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German Pages 448 [449] Year 2020
Religion als Imagination
Religion als Imagination Phänomene des Menschseins in den Horizonten theologischer Lebensdeutung Herausgegeben von Lena Seehausen, Paulus Enke und Jens Herzer
Festschrift für Marco Frenschkowski
EVANGELISCHE VERLAGS ANSTALT Leipzig
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2020 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig Printed in Germany Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt. Cover: Zacharias Bähring, Leipzig Coverbild und Abb. Seite 14: Cod. Mag. 21, Universitätsbibliothek Leipzig, © Olaf Mokansky Foto: M. Frenschkowski © Andreas Schüle Satz: 3w+p, Rimpar Druck und Binden: Hubert & Co, Göttingen ISBN 978-3-374-06590-5 www.eva-leipzig.de
E-Book-ISBN (PDF) 978-3-374-06591-2
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abku¨rzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Theologie und Exegese Angelika Berlejung Ga¨rten, Inseln, Wolkensta¨dte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raumutopien im Alten Testament und Alten Orient
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Manuel Vogel Elia, Johannes und Jesus als Gemeinschaft der Verfolgten . . . . .
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Martin Meiser Die antike Rezeption einiger Visions- und Auditionstexte der Apostelgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Peter Wick Inklusion der Fremden und fremder Gedanken in der Apostelgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identita¨tsvera¨nderungen in der fru¨hchristlichen Gemeinde durch die erfolgreiche Heidenmission
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Michael Labahn Iron Maidens »The Number of the Beast« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Eine ra¨tselhafte Zahl und die Faszination des Bo¨sen – Auslegungsvorschla¨ge zu Offb 13 im Dialog mit einer Verstehensspur Jens Herzer Haben die Magier den Verstand verloren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Jannes und Jambres im 2. Timotheusbrief Paulus Enke Petrus, der »Heilige Gottes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Zum Verha¨ltnis von ActPe 22 und Mk 1,24
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Inhalt
Tobias Nicklas Barnabas Remembered . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Apokryphe Barnabastexte und die Kirche Zyperns Lena Seehausen The Two Deaths . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 U¨berlegungen zur Imagination des Todes in einem irischen Apokryphon Klaus Fitschen Die Anfa¨nge der lateinischen Paulustradition in Nordafrika . . . . 201 Alexander Deeg Die neuen neutestamentlichen Texte der Perikopenrevision . . . . 213 Oder: Das Neue Testament zwischen Konvention und Skandal Naghmeh Jahan Das Urbild der himmlischen Tafel (al-lauh al-mahfu¯z/)ﺍﻟﻠّ ْﻮﺡ ﺍ ْﻟ َﻤﺤ ُﻔﻮﻅ ˙ ˙ ˙ als imagina¨res Fundament des Islams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
II. Literatur Peter Zimmerling »Mir war, als flo¨g ich in den Himmel.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Effi Briests Weg zu Beichte und Verso¨hnung in Theodor Fontanes gleichnamigem Roman Hans Richard Brittnacher I.N.R.I. 2000 – Wo bleibt Judas? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Neueste Blicke auf die Passionsgeschichte (Ann Leibovitz, Bettina Rheims, Lady Gaga) Johannes Dillinger Steve Duffys »The Penny Drops« und die Ghost Stories von M.R. James . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
Inhalt
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III. Magie Christian Hornung Klerus und Magie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Zur Verurteilung magietreibender Kleriker in der Spa¨tantike Michael Siefener Das Grimorium verum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Ein Faden im Gewebe handschriftlicher und gedruckter magischer Texte Christa Agnes Tuczay Superstitionenkritik in exemplarischen Wundergeschichten und Alltagsberichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
IV. Phantastik Robert N. Bloch Schaufenster der deutschen Phantastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Eine kommentierte Chronik unheimlicher Phantastik von 1787 bis heute Markus May Wicked Games . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Affektive Potenziale phantastischer (Spiel-)Ra¨ume Claudia Bath/Uwe Durst Konative Funktion und realita¨tssystemische Strukturen in der TV-Warenwerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444
Vorwort
Wenn eine Festschrift die dankbare Ehrung eines Wissenschaftlers für seine Lebensleistung wäre, dann käme diese definitiv zu früh – im Juli 2020 feiert Marco Frenschkowski seinen 60. Geburtstag. Sein wissenschaftliches Œvre ist in vieler Hinsicht erstaunlich, harrt aber vermutlich noch seines Höhepunktes, der uns eine ebenso neue wie reichhaltige Perspektive auf die Religionsgeschichte des frühen (und sicher auch des fortgeschritteneren) Christentums verspricht. Eine Festschrift zum 60. Geburtstag von Marco Frenschkowski ist daher eher zu verstehen als ein Strauß von Grüßen aus seinen ganz unterschiedlichen Wirkungskreisen, der nicht nur Ausdruck hohen akademischen Respekts vor seinem Werk ist, sondern vor allem zu dem noch Ausstehenden – sub conditione Jacobaea – motivieren soll. Marco Frenschkowski ist seit 2011 Inhaber des Lehrstuhls für Neues Testament unter besonderer Berücksichtigung der Religionsgeschichte der hellenistisch-römischen Welt an der Leipziger Theologischen Fakultät, was ihn allerdings nicht davon abhält, seine mannigfaltigen, über die Jahre gereiften Interessengebiete – vorrangig in Religionswissenschaft und Literatur – im Blick zu behalten und selbst darin forschend und kreativ tätig zu sein. Diese vielseitigen Interessen und Schwerpunkte seines Schaffens spiegeln sich selbstverständlich auch im Kreis seiner Weggefährten und Kolleginnen wider. Die vorliegende Festschrift mit dem Titel Religion als Imagination dokumentiert dies auf ganz eigene Weise und möchte darüber hinaus der scheinbar unstillbaren Neugier von Marco Frenschkowski – und hoffentlich auch einer größeren Leserschaft – entgegenkommen. Ganz in diesem Sinn nehmen die Begriffe »Religion« und »Imagination« im Titel dieses Bandes zwei charakteristische Aspekte der Forschungen Marco Frenschkowskis auf. Der Begriff der Religion versteht sich von selbst, da die Religionswissenschaft den weiten Rahmen seiner Forschung vorgibt. Imagination hingegen ist alles andere als zufällig als Ergänzung gewählt und benennt eine religionshermeneutische Perspektive, unter welcher ein großer Teil der Arbeiten des Jubilars ihren Platz finden. Das Imaginieren ganz unterschiedlicher
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Vorwort
Bilder und Themen ist nicht nur Voraussetzung, um sich im Werk Marco Frenschkowskis zurechtzufinden, sondern auch, um selbst Zugang zu den ihm eigenen Interessen zu erlangen. Einen besonderen Ausdruck fanden diese Interessen in einer Ausstellung der Universitätsbibliothek Leipzig unter dem Titel »Die Leipziger Magica-Sammlung im Schatten der Frühaufklärung« (November 2019 bis Februar 2020), deren Kurator Marco Frenschkowski war. Dieser eindrucksvollen Sammlung von 140 Manuskripten aus dem frühen 18. Jh. ist die Abbildung auf dem Umschlag entnommen, die auf Seite 14 noch einmal in voller Größe zu sehen ist. Es handelt sich um eine Tafel aus dem Codex Magicus 21 mit einer Darstellung des »Systems der Sephirot, der zehn göttlichen Namen«, die gemäß der jüdischen Kabbala die göttlichen Eigenschaften und damit zugleich die der Welt als göttlicher Schöpfung innewohnenden Kräfte repräsentieren. Wir freuen uns sehr, dass an dieser Festschrift namhafte Autorinnen und Autoren aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen und Spezialgebieten beteiligt sind, die eine je eigene persönliche und fachliche Beziehung zu dem Geehrten haben. Ihnen allen danken wir an dieser Stelle herzlich für ihre Mitarbeit, denn ohne sie hätte diese Festschrift niemals entstehen können. Wir haben versucht, allen einen Raum zu geben und dazu die Beiträge in vier größere Themenfelder eingeteilt: Theologie und Exegese – Magie – Literatur – Phantastik. Innerhalb dieser Bereiche wurden die Beiträge weitestgehend chronologisch angeordnet. Es ist dabei selbstverständlich, dass die Übergänge oft fließend sind und einzelne Beiträge auch mehreren Bereichen zugeordnet werden könnten. Im ersten Kapitel Theologie und Exegese ist der Bogen nicht nur über das Alte und Neue Testament gespannt, sondern auch über apokryphe und altkirchliche Texte bis hin zur »himmlischen Tafel« als eines imaginären Aspektes des Islam. Auch das zweite Kapitel Literatur führt von der neutestamentlichen Zeit bis in die Gegenwart. Die Kapitel drei und vier zu Magie und Phantastik repräsentieren zweifellos den größten Interessensbereich von Marco Frenschkowski neben der Theologie. Auch hier reichen die Beiträge von der Spätantike bis in die Gegenwart hinein, wobei der Versuch unternommen wird, die meist kulturwissenschaftlichen Perspektiven an den Religions- und Imaginationsbegriff anzubinden. Unser Dank gilt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Sachsen, der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau sowie dem Dekanat Kronberg, die mit großer Selbstverständlichkeit die Herstellung des Bandes finanziell unterstützt und so sein Erscheinen möglich gemacht haben. Bei den Korrekturen des Manuskriptes haben uns Frau Sylvia Kolbe und Frau Sabrina Lohse tatkräftig unterstützt; Herr Carlo Simon Christiansen hat die Register erstellt. Schließlich und nicht zuletzt ist dem Verlag für die Aufnahme dieser Festschrift in das Verlagsprogramm sowie für die professionelle Zusammenarbeit zu danken. Marco Frenschkowski besitzt die große und keineswegs selbstverständliche Fähigkeit, immer wieder »über den Tellerrand« seiner eigenen Profession hinaus
Vorwort
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zu schauen und unterschiedliche Perspektiven ein- und aufzunehmen. Es ist uns daher eine große Freude, Marco Frenschkowski zum 60. Geburtstag diesen Sammelband als Würdigung dieser Gabe und als Ermutigung für die weitere Forschung überreichen zu können. Lena Seehausen Paulus Enke Jens Herzer Leipzig, im Januar 2020
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Vorwort
Abku¨rzungen
Die Abkürzungen erfolgen im Wesentlichen nach Siegfried M. Schwertner (Hrsg.), IATG3 – Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin/Boston 32014. Die Abkürzungen antiker Autoren richten sich nach dem Verzeichnis des Reallexikons für Antike und Christentum, das auf der Webseite des Franz Joseph Dölger-Instituts (www.antike-und-christentum.de) elektronisch abrufbar ist.
I. Theologie und Exegese
Ga¨rten, Inseln, Wolkensta¨dte Raumutopien im Alten Testament und Alten Orient Angelika Berlejung
Marco Frenschkowski ist ein exzellenter Kenner der fantastischen Welten der Menschheit, daher freut es mich besonders, ihm diesen Beitrag zu seinem Geburtstag zuzueignen.
1. Einleitung Das Wort »Utopie« (Nicht-Ort), wurde (unabhängig von der Diskussion um Platons politeia) von Thomas More geprägt, der 1516 sein Werk über die künstlich angelegte Insel Utopia (vormals Abraxa) schrieb, auf der König Utopus herrschte. Darauf dass im Englischen U-Topie und Eu-Topie homophon sind, wird seither immer wieder hingewiesen, sodass More mit seiner Insel wohl in der Tat einen Nicht-Ort als Glücksort und einen Glücksort an einem Nicht-Ort assoziieren wollte.1 Die Utopie gehörte damit etymologisch und in ihren Anfängen in einen unbekannten exotischen Raum und war durch die Kritik an gegenwärtigen und alternativen Entwürfen von besseren Zuständen mobilisiert worden. Literarische Utopien der folgenden Zeiten setzten lange unentdeckte Regionen – bevorzugt Inseln –, die als topographisches »Ideal eines isolierten Raumes, wo sich ein radikal anderes, besseres Gemeinwesen bewahrt oder entwickelt hat«,2 voraus. Sie waren daher also im Raum versetzt, weniger in der Zeit, und konnten sehr gut kontemporär zur Zeit des Erzählers/Lesers angesiedelt werden. Literarische Utopien wurden nach A. Müller erst im Laufe ihrer Geschichte verzeitlicht, also in die Zukunft verlagert und damit in die Zeitlinie späterer Möglichkeiten integriert. Dynamische Entwicklungsmodelle gehörten s. E. von da an zum Basiselement utopischer Entwürfe, zu deren Realisierung vor allem die wissen1 2
Marek Winiarczyk, Die hellenistischen Utopien, BzA 293, Berlin/Boston MA 2011, 1. André Müller, Film und Utopie: Positionen des fiktionalen Films zwischen Gattungstraditionen und gesellschaftlichen Zukunftsdiskursen, Politica et Ars 24, Berlin 2010, 42.
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schaftlich-technischen Möglichkeiten eingesetzt werden sollten. Die Raumutopie sei also sukzessive durch die Zeitutopie ersetzt worden,3 und Wissenschaft und Technik sollten den Königsweg ihrer Realisierung bereitstellen, sodass sich hier eine klare Schnittmenge mit Science Fiction ergibt. Utopische Entwürfe schlagen ihren Lesern/Adressaten eine alternative Realität vor, die besser ist als ihre und/oder die des Autoren. Indem ein utopischer Text in dem durch den Text geschaffenen Raum (für einen unbekannten Ort oder in unbekannter Zeit) eine alternative Realität erstehen lässt, wird er zu einem wichtigen Kanal der Sozialkritik, zur Hoffnung für die Gruppe, die den Text produziert und rezipiert und durch ihre Lektüre befähigt wird, die alternative Realität zu erfahren bzw. zu erleben. Inwiefern Utopien handlungsrelevant werden, insofern als sie zur aktiven Veränderung der Gegenwart motivieren und zu ihrer Verwirklichung innerhalb des Lebensraums und der Lebenszeit der Autoren/Leser führen, lässt sich kaum verallgemeinernd beantworten, da dies von zu vielen Faktoren (z. B. Art und Funktion der Utopie, Autor, Leser/Rezipient, Gesellschaftsstruktur, zu Verfügung stehenden Möglichkeiten, Ressourcen/Kapitalien, Motivationen) abhängt. Da menschliche Wünsche und Sehnsüchte m. E. mit menschlichem Streben eng verbunden sind,4 ist Utopien in jedem Fall Handlungsrelevanz eigen. Die Macht menschlicher Vorstellungskraft ist nicht umsonst u. a. Gegenstand der Forschung des MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig.5 Dies fängt schon damit an, dass durch die utopischen Vorstellungen gegenwärtige Plausibilitäten in Frage gestellt und Ursachenforschungen begonnen werden können. Insofern wirken zukunftsgerichtete wie auch vergangenheitsidealisierende Zeitutopien immer zurück auf die Gegenwart, aus der heraus sie geschaffen waren, und auch Konzepte von exotischen Idealorten, also Raumutopien, lassen die wirkliche geographische Lebenswelt in neuem Licht erscheinen. Utopien sind immer das Ergebnis menschlicher Reflexion und Kreativität, die die vorhandene menschliche Lebenswelt zu fiktiven 3
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Die Entwicklung von der Raum- zur Zeitutopie seit Thomas More zeichnet nach: a. a. O., 40–47. Ähnlich Claudia Benthien/Manuela Gerlof, Topografien der Sehnsucht – zur Einführung, in: dies. (Hrsg.), Paradies. Topografien der Sehnsucht, Köln/Weimar/Wien 2010, 8, die Raumutopien ohne klare Begründung als eher »statisch«, Zeitutopien als »dynamisch« klassifizieren. Zur anthropologischen Grundlegung der Utopie (utopisches Denken gehört zur Wesensstruktur des Menschen) s. Erik Zyber, Homo utopicus. Die Utopie im Lichte der philosophischen Anthropologie, Würzburg 2007, 11–14; 119–168; Jörn Rüsen, Einleitung, Utopie neu denken. Plädoyer für eine Kultur der Inspiration, in: ders. u. a. (Hrsg.), Die Unruhe der Kultur, Potentiale des Utopischen, Weilerswist 2004, 9–23, 14. S. z. B. Roland G. Benoit/Philipp C. Paulus/Daniel L. Schacter, Forming Attitudes Via Neural Activity Supporting Affective Episodic Simulations, Nature Communications (2019), https://www.nature.com/articles/s41467 - 019 - 09961-w (Stand: 21. 10.2019).
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Welten umbilden. Es geht um die Auslotung von Möglichkeiten, denn es könnte und sollte eben auch alles ganz anders sein …
2. Antike Utopien Nun ist Utopie zweifelsohne »ein Neologismus, doch das Denkmodell gab es schon in der Antike,«6 worauf bereits und zu Recht z. B. B. Kytzler,7 J. Ferguson,8 R. Evans,9 A. Heyer10 und M. Winiarczyk hingewiesen haben. Letzterer hat unlängst diverse (politische) Utopien der hellenistischen Zeit und Welt zusammengestellt. Ob man antike Utopien identifizieren kann, hängt im Wesentlichen daran, wie man die Definitionen bestimmt. Als (rationale, konstruktive) Utopie sensu stricto gilt in der historischen Forschung zumeist die Staatsutopie, wohingegen unter (mythischer, deskriptiver) Utopie sensu lato jegliches Wunschdenken fallen kann, mit dem Menschen sich eine ideale Vergangenheit (etwa als »Rekonstruktionsutopie« oder »Retrospektionsutopie« mit Schnittmenge zum Mythos), alternative Gegenwart (Konstruktionsutopie, Fluchtutopie) oder auch ideale (Eutopie, Erlösungsutopie) oder desaströse Zukunft (Dystopie) ausdenken können.11 Die genannten Bestimmungen sind zumeist den Quellen aus der hellenistischen Zeit verpflichtet und versuchen ein literarisches Phänomen zu fassen, das mit Namen wie Platon, Jambulos, Hekataios von Abdera, Hippodamus von Milet u. v. a. verbunden ist. Demgegenüber vertritt u. a. M. Winiarczyk die These, dass Utopie keine Literaturgattung, sondern »eine inhaltsbezogene Kategorie« ist, wobei sich die Utopieschöpfer unterschiedlicher literarischer Formen bedienen können.12 Er hält sich dabei allerdings an die politisch-gesellschaftliche Utopie sensu stricto, wohingegen Aspekte einer Utopie sensu lato seinem Ermessen nach unter die Kategorie »utopische Motive« zu subsumieren wären. Letztere sind 6 7
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Winiarczyk, Utopien (s. Anm. 1), 2. Bernhard Kytzler, Utopisches Denken und Handeln in der klassischen Antike, in: Friedrich Krey/Rudolf Villgradter (Hrsg.), Der utopische Roman, Darmstadt 1973, 45–68. Zur Diskussion s. Andreas Heyer, Sozialutopien der Neuzeit. Bibliographisches Handbuch, Bd. 2, Politica et Ars 20, Berlin 2009, 54–56. John Ferguson, Utopias of the Classical World, AGRL 3, Ithaca NY 1975. Rhiannon Evans, Utopia Antiqua. Readings of the Golden Age and Decline at Rome, Milton Park/New York 2008. Heyer, Sozialutopien (s. Anm. 7), 13–152, mit ausführlicher Diskussion der Forschungsgeschichte und Bibliographie. Zur Forschungsgeschichte der verschiedenen Definitionen s. Winiarczyk, Utopien (s. Anm. 1), 7–12. A. a. O., 11.
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dann sehr weit zu fassen und umfassen menschliches Wunschdenken in sehr verschiedenen Aspekten. Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass dies nicht erst in der hellenistischen Zeit begonnen haben kann. Wünsche, Entwürfe und Träume idealer Natur, idealer Menschen, idealer Herrscher, idealer Herrschaften/Herrschaftsverhältnisse, idealer Gottesverhältnisse und Lebensumstände sind schon in den frühesten literarischen Überlieferungen Mesopotamiens, Ägyptens und im Alten Testament sehr gut bezeugt. Und offenbar schöpfte man die Optionen einer Raumutopie ebenso aus wie die einer Zeitutopie, sodass von einer chronologischen Abfolge (erst Raum-, dann Zeitutopie) nicht die Rede sein kann. Zudem zeigt sich, dass Raum- und Zeitutopien auch sehr gut kombiniert werden können, sodass sich ein sehr komplexes Bild ergibt. Die Zeitutopien sind gestaltet als Erinnerungen an (also »Rekonstruktionsutopien« oder »Retrospektionsutopien«) oder Hoffnungen auf ein goldenes Zeitalter (»Eutopie«, »Erlösungsutopie«) oder desaströse künftige Dystopien, sodass die jeweiligen Utopieschöpfer ihren eigenen Lebensraum in einer vergangenen idealen Urvergangenheit alternativ zur Gegenwart konstruierten oder ihren Lebensraum in einer künftigen Zukunft positiv oder negativ verwandelt sehen wollten. Raumutopien sind ebenso belegt, die dem eigenen Lebensraum einen parallel existierenden, unbekannten, exotischen Ort entgegensetzten, wenngleich die »Schilderungen« von diesen nicht wirklich vorhandenen Orten literarisch vorzugsweise in der Urvergangenheit angesiedelt (und damit mit einer Zeitutopie kombiniert) wurden. Da von diesen idealen Lokalitäten kein Untergang überliefert wurde, sollten sie streng genommen immer noch existieren. Dabei gilt für das Alte Testament und den Alten Orient auch, was der Jubilar in seinem Beitrag »Fortunatae Insulae« in Bezug auf Inseln für die griechisch-römische Antike feststellen konnte, nämlich dass die Grenze zwischen der primär realen und ausschließlich mythischen Geographie nicht scharf zu ziehen ist – es gibt einen Übergang.13 Denn es ist sehr gut möglich, reale Orte mit mythischen Konnotationen zu versehen, und mythische Orte der erfahrbaren Realität nahe zu rücken, indem man sie mit realen geographischen Größen identifiziert.14 Da es wie oben erwähnt eine Schnittmenge zwischen Mythos und Utopie gibt, lässt sich dies auch in Bezug auf geographische Größen, also utopische Orte, weiterführen.15 M. Frenschkowski hat das en détail für die utopischen Inseln der grie-
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Marco Frenschkowski, Fortunatae Insulae. Die Identifikation mythischer Inseln mit realen geographischen Gegebenheiten in der griechisch-römischen Antike, in: Reinhard von Bendemann/Annette Gerstenberg/Nikolas Jaspert (Hrsg.), Konstruktionen mediterraner Insularitäten, Mittelmeerstudien 11, Paderborn 2016, 43–73, 44; 49. Frenschkowski, Fortunatae Insulae (s. Anm. 13). In der Typologie möglicher mythischer Inseln findet sich im genannten Aufsatz des Jubilars auch der Typ der »utopische[n] Inseln mit alternativen oder idealen Gesell-
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chisch-römischen Antike gezeigt,16 und in diesem Beitrag sollen daran anknüpfend biblische und andere altorientalische Manifestationen von Raumutopien vorgestellt werden.
3. Raumutopien Raumutopien sind am ehesten als Konstrukte von Lokalitäten zu definieren, in denen utopische Motive angesiedelt werden. Ihre Autoren entwerfen literarisch eine fiktive Welt mit geographischen Angaben, die in der realen Geographie nirgendwo anzutreffen ist. Die fiktive Alternative kann in der Zeitlinie unterschiedlich angesiedelt werden: Der nicht real vorhandene Ort kann als in der Urvergangenheit oder in der Zukunft existent vorgestellt werden, er kann aber auch zeitgleich zu den Verhältnissen bestehen, unter denen die Utopie entsteht und somit anderswo eine alternative Gegenwart entwerfen. Auch wenn sich also Überschneidungen mit Zeitutopien in Gestalt von »Rekonstruktionsutopien« bzw. »Retrospektionsutopien«, »Konstruktionsutopien« bzw. »Fluchtutopien« oder zukunftsgerichteten Eutopien/Dystopien ergeben, so ist eine Raumutopie dadurch gekennzeichnet, dass sie den realen geographisch bekannten Raum der bewohnbaren Erdoberfläche (daher je nach Bekanntheit variabel) verlässt. Ihre utopische Gegenwelt ist von der wirklichen Welt durch eine räumliche Distanz getrennt, sodass literarisch auf die Schilderung von unüberwindbaren Hindernissen (Wächter, Wasser, Berge etc.) ebenso Wert gelegt wird wie auf die Verschleierung exakter Wegangaben. Die Bewohner dieser Orte sind an sich keine Götter, sondern Menschen, wobei diese Menschen so qualifiziert sein können, dass sie mit der realen conditio humana wenig gemein haben. Zu den möglichen utopischen Motiven, die in Raumutopien Platz finden, zählen die der idealen Natur, wie mildes Klima, ewiger Frühling, Ernte selbsthervorbringender Boden, unversiegbare Quellen, Quellen und Flüsse voller Wein, Milch, Honig, Nektar und Suppe17 sowie/oder utopische Motive, die menschliche Eigenschaften und Lebensumstände betreffen, wie Langlebigkeit und Unsterblichkeit, Spracheinheit, Körpergröße und -verfassung, ewige Gesundheit, Frömmigkeit, Lebensgemeinschaft mit den Göttern, Gefahrlosigkeit (keine Feinde, Tierfriede), sorglose Sexualität, egalitäre Strukturen, stabile intakte Ordnung, umfassende Tugendhaftigkeit und Gerechtigkeit. Raumutopien können – wie Thomas Morus’ Insel – den geographischen Rahmen für politische oder gesellschaftliche Utopien des idealen Gemeinwesens bereitstellen; allerdings können dort auch sehr gut utopische
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schaften, deren Bewohner jedoch als reale lebende Menschen gedacht sind« (a. a. O., 47; 52–57). A. a. O., 52–57. So Winiarczyk, Utopien (s. Anm. 1), 231–249.
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Lebensumstände verortet werden, die der Einzelne für seine Gattung, aber auch für sich selber wünschen würde, wie z. B. ewige Jugend, Gesundheit und Unsterblichkeit.18 Die Möglichkeiten der innerweltlichen Grenzüberschreitung sind zwar im Einzelnen den historischen, gesellschaftlichen und ggf. persönlichen Umständen des Utopienschöpfers verpflichtet, aber variabel und schier unbegrenzt.19
3.1 Raumutopien im Alten Testament Das Thema der Utopie wird im Alten Testament vor allem mit Bezug auf prophetische Literatur und Eschatologien,20 ab und an auch einmal in der Diskussion um Sozialutopien verwendet, so z. B. in der Diskussion um die Realisierung und Realisierbarkeit des Sabbatjahrs Lev 25,20–42 und Dtn 15,7–1121 oder in Bezug auf den alternativen Entwurf der Chroniken.22 Sehr bekannt sind die prophetischen Zeitutopien wie etwa Jes 11,6–9, die ein künftiges, alle Geschöpfe umfassendes Friedensreich auf dem Zion mitsamt Tierfrieden entwerfen.23 Die Verwandlung der geographischen Größe ›Zion‹ in der Zukunft hat in ihrer Verbindung mit Motiven der altorientalischen Tempeltheologie sowie der theolo-
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Dass Raumutopien vor allem gesellschaftlichen Charakter haben und weniger individuell ausgerichtet sind, ist eine definitorische Engführung, die dem Individualismusbegriff der Neuzeit verpflichtet ist und kaum für antike Gesellschaften gelten kann. Zur Utopie als »formale Möglichkeit zur Grenzüberschreitung«, gebunden an die Wesensstruktur des Menschen und abhängig von dessen Geschichte und Gesellschaft s. Zyber, Homo utopicus (s. Anm. 4), 39. S. den Sammelband Ehud Ben Zvi (Hrsg.), Utopia and Dystopia in Prophetic Literature, SESJ 92, Helsinki/Göttingen 2006. S. Moshe Weinfeld, Social Justice in Ancient Israel and in the Ancient Near East, Jerusalem 22000, 156. Steven J. Schweitzer, Reading Utopia in Chronicles, LHB 442, New York/London 2007. Zu diesem Motiv in Jes 11,6–9 und anderen Bibeltexten als Teil der eschatologischen Erwartung s. Bernd Janowski, Der Wolf und das Lamm. Zum eschatologischen Tierfrieden in Jes 11,6–9, in: Hans-Joachim Eckstein/Christof Landmesser/Hermann Lichtenberger (Hrsg.), Eschatologie – Eschatology. The Sixth Durham-Tübingen Research Symposium: »Eschatology in Old Testament, Ancient Judaism, and Early Christianity« (Tübingen, September 2009), WUNT 272, Tübingen 2011, 3–18; Peter Riede, Im Spiegel der Tiere. Studien zum Verhältnis von Mensch und Tier im alten Israel, OBO 187, Fribourg/Göttingen 2002, 155–164; Izak Cornelius, Paradise Motifs in the ›Eschatology‹ of the Minor Prophets and the Iconography of the Ancient Near East. The Concepts of Fertility, Water, Trees and ›Tierfrieden‹ and Gen 23, in: JNSL 14 (1988), 41–51.
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gisch motivierten Geographie innerhalb des Alten Testaments ihre Vorläufer.24 Der Zion wurde nachexilisch zum Fokus prophetischer Zukunftserwartung mit diversen eschatologischen Themen: der Völkerwallfahrt zum Zion (Jes 2,2–4; 18,7; 1QM 12,13; 19,5), des erfolglosen Völkeransturms gegen den Zion (Jes 17,12–14; 29,5–8), der eschatologischen Rettung am Zion (Jes 25,6 f.; 33) und der eschatologischen Vision des himmlischen Jerusalem. Gegenstand einer Raumutopie ist er damit freilich nicht, sondern eher einer Zeitutopie, die den bekannten geographischen Raum in der Zukunft verwandelt sehen will. 3.1.1 Das verheißene Land und der Garten (in) Eden Motive einer Raumutopie finden sich in der bekannten Formulierung »ein Land, fließend an Milch und Honig«,25 mit dem das verheißene Land Palästina/Israel vor allem in deuteronomistisch beeinflusster Literatur charakterisiert wird (Lev 20,24; Num 13,27; 14,8; übertragen auf Ägypten in Num 16,13; Dtn 6,3; 11,9; 26,9.15; 27,3; 31,20; Jos 5,6; Jer 11,5; 32,22; Ez 20,6.15). Damit überbietet es faktisch Eden,26 die ideale Landschaft im Osten (Gen 2 f.) in der der Garten Yhwh’s lag (Gen 2,8), der folglich als Garten in Eden oder eben auch als »Garten Eden« bezeichnet werden kann (Gen 2,15; 3,23 f.). Gen 2 f., dessen ätiologischer Charakter aktueller Lebensverhältnisse unbestritten ist, siedelt den Entwurf der verlorenen idealen Urvergangenheit des Menschen an einem Ort an, der den Programmnamen »Üppig« trägt (Eden von nordwestsemitisch ‘dn »üppig machen«). Eden, der Garten (in) Eden ist eine Lokalität, in der utopische Motive angesiedelt werden, eine Raumutopie,27 die in der Folge von Gen 2 f. zum Inbe24
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Angelika Berlejung, Art. Zion, in: HGANT4, 2015, 473 f.; Bernd Janowski, Der Himmel auf Erden, in: ders./Beate Ego (Hrsg.), Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte, FAT 32, Tü bingen 2001, 229–260. Zur Formel vgl. Burkhard R. Knipping, Die Wortkombination »Land, fließend Milch und Honig«. Eine kurze Problematisierung ihrer Ausdeutung, ihrer Überlieferungsgeschichte und der Tragweite eines Pentateuchmodells, in: BN 98 (1999), 55–71. Nathan MacDonald, What Did the Ancient Israelites Eat? Diet in Biblical Times, Cambridge/Grand Rapids MI 2008, 7, betont richtig, dass das so charakterisierte Land im AT immer eine künftige Erwartung ist und nie erreicht wird. Das altiranische Lehnwort »Paradies« kommt im AT nur in Hld 4,13; Koh 2,5 und Neh 2,8 vor und hat ursprünglich nichts mit dem Garten Eden von Gen 2 f. zu tun. Erst die LXX stellt diese Beziehung (Gen 2,8.15; 13,10) her, zu den Details s. Walter Bührer, Am Anfang… Untersuchungen zur Textgenese und zur relativ-chronologischen Einordnung von Gen 1–3, FRLANT 256, Göttingen 2014, 192–195. Zyber, Homo utopicus (s. Anm. 4), 40–42, diskutiert den Paradiesmythos als »rückwärtsgewandte Utopie«; er geht allerdings eher auf dessen zeitliche als geographische Verortung ein. Zu Eden als utopischer Gegenwelt s. Terje Stordalen, Echoes of Eden. Genesis 2–3 and Symbolism of the Eden Garden in Biblical Hebrew Literature, CBET 25,
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griff der üppigen Existenz von Wasser, Bäumen, Fruchtbarkeiten und Reichtümern wurde (Ez 28,13; 31,9.16.18; 36,35; Joël 2,3; Sir 40,27). In der Urgeschichte geht aus Eden ein Quellfluss als Urstrom aus (Gen 2,10), der den Garten zuverlässig und permanent bewässert und weder Milch noch Honig (s. später aber die beiden Quellen des Paradieses in Hen[sl] 8,5 mit Honig, Milch, Öl und Wein), sondern normales Wasser führt. Von dort aus teilt sich der Strom in vier Flussläufe (Pischon, Gihon, Tigris und Eufrat), die die ganze damals bekannte Erde ohne Unterbrechung (wie das bei Regen der Fall wäre) bewässern. Wenn der Pischon auf den Nil und Urozean, und der Gihon auf den Jerusalemer Gihon zu beziehen ist, ergibt sich eine um Jerusalem zentrierte Weltsicht, die Ez 47,1–12 nahesteht. Gen 2,10–14 wie auch Ez 47,1–12 entwerfen eine theologisch motivierte Geographie, in der der verlorene ideale Lebensraum des Menschen (wie auch der wiederhergestellte ideale Raum künftiger Verheißungen in Ez 47) durch die Referenzen auf die reale Geographie der erfahrbaren Wirklichkeit nahe gerückt wird. Garten Eden ist dennoch nirgendwo genau zu lokalisieren,28 sondern entzieht sich dem konkreten Zugriff irgendwo im Osten. Verschiedene utopische Motive werden in diesem fiktiven Raum angesiedelt, die vor allem die ideale Natur betreffen, wo permanent verfügbares Wasser (Quelle und perennierende Flüsse statt Regen) und selbstverständliche Ernten das menschliche Leben durchaus mit Arbeit, aber ohne Mühen ermöglichten. In dieser idealen, schattigen, sorgenfreien und fruchtreichen Gegend lebten der Mensch und seine Frau bzw. in der späten Stammeltern-Perspektive Adam und Eva (bzw. nach Ez 28 der König von Tyrus) bis zum Sü ndenfall, der ihre Vertreibung und die Aufstellung von Wächterkeruben zur Folge hatte. Andere utopische Motive, die menschliche Eigenschaften und Lebensumstände betreffen, werden in Gen 2 f. ebenso thematisiert, wobei dieselben sich vor allem aus den Strafsprüchen und den negativen Folgen des Sündenfalls ergeben (Gen 3,16– 19): Hatte im Garten ein Leben der gottgewollten Gleichwertigkeit und Partnerschaftlichkeit beider Geschlechter in unproblematischer nackter Körperlichkeit und Sexualität ohne Scham, Schmerz, Mühe und Tod geherrscht, so ist dies nach dem Sündenfall zum Nachteil des Menschen, insbesondere der Frau,
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Leuven 2000, 214–249; ders., Heaven on Earth – Or not? Jerusalem as Eden in Biblical Literature, in: Christoph Riedweg/Konrad Schmid (Hrsg.), Beyond Eden – The Biblical Story of Paradise (Genesis 2–3) and its Reception History, FAT 2/34, Tübingen 2008, 28– 57, 38 f. Zu bisherigen Lokalisierungsversuchen s. Manfred Dietrich, Das biblische Paradies und der babylonische Tempelgarten. Überlegungen zur Lage des Gartens Eden, in: Janowski/Ego (Hrsg.), Das biblische Weltbild (s. Anm. 24), 281–323; Henrik Pfeiffer, Art. Eden, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/16807/ (Stand: 29. 10.2019). Zu Eden als »simultaneously locative and utopian« s. auch Stordalen, Heaven on Earth (s. Anm. 27), 49–57.
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verändert. Die Partnerschaftlichkeit beider Geschlechter wird zur Herrschaft des Mannes über die Frau und Sexualität mit Scham konnotiert, sodass sie mit dem Sündenfall in den Bewertungshorizont einer Folge der Sü nde geraten. Auch die enge und unmittelbare Lebensgemeinschaft mit Gott, die im Garten möglich gewesen war, ist nach dem Sündenfall beeinträchtigt, und die allgemeine Gefahrlosigkeit findet ein jähes Ende, da die Menschen nun den Tieren und die Tiere den Menschen nach dem Leben trachten. Eden, der ideale Ort einer Rekonstruktionsutopie, bietet also den geographisch fiktiven Raum für eine Menge an utopischen Motiven, die sowohl die ideale Natur als auch ideale menschliche Lebensumstände betreffen: Langlebigkeit bzw. Unsterblichkeit, ideale Kommunikation und Lebensgemeinschaft mit Gott, Schmerz-, Mühe- und Gefahrlosigkeit (inkl. Tierfriede), ideale partnerschaftliche Geschlechterstrukturen, ideale Gemeinschaft mit Tieren und Natur, unversehrte, intakte Körper, zweck- und sündenfreie Körperlichkeit und Sexualität, Sorgenfreiheit und eine stabile, funktionierende Ordnung. Es geht dort also um die optimal vorgestellten (und an sich nach Gen 2 f. von Gott so geschaffenen und gewollten) anthropologischen Basisparameter der gesamten Menschheit und damit um den Einzelnen ebenso wie um die Gemeinschaft. Der Garten (in) Eden existiert nach Gen 3,24 weiter. Der Vers evoziert (u. a. durch die Keruben und die Ostausrichtung) eine Verbindung zwischen dem Paradies und dem Jerusalemer Tempel und damit eine Verschränkung von Urvergangenheit und Gegenwart,29 aber auch von fiktiver und realer Geographie. Der Garten der Urzeit ist für den Menschen ab jetzt ein verloren gegangener und unbetretbarer Ort. Dennoch ist er immer da. Aufgrund der dort von Gott geschaffenen idealen Umstände für menschliches Leben und die Natur hat er den Status eines regulativen Prinzips, das in der Schöpfung verwirklicht werden will, aber immer nur annäherungsweise verwirklicht werden kann. Insofern dient dieser Paradiesentwurf wie jede Raumutopie der gegenwärtigen Welt als Handlungsmotivation trotz ihres imaginären Charakters.30 Nur durch Gottes erneutes Eingreifen in seine Schöpfung wird prophetisch und apokalyptisch die Totalrevision der Wirklichkeit in ferner Zukunft erwartet, wo sich der Paradiesgarten dann (wieder, z. T. Gen 2 f. überbietend) in der Endzeit realisieren soll bzw. für Menschen wieder zugänglich werde (TestXII.Lev 18,10 f.). Eden bzw. die Raumutopie des Paradiesgartens wird zeitlich im alttestamentlichen Kanon (MT und LXX), in jüdischer und christlicher Imagination am Anfang der Schöpfung als Ur-Heimat und an ihrem Ende als Zielort (Offb 22) angesiedelt. Nach C. Benthien und M. Gerlof gehört der Paradiesgarten (in) Eden 29
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So mit Jan Christian Gertz, Von Adam zu Enosch. Überlegungen zur Entstehungsgeschichte von Gen 2–4, in: Markus Witte (Hrsg.), Gott und Mensch im Dialog. Festschrift für Otto Kaiser, BZAW 345/1, Berlin/New York 2004, 215–236, 226 f. In Anlehnung an Benthien/Gerlof, Topografien (s. Anm. 3), 9.
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in eine »nicht-präsente und ›zeitenthobene‹ Periode«.31 Dem muss vor dem Hintergrund des oben mit Referenz auf Gen 3,24 Gesagten widersprochen werden. Der Paradiesgarten besteht und begleitet die Menschen in ihrer Gegenwart jeweils weiter. Das frühe Judentum hat seiner Weiterexistenz nach dem Sündenfall Rechnung getragen, indem es zwischen einem urvergangenen, einem zwischenzeitlich verborgenen und einem endzeitlichen Paradies unterschied: Da letztlich von der Identität des uranfänglichen und endzeitlichen Paradieses/ Edens ausgegangen werden musste, kam es zur Vorstellung eines gegenwärtig in den äußersten Fernen der Erde (hinter sieben Bergen und Meeren, z. B. Hen[aeth] 32,2 f.) oder im Himmel (z. B. Hen[sl] 8 [im 3. Himmel]) verborgenen Paradiesgartens, der zeitgleich zur Gegenwart an einem topografisch nicht-identifizierbaren Ort existierte.32 Als Bewohner des verborgenen Paradiesgartens, der sehr viele Elemente aus Gen 2 f. aufnimmt, dachte man sich die Seelen der entrückten oder verstorbenen Erzväter und/oder Gerechten (vgl. z. B. Hen[aeth] 70,4; 77,3; Hen[sl] 9; 72,1.5.9). Damit ist der paradiesische Garten (in) Eden ein imaginärer, fiktiver, ortloser, idealer und utopischer Ort, der seit der Schöpfung existiert, auf die Gegenwart regulativ und handlungsmotivierend wirkt und in der Zukunft der Realisierung zustrebt. Als Raumutopie wird in dieser Konzeption zwar kein alternatives politisches Gemeinwesen entworfen wie in der Utopie sensu stricto, aber es wird unzweifelhaft eine innerweltliche Grenzüberschreitung geboten mit dem Entwurf einer Gegenwelt, die ein alternatives Natur-, Menschen- und Gottesverhältnis konzipiert, und damit die Gegenwart kritisch begleitet. 3.1.2 Der Raum der Liebenden im Hohelied Eine Raumutopie ganz besonderer Art präsentiert das Buch Hohelied. Es handelt sich dabei sicher nicht um eine Utopie sensu stricto, aber es wird durchaus eine innerweltliche Grenzüberschreitung vorgenommen. Im Garten-Weinberg-Setting, dem Begegnungsort der Liebenden, wird eine fiktive Lokalität konstruiert, in der utopische Motive angesiedelt werden. Das Buch bietet zwar diverse Angaben, die auf einen städtischen Kontext (Jerusalem) oder ländliche Teile von Palästina verweisen (Scharonebene Hld 2,1; Libanon, Amana-Gebirge, Senir und 31 32
So a. a. O., 7. Zu den Richtungsbestimmungen der Ansiedlung des Paradieses im Osten, Nordwesten oder Westen der bekannten Welt, zwischen dieser und der jenseitigen Welt, zwischen Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit sowie der Vorstellung vom »doppelten Paradies«, das durch den Baum des Lebens verbunden wird, s. die Anmerkungen in Christfried Böttrich, Das slavische Henochbuch, JSHRZ 5/7, Gütersloh 1996, 847–853; Siegbert Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, JSHRZ 5/6, Gütersloh 1984, 631; Bernd U. Schipper, Religiöse Paradiese. Gegenwelten – Paradiesvorstellungen in den Religionen, in: Andrea Müller/Hartmut Roder (Hrsg.), 1001 Nacht. Wege ins Paradies, Mainz 2006, 37–44, 39.
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Hermon Hld 4,8, also Antilibanongebirge) und die der realen Geographie entnommen sind, dennoch ist der Garten bzw. Weinberg, in dem die Liebenden sich treffen, nirgendwo genau lokalisierbar. Zudem werden Berge aufgenommen, die traditionell als Götterwohnsitze bekannt waren und von denen die Liebenden den Göttern gleich herabsteigen (Hld 2,8 f.; 4,8),33 sodass auch mythologischkosmische Topographie und Aspekte der Theophanie eine Rolle spielen. Entworfen wird literarisch eine fiktive Garten-Weinberglandschaft mit geographischen Referenzen, sodass der Handlungsort an die Realität herangerückt ist, aber letztendlich durch eine gewöhnliche Reise nicht erreicht werden kann. Schon P. Trible34 und G. Barbiero haben darauf hingewiesen, dass der Garten im Hld den Paradiesgarten von Gen 2 f. zitiert und die Liebenden wieder in den Paradiesgarten der Urgeschichte vor der Sünde versetzt werden.35 S. Fischer schlägt gar für den Fall vor, dass das Hld Liebe vor dem Fall schildern sollte, dass es zur »utopischen Literatur zu rechnen« sei.36 So weit sollte man m. E. zwar nicht gehen, jedoch lassen sich unzweifelhaft utopische Motive ausmachen, die in der fiktiven Garten-Weinberglandschaft angesiedelt werden. Dabei stellt der Text zwischen der fernen Urvergangenheit der Urgeschichte von Gen 2 f. und der menschlichen Jetztzeit eine Verbindung her, sodass die geographische wie temporäre Distanz zum Idealort ›Paradiesgarten‹ durch die Liebe zweier Menschen jederzeit überbrückt werden kann. Der klarste Hinweis darauf, dass das Hld eine intertextuelle Verbindung zu Gen 2 f. aufbaut, liegt im Setting der Begegnung der Liebenden, die in einem üppigen Garten und Weinberg stattfindet. Hld 7,11 nimmt gar direkt auf Gen 3,16 Bezug,37 wenn die Geliebte in terminologischer Aufnahme von Gen 3,16 feststellen kann: »Ich gehöre meinem Geliebten, und auf mich richtet er sein Verlangen.« Damit ist zum Ausdruck gebracht, dass sich die Liebenden eben gerade nicht so begegnen, wie es der Strafspruch gegen die Frau von Gen 3,16 für die Zeit nach dem Sündenfall geregelt hat: mühselige Schwangerschaften, schmerzhafte Geburten, einseitiges Verlangen der Frau nach ihrem Mann, welcher über sie herrschen wird. Wie auch an den abwechselnden Redegängen von Geliebtem und Geliebter ersichtlich (Gegenseitigkeit: Hld 1,13 f.), begehren sich im Hld die Liebenden gegenseitig und keiner beherrscht den anderen. Eine 33 34
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Othmar Keel, Das Hohelied, ZBK 18, Zürich 1986, 94; 145. Phyllis Trible, God and the Rhetoric of Sexuality, Philadelphia 1978, 144–155; Gianni Barbiero, »Leg mich wie ein Siegel auf dein Herz – Fliehe mein Geliebter«: Die Spannung in der Liebesbeziehung nach dem Epilog des Hohenliedes, in: ders., Studien zu alttestamentlichen Texten, SBAB 34, Stuttgart 2002, 185–198, bes. 188. So auch Keel, Hohelied (s. Anm. 33), 233. Stefan Fischer, Das Hohelied Salomos zwischen Poesie und Erzählung. Erzähltextanalyse eines poetischen Textes, FAT 72, Tübingen 2010, 174. Keel, Hohelied (s. Anm. 33), 232 f.
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asymmetrische Geschlechterhierarchie spielt ebenso wenig eine Rolle, wie ein Zweck der Sexualität, etwa der der Mehrung. Die Sexualität der beiden Liebenden steht auch nicht unter dem gesellschaftlichen Zwang der vorher zu absolvierenden Eheschließung,38 und auch die Jungfräulichkeit der weiblichen Protagonistin – ansonsten gesellschaftliches Ideal und Voraussetzung einer Eheschließung – ist kein Thema. Unbeschwert, zwang- und zweckfrei ist die partnerschaftliche erotische Begegnung der Liebenden, spielerisch (Sehnsucht – Gefährdung [Hld 5,6 f.] – Erfüllung) und rauschhaft (Hld 4,9–11). Die drei Beschreibungslieder des Hlds39 wie auch die wechselseitigen Schönheitsprädikationen beschreiben die Körper von ihm und ihr in ihrer Perfektion unter Heranziehung von physiognomischen Idealvorstellungen40 und in Analogie zu Götterkörpern,41 sodass sie geradezu theomorph erscheinen. Sie gehen mit der körperlichen Nacktheit der beiden Liebenden42 ganz selbstverständlich um, und lassen Aspekte der Scham, ebenfalls eine Folge des Sündenfalls (Gen 3,7–11) ganz außen vor. Stattdessen ist die Liebesbegegnung und das Geschlechterverhältnis der beiden Protagonisten von Ebenbürtigkeit der Geschlechter, genussvollem Begehren, erotischer Körperlichkeit und unschuldiger Freude aneinander 38
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Trotz der Bezeichnung der Geliebten als »Braut« (Hld 4,8–12; 5,1) handelt es sich um eine vor- bzw. außereheliche Beziehung, mit Christl M. Maier, Art. Heilige Hochzeit, https:// www.bibelwissenschaft.de/stichwort/20845/ (Stand: 29. 10.2019). Beschreibungslied I: Hld 4,1–7, er beschreibt sie: Ideal des weibl. Körpers; Beschreibungslied II: Hld 5,10–16, sie beschreibt ihn: Ideal des männl. Körpers; Beschreibungslied III: Hld 7,2–8, er beschreibt sie: Ideal des weibl. Körpers. Zu diesen Konzepten s. Angelika Berlejung, Frau nach Maß. Physiognomische Omina für die Frau als Quellen für Überlegungen zur Mentalität und Kultur der altorientalischen Gesellschaft im 1. Jt. v. Chr., in: Rainer Kampling (Hrsg.), Sara lacht… Eine Erzmutter und ihre Geschichte. Zur Interpretation und Rezeption der Sara-Erzählung, Paderborn u. a. 2004, 27–63; Angelika Berlejung, Körperkonzepte und Geschlechterdifferenz in der physiognomischen Tradition des Alten Orients und des Alten Testaments, in: Bernd Janowski/Kathrin Liess (Hrsg.), Der Mensch im alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie, HBS 59, Freiburg u. a. 2009, 299–337; Angelika Berlejung, Menschenbilder und Körperkonzepte in altorientalischen Gesellschaften im 2. und 1. Jt. v. Chr.: Ein Beitrag zur antiken Körpergeschichte, in: Dies./Jan Dietrich/ Joachim-Friedrich Quack (Hrsg.), Menschenbilder und Körperkonzepte im Alten Israel, in Ägypten und im Alten Orient, ORA 9, Tübingen 2012, 367–397. Keel, Hohelied (s. Anm. 33), 38 f.; 221–226. Das Schleiermotiv in Hld 4,1–3; 6,7 wird von Meik Gerhards, Clothing and Nudity in the Song of Songs, in: Christoph Berner u. a. (Hrsg.), Clothing and Nudity in the Hebrew Bible, Oxford u. a. 2019, 557–568, auf eine »wedding vision« gedeutet, sodass die Braut gerade nicht nackt sei. Allerdings zeigt der Fortgang des Texts, dass dieser Schleier nichts verhüllt, sondern die Spannung steigert. Der Schwerpunkt liegt auf der damit insinuierten Entschleierung, mit Keel, Hohelied (s. Anm. 33), 130–132.
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geprägt. Die Liebenden drehen damit das Rad heterosexueller erotischer Begegnungen in die Urgeschichte vor dem Fall zurück und schaffen in ihrer idealen Partnerschaftlichkeit um sich herum einen idealen Raum, der den Paradiesgarten evoziert. Dies betrifft nicht nur ihre eigenen Lebensumstände, die sie in die Zeit vor dem Fall versetzen, wenn ihre Liebe sogar zum Widersacher des Todes wird (Hld 8,6), der bekanntlich ebenfalls als eine Folge des Sündenfalls gedacht war. Es betrifft auch die ganze Natur um die Liebenden herum, die als ein Garten und Weinberg des Überflusses, wasserreich, schattig, fruchtbar, blühend, duftend und harmonisch entworfen wird. Diese Natur birgt nichts Gefährliches, sondern spendet den Liebenden Schatten, Nahrung und Heimat. Sie ist Handlungsort und Spender der reichen Metaphorik, die letztlich auch die tiefe Verbundenheit von Mensch und Natur anzeigt. Die Liebenden bewegen sich unbeschwert innerhalb der Natur, ihr Haus sind Zedern und Wacholder (Hld 1,17), bei Hirschkuh und Gazelle wird die Welt bzw. werden die Töchter Jerusalems beschworen, die Liebenden nicht zu stören (2,7; 3,5; 8,4). Die Natur ist den Liebenden Verbündeter, nicht Feind. Das Besondere ist, dass diese fiktive Garten-Weinberglandschaft, in der eine alternative menschliche Partnerschaft gelebt werden kann, in der Zeitlinie so angesiedelt wird, dass die Liebe einerseits den verlorenen Paradiesgarten der Urvergangenheit in die Gegenwart einholen und sie damit verwandeln kann, und dass für die aktuelle Gegenwart (und die Zukunft) ein möglicher Weg für eine Rückkehr dorthin aufgezeigt wird. Die paradiesischen Natur- und Lebensumstände bestehen also potentiell für jeden überall und gleichzeitig, sodass die alternative Gegenwart greifbar nahe ist und man sich durch die Liebe dorthin begeben kann. Insofern wird im Hld programmatisch vorgeführt, dass ein Mann und eine Frau durch die Liebe jederzeit den realen geographischen und gesellschaftlichen Raum um sich herum in einen Raum verwandeln können, der Menschsein alternativ zur aktuellen Wirklichkeit möglich macht. Die utopische Gegenwelt des Hlds stellt zur wirklichen Welt keine räumliche Distanz der Unüberwindbarkeit her. Im Gegenteil. Der Entwurf der alternativen Gegenwelt konzipiert ein alternatives Natur- und Menschenverhältnis, das die reale Welt verändern soll und aus ihr heraus den Rückweg in den verlorenen Paradiesgarten für möglich hält. Bedenkt man also, dass das Hld den Entwurf einer Gegenwelt ‒ ohne Ehe, Vertrag, Zeugungsfokus/Geburt, fremdbestimmter Sexualität, Schmerz, Mühe, Tod, ‒ ohne Geschlechtergefälle, männlicher Herrschaft und einseitigem weiblichen Verlangen, ‒ ohne Scham und mit spielerischem und rauschhaftem (Liebes‐)Leben, ‒ ohne körperliche Defizite und Einschränkungen, ‒ ohne Gegensatz Natur – Kultur: zwischen Mensch, Tier und Natur herrscht Einklang und Harmonie,
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bietet, dann ist diesem Entwurf idealer menschlicher Lebensumstände und Naturgegebenheiten – bei aller Erotik und Romantik – auch ein die Gegenwart kritisierendes Potential eigen. Der durch die Liebe verwandelte Raum gibt utopischen Motiven Platz, die als wünschenswert vorgestellt werden, wenn die Liebenden sich sorglos in der freien Natur ihrer partnerschaftlichen Erotik hingeben, gesellschaftlichen Konventionen und sogar dem Tod zu trotzen glauben. Als einzige Bewohner ihrer ganz persönlich geschaffenen Raumutopie sind sie im Hld zwar unzweifelhaft Menschen, jedoch sind die beiden Liebenden durch die Elemente der Theophanie ihres Auftretens und Theomorphie ihres körperlichen Erscheinungsbildes (s. o.) so qualifiziert, dass sie mit der realen conditio humana wenig gemein haben. Ihre Liebe verwandelt die beiden menschlichen Beteiligten in gottgleiche Wesen. Der durch die Liebe geschaffene Idealraum um die beiden Liebenden herum wird durch den Einbezug realer geographischer Größen (s. o.) der erfahrbaren Realität nahe gerückt, er hat aber alle Charakteristika des Gartens (in) Eden vor dem Sündenfall und einer Gottesgartenlandschaft. War dem Menschen der Zutritt Edens seit dem Sündenfall verwehrt, so proklamiert der Verfasser des Hlds jedoch, dass es möglich ist, diesen utopischen Idealort der Urvergangenheit jederzeit in die Gegenwart einzuholen und ihn wieder zu betreten – bzw. den eigenen Lebensraum in eben diesen Paradiesort zu verwandeln. Grenzen werden aufgehoben und der eigene Lebensraum wie die eigenen Lebensumstände können jederzeit positiv zu einer alternativen Gegenwart verändert werden. Dies ist jedem Mann und jeder Frau gleichberechtigt möglich. Ihre partnerschaftliche erotische Liebe macht die Rückkehr in den Garten (in) Eden möglich bzw. verwandelt den Raum um die Liebenden herum in das Paradies. Das Hohelied bietet daher vielleicht weniger eine Raumutopie als vielmehr eine Raumverwandlungsutopie.
3.2 Raumutopien in Mesopotamien Ungleich viel älter als die alttestamentlichen Texte aus dem 1. Jt. v. Chr. sind sumerische Literaturen wie z. B. die Bauhymne des Gudea von Lagasch für den Tempel des Ningirsu aus dem Ende des 3. Jts. v. Chr.43 aus Mesopotamien, deren
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Zur Übersetzung von Cyl. A und B s. http://etcsl.orinst.ox.ac.uk/cgi-bin/etcsl.cgi?text=t. 2.1.7# (Stand: 29. 10. 2019), und Dietz-Otto Edzard, Gudea and his Dynasty, RIME 3/1, Toronto/Buffalo/London 1997, Gudea E3/1.1.7. Cyl. A und Cyl. B. S. bes. Cyl. B iv 17–21 (Tierfriede), xix 12–15 (Fülle). Gudea und der Bau des Tempels für Ningirsu sind historisch verbürgt, allerdings stellt die Tempelbauhymne eine Idealisierung, unter anderem auch der Chronologie dar, s. Claudia E. Suter, Gudea’s Temple Building. The Re-
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Königsideologien und Tempeltheologien utopische Motive mit Zukunftsbezug enthalten.44 So wird König Gudea nach dem und durch den erfolgreichen Tempelbau mithilfe der Götter in der Lage sein, während seiner Regierungszeit in seinem Herrschaftsraum Sicherheit, Friede, Überfluss und allgemeinen Tierfrieden umzusetzen. Es gibt also durchaus hier schon die klare Tendenz, Utopien oder wenigstens utopische Motive nicht etwa im unbekannten Raum, sondern innerhalb des eigenen real existierenden geographischen Raums, aber eben in eine künftige Zeit versetzt anzusiedeln. Durch die Person des Königs, der im perfekten Einklang mit den Göttern regiert und handelt, ist diesem Entwurf von Gudea’s idealer Herrschaftszeit die Möglichkeit der Machbarkeit innerhalb absehbarer Zeit eigen. Auch das sumerische Epos »Enmerkar und der Herr von Arata«45 aus der UrIII-Zeit (2112–2004 v. Chr.) enthält utopische Motive. Mit Recht hat C. Mittermayer46 aus grammatischen Gründen die Deutung von B. Alster und B. PongratzLeisten47 ausgeschlossen, dass es in den Zeilen 136–155 um den Entwurf einer künftigen Idealzeit ginge. Es handelt sich weniger um eine Eutopie als vielmehr um die Rekonstruktionsutopie eines »Golden Age« des Friedens zur Frühzeit des Enmerkar, in dem die Menschen keinerlei Feinde hatten und noch allesamt eine Sprach- und Kulteinheit bildeten, indem sie in einer einzigen Sprache zu einem Gott (Enlil) beteten. Der Exkurs im Handlungs- bzw. Redegang mit der Referenz auf die frühere Idealzeit in den Z. 136–146 liest: »136. – (Ihr mü sst wissen:) Damals gab es weder Schlange noch Skorpion, 137. weder Hyäne noch Löwe, 138. weder Hund noch Wolf. 139. Es existierte nicht Furcht, nicht Schrecken,
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presentation of an Early Mesopotamian Ruler in Text and Image, CM 17, Groningen 2000, 117–119. Der Idealablauf der Vorgänge umfasst ein Jahr und sieben Tage. Mit Beate Pongratz-Leisten, Gudea and his Model of an Urban Utopia, in: BaM 37 (2006), 45–59. Catherine Mittermayer, Enmerkara und der Herr von Arata. Ein ungleicher Wettstreit, OBO 239, Fribourg/Göttingen 2009, Z. 136–155. »Enmerkar und der Herr von Arata« gehört zusammen mit drei anderen Epen (Enmerkar und Ensuhgirana, Lugalbanda I und Lugalbanda II) zu zentralen Legenden über die frühen Könige von Uruk. In allen Epen geht es darum, wie der König von Uruk, Enmerkar, über seinen Gegenspieler in Arata triumphiert. Der literarische Zyklus wird der Ur-III-Zeit zugewiesen, wobei die Tafeln zumeist aus der Isin-Larsa-Zeit (2017–1763 v. Chr.) stammen. Zu den Einleitungsfragen s. Herman L. J. Vanstiphout, Epics of Sumerian Kings: The Matter of Aratta, WAW 20, Leiden/Boston 2004, 1–22. Mittermayer, Enmerkara (s. Anm 45), 61. Bendt Alster, An Aspect of »Enmerkar and the Lord of Aratta«, in: RA 67 (1973), 101– 110; Pongratz-Leisten, Gudea (s. Anm. 44), 52ff.
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140. und die Menschen hatten keinerlei Feind. 141. Damals wandten sich (sowohl) die Gebiete Subur und Hamazi, 142. (als auch) die mit den (ineinander) ü bersetzbaren Sprachen, (die da sind) Sumer, der ›Grosse Berg der fü rstlichen Normen‹, 143. Akkad, das Land, das zur Zierde gereicht, 144. und das Gebiet der Gardu, wo man auf ü ppigen Weiden ruht, 145. Himmel und Erde in ihrer Gesamtheit, (sämtliche) Völker, fü r die gut gesorgt wird, 146. in einer einzigen Sprache an Enlil. 147. Damals, bis dass (wegen) der Wettstreite zwischen Stadtherren, Fü rsten und Königen, 148. bis dass Enki (wegen) der Wettstreite zwischen Stadtherren, Fü rsten und Königen, 149. (wegen) solcher Wettstreite zwischen Stadtherren, Fü rsten und Königen, 150. Enki, der Herr des Überflusses, [der] Wahres äußert, 151. der kluge Herr, der das Land (Sumer) beobachtet, 152. der Anfü hrer der Götter, 153. zur Weisheit berufen, der Herr von Eridu, 154. ihr fremdartige Sprachen in den Mund gelegt hatte, 155. war die Sprache der Menschheit eine einzige gewesen! –«48
Aus dieser vergangenen Idealzeit heraus wird innerhalb der Erzählung die Entstehung der aktuellen Sprachenvielfalt der Menschen entwickelt, sodass es sich insgesamt um eine Ätiologie aktueller Verhältnisse handelt,49 die auch als Rekonstruktionsutopie bezeichnet werden kann. Es geht um das goldene Zeitalter in der Zeitlinie der Vergangenheit, nicht etwa um einen alternativen Raum. Denn der Erzähler benutzt reale geographische Größen aus dem Repertoire seiner Zeit, wenn er diese frühe Idealzeit mit den Begriffen Sumer, Akkad, Subur, Hamazi und Gardu innerhalb der ihm bekannten Landkarte und mental map lokalisiert und Enmerkar als Herrn der real existierenden Stadt Uruk (bzw. Kulaba) einführt. Die mesopotamische Topographie und das geographisch identifizierbare Uruk werden mit rekonstruktionsutopischen bzw. mythischen Konnotationen versehen. Zwei weitere Lokalitäten spielen im Text eine Rolle: Nur kurz erwähnt »Enmerkar und der Herr von Arata« neben Uruk noch Dilmun, das im Epos für Seehandel steht.50 Deutlich mehr erfährt man über Uruks Gegenspieler, das rein fiktive Arata (s. u.). Arata kann als eine Raumutopie angesehen werden, die innerhalb des Epos mit einer (rekonstruierenden) Zeitutopie verschränkt ist.
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Zitiert aus Mittermayer, Enmerkara (s. Anm 45), 123. Zur Diskussion und dem Forschungsstand s. a. a. O., 57–62. A. a. O., 38; 222.
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3.2.1 Dilmun Für Dilmun ist charakteristisch, dass es in der literarischen Tradition des frühen Mesopotamien zwischen realer Geographie und idealisierender Utopie oszilliert. Dilmun51 ist außer aus dem bereits genannten »Enmerkar und der Herr von Arata« auch aus »Enki und die Weltordnung«52 bekannt, wo Enki, der Herr des Abzu, das Land Dilmun reinigt und die Göttin Ninsikila samt Fischerei und Dattelpalmen ansiedelt (Z. 38 ff.). Sehr viel ausführlicher ist noch die sumerische Dichtung »Enki und Ninhursag«, wo Dilmun als Land beschrieben wird, das in der Urvergangenheit ideale Lebensbedingungen geboten habe: es ist der Ort der sexuellen Begegnung der beiden Gottheiten Enki und Ninhursag, es ist rein, es herrscht Tierfriede, für seine menschlichen Bewohner gibt es weder Krankheit, Gefahr, Alter noch Klage (also wohl Tod).53 Die uranfängliche und gegenweltliche Perfektion gegenüber der aktuellen Welt ist im Wesentlichen als Abwesenheit von Defiziten ausgeführt:54 »11.–16. In Dilmun the raven was not yet cawing, the partridge not cackling. The lion did not slay, the wolf was not carrying off lambs, the dog had not been taught to make kids curl up, the pig had not learned that grain was to be eaten. 17.–19. When a widow has spread malt on the roof, the birds did not yet eat that malt up there. The pigeon then did not tuck the head under its wing. 20.–26. No eye-diseases said there: ›I am the eye disease.‹ No headache said there: ›I am the headache.‹ No old woman belonging to it said there: ›I am an old woman.‹ No old man belonging to it said there: ›I am an old man.‹ No maiden in her unwashed state […] in the city. No man dredging a river said there: ›It is getting dark.‹ No herald made the rounds in his border district. 27.–28. No singer sang an elulam there. No wailings were wailed in the city’s outskirts there.«55
Es fehlte allerdings an Süßwasser, was Enki erst auf Bitte von Ninsikila verändert habe. Dilmun, der Ort an dem die Sonne aufgeht, wird im Osten verortet und 51
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Bendt Alster, Dilmun, Bahrain, and the Alleged Paradise in Sumerian Myth and Literature, in: Daniel T. Potts (Hrsg.), Dilmun: New Studies in the Archaeology and Early History of Bahrain, BBVO 2, Berlin 1983, 39–74. Text nach: http://etcsl.orinst.ox.ac.uk/cgi-bin/etcsl.cgi?text=t.1.1.3# (Stand: 29. 10. 2019). Zu Beleglage und Lokalisierungsversuchen (meistens Bahrain) s. Samuel Noah Kramer, In the World of Sumer. An Autobiography, Detroit 1988, 195–199. Jack M. Sasson, Utopian and Dystopian Images in Mari Prophetic Texts, in: Ben Zvi (Hrsg.), Utopia and Dystopia (s. Anm. 20), 28 f., der das Epos unter »mythological ›utopian vision‹« mit ätiologischem Charakter führt. Zitiert nach: http://etcsl.orinst.ox.ac.uk/cgi-bin/etcsl.cgi?text=t.1.1.1# (Stand: 29. 10. 2019).
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hinter salzigen Wassern vermutet. Es ist denn auch der geeignete Ort, an dem in der sumerischen Sintfluterzählung Ziusudra nach der Flut von den Göttern An und Enlil für sein ewiges Leben angesiedelt wurde: »3.–11. More and more animals disembarked onto the earth. Zi-ud-sura the king prostrated himself before An and Enlil. An and Enlil treated Zi-ud-sura kindly […], they granted him life like a god, they brought down to him eternal life. At that time, because of preserving the animals and the seed of mankind, they settled Zi-ud-sura the king in an overseas country, in the land Dilmun, where the sun rises.«56
Dabei scheint Dilmun innerhalb der Schöpfung als ein Spätling angesehen worden zu sein, da wiederholt mit der Zeitangabe »bevor Dilmun existierte« darauf hingewiesen wird, dass andernorts bereits Dattelpalmen wuchsen (so in Nibru nach »Nanna-Suen’s Reise nach Nibru«, Z. 34 f.), Isin bereits (aus einer Dattelpalme) geschaffen war (šir-gida an Ninisina [Ninisina A], Z. 93 f.) und Uruk und Kulaba bereits florierten (Enmerkar und der Herr von Arata, Z. 1–27). Dem Idealbild von Dilmun in literarischen Texten stehen Wirtschaftstexte und Königsinschriften aus dem 4.57 und 3. Jt. v. Chr. gegenüber, in denen Dilmun eine geographische Angabe für einen Ort ist, der als wichtiger Marktplatz für Kupfer, Holz, Dattel(palmen) und Luxusgüter galt. Dilmun ist danach von Wassern umgeben, mit Schiffen erreichbar und für Fernhandel attraktiv, sodass es eine Lokalität der realen Geographie ist. Relativ konsensfähig ist die Identifikation von Dilmun mit Bahrain, wobei durchaus eine etwas ausgedehntere Topographie, also Ost-Arabien, das Gelände von Failaka im Norden bis einschließlich Bahrain im Süden, angenommen werden kann.58 Wieso die sachlicheren Informationen aus dem 4. und 3. Jt. stammen und damit deutlich älter sind als das Idealbild von Dilmun in den literarischen Texten des Endes des 3. Jts. bzw. des 2. Jts. v. Chr. wird kontrovers diskutiert.59 Vorgeschlagen wird, dass im 4. und 3. Jt. v. Chr. der Wirtschaftskontakt zwischen Dilmun und Mesopotamien bestand, und dass sich um den entfernten Handelspartner allerlei Seemannsgarn entspann, das dann (erst) gegen Ende des 3. Jts. und im 2. Jt. v. Chr. literarischen Niederschlag fand. Eine andere Option wäre auch, dass die literarischen Traditionen deutlich älter sind als die uns erhaltenen Tafeln und Versionen aus dem späten 3. und 2. Jt. v. Chr., sodass dieselben utopische Motive aufnehmen, die bereits im 4. und 3. Jt. v. Chr. fest mit Dilmun verbunden waren. 56
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Übersetzung aus: http://etcsl.orinst.ox.ac.uk/cgi-bin/etcsl.cgi?text=t.1.7.4#, hier Segment E (Stand: 29. 10. 2019). Dilmun ist bereits in den archaischen Texten aus Uruk belegt, die in die letzten Jahrhunderte des 4. Jts. v. Chr. datiert werden können. So mit Harriet E.W. Crawford, Dilmun and Its Gulf Neighbours, Cambridge 1998, 4–8. S. a. a. O., 1–8.
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Dass Wirtschaftstexte und Königsinschriften eher den Wirtschaftsraum Dilmun als den utopischen Raum Dilmun aufnehmen, liegt sicherlich an der Textgattung und Textintention. Wie M. Frenschkowski (s. o.) gezeigt hat, ist es so ungewöhnlich nicht, dass reale geographische Größen und mythisch-utopische Konnotationen literarisch miteinander verbunden werden. Man wird festhalten müssen, dass in den literarischen Überlieferungen des südlichen Mesopotamien Interpretationsvorgänge stattgefunden haben, die den Wirtschaftspartner und die Insel Dilmun mit utopischen Motiven und Sehnsuchtsvorstellungen verbanden und damit stärker aus dem realen in den mythischen Raum hinausrückten. Zugleich wurde Dilmun damit in die eigene Weltkonstruktion als ferner geographischer Orientierungspunkt integriert. Dilmun war zugleich auch ein Orientierungspunkt für die Mythisierung des eigenen geographischen Raums, wenn eben Isin, Nibru, Uruk und Kulaba dazu in räumliche aber auch zeitliche Relation gesetzt werden. Die genannten Orte sollen (s. o.) bereits vor Dilmun existiert haben und von den Göttern bewohnt und kultiviert worden sein, wodurch ihnen in der Ur-(Ur‐)Vergangenheit Priorität zukommt. In jedem Fall ist Dilmun eine reale geographische und auch wirtschaftliche Größe, Teil der mental map und mesopotamischen Mythologie. Es ist ein von Wassern umgrenzter Ort, an dem Idealvorstellungen angesiedelt werden, die Natur und menschliche Lebensumstände als optimal skizzieren, ein Sehnsuchtsraum, der als Urahn des späteren »glücklichen Arabien« angesprochen werden kann. Dilmun trägt in der literarischen Überlieferung alle Charakteristika einer Insel, auf der Götter sich begegnen, selige Menschen und der sumerische Sintflutüberlebende Ziusudra ohne Krankheit, Gefahren, Alter und Tod leben. Dilmun ist ein utopischer Ort außerhalb aller Orte, wiewohl er tatsächlich verortet werden kann. 3.2.2 Die Bergfeste Arata Fiktional ist im oben genannten sumerischen Epos »Enmerkar und der Herr von Arata«60 die Stadt Arata, über die Enmerkars Gegenspieler herrscht. Arata ist ein Ort, der »stellvertretend für die an Rohstoffen reichen Bergregionen und Länder im Osten« steht.61 Es handelt sich nicht um eine reale geographische Größe, auch wenn als Ausgangspunkt der Reise dorthin Susa und/oder Anschan genannt sind 60
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Arata findet sich auch in den übrigen Epen des Uruk-Zyklus, Enmerkar und Ensuhgirana (= Herr von Arata), Lugalbanda, s. o. Anm. 45, außerdem u. a. in »Inana und Ebih«, »Gilgamesch und Huwawa« als unerreichbare Bergfeste. Mittermayer, Enmerkara (s. Anm. 45), 18. Auch Vanstiphout, Epics (s. Anm. 45), 5, geht nicht davon aus, dass es sich um einen wirklichen geographischen Ort handelt. Zu den Lokalisierungsversuchen s. Mittermayer, Enmerkara (s. Anm. 45), 36–39. Sie votiert für Susa als ideelles Vorbild für Arata, ohne eine geographische Gleichsetzung vorzuschlagen.
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und auf die bekannte Landkarte der mesopotamischen Geographie angespielt wird.62 Arata ist im Epos von der bekannten Welt der mesopotamischen Tiefebene durch sieben Gebirgszüge getrennt und daher nicht etwa als Insel, sondern als hochgelegene Bergfeste63 konzipiert. Die Siebenzahl der Gebirgszüge entspricht der Siebenzahl der Mauern, die Arata laut Z. 287 umgeben sollen. Gold, Silber, Edelmetalle, Gebirgssteine und Lapislazuli sind die Reichtümer dieses sumerischen Eldorado, über die die mesopotamische Ebene nicht verfügt. Arata hat also diesbezüglich, was die Stadt Enmerkars, Uruk, nicht hat. Im zitierten Streitgespräch ist Arata sprachlich, religiös (Inanna-Kult64) und gesellschaftlich (Königreich) sehr ähnlich zu Uruk gestaltet, sodass es sich laut C. Mittermayer bei der »Idee ›Arata‹« um ein »alter ego zu Uruk«65 handelt. Sprache, Religion und Gesellschaft von Arata ist nichts Utopisch-Ideales eigen, was über Uruk hinausginge, sodass hier keine soziale oder politische Utopie entworfen wird. Allerdings wird klar, dass Arata für Steine steht, wohingegen Uruk/Kulaba Ziegelwerk sein Eigen nennt,66 sodass sich der geographische Ort Uruk und der utopische Ort Arata nicht nur in ihrer Lage (Ebene vs. Gebirge), sondern auch in ihren Ressourcen und ihrer Materialität (Lehmziegel vs. Steine) klar unterscheiden. In einer kurzen Retrospektive vergangener Zeiten weiß das Epos zudem davon zu berichten, dass die Bewohner von Arata von Dumuzi aus der Menschheit auserwählt worden seien und dank ihm die Sintflut erlebt und überlebt hätten (Z. 566–576), wonach/weil Inanna sie – aus Liebe zu Dumuzi – mit dem Lebenswasser besprengt und ihnen das Land (Sumer) untertan gemacht habe. Damit erhöht sich die Zahl der Überlebenden der Sintflut enorm und dadurch gehört die utopische östliche Bergfeste Arata in die Reihe der vorsintflutlichen Städte. Dies waren in Sumer Eridu, Badtibira, Larag, Sippar und Schuruppak (und nicht etwa Uruk). Arata ist damit ein Eu-topia/Gut-Ort, der sogar der Urkatastrophe der Sintflut entgangen war. Seine Bewohner sind aus62
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Von den bisherigen Identifikationen von Arata mit einem tatsächlich existenten frühen Königreich wird derzeit noch am ehesten die Jiroft-Kultur in den iranischen Provinzen Sistan und Kerman bzw. Konar Sandal A und B diskutiert, die um ca. 2500 v. Chr. datiert wird, s. Yousef Majidzadeh, The Land of Aratta, in: JNES 35 (1976), 105–113; ders., Jiroft. The Earliest Oriental Civilization, Teheran 2003, der seit 2001 im entsprechenden Gebiet ausgräbt. Die Identifikation ist höchst umstritten. Z. 221–224.243–247.268–275, s. auch die Vogelnest-Metaphorik, die Arata beschreibt, in Z. 115 f.187 f.487 f. In diesem und einem weiteren Uruk-Epos, Enmerkar und Ensuhgirana/Ensuhkeshdana, trägt der Tempel der Inanna in Arata den Namen é.za.gìn.(na) = Haus des Lapislazuli, s. Andrew R. George, House Most High. The Temples of Ancient Mesopotamia, Mesopotamian Civilizations 5, Winona Lake IN 1993, 158 f. Mittermayer, Enmerkara (s. Anm. 45), 38. A. a. O., Z. 235.
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erwählt und dank Lebenswasser unsterblich. Der isolierte und ideale Raum des Bergstaats Arata trägt alle Züge einer Stadt in den Wolken, die mit dem Himmel und dem Weltenbaum eins ist, wenn es in Z. 243 f. heißt: »243. Das große Gebirge (ist) ein mes-Baum, der mit dem Himmel verwachsen ist, 244. seine Wurzeln bilden ein Netz, seine Äste eine Falle.«
Arata ist ein fiktiver Raum, der mit geographischen Angaben ausgestattet wurde, aber den Raum der realen Welt verlässt. Die utopische Gegenwelt ist von der wirklichen Welt durch eine räumliche Distanz getrennt, was literarisch durch die Schilderung von unüberwindbaren Hindernissen sowie durch die Verschleierung exakter Wegangaben umgesetzt wurde. Der utopische Raum von Arata entgrenzt die Erdscheibe nach oben zum Himmel hin und ist an diesem kosmischen Übergang angesiedelt. Damit ist er in äußerste Ferne gerückt. Dass es auch die Vorstellung von einem utopischen Raum gegeben hat, der am kosmischen Übergang der Erdscheibe nach unten zu den Wassern hin angesiedelt wurde, zeigt der folgende Abschnitt. 3.2.3 Die Insel Utnapischtis Einen wirklichen Nicht-Ort, exotisch, unbekannt und nur unter größten Risiken auffindbar sowie durch seine Meeres- und Todeswasserabgrenzung inselhaft konzipiert, beschreibt das Gilgamesch-Epos.67 Der Sintflutüberlebende dieser späteren Version der Fluterzählung namens Utnapischti lebt nach der Flut »fern am Mund der Flüsse« (ina rūqi ina pî nārāti XI 205 f.) und ist mit seiner Frau dort sein einziger Bewohner (Gilgamesch Tafel X und XI). Er ist an diesen besonderen Ort nicht selber gereist, sondern wurde von den Göttern (3. Person mask. Pl.) genommen und dort angesiedelt: »205. Utnapischti möge in der Ferne, am Mund der Flüsse wohnen! 206. Und da nahmen sie mich in die Ferne, am Mund der Flüsse ließen sie mich wohnen.«
Insbesondere die Wasser des Todes (mê mūti) grenzen seinen Aufenthaltsort vom Bereich der Menschen ab, und Fährmann Urschanabi kann auch nur mithilfe der »Steinernen«68 (bzw. dem 300-stängigen Ersatz aus Holz) durch diese Gewässer 67
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Zitiert nach Andrew R. George, The Babylonian Gilgamesh Epic. Introduction, Critical Edition and Cuneiform Texts, 2 Bde., Oxford 2003. Die Kompilation der epischen Version, die ältere sumerische und akkadische Vorlagen voraussetzt, fand wohl im 12. Jh. v. Chr. statt. Zu den Spekulationen über die Identität der Steinernen u. a. als Mannschaft, Amulette, Anker s. a. a. O., 501 f.
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stochern bzw. rudern, denen der Kontakt mit dem Todeswasser offenbar nichts ausmacht. Lebewesen, einschließlich Urschanabi, sterben jedoch bei Kontakt mit den Wassern, sodass die Erfindung des Segelns durch Gilgamesch die Meeres- und Todeswasserüberquerung deutlich erleichtert. Nach der Begegnung von Gilgamesch mit dem fernen (rūqu) Utnapischti wird Urschanabi aus den Diensten Utnapischtis entlassen und Gilgamesch in die normale Welt der Sterblichen zurückgeschickt, sodass die Welt der Unsterblichen weiterhin parallel zur Gegenwart, aber an einem (durch den Verlust des Fährmanns nun komplett)69 unbereisbaren Ort lokalisiert ist. In der Geographie des Epos bilden die Wasser des Todes den gefährlichsten Teil der Welt, der zwischen dem Rand der bekannten Welt und der unerforschten Region weit im Osten liegt, wo die Götter Utnapischti ansiedelten. Aufgrund seines Namens ist es schwierig, dieses Todeswasser von dem Gewässer, das die Toten traditionell auf ihrem Weg in die Unterwelt überquerten, zu trennen. Der Unterweltsfluss Hubur wird in keinem Text genau lokalisiert, verläuft aber vor den Toren der Unterwelt, die traditionell im Westen und/oder unterirdisch verortet wurden.70 Damit sind die Wasser des Todes des Gilgameschepos dem Unterweltsfluss Hubur in der Himmelsrichtung entgegengesetzt. Nach A.R. George sind diese Gewässer dennoch identisch, da die Todeswasser als Teil des großen Ozeans die Erdscheibe umzirkelten.71 Der Ort fern am Mund der Flüsse ist ein von Wassern umgebener fiktiver Ort, der mit keiner geographisch bekannten Größe zu korrelieren ist. Diese Lokalität ist auch keineswegs mit dem Wohnort der Götter identisch, wo diese unsterblichen Wesen leben. Daran ändert sich auch nichts, wenn man den Ort fern am Mund der Flüsse mit dem Ort identifiziert, an dem die Flüsse wieder aus dem Apsu aufsteigen, dem Wohnbereich des Gottes Ea.72 Details zum Wohnort von Utnapischti in der Tauchergeschichte des Epos (XI 290–293) referieren tatsächlich auf das tiefe Apsu, in das Gilgamesch auf der Jagd nach der Verjüngungspflanze abtaucht, um dann vom Meer (tâmtum) an die Küste und in die normale Welt zurückgeworfen zu werden, wo Urschanabi für die gemeinsame Rückfahrt nach Uruk auf ihn wartet. Dennoch ist Utnapischtis Aufenthaltsort nicht mit Ea’s Wohnort Apsu identisch, sondern nur dorthingehend transparent. Der Sintflutüberlebende und seine Frau leben für sich allein an ihrem isolierten insularen Wohnort, nicht mit einer Gottheit gemeinsam in den Tiefen des Apsu. Genauere Lokalisierungen des im Osten gelegenen Nicht-Orts »fern am Mund der Flüsse«, etwa im Gebiet des Golfs um Bahrain können auf die ältere Tradition 69
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Zur Tradition, dass Gilgamesch nach seinem Tod Fährmann der Unterwelt sei, s. a. a. O., 501. Wayne Horowitz, Mesopotamian Cosmic Geography, Mesopotamian Civilizations 8, Winona Lake IN 1998, 355–359. George, Gilgamesh Epic (s. Anm. 67), 500. A. a. O., 519–521.
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verweisen, dass Ziusudra in der sumerischen Sintflutüberlieferung im Land Dilmun, Richtung Sonnenaufgang, angesiedelt wurde (s. o.), und dass die artesischen Süßwasserquellen der Insel Bahrain als die Münder der mesopotamischen Flüsse angesehen wurden.73 Mehr als eine Anspielung auf die bekannte Landkarte der mesopotamischen Geographie lässt sich aber nicht ausmachen. Dabei sollte auffallen, dass die Textkompilatoren des 12. Jhs. v. Chr. die konkrete Ortsangabe Dilmun als Wohnort des Sintflutüberlebenden aus der älteren Tradition (zu Ziusudra s. o.) eben gerade nicht übernahmen, sondern konkrete Ortsnamen vermieden und damit den Wohnort des Utnapischti vernebelten. Denn selbst wenn implizite Anspielungen auf Dilmun und die Insel Bahrain vorliegen sollten, so verortet die Verwendung der kosmologischen Terminologie statt geographischer Ortsbezeichnungen den Wohnort des Utnapischti jenseits der bekannten Welt, an einem Ort, der in äußerste Ferne und Unerreichbarkeit hinausgerückt wird. Die Fluterzählung der Version des 12. Jhs. v. Chr. erhöht also gegenüber der älteren Version die räumliche Distanz erheblich, obgleich es Gilgamesch gelungen war, dorthin zu gelangen. Neben der Aussichtslosigkeit wird damit auch die Einmaligkeit dieses Unterfangens in der Urvergangenheit betont, das in der Gegenwart nicht zu wiederholen ist. Abgesehen von der Abwesenheit des Todes gelten an Utnapischtis Wohnort, der gerade nicht Teil der bekannten Geographie ist, ansonsten »normale« Lebensumstände: Er und seine Frau pflegen das Gastrecht, seine Frau bäckt weiterhin Brot, Gilgamesch muss dem menschlichen Schlafbedürfnis nachgehen, und das gebackene Brot altert und zeigt somit auch das Weiterlaufen der Zeitlinie in Tagen an (XI 209–241). Die Zeit steht somit an Utnapischtis inselhaftem Wohnort nicht etwa still, nur das Altern und Sterben des Utnapischti und seiner Frau sind dort ausgesetzt. Die Glücksvorstellung vom ewigen Leben bezieht sich damit auf nur zwei Individuen und nicht etwa auf eine alternative Gesellschaft, die sich an dieser entlegenen Lokalität entwickelt hat. Utnapischti hat, außer dass er ewig lebt, keine weiteren Eigenschaften einer Gottheit. In seinen Reden wird er als weiser Mann charakterisiert, der das Leben auf Erden und die göttlichen Schicksalsbestimmungen sehr gut kennt – gleichwohl aus einer beobachtenden Distanz ohne irgendwelche Eingriffsmöglichkeiten. Der Wohnort des Utnapischti ist ein fiktiver Raum, der mit unüberwindbaren Hindernissen und vagen geographischen Angaben ausgestattet und so aus dem Raum der realen Welt hinausgerückt wurde. Die Gegenwelt ist von der wirklichen Welt durch eine räumliche Distanz getrennt, die einmalig durch den Ausnahmehelden Gilgamesch überwunden werden konnte. Dieser fiktive Ort gibt zwar dem utopischen Motiv der »Insel der Seligen« Raum, doch besteht die Bewohnerschaft nur aus zwei Menschen. Dieselben leben allerdings ohne Alter, 73
So a. a. O., 521, der den Wohnort des Utnapischti trotz der geographischen Anspielungen »in the realm of fantasy« ansiedelt.
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Krankheit und Tod und haben damit mit gewöhnlichen Menschen nichts gemein. Gleichwohl sind sie aber auch keine Gottheiten, sondern auserwählte Menschen, denen die Götter diesen Ausnahmezustand in räumlicher Nähe zu Götterwohnsitzen ermöglichen. Der Ausnahmeort ist weder mit einer Insel der bekannten Welt noch mit einem Göttersitz identisch, sondern zwischen Apsu und Hubur angesiedelt – ein Übergang zur Erde nach unten hin und ein Platz ganz für sich allein.
4. Fazit Abgesehen vom verheißenen »Land, fließend an Milch und Honig« dtn-dtr Rhetorik und von der Raumverwandlungsutopie des Hohelieds sind alle genannten Raumutopien, in denen je auf ihre Art Idealvorstellungen von Naturgegebenheiten, menschlichen Lebensumständen oder Lebensweisen angesiedelt waren (die im »realen« Lebensraum offenbar als defizitär oder problematisch angesehen wurden, am fiktiven Ort hingegen intakt waren), in der Urvergangenheit und nicht in der »echten« Zukunft verortet. Alternative Gesellschafts- oder Staatsformen, die von den antiken Gegebenheiten abweichen, sind nicht mitgedacht, sodass es sich kaum um Utopien sensu stricto, sondern nur um (mythische, deskriptive) Utopien sensu lato oder eben um utopische Motive handeln kann, die an fiktiven Orten angesiedelt werden.74 Der starke Akzent der Utopien auf der idealen Urvergangenheit erklärt sich aus dem altorientalischen Konzept der klaren uranfänglichen Ordnung, die die Götter bzw. Gott selbst im Schöpfungsakt der Schöpfung eingestiftet hatte(n). Diese anfängliche Perfektion bedurfte keiner künftigen Verbesserung, sondern eher der Rückkehr dahin.75 Diese ferne, ver74
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M. E. nicht ausreichend differenziert in Stefan M. Maul, Rückwärts schauend in die Zukunft. Utopien des Alten Orients, in: Alfonso Archi/Armando Bremanti (Hrsg.), Tradition and Innovation in the Ancient Near East. Proceedings of the 57th Rencontre Assyriologique Internationale at Rome 4–8 July 2011, Winona Lake IN 2015, 3–12, 8. Die Definition von Zyber, Homo utopicus (s. Anm. 4), 11 f.: »Utopisches Denken impliziert echte Zukunft, nicht die Wiederherstellung vergangener Zustände[.]« legt faktisch das moderne Zeitverständnis mit seinem inhärenten Fortschrittsoptimismus zugrunde, was eine Engführung darstellt. Antike Utopien teilen mit modernen Utopien durchaus gemeinsame Merkmale (Gedanken des Wünschens, Vorstellungen der innerweltlichen Grenzüberschreitungen, die Unzufriedenheit mit gegenwärtigen Gegebenheiten), allerdings nicht den Gedanken einer progressiven Zeitlinie mit dem ausschließlichen Blick nach vorn. Wenn man – wie Zyber – utopisches Denken als anthropologische Grundkonstante verstehen will, ist eine inklusivere Bestimmung, die rückwärtsgewandte Utopien mit einschließt, angebrachter, da man sonst ganze Epochen und Kulturkreise ausschließt.
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gangene Idealzeit war der menschlichen Gegenwartszeit und dem menschlichen Zugriff allerdings ebenso entzogen und fern wie die Zukunft. Mag sein, dass die altorientalische utopische Zeitvorstellung darin bestand, dass »die ferne Vergangenheit und die ferne Zukunft auf einer gebogenen Zeitachse zueinander finden und einander durchdringen«76 könnten. Für die utopische Raum-Vorstellung müsste dann Entsprechendes gelten. Die primordialen, gegenwärtigen und künftigen Idealräume wären in einer gebogenen Raumachse zu denken, oder eben (wie in der frühjüdischen Paradiesvorstellung) so, dass die jeweiligen fiktiven Idealräume seit der fernen Urvergangenheit bestanden und in der Zeitlinie – parallel und ggf. verborgen zur Gegenwartswelt – bis in die ferne Zukunft weiterbestehen werden. Sie existieren neben der realen geographisch bekannten Welt auf entlegenen Inseln, in Gärten, auf Bergmassiven und an kosmischen Übergängen. Zwar bieten die vorgestellten literarischen Traditionen wiederholt geographisch lokalisierbare Ausgangspunkte einer möglichen Reise an diese fiktionalen Lokalitäten von der Gegenwartswelt aus, jedoch verliert sich der Weg dorthin schnell ins Unnachvollziehbare. Dennoch wird gerade durch das Einbeziehen geographischer Anhaltspunkte zwischen realen und utopischen Orten in den literarischen Traditionen des Alten Testaments und des Alten Mesopotamien eine Verbindung hergestellt. So werden diese Raumutopien zu flexiblen Sphären, die in die reale Geographie hinein-, wie in den mythischen Raum hinausgerückt werden können. Man wird M. Frenschkowski uneingeschränkt recht geben: »Das Oszillieren der ›Wirklichkeiten‹ macht gerade den Reiz der Geschichte aus.«77
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So Maul, Rückwärts (s. Anm. 74), 7. Frenschkowski, Fortunatae Insulae (s. Anm. 13), 68.
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Der mit diesem Beitrag1 zu Ehrende sucht im Hinblick auf die religionsgeschichtliche Breite und Tiefe seiner Interessengebiete, auf denen er sich durchweg mit großer Gelehrsamkeit und intellektueller Neugier bewegt, unter den im Neuen Testament in Forschung und Lehre Tätigen seinesgleichen. Wer über »[d]ie verborgene Epiphanie in Spätantike und frühem Christentum«2 geforscht hat und überdies Monographien über »Mysterien des Urchristentums«,3 über »[d]ie Geheimbünde«,4 zu »Magie im antiken Christentum«5 und dergleichen mehr zu seinen Buchveröffentlichungen zählt, wird über zwei apokalyptische Gestalten inmitten einer frühchristlichen Schrift, die die Wunder des Mose und des Elia vollbringen, mit dem Tier aus dem Abgrund kämpfen, das Martyrium erleiden und dann auferweckt werden, kaum sonderlich erstaunt sein. Er wird möglicherweise auch nicht Anstoß daran nehmen, dass der Markusevangelist die Auffassung referieren und unkommentiert stehen lassen konnte, Jesus sei der von den Toten auferweckte Täufer. Schaut man dagegen in die Literatur, muten die »zwei Zeugen« aus Offb 11,3– 14 ebenso exotisch an wie die in Mk 6,14–16; 8,28 notierte Meinung, in Jesus sei 1
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Grundlage ist ein Vortrag, den der Verfasser auf der Konferenz aus Anlass des 20-jährigen Bestehens der Bibliotheca Biblica im Oktober 2018 in Sofia gehalten hat. Die Vortragsfassung wird dort erscheinen, die vorliegende ist wesentlich überarbeitet und erweitert. Vgl. Marco Frenschkowski, Offenbarung und Epiphanie, Bd. 1. Grundlagen des spätantiken und frühchristlichen Offenbarungsglaubens, WUNT 2/79, Tübingen 1995; ders., Offenbarung und Epiphanie, Bd. 2: Die verborgene Epiphanie in Spätantike und frühem Christentum, WUNT 2/80, Tübingen 1997. Ders., Mysterien des Urchristentums. Eine kritische Sichtung spekulativer Ideen zum frühen Christentum, Wiesbaden 2007. Ders., Die Geheimbünde. Eine kulturgeschichtliche Analyse, Wiesbaden 2007. Ders., Magie im antiken Christentum. Eine Studie zur Alten Kirche und ihrem Umfeld, StAC 7, Stuttgart 2016.
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der ermordete Täufer wiedergekehrt. Das Verhältnis zwischen Jesus und dem Täufer ist auch anderswo verwirrend: In Mk 9,10–13 wird nicht nur behauptet, der ermordete Täufer sei der wiedergekommene Elia gewesen, sondern auch, dass gerade sein gewaltsames Ende diese Identifikation als schriftgemäß ausweist. Der vorliegende Beitrag unternimmt eine neuerliche Erkundung des Verhältnisses von Elia, Johannes dem Täufer und Jesus.6 Er erprobt an den Texten die aus den Texten gewonnene Auffassung, dass innerhalb dieses Verhältnisses Jüdisches und Christliches nicht sinnvoll unterschieden werden kann. Erst wo man sich dem Zwang entschlägt, unterscheidend Christliches identifizieren zu müssen, ist ein unverstellter Blick auf die Traditionsgeschichte möglich. Wir beginnen unsere Erkundung mit Mk 9,13: […] καὶ Ἠλίας ἐλήλυθεν, καὶ ἐποίησαν αὐτῷ ὅσα ἤθελον, καθὼς γέγραπται ἐπ’ αὐτόν. »Elia ist auch gekommen, und sie haben ihm angetan, was sie wollten, wie von ihm geschrieben ist.«7
Jesus äußert sich hier zu einer schriftgelehrten Diskussion über die Wiederkunft des Elia. Die Jünger sprechen dieses Thema auf dem Rückweg vom Berg der Verklärung8 an. Dass der Elia rediturus Opfer von Gewalt werden würde – »sie haben ihm angetan, was sie wollten« – steht, so sagt es der markinische Jesus, in Übereinstimmung mit dem, was »geschrieben ist«. Wer das Markusevangelium bis Kap. 9,13 gelesen hat, wird trotz fehlender Namensnennung in 9,13 an das denken, was in Kap. 6,14–29 von Johannes dem Täufer und seinem gewaltsamen Ende von der Hand des Herodes Antipas erzählt wird – eine intratextuelle Verknüpfung, auf die es der Erzählverlauf allem Anschein nach anlegt. Das heißt, die Lesenden werden auf die Spur gesetzt, Johannes den Täufer mit dem wiedergekommenen Elia in Verbindung zu bringen, und zwar mit dem gewaltsamen Ende des Täufers geradezu als Erkennungszeichen: Dass Johannes der Täufer vor dem Hintergrund der Verheißung eines endzeitlichen Elia verstehbar wird, zeigt sich gerade daran, dass er eines gewaltsamen Todes gestorben ist. Eine Stelle innerhalb des atl. Kanons, die vom Leiden des wiedergekommenen Elia spricht, 6
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Zur Forschungsgeschichte bis 2000 vgl. Silvia Pellegrini, Elija – Wegbereiter des Gottessohnes. Eine textsemiotische Untersuchung im Markusevangelium, HBSt 26, Freiburg u. a. 2000, 149–181. Die deutsche Übersetzung hier und nachfolgend nach der revidierten Lutherbibel von 2017, ggf. mit Änderungen; griechischer Text nach Nestle/Aland, 28Novum Testamentum Graece. Die Verklärungsszene ist keineswegs eine dislozierte Ostergeschichte, sondern sie enthüllt die verborgene Würde des irdischen Jesus. Vgl. hierzu die wichtigen Ausführungen von Frenschkowski, Offenbarung und Epiphanie Bd. 2 (s. Anm. 2), 210–224.
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suchen wir indes vergeblich.9 Wir haben es am Beispiel von Mk 9,13 also mit dem Problem pauschaler Schriftverweise zu tun, die es im MkEv und im NT auch noch an anderen Stellen gibt: Unmittelbar vorher in 9,12 heißt es, nun vom Menschensohn: »es ist geschrieben […], dass er viel leiden und verachtet werden müsse«, und in Mk 14,21 heißt es in einer Nebenbemerkung: »Der Menschensohn geht zwar dahin, wie geschrieben steht«. Auch hier gilt: Es gibt keine Stelle in den alttestamentlichen Schriften, die davon spricht, dass »der Menschensohn dahingeht«.10 Auch in 1Kor 15,3b–5 suchen wir vergeblich nach Stellen, die die Schriftgemäßheit des Sterbens des Gesalbten »für unsere Sünden« und seine Auferweckung »am dritten Tag« unzweideutig aufzeigen. An dieser Stelle kommt hinzu, dass der Schriftverweis sich auf »die Schriften« im Plural bezieht, d. h. hier würde eine einzelne Bibelstelle möglicherweise gar nicht genügen, es müssten schon mehrere sein. Also: Mk 9,13 wirft mit dem pauschalen Schriftbeweis ein Thema auf, das auch an anderen Stellen im NT auftritt, und zwar an christologisch sehr zentralen. Für Mk 9,12b beschreibt Adela Yarbro Collins die Diskussionslage wie folgt: »[S]cholars disagree about whether this statement alludes to a specific passage of scripture. Those who think that it does disagree about which passage and whether one or several texts are in view.«11
Zu dem damit formulierten Problem kommen zwei weitere Forschungsfragen, die in den Bereich der Traditionsgeschichte gehören: (1) Gibt es die Vorstellung von Elia als Vorläufer des Messias bereits in frühchristlicher Zeit auch außerhalb frühchristlicher Quellen oder ist dies ein Motiv erst in späteren rabbinischen Texten? (2) Geht die Vorstellung von einem leidenden Elia rediturus auf die frühe Jesusbewegung zurück oder haben die ersten Jesusgläubigen diese Vorstellung schon vorgefunden? Wir wenden uns zunächst dem Passus Mk 9,9–13 zu:12
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So etwa Ernst Lohmeyer, Das Evangelium des Markus, KEK 2, Göttingen 111951, 183: »Ein Schriftwort, daß der wiedergekommene Elia leiden müsse, gibt es im AT nicht.« Joel Marcus, Mark 8–16, Anchor Yale Bible 27 A, New Haven/London 2009, 645, konstatiert: »There is, however, no discrete OT passage that describes the suffering and rejection of the Son of Man.« Der jesajanische Gottesknecht ist nicht der Menschensohn, und der danielische Menschensohn leidet nicht. Adela Yarbro Collins, Mark. A Commentary, Hermeneia, Minneapolis MN 2007, 430. Die exegetischen Probleme diskutiert ausführlich Reinhold Liebers, »Wie geschrieben steht«. Studien zu einer besonderen Art frühchristlichen Schriftbezuges, Berlin 1993, 73–95; 369–378.
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9 Καὶ καταβαινόντων αὐτῶν ἐκ τοῦ ὄρους διεστείλατο αὐτοῖς ἵνα μηδενὶ ἃ εἶδον διηγήσωνται, εἰ μὴ ὅταν ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ἐκ νεκρῶν ἀναστῇ. 10 καὶ τὸν λόγον ἐκράτησαν πρὸς ἑαυτοὺς συζητοῦντες τί ἐστιν τὸ ἐκ νεκρῶν ἀναστῆναι. 11 Καὶ ἐπηρώτων αὐτὸν λέγοντες· ὅτι λέγουσιν οἱ γραμματεῖς ὅτι Ἠλίαν δεῖ ἐλθεῖν πρῶτον; 12 ὁ δὲ ἔφη αὐτοῖς· Ἠλίας μὲν ἐλθὼν πρῶτον ἀποκαθιστάνει πάντα· καὶ πῶς γέγραπται ἐπὶ τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου ἵνα πολλὰ πάθῃ καὶ ἐξουδενηθῇ; 13 ἀλλὰ λέγω ὑμῖν ὅτι καὶ Ἠλίας ἐλήλυθεν, καὶ ἐποίησαν αὐτῷ ὅσα ἤθελον, καθὼς γέγραπται ἐπ’ αὐτόν. »9 Als sie aber vom Berg herabgingen, gebot ihnen Jesus, dass sie niemandem sagen sollten, was sie gesehen hatten, bis der Menschensohn auferstünde von den Toten. 10 Und sie behielten das Wort und befragten sich untereinander: Was ist das, auferstehen von den Toten? 11 Und sie fragten ihn und sprachen: Sagen nicht die Schriftgelehrten, dass zuvor Elia kommen muss? 12 Er aber sprach zu ihnen: Elia soll ja zuvor kommen und alles wieder zurechtbringen. Wie steht dann geschrieben von dem Menschensohn, dass er viel leiden und verachtet werden soll? 13 Aber ich sage euch: Elia ist auch gekommen, und sie haben ihm angetan, was sie wollten, wie von ihm geschrieben steht.«
V. 9 formuliert ein Schweigegebot, und zwar das letzte im mk Erzählverlauf, und erst hier mit einer ausdrücklichen Befristung bis zur Auferstehung des Menschensohnes.13 V. 10 liest sich prima facie so, als sei den Jüngern die Erwartung einer allgemeinen Totenauferstehung überhaupt ungeläufig. Angesichts dessen, dass frühjüdische und frühchristliche Quellen diese Erwartung als allgemein bekannt voraussetzen, kann dies aber schwerlich so gemeint sein. Oder die Formulierung τὸ ἐκ νεκρῶν ἀναστῆναι meint gar nicht die allgemeine Auferstehung, sondern, wie Joel Marcus anmerkt, die Auferstehung Einzelner vor den Endereignissen: »The disciples are not confused about the concept of the general resurrection, ›the rising of the dead‹ (anastasis [tōn] nekrōn; cf. Mt 22:31; 1Cor 15:12–13, 21, 42; etc.), but about Jesus’ prophecy of his resurrection from among the dead (to ek nekrōn anastēnai), apparently apart from the general resurrection; the perplexing point is how this one resurrection can occur in isolation from the resurrection of all.«14
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Darauf macht Marcus, Mark 8–16 (s. Anm. 10), 646, im Anschluss an Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus. Mk 8,27–16,20, EKK 2/2, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1979, 40 f., aufmerksam. Marcus, Mark 8–16 (s. Anm. 10), 643, Hervorhebungen im Original.
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Aber auch eine individuelle Auferstehung ist innerhalb einer biblisch-jüdischen Enzyklopädie des 1. Jhs. nicht einfach undenkbar. Man muss von Mk 9,10 ausgehend nicht mit Joost Holleman auf die makkabäischen Märtyrer zurückgreifen, um hierzu (tatsächlich oder vermeintlich15) fündig zu werden. Ein handfester Beleg für die Vorstellbarkeit individueller leiblicher Auferweckung im Judentum des 1. Jhs. findet sich nämlich mit der eingangs schon erwähnten Auffassung des Herodes Antipas, Jesus sei der auferweckte Täufer, bereits im MkEv selbst. Dass der Evangelist diese Auffassung dem Aktanten des Tyrannen in den Mund legt und zugleich als Volksmeinung ausweist, wird uns noch beschäftigen. Festzuhalten ist hier zunächst nur, dass das »Auferstehen von den Toten« durch die (sokratisch anmutende)16 Grundsatzfrage einen Klärungs- bzw. Definitionsbedarf indiziert, den der Mk-Evangelist geltend macht. Es ist eben alles andere als eindeutig, wie τὸ ἐκ νεκρῶν ἀναστῆναι in der Enzyklopädie des antiken Judentums anthropologisch und geschichtstheoretisch konkret zu fassen ist, und der Lehrdialog Mk 9,10–13 beansprucht, zu den im Judentum des 1. Jhs. bereits vorhandenen Variationen desselben Themas, in denen sich mitunter heterogene Traditionen »zu seltsamen Gebilden verschlungen« haben,17 eine weitere hinzuzufügen. Zu bedenken ist hierbei aus Sicht des Mk-Evangelisten, wie die Auferstehung des Menschensohnes, die ja qua Terminierung des Schweigegebotes in den biographischen Horizont der Begleiter des irdischen Jesus fällt und mit der Publikation des MkEv (das kund macht, was zuvor zu verschweigen war) bereits überschritten ist, zur im 1. Jh. augenscheinlich geläufigen Rolle des Elia 15
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Marcus, ebd., diskutiert kritisch den Verweis von Joost Holleman, Resurrection and Parousia. A Traditio-Historical Study of Paul’s Eschatology in 1 Corinthians 15, NT.S 84, Leiden 1996, 146 f., auf 2Makk 7,14.36: Das postmortale Geschick der Märtyrer wird zwar in 2Makk 7,14 ἀνάστασις εἰς ζωὴν genannt (der adressierte Herrscher wird dieser ἀνάστασις nicht teilhaftig, wohl aber die Märtyrer) und in 7,36 ἀέναος ζωῆ. Hier ist aber nicht deutlich, ob der so bezeichnete heilvolle Zustand als direkt nach dem Tode eintretend gedacht wird, und v. a. geht es hier, wie ergänzend zu Marcus festzustellen ist, nicht um eine gegenwärtige und individuelle leibliche Auferweckung. Dass in 2Makk 7,14 gleichwohl von ἀνάστασις die Rede sein kann, zeigt sehr deutlich, dass das antike Judentum hierzu eine fortgesetzte Sachdiskussion führte, in der sich unterschiedliche Konzepte von Auferstehung, postmortalem Geschick, apokalyptischer Eschatologie und Leiblichkeit zu zahllosen Varianten postmortalen Ergehens verbanden; vgl. hierzu Manuel Vogel, Der Tod im Neuen Testament vor dem Hintergrund antiker ars moriendi, in: Ulrich Volp (Hrsg.), Tod, ThTh 12, Tübingen 2018, 57–115, 58–63, zur »Anthropologie des Todes in hellenistisch-römischer Zeit«. Zu der aus den sokratischen Dialogen vertrauten ti-estin-Frage vgl. Peter Jaerisch (Hrsg.), Erinnerungen an Sokrates. Griechisch-deutsch, München/Zürich 41987, 347. Die Formulierung stammt von Wilhelm Bousset, Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter. In dritter verbesserter Auflage hrsg. v. Hugo Gressmann, HNT 21, Tübingen 1926, 287.
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bei den Endereignissen ins Verhältnis zu setzen ist. Die Kulissen werden also mit der von Joel Marcus (m. E. zutreffend) geltend gemachten Differenzierung zwischen τὸ ἐκ νεκρῶν ἀναστῆναι und ἀνάστασις νεκρῶν gleichwohl nicht wesentlich verschoben. Es geht »in any event«18 um den Abgleich der Rolle Elias und des Menschensohnes in einem eschatologischen Horizont. Leitend für die eschatologische Elia-Erwartung im Frühjudentum ist Mal 3,23 f.: »Siehe, ich will euch senden den Propheten Elia, ehe der große und schreckliche Tag Jhwhs kommt. Der soll das Herz der Väter bekehren zu den Kindern und das Herz der Kinder zu ihren Vätern, auf dass ich nicht komme und das Erdreich mit dem Bann schlage.«
Damit ist die eschatologische Rolle Eilas unzweideutig formuliert, woraus sich die Notwendigkeit ergab, diese zur Rolle des Messias ins Verhältnis zu setzen. Rabbinische Überlegungen hierzu sind reichlich vorhanden.19 Aus dem von Paul Billerbeck gesammelten Material wird v. a. bEr 43b diskutiert.20 Hier geht es darum, dass man nicht betrunken sein darf, wenn der Messias kommt, weshalb der Weingenuss geregelt werden muss. Da Elia hier über Mal 3,23 f. hinaus speziell als Vorläufer des Messias aufgefasst und sein verheißenes Kommen als Kommen am Vortag des Kommens des Messias präzisiert wird, kann man heute Wein trinken, wenn heute Elia nicht gekommen ist, denn dann kommt morgen auch nicht der Messias. Ob die Verhältnisbestimmung von eschatologischem Elias und dem Messias bereits im 1. Jh. auch außerhalb jesusgläubiger Gruppen ein Thema war, bleibt undeutlich, ist aber m. E. kaum anders zu erwarten. Generell war jedenfalls die Mitwirkung einer messianischen Gestalt an den Endereignissen keineswegs eine Erfindung der Jesusbewegung, sondern auch sonst im Judentum der hellenistisch-römischen Zeit geläufig.21 Im Blick speziell auf Elia und den Messias finden wir eine mögliche Spur an zwei Stellen aus Justins Dialog mit dem Juden Tryphon. In dial. 8,4 äußert Tryphon:
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Marcus, Mark 8–16 (s. Anm. 10), 643. Vgl. die bei Paul Billerbeck, Kommentar zu Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 4/2, München 1928, 779–798, unter »Das Wirken des wiederkehrenden Elias in der messianischen Zukunft« gesammelten Belege. A. a. O., 787 f. Vgl. das bei Bousset, Die Religion des Judentums (s. Anm. 17), in den Kapiteln XII (213– 242: »Die nationale Hoffnung«) und XIII (242–286: »Die Apokalyptik«) gesammelte Material.
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Χριστὸς δέ, εἰ καὶ γεγένηται καὶ ἔστι που, ἄγνωστός ἐστι καὶ οὐδὲ αὐτός πω ἑαυτὸν ἐπίσταται οὐδὲ ἔχει δύναμίν τινα, μέχρις ἂν ἐλθὼν Ἠλίας χρίσῃ αὐτὸν καὶ φανερὸν πᾶσι ποιήσῃ. »Christus aber, wenn er denn geboren wurde und sich irgendwo aufhält, dann ist er unerkannt und kennt auch sich selbst solange nicht, noch hat er irgendwelche Macht, bis dass Elia kommt und ihn salbt und ihn allen offenbar macht«.22
Die Vorläuferrolle des Elia wird hier so aufgefasst, dass Elia dem Auftreten des Messias nicht nur zeitlich vorangeht, sondern ihn auch in sein Amt einsetzt und ihm sogar notwendige Hilfe leistet, um seiner selbst bewusst zu werden.23 Die Salbung des Messias als Aufgabe des eschatologischen Elia kommt auch im zweiten Passus dial. 49,1 zur Sprache: Ἐμοὶ μὲν δοκοῦσιν, εἶπεν, οἱ λέγοντες ἄνθρωπον γεγονέναι αὐτὸν καὶ κατ’ ἐκλογὴν κεχρῖσθαι καὶ Χριστὸν γεγονέναι πιθανώτερον ὑμῶν λέγειν, τῶν ταῦτα ἅπερ φῂς λεγόντων· καὶ γὰρ πάντες ἡμεῖς τὸν Χριστὸν ἄνθρωπον ἐξ ἀνθρώπων προσδοκῶμεν γενήσεσθαι, καὶ τὸν Ἠλίαν χρῖσαι αὐτὸν ἐλθόντα. ἐὰν δὲ οὗτος φαίνηται ὢν ὁ Χριστός, ἄνθρωπον μὲν ἐξ ἀνθρώπων γενόμενον ἐκ παντὸς ἐπίστασθαι δεῖ. ἐκ δὲ τοῦ μηδὲ Ἠλίαν ἐληλυθέναι οὐδὲ τοῦτον ἀποφαίνομαι εἶναι. »Mir scheinen, äußerte er, diejenigen, die sagen, dass er als Mensch geboren, gemäß Erwählung gesalbt und (so) zu Christus geworden ist, verständiger als diejenigen von euch zu reden, die sagen, was du sagst. Wir alle nämlich meinen, dass der Christus als Mensch von Menschen geboren wird, und dass Elia ihn bei seinem Kommen salbt. Wenn aber dieser auftritt und der Christus ist, dann muss man annehmen, dass er ganz und gar ein von Menschen abstammender Mensch ist. Da aber noch nicht einmal Elia gekommen ist, ist es, erkläre ich, jener auch nicht.«
Der Dialog mit Tryphon ist zwischen 156 und 161 verfasst worden, d. h. wir haben immerhin eine Quelle aus der Mitte des 2. Jhs. Eine andere Frage ist, ob die Worte, die Justin seinem Gesprächspartner in den Mund legt, auch eine von der frühen Jesusbewegung unberührte jüdische Auffassung wiedergeben, oder ob Justin nicht vielmehr eine solche Meinung fingiert, an die sich mit Elia-Spekulationen
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Hier und nachfolgend eigene Übersetzung. Griechischer Text nach der Ausgabe Philippe Bobichon, Justin Martyr. Dialogue avec Tryphon. Édition critique, traduction, commentaire, 2 Bde., Paradosis 47, Fribourg 2003. Hier klingt das im rabbinischen Judentum weithin geläufige Motiv von der Verborgenheit des Messias an, das m. E. für das Verständnis des Messiasgeheimnisses in den Evangelien (einschließlich Joh 1,33; 7,27) unabdingbar ist, unabhängig von Datierungsfragen rabbinischer Traditionen. Grundlegend hierzu Erik Sjöberg, Der verborgene Menschensohn in den Evangelien, Lund 1955.
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der Jesusbewegung anknüpfen lässt.24 Gegen diese zweite Möglichkeit spricht, dass mit der Salbung des Messias durch Elia und seine Mitwirkung daran, dass der zunächst auch sich selbst verborgene Messias seine messianische Bestimmung erkennt, zwei Motive vorliegen, die innerhalb der Argumentation Justins überschießen: Es fällt, wie Sjöberg beobachtet hat, auf, dass Justin »kein besonderes Interesse an der erwähnten jüdischen Lehre hatte. Er nutzt sie nicht für seine Zwecke aus, sondern sie wird nur als eine Ansicht der Gegner dargestellt«.25 Zustimmend äußert sich Marinus de Jonge: »[I]f we ask, whether Justin has christianized Trypho’s views the answer must be that this is unlikely, because Trypho’s objection here does not really serve Justin’s argument either positively nor negatively.«
Dies lässt den Schluss zu, dass »in Justin’s Dialogue we have genuine evidence for the existence of Jewish beliefs in the middle of the second century with regard to Elijah’s function in revealing the Messiah«.26 In der Tat nimmt Justin auf keines der beiden Motive ausdrücklich Bezug, kann sie also augenscheinlich apologetisch nicht oder nur eingeschränkt verwerten. Deshalb kann es sich schwerlich um eine von Justin fingierte Position handeln. Vielmehr fußt er erkennbar auf älterer Tradition. Damit ist freilich noch nicht erwiesen, dass es sich um eine jüdische Tradition außerhalb der Jesusbewegung handelt, und ebenso wenig ist deutlich, warum er sie überhaupt aufgreift. Einen Hinweis gibt Justin möglicherweise in dial. 48,4, wenn er zum Messias als »Mensch von Menschen« anmerkt, dass εἰσί τινες […] ἀπὸ τοῦ ὑμετέρου γένους ὁμολογοῦντες αὐτὸν Χριστὸν εἶναι, ἄνθρωπον δὲ ἐξ ἀνθρώπων γενόμενον ἀποφαινόμενοι. »[…] es Leute aus eurem Volk gibt, die bekennen, dass er [d. i. Jesus] der Christus ist, die aber erklären, dass er ein Mensch war, der von Menschen geboren wurde«.
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Rhetorisch hätten wir es dann mit einer Apologetik ad intra zu tun, die auf ein Publikum in den eigenen Reihen zielt und diesem Publikum das gute Gefühl vermitteln soll, alle jüdischen Einwände gegen die Jesusverehrung seien widerlegbar. Man muss sich aber die Kontroversen zwischen nichtchristlich-jüdischen Milieus und Gruppen von Christusverehrern mit zunehmend nichtjüdischen Anteilen auch im 2. Jh. und noch lange darüber hinaus so intensiv vorstellen, dass ein fingierter Sieg über einen fingierten Gegner den aktuellen apologetischen Bedürfnissen keinesfalls entsprechen konnte. Sjöberg, Der verborgene Menschensohn (s. Anm. 23), 82. Marinus de Jonge, Jewish Expectations about the ›Messiah‹ according to the Fourth Gospel, in: NTS 19 (1973), 246–270, 256.
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Justins Widerspruch hierzu fällt verhalten aus: Er teile diese Ansicht nicht, auch nicht die Mehrzahl derer, die so dächten wie er und sich der Weisung des Christus entsprechend nicht nach Lehren von Menschen, sondern nach den Worten der Propheten richten: οἷς οὐ συντίθεμαι, οὐδ’ ἂν πλεῖστοι ταὐτά μοι δοξάσαντες εἴποιεν, ἐπειδὴ οὐκ ἀνθρωπείοις διδάγμασι κεκελεύσμεθα ὑπ’ αὐτοῦ τοῦ Χριστοῦ πείθεσθαι, ἀλλὰ τοῖς διὰ τῶν μακαρίων προφητῶν κηρυχθεῖσι καὶ δι’ αὐτοῦ διδαχθεῖσι. »Ihnen pflichte ich nicht bei, noch auch die Meisten derer, die meine Ansicht teilen, weil uns von Christus selbst aufgetragen wurde, nicht menschlichen Lehren zu gehorchen, sondern solchen, die von den seligen Propheten verkündet und von ihm gelehrt wurden.«
Tryphon knüpft in dem bereits zitierten Passus dial. 49,1 mit οἱ λέγοντες ἄνθρωπον γεγονέναι αὐτὸν an ἄνθρωπον δὲ ἐξ ἀνθρώπων γενόμενον in 48,4 an und ergänzt die von Justin skizzierte jesusgläubige Position um die Motive der Salbung (κατ’ ἐκλογὴν κεχρῖσθαι) und Einsetzung (Χριστὸν γεγονέναι) des Messias. »Wir alle« (πάντες ἡμεῖς), fährt er fort – und inkludiert damit auch die in 48,8 erwähnten jesusgläubigen Juden? – »erwarten außerdem, dass es Elia ist, der den Messias salbt« (τὸν Ἠλίαν χρῖσαι αὐτὸν ἐλθόντα). Hieran knüpft Tryphon dann seinen Einwand: Elia ist noch nicht gekommen, also kann der Messias noch nicht erschienen sein. Es wäre nun ein Leichtes für Justin gewesen, die Taufe Jesu durch den als Elia rediturus verstandenen Täufer als Salbung des Messias durch Eila auszuweisen. Stattdessen greift er in 49,1–3 zur Konstruktion einer doppelten Parusie Elias und des Messias in Niedrigkeit und Hoheit (s. u.) und verliert über die Taufe Jesu durch Johannes kein Wort. Martin Stowasser27 hat im Anschluss an Oskar Skarsaune28 einleuchtend argumentiert, dass Justin in dial. 8,4; 49,1 eine ältere Tradition verwendet hat, die Jesus und den Täufer so zueinander ins Verhältnis setzte, dass im Licht der erwarteten Salbung und Einsetzung des Messias durch Elia die Taufe Jesu durch Johannes tatsächlich als Realisierung dieser Erwartung erschien. Dass Justin diesen Schritt selber nicht gegangen ist, dieser Tradition mithin ihre Pointe genommen hat, erklärt sich daraus, dass Justin adoptianische Assoziationen, die sich mit der evangelischen Tauferzählung fast von selbst ergaben, vermeiden wollte. Welchen ursprünglichen Gesprächszusammenhang kann man aber für die von Justin so halbherzig rezipierte Tradition annehmen? Am ehesten eine Verehrung des Täufers in täuferischen Kreisen, die in Johannes den eschatologischen Elia sahen und ihn mit Mal 3,23 f. 27
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Martin Stowasser, Johannes der Täufer im Vierten Evangelium, ÖBS 12, Klosterneuburg 1992, 90–93. Oskar Skarsaune, The Proof from Prophecy. A Study in Justin Martyr’s Proof-text Tradition. Text-type, Provenance, Theological Profile, NT.S 56, Leiden 1956, 195–203.
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zum Tag Jhwhs in Beziehung setzten. Undeutlich ist, ob diese Rolle des Täufers von Täufergruppen als Argument gegen die Messianität Jesu verwendet wurde (sofern man Mal 3,23 f. so deuten konnte, dass zwischen Elia und dem Tag Jhwhs kein Platz mehr für einen Messias war), oder ob Jesusgläubige die täuferische Rezeption von Mal 3,23 f. messianisch adaptiert haben, eben mit Hilfe der von Justin in dial. 8,4; 49,1 verwendeten Tradition. Dann stellt sich die oben aufgeworfene Frage nach der Herkunft dieser Tradition aber unvermindert. Mag es denkbar sein, dass Justin jüdische Positionen fingiert hat, um sie gegenüber einem christlichen Publikum zu »widerlegen«, so ist es doch nur schwer vorstellbar, dass Gruppen von Christusgläubigen im Disput mit Täuferkreisen mit Traditionen operierten, von denen nicht beide Seiten anerkannten, dass sie zum gemeinsamen Traditionsbestand gehörten. Selbstverständlich kann man wie für Justin auch für die Gruppen jesusgläubiger Juden annehmen, dass man konkurrierende täuferische und jesusgläubige Positionen nur auf dem Papier und nur für den Binnengebrauch gegen einander antreten und die eigene obsiegen ließ. Aber es muss mit solcher Entsoziologisierung frühchristlicher Diskurse und der Fähigkeit, sich am eigenen Schopf aus dem apologetischen Sumpf zu ziehen, auch eine vernünftige Grenze haben. Dafür, dass der Täufer von seinen Anhängern als Elia redivivus verehrt wurde, gibt es gute Gründe,29 und von hier aus ist es dann kein großer Schritt zur Annahme realer Begegnungen zwischen Jesus- und Täufergruppen. Stowasser, der fragt, was die von ihm rekonstruierte (und hier wiedergegebene) Quellenlage für den »Stellenwert« bedeutet, der »Justin als Gewährsmann für eine genuin jüdische Erwartung bezüglich des Elia rediv[ivus] in der Ausprägung von Dial 48,4; 49,1 zu[kommt]«, dürfte mithin mit der Auffassung im Recht sein, dass es angesichts der Erwägung, dass »in den Anfängen gerade judenchristliche Gruppierungen sich um Treue zur Tradition bemühten, […] unwahrscheinlich [erscheint], dass sie die Anschauung von Elia als den Messias salbenden Vorläufer schlechthin erfunden hätten«.30
Im Blick auf das Verhältnis Justins zu seiner Tradition spricht Stowasser von »einer Art ›Parallelverschiebung‹«:
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Knut Backhaus, Die Jüngerkreise des Täufers Johannes. Eine Studie zu den religionsgeschichtlichen Ursprüngen des Christentums, PaThSt 19, Paderborn 1991, 353 f. Stowasser, Johannes der Täufer (s. Anm. 27), 92. Vgl. auch die generelle Erwägung von Joel Marcus, John the Baptist in History and Theology, Columbia SC 2018, 49: »In fact, it is characteristic of new religious movements to build on existing beliefs rather than to invent everything out of thin air.«
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»Was Tryphon in Dial. 8,4; 49,1 als Einwand in den Mund gelegt wird, bildete, historisch gesehen, mit größter Wahrscheinlichkeit den Einwand der Täufergemeinde, auf welchen judenchristliche Kreise durch ihre spezifische Interpretation der Taufe Jesu als Salbung durch den Geist antworteten.«31
Treffender wäre freilich, statt von einer Parallelverschiebung von einer Gelenkoder Brückenfunktion derjenigen Tradition zu sprechen, die Justin seinem jüdischen Dialogpartner als jüdisch vertretbar nahebringen will (τινες ἀπὸ τοῦ ὑμετέρου γένους), die aber zugleich, sofern sie die Messianität Jesu an der Taufe Jesu durch Johannes aufweist, christlich ist – oder eben das eine so gut wie das andere, ohne dass man beides in der beschreibungssprachlich sperrigen Unterscheidung oder gar Entgegensetzung von Christlichem und Jüdischem präzise zu fassen bekäme. Einmal mehr wird hier in Gestalt einer üblicherweise als »judenchristlich« bezeichneten Position32 jener schmale Streifen Land sichtbar, der die ignatianische Unterscheidung33 unterläuft. Dass dieser Streifen historisch keineswegs flüchtig war, erkennt man daran, dass sich noch Hieronymus und Augustin auf diesem Terrain abgearbeitet haben.34 Ohne die von Stowasser in die Diskussion gebrachten Differenzierungen sieht auch Morris Faierstein35 christlichen Einfluss in den genannten JustinStellen. Zu dial. 49,1 meint er unter Hinweis auf dial. 8,4: »Why […] would Justin Martyr wish to make such a claim? The answer can be found in the story of Jesus’s baptism by John the Baptist. Following the story through the gospels one sees a growing unease with this story. Justin’s statement that Elijah would anoint the Messiah is an attempt to explain Jesus’s baptism by John. Justin had earlier identified John with Elijah, making it a natural progression from John’s baptism of Jesus to Elijah’s anointment of the Messiah.«36
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Stowasser, Johannes der Täufer (s. Anm. 27), 93. Die Problematik der Rede vom »Judenchristentum« besteht darin, dass »Christentum« den Oberbegriff bildet, der die beiden Unterarten des Juden- und Heidenchristlichen unter sich fasst. Zu dieser Wendung vgl. Manuel Vogel, Ein Streit nicht nur um Worte. Begriffsgeschichtliche Beobachtungen zu frühchristlichen Strategien der Exklusion, in: Stefan Alkier/Hartmut Leppin (Hrsg.), Juden – Christen – Heiden. Juden – Heiden – Christen? Religiöse Inklusionen und Exklusionen im Römischen Kleinasien bis Decius, WUNT 400, Tübingen 2018, 43–69. Vgl. hierzu Vogel, Ein Streit nicht nur um Worte (s. Anm. 33), 53 f. Morris M. Faierstein, »Why Do the Scribes Say That Elijah Must Come First?«, in: JBL 100 (1981), 75–86. A. a. O., 85 f.
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Mir erschließt sich hier freilich nicht, wo eigentlich apologetisch »der Hase entlanglaufen« soll: Meint Faierstein, dass Justin die in den Evangelien berichtete Taufe Jesu durch Johannes (innerhalb eines angeblich schon ntl. vorhandenen Gefälles) derart in Verlegenheit bringt (»growing unease«), dass er ihr Vorhandensein in den Evangelien in einem »attempt to explain« (wem gegenüber?) als Reflex einer nichtchristlich-jüdischen Tradition »erklären« muss? Wird also von Justin, was christlich nicht anverwandelt werden kann, als jüdisch identifiziert und ausgeschieden? Aber welche Formationen im Verhältnis von Jüdischem und Christlichem sind hier leitend? Welche liegen im Text und welche im Auge des Betrachters? Zu der vorgenannten Stelle bEr 43b, immerhin »a text of the early third century C.E.«, bemerkt er: »[T]he possibility that its author was influenced by the gospel tradition rather then vice versa cannot be dismissed.«37 Aber wie durchgreifend und anhaltend muss man sich einen solchen Einfluss von den EliaTraditionen der Evangelien auf bEr 43ab vorstellen, wo die Rolle Elias als Vorläufer des Messias bereits völlig selbstverständlich vorausgesetzt wird? Hier scheint mir doch das Interesse leitend zu sein, die genannte Stelle par tout nicht als eigenständiges Zeugnis gelten zu lassen. Die Stelle relativiert im Übrigen auch Faiersteins Behauptung, dass »there is no evidence that these verses [d. i. Mal 3,23 f., M. V.] were understood in any ancient source to imply a relationship between Elijah and the Messiah«,38 denn immerhin wird Mal 3,23 in bEr 43ab zitiert innerhalb einer halachischen Diskussion zu Weingenuss und Messiaserwartung: Mal 3,23 wird hier unzweideutig und ohne jede messianische Zutat als Argument dafür verwendet, dass man heute Wein trinken darf, sofern gestern Elia nicht gekommen ist, weil dann ja folglich auch heute der Messias nicht kommen wird. Ich kann auch die Einschätzung Öhlers nicht teilen, die erwartbare Systematisierung zwischen messianischen Erwartungen und den durch Mal 3 vorgegebenen Elia-Erwartungen sei erst für eine spätere Zeit anzunehmen.39 Vielmehr gilt schon in frühchristlicher Zeit, dass »[i]f […] one believed (as did many first-century Jews) in a Messiah who would come on the day of the Lord, then, by following simple logic, the idea of Elijah as forerunner would almost inevitably read into the text. Since the Messiah is to come on the day of the Lord and since Elijah is to come before that day, it follows that Elijah must come first.«40
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A. a. O., 86. A. a. O., 77. Vgl. Markus Öhler, Elia im Neuen Testament, BZNW 88, Berlin/New York 1997, 29. Dale C. Allison, Elijah Must Come First, in: JBL 103 (1984), 256–258, 257.
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Dass die Belege für Elia als Vorläufer des Messias insgesamt spärlich sind,41 erklärt sich m. E. hinreichend aus Bestrebungen innerhalb des rabbinischen Judentums, die Nähe zu christlichen Vorstellungen zu meiden. Gegenüber Faiersteins Erwägung eines christlichen Einflusses auf bEr 43 »it is also possible to propose something quite different, namely that the dearth of rabbinic references to the idea [d.i. der Rolle Elias als Vorläufer des Messias, M.V.] reflects a reaction to Christian claims. If it was believed that Elijah would precede the Messiah and if Christians claimed both that the Messiah had come and that his predecessor, John the Baptist, had exhibited Elijah-like traits […], the rabbinic response might have been a playing down of the role of Elijah as precursor.«42
Allemal bleiben die genannten Justinstellen für die Frage, ob Elia im 2. Jh. und evtl. auch schon früher unabhängig von christlichen Einflüssen als Vorläufer des Messias gesehen werden konnte, interessant, und im Blick auf die ntl. Texte lautet die Frage, ob dieselben nicht grundsätzlich als Belege für Spielarten jüdischer Weltauffassung im 1. Jh. gelten sollen.43 Allison beantwortet diese Frage im Zuge 41 42
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Öhler, Elia im Neuen Testament (s. Anm. 39), 29. Allison, Elijah Must Come First (s. Anm. 40), 257. Zum weiteren Fortgang der Diskussion vgl. die bei Stowasser, Johannes der Täufer (s. Anm. 27), 98 f. Anm. 151, genannte Literatur. Freilich trägt Faiersteins Erwägung eines christlichen Einflusses auf rabbinische Texte im konkreten Fall zwar nichts aus, grundsätzlich ist ein solcher Einfluss aber bedenkenswert für die gegenwärtig intensiv verhandelte Frage des parting of the ways. Denn wenn unter dem Kältestrom zweier sich unter konfliktträchtigen religionspolitischen Umständen gegeneinander in Stellung bringenden Glaubensweisen und -gemeinschaften ein Wärmestrom wechselseitiger (d. h. eben auch auf das antike Judentum wirkender christlicher) Einflüsse auszumachen ist, kann nicht einseitig von einem Auseinandergehen der Wege die Rede sein. Peter Schäfer hat geradezu von der »Geburt des Judentums aus dem Christentum« gesprochen, so der Titel seiner 2010 publizierten Jenaer Tria-Corda-Vorlesungen, Peter Schäfer, Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums. Fünf Vorlesungen zur Entstehung des rabbinischen Judentums, Tria Corda – Jenaer Vorlesungen zu Judentum, Antike und Christentum 6, Tübingen 2010. Die Schwierigkeiten der Exegese, diese Frage schlicht zu bejahen, rührt keineswegs von einer zumeist unübersichtlichen traditionsgeschichtlichen Gemengelage her, sondern vielmehr daher, dass man auf dem Boden der frühen Jesusbewegung notorisch von jüdischem »Erbe«, jüdischen »Wurzeln« oder jüdischer »Herkunft« spricht und dieses »Erbe« bereits auf das Konto einer später so genannten Religion namens »Christentum« bucht und es »schon nicht mehr« als »eigentlich jüdisch« gelten lässt. Am konsequentesten vertritt diesen Standpunkt neuerdings Udo Schnelle, Die getrennten Wege von Römern, Juden und Christen. Religionspolitik im 1. Jahrhundert n. Chr., Tübingen 2019. Zwar ist auch für ihn unbestritten, dass es in der Frühzeit der Jesusbewegung Gruppen
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jüdischer Christusverehrer gab, die toraobservant lebten und für Völkerchristen die Beschneidung forderten. Entscheidend ist für Schnelle jedoch: »Aus jüdischer Perspektive wurde keine Form des Judenchristentums als legitime Variante des Judentums angesehen, selbst wenn es die Beschneidung praktizierte. Der Grund liegt zweifellos in der Christologie: Ein Gekreuzigter konnte nicht der Messias Israels sein! Es gibt keinen einzigen Beleg für eine positive Würdigung irgendeiner Form des Judenchristentums durch das Judentum. Deshalb gab es auch nie eine ›Trennung‹ zwischen beiden, weil sie nie zusammen waren! Der Wunsch der einen Seite (Judenchristen) begründete noch lange nicht, dass die andere Seite (Judentum) ihn positiv aufnahm. Die Judenchristen verstanden sich selbst als Teil des Judentums, wurden aber von diesem nicht akzeptiert und deshalb sind sie auch nicht ein wirkliches Bindeglied zum Judentum und kein Beleg für eine wie auch immer geartete ›Einheit‹« (a. a. O., 132). Gegenüber Schnelles Urteil, dass »[e]in Gekreuzigter nicht der Messias sein [konnte]«, kann man einerseits traditionsgeschichtlich zurückfragen: Aber einen leidenden Gottesknecht konnte es geben? Und wenn das aus jüdischer Sicht denkmöglich war, ist es dann keine jüdische Denkmöglichkeit, vom Gekreuzigten zu sagen: »Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre«? Im frühchristlichen Unterfangen des christologischen Schriftbeweises manifestiert sich doch nichts anderes als der Anspruch, den eigenen Glauben innerhalb eines biblisch-jüdischen Plausibilisierungszusammenhangs zur Geltung zu bringen. Und andererseits kommt es darauf an, wen man fragt. Petrus und der Herrenbruder Jakobus waren zweifelsfrei der Auffassung, dass ein Gekreuzigter der Messias war, und dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat. Schnelle würde diese Auffassung aber nur dann als jüdisch gelten lassen, wenn eine zeitgenössische Quelle dokumentierte, dass der Glaube an einen gekreuzigten Messias von Juden als jüdisch anerkannt wurde, die diese Auffassung selber nicht teilten, so wie ein Sadduzäer einen Pharisäer als Juden gelten ließ, obwohl er ja selber keiner war. Freilich: Es gibt innerhalb des antiken Judentums auch andere unversöhnliche Gegensätze. Beispielsweise existiert keine Quelle aus Kreisen des Jerusalemer Priesteradels, die der Trägergruppe des jachad attestierte, dass sie eine statthafte Variante biblisch-jüdischer Gottesverehrung verkörperten (et vice versa). Aber soll man den jachad deshalb nicht als jüdisch gelten lassen, weil es keine jachad-unabhängige Quelle gibt, die den jachad in seinem jüdischen Selbstverständnis anerkennt? Über den Herrenbruder und Petrus müsste man, Schnelle folgend, wohl sagen: Sie haben sich für Juden gehalten, waren aber eigentlich schon keine mehr, sondern eben Christen, denn einen gekreuzigten Messias konnte es ja aus jüdischer Sicht nicht geben. Historisch ist erstens anzumerken, dass das »Judenchristentum« wohl nicht so kurzlebig war, wie Schnelle es darstellt. Aber selbst wenn dies so gewesen sein sollte, ist über die Bedeutung dessen, was nur von kurzer Dauer war, keineswegs entschieden. Es sei ein Vergleich gestattet: Am schweizerischen Kernforschungszentrum CERN wurde mit höchstem technologischen, energetischen, personellen und finanziellen Aufwand ein Experiment durchgeführt, das einen bisher nur als theoretisches Modell existierenden physikalischen Zustand dadurch beweisen sollte, dass man ihn experimentell herstellt. Dies gelang nur für den winzigen Bruchteil einer
Elia, Johannes und Jesus als Gemeinschaft der Verfolgten
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seiner Auseinandersetzung mit Faierstein dahingehend, dass er in den neutestamentlichen Schriften »one of our best sources for first-century Judaism« sieht.44 Wir kehren zu Mk 8 zurück: In V. 12 bestätigt Jesus die Auffassung der Schriftgelehrten, »zuerst« müsse Elia kommen, und er vervollständigt sie sogar noch, indem er in generalisierender Aufnahme der Elia-Verheißung in Mal 3,23 f. Elias Aufgabe formuliert: ἀποκαθιστάνει πάντα, »er stellt alles wieder her«. Auffällig ist aber, dass Jesus hier im Präsens redet und damit den Zeitindex der Aussage in der Schwebe lässt. Er scheint die Meinung der Schriftgelehrten mehr zu wiederholen als zu bestätigen, zitiert einen Lehrsatz,45 oder er redet in Frageform.46 Jedenfalls setzt er in rhetorischer Frage dagegen, wie es dann aber sein kann, dass »geschrieben ist vom Menschensohn, dass er viel leiden und verachtet werden müsse«, γέγραπται ἐπὶ τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου ἵνα πολλὰ πάθῃ καὶ ἐξουδενηθῇ.47 Ob der mk Jesus nun die Erwartung Elias als Wiederhersteller aller Dinge ablehnt oder nicht, bleibt unklar, was aber ausscheidet, ist, dass Elia diese Aufgabe vor dem Leiden des Menschensohnes ausführt, denn wenn Elia allseitige Eintracht schafft, wer sollte dann noch den Menschensohn peinigen und ihn verachten? Deshalb bestätigt Jesus in V. 13 zwar sinngemäß das »zuerst«, πρῶτον,
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Sekunde, womit der Beweis aber gleichwohl gültig erbracht war. Das Experiment wurde dementsprechend als großer Erfolg verbucht. Historisch ist zweitens eine Überlegung wert, ob nicht in Ermangelung der von Schnelle (m. E. sachlich völlig zu Unrecht) geforderten antiken Quelle ein Analogieschluss statthaft ist: Gibt es heute unter den vielen Spielarten jüdischer Glaubens- und Lebensweise Stimmen, die Jews for Jesus religiös gültig als Juden anerkennen, obwohl sie deren Messiasglauben dezidiert nicht teilen? Von hier aus könnte ggf. auf die antiken Verhältnisse zurückgeschlossen werden. Apg 2,47a wäre dann nicht einfach lukanische Apologetik bzw. Anfangs-Romantik. Allison, Elijah Must Come First (s. Anm. 40), 258. Vgl. auch Adolf Schlatter, Johannes der Täufer, Basel 1956, 38 f., zur jüdischen Elia-Erwartung in neutestamentlicher Zeit: »Die Evangelien geben zwar nicht gerade neuen Stoff, der unsere Kenntnis von ihrem Inhalt bereicherte, bezeugen aber ihr Vorhandensein reichlich und lassen die Weise hell ins Licht treten, wie sie Erkenntnis und Glauben des Volks beeinflusst.« So Klaus Berger, Die Auferstehung des Propheten und die Erhöhung des Menschensohnes. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Deutung des Geschicks Jesu in frühchristlichen Texten, StUNT 13, Göttingen 1976, 302 f. Anm. 199. Gnilka, Das Evangelium nach Markus (s. Anm. 13), 41, und Marcus, Mark 8–16 (s. Anm. 10), 643 f. Nach Liebers, »Wie geschrieben steht« (s. Anm. 12), ist V. 12b eine »den Verlauf der Perikope störende Unterbrechung« (a. a. O., 81), die andererseits aber nötig ist, »um eine Struktur von Behauptung und Gegenbehauptung zu bilden« (a. a. O., 82 f.) und »die Perikope mit dem vorangehenden Kontext [zu verknüpfen]«, mithin also »wahrscheinlich mk. Redaktion« (a. a. O., 83). Aber literarkritisch ist hier nichts zu gewinnen; vgl. die a. a. O., 83 f. Anm. 25, referierte ausufernde exegetische Diskussion ohne Aussicht auf eine der Erklärung des Textes zugutekommende Klärung des Sachverhalts.
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wenn er konstatiert, dass Elia in der Tat »gekommen ist«, ἐλήλυθεν, nicht aber, dass er bereits als Wiederhersteller tätig war. Vielmehr war auch Elia Opfer von Gewalt, »wie von ihm geschrieben ist«, καθὼς γέγραπται ἐπ’ αὐτόν. Nicht explizit ausgeschlossen ist damit das Konzept eines zweifachen Kommens Elias, einmal vor dem leidenden Menschensohn und ein zweites Mal vor der Wiederkehr des Menschensohnes in Herrlichkeit. Für das Markusevangelium ist ein zweites Kommen des Elia augenscheinlich kein Thema, denn er erwähnt Elia nicht im Kontext der Parusie, aber Justin ist diesen Schritt gegangen48 und ist damit seinem jüdischen Gesprächspartner insofern entgegengekommen, als in dieser Variante das Kommen Elias im Zuge der Endereignisse tatsächlich noch aussteht (dial. 49,1–3): »Sagt denn nicht der Logos durch Zacharias, dass Elias kommen wird ›vor diesem großen und furchtbaren Tage des Herrn‹? […] Wenn der Logos uns nun zwingt, zu bekennen, dass zwei Parusien Christi prophezeit wurden, und dass Christus bei der einen leidensfähig, ohne Ehre und Schönheit erscheinen, bei der anderen in Herrlichkeit als Weltenrichter kommen wird […], werden wir dann nicht annehmen, der Logos Gottes habe den Elias als Vorläufer des ›furchtbaren und großen Tages‹ verkündet, der mit seiner zweiten Parusie anbricht? […] Dass nun dem so sein wird, tat auch unser Herr in seinen Lehren kund, indem er erklärte, auch Elias werde kommen. Es wird, wie wir wissen, geschehen, wenn unser Herr Jesus Christus in Herrlichkeit von den Himmeln kommen wird. Seiner ersten Parusie ging als Herold Johannes vorher; denn in ihm offenbarte sich der Geist Gottes, der in Elias gewesen war. Es ist der Johannes, der in eurem Volke ein Prophet war.«49
Eigens hinzuweisen ist auf die von Justin vorgenommene Differenzierung zwischen dem Elia rediturus selbst und der Kontinuität des Gottesgeistes in Elia und dem Täufer, die das zweimalige Kommen Elias als abgestufte Sequenz verstehbar macht und nicht einfach als Verdoppelung. Die Elia-Identifikation des Täufers im Sinne eines leidenden Elia rediturus ist damit deutlich abgeschwächt, aber eben nicht aufgegeben. Typologie ist nicht starr, sondern flexibel abstufbar und, wie das vorliegende Beispiel zeigt, eine pneumatisch-dynamische Geschehensrelation.50 Was nun den leidenden Elia betrifft, so wird auch dieses Motiv weithin 48
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Mt 17,11b in der von Nestle-Aland gebotenen Lesart Ἠλίας μὲν ἔρχεται καὶ ἀποκαταστήσει πάντα kommt hierfür als Anknüpfungspunkt in Frage: Zwar ist für das MtEv ἀποκαταστήσει wohl als logisches Futur aufzufassen, möglich ist aber auch die Unterscheidung zwischen dem gegenwärtigen Kommen Elias (als Leidender) und seinem Wiederherstellen in der Zukunft, d. h. bei der Parusie. Übersetzung Katharina Greschat/Michael Tilly (Hrsg.), Justinus. Dialog mit dem Juden Tryphon, Wiesbaden 2005, 112 f. Noch deutlicher ist in dieser Hinsicht die Formulierung Lk 1,17: Der Täufer tritt auf ἐν πνεύματι καὶ δυνάμει Ἠλίου. Vgl. hierzu den von Klaus Berger, Historische Psychologie
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für christlich gehalten und auf das Bestreben zurückgeführt, die Passion Jesu mit der verbreiteten Elia-Erwartung dergestalt in Einklang zu bringen, dass dem leidenden Messias ein leidender Elia vorausgeht. Auf dieser Linie liegt die Notiz in Lk 9,31, die die Passion in die Begegnung Jesu mit Mose und Elia auf dem Berg der Verklärung einträgt. Während in Mk 9,4 über die Gespräche Moses und Elias mit Jesus inhaltlich nichts verlautet, führt Lk 9,30 f. aus: 30 καὶ ἰδοὺ ἄνδρες δύο συνελάλουν αὐτῷ, οἵτινες ἦσαν Μωϋσῆς καὶ Ἠλίας, 31 οἳ ὀφθέντες ἐν δόξῃ ἔλεγον τὴν ἔξοδον αὐτοῦ, ἣν ἤμελλεν πληροῦν ἐν Ἰερουσαλήμ. »Und siehe, zwei Männer redeten mit ihm; das waren Mose und Elia. Die erschienen in himmlischer Klarheit und redeten von seinem Ende, das er in Jerusalem erfüllen sollte.«
Mit Joachim Jeremias kann man fragen, ob hier möglicherweise ein Reflex auf das Leiden auch des Elia und dazu noch des Mose vorliegt, ob sie also deshalb über Jesu Passion reden, weil auch ihr eigenes Geschick mit der Passion Jesu in Einklang steht und diese insofern ankündigt.51 Der Gedanke einer Passion nicht nur des Elia, sondern auch des Mose mutet uns überaus seltsam an, ist aber in dem Stück Offb 11,3–14 zweifelsfrei verarbeitet. Dort wird von »zwei Zeugen« berichtet, von ihrem Wirken als Bußprediger, von ihrem Martyrium durch das »Tier aus dem Abgrund«, von ihrer Auferweckung und ihrer Himmelfahrt. Dass es sich hierbei um Mose und Elia handelt, zumindest aber um Mose- und Elia-Typologie, wird in Offb 11,6 deutlich, wo ihnen die Fähigkeit gegeben ist, den Himmel zu verschließen, sodass es nicht regnet – vgl. 1Kön 17,1 zu Elia –, und die Fähigkeit, Wasser in Blut zu verwandeln – vgl. Ex 7,17–21 zu Mose. Heftig umstritten ist freilich der traditionsgeschichtliche Quellenwert des Stücks, das weithin als christliche Bildung verbucht wird. Markus Öhler etwa hält die Abfolge »Tötung – Auferweckung – Entrückung der zwei Zeugen« für eine vom Verfasser der Offb überarbeitete christliche Vorlage, freilich mit dem einzigen Argument, dass eine solche Abfolge im Judentum sonst nicht mehr belegt sei, und er verweist stattdessen auf eine »viel deutlicher[e]« Entsprechung zu 1Thess 4,16 f., die aber erkennbar nicht gegeben ist.52 Auch die von Öhler vorgeschlagene traditionsgeschichtliche Herleitung der beiden Zeugen als ekklesiologische Symbolfiguren für eine vom Antichristen verfolgte Kirche53 leuchtet mir nicht ein, weil die
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des Neuen Testaments, SBS 146/147, Stuttgart 1995, 51, skizzierten Zusammenhang von Typologie und charismatischer Erfahrung: »Die Wurzel dessen, was dann auch als Typologie zum Ausdruck kommt, ist […] eine Art der Erfahrung des Charismatikers durch die Menschen, denen er begegnet.« Joachim Jeremias, Art. Ἠλί(ε)ας, in: ThWNT Bd. 2, 1935, 930–943, 941. Vgl. Öhler, Elia (s. Anm. 39), 281. Vgl. a. a. O., 281 f.
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beiden Figuren, in denen sich ja nicht zuletzt die wundertätige Vollmacht Moses und Elias bündelt, sich hierfür erkennbar nicht eignen. Wird hier wie bei einer Scheidung haarklein auseinanderdividiert, wer was mit in die Ehe gebracht hat? Gerade Offb 11 zeugt doch nicht von einer Trennung, sondern von einem intensiven Verbundensein mit der (eigenen) biblisch-jüdischen Geschichte, ein Verbundensein, dass zumal dort völlig unverzichtbar war, wo die Jesusbewegung sich (in Kontinuität mit jüdischen Erfahrungen in hellenistisch-römischer Zeit)54 auf eine ernste Konfrontation mit Rom einstellte. Darf denn frühchristlich von Passion und Auferweckung nur in christlicher Ableitung mit dem Christusereignis als originärem Ideengeber die Rede sein? Steht dahinter die Aversion gegen Versuche, etwas historisch zu erweisen, was nur geglaubt werden kann und darf? Aber darum geht es gar nicht. Vielmehr geht es um ein Verstehen der frühen Jesusbewegung im Kontinuum des Judentums ihrer Zeit, ohne jeden Originalitätszwang, der sich wohl seinerseits der Auffassung verdankt, dass der Glaube sich durch die Unableitbarkeit des Geglaubten als wahr erweist. Aber das wäre ein verfehlter religionsgeschichtlicher Ansatz, der voraussetzt, dass, wenn etwas zweimal vorkommt, keins von beidem wahr sein kann. In Offb 11,3–13 wird das apokalyptische Drama mit Elementen jüdischer Apokalyptik angereichert, zu denen auch das Martyrium und die Auferweckung einer eschatologischen Eliafigur gehören, und zwar ohne erkennbare Bedenken, damit könnte dem Martyrium und der Auferweckung Jesu der Rang streitig gemacht werden. Diese Bedenken haben erst spätere Ausleger, die deshalb alles daransetzen, einen christlichen Ursprung nachzuweisen. Der Verfasser der Apokalypse kann dagegen die Auferweckung dieser Eliafigur unbefangen neben der Auferweckung Jesu stehen lassen. Die methodischen Probleme bei der Diskussion der Frage, in wieweit Offb 11,3–13 aus jüdischer Apokalyptik schöpft,55 sind freilich beträchtlich, weshalb es hier bei diesen wenigen Andeutungen bleiben muss.56 Zur möglichen 54
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Vgl. hierzu Manuel Vogel, Römer 13 als Lobrede auf die Verfolger, in: Stefan Alkier/ Christfried Böttrich (Hrsg.), Neutestamentliche Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung. Studien im Anschluss an Eckart Reinmuth, Leipzig 2017, 221–252. Für Lohmeyer, Das Evangelium des Markus (s. Anm. 9), 183, war dieser Zusammenhang und seine Relevanz auch für Mk 9,13 unstrittig: »Ein Schriftwort, dass der wiedergekommene Elia leiden müsse, gibt es im AT nicht. Es ist offenbar eine geheime apokalyptische Überlieferung, von der auch Apk 11 weiß.« Der methodologische Hauptstreitpunkt dürfte sein, ob und in welchem Umfang man annehmen will, dass überlieferungsgeschichtlich spätes Gut traditionsgeschichtlich mitunter sehr alt sein kann (m. E. kann das nicht begründet verneint werden). Daran entscheidet sich der mögliche Quellenwert nachntl. christlicher Texte für die antik-jüdische Traditionsgeschichte. Wilhelm Bousset, Der Antichrist in der Überlieferung des Judentums, des Neuen Testaments und der Alten Kirche, Göttingen 1895, 134–139, der
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vorchristlichen Herkunft des Motivs vom leidenden Elia kann aber noch auf einen weiteren, sehr einfachen Sachverhalt verwiesen werden, der mit mutmaßlichen Deutungen von Person und Wirken Johannes des Täufers durch seine Anhänger zu tun hat. Dass es Gruppen von Täuferanhängern parallel zu frühen Jesusgemeinden gegeben hat, wird in der Forschung üblicherweise angenommen,57 und das wohl zu Recht. Einen deutlichen Beleg finde ich in Apg 19,1–7 in der lukanischen Zeichnung von »Jüngern«, die nur die Johannestaufe kennen, und die
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die Tradition der zwei Zeugen reichhaltig aus patristischen Texten zusammenträgt, resümiert: »Ursprünglich jüdisch war sie wohl keinesfalls«, eine bemerkenswerte Formulierung, die zwischen Zweifel (»wohl«) und Gewissheit (»keinesfalls«) changiert, und mutmaßt dann, sie »wird übernommen sein«, unter Hinweis auf eine pagane Parallele, a. a. O., 139. Eine christliche Zuschreibung mag er also auch nicht annehmen. Auch Gerd Häfner, Der verheißene Vorläufer. Redaktionskritische Untersuchung zur Darstellung Johannes des Täufers im Matthäusevangelium, SBB 27, Stuttgart 1994, 383, ist zum »Vorhandensein einer jüdischen Tradition von Martyrium und Auferstehung von Henoch und Elia« unschlüssig: Sie kann »nicht ausgeschlossen werden«, aber auch »nicht als gesichert gelten«. Eindeutig urteilt dagegen Berger, Die Auferstehung des Propheten (s. Anm. 45), 142: »Anders als irgendwelche Auferstehungsvorstellungen des hellenistischen Orients hat diese Tradition oder direkt Verwandtes den Jüngern bekannt sein können (es handelt sich um eine jüdische Tradition, verwandte Elemente zeigten sich z. B. auch in Mk 9,10–12; Lk 13,32 f). Die Aussageintention der den Jüngern und der Tradition über Henoch und Elia gemeinsamen Basistradition war: Gottes letzter Gesandter wird getötet werden, Gott wird diesen aber aus dem Tode retten, nämlich seine Macht in dessen Auferweckung zeigen und so allen Streit um die wahre Gottesverehrung beenden. Dieses ist der ›letzte Akt‹ vor dem Gericht (die Tradition über Henoch und Elia findet sich überall sonst außer in Apk 11 direkt vor der Darstellung der Parusie nach Dan 7). Dass die Tradition über Henoch und Elia sekundäres Derivat christlicher Vorstellungen sei, ist schon deshalb höchst unwahrscheinlich, weil dieser letzte Akt sinnvollerweise nur ein Mal geschieht, und zwar direkt vor dem Ende; denn der endgültige Machtwechsel zugunsten Gottes ist damit vollzogen. Wäre das künftige Geschick von Henoch und Elia genuin christliche, vom Geschick Jesu her konstruierte Erwartung, so müsste man erst das Interesse deutlich machen, das eine Gemeinde dazu geführt haben könnte, sich Ereignisse auszumalen, die der Funktion der Auferstehung Jesu derart konkurrierten.« Richard Bauckham, The Martydrom of Enoch and Elijah: Jewish or Christian?, in: JBL 95 (1976), 447–458, hält zwar das Martyrium Henochs und Elias für »a Christian innovation deriving […] from the Christian innovation of the martyrdom of the Messiah« (a. a. O., 458), argumentiert aber im Blick auf die Rolle beider bei der Bezwingung des Antichrists wie Berger: »A Christian author is unlikely to have originated a tradition in which Enoch and Elijah are permitted in this way to usurp the role of Christ« (a. a. O., 457). So etwa Backhaus, Die »Jüngerkreise« des Täufers Johannes (s. Anm. 29), und Marcus, John (s. Anm. 30).
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auf einen starken wechselseitigen Einfluss von Täufergruppen und Jesusgemeinden schließen lässt.58 Hinzu kommen Notizen, in denen Jesus- und Johannesjünger miteinander gruppenförmig auftreten, etwa Lk 11,1 (Bitte der Jesusjünger, im Gebet unterwiesen zu werden wie die Johannesjünger) oder Joh 4,1 f. (Wettbewerb im Taufen zwischen Johannes- und Jesusjüngern). Die stärksten Signale für Auseinandersetzungen zwischen Täufergruppen und Jesusgemeinden um Bedeutungszuschreibungen an ihren jeweiligen Gründer liegen nach verbreiteter Auffassung im Täuferzeugnis in Joh 1 vor, und hier dementiert der Täufer ausdrücklich, Elia zu sein (Joh 1,21). Sollte sich hier die täuferische Auffassung von Johannes als dem wiedergekommenen Elia niederschlagen,59 die zeitgleich mit der Entstehung des Johannesevangeliums zwischen Täufergruppen und Jesusgemeinden strittig war, muss in diese Deutung notwendigerweise der Umstand eingeflossen sein, dass der Täufer eines gewaltsamen Todes gestorben ist, und zwar ganz unabhängig von der oft diagnostizierten und beklagten »Verchristlichung« des Täufers durch frühe Jesusgemeinden. Datiert aber die täuferische Auffassung von Johannes als Elia rediturus in die Zeit nach dem Martyrium des Täufers, ist das Konzept eines leidenden Elia keine jüdisch un58
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Vgl. hierzu Manuel Vogel, Jesusgemeinden und Täufergruppen zwischen Abgrenzung und Wertschätzung – eine Skizze, in: Niclas Förster/Cor de Vos (Hrsg.), Juden und Christen unter römischer Herrschaft. Selbst- und Fremdwahrnehmung in den ersten beiden Jahrhunderten n. Chr. Festschrift für Folker Siegert, SIJD 10, Göttingen 2015, 74– 84. Dass die Johannestaufe in Apg 19,1–7, wie Michael Wolter, Apollos und die Johannesjünger von Ephesus (Apg 18,24–19,7), in: ders., Theologie und Ethos im frühen Christentum. Studien zu Jesus, Paulus und Lukas, WUNT 236, Tübingen 2009, 402–426, meint, nur eine »Hilfsfunktion« (a. a. O., 423) für das Apg 18,24–19,7 verbindende Beweisziel der »paulinische[n] Dominanz über Apollos« (a. a. O., 424) haben soll, scheint mir fraglich. Keinesfalls kann daraus geschlossen werden, dass die Täuferbewegung für den Verfasser der Apg hier gar nicht im Blick ist und die ephesinischen »Jünger« nur als ahistorische Erzählfiguren im Gespräch des Verfassers der Apg mit 1Kor 4 (Kontroverse Paulus – Apollos) dienen. Auch auf Lk 1,17 ist hier zu verweisen. Unter den in Lk 1 f. verarbeiteten Traditionen wird namentlich für Lk 1,13ff. täuferischer Ursprung angenommen; vgl. Öhler, Elia im Neuen Testament (s. Anm. 39), 80. Hiervon zu unterscheiden ist, ob sich bereits der historische Täufer in der Tradition Elias gesehen hat, eine Frage, die von Marcus, John (s. Anm. 30), 46–61, diskutiert und im Sinne einer »Elijan self-consciousness« des Täufers, a. a. O., 61, dezidiert bejaht wird. Ein anderes Szenario entwirft (trotz der Kritik von Häfner, Der verheißene Vorläufer [s. Anm. 56], 382 Anm. 1, am »zu großen Vertrauen in die historische Zuverlässigkeit der Täuferüberlieferung im vierten Evangelium«) mit beachtlichen Textbeobachtungen John A.T. Robinson, Elijah, John and Jesus: An Essay in Detection, in: NTS 4 (1958), 263–281: Der Täufer habe Jesus für Elia gehalten und Jesus habe sich zunächst mit dieser Rolle identifiziert, dann aber zu einem eigenen Modus der Verkündigung gefunden, der sich nicht mehr mit seiner Elia-Rolle vertrug.
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denkbare frühchristliche, sondern eine täuferische, d. h. aber eine jüdische Denkfigur abseits frühchristlicher Täuferdeutungen.60 Die Notwendigkeit, den Tod des Täufers theologisch zu bewältigen, ergab sich mithin nicht erst durch das frühchristliche Ansinnen, dem leidenden Menschensohn einen leidenden Elia-Johannes an die Seite zu stellen. Ob das Konzept eines leidenden Elia eine täuferische Innovation war oder auf älterer Tradition beruht, muss hier nicht entschieden werden. Deutlich ist nämlich so oder so, dass von der zweifellos gegebenen frühchristlichen Verwertbarkeit der Idee des leidenden Elia für das Konzept des leidenden Menschensohnes nicht unbesehen auf einen christlichen Ursprung dieser Idee61 geschlossen werden kann. Wir kommen abschließend auf unsere Ausgangsfrage nach der in Mk 9,13 behaupteten Schriftgemäßheit des Leidens des Elia rediturus zurück. Der Hinweis des NT Graece auf 1Kön 19, der sich auch in den Kommentaren findet,62 trifft insofern nicht zu, als sich die genannten Stellen auf den geschichtlichen Elia beziehen, nicht auf den wiederkommenden: »[Eila] sprach: Ich habe geeifert für den Herrn, den Gott Zebaoth; denn die Israeliten haben deinen Bund verlassen und deine Altäre zerbrochen und deine Propheten mit dem Schwert getötet und ich bin allein übrig geblieben, und sie trachten danach, dass sie mir mein Leben nehmen« (1Kön 19,10).
Bemerkenswert ist aber, dass hier bereits der geschichtliche Elia in einer Reihe steht, nämlich der ermordeten Propheten: Schon 1Kön 19 intoniert das Motiv 60
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Auch Liebers, »Wie geschrieben steht« (s. Anm. 12), 88, der die Frage, »ob die in V. 13 begegnende Vorstellung eines (schriftgemäß) leidenden wiederkommenden Elia bereits ein vorgegebenes Motiv darstellt«, verneint, will »die Möglichkeit [nicht ausschließen], hier eine Tradition aus Täuferkreisen verarbeitet zu sehen, in der Johannes der Täufer als elianisch-eschatologischer Heilbringer gedeutet wurde« (a. a. O., 94). Konsequent etwa Pellegrini, Elija (s. Anm. 6), 352 f., die die Referenz von ἐπ’ αὐτόν in καθὼς γέγραπται ἐπ’ αὐτόν (V. 13b) kurzerhand auf den »Menschensohn« in V. 12b lenkt: Der eschatologische Elia leidet, wie (nicht von ihm, sondern) vom Menschensohn geschrieben steht. Deutlich ist hier der leidende Elia rediturus eine erst christliche Denknotwendigkeit. Auch nach Marcus, Mark 8–16 (s. Anm. 10), 646, hat die Referenz des Leidens des eschatologischen Elia ihre »presupposition [in] the Christian dogma of the Messiah’s suffering«. Nach Michael Tilly, Johannes der Täufer und die Biographie der Propheten. Die synoptische Täuferüberlieferung und das jüdische Prophetenbild zur Zeit des Täufers, BWANT 7. F. 17/137, Stuttgart 1994, 62, der seinerseits im Motiv des leidenden Elia eine mk Bildung sieht, ist jedoch »zu überprüfen, ob das Auftreten Johannes’ des Täufers, dessen prophetische Autorität durch seinen gewaltsamen Tod offensichtlich nicht geschmälert wurde, bereits von seinen Zeitgenossen in diesen Kategorien verstanden werden konnte«. U. v. a. bei Peter Dschulnigg, Das Markusevangelium, ThKNT 2, Stuttgart 2007, 249.
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vom gewaltsamen Geschick der Propheten, das im 1. Jh. zu einem cantus firmus der biblischen Geschichte geworden ist.63 Dass Propheten verfolgt und getötet werden, ist augenscheinlich so etwas wie ein biblisch-geschichtlicher Erfahrungswert, der an dieser Geschichte insgesamt ablesbar ist. So sollen sich nach Mt 5,12 die Jünger freuen, wenn sie verfolgt werden, »denn so haben sie auch die Propheten vor euch verfolgt«, und in Apg 7,52 fragt Stephanus rhetorisch: »Welchen der Propheten haben eure Väter nicht verfolgt?« Nach Lk 6,26 macht sich ein Prophet, der nicht verfolgt wird, geradezu verdächtig, ein falscher Prophet zu sein.64 Der Zusatz »wie geschrieben steht« könnte an diesen und anderen Stellen sinngemäß ergänzt werden, weil es auch hier um summarische Bezugnahmen auf die in den biblischen Schriften zugängliche biblisch-jüdische Geschichte geht. Es ist dieser sozusagen »gesamtbiblische« Deutungshintergrund, verstanden als ein wichtiger Aspekt des Gesamtsinns der biblisch-jüdischen Geschichte,65 vor dem man mit Johannes Majoros-Danowski zutreffend von »einer Art ›Gemeinschaft von Verfolgten‹, zu der Elija, Johannes und Jesus gehören«,66 sprechen kann.67
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Grundlegend Odil Hannes Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten. Untersuchungen zur Überlieferung des deuteronomistischen Geschichtsbildes im Alten Testament, Spätjudentum und Urchristentum, WMANT 23, Neukirchen-Vluyn 1967. Einschlägig ist außerdem 1Thess 2,15 und Hebr 11,36–38 und zur Sache Hans Joachim Schoeps, Die jüdischen Prophetenmorde, in: ders., Aus frühchristlicher Zeit. Religionsgeschichtliche Untersuchungen, Tübingen 1950, 126–143. Berger, Die Auferstehung des Propheten (s. Anm. 45), 304 Anm. 205, akzentuiert etwas anders, nämlich apokalyptisch und weisheitlich, beschreibt aber dieselbe geschichtsprägende Struktur: »Fragt man sich allgemein, wie es überhaupt zur Denkbarkeit derartiger Aussagen (der Elias bzw. der Menschensohn müssen ›erst‹ leiden, bevor sie in Herrlichkeit sichtbar werden) gekommen ist, dann wird man antworten müssen, dass es sich um eine Verbindung der apokalyptischen Auffassung über die notwendige Abfolge von Unheil und Heil, Leiden und Herrlichkeit mit einer gleichartigen weisheitlichen Konzeption über die Abfolge von Leiden und Verherrlichung des Weisen handelt. Jeweils ist ›vor‹ der Herrlichkeit eine Zeit des Leidens notwendig, und diese Zeit ist die jeweilige Gegenwart.« Zum Typus des Gerechten in der hellenistisch-jüdischen Weisheit v. a. in der Sapientia Salomonis vgl. Manuel Vogel, Commentatio mortis. 2Kor 5,1–10 auf dem Hintergrund antiker ars moriendi, FRLANT 214, Göttingen 2006, 210–213. Pagan sind Gemeinsamkeiten mit der Gattung der exitus illustrium virorum erkennbar, hierzu a. a. O., 111 f., sowie Michael Hartmann, Der Tod Johannes’ des Täufers. Eine exegetische und rezeptionsgeschichtliche Studie auf dem Hintergrund narrativer, intertextueller und kulturanthropologischer Zugänge, SBB 54, Stuttgart 2001, 170–175, zum Motiv »Eine prophetische bzw. philosophische Gestalt tritt gegen den König auf«. Johannes Majoros-Danowski, Elija im Markusevangelium. Ein Buch im Kontext des Judentums, BWANT 9.F. 20/180, Stuttgart 2008, 140.
Elia, Johannes und Jesus als Gemeinschaft der Verfolgten
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Die Frage, ob die in Täuferkreisen tradierte Anschauung vom leidenden Elia rediturus an ältere Vorstellungen anknüpfen konnte, relativiert sich dann durch den Grundsatz, dass ein wahrer Prophet verfolgt werden muss. Der (in der Rezeptionssituation der Johannes- und Jesusgruppen freilich wohl ebenfalls bereits traditionelle) weitere Schritt bestand dann darin, diesen Grundsatz auch auf den eschatologischen Propheten anzuwenden. Da aber in der wirkungsträchtigen Stelle Dtn 18,15 – »Einen Propheten wie mich wird dir der Herr erwecken« – auch Mose ein Prophet mit einem eschatologischen Pendant ist, konnte wie in Offb 11,3–13 auch Mosetypologie mit dem Martyrium verbunden werden: Die beiden »Zeugen« sind Gestalten, die im Endgeschehen auftreten wie die Propheten Mose und Elia, und als Propheten von der Hand des Tieres aus dem Abgrund das Martyrium erleiden.68 Das ist insofern nicht verwunderlich, als Tora und Martyrium seit der Makkabäerzeit im Motiv des Leidens für Bund und Gesetz eine enge Verbindung eingehen. Es liegt auf dieser Linie, wenn Mose (Empfänger und Mittler der Tora) und Elia (Eiferer für den Bund) eschatologisch als Märtyrer imaginiert werden. Deutungen des Geschicks Jesu sind für diese Sinnlinie völlig entbehrlich. Dementsprechend finden wir die Ereignisfolge aus Offb 11,3– 67
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Dies gilt ungeachtet der Modifikation gegenüber der dtr. Tradition, die Stephanie von Dobbeler, Das Gericht und das Erbarmen Gottes. Die Botschaft Johannes des Täufers und ihre Rezeption bei den Johannesjüngern im Rahmen der Theologiegeschichte des Frühjudentums, BBB 70, Frankfurt a. M. 1988, 206–208, herausarbeitet. Für die Deutung des Todes des Täufers legt sie die Gattung des Märtyrerberichts zugrunde und nimmt eine »Form der Märtyrerberichte« an, »die den gewaltsamen Tod eines Propheten auf den Konflikt mit einem König oder Fürsten zurückführen« (210). Einschlägig ist auch Tertullian, scorp. 8: »Von Anbeginn an leidet die Gerechtigkeit Gewalt. Sobald die Verehrung Gottes ihren Anfang nahm, wurde die Religion Gegenstand des Missfallens. Wer Gott wohlgefällig war, wurde erschlagen, und zwar von seinem eigenen Bruder. Damit die Gottlosigkeit umso eifriger nach fremdem Blute trachte, fing sie mit ihrem eigenen an. So hat sie späterhin nicht bloß nach dem Blute der Frommen, sondern auch nach dem der Propheten gelechzt. David wird umhergehetzt, Elia verjagt, Jeremia gesteinigt, Jesaia zersägt, Zacharias zwischen Tempel und Altar umgebracht und lässt unvergängliche Blutflecken auf den Steinen zurück. Selbst der, welcher den Schluss des Gesetzes und des Prophetentums bildete, der nicht Prophet, sondern Engel genannt wurde, musste eines scheußlichen Todes sterben, gleichsam zum Salär für eine Tänzerin« (Übersetzung: Heinrich Kellner, Tertullian. Apologetische, dogmatische und montanistische Schriften, BKV 1/24, Kempten/München 1915, 205, mit Änderungen). Hier wird der Täufer als Prophet in eine mit Kain und Abel anhebende Geschichte der Gewalt gegen die Gerechtigkeit gestellt. Die Einzeichnung von Mk 9,11–13 und Offb 11,3–13 in einen gemeinsamen jüdischen Traditionszusammenhang skizziert m. E. zutreffend auch Rudolf Pesch, Das Markusevangelium. II. Teil: Kommentar zu Kap 8,27–16,20, HThK 2, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2 1980, 80.
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Manuel Vogel
13 »Wirken – Martyrium – Auferweckung« auch im Markusevangelium, nämlich in Anwendung auf Johannes den Täufer: Auf sein Wirken als Bußprediger (Mk 1) folgt sein Martyrium (Mk 6) und – als Meinung der Leute (Mk 6,14) und als felsenfeste Überzeugung des Herodes Antipas (Mk 6,16) – auch das Szenario seiner Auferweckung.69 Mit christlichen Passions- oder Ostertraditionen hat das alles nichts zu tun. Das MkEv kann die Möglichkeit, der Täufer sei auferweckt worden, unkommentiert neben der Auferweckung Jesu stehen lassen. Dass er sie nicht teilt, wird nirgends gesagt. Dass er sie referiert, ohne sie ausdrücklich zurückzuweisen, ist weiterer Überlegungen wert: Indem nämlich die Person des Täufers in der Person Jesu wiederkehrt, werden die Konturen zwischen Jüdischem und Christlichem auf höchst originelle Weise verwischt, denn die über das Auferweckungsmotiv (»Jesus ist der Täufer«, »der Täufer ist Jesus«) vermittelte Personidentität und -kontinuität lässt die Unterscheidung jüdischer vs. christlicher Traditionszusammenhänge gar nicht mehr zu. Die Frage lautet natürlich, warum der Markusevangelist diese für späteres christliches Empfinden befremdliche Auffassung so pointiert im Erzählgang platziert. Hierzu versuche ich eine dreifache Antwort: (1) Die Auffassung, dass Jesus der auferweckte Täufer war, konnte wie die anderen in Mk 6,14–16 und 8,28 referierten Identifikationen (»Elia«, »einer der Propheten«) zu den christologischen Titeln »Sohn Gottes« (Mk 1,1; 9,7; 15,39) und »Christus« (Mk 8,29) in ein integratives Verhältnis gesetzt werden. Dies liegt m. E. deshalb nahe, weil keine dieser (gegenüber »Sohn Gottes« und »Christus« fraglos inferioren) Zuschreibungen im MkEv ausdrücklich abgelehnt wird. Erzählt wird nur: Die Leute (und Antipas) haben dieses gedacht, Petrus (unter Auflage der Geheimhaltung) jenes. Wie sich beides zu einander verhält, bleibt offen. Ist diese Offenheit möglicherweise gewollt? Jedenfalls konnten Täuferanhänger unter der Maßgabe, dass der Gottessohn und Messias Jesus der auferweckte Täufer war, dass mithin der Täufer in Jesus »weiterlebte«, Jesusanhänger sein, ohne aufhören zu müssen, Täuferanhänger zu sein. Wir hätten dann ein weiteres Indiz für das 69
Im Anschluss an Berger, Die Auferstehung des Propheten (s. Anm. 45), spricht Ulrich Wilckens, Auferstehung. Das biblische Auferstehungszeugnis historisch untersucht und erklärt, Stuttgart/Berlin 1970, 141, nachgerade vom »gewaltsamen Geschick des Johannes – und von seiner Auferstehung«; zustimmend Rudolf Pesch, Zur Entstehung des Glaubens an die Auferstehung Jesu. Ein Vorschlag zur Diskussion, in: ThQ 153 (1973), 201–228, 223. Johannes M. Nützel, Zum Schicksal des eschatologischen Propheten, in: BZ 20 (1976), 59–94, 94, resümiert nach einer kritischen Durchsicht der von Pesch angeführten Belege, »dass die Erwartung einer Ermordung und Auferweckung eschatologischer Propheten zur Zeit Jesu existierte«, hält jedoch im Blick auf die »Spärlichkeit der Belege« und ihre »Vieldeutigkeit« die Deutung der mk Täufertraditionen auf diesem Hintergrund für eine »Verlegenheitslösung«, die freilich daher rührt, dass »eine bessere bisher nicht vorliegt«.
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irenische Verhältnis der frühen Jesusbewegung zur Täuferbewegung, die zu den Bedingungen der ignatianischen Unterscheidung nicht mehr funktionieren konnte und auch nicht funktionieren sollte.70 (2) Welcher Sinnzuwachs ist damit gegeben, dass nicht nur die Leute meinen, Jesus sei der auferweckte Täufer, sondern dass Antipas dieses als seine persönliche Überzeugung ausdrücklich bekräftigt? Antwort: Die Erzählfigur des Antipas steht für den Aktanten »Tyrann«, dem gegenüber der Aktant »Gerechter« unterliegt und von dessen Hand er das Martyrium erleidet. Antipas ist ein Tyrann, der genau weiß, welche Rolle er im Drama des gewaltsamen Geschicks des Propheten spielt, und der deshalb auch weiß, wie dieses Drama ausgeht. Antipas weiß, dass der Täufer ein Gerechter und ein Prophet war, er weiß, dass er Opfer ungerechter Macht geworden ist (durch seine eigene, unfreiwillig-tragische Mitwirkung), und er kann deshalb auch wissen, wie diese Geschichte ausgeht, nämlich unter der Bedingung des aus der biblisch-jüdischen Enzyklopädie entsprechend dem, »was geschrieben steht«, sich speisenden Wissens, dass der Gerechte/Prophet notwendigerweise mit ungerechter Herrschaft in Konflikt gerät und ihr unterliegt, von Gott aber ins Recht gesetzt wird. Deshalb weiß der Mörder des Täufers, dass dieser Mord nicht der letzte Akt des Dramas gewesen sein kann. (3) Das Martyrium des Täufers hat christologische Implikationen: Wenn nämlich die Passion des Täufers als Elia rediturus und die Passion Jesu demselben in der Schrift dokumentierten Muster folgen, bilden beide Passionen einander aspekthaft ab: An der einen ist teilweise ablesbar, was auch für die andere gilt. Innerhalb dieses Zusammenhangs steht die Passion des Täufers für das Moment der am Ende tödlichen Konfrontation mit ungerechter Herrschaft, anders gesagt für einen unaufgebbaren politischen Aspekt des Martyriums. Herodes Antipas 70
In diese Richtung geht auch die Einschätzung von Gerhard Dautzenberg, Elija im Markusevangelium, in: Frans van Segbroeck u. a. (Hrsg.), The Four Gospels. Festschrift für Frans Neirynck, Bd. 2, Leuven 1992, 1079 f.: »Die Auskunft, Jesus sei […] der von den Toten auferstandene Täufer […] geht vielleicht nicht auf Täuferjünger zurück, wohl aber auf Kreise, welche Botschaft und Selbstverständnis des Täufers in einem Maße als verbindliche Orientierung ansahen, dass sie das Wirken Jesu zwar zur Modifikation aber nicht zur Aufgabe dieses vom Täufer bestimmten Geschichtsbildes veranlasste. Diese Modifikation war nur möglich, wenn die Eschatologie und die Theologie Johannes des Täufers und Jesu genügend Gemeinsamkeiten aufwiesen, was bei der Herkunft Jesu aus dem Täuferkreis ohnehin wahrscheinlich ist, und nicht durch im Kern antijüdische Spekulationen über Differenzen im Gottesbild Jesu und des Täufers in Frage gestellt werden sollte.« Eine antijüdische Parallelisierung von Jesus und dem Täufer vertritt Jürgen Becker, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, BSt 63, Neukirchen-Vluyn 1972, 105: »Nach beiden hat ganz Israel generell und für immer seinen eigenen Heilsanspruch verspielt. Darum droht allen ausnahmslos das Gericht.«
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Manuel Vogel
verkörpert als galiläischer Landesfürst und römischer Klientelherrscher wie die Jerusalemer Autoritäten auch den Antagonismus zwischen dem Gerechten bzw. dem Propheten einerseits und den herrschenden Mächten andererseits. Mk 6,14–29 ist so gesehen ein integraler Bestandteil markinischer Passionsdeutung. Im gemeinsamen Unterliegen unter diese Mächte stehen der Täufer und Jesus nicht widereinander oder auf einer unterschiedlichen Rangstufe, sondern nebeneinander. Die Unterscheidung jüdisch – christlich kann dieses Bild nur verwirren.71 Oder wir sagen es, da wir diese Unterscheidung einstweilen terminologisch konzis nicht ersetzen können, mit Georg Molin so: Es lohne sich, »einmal den Versuch zu machen, aus der Ausbildung« der biblischen Elia-Tradition »in Judentum und Christenheit etwas über das Wesen beider zu entnehmen und vielleicht auch auf diese Weise ein Bindeglied zwischen den getrennten Geschwistern zu finden«.72
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Vergleichend sei der Hinweis auf die christliche Verehrung der makkabäischen Märtyrer v. a. in Antiochia um die Wende zum 5. Jh. gestattet: Längst bestehende »Religionsgrenzen« wurden hier zugunsten gemeinsamer Traditionen des Martyriums relativiert. Christen verehrten die jüdischen Märtyrer, die ihnen Vorbilder standhaften Glaubens waren. Aus der neueren Literatur nenne ich: Ariane B. Schneider, Jüdisches Erbe in christlicher Tradition. Eine kanongeschichtliche Untersuchung zu Bedeutung und Rezeption der Makkabäerbücher in der Alten Kirche des Ostens, Diss. Heidelberg 2000; Lothar Triebel, Die angebliche Synagoge der makkabäischen Märtyrer in Antiochia am Orontes, in: ZAC 9 (2006), 464–495; Raphaëlle Ziadé, Les martyrs Maccabées. De l’histoire juive au culte chrétien. Les homélies de Grégoire de Nazianze et de Jean Chrysostome, VC S. 80, Leiden/Boston MA 2006. Georg Molin, Elijahu. Der Prophet und sein Weiterleben in den Hoffnungen des Judentums und der Christenheit, in: Judaica 8 (1952), 65–94, 65 (im Original steht »Brüdern« statt »Geschwistern«). Zu Georg Molin s. jetzt Karl-Reinhart Trauner, Gottesfurcht ist der Anfang der Erkenntnis: Georg Molin (1908–2003), in: Uta Heil/ Annette Schellenberg/Antje Klein (Hrsg.), Autor und Autorität. Historische, systematische und praktische Perspektiven, WJTh 12, Göttingen 2019, 195–212.
Die antike Rezeption einiger Visions- und Auditionstexte der Apostelgeschichte Martin Meiser
Weitgespannte Forschungsinteressen, Vielseitigkeit methodischer Zugänge und profunde Textkenntnis über weite Epochen sind für den Jubilar kennzeichnend, der in seinem opus magnum »Offenbarung und Epiphanie« auch die hier hinsichtlich ihrer Wirkungsgeschichte vorzustellenden Texte verhandelt.1 Vorliegendes opusculum zur Rezeptionsgeschichte einiger ausgewählter Texte (Apg 7,55 f.;2 10,9–17; 18,9 f.; 22,17–21) wird deren antikes Verständnis in eine allgemeine Konzeptualisierung von Gottesschau einbetten und nach der Deutung der Einzelmotive nach dem Grund für die relative Zurückhaltung fragen.
1. Konzeptualisierungen visiona¨ren Geschehens Der Rahmen der ersten Konzeptualisierung visionären Geschehens im antiken Christentum waren die antihäretische Polemik wie die Apologetik; in ersterer ging es um Verallgemeinerbarkeit christlicher Gotteserkenntnis, in letzterer um das Motiv der Ebenbürtigkeit biblischer mit griechischer Tradition und um die Anschlussfähigkeit an einen philosophisch-theologischen Konsens, der, von Platon und Aristoteles entwickelt, von Philo von Alexandria auch im antiken Judentum übernommen worden war, dass nämlich Gottesschau überhaupt nur mit der Seele und dem Verstand möglich ist.3 1
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Zu dem einschlägigen Material bei Lukas s. Marco Frenschkowski, Offenbarung und Epiphanie, Bd. 1. Grundlagen des spätantiken und frühchristlichen Offenbarungsglaubens, WUNT 2/79, Tübingen 1995, 359–368. Zur Rezeption von Apg 9 habe ich mich andernorts geäußert: Martin Meiser, Überwindung, Bekehrung oder Berufung – Apg 9; 22; 26 in altkirchlicher Wahrnehmung, in: Tobias Nicklas/Andreas Merkt/Joseph Verheyden (Hrsg.), Ancient Perspectives on Paul, NTOA 102, Göttingen 2013, 30–58. Zu dem diesbezüglichen Zusammenhang zwischen Philo und der griechischen Philosophie vgl. Martina Böhm, Rezeption und Funktion der Vätererzählungen bei Philo von
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Martin Meiser
Irenaeus betont, dass niemand Gottes Größe und unaussprechliche Herrlichkeit sehen werde (Ex 33,20); seiner Liebe, Menschenfreundlichkeit und Allmacht nach jedoch gesteht er denen, die ihn lieben, auch zu, ihn zu sehen. Der Mensch kann Gott nämlich nicht von sich aus sehen; wenn Gott es aber will, dann wird er für die Menschen sichtbar, wann und wie er will.4 Seiner Beschaffenheit und seinem Wesen nach ist Gott für alle von ihm geschaffenen Wesen unsichtbar, doch er ist ihnen aufgrund der Sendung seines Sohnes (Joh 1,18) nicht unbekannt.5 Dieses Konzept wird von anderen Autoren noch verfeinert werden. Tertullian differenziert gegen valentinianische Lehren mit ihrer Unterscheidung zwischen geistigen und sinnlichen Menschen nicht zwischen Seele und Verstand; er rechnet die Erkenntnis geistiger Dinge im Unterschied zu den sinnlich wahrnehmbaren körperlichen Dingen dem Intellekt zu, der aber nicht von der Seele und den sinnlichen Wahrnehmungen geschieden werden darf.6 Clemens von Alexandria hält fest, dass, wovon schon Mose überzeugt war, Gott nicht durch menschliche Weisheit erkannt werde;7 die Möglichkeit der Gotteserkenntnis sei aber durch den Sohn vermittelt.8 Origenes verteidigt biblische Texte gegen pagane Vorwürfe ihrer Minderwertigkeit mit dem Argument der Analogie: Das Vorkommen außergewöhnlicher Erscheinungen himmlischer Gestalten wird in Erzählungen griechischer Philosophen akzeptiert – warum sollte dies nicht auch bei Christen akzeptiert werden, die für ihre Lehre in den Tod zu gehen bereit sind?9
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Alexandria. Zum Zusammenhang von Kontext, Hermeneutik und Exegese im frühen Judentum, BZNW 128, Berlin/New York 2005, 212 mit Anm. 401. Für Philo vgl. quis rer. div. her. 69 f. in der allegorischen Auslegung von Gen 12,1–3: »Wenn du, also, meine Seele, irgendeinen Wunsch hast, Erbe der göttlichen Güter zu werden, so verlasse nicht nur ›dein Land‹, d. h. den Körper, und ›deine Verwandtschaft‹, d. h. die Sinnlichkeit, und ›das Haus deines Vaters‹, d. h. die Sprache, sondern entfliehe auch dir selbst, gehe aus dir heraus in bacchischer Verzückung gleich den Besessenen und den Korybanten und gotterfüllt mit prophetischer Begeisterung. Denn die Seele wird Erbe der göttlichen Güter sein, wenn sie gottbegeistert nicht mehr in sich ist, sondern von himmlischer Liebe getrieben und entflammt, von dem wahrhaft Seienden geführt und zu ihm empor getragen wird, während die Wahrheit ihr voranschreitet und jedes Hindernis hinweg räumt, damit sie auf ebenem Weg wandele« (Übers. nach Leopold Cohn u. a., Philo von Alexandria. Die Werke in deutscher Übersetzung, Bd. V, Berlin 1962, z. St.). Irenaeus, haer. IV 20,5 (FC 8/4, 160–162). Sein Schöpferwirken lässt sich erkennen, nicht jedoch seine Größe, a. a. O., IV 20,1 (FC 8/4, 154). A. a. O., IV 20,6 (FC 8/4, 164). Tertullian, an. 18,7–13 (CCSL 2, 808 f.). Clemens von Alexandria, strom. II 6,1 (GCS 52, 115). Vgl. a. a. O., V 82,3 (GCS 52, 381). Ders., paed. I 67,2 (GCS 12, 124). Vgl. ders., strom. VII 41,7 (GCS 17, 31). Origenes, c. Cels. V 57 (GCS 3, 60 f.).
Die antike Rezeption einiger Visions- und Auditionstexte
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Konventionell, aber biblisch basiert ist die Anschauung, dass der unkörperliche Gott nicht mit körperlichen Sinnen erschaut werden kann,10 und die Unterscheidung zwischen dem Sehen des sinnlich Wahrnehmbaren und dem Erkennen des sinnlich nicht Wahrnehmbaren.11 Apologetisch muss Origenes die Möglichkeit der Gottesschau im Christentum gegen Kelsos verteidigen, der ihm die wiederholt diskutierte Stelle aus Platons Timaios entgegengehalten hatte, es sei schwer, den Weltschöpfer zu finden, und unmöglich, diese Erkenntnis der breiten Masse mitzuteilen (Tim 28c). Origenes weiß, dass Mose und die Propheten gottbegeistert ἐνθέως ihre Weissagungen getätigt haben.12 Jenseits des Phänomens gottbegeisterter Ekstase betont Origenes, der Mensch sei in seinem Streben nach reiner Gotteserkenntnis der Hilfe Gottes bedürftig, der sich denen offenbart, die er seiner Erscheinung für würdig hält.13 Dass dem Menschen die geistige Gottesschau möglich ist, steht für Origenes aufgrund von Mt 5,8; Joh 14,9 fest.14 Gott wird erkannt mit Hilfe einer bestimmten göttlichen Gnade, die von oben her und verbunden mit einer gewissen Verzückung (ἐνθουσιασμός) in die Seele eindringt. Denn die Erkenntnis Gottes übersteigt die Kraft der menschlichen Natur. Durch die χρηστότης und φιλανθρωπία Gottes wird das denen zuteil, von denen Gott im Voraus erkannt hat, dass sie seiner Erscheinung (ὀφθῆναι) würdig leben.15 Dass es zu solcher Erkenntnis der Vorbereitung des Menschen bedarf, durch Loslösung von dem Irdisch-Sichtbaren, durch Askese, betont Origenes immer wieder.16 Er formuliert das alles wie Irenaeus, Tertullian und Clemens ohne Bezug auf die hier zu verhandelnden Acta-Texte;17 die Stellen 10
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Ders., princ. I 1,7 (GCS 22, 24). Auch die Schau Gottes nach Mt 5,8 ist in Wahrheit Vernunfterkenntnis, Origenes, princ. I 1,9 (GCS 22, 26 f.). Gottesschau ist geistige Schau, durch die wir in die Ähnlichkeit mit Gott umgestaltet werden, a. a. O., III 6,3 (GCS 22, 283–285). A. a. O., IV 4,3 (GCS 22, 131), mit Verweis auf Mt 11,27. Origenes, c. Cels. VII 41 (GCS 3, 192). Zum Begriff ἔνθέος bei Moses als Propheten vgl. bereits Philo, Mos. II 258. Origenes, c. Cels. VII 42 (GCS 3, 193). A. a. O., VII 43 (GCS 3, 194). A. a. O., VII 44 (GCS 3, 194 f.). Christoph Markschies, Origenes. Leben – Werk – Theologie – Wirkung, in: ders., Origenes und sein Erbe. Gesammelte Studien, TU 160, Berlin/New York 2007, 1–13, hier 11. Auch der Begriff ἔκστασις wird in Contra Celsum, wie die vier im Folgenden vorzuführenden Belege zeigen, allerdings nicht positiv in diese Erörterungen einbezogen, anders als das später bei anderen Autoren sein wird. Origenes, c. Cels. VII 3 (GCS 3, 155), zufolge stammt die behauptete ἔκστασις bei der Pythia, die sie zu Weissagungen befähigen soll, in Wahrheit von bösen Dämonen. Die ἔκστασις gilt als von den Dämonen herrührend, a. a. O., VIII 63 (GCS 3, 2). Der Name Jesu hingegen beseitigt Zerrüttung des Verstandes und Besessenheit, a. a. O., I 67 (GCS 2, 121); ähnlich a. a. O., IV 19 (GCS 2, 289).
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aus de principiis und contra Celsum sind aber insofern von Bedeutung, als sie verständlich machen, warum spätere Autoren das Visionsgeschehen bei Stephanus und Paulus nicht problematisieren, z. T. nicht einmal kommentieren: In gewissen Grenzen stand die Möglichkeit einer Gottesschau fest; aber es war klar, dass sie nur als geistige Schau gedacht werden konnte. Gregor von Nyssa deutet Apg 7,55 f. explizit anhand der bisherigen Parameter: καὶ τῆς μὲν πατρικῆς δόξης οὐδεὶς ὑπογράφεται χαρακτὴρ διὰ τοῦ λόγου, τὸ δὲ ἀπαύγασμα ἐν τῷ ὀφθέντι τοῖς ἀνθρώποις εἴδει τῷ ἀθλήτῃ καθορᾶται ὡς ἦν χηρητὸν τῇ ἀνθρωπίνῃ φύσει, οὕτως φαινόμενον.18
Später heißt es genauso deutlich: ὁ Στέφανος οὺκ ἐν τῇ ἀνθρωπίνῃ φύσει τε καὶ δυνάμει μένων τὸ θεῖον βλέπει, ἀλλὰ πρὸς τὴν τοῦ ἁγίου πνεύματος χάριν ἀνακραθεὶς δι’ ἐκείνου ὑψωθῇ πρὸς τὴν τοῦ θεοῦ κατανόησιν.19
Auch für Johannes Chrysostomus steht natürlich fest, dass Stephanus den erhöhten Herrn mit den Augen des Glaubens geschaut hat.20 Er äußert sich an anderer Stelle grundsätzlich: Τί ἐστιν ἔκστασις; Πνευματικὴ θεωρία γέγονεν αὐτῷ τοῦ σώματος, ὠς ἂν εἴποι τις, ἐξέστη ἡ ψυχή.21 Den Visionen des Stephanus und des Paulus (Apg 9) kommt, so Ps.-Makarios/Symeon, dieselbe Art der Schau des äußerlich Sichtbaren zu wie dem Pfingstgeschehen.22 Die Visionen des Paulus und des Stephanus zeigen, dass Offenbarungen an die Adresse der Gläubigen nicht nur in λογισμοῖς καὶ ἑρμενείαις erfolgen.23 Ps.-Oecumenius be18
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Gregor von Nyssa, Steph. 1 (GNO X/1, 87): »Von der Eigenart der Herrlichkeit [Gott] des Vaters wird durch das Wort nichts angedeutet; der Abglanz aber wird in der Weise, wie er den Menschen sichtbar wird, von dem Athleten [Stephanus] geschaut; wie es der menschlichen Natur begreiflich war, so erschien er« (Eigene Übersetzung). Die Bezeichnung des Stephanus als eines Athleten begegnet auch bei Augustinus, serm. 315,5 (PL 38, 1428). Die Traditionsgeschichte dieses Bildes kann hier nicht aufgearbeitet werden. Gregor von Nyssa, Steph. 1 (GNO X/1, 91): »Stephanus schaut das Göttliche nicht, indem er in der menschlichen Natur und Kraft verblieb, sondern, zu der Gnade des Heiligen Geistes hinaufgezogen, wurde er durch ihn zur Erkenntnis Gottes emporgeführt« (Eigene Übersetzung). Johannes Chrysostomus, paneg. mart. I 22,1 (PG 50, 647). Ders., in Act. hom. 22,1 (PG 60, 172). Ps.-Makarios/Symeon, serm. B V 3,2 (GCS 80). A. a. O., XVII 1,1 (GCS 188).
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tont das Motiv der ἐπὶ θαυμαστῷ ἔκπληξις, denjenigen, der zu den geistigen Dingen geführt werde, überkomme das, was außerhalb des sinnlich Wahrnehmbaren liegt (καὶ τὸ ἔξω αἰσθητῶν γενέσθαι ἐπὶ τὰ πνευματικὰ ὁδηγούμενον).24 Gelegentlich wird die Fragestellung auch in westlicher Tradition ventiliert. In seiner Auslegung zu Ps 118[119],22 spricht Ambrosius von einer Schau, die Paulus durch Offenbarung erhielt, aber mit dem Verstand sah. Die Vermittlung durch Offenbarung und die Wahrnehmung durch den Verstand sind also keine Gegensätze.25 Augustinus gibt eine Definition dessen, was die Griechen ἔκστασις nennen: id est, aversa est mens eius a consuetudine corporali at visum quemdam contemplandum, alienata a praesentibus. 26
Die Vision des Petrus ist in assumptione mentis erfolgt.27 Die Deutung der Vision des Petrus ist Sache seiner mens gewesen, aber auch diese ist von Gott beeinflusst.28 In der Frage, wie der Heilige Geist auf Menschen einwirkt, erklärt Augustinus, dass er dies nicht auf alle Menschen in derselben Weise, sondern teils durch die Frucht des Verstandes, teils durch Information in Form von Träumen oder Visionen tue; als Beispiele für letzteres führt er die Visionen Daniels (Dan 7–8) und die des Petrus nach Apg 10 an.29 Arator bringt seine Konzeptualisierung wie folgt zum Ausdruck: Lumina cordis habens caelos conspexit apertos. 30 Aufs Neue wird das Thema in späterer byzantinischer Theologie ventiliert. Johannes Kantakuzenos stellt in seiner Verteidigung der hesychiastischen Lehre klar, dass Stephanus seine Vision nicht durch die natürliche Kraft der Augen geschaut habe, sondern mit seinen leiblichen Augen, die aber verändert worden waren τὴν κρείττονα καὶ θειοτέραν ἀλλοίωσιν.31 Eine Schau der ungeschaffenen ἐνεργείαι Gottes galt ihm gegen Barlaam also als möglich.
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Ps.-Oecumenius, in Act. (PG 118, 180 C). Ambrosius, in Ps. 118 11,8 (CSEL 62, 137 f.). Augustinus, en. in Ps. 103, serm. 3,2 (CCSL 40, 1499). Ders., unit. eccl. 11/30 (CSEL 52, 269). Ders., serm. 12,4 (CCSL 41, 168). Ders., quaest. Simpl. II 1,1 (CCSL 44, 58 f.); ähnlich ders., serm. 12,4 (CCSL 41, 168). Arator, act. I 610 (CSEL 72, 49). Johannes Kantakuzenos, ep. Cant. ad Paulum V 5 (CCSG 16, 221).
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2. Die Vision des Stephanus Apg 7,55 f. Stephanus ist wegen seiner langen Strafrede, vor allem aber wegen seines Martyriums in das Gedächtnis der Kirchen eingegangen. So sind seit dem vierten Jahrhundert auch Predigten zu seinen Ehren erhalten geblieben.32 Nur gelegentlich wird implizit die Frage verhandelt, was Stephanus als Empfänger dieser Vision qualifiziert. Sie gilt für Irenaeus von Lyon als Zeichen seiner Vollkommenheit, die durch die vollständige Übereinstimmung der Lehre der Apostel und ihrer Schüler mit der Lehre der Kirche gegeben ist – diese hat er durch das Martyrium erfüllt.33 Bei Ambrosius ist es die Gerechtigkeit, die ihn zu dem standhaften Bekenntnis seiner Vision verhilft und ihn als Prototyp des für das Evangelium gewonnenen Menschen erscheinen lässt.34 Ambrosius hält in der Auslegung zu Lk 1,11 das Unplanbare der »Erscheinungen« fest, für deren Realisierung das Entscheidende ist, ob Gott es will oder nicht. Auch erschien ihm Jesus, der dem Volk nicht erschien.35 Die Reichweite der Vision wird bei Gregor von Nyssa deutlich, wenn er die Herrlichkeit Gottes und ihren Abglanz als τὸ ἐντὸς τῶν ἀδύτων (das Innere des Unzugänglichen) bezeichnet, bei Ennodius von Pavia in der Formulierung secreta lustravit poli. 36 Gesichtspunkte solcher Art sind für Johannes Chrysostomus offenbar selbstverständlich, denn er ist weniger an dem Geschehen selbst als an der Reaktion der Juden interessiert. Sie beurteilten die Worte des Stephanus »Siehe, ich sehe den Menschensohn […]« ebenso als Blasphemie wie die Worte Jesu beim Verhör vor dem hohen Rat »und ihr werdet sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der 32
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U.a. Gregor von Nyssa, Steph. 1 (GNO X/1, 75–94); Steph. 2 (GNO X/1, 97–105); Collectio Veronensis, 62v–64v (CCSL 87, 74–77); Augustinus, serm. 314–320 (PL 28, 1425–1442); serm. 323 (PL 38, 1445 f.); Caesarius von Arles, serm. 219 (CCSL 104, 866–870); Ps.-Johannes Chrysostomus, in Steph. (PG 59, 501–508). Letztgenannter Text ergibt jedoch nichts zur Erörterung der hier anstehenden Fragen. Zur Behandlung des Stephanus in altkirchlicher Literatur vgl. insgesamt François Bovon, The Dossier on Stephen, the First Martyr, in: HThR 96 (2003), 279–315; Klaus Haacker, Stephanus – verleumdet, verehrt, verkannt, BG 28, Leipzig 2014, 101–117. Irenaeus, haer. III 12,13 (FC 8/3, 154). Es fehlt bei Irenaeus wie auch sonst das Argument, dass positiven sterbenden Gestalten öfters eine Vision zugeschrieben werden kann (dazu Frenschkowski, Offenbarung Bd. 1 [s. Anm. 1], 365). Ambrosius, hex. V 6/36 (CSEL 32/1, 152), in allegorischer Auslegung von Mt 17,24–27, wo allgemein der Fisch an der Angel des Petrus mit dem Christen identifiziert wird. Eine ähnliche Identifizierung liegt vor bei Ambrosius, in Lc. expos. IV 75 (CCSL 14, 133); Hilarius von Poitiers, in Mt. comm. 17,13 (SC 258, 72–74). Ambrosius, in Lc. expos. (CCSL 14, 18); ähnlich Augustinus, serm. 317,5 (PL 38, 1437). Die Termini apparuit und visus est erscheinen bei Ambrosius als gleichbedeutend. Gregor von Nyssa, Steph. 1 (GNO X/1, 87); Ennodius von Pavia, carm. I 14 (CSEL 6, 546).
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Kraft […]«. Sie hätten ihn, wenn er gelogen hätte, als Verrückten (ὡς μαινόμενον) laufen lassen sollen.37 Beda Venerabilis bedenkt die Funktion des Geschehens für Stephanus selbst; sie soll ihm zum Trost für seine Geduld dienen. Dass Stephanus den erhöhten Herrn als »Menschensohn« anredet, soll dem Unglauben der Juden wehren, die einen Menschen gekreuzigt hatten und sich ihres Unwillens erinnern, ihn als göttlich zu benennen.38 Das Motiv der offenen Himmel veranlasst Augustinus zu einem heilsgeschichtlichen Überblick: Nach dem reuigen Schächer (Lk 23,38) sieht Stephanus den Himmel geöffnet, der nach Adams Fall geschlossen und erst durch Christus (Offb 3,7) wieder geöffnet wurde.39 Das Anliegen altkirchlicher Exegese, innerbiblische Widersprüche auszugleichen, hat sich auch im Fall von Apg 7,56 zu bewähren. Dass der Menschensohn nach Stephanus zur Rechten Gottes steht, nach Ps 110,1 und Mk 14,62 jedoch zur Rechten Gottes sitzt (Mk 14,62), bedarf des Ausgleichs. Es ist bei Tertullian in ein zeitliches Nacheinander gebracht: Erst steht Jesus, dann sitzt er.40 Aber auch für Spätere bedeutet das keinen wirklichen Widerspruch: »stehen« ist Sache des Kämpfenden und Helfers; »sitzen« ist Sache des Richters.41 Gelegentlich werden der Episode dogmatische Implikationen entnommen, wie sie für die Begründung der basalen heilsgeschichtlichen Zäsur herangezogen werden. Im vierten Jahrhundert haben Anhänger einer nicht neunizänischen Trinitätslehre der Homoousie sowie Pneumatomachen Apg 7,56 f. für ihre Zwecke
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Johannes Chrysostomus, in Act. hom. 18,1 (PG 60, 141), unter Voraussetzung der Lesart ἀνεωγμένους statt διηνοιγμένους. Zur Anklage gegen die Juden ist Apg 7,56 auch in der Collectio Veronensis (CCSL 87, 76) gewendet. Zugleich wird aus dem Wort »ich sehe die Himmel offen« geschlossen, dass das Wüten der Juden gegen ihn eigentlich umsonst sei; das Zeitliche werde ihm genommen, das Ewige werde ihm zugeteilt. Caesarius von Arles, serm. 219,1 (CCSL 104, 867): Ideo ergo pulchre divina scriptura Filium hominis ad dexteram dei Patris stare memoravit, ut ad confundendam Iudaeorum incredulitatem ille martyri osenderetur in caelo, qui a perfidis negabatur in mundo. S. a. Beda Venerabilis, expos. Act. (CCSL 121, 38). Augustinus, serm. 314,1 (PL 38, 1425). Tertullian, adv. Prax. 30,5 (CCSL 2, 1204). Er verweist auf Apg 7,56 in Abwehr des Patripassianismus: Der Sohn sitzt nach seiner Himmelfahrt zur Rechten des Vaters, nicht der Vater zur Rechten des Sohnes. Die Verbindung von Ps 109[110],1 und Apg 7,55 findet sich auch bei Hieronymus, in Hes. comm. I 1,21–26 (CCSL 75, 23). Die Aufforderung »Setze dich zu meiner Rechten« aus der Psalmstelle setzt ja voraus, dass der Angeredete zunächst nicht gesessen hat. Ambrosius, fid. III 17/137 (CSEL 78, 156); Maximus von Turin (?), serm. 40,3 (CCSL 23, 161 f.); Beda Venerabilis, expos. Act. (CCSL 121, 38); ähnlich Ps.-Oecumenius, in Act. (PG 118, 152 D–153 A).
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verwendet.42 Zugunsten einer euthychianischen Christologie, die bei Arnobius d.J. als Standpunkt der Überlegenheit Gott des Vaters über Gott den Sohn referiert wird, führt Serapion u. a. Ps 109[110],1; Apg 7,55 f.; Joh 10,29 an.43 Arnobius geht aber auf die Behandlung dieser Stellen durch Serapion nicht weiter ein, sondern wendet die Diskussion in Richtung einer Debatte über Spr 8,22.44 Ps.-Kaisaraios betont, Stephanus habe seine Vision vermittelt bekommen, ohne dass er zuvor geopfert hatte. Das ist für den Autor einer von vielen biblischen Belegen dafür, dass die Opferthora hinfällig geworden ist.45 Für exegetische Fragestellungen ziehen einige westliche Theologen Apg 7,55 heran: Dass Christus als Abglanz der göttlichen Herrlichkeit (Hebr 1,3) bezeichnet werden kann, wird, so Hieronymus, auch durch Apg 7,55 unterstützt.46 Hilarius benennt das »Sein Jesu zur Rechten des Vaters« als die von Jesus (Joh 17,5) erbetene Verherrlichung durch den Vater.47 Augustinus zufolge kann sich aufgrund von 1Kor 15,8; Apg 7,55 die Aussage Jesu Iam non videbitis me (Joh 16,10) nur darauf beziehen, dass die Jünger Jesus nicht mehr als Irdischen sehen werden. Letztlich ist auch hier das Anliegen der Widerspruchsfreiheit leitend.48 Von größerer Relevanz sind die Applikationen für die Gläubigen. Dass den Märtyrern generell der Himmel offensteht, ist durchaus von Relevanz in einer Zeit, da das Martyrium zur Realität werden konnte.49 In der Zeit nach 325 fallen die Applikationen anders aus, sind aber nach wie vor darum bemüht, die Aktualität des biblischen Wortes zu erhalten. Ambrosius ist es darum zu tun, dass die Glaubenden nach dem trachten, was im Himmel, nicht nach dem, was auf Erden ist. Von daher wird Jesu Noli me tangere (Joh 20,17) verständlich, während Stephanus den erhöhten Christus schauen darf.50 Auch für Maximus von Turin (?) hat das Geschehen für Stephanus nicht nur Bedeutung für ihn selbst. Dass er die 42
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Vgl. Gregor von Nyssa, Steph. 1 (GNO X/1, 89–91), gegen Pneumatomachen; a. a. O., 1 (GNO X/1, 91–94), gegen »Christomachen«, d. h. Anhänger einer nicht neunizänischen homoousianischen Trinitätslehre. Arnobius d.J., confl. I 11 (CCSL 25 A, 62). Auch nach Ps.-Augustinus, solut. 84 (CCSL 92, 213), wurde aus Apg 7,55 ein Argument zugunsten der Subordination des Sohnes entnommen, was der Verfasser zurückweist. Arnobius d.J., confl. I 12 (CCSL 25 A, 64). Ps.-Kaisaraios, qu. 218 (GCS 79, 205). Hieronymus, in Gal. comm. (CCSL 77 A, 201). Hilarius, trin. III 16 (CCSL 62, 88). Augustinus, in Joh. tract. 95,3 (CCSL 36, 323). Cyprian, ep. LVIII 3,1 (CCSL 3 C, 323). Ambrosius, in Lc. expos. 10,164–166 (CCSL 14, 393 f.). Doch warum durfte Thomas Jesus berühren (Joh 20,27), obwohl er noch nicht zum Glauben gekommen war? Sein Zweifel bezog sich, so Ambrosius, in Lc. expos. 10,168, nicht auf die Auferstehung des Herrn überhaupt, sondern auf deren qualitas.
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Himmel offen sieht, war ihm aufgrund seines Martyriums möglich; dass für uns der Himmel offen ist, ist möglich durch Tugend und durch die Orientierung am Apostolischen Glaubensbekenntnis.51 Selbst dem »Stehen« Jesu (im Gegensatz zu einem Vorübergehen) können mahnende Implikationen entnommen werden: Dieses »Stehen« als Sinnbild dauernder göttlicher Zuwendung wird nur dem Gerechten zuteil,52 und wie Jesus »stand« und nicht vorüberging, so sollen auch wir im Glauben feststehen.53
3. Die Vision des Petrus Apg 10,9–17 Der Text ist bei Ps.-Maximus von Turin, Chromatius von Aquileia und Caesarius von Arles Gegenstand von Predigten geworden.
3.1 Generelle Auslegungslinien Die Deutung der Vision in Apg 10,28 bestimmt im Allgemeinen auch die patristische Auslegung der Vision selbst in Richtung auf Reinigung und Integration von Nichtjuden unter Ablösung der Speisegebote.54 Ethische Nutzanwendungen sind naheliegenderweise auf die semantischen Felder »oben« und »Reinheit« fokussiert.55 51 52 53
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Maximus von Turin (?), serm. 52,3 f. (CCSL 23, 211 f.). Ambrosius, in Ps. 45,13; 61,18 (CSEL 64, 339; 389). Hieronymus, in Gal. comm. (CCSL 77 A, 147), zu Gal 5,1 (στήκετε). Augustinus, serm. 314,1 (PL 38, 1425), erfasst die semantische Opposition noch anders: Jesus fällt nicht, sondern steht, um Stephanus zu unterstützen, damit dieser nicht fällt. Vgl. z. B. Ambrosius, spir. II 10/106 (CSEL 79, 128); Augustinus, unit. eccl. 11/30 (CSEL 52, 269); Quodvultdeus, prom. III 17 (CCSL 60, 166); Maximus von Turin (?), serm. 2,2 f. (CCSL 23, 7); Caesarius von Arles, serm. 136,1–3 (CCSL 104, 713–715); Prosper von Aquitanien, in Ps. (CCSL 68 A, 21), zu den Worten Potabunt omnes bestiae silvae (Ps 103[104],11). Bei Faustus von Riez, spir. II 11 (CSEL 21, 121), gelten Apg 7,55 und Apg 10,34 als Beweis für die Heilige Dreieinigkeit in Antithese zu subordinatorischen Vorstellungen u. a. der pneumatomachen. Ambrosius, spir. II 10/106 (CSEL 79, 128), deutet die Worte Quod deus mundavit, tu commune ne dixeris (Apg 10,15) auf die durch den Heiligen Geist gewirkte Reinigung der Heiden; Petrus sei vom Heiligen Geist geschickt worden und habe auch nicht einen weiteren Befehl Gottes des Vaters abgewartet, sondern die Gnade des Geistes bezeugt und gesagt: Si ergo eandem gratiam illis concessit deus sicut et nobis, ego quis eram prohibere deum? (Apg 11,17). Zum Erweis der Gottheit des Geistes ist dies bei Ambrosius gesagt. Ähnlich wird Apg 7,55 bei Ambrosius, fid. III 17/138 (CSEL 78, 157), ausgewertet.
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3.2 Einzelmotive 3.2.1 Der Gang auf das Dach und die sechste Stunde (Apg 10,9) Gerade bei der Betrachtung dieses Motivs muss man sich das Anliegen altkirchlicher Exegeten vor Augen halten, auch einem auf den ersten Blick trivialen Detail eine Aussage zu entnehmen, die für das Leben der Gläubigen von Nutzen ist. Naheliegenderweise steht der Gang auf das Dach nicht nur für den äußerlichen Vorgang, sondern auch für den inneren Aufstieg zu Höherem.56 Ambrosius von Mailand entnimmt in der übertragenen Auslegung von Lk 17,31 dem Aufstieg des Petrus die Mahnung, nicht durch die Sehnsucht des Leibes die praeclara mentis studia zu verlassen.57 Chromatius antwortet auf die Frage, ob Petrus nicht auch in seinem Haus hätte beten können, ebenfalls mit dem Gedanken, der Glaube des Petrus habe das, »was droben ist«, gesucht.58 Dass Petrus diese Vision hatte, als er sich zum Beten nach oben begab, entspricht der Erfahrung jedes Heiligen, der das Niedrige, Irdische verlässt und verstandesmäßig in höhere Regionen erhoben und in seinem heiligen Denken zum Nachbarn des Himmels wird.59 Die »sechste Stunde« wird schon früh als zweite der privaten Gebetszeiten am Tag empfohlen,60 aber auch mit der Stunde der Kreuzigung in Zusammenhang gebracht.61 3.2.2 Der Hunger des Petrus (Apg 10,10a) Der Hunger des Petrus wird im Allgemeinen als geistlicher Hunger nach der Rettung der Menschen gedeutet, wie Chromatius formuliert: salus credentium esca sanctorum est. 62 Ps.-Maximus betont am Geburtstag der beiden großen Apostel Petrus und Paulus die Notwendigkeit geistlicher Speise, wie sie auch 56 57 58
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Origenes, in Lev. hom. 7,4 (SC 286, 332). Ambrosius, in Lc. expos. 8,42 (CCSL 14, 312). Chromatius von Aquileia, serm. 3,5 (CCSL 9 A, 15), mit Verweis auf Phil 3,20 (»Unsere Heimat aber ist im Himmel […]«) und Mt 24,17 parr. Lk 17,31 (»wer auf dem Dach ist, der steige nicht hernieder […]«). Maximus von Turin (?), serm. 2,2 (CCSL 23, 7): quia omnis sanctus quando orat reliquens humilia uel terrena in altum mentis extollitur in sublime sensus rapitur et cogitatione sancta caelo vicinus efficitur. Tertullian, ieiun. 10,2 (CCSL 2, 1267); Origenes, orat. 12,2 (GCS 3, 325). Für das spätere Mönchtum werden die Gebetszeiten ebenfalls biblisch begründet, u. a. mit Hilfe von Apg 10,9; vgl. Basilius, reg. fusius tract. 37,4 (PG 31, 1015 A); Cassian, inst. 3,3 (CSEL 17, 35–37). Arator, act. I 914 f. (CSEL 72, 67). Chromatius von Aquileia, serm. 3,6 (CCSL 9 A, 15). Dieser Auslegungslinie fügt sich auch die Zeitangabe der »sechsten Stunde« ein: Es ist die Stunde der Kreuzigung des Herrn, durch den die Apostel nach der Rettung der Menschen zu hungern begannen, ebd.
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Petrus ersehnt habe. Dass Petrus nach dem Beten irdischen Hunger gehabt haben soll, sei unwahrscheinlich, da das Gebet doch den Hunger vertreibe – den Apostel habe nicht körperlicher Hunger, sondern geistlicher Hunger nach Rettung des jüdischen Volkes geleitet.63 Die Himmelsstimme wird seinen geistlichen Hunger auf alle Heiden ausweiten; der centurio Cornelius wird als das erste Lebewesen aus den Heiden für Gott geopfert werden.64 Das derzeitige Herzuströmen der heidnischen Massen zur Kirche ist Anlass zur Freude. Insofern sind die, deren Geburtstag wir feiern, nicht tot, sondern lebendig; der eigentliche Tod ist der Tod der Sünde.65 3.2.3 Die Vision (Apg 10,10b) Das Geschehen, in Apg 10,10 als ἔκστασις bezeichnet und mit θεωρέω (Apg 10,11) beschrieben, gilt bei Origenes als ὅραμα (der Begriff erscheint schon in Apg 10,17), dessen Eigenart hier nicht diskutiert wird.66 Gelegentlich wird aber doch nach der Notwendigkeit dieses besonderen Geschehens gefragt. Irenaeus betont, Petrus habe Respekt vor dem ersten Bund gehabt, sodass er nicht zu den Nichtjuden gegangen wäre, wenn es ihm die Vision nicht befohlen hätte.67 Johannes Chrysostomus gibt zwei Antworten: Dem zweifelnden Petrus überkam die Himmelsstimme, wie dem verwirrten Joseph ein Engel zu Hilfe kam (Mt 1,20).68 Außerdem erfolgte diese Vision um derer willen, denen Petrus später predigen sollte. Denn der irdische Jesus hatte ja gesagt: »Geht nicht auf die Straßen der Heiden« (Mt 10,5 f.).69 Das klassische Anliegen antiker christlicher Schriftauslegung, der Ausgleich zwischen einander widerstreitenden Bibelstellen, ist also auch hier präsent. Caesarius von Arles gibt eine historisch durchaus plausible Erklärung: Petrus hatte Zweifel, das Evangelium auch den Heiden weiterzugeben, weil diejenigen, die aus der Beschneidung waren, es den Aposteln verboten hatten, den christlichen Glauben den Unbeschnittenen zu überbringen. Die Vision überwand den Zweifel, und der Heilige Geist sandte Petrus zu Cornelius.70
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Maximus von Turin (?), serm. 2,2 (CCSL 23, 6 f.). A. a. O., serm. 2,2 (CCSL 23, 7): Tu in Iudaeos solos esuris; ecce famen fidei tuae cunctarum gentium diversitate reficio. Durch die Verschiedenheit der in dem Gefäß gesammelten Tiere werde die Verschiedenheit der Völker in der einen Kirche sichtbar. A. a. O., serm. 2,3 (CCSL 23, 7 f.). Origenes, in Mt. frg. 137 II (GCS 41, 69). Irenaeus, haer. III 12,15 (FC 8/3, 160). Johannes Chrysostomus, in Act. hom. 22,2 (PG 60, 173); Ps.-Oecumenius, in Act. (PG 118, 181 C). Johannes Chrysostomus, in Act. hom. 22,3 (PG 60, 174). Caesarius von Arles, serm. 136 (CCSL 104, 715).
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3.2.4 Das Tuch mit den vier Ecken (Apg 10,11) Die vier Ecken können auf die vier Weltelemente,71 die vier Weltgegenden72 oder die vier Evangelien73 bezogen werden, das dreimalige Hinaufziehen auf die Abfolge von praktischer, physikalischer und theologischer Philosophie74 oder auf die Heilige Dreieinigkeit75. Bei Chromatius wird gar das Herabkommen des himmlischen Jerusalem (Offb 21,1) zum Vergleich herangezogen.76 3.2.5 Reine und unreine Tiere (Apg 10,12) Neben dem wörtlichen Verständnis, das, dem Kontext entsprechend, auch in altkirchlicher Exegese die Abrogation der Speisegesetze für die aus Juden und Heiden gemischte Kirche bedeutet,77 findet sich auch bald die übertragene Deutung, z. B. auf die Verschiedenheit der jeweiligen sittlichen Veranlagungen der Menschen bezogen.78 3.2.6 »Schlachte« (Apg 10,13) Der Imperativ macta kann auf die Taufe gedeutet werden.79 Deutet man die Vision geistlich auf den Einbezug der Heiden, muss die Aufforderung occide gerechtfertigt werden, z. B. als Überwindung all des Gottwidrigen der zu missionierenden bisherigen Nichtchristen in ihrem bisherigen Leben.80 Die Integration von 71 72
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Maximus Confessor, qu. Thal. 27 (CCSG 7, 195); ders., qu. Dub. 116 (CCSG 10, 85). Augustinus, unit. eccl. 11/30 (CSEL 52, 269); Caesarius von Arles, serm. 136,2 (CCSL 104, 714), mit Bezug auf Mt 24,31; Arator, act. I 904–906 (CSEL 72, 67). Origenes, in Gen. hom. 2,5 (SC 7bis, 106); Maximus Confessor, qu. Dub. 116 (CCSG 10, 85). Ders., qu. Thal. 27 (CCSG 7, 195). Origenes, in Lev. hom. 7,4 (SC 286, 332); Caesarius von Arles, serm. 136,4 (CCSL 104, 715); Arator, act. I 916–930 (CSEL 72, 67). Chromatius von Aquileia, serm. 3,6 (CCSL 9 A, 15 f.). Clemens von Alexandria, paed. II 16,3 (GCS 12, 195); Origenes, c. Cels. II 2 (GCS 2, 129); c. Cels. V 49 (GCS 53). Origenes beantwortet auch die Frage eines fiktiven (u. U. christentumskritischen) Gesprächspartners, ob auch Fische metaphorisch für Menschen stehen können, mit Verweis auf Mt 13,47 f., Origenes, in Lev. hom. 7,5 (SC 286, 334– 336). Ders., orat. 27,12 (GCS 3, 371). Didymus, Frgm. Act. (PG 39, 1676 B–D), betont die Willensfreiheit, aufgrund derer die Konversion überhaupt möglich sei. Ps.-Oecumenius, in Act. (PG 118, 181 B). Augustinus, en. in Ps. 3,7 (CCSL 38, 10); en. in Ps. 13,4 (CCSL 38, 86 f.) (als Auslegung von Ps 13,3b: sepulcrum patens est guttor eorum); en. in Ps. 73,16 (CCSL 39, 1015), u. ö.; Caesarius von Arles, serm. 136,1 (CCSL 104, 713); Maximus Confessor, qu. Dub. 116 (CCSG 10, 85); Prosper von Aquitanien, in Ps. 103 (CCSL 68 A, 21); Beda Venerabilis, expos. Act. (CCSL 121, 51); ders., in Gen. II 9,3 (CCSL 118 A, 132); ders., in Cantica II 4,1–2 (CCSL 119 B, 245 f.), in allegorischer Deutung der »Zähne« (Hld 4,2) auf die Kirche.
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Nichtjuden in die Kirche ist auch die geistliche Auslegung des Bundes Gottes mit den Tieren (Hos 2,19) und der Vorstellung der Wiederkehr des Paradieses nach Jes 11,6 f.81 Die Stelle kann aber auch als Ausdruck der Überwindung der Sünde bei den Gläubigen gedeutet werden.82 Beda Venerabilis bemerkt, dass die lateinische Übersetzung occide für θῦσον ungenau ist. Gerade dass er auch Unreines opfern soll, mache den notwendigen Abschied von den alttestamentlichen Reinheitsvorschriften deutlich.83 3.2.7 »Iss« (Apg 10,13) Apg 10,10–15 und Mt 15,11 sowie Gen 1,29; 9,3 beweisen für Clemens von Alexandria, dass der Gebrauch der Speisen ein ἀδιάφορον ist.84 Verecundus von Junca deutet das »Essen« darauf, dass Petrus nicht seinen eigenen leiblichen Hunger stillen, sondern, indem er mit dem Volk aß, dieses intellectualiter bekehren wollte.85 Chromatius von Aquileia hat offenbar recht wenig Zutrauen zur Fassungskraft seiner Predigthörer, denn er muss den Text eigens gegen Missverständnisse sichern. Ein wörtliches Verständnis des »Essens« wäre, so der Prediger, töricht – Petrus hatte zur Zeit des Gebetes ja wohl kaum ein Schwert für das Schlachten der Tiere bei sich! In Wahrheit hätte Petrus ein göttliches Schwert bei sich gehabt, den Heiligen Geist, der die fleischlichen Begierden abtötet, damit »wir« der Welt abstürben und für Gott lebten.86 Für Cassiodor ist Apg 10,13 die übertragene Auslegung zu Ps 58[59],16 (Ipsi dispergentur ad manducandum) – Cassiodors Deutung bezieht sich nur auf das manducandum und nimmt es positiv auf im Sinne der Annahme wahrer Lehre.87 Petrus repräsentiere die Kirche, die der Leib Christi ist; darum sei diese übertragene Deutung des Essens möglich.88
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Hieronymus, in Hos. comm. I 2,18 [sic!] (CCSL 76, 29 f.). Augustinus, serm. 4,19 (CCSL 41, 34); Beda Venerabilis, in 1Sam IV 27,11 (CCSL 119, 252). Ders., retr. Act. (CCSL 121, 140 f.). Clemens von Alexandria, paed. II 16,2 (GCS 12, 165); später ebenso Origenes, c. Cels. V 49 (GCS 3, 53); Petrus Chrysologus, serm. 163,3 (CCSL 24 B, 1006). Clemens hält hingegen Götzenopferfleisch aufgrund von Apg 15,21 für verboten, ders., strom. IV 97,3 (GCS 52, 291). Verecundus von Junca, in cant. (CCSL 93, 142), in der Auslegung von Hab 3,14 (Adaperiant ora sua sicut pauper edens in occulto). Chromatius von Aquileia, serm. 3,7 (CCSL 9 A, 16). Cassiodor, in Ps. 58,16 (CCSL 97, 528). Caesarius von Arles, serm. 136,2 (CCSL 104, 714).
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3.2.8 Der Widerspruch des Petrus (Apg 10,14) Für Origenes war der Widerspruch des Petrus Anzeichen seiner Befangenheit in dem Althergebrachten; er musste durch die göttliche Stimme erst »in alle Wahrheit eingeführt« werden.89 Weniger tendenziös spricht Arator von der Verweigerung des Petrus aus Scheu vor dem göttlichen Gesetz.90 In der Frühzeit ist die Schwellensituation dieser Epoche noch präsent. Das ändert sich in einer Zeit, da die christliche Ablehnung jüdischer wörtlicher ToraObservanz schon längst zum Allgemeingut gehört. Johannes Chrysostomus zufolge widersprach Petrus, damit man nicht sagen könne, Gott habe ihn zum Essen des Unreinen versucht, wie er Abraham bei der Opferung Isaaks versucht habe.91 Chromatius deutet den Widerspruch des Petrus als Hinweis auf den Gnadencharakter unserer Reinigung, dem wir in einem dementsprechenden Leben auch gerecht werden sollen.92 Maximus Confessor fragt danach, wie Petrus angesichts der klaren Anweisung Christi zur Heidenmission Mt 28,19 unwillig sein konnte und wie die Apostel in Jerusalem das nachmalige Verhalten des Petrus nicht billigen konnten. Er antwortet mit dem Gedanken, dass dem Apostelfürsten die Relativierung der Beschneidung nicht bewusst war – davon verlaute in Mt 28,19 nichts! –, ebenso wenig den Jerusalemer Aposteln die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Juden und Heiden nach Röm 10,12.93 3.2.9 »Was Gott rein gemacht hat« (Apg 10,15) Im Zusammenhang mit der Auslegung von Mt 15,11 (»Nicht, was in den Menschen hineingeht, macht ihn unrein«) erklärt Hieronymus commune, an der normalen Semantik des Wortes bzw. seines Äquivalentes κοινόν orientiert, mit dem Hinweis darauf, dass die Juden das, was alle anderen Menschen als Speise verwenden würden, für unrein erachteten.94 Der Zusammenhang zwischen der Aufhebung der Speisegebote und der Integration von Nichtjuden in die Gemeinde sowie die inhaltliche Analogie zwischen Mt 15,11 und Apg 10,15 wurde und wird
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Origenes, c. Cels. II 2 (GCS 2, 129), ähnlich Didymus, Frgm. Act. (PG 39, 1676 C). Arator, act. I 914 f. (CSEL 72, 67). Johannes Chrysostomus, in Act. hom. 22,2 (PG 60, 173). Chromatius von Aquileia, serm. 3,8 (CCSL 9 A, 16 f.). Maximus Confessor, qu. Thal. 27 (CCSG 7, 191). Hieronymus, in Mt. comm. (CCSL 77, 128 f.); ohne Bezug auf die jüdischen Speisegebote auch Origenes, in Lev. hom. 5,12 (SC 286, 264). Anders Ambrosiaster, quaest. test. 9 (CSEL 50, 33), der den scheinbaren Widerspruch zwischen Gen 1,31 und Gen 6,19 nicht mit dem Gedanken der zeitlichen Befristung der Reinheitshalacha ausgleicht, sondern mit dem Hinweis darauf, dass »unrein« manchmal nur das weniger Gute, Schöne im Gegensatz zum Besseren und Schönen, manchmal wirklich das zur Sünde Gehörige bezeichne.
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auch von anderen Autoren betont.95 Wiederholt ist der Begriff »Kirche« hier von Belang, in dem altkirchliche Exegeten ihre eigene Kirche als »Weltkirche«96 erfahren: Petrus hat das Geheimnis der zu sammelnden Kirche geschaut, dass er die Heiden nicht als unrein verurteilen soll, die doch der Glaube von Berührung mit Unreinheit reinigen könne.97 Die Einführung eines Zitates der Stelle bei Beda Venerabilis (Respondit dominus mittendis ad docendas gentes apostolis) zeigt, dass Apg 10,15 als generelles Plädoyer für die Mission unter Nichtjuden verstanden wurde.98 Allerdings kann der Äußerung der Himmelsstimme auch eine Mahnung entnommen werden: Apg 10,15 wird bei Origenes zu einem ethischen Appell, die Reinheit der Taufe zu bewahren.99
4. Der Traum des Paulus Apg 18,9 f. Neben den vom Text her naheliegenden Auslegungen als Mahnung zur Beständigkeit und Beistandszusage100 gibt die Stelle durchaus Anlass zu exegetischen Fragen. Der bei Makarios Magnes genannte anonyme Christentumskritiker stellt einen Widerspruch fest zwischen Christi Zusage an Paulus (»Fürchte dich nicht, sondern rede und schweige nicht! Denn ich bin mit dir, und niemand soll sich unterstehen, dir zu schaden«, Apg 18,9 f.) sowie der Aussage, dass wir »Engel richten werden« (1Kor 6,2) und seinem Martyrium. Der Ausspruch 1Kor 6,2 beweise die fehlende Weisheit dieses Mannes, das Martyriumsgeschehen aber sei der Gesinnung eines Gottes insgesamt nicht würdig.101 In seiner Antwort verweist Makarios Magnes darauf, dass Paulus wie Petrus erst nach fruchtbarer Arbeit das Martyrium erlitten hätten und auch ihr Martyrium wegweisend
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Methodius, cib. 6,4 (GCS 433 f.). Auf die inhaltliche Analogie zwischen Mt 15,11 und Apg 10,15 verweist bereits Clemens von Alexandria, paed. II 16,3 (GCS 12, 195). Bei Ambrosius, in Lc. expos. 10,137 (CCSL 14, 385), heißt es von der Kirche quae diversitatem populorum fidei suae communione sociavit. A. a. O., 8,42 (CCSL 14, 312). Beda Venerabilis, in 1Sam III 21,5 (CCSL 119, 195). Origenes, in Ex. hom. 11,7 (SC 321, 350). Arator, act. II 516–518 (CSEL 72, 106). Für Ambrosiaster, comm. in 2 Cor. (CSEL 81/2, 277), begründet Apg 18,9 f. die Verkündigungstätigkeit des Paulus in Korinth, wie sie auch in 2Kor 10,13 bezeugt sei. Der Charakter dieser Mitteilung als eines Traumes ist in der Exegese faktisch nicht bedacht worden; biblische Traumkritik wirkt ebenfalls nicht ein – das ist aber bei der Literaturgattung »Kommentar« nicht wirklich zu erwarten. Makarios Magnes, apocrit. IV 4,1.3 (TU 169, 320).
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wurde;102 zuvor habe sie Christus beschützt.103 Dass sich Petrus und Paulus dem Martyrium unterzogen hätten, sei ein Argument gegen die Behauptung, Christus habe seine Jünger durch Schmeichelei gewonnen, und im Leiden würde die Christusbeziehung aufgekündigt werden.104 Dieser inkriminierte Widerspruch wird, wenn ich nichts übersehen habe, in der christlichen exegetischen Literatur nicht aufgegriffen. Johannes Chrysostomus hat allerdings durchaus einen vergleichbaren innerbiblischen Widerspruch vor Augen, wenn er fragt, wie sich die Aussage Christi in der Vision mit dem folgenden Geschehen in Korinth verträgt. Der Ausgleich, so der Prediger, besteht darin, dass die Ungläubigen ihm nicht weiter schaden konnten, sondern ihn lediglich vor den Statthalter Gallio schleppten.105 In der Auslegung von Röm 1,13 betont Ambrosiaster, Paulus sei nicht aus Untätigkeit bisher verhindert gewesen, nach Rom zu kommen, sondern habe sich stets nach höherer Weisung gerichtet, wie das Nebeneinander von Apg 16,7 f. und Apg 18,9 zeige.106 Apg 18,9 begründet, wie Paulus zu der Aussage »Habe ich nicht unseren Herrn Jesus gesehen« (1Kor 9,1) kommen kann. 1Kor 9,1 wird also nicht auf das Berufungsgeschehen bezogen (vermutlich deshalb, weil in Gal 1,15 f. keine Form von ὁράω verwendet wird). Für Ps.-Oecumenius macht es keinen Unterschied, ob Paulus den erhöhten Herrn im Traum oder im Wachzustand gesehen hat.107 Bei Beda Venerabilis wird in keinem seiner Werke Apg 18,9 f. überhaupt kommentiert. So fraglos wahr war ihm diese Aussage und keiner Erklärung bedürftig.
5. Die Vision des Paulus Apg 22,17–21 Die Stelle wird in antiker Exegese recht selten einer Auslegung gewürdigt. Wenn man von einer generellen Auslegungslinie überhaupt sprechen kann, dann zeigt sich: Apg 22,21 fasst allgemein den Auftrag zur Heidenmission in Worte, der an Paulus ergangen war.108 Dass Paulus in dieser Situation seine Zuhörer nicht zu überzeugen vermochte, ist, so Johannes Chrysostomus, kein Widerspruch zu der Aussage »er
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A. a. O., IV 14,2.5 (TU 169, 358). A. a. O., IV 14,8 (TU 169, 360). A. a. O., IV 14,17 (TU 169, 362). Johannes Chrysostomus, in Act. hom. 39,1 (PG 60, 277). Ambrosiaster, comm. in Rom. (prol.) I 13,3 (CSEL 81/1, 30). Ps.-Oecumenius, in Act. (PG 118, 244 B). Ambrosiaster, comm. in Eph. 3,1 (CSEL 81/3, 86 f.).
Die antike Rezeption einiger Visions- und Auditionstexte
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wird meinen Namen tragen vor Völker und Könige und vor die Söhne Israels« (Apg 9,15) – es heiße »tragen« im Sinne von »bekennen«, nicht »überzeugen«.109 Ps.-Oecumenius von Trikka kommentiert ausführlich die schon in antiker Christentumskritik erörterte Frage, wie Paulus von sich behaupten könne, er sei ein Bürger von Tarsus, und zugleich auf sein römisches Bürgerrecht verweisen kann,110 nimmt aber zu der uns interessierenden Frage keine Stellung. Beda Venerabilis macht in seiner retractatio in Acta Apostolorum zu Apg 22,17 auf die Übersetzungsvarianten stupor, excessus, pavor und alienatio zu ἔκστασις aufmerksam: diverse enim interpretatur Latine quod Graece ἔκστασις dicitur. Er kommentiert lediglich die letztere Übersetzungsvariante: Alienata est autem mens orantium apostolorum sed ab infimis ad superna, non ut deviaret set ut videret. 111
6. Schluss Einige summierende Beobachtungen mögen diese Studie beschließen. 1. Bezüglich der geringen Rezeptionsdichte von Apg 18,9 f. und Apg 22,17– 21 ist darauf zu verweisen, dass generell die hinteren Kapitel der Apostelgeschichte weitaus weniger rezipiert werden als die vorderen – ein Blick in die Indices der kritischen Ausgaben führt das schnell vor Augen. 2. In der Apostelgeschichte bekommen nur positiv gezeichnete Figuren Visionen. Da, wo eine biblische Figur nicht eindeutig positiv gezeichnet ist, kann gelegentlich durchaus gefragt werden, wie sie eines solchen Geschehens würdig sein konnte.112 3. Am Geschehenscharakter hielten die Autoren fest; gefragt wird nach dem Sinn der Aussage, aber gelegentlich auch nach der Verallgemeinerungsfähigkeit mindestens einer übertragenen Deutung. Dass das Visionsgeschehen nicht stärker phänomenologisch befragt wird, hängt einerseits daran, dass in altkirchlichen Kommentaren sich Ausführungen solcher Art generell finden lassen, andererseits auch an dem u. a. durch Lukas begangenen Weg der Verobjektivierung der revelatorischen Vorgänge in Begrifflichkeit wie topischer Darstellung.113
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Johannes Chrysostomus, in Act. hom. 48,1 (PG 60, 333). Ps.-Oecumenius, in Act. (PG 118, 269 D–273 C). Beda Venerabilis, expos. Act. (CCSL 121, 159). Johannes Chrysostomus, in Gen. hom. 44,3 (PG 54, 475 f.), zu Jakobs Vision von der Himmelsleiter. Frenschkowski, Offenbarung Bd. 1 (s. Anm. 1), 364.
Inklusion der Fremden und fremder Gedanken in der Apostelgeschichte Identita¨tsvera¨nderungen in der fru¨hchristlichen Gemeinde durch die erfolgreiche Heidenmission Peter Wick
1. Die Hebra¨ische Bibel als hermeneutische Basis der Apostelgeschichte Die Apostelgeschichte erzählt die Geschichte der Apostel von der Himmelfahrt Jesu an. Der Autor wählt als narrative Strategie, um die Ausbreitung des Christentums »bis ans Ende der Erde« (Apg 1,8) darzustellen, eine Fokussierung auf immer weniger Hauptakteure. Während zuerst die ganze Gruppe der Apostel und der Jesusanhänger (vgl. Apg 1,14 f.) und die sich seit Pfingsten entwickelnde Jerusalemer Gemeinde im Zentrum dieses Berichtes stehen, liegt der Fokus danach auf vier Schlüsselpersonen für die Ausbreitung der Jesusbewegung: Stephanus (Apg 7), Philippus (Apg 8), Saulus1 (Apg 9) und Petrus (Apg 10–11,18). Daraufhin wird die Erzählung immer mehr auf Saulus/Paulus ausgerichtet. Am Ende hält dieser sich als Gefangener zwei Jahre in Rom auf und verkündigt dort frei das Evangelium. Der Leser kann erkennen, dass dieses sich im selbst erklärten Zentrum der damaligen Welt festgesetzt hat und es so nur noch eine Frage der Zeit ist, bis es das Ende der Erde erreichen wird (Apg 28). Der grundlegende Interpretationsrahmen dieser dynamischen Bewegung bleibt die Hebräische Bibel und so die jüdische Verwurzelung und Identität der Jesusbewegung, die gerade auch durch die Aufnahme nichtjüdischer Gottesfürