tradition, sondern gleichermaßen buddhistischen Bestrebungen geschuldet, die Lust am Leben zu »stillen« um der Erleuchtung oder Versenkung willen. Letzteres Anliegen teilten sie mit dem meditativen Daoismus. 4. Die chinesische Gesellschaft war nach den Zivilisationsschüben der Mittleren Kaiserzeit eine andere geworden. Der frühkaiserzeitliche Adel, dem noch an kriegerischen Werten und Leibesertüchtigung gelegen war, hatte die politische Bühne verlassen. An seine Stelle waren Beamte getreten mit einer feinsinnigen Gelehrtenkultur, die beim Dichten, Malen, Kalligraphieren, Musizieren, Wandern und nicht zuletzt in der Meditation ihre Lebenskraft nährten. Gleichzeitig waren die Menschen dichter zusammengerückt, zumal auf einem verkleinerten Territorium: Urbanisierung, Kommerzialisierung, Bürokratisierung, neue Erkenntnisse in Wissenschaft, Medizin und Technik sind nur einige Stichpunkte, die den gesellschaftlichen Wandel der Mittleren Kaiserzeit andeuten. 5. Im jahrhundertelangen Prozeß der Zivilisation hatten sich die Menschen der Oberschicht und in urbanen Kontexten daran gewöhnt, Gefühl und spontane Regungen zu zähmen; doch immer wieder begehrten die Emotionen heftig auf, so daß sich das Herz als Sitz des Bewußtseins und des Willens genötigt sah, umso heftiger dagegen anzugehen. Kein Wunder, daß nach der Herrschermetapher aus der Zeit der Reichseinigung nunmehr die Metaphorik des Kampfes in den Vordergrund rückte; Hand in
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Hand damit ging die Kontrolle, wenn nicht Überwältigung von Gefühl und Begehren durch Gewissen und Moral. Nicht nur am Begriff des Herzens, sondern auch an der Lehre vom qi nahm der Neokonfuzianismus entscheidende Veränderungen vor. Das qi – ehemals kosmische Lebenskraft und alles durchdringende Atmosphäre – erfuhr eine Abwertung und eine »Verstofflichung«. Diese Ansätze eines neokonfuzianischen Reduktionismus und Materialismus sind mit dem Namen Zhu Xi (1130–1200) verknüpft. Ein weiterer Reduktionismus ergab sich aus Zhu Xis Vorstellung von den kosmischen Ordnungsprinzipien (li), denn diese hatten mit Leib- und Lebenserfahrung nicht mehr viel zu tun. Indem Zhu Xi darüber hinaus qi und li gegeneinander ausspielte, hatten sich zum Reduktionismus und Materialismus unversehens Ansätze eines Dualismus gesellt. Der Dualismus wiederholte sich im Umgang mit den Gefühlen, denn, so glaubten die Neokonfuzianer, Emotion und Begehren gingen auf Kosten der angeborenen guten menschlichen Natur. Der neokonfuzianische Wendepunkt schlug sich nicht nur im philosophischen Diskurs nieder, sondern auch in der konkreten Lebensgestaltung, z. B. im veränderten Trinkverhalten, in Bewegungshemmung und Umgang mit Emotion und Begehren und nicht zuletzt in der allmählichen Verkümmerung von Körperertüchtigung und -spiel.
IV. Das Fortdauernde in der Geschichte 1. Nicht einmal Zhu Xis Ansätze von Dualismus und Materialismus vermochten letztlich die alte Vorstellung vom einheitlichen qi abzuschaffen; also überlebte die Vorstellung von der Einheit des Menschen und von der Einheit von Mensch und Welt. 2. Beide Einheitsgedanken gründeten erstens in der Lehre vom qi: Nach wie vor hielt die Mehrheit der Philosophen an einem dynamischen Weltbild fest und behauptete, daß die Dynamik des qi allem Geschehen innewohnt. Hin- und herpendelnd zwischen extremer Verdichtung und feinster Zerstreuung sorgen die 309 https://doi.org/10.5771/9783495860182 © Ver
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Wandlungen des qi für Leben und Sterben in der Welt. Am Pol der Fülle und Verdichtung sind die Dinge tast- und sichtbar, am Pol der Zerstreuung und Leere sind sie unsichtbar, allenfalls noch atmosphärisch spürbar. Zweitens ergibt sich die Einheit der Welt aus dem in China vorherrschenden Leitbild des ti-yong: Das Für-anderes-Sein (Funktion, Gebrauch) ist entscheidender als das An-sich-Sein (Substanz). Mit anderen Worten, im chinesischen Kontext gilt nicht die Aufeinanderfolge Substanz-Akzidens-Relation; vielmehr liegt die Gewichtung auf Relation und Kontext bzw. auf der Funktion (yong) einer grundlegenden Gegebenheit (ti). Metaphorische Umschreibungen für dieses Wechselverhältnis sind: Kerze, Messer und Wasser (ti) und Flamme, Schärfe und Wellen (yong). 3. Bis heute sind Sprachbilder lebendig, die in (spielerischer) Identifikation die Einheit von Mensch und Welt beschwören und zugleich uns daran erinnern, wie sehr unser Denken und Sprechen, Meinen und Deuten letztlich leiblich fundiert sind. 4. Da keiner der Philosophen einer Reduktion der Wahrnehmung auf die Fünf Sinne das Wort redete, kam bei aller Introjektion ein Teil der Gefühlsatmosphären ungeschoren davon. Nicht nur das: Die chinesische Gelehrtenkultur hegte und pflegte alle schönen Atmosphären, z. B. im bewußten Erleben von Landschaft und Natur, im »Nähren des qi« durch Dichten, Musizieren und Kalligraphieren und nicht zuletzt durch Wohnen im umfriedeten und atmosphärisch gestalteten Raum. 5. Der Versuch, sich durch personale Emanzipation vor der Selbstpreisgabe an Emotionen und Begehren zu hüten, ist durchgängig im chinesischen Denken. Nicht immer lief dies auf Leib- und Lebensfeindlichkeit hinaus: Positiv gewendet war es der Weg von »Mitte und Beständigkeit«. Wem diese Gratwanderung gelang ohne abzugleiten, der wandelte in zufriedener Gelassenheit und achtete auf das eigene Leben und das Leben anderer und kultivierte zugleich den »Geschmack des Schmacklosen« 1: eine subtilere Genußfähigkeit jenseits aller Sinnenreize. 1
So heißt bei Debon 1970, was Jullien 1991 »Lob des Faden« (l’éloge de la fadeur) nennt.
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6. Die fortgesetzte Anerkennung der umhüllenden Atmosphären ließ von den zahlreichen Leibbemeisterungen, die im Laufe der Jahrhunderte verloren gingen, bis heute Meditation gelten: das »Sitzen und Vergessen« als Erfahrung leiblicher Ganzheit und der All-Einheit mit Buddha oder dem dao. Auch überdauerten die sanften Lebenspflegetechniken als Teil der Gelehrtenkultur, während Kampfkunst, offiziell verboten, in subkulturell agierenden Sekten und Gemeinschaften praktiziert und weiter entwikkelt wurde. Auch in Gestalt des Taijiquan überlebte die Kampfkunst als verlangsamte meditative Bewegungskunst. 7. Bereits in der frühen Prägungsphase chinesischen Denkens machte sich eine Tendenz bemerkbar, Göttlich-Numinoses vom Naturgeschehen im engeren Sinne zu trennen. Gegen alle Versuche einer Remystifizierung der Welt im Gefolge des ersten Wendepunktes hielt eine Minderheit die Jahrhunderte hindurch menschliche Selbstbehauptung hoch: gegen Götter- und Geisterglauben, gegen Zukunftsorakel, Physiognomik, Zahlenspekulationen und okkulte Praktiken aller Art. 8. War diese Art der Selbstbehauptung eine Folge zivilisatorischer Schübe, so wirkte sie ihrerseits auf eine fortschreitende Naturbeherrschung hin, die sich in beeindruckenden Erfindungen und Entdeckungen niederschlug. 9. Dieser Traditionsstrang, an dem eine aufgeklärte Elite knüpfte, hatte ihren Höhepunkt bei Gelehrten im 17. Jahrhundert, die bei aller Ehrfurcht vor dem Mysterium des Lebens eine naturkundliche Weltsicht im besten Sinne des Wortes vorlegten. Erst nach und nach vollzog sich, nicht zuletzt durch die Herausforderung westlicher Naturwissenschaften, auch in der VR China eine radikale Entzauberung der Welt von numinosen Mächten, indem qi heute als reines Naturphänomen verstanden wird, das man mit Begriffen der modernen Physik, wie Information, Materie und Energie, zu fassen versucht.
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V. Vergleich mit der offiziellen europäischen Philosophie 1. Der Vergleich mit Europa, der immer wieder zur Sprache kam, förderte analoge – diskursiv oder performativ hergestellte – Entwicklungen zutage: das Bedürfnis nach personaler Emanzipation und der Prozeß der Zivilisation. 2. Die Selbstermächtigung einer inneren Instanz, die Platon (427– 347 v. Chr.) »Seele« genannt hatte, ähnelte in China der Selbstermächtigung des Herzens. Beide, die abendländische Seele und das chinesische Herz, stellten sich als eine Behausung der Gefühle und zugleich als »Herr im Hause« (Schmitz) dar. Doch war die Seele als gedankliches Produkt der offiziellen europäischen Philosophie weiter von der unmittelbaren Leiberfahrung entfernt als z. B. in europäischen Volkskulten. In China hingegen blieb man bei aller Ichbehauptung dem Herzen treu als unmittelbar gespürtem leiblichen Regungsherd. 3. Gleichzeitig zeigte sich die europäische Philosophie mehr an der Hierarchie von Oben und Unten interessiert, während den chinesischen Philosophen vor allem an der Unterscheidung von Innen und Außen gelegen war. Dennoch wurde im Zuge der Reichseinigung auch das über weite Strecken komplementär gedachte Verhältnis von yin und yang im gesellschaftspolitischen Kontext hierarchisch umgewertet. 4. Seit Demokrit (460–380 v. Chr) hatte sich die europäische Philosophie auf die festen Körper konzentriert, die leicht manipulierbar und intersubjektiv identifizierbar waren. Flüssiges und Atmosphärisches hingegen liefern im Sinne des Messens und Zählens kein so brauchbares Modell. 5. Die chinesischen Philosophen hingegen entschieden sich bei aller Anerkennung der festen Körper für das Atmosphärische und machten es zu ihrer vorrangigen Leitfigur. Mit anderen Worten, nicht das vereinzelte Ding und sein An-sich-sein (Substanz) interessierte sie in erster Linie, sondern das, was zwischen den Dingen war, sein Sein-für anderes (Funktion/Relation). Und nicht nur das: Vielfach machte die Funktion das eigentliche Wesen der Sache aus; d. h. eine bestimmte Substanz war gar nicht faßbar unabhängig von Relationen und Funktionen. 312 https://doi.org/10.5771/9783495860182 © Ver
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6. Diese im Vergleich zu Europa etwas andere Gewichtung durchzieht die chinesische Kultur als eines der Grundmuster; sie äußert sich in der Philosophie und Kunst ebenso wie in der Grammatik der Schriftsprache und im gesellschaftlichen Leben.
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1. Begriffe aus der Neuen Phänomenologie 1 Atmung bezeichnet den Vorgang des Ein- und Ausatmens, der sich rhythmisch vollzieht als Füllen und Leeren von Atemluft bei gleichzeitigem Weiten/Heben bzw. Engen/Senken des Brustkorbs. Ausleibung bezeichnet die Bewegung hin zum Weitepol leiblicher Ökonomie (s. u.). Extreme Erscheinungen von Ausleibung sind: Ekstase, extreme Formen der Meditation, aber auch das tägliche Einschlafen als Wegdämmern ins Abwesendsein. 2 Das Chaotisch-Mannigfaltige bzw. das chaotisch-mannigfaltige Kontinuum von Dauer und Weite bezeichnet den leiblichen bzw. Bewußtseinszustand des Dahinwährens, Dahindämmerns am Pol personaler Regression (s. u.). Im Kontext vormoderner chinesischer Weltentstehungslehren entspricht das ChaotischMannigfaltige dem undifferenzierten Zustand (wu) des dao vor jeder Individuation. Einleibung bezeichnet die Verschmelzung auf einander eingespielter oder sich einspielender Leiber, z. B. beim Sichanblicken, beim Händedruck, im Liebesspiel, im gemeinsamen Musizieren, im Paartanz, in Mannschaftswettkämpfen, in der Kampfkunst und nicht zuletzt bei performativen Anlässen als Künstler und Zuschauer übergreifende gemeinsame Situation. Aber auch Gegenstände, Werkzeuge, Musikinstrumente, wie der Pinsel des Kal1 Es handelt sich um in alphabetischer Reihenfolge aufgeführte Begriffe, die zum methodischen Instrumentarium der vorliegenden Untersuchung gehören. 2 Träumen als besondere Form der Explikation unbewußter Inhalte steht m. E. der schonenden poetischen näher als der diskursiv-linearen Rede.
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ligraphen, das Schwert des Kampfkünstlers, lassen sich einleiben. Die extreme Erscheinung von Einleibung äußert sich als »Abwesendsein« bei Bewußtlosigkeit, z. B. im Schreck; s. Ausleibung. Entfaltete Gegenwart s. Primitive Gegenwart Enge und Weite bzw. Engung und Weitung bezeichnen die wichtigsten Dimensionen leiblichen Geschehens, besonders anschaulich im Atemvorgang. Analog lassen sich Emotionen dem Engepol (Angst, Scham, Trauer) oder dem Weitepol (Freude, Zorn) zuordnen. Introjektion bezeichnet die Ansiedlung sämtlicher Gefühle in das Innere des Körpers – aus dem Bedürfnis nach Selbstermächtigung gegenüber überwältigenden Regungen am eigenen Leib sowie gegen von Außen andrängende machtvolle Gefühlsatmosphären. Die Verinnerlichung kann mit der Konstruktion einer inneren Instanz (»Seele«), in der die Gefühle angesiedelt sind, d. h. mit Zentrierung der Gefühle Hand in Hand gehen, muß aber nicht: Die verschiedenen Gefühle können ebenso gut, wie im Falle der chinesischen Resonanzmedizin, auf unterschiedliche leibliche Regungsherde verteilt sein. Epikritische Tendenz: Neben den leiblichen Dimensionen Engung und Weitung und deren extremen Manifestationen Spannung und Schwellung hält das Alphabet der Leiblichkeit ein weiteres Kategorienpaar bereit: epikritische (schärfende, spitze, Punkte und Umrisse setzende) und protopathische (dumpfe, diffuse, ausstrahlende) Tendenz. Körper bezeichnet das tast- und sichtbare Ding, das ich an mir und an anderen als objektivierbar wahrnehme: das im Spiegelbild reflektierte perzeptive Körperschema. Der tast- und sichtbare Körper ist der messbare Körper der modernen westlichen Medizin und existiert noch, auch wenn Leben schon daraus entwichen ist: Körper-Haben vs. Leib-Sein. Leib steht für das, was ich als lebendiger Mensch subjektiv und situativ an mir und um mich herum spüre, ohne die fünf Sinne zur Hilfe zu nehmen, insbesondere Augen und Hände: ganzheitliche Gefühle wie Frische oder Müdigkeit sowie teilheitliche Regungen wie Jucken, Schmerz, Herzklopfen: Leib-Sein vs. Körper-Haben. 336 https://doi.org/10.5771/9783495860182 © Ver
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Begriffe aus der Neuen Phänomenologie
Leibliche Ökonomie beschreibt den Widerstreit von Enge- und Weiteimpulsen und deren Ringen um die Mitte zwischen Engeund Weitepol, ohne von diesem noch von jenem ganz loszukommen. Personale Emanzipation bezeichnet die zunehmende Distanzierung gegenüber sich selbst, gegenüber der Welt und zwischenmenschlichen Situationen, beschreibt somit den Rückzug eines Subjektes (Bewußthabers) aus dem undifferenezierten, chaotisch-mannigfaltigen Dauer-Weite-Kontinuum. Der Gegenbegriff am anderen Ende der Skala ist personale Regression. Das Konzept erlaubt feine Abstufungen zwischen stoischer Unerschütterlichkeit und kühl berechnender Abstandnahme auf der einen Seite und Verstrickung bzw. träumendem Dahinwähren auf der anderen. Es eignet sich nicht nur für Differenzierung situativer Bewußtseinszustände/leiblicher Befindlichkeiten, sondern auch längerfristiger habitueller Einstellungen, wenn nicht lebenslanger Persönlichkeitsstile. Personale Regression korrespondiert als Begriff gegenläufig mit personaler Emanzipation. Jedes heftige Betroffensein ist personale Regression als Rückfall in primitive Gegenwart. Physiologisch-Sensualistische Reduktion bezieht sich auf die ausschließliche Reduktion von Wahrnehmung auf die Sinne. Damit wird das ganzleibliche Spüren von Gefühlsatmosphären tageszeitlicher, jahreszeitlicher, religiöser oder auch zwischenmenschlicher Art unterschlagen. Was an Gefühlen übrig bleibt, wird »privatisiert« und in der »Seele«/psyche/ratio verinnerlicht (s. Introjektion). Primitive Gegenwart bezeichnet das Heraustreten aus dem Zustand chaotischer Mannigfaltigkeit, den Beginn personaler Emanzipation. Damit verknüpft ist eine primordiale Differenzierung von Hier (Ort), Jetzt (Zeit), Dasein (Wirklichkeit), Sosein (Identität und Verschiedenheit) und Ich (Subjektivität). Ihr steht als entwickeltere Form des Selbstbewußtseins die entfaltete Gegenwart gegenüber, indem sich Orte aus dem Hier, Zeiten aus dem Jetzt, Wirklichkeits- und Möglichkeitsformen (Dasein), Eigenschaften (Sosein), Eigenwelt und Fremdwelt (Ich) differenzieren. Der
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Moment täglichen Erwachens ist eine Form primitiver Gegenwart. 3 Prothopatische Tendenz s. epikritische Tendenz. Reduktionismus bezieht sich auf eine kulturspezifische Wahrnehmungslehre, die in Begriffsbildung und Vergegenständlichung Anschaulichkeit und »Sitz im Leben« hinter sich läßt, indem von unwillkürlichem subjektiven Betroffensein abgesehen wird. Der Reduktionismus kann sich in bloßer Spekulation und Abstraktion verlieren oder als physiologisch-sensualistischer Reduktionismus (s. Introjektion) die Wahrnehmung über die fünf Sinne derart verabsolutieren, daß von ganzheitlichen Situationen und vielsagenden Eindrücken letztlich nur noch die gut identifizierbaren und meßbaren Merkmale übrig bleiben. Selbstermächtigung bezeichnet den Vorgang personaler Emanzipation aus dem Bedürfnis heraus, sich als Person über verstrickende Situationen zu erheben. Die Selbstdistanzierung erfolgt gleichermaßen gegenüber (Gefühls-)Regungen, die am eigenen Leibe gespürt werden sowie gegenüber von Außen andrängenden Gefühlsatmosphären. Dabei schwingt sich das Herz (China) bzw. die Seele psyche/ratio (Europa) auf zum »Herrn im Hause« bzw. zum Herrscher über Gefühl und Leiblichkeit. Situation: Der Begriff unterstellt, daß Wahrnehmung immer zugleich Kommunikation ist, denn im Alltagsgeschehen besteht Wahrnehmung nicht im bloßen Registrieren von Objekten und Sinnesdaten, ist vielmehr Ko-Präsenz bzw. Kooperation, die Subjekt und Objekt gleichermaßen umgreift. Situationen zeich3
Primitive Gegenwart als tägliche Wiedergeburt ins entfaltete Dasein hat Meng Haoran 孟浩然 (689–740) sehr schön im Gedicht »Frühlingsmorgen« (Chūn- xiǎo 春曉) umschrieben. Die Übersetzung kann nur Wort für Wort geschehen, denn schon das deutsche Personalpronom »Ich«, das die auf Kontexte bauende chinesische Sprache nicht nötig hat, stört den Vorgang der allmählichen Bewußtwerdung: Zunächst sind nur die Ohren im Augenblick selbst aktiviert, dann in der vagen Erinnerung an die Geräusche der Nacht: »Frühlingsschlaf Nicht Wissen Morgendämmerung/Ringsum Hören Vögel Zwitschern/Vergangene Nacht Wind Regengeprassel/Wer Wissen, Wieviel Blüten Zu Boden Gegangen« (春眠不覺曉/處處 聞啼鳥/夜來風雨聲/花落知多少chūn-mián bù jué xiǎo/chù-chù wén tí-niǎo/yè lái fēng yǔ shēng/huā-luò zhī duō-shǎo).
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Begriffe aus der Neuen Phänomenologie
nen sich durch folgende Momente aus: 1. Ganzheit, d. h. Zusammenhalt in sich und Abgeschlossenheit nach Außen; 2. Bedeutsamkeit, bestehend aus mehr oder weniger neutralen, aber auch aus programmatischen und problematischen Sachverhalten; 3. Binnendiffusion bzw. chaotische Mannigfaltigkeit, die sich bis zu einem gewissen Grade, aber nie erschöpfend, explizieren läßt; 4. emotionale Aufladung. Danach liegt einer räumlich ergossenen Gefühlsatmosphäre immer eine gemeinsame Situation zugrunde. Darüber hinaus lassen sich folgende Situationstypen unterscheiden: persönliche (Subjektivität/Eigenwelt) und gemeinsame (übergreifende) Situation; nach der augenblicklichen Gegebenheit: impressive (Gesamteindruck) und segmentierte (Sprechakt) Situation, nach der Art ihres zeitlichen Verlaufs: aktuelle (Begegnung) und zuständliche (Familie) Situation. Weite s. Enge Zentrierung der Gefühle bezeichnet eine Folge der Introjektion aus dem Bedürfnis nach Ermächtigung des Selbst gegenüber verstrickenden Gefühlen und übermächtigen Gefühlsatmosphären. Eine Gefühlslehre, die über die Verinnerlichung zugleich Zentrierung unterstellt, bedarf einer Bewußtseinsinstanz (Herz, Seele), welche die Gefühle aufnimmt, differenziert und zugleich kontrolliert.
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2. Register ad-ficitur 162 aer (griech. Luft) 146 agni (skrt. Feuer) 260 āi 哀 (Kummer) 108, 153 ff., 165, 168, 278 ài 愛 (Liebe) 108, 154 ajna (skrt.) 91 f., 117 Alkmaion von Kroton 88, 157 amabilitas 46 anahata (skrt.) 92 Anaximenes von Milet 146 Anemuot (Anmut) 46 ào 奧 (das Geheimnisvolle) 143 ars erotica 200 atman (skrt.) 85 bǎi-gǔ 百骨 (Hundert Knochen) 101 bǎi-gǔ-jiǔ-qiào 百骨九竅 (Körper) 77, 97 Baiyunguan 白雲觀 265 bandha (skrt. Sperrung, Atemtechnik) 133, 266 Baopuzi 保朴子 239, 263 bēi 悲 (Trauer/Kummer) 205 běn 本 (Grundlage) 87, 143 bí 鼻 (Nase) 107, 156 bì-gǔ 避穀 (Vermeidung von Körnernahrung) 269 bǐ-jì 筆記 219 bǐng-qì 屏氣 (Atem anhalten) 66 Bo Juyi 白局易 201 Bodhidharma s. Putidamo Bohutong 白虎通 279 Bowuzhi 博物志 36 Buddha 83 (Leichnam) 113, 283, 311 bù-èr 不二 (Nicht-Zweiheit) 124 bù-jì-zhōu 不繫舟 (wie ein losgelöster Kahn) 122 bù-lǎo cháng-shēng 不老長生 (Langlebigkeit) 39 bù-xǐ yì bù-jù 不喜亦不懼 (ohne Lust und ohne Kummer)
cáng 藏 (verstecken) 123 carpe diem 190 cè-yǐn-zhī-xīn 惻隱之心 (mitleidvolles Herz) 104 ff. chá 茶 (Tee) 195 Cha-jing 茶經 (Teeklassiker) 195 chán 禪 (Meditation, Zen) 41, 113, 224, 283, 288 cháng 常 (das Beständige) 143 Chang’an 長安, Hauptstadt der Tangzeit 55, 139 Chen Chongzi 陳仲子 204 Chen Hongmou 陳弘謀 294 Chen Kaige 陈凯歌 210, 221 Chen Liang 陳亮 287 Chen Tuan 陳摶 58 chéng 酲 (Kater vom Alkohol) 190 Cheng Hao 程顥 249 chéng-xīn 成心 (vollkommenes Herz) 101 Cheng Yi 程頤 249 chī 吃 (essen) 187 (Redensarten) chǐ 恥 (Scham) 167 chī-xīn 痴心 (törichtes Herz) 123 chōng-hé 冲和 (hervorquellende Harmonie) 176 chǒu 醜 (häßlich) 50 chù 處 (Ort/Heimstatt) 93 Chu 楚, König von 89 Chuci 楚詞 89 chū-cí-qì 出詞氣 (reden) 67 chù-jǐng shēng-qíng 觸景生情 (Resonanz von Landschaft und Gefühl) 207 chú-zhì xiāo-yōng 除滯消壅 (Blockaden lösend) 195 chuí-xīn 捶心 (ausgeklopftes Herz) 120 Chunqiu 春秋 56, 65, 142, 148 Chunqiu fanlu 春秋繁露 173 ff., 279 chūn-xīn 春心 (Frühlingsherzen) 118 cí-ràng 辭讓 (Nachgiebigkeit) 104
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cōng-míng 聪明 (Hör- und Sehfähigkeit) 243 Cujupu 蹴鞠譜 228 Damo (Patriarch), s. Putidamo dà-shǐ 大始 (der Große Anfang) 117 dà-tóng 大同 (die Große Verbundenheit) 143 Dan von Yan, Prinz 燕丹子 210 dān-tián 丹田 (Zinnoberfeld) 91, 265 dǎo 導 (lenken/leiten) 38, 106,133 dào 道 37, 108 ff., 131 ff., 143 sowie 161 (Synonyme), 203, 205, 217, 244 ff., 270, 286 Daodejing 道德經 38 ff., 63 ff., 100, 131 ff., 143, 161, 164, 176, 243 ff. dāo-gē-xīn 刀割心 (herzzerschneidend) 119 dào-rén 道人 (Mann des dao) 191 Dao Xuan 道玄 223 dào-xué 道學 (Lehre vom dao/Neokonfuzianismus) 110 dǎo-yǐn 導引 (Leiten und Dehnen) 133 Daozang 91 Daqiu ershiwupian 打球二十五篇 226 Daxin 大心 288 Daxue yanyi 大學衍義 112 dà-zú 大足 (Großfüßige) 209 dé 德 (Tugend-/Gestaltungskraft) 100 ff., 150, 205 Demokrit 15, 62, 88 dé-xīn 德心 (tugendhaftes Herz) 112 dì 第 (Aufeinanderfolge) 72 dì-lǐ 地理 (Erdstrukturen) 246, s. tianwen dì-zhī 地支 (Erdzweige) 80 Dian 點 (Schüler des Konfuzius) 136 dìng 定 (festigen, s. Herz) 115 dòng 動 (Bewegung) 144, s. dòng-jìng dòng-jìng 動靜 (Bewegung-Ruhe) 51, 144, s. jing
Dong Zhongshu 董仲舒 173 f., 211, 278 duàn-cháng 斷腸 (Gedärm zerschneiden) 120 Du Fu 杜甫 139, 222, 228 Dumoulin 240 Dunhuang 敦煌 57 Duyizhi 獨異志 222 è 惡 50, s. wù (häßlich) ekâgra (skrt. Einspitzigkeit) 132 emotio 162 ěr 耳 (Ohren) 107, 156, 297 Erlinjuji 二林居集 294 eros 165, 178 fǎ 法 (Gesetz) 178 fā-nù 發怒 (zornig) 166 Fan Chi 樊遲 103 fǎn-gōng 反躬 (Selbsteinkehr) 206 fǎn-jǐ 反己 (Selbsteinkehr) 206 fǎn-shēn 反身 (Selbsteinkehr) 206 Fan Wenzheng gong wenji 范文正公文 集 207 Fan Zeng 范曾 221 Fan Zhen 范縝 84 ff., 112 Fan Zhongyan 范仲淹 207 fáng-nèi 房內 (Sexualtechniken) 198 fāng-shì 方士 (Magier und Heiler) 278 fáng-shù 房術 (Sexualtechniken) 198 fàng-wǒ-xīn 放我心 (Laß mein Herz los) 121 Fang Xiaoru 方孝儒 113, 197, 212 f. Fang Yizhi 方毅之 288 Fei Min 斐旻 222 f. féi-xīn 肥心 (Herzdüngen) 104 fēn 分 (Differenzierung/Unterscheidung) 171 fēng 風 (Wind) 45, 60, Urahne des qi 146, 151, 152 f. (Redensarten) Feng Menglong 馮夢龍 200 fēng-qì 風氣 (Windzug) 148 fēng-shuǐ 風水 (Wind-und Wasser, chin. Geomantik) 141
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fǔ 腑 (Paläste) 260 fù-gēn 復根 (zur Wurzel zurückkehren) 243 fù-jí 腹疾 (Magenverstimmung) 149 fú-qì-jīng yì-lùn 服氣精義論 133 gài 概 (ausgleichendes Maß) 47 f. gài-tiān 蓋天 (Lehre vom bedeckenden Himmel) 75, 227, 277 gān 干 (Stamm) 93 gǎn 感 69, s. gan-ying gǎn-jí 感疾 (Wahrnehmungsstörungen) 149 gān-xīn 甘心 (süßes Herz) 124 gān-xīn rú tuī-lǔ 肝心如推櫓 (Leber und Herz wie Ruderschläge) 119 gǎn-yìng 感應 (Resonanz) 69 gāng 剛 (das Harte) 144 gāoxìng 高興 (froh, guter Dinge sein) 126, 166 Gaozi 告子 162, 169, 172 Ge Hong 葛洪 205, 239, 263 gēng-yī 更衣 (Kleiderwechseln) 181 Goethe 61, 120, 126, 146, 237 gōng 公 (Gemeinsinn) 175 gōng 身 +呂 (Körperleib) 77 gōng 躬 (Körperleib) 77 Gongsun 公孫, Schwertkampfmeisterin 222 Gong Sun Ao 公孫敖 56 gǒu-xīn 狗心 (Hundeherz) 122 gǔ 穀 (Körnernahrung/Nahrung) 269, s. bi-gu Gu 穀 56 gǔ-hái 骨骸 (Skelett) 77 gǔ-ròu 骨肉 (Körper) 77, 83, 97 gǔ-ròu zhī qīn 骨肉之親 (Blutsverwandte) 149 Gu Yanwu 顧炎武 288 guǎ-yù 寡欲 (Begehren mindern) 107 Guan Panpan 關盼盼 201 guǎng-dà 廣大 (Große Weite) 94 Guanyinzi 176
Guanzi 管子 75, 88, 109, 170, 204, 261 guī 歸 (heimkehren) 82, 247 guǐ 鬼 (Dämon/Geister) 50, 81 f., 149, 276, 280 guǐ-shén 鬼神 Geister und Götter) 96, 103, s. shen-gui Guo Xiang 郭象 160–161 hàn 汗 (Schweiß) 88 Hanfeizi 韓非子 171, 275 f. hán-jí 寒疾 (Kältekrankheit) 148 hán-qì 寒氣 (Kälte-qi) 149 Han Shan 寒山 122 Hanshu 漢書 (Dynastiengeschichte der Han) 278 Han Yu 韓愈 208, 284–286 hào 好 (Zuneigung/Liebe) 126, 155 ff., 165, 168 hǎo-hàn 好漢 (ganzer Kerl) 54 hǎo-xiá 好俠 (großzügig und hochherzig) 193 Heidegger 17 Herder 61 He Yan 何宴 175 hóng dào ěrgēn 紅到耳根 (Schamesröte) 167 Hongloumeng 紅樓夢 181, 230 hóng-méng 鴻蒙 (Urchaos) 143, 242 Hongmeng 鴻蒙 242 hóu-xīn 猴心 (Affenherz) 122 hū 呼 (Ausatmen) 96 Huainanzi 淮南子 44, 89, 117, 158, 205, 217, 244, 259, 279 f., 292, huālù 花露 (Blumentau) 193 Huan Tan 桓 譚 85 Huan Wen 桓溫 204 huāng 荒 (Wildnis/Brache) 291 huāng-wú 荒無 (chaotische Mannigfaltigkeit) 163 Huangdi neijing 黄帝內經 39, 71 ff., 109 ff., 119, 159, 164, 206, 238 f., 282 húdié 蝴蝶 (Schmetterling) 37, 94
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Huian Xiansheng wenji 晦庵先生文 集 287 huì-qì 晦氣 (qi der Dunkelheit) 149 Huizi 惠子 163 hún 魂 63, 87–88 ff., 97, 149, 271, 289 hùn-dùn 混沌 bzw. hún-dùn 渾沌 (Urchaos, das Chaotisch-Mannigfaltige) 101, 143, 242 hùn-hùn dùn-dùn 渾渾沌沌 (Chaotisch-Mannigfaltige) 243, s. hun-dun Hunpotu 魂魄圖 (Abbildung der Drei hun und Sieben po) 95 hún-tiān-yí 渾天儀 (Himmelsmeßgerät) 277 Husserl 17, 79 hǔ-xīn 虎心 (Tigerherz) 122 Ishimpo 198, s. Yixinfang Isokrates 7 jí 集 (sammeln) 146 jí-xīn 疾心 (verrücktes Herz) 123 jiè 戒 (Disziplin) 115 Jie 桀 105 jiē-jiē 喈喈 (Schrei der Oriole) 139 jié-xīn 結心 (Herz verknoten) 121 jiě-xīn 解心 (Herz loslassen) 243 jīn 津 (Säfte) 88 Jing Ke 荊軻 210 jīn-lián 金蓮 (Goldlotus-Füße) 58, 209, 301 jìng 敬 (Ehrfurcht/Respekt/Achtung) 154, 206 jīng 精 (Essenz/Samen) 70 (Diagramm), 82–85 ff., 97, 150, 216, 255 jìng 靜 (Stille/Ruhe) 108, 144 jīng-qì 精氣 (essentielles qi) 96 jīng-shén 精神 (Feinstessenz) 70 ff. (Diagramm), 82, 85, 91 jìng-xīn 靜心 (Herzstillen) 101, 121 Jinpingmei 金瓶梅 199 Jinshilu 金石錄 196
Jinsilu 近思錄 228 jiǔ 酒 (Wein/Bier/Schnaps) 188, 193 f. (Redensarten) Jiujing 酒經 193 jiǔ-qiào 九竅 (Neun Körperöffnungen) 39, 69, 101 Jiutangshu 舊唐書 59 Jiuzhang suanshu九章算書 277 jù 聚 (sammeln) 65, 144, 239, s. ji sowie san jù-shì 巨室 (der große Raum zwischen Himmel und Erde) 163 jué-jù èr-shǒu 絕句二首 (zwei Gedichte in Vierzeilern) 139 jūn 君 (Fürst) 101, 106 jūn-zi 君子(Der Edle) 101, s. auch 175 kāi 開 (öffnen) 119 kǎi-fēng fù-xīn 凱風負心 (triumphierender Wind drückt aufs Herz) 121 Kang Youwei 康有為 210 Kangxi zidian 康熙字典 71 kara-te 空手 (jap. leere Hand/waffenlos) 224 kè 克 (Reihe der Überwindung) 260, s. sheng sowie wu-qi kè-jǐ 克己 (Selbstüberwindung) 112, 206 Konfuzius s. Kongfuzi Kongfuzi 孔夫子 35, 41, 51, 65 ff., 103, 136 ff., 184 f., 293 f., 208 f., 217, 278, 286 Kong Qiu 孔丘 35, s. Kongfuzi kǒu 口 (Mund) 107, 156 kǔ 苦(bitter) 120 kuáng-fēng chuī-wǒ-xīn 狂風吹我心 (verrückter Wind bläst mein Herz davon) 121 kuì 愧 (Scham) 104 kumbhaka (skrt. Atem anhalten) 133 Kunlun 265 kuò-chōng 括充 (Herzauffüllen) 104 Laocanyouji 老殘游記 208
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Laozi 100, 265 ff., 278 Lavater 61 lè 樂 (Heiterkeit/Freude/Gelassenheit) 108, 125 (Etymologie), 153 ff., 159, 165, 168, 185, 205, 278 lèi 淚 (Tränen) 88 lǐ 理 (Ordnungsprinzipien) 110 ff., 161, 177 f., 193, 209, 237, 245 ff., 245 ff. (vs. qi) lǐ 禮 (Riten, Zeremoniell) 153 ff. lì-biǎo 立表 (Zeitmeßgerät) 280 Li Qingzhao 李清照 196 Li Taibo 李太百 121, 190 lǐ-xué 理學 (Lehre vom li /Neokonfuzianismus) 110, 176 f., 245 ff., 287 f. Li Yu 李魚 46 f., 199 Liang Qichao 梁啟超 139 f. Liangshu 梁書 84 liáng-xīn 良心 (Das gute Gewissen) 105, 169 Liaozhaizhiyi 聊齋志異 36, 230 lib (ahd. Leben) 73, s. lip Lidai minghuaji 歷代名畫集 223 Lienüzhuan 列女傳 49 ff. Liezi 列子 82, 217 Liji 禮記 74 f., 153 ff., 180, 204, 206, 221, 239, 246, 249 líng 靈 (Wirkkraft der Erde) 89, 96 líng-hún 靈魂 (Geist, Seele, Kreativität) 90 lip (mhd. Leben, Leib) 73, s. lib Liu An 劉安 44, 205, 279 f. Liu Bang 劉邦 221, 227 (Fußball), 280 Liu E 劉鄂 208, 210 liù-fǔ 六腑 (Sechs Paläste) 100 Liu Ling 劉伶 190 Liu-min-tu 流民圖 (Gemälde von Bettlern und Straßengängern) 49 liù-qì 六氣 (Sechs klimatische Atmosphären/Sechs qi) 147, 168, 238 liú-shuǐ 流水 (Fließendes Wasser, Metapher für qi) 242
Liu Xi 劉熙 72 Liu Xiang 劉向 173 liú-xīn 留心 (Herzbewahren) 104 Liu Yiqing 劉義慶 48 liù-yù 六欲 (Sechsfaches Begehren) 115, s. wu-yu liù-zàng 六臟 (Sechs Speicher) 100 liù-zhì 六志 (Sechs Willensregungen) 168, s. qing (Gefühl/Emotion) Liuzi 劉子 110 Liuzi xinlun 劉子新論 110 Liu Zongyuan 柳宗元 43, 208, 284– 286 Liu Zongyuanji 柳宗元集 285 Longchuan wenji buyi 龍川文集補遺 287 Lu 魯, Staat 56 Lu Guimeng 陸龜蒙 196 Lu You 陸游 191 f., 195 Lu Yu 陸羽 195 Lun ziyou 論自由 140 Lunheng 論衡 173, 238, 281 Lunqi 論氣 253–257 Lunyu 論語 51, 65 ff., 103, 136 ff., 153, 170, 184 f., 203, 208, 212, 286 Luo 洛, Fluß 44 lǜ 慮 (Nachdenken/Grübeln) 68,79, 156 Lü 呂, Kaiserin 53 Lü Buwei 呂不韋 149, 158, s. Lüshi chunqiu Lü Desheng 呂德生 213 ff., 293 Lü Kun 呂坤 213, 288–290, 293 Lüshi chunqiu 呂氏春秋 149 ff., 158, 216, 239 manipura (skrt.) 92 Mao Zedong 毛泽东 219 Marco Polo 182 měi 美 (schön) 51 měi-sè 美色 (äußere Schönheit) 46 měi-tài 美態 (Anmut) 46 měi-xué 美學 (Ästhetik) 51
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mēn 悶 (Benommenheit/Beklemmung) 120, 166 Meng Tian 孟田 280 Mengzi 孟子 66, 103, 113, 129, 141, 148, 162 ff., 168 ff., 177, 204, 249, 275 Merleau-Ponty 17, 79 Mi Fu 米芾 183 miè-shèng 滅聖 (der Heilige des Verlöschens, s. Fan Zhen) 84 Min 旻 222, s. Fei Min mín yǐ-shí wéi-tiān 民以食為天 (Dem Volk bedeutet Essen der Himmel) 184 míng 明 (Leuchtkraft) 96, 144, s. shenming mìng-mén 命門 (Schicksalspforte) 100, 266 míng-qì 明氣 (qi der Helligkeit) 149 mò-jí 末疾 (Gliederbeschwerden) 148 mǔ 母 (Mutter) 143 mǔ 畝 (Landmaßeinheit 100 mu = ca. 6 Hektar) 293 mù目 (Augen) 107, 156
Parmenides 88 pars pro toto 73, 101, 298 passio appetitus sensitivi 163 Penglai 蓬萊 (Insel der Seligen) 196 Peng Shaosheng 彭紹升 294 Pengzu 133 phobos 165 piàoliáng 漂亮 (hübsch) 51 píng-rì-qì 平日氣 (Tages-qi) 148 Platon 15, 62, 88, 130 pneuma (griech. universeller Wirkstoff) 146 pò 魄 63, 87–88 ff., 97, 149, 269 (Sieben po), 271, s. hun pòmēnjiàngjūn 破悶將軍 (Beklemmungen vertreibender General) 193 pò-zhī-yòng 魄之用 (Wirkung von po) 90 psyche 157 Pu Songling 蒲松齡 36, 230 puraka (skrt. Einatmen) 133 Putidamo 菩提達摩 (Bodhidharma) bzw. Damo 達摩 224 Pythagoras 157
Nagarjuna 248 nài-xīn 耐心 (duldsames Herz) 124 Nan 難 56 nán-nǚ 男女 (Mann und Frau/Sexualität) 198 ff. nèi 內) (innere »Nord-Barbaren«) 155 nèi-guān 內觀 (Innere Anschauung/Visualisierung) 264 Neijingtu (Körperleib als Landschaftsbild) 265–267 nirvana (skrt. Nicht-Ich) 240 nòng-cháo-ér 弄潮兒, (Wasserspieler/ Taucher) 218 nù 怒 (Zorn/Wut) 108, 154 ff., 165 ff., 166 (üppig/heftig/rasend), 168, 205, 278 Nüxiaoeryu 女小兒語 214
qì 器 (Gerät/Werkzeug/Gefäß) 249 qì 氣 63 ff., 70 (Diagramm), 87 f., 132, 141 ff., 146 ff. sowie 278 (qi als Gefühlsatmosphäre), 151 f. (Redensarten), 163 (Huizi), 193 f., 207, 216, 236 ff., 253 ff., 282, 289 qì 气 (Kurzzeichen für 氣) 147 qǐgài 乞丐 (betteln, Bettler) 147 qì-gōng 氣功 (Qigong, Arbeit am qi) 141, s. yang-sheng qì-hǎi 氣海 (Meer des qi) 266 qī-qíng 七情 (Sieben Emotionen) 115 qì-xuè 氣血 (qi und Blut) 193, s. xue-qi qín 琴 (Zither) 219 qīng 清 (das Klare) 96, 144 qīng 輕 (das Leichte) 144 qíng 情 (Gefühl/Emotion/ Situation) 107, 122, 161 f., 168 ff., 175, 178 ff.
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qǐng 頃 (Landmaßeinheit = ca. 6 Hektar) 293 qíng-gǎn 情感 (Gefühle/Emotionen) 160 Qinglouji 青樓記 55 qīng-míng 清明 (das Klare und Glänzende) 144 qīng-xīn 清心 (Herz klären) 121 qíng-xìng 情性 (emotionale Natur) 170 Qinshi Huangdi 秦始皇帝 149, 210, 278 qū 屈 (beugen/krümmen) 74, 81, 96 qū 軀 (Körperleib) 51, 77 qū-gōng 屈躬 (beugen) 66 qù yōu lè xǐ nù yù lì 去憂樂喜怒欲利 (von Trauer, Heiterkeit… lassen) 204 Qu Yuan 屈原 89, 93 f., 285 quán 全 (heil/ganz) 263 ratio 157, 177 recaka (skrt. Ausatmen) 133 rè-jí 熱疾 (Hitzekrankheit) 148 rén 仁 (rechtes zwischenmenschliches Verhalten) 174, 286, 293 rén-dào 人道 (Weg der Menschen) 275 rén-qíng 人情 (zwischenmenschliche Situation) 178 rén-shēn 人身 (Gesamtpersönlichkeit) 46 rén-xīn 人心 (allzu menschliches Herz) 112 rén-xìng-è 人性惡 (Der Mensch ist von Natur aus schlecht) 103, 161 ff., 168 ff., s. xing 性 rén-xìng-shàn 人性善 (Der Mensch ist von Natur aus gut) 103, 161 ff., 168 ff., s. xing 性 rén-yù 人欲 (menschliches Begehren) 112, 208 Renzong 仁宗, Kaiser 231 Rouputuan 肉蒲團 199 ròu-tî 肉體 (Körper) 77, 97
ròu-xīn 肉心 (fleischernes Herz) 116 rù-xīn-gǔ 入心骨 (durch Herz und Knochen dringen/durch Mark und Bein) 120 Ruan Ji 阮藉 189 ruò 弱 (das Weiche) 144 samadhi (skrt. Erwachen) 132 sàn 散 (zerstreuen) 65, 93, 144, 239, s. ju sowie ji sān-bǎo 三寶 (Drei Schätze) 88 sān-chóng 三虫 bzw. 三蟲 (Drei Würmer) 91, 269 Sanguozhi 三國志 38, 165, 176 sān-jiāo 三焦 (Drei Erwärmer) 260 sān-jiāo hé-yī 三教合一 (Die drei Glaubenslehren sind eins) 208 sān-shī 三屍 (Drei Leichname) 91, 269 scientia sexualis 200 sè 色 (Sinnlichkeit) 66 shā-qì 殺氣 (todbringendes qi/Herbstqi) 149 shàn 善 (das Gute) 175 shàn-xīn 善心 (das gute Herz) 169, s. liang-xin shàng-dì 上帝 (Höchster Gott) 142 Shangshu 尚書 s. Shujing Shanhaijing 山海經 155 Shanxi tongzhi 山西通志 293 Shaolinsi 少林寺 224 Shao Yong 邵雍 249 shè 舍 (Behausung) 71, 108, 250 shēn 申 bzw. 伸 (strecken) 74, 81, 96 shēn 身 (Leib/Gesamtpersönlichkeit/ Rumpf) 51, 70 (Diagramm 2), 73 ff., 97, 150, 169, 263, 288 shén 神 (Geist) 33, 69 f. (Diagramm), 77–78 ff., 83, 89, 97 ff., 108, 133, 149, 238 ff., 263, 284, 289 shén-bù-miè 神不滅 (Nicht-Verlöschen des Bewußtseins) 84 shén-guǐ 神鬼 (Götter und Geister) 82, s. gui-shen Shen Kuo 沈括 286
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shén-miè 神滅 (Verlöschen des Bewußtseins) 84 shén-míng 神明 (Leuchtkraft des Geistes/Geistesglanz) 117, 175 shēn-tǐ-fà-fū 身體髮膚 (KörperleibHaar-und-Haut) 77, 97 shēn-zhòng 身重 (schwanger sein) 74 shēng 生 (angeboren) 168, s. tian shēng 生 (Reihe der Hervorbringung) 260, s. ke shēng 生 (rohe, nicht-unterworfene »Süd-Barbaren«) 155 shēng-qì 生氣 (lebensspendendes qi/ Sommer-qi) 149 bzw. (qi hervorbringen/wütend) 165 shèng-rén 聖人 (vorbildliche/heilige Mensch) 169 ff., 175 shēntǐ 身体 (Körperleib) 75 Shenwuxing lun 神無形論 84 Shenyinyu 呻吟語 289 f. shī 屍 (Leichnam) 77 shī 師 (Lehrer) 101 shí 實 (Fülle) 96, 141, 262 shí 食 (Essen) 148, 184 shǐ 始 (Anfang) 143, s. tai-shi shì 事 (Tun) 275 Shi Chong 石崇 181 shì-fēi 是非 (Richtig und Falsch, Gut und Böse) 79, 104 Shiji 史記 221, 280 Shijing 詩經 52, 64, 119, 138 ff., 153, 166, 188 f., 216, 273 Shiming 釋名 71 ff. shí-qì 食氣 (qi der Nahrung) 65 shì-shén 釋神 (Bewußtsein loslassen) 243 Shishuo xinyu 世說新語 47 ff., 159, 181 ff., 190, 204 ff., 211 shì-tiān 事天 (Dem Himmel dienen) 104 shì-zhái 室宅 (Raum) 96 shóu 熟, (reife/gekochte/unterworfene »Süd-Barbaren«) 155 shù 數 (Entitäten) 84
Shu Fu 叔服 56 shù-rén 庶人 (der einfache Mann/Leute) 206 Shu Xing 叔興 274 Shuihuzhuan 水湖傳 223 Shujing 書經 64, 117, 251 Shuoqi 說氣 235 Shuowen jiezi 說文解字 71 ff., 80, 86, 126, 143 sī 思 (Grübeln) 165 sī 私 (Egoismus/Eigensucht) 112, 175 sì-duàn 四段 (Vier Herzensbestrebungen) 104 Sima Chengzhen 司馬承禎 132 ff. Sima Guang 司馬光 231, 286 f. Sima Qian 司馬遷 167, 279 f. sì-qì 四氣 (Vier qi/Vier Jahreszeiten) 238, s. liu-qi sì-shū 四書 (Vier Bücher) 177 sì-tǐ 四體 (Vier Extremitäten/Körper/ Körperleib) 51,73, 104 sīxiǎng 思想 (Denken) 125 sì-zhī 四支 (Vier Extremitäten/Körper) 73 Song 宋, Leute von 182 Songshan 嵩山 (Berg) 224 Songshi 宋史 58 Song Yingxing 宋應星 252 ff., 272, 288, 290 f. Soushenji 搜神記 36 Su Dongpo 蘇東坡 42 f., 191 Su Shi shiji 蘇軾詩集 43 suān 酸 (sauer) 119 suǐ 髓 (Knochenmark) 88 Sun Wukong 孫悟空 114 ff. tài 泰 (Friede, Hexagramm) 299 Taichanshu 胎產書 69 tài-chū 太初 143, 161 tàifēngyǎn 太风眼 (Auge des Taifuns) 144, 296 tài-jí 太極 (der große Pol) 161, 244 f., s. wu-ji
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tài-jí-quán 太極拳 (Schattenboxen) 224 Taipingjing 太平經 259 tài-shǐ 太始 (Der große Anfang/Urbeginn) 143, 161 tāi-xī 胎息 (Embryonalatmung) 133 tài-yī 太一 143, 161 tài-zhào太照 (das Große Leuchten) 117 tān 貪 (Gier) 174 Tang 湯, Kulturheros 291 Tang Zhen 唐真 294 Tao Yuanming 陶淵明 121 f., 189 Thomas von Aquin 162 tǐ 體 (Körperleib) 68, 70 ff. (Diagramm), 86, 96, 157, 251 tì 涕(Nasenschleim) 88 tǐ-dào 體道 (Einleibung des dao) 73 tǐ-rén zhī xué 體仁之學 (Lehre vom universalen [Mitgefühl]) 294 tǐ-tiān 體天 (Einleibung des Himmels) 73 tǐ-yòng 體用 (Grundlage-Wirkung) 46, 84, 176, 251 tǐ-zhōng 體中 (Körperinnen) 161 tiān 天 (Himmel/Natur/angeboren) 104 ff., 169, 177, 252, 273 ff., 275, 281, 285 ff. tiān-dào 天道 (Weg des Himmels) 275 tiān-dì 天地 (Himmel-und-Erde/Welt/ Natur) 281 Tiandui 天對 285 tiān-gān 天干 (Himmelsstämme) 80 Tiangong kaiwu 天功開物 252 ff., 291 tiān-guān 天官 (Sinnesöffnungen) 107, 156 tiān-lǐ 天理 (himmlische Ordnungsprinzipien) 112 f., 208 tiān-mìng 天命 (Mandat des Himmels) 104 tiān-rén hé yī 天人合一(Einheit von Welt und Mensch) 235, 293 f. tiān-rén yī 天人一 (Einheit von Welt und Mensch) 278
tiān-wén 天文 (Himmelszeichen) 246, s. di-li Tianwen 天問 285 tiān-xià 天下 (Welt) 262 tiān-xīn 天心 (himmlisches Herz) 116 tiān-xíng 天刑 (Strafe des Himmels) 281 tiān-zi 天子 (Sohn des Himmels) 262 tiě-dǎ-xīn-gān 鐵打心肝 (mit Eisenstangen auf Herz und Leber einschlagen) 120 tóng 同 (Identität) und yì 異 (Verschiedenheit) 156 tóng 桐 (Baum: Aleurites fordii) 186 tóng-wú 同無 (Verschmelzung mit dem Undifferenzierten) 176 Tripitaka 114 tú bzw. t’u 圖 Diagramm 65 tǔ 吐 (ausspucken) 243 Tung s. tóng (Baum) tuò 唾 (Spucke) 88 tuó-yuè 橐籥 (Blasebalg) 250 wài 外 (äußere »Nord-Barbaren) 155 wài-wù 外物 (Außendinge) 46, 107 wàn-wù 萬物 (Alle Wesen und Dinge) 63, 240, s. wu wàn-wù yī-tǐ 萬物一體 (Alle Wesen und Dinge sind eins) 235, 294, s. tian-ren he-yi Wang Anshi 王安石 182, 287 Wang Bi 王弼 175, 246 Wang Chong 王充 172 f., 239, 246, 279–281, 286 Wang Dao 王導 47 Wang Dun 王敦 181 Wang Fuzhi 王夫之 206, 252, 272, 288, 291 f. Wang Gong 王恭 47 Wang Ji 王績 41, 110 Wang Meng 王濛 48 Wang Na 王言+內 48 wàng-qì 望氣, (qi betrachten/Divination) 150
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Wang Qingren 王清任 75 Wang Shouren 王守仁 240 Wang Tian 王恬 47 Wang Tingxiang 王廷相 288, 291 Wang Wei 王維 228 Wang Xizhi 王羲之 47 Wang Yangming 王陽明 240, 288 wéi 為 vs. tiān 天 (gemacht vs. angeboren) 106, 170, 281 (Wirken der Natur) wèi 味 (Geschmack) 156 wéi-qì 圍氣 (Abwehr-qi) 259 wéi-xīn 為心 (geschäftige Herzen) 122 wén 文 (Kultur) 105 Wen von Zhao 趙文王, König 220 wǒ 我 (Ich) 160 wǒde shēntǐ hǎo 我的身体好 (mir geht es gut) 76 wǒ-liáng-xīn bù hǎo 我良心不好 (Schlechtes Gewissen) 169 wǒ-xīn-gān 我心肝 (Mein-Herz-und Leber/Schatz) 120 Wu 吳, Herrscher von 38 Wu 吳, Leute von 182 Wu 吳, Schwimmer von 218 Wu 武, Kaiser der Jin-Dynastie 181 wū 誣 (lügen) 274 wú 無 (das Nichtdifferenzierte/Undifferenzierte/Nicht-Sein, Nichts) 143, 176, 245 ff. wù 物 (Wesen und Dinge) 46, 154, 238, 290 wù 惡 (häßlich) 50, (Abneigung/ Haß) 108, 155 ff., 165, 168 wǔ-cái 五才 (Fünf Materialien) 251 Wudangshan 武當山 269 Wu Daozi, 吳道子 223 Wudi 武帝, Kaiser 278 wǔ-guān 五官 (Fünf Sinne) 69, 262 wú-jí 無極 (das Grenzenlose/Urchaos) 244 f., s. dao (Synonyme) wú-jìn 無盡 (das Unerschöpfliche) 143 wú-jìn shén 無盡神 (das unbegrenzte Bewußtsein) 83
wù-kōng 悟空 (Erwachen in die Leere) 114 ff. wǔ-měi 五美 (Fünf Schönheiten) 51 wǔ-qì 五氣 (die Fünf Temperaturausstrahlungen) 259, s. si-qi/liu-qi wǔ-qíng 五情 (Fünf Emotionen) 159, s. qing sowie qi-qing wú-wéi 無為 (Nicht-Handeln) 39, 67, 243 wǔ-wèi 五味 (Fünf Geschmäcker) 185, 259 wǔ-xì 五戲 (Fünf Tierspiele) 50 wú-xīn 無心 (absichtslos) 121 ff. wǔ-xíng 五行 (Fünf Wandlungsphasen) 57, 185, 252, 276 wú-xíng 無形 (das Gestaltlose) 143 wǔ-yù 五欲 (Fünffache Begehren) 170, s. liu-yu wǔ-zàng 五臟 (Fünf Speicher) 100 Wu Zetian 武則天 53, 58 ff. wù zì-rán 物自然 (Vonselbstsein der Wesen und Dinge) 281 Xenophanes 40 xī 吸 (Einatmen) 96 xǐ 喜 (Lust/Freude) 108, 125 (Etymologie), 154 ff., 165, 168, 205, 278 xì 餼 (Opfertier/Proviant) 147 Xi Kang 稽康 46, 160 f., 175 Xi Zhongsanji 嵇中散記 160 Xiang Bo 項伯 221 xiāng-rén 相人 (Physiognomik) 56 xiāng-xíng 相形 (Physiognomik) 57 Xiang Yu 項羽 221, 280 Xiang Zhuang 項莊 221 Xianqing ouji 閒情偶寄 46 xiánrén 賢人 (weiser Mensch) 193 Xiaoeryu 小兒語 214, 293 Xiaowen 孝文, Kaiser 224 Xiaowu 孝武, Kaiser 47 xiāo-yáo-yóu 逍遙遊 (das Wandernde und Treibende, Metapher für qi) 242 xié-fēng 邪風 (übler Wind) 87
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xié-qì 邪氣 (übles qi) 87, 149, 271, s. xié-fēng xǐhuān 喜欢 (mögen, sich freuen an) 126 xīn 心 (Herz) 68, 70 (Diagramm 2), 97 ff., 107, 118 ff. (Diagramm 4), 132, 288 xīn-bìng 心病 (herzkrank) 119 xīn-bùzài yǎn 心不在眼 (Geistesabwesenheit) 124 xīn-cháng-duàn 心腸斷 (Herz und Gedärm zerschneidend) 120 xīn-chuān 心穿 (durchbohrtes Herz) 119 xīn-cún 心存 (präsent sein) 124 xīn-gān-cuī 心肝摧 (Herz und Leber zerbrechen) 120 xīn-jí 心疾 (Herzstörungen) 149 xīn-jí rúhuǒ 心急如火 (Herz rasend wie Feuer) 123 xīn-kǒu rú yī 心口如一 (Aufrichtigkeit) 125 xīn-lǐ kāile yīgè chuānghu 心里開了一 个窗户 (ein Licht ist aufgegangen) 125 xīn-lǐ luòxià yīkuài shítóu 心里 落下一 塊石頭 (Stein, der vom Herzen fällt) 123 xīn-luàn rúmá 心亂如麻 (verworren wie Hanfstroh) 123 xīn-suàn 心算 (Herzrechnen bzw. Kopfrechnen) 125 xīn-tāng 心蕩 (Herzschütteln) 119 xīn-tiào zài kǒulǐ 心跳在口里 (Herz hüpft in die Mundhöhle) 123 xīn-wú-èr-yòng 心無二用 (Konzentration) 124 xīn-xué 心學 (Herzschule) 240, 288 xīn-zhāi 心齋 (Herzfasten) 101 xīn-zhì 心智 (Herzenswissen) 121 xīn-zhī-yōu 心之憂 (Herzweh) 119 xīn-zhōng yǒu-shù 心中有(數 (planvoll vorgehen) 125 xīn-zuì 心醉 (herztrunken) 119
xíng 形 (Form/Gestalt/Körperleib) 70 ff. , 82, 86, 97, 106 f., 112, 133, 156, 163, 218, 253 xíng 行 (Verhalten) 275 xìng 興 (Aufbruch) 166 xìng 性 (angeborene menschliche Natur) 162 ff., 168 ff. xíng-dào 行道 (das dao erwandern) 268 xìng-è 性惡 170 ff., s. ren-xing-e xíng-ér-shàng 形而上 (oberhalb aller Formen) 249 xíng-ér-xià 形而下 (diesseits aller Formen) 249 xíng-huà 形化 (Wandlung der Formen) 37 Xingming guizhi 性命圭旨 96 xíng-qì 行氣 (qi führen) 38 Xingqi yupeiming 行氣玉佩銘 38 xíng-tǐ 形體 (Körperleib) 70, 83–85, 156, 243 xìng xiâng jìn 性相近 (… Von Natur aus stehen die Menschen einander nahe…) 203 Xintangshu 新唐書 59 xiōng-nú 凶奴 (Steppenvolk/»Hunnen«) 92 Xishan wenji, 西山文集 112 xiū-shēn 修身 (Selbstkultivierung/Pflege der Persönlichkeit) 75, 172, 206 Xiyouji 西游集 114 ff. xū 虛 (Leere) 96, 108, 141, 220, 262 xū ér bù qū 虛而不屈 (leer und doch unerschöpflich) 250 xū-kōng 虚空 (Leere) 85, s. xu xū-xīn 虛心 (Herzleeren) 101, 121– 123 xuán 玄 (das Dunkle) 143 Xuande 宣德 (Tor) 231 xuán-tóng 玄同 (Dunkle Gemeinsamkeit) 102, 132, 143 xuán-xué 玄學 (Lehre vom Dunkeln) 19, 84, 155, 159, 240, 245 ff. xuè 血 (Blut) 88, 193
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xuè-qì 血氣 (Blut und qi) 66 ff., s. qixue xùe-ròu-zhi-tǐ 血肉之體 (Körper) 77, 97 Xue Tao 薛濤 121 f., 138, 202 Xunmeng jiaoyue 訓蒙教约 294 Xunzi 荀子 51, 66 ff., 84, 103, 113, 129, 153 ff., 158 ff., 162, 168 ff., 246, 252, 261, 280, 286, 292 Xuxiaoeryu 續小兒語 214 Yan Hui 颜 (Schüler des Konfuzius) 137 yán-sè 顏色 (äußere Frauenschönheit) 46 Yan Yuan 顏元 288 Yan Zhitui 顏之推 167 yǎn-zhōng dīng, xīn-tóu cì 眼中釘心頭 刺 (Dorn im Auge) 123 yáng 陽 63 ff., 70, 90, 141 ff., 168, 173, 185, 198 f., 222, 241 ff., 259 ff., 266, 274, 285 ff., 阳 144 Yangming chuanxilu 陽明傳習錄 241 yǎng-qì 養氣 (qi nähren) 40, 63, 207 yáng-shén 陽神 (yang-Kraft) 96 yǎng-shēng 養生 (Lebenspflege) 40, 68, 138 yǎng-xīn 養心 (Herznähren) 104 Yang Xiong 楊雄 173, 280 Yangzi 揚子 (Fluß) 218 Yao 堯 (Kulturheros) 105, 291 yáo-xīn 搖心 (geschütteltes Herz) 119 yě-mǎ 野馬 (Wildes Pferd, Metapher für qi) 242 yè-qì 夜氣 (qi der Nachtfrische) 148 yī 一 (das Eine/dao) 108, 143 yì 憶 (Erinnerung) 79 yì 異 (anders) 50, (Verschiedenheit) 156 f., s. tong (Identität) Yi 翼 (Kulturheros) 222 yì 義 (Pflichtgefühl) 286 Yijing 易經 150, 252, 299 Yiming 遺命 289 yī-tǐ 一體 (Einheit) 240
yǐn 引 (dehnen) 38 yīn 陰 63 ff., 90, 141 ff., (阴) 143, 168, 173, 185, 198 f., 222, 241 ff., 259 ff., 266, 274, 285 ff. yīn 陰氣 63 yǐn-jiǔ 飲酒 (Trinken von Wein) 188 f. yīn-shén 陰神 (yin-Kraft) 96 yǐn-shí nán-nǚ 飲食男女 (Trinken-Essen-Mann-Frau…) 198 yīn-yáng 陰陽, s. yin sowie yang yìng 應 69, s. gan-ying yíng-qì 營氣 (schützendes qi) 259 yìng-wù 應物 (Resonanz mit den Wesen und Dingen) 176 Yixinfang 醫心方 198 Yoga 38, 133, 146, 264 yòng 用 (Gebrauch/Wirkung/Funktion) 84, 112, 251, s. ti-yong Yongzheng, Kaiser 雍正 225 yōu 憂 (Trauer) 165 yǒu 有 (das Vorhanden-Seiende) vs. wú 無 (Nicht-Sein/Nichts) 245 f. yóu-hún 遊魂 (Streunendes hun, Metapher für qi) 242 yǒu-jìn 有盡 (die begrenzten Wesen) 84 yǒu-shēn 有身 (schwanger sein) 74 yǒu yīn-yáng 有陰陽 (zwei Seiten) 173 yù 欲 (Begehren) 107 f., 111, 170 ff., 175, 178 ff., 209, s. wu-yu/liu-yu yǔ-qì 雨氣 (Regenqi/qi der Feuchtigkeit) 148 Yu Xuanji 魚玄機 122, 202 yuàn 怨 (Groll/Haß) 165 Yuanhunzhi 冤魂志 36 Yuan Mei 袁枚 288 yuán-qì 元氣 (ursprüngliches qi) 161, 259, 285 Yuan Tiangang 袁天綱 58 yuè 樂 (Musik) 153 ff. yuè 月 (Mond) 143 Yue Fei 岳飛 166 yún 雲 bzw. 云 (Wolke) 143
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Yunjiang 雲將 242 yùyǒu 玉友 (jadefarbener Freund) 193 zàng 臟 (Speicher) 260 zé 擇 (auswählen als Aufgabe des Herzens) 155 Zen s. chan 禪 Zengzi 曾子 67 Zhang Heng 張衡 277 Zhanguoce 戰國策 226 Zhang Yimou 长艺谋 210 Zhang Zai 張載 67, 239 f., 245, 287 Zhangzi quanshu 張子全書 240, 245 zhāo-hún 招魂 (Zurückrufen von hun) 93 Zhao Mengfu 趙孟頫 298 f. Zhao Wannian 趙萬年 186 Zhe 浙 218, s. Yangzi (Fluß) Zhen Dexiu 真德秀 111 zhēn-xīn 真心 (das wahre Herz) 169 s. liang-xin zhēng 爭 (Kampf) 149 zhèng 正 (richten, recht machen, Herz) 206 zhèng-fēng 正風 (rechter Wind) 87 zhèng-qì 正氣 (rechtes qi) 87, 149, 271, s. zhèng-fēng Zheng Quan 徵泉 38 zhēng-zhì 徵智 (Erkenntnis/Evidenz) 108 zhèng-zhì 正智 (das rechte Wissen) 156 zhī 知 (Wissen) 68, 79 zhì 志 (Wille) 67 f., 79, 115, 136 zhì 治 (ordnen/regieren/heilen) 104, 106, 263 zhì 質 (Wesen/Grundlage) 70 (Diagramm), 84, 86 ff., 97, 174 zhǐ-jiǔ 止酒 (Schluß mit dem Wein) 189 zhī-wèi 知味 (wissen um den Geschmack) 204 zhì-yì 志意 (Willensbestrebung) 68 zhòng 重 (das Schwere) 144
Zhongguo suyu da cidian 中国俗话大 词典 119 Zhongguo yixue dacidian 中国医学大 词典 75 Zhongkui, s. Zhongkuizhuan Zhongkuizhuan 鐘馗傳 50 Zhongying foxue cidian 中英佛學词典 115 Zhongyong zhangju 中庸章句 112 Zhou 周, Dynastie 58 Zhou Dunyi 周敦頤 245, 249 zhǔ 主 (Herrscher) 99, 106 ff., 109 Zhu Sengfu 竺僧敷 83 Zhu Xi 朱熹 84, 111, 176 f., 204 ff., 208, 228, 237, 249 ff., 257, 286 f., 289 Zhuang Zhou 莊周 37, 41, 87, 100– 102, 113,108, 133, 163, 220, 250, 296 Zhuangzi 莊子 37 ff., 41 ff., 101 ff., 132 ff., 163 ff., 203, 217, 238 ff., 240–242, 292 Zhubajie 豬八戒 114 zhuō 拙 (Unbeholfenheit) 206 zhuó 濁 (das Trübe/Matte) 96, 144 Zhuzi daquan 朱子大全 208 Zhuzi quanshu 朱子全書 250 f. Zi Chan 子產 273 zì-dé 自得 (Selbstfindung) 206 zì-fǎn 自反 (Selbsteinkehr) 206 zì-jìn 自盡 (Selbstergründung) 206 zì-rán 自然 (Von-selbst-Sein/Natur) 160, 281, s. wu-zi-ran zì-shěng 自省 (Selbstprüfung) 206 zì-zài 自在 (Bei-sich-selbst-sein) 206 zì-zhāi 自齋 (Selbstprüfungskammern) 212 zōng 宗 (Ahne) 143 Zou Yan 鄒衍 259 zuò-wàng 坐忘 (Sitzen und Vergessen/ Meditation) 100, 133 Zuozhuan 左傳 56 ff., 64, 142, 148, 168, 238, 251, 273 ff., 275
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3. Verzeichnis der Abbildungen und Diagramme Diagramm 1: Kalligraphische Schreibweisen von shen (Leib) .
9
Abb. 1: Dame mit Pflaumenblüten (Mingzeit 1368–1644) .
45
Diagramm 2: Körperleibbegriffe . . . . . . . . . . . . . . .
70
Diagramm 3: Zuordnungen von hun und po
. . . . . . . .
89
Abb. 2: Drei hun und sieben po . . . . . . . . . . . . . . .
95
Diagramm 4: Zeichen für Herz . . . . . . . . . . . . . . . 118 Abb. 3: Acht Brokatübungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Diagramm 5: Zuordnungen von yin und yang . . . . . . . . 145 Diagramm 6: Graphische Etymologie des Zeichens für qi . . 147 Diagramm 7: Zeichen für qi und Zeichen für erbitten
. . . 147
Abb. 4: Hofdamen beim Fußballspiel . . . . . . . . . . . . 229 Diagramm 8: Resonanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Abb. 5: Neijingtu (1886) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Zeittafel
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
Karte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
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4. Zeittafel Vor- und Peking-Mensch 北京人 Frühgeschichte Paläolithikum 旧时器时代 Neolithikum 新时器时代 Der erste Staat Shang 商/Yin 殷 Lehensordnung Zhou 周 Frühe Qin 秦 Kaiserzeit Han 汉
Mittlere Kaiserzeit
Späte Kaiserzeit Republik China Volksrepublik China
500 000 v. Chr. 200 000 v. Chr. 6. Jahrtausend v. Chr. ca. 16.–11. Jh. v. Chr. ca. 1045–221 v. Chr. 221–207 v. Chr. 206 v. Chr. – 220 n. Chr. 220–265 265–420
Drei Reiche (Sanguo 三国) Jin 晋 Westliche Jin 西晋 265–316 Östliche Jin 东晋 317–420 Süd-Nord-Dynastien 420–581 (Nanbeichao 南北朝) Sui 随 581–617 Tang 唐 618–907 Fünf-Dynastien-Zehn-Staaten 907–960 (Wudaishiguo 五代十国) Song 宋 960–1278 Nördliche Song 北宋 960–1127 Südliche Song 南宋 1127–1278 Yuan 元 (Mongolen) 1279–1368 Ming 明 1368–1644 Qing 清 (Mandschu) Zhonghua minguo 中华民国
1644–1911 1911–
Zhonghua renmin gongheguo 中华人民共和国
1949–
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5. Karte: China im Jahr 291 v. Chr. zur Zeit der Kämpfenden Staaten
战国时代 (463–221 v. Chr.) (aus: Kuhn 1991, 216)
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6. English Summary China is often seen as stronghold of holistic teachings. That is why Western people are fascinated by acupuncture, Taijiquan, Qigong, martial arts and meditation. Asian body techniques promise holistic experience seemingly eclipsed in our own cultural memory. To this view I shall object firstly that Chinese history, as well, shows restrictions on the expression of bodily sensations and emotions; secondly, while it is true that people in different cultures model their experiences of life into different theories, these still correspond on a deeper layer of being: It comes as no surprise, then, that over the world metaphorical expressions for shame or sadness refer to bodily contraction (leibliche Engung), whereas images illustrating bodily expansion (leibliche Weitung) represent joy or anger. Making a detour via Chinese »cosmo-anthropology,« we discern a field concealed, not lost, due to our own specific Western conceptual selections. This book, following the distinction between physical body (Körper) and feeling / felt body (Leib) reviews Chinese Philosophy and examines unexplored fields of social life in premodern China in order to demonstrate why monism finally did not surrender to dualistic approaches in the (self-)perception of humans and in their relation with nature. Sticking to the phenomenon near at hand, a Chinese conceptual solution for an unmediated type of awareness was to sense the constant changes of the qi with regard to humans and the world and to sense the constant changes of the qi-Leib without ignoring the visible Körper. Or, as Zhuang Zhou postulated, dreaming that he was a butterfly flitting about and, awakened, not knowing whether Zhuang Zhou dreamt he was a butterfly, or a butterfly is dreaming that he is Zhuang Zhou: »There must be a difference between Zhuang Zhou and the butterfly. I name it metamorphosis of things and beings.«
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Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Michael Großheim / Steffen Kluck (Hg.) Phänomenologie und Kulturkritik Über die Grenzen der Quantifizierung Freiburg / München 2010, 392 S. Kartoniert, Band 15 Hermann Schmitz Jenseits des Naturalismus Freiburg / München 2010, 392 S. Kartoniert, Band 14 Michael Großheim / Stefan Volke (Hg.) Gefühl, Geste, Gesicht Zur Phänomenologie des Ausdrucks Freiburg / München 2010, 280 S. Kartoniert, Band 13 Jürgen Hasse (Hg.) Die Stadt als Wohnraum Freiburg / München 2008, 212 S. Kartoniert, Band 12 Hans Jürgen Wendel / Steffen Kluck (Hg.) Zur Legitimierbarkeit von Macht Freiburg / München 2008, 184 S. Kartoniert, Band 11 Hermann Schmitz Freiheit Freiburg / München 2007, 168 S. Kartoniert, Band 10 Anna Blume (Hg.) Was bleibt von Gott? Beiträge zur Phänomenologie des Heiligen und der Religion Freiburg / München 2007, 224 S. Kartoniert, Band 9
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Stefan Volke Sprachphysiognomik Grundlagen einer leibphänomenologischen Beschreibung der Lautwahrnehmung Freiburg / München 2007, 280 S. Kartoniert, Band 8 Ute Gahlings Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen Freiburg / München 2006, 704 S. Kartoniert, Band 7 Sven Sellmer Formen der Subjektivität Studien zur indischen und griechischen Philosophie Freiburg / München 2005, 364 S. Kartoniert, Band 6 Jan-Peters Janssen (Hg.) Wie ist Psychologie möglich? Freiburg / München 2008, 224 S. Kartoniert, Band 5 Jürgen Hasse Fundsachen der Sinne Eine phänomenologische Revision alltäglichen Erlebens Freiburg / München 2005, 436 S. Kartoniert, Band 4 Dirk Schmoll / Andreas Kuhlmann (Hg.) Symptom und Phänomen Phänomenologische Zugänge zum kranken Menschen Freiburg / München 2006, 332 S. Kartoniert, Band 3 Anna Blume (Hg.) Zur Phänomenologie der ästhetischen Erfahrung Freiburg / München 2005, 176 S. Kartoniert, Band 2 Hermann Schmitz Situationen und Konstellationen Wider die Ideologie der totalen Vernetzung Freiburg / München 2005, 304 S. Kartoniert, Band 1 358 https://doi.org/10.5771/9783495860182 © Verl
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Lynkeus. Studien zur Neuen Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Ziad Mahayni Feuer, Wasser, Erde, Luft Eine Phänomenologie der Natur am Beispiel der Elemente Rostock 2003, 300 S. Kartoniert, Band 9 Hermann Schmitz Was ist Neue Phänomenologie? Rostock 2003, 435 S. Kartoniert, Band 8 Hans Werhahn Die Neue Phänomenologie und ihre Themen Rostock 2003, 182 S. Kartoniert, Sonderband Hermann Schmitz (mit Beiträgen von Gabriele Marx und Andrea Moldzio) Begriffene Erfahrung Beiträge zur antireduktionistischen Phänomenologie, Rostock 2002, 277 S. Kartoniert, Band 7 Hermann Schmitz Höhlengänge Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie Berlin 1997, 233 S. Gebunden, Band 6 Jens Soentgen Das Unscheinbare Phänomenologische Beschreibungen von Stoffen, Dingen und fraktalen Gebilden Berlin 1997, 266 S. Gebunden, Band 5 Philipp Thomas Selbst-Natur-sein Leibphänomenologie als Naturphilosophie Berlin 1996, 219 S. Gebunden, Band 4 359 https://doi.org/10.5771/9783495860182 © Verl
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Georg Berkemer / Guido Rappe (Hg.) Das Herz im Kulturvergleich Berlin 1996, 261 S. Gebunden, Band 3 Guido Rappe Archaische Leiberfahrung Der Leib in der frühgriechischen Philosophie und in außereuropäischen Kulturen Berlin 1995, 541 S. Band 2 Michael Großheim (Hg.) Leib und Gefühl Beiträge zur Anthropologie Berlin 1995, 306 S. Band 1 Ausführliche Informationen zur Buchreihe im Internet auf der Website der Gesellschaft für Neue Phänomenologie: www.gnp-online.de
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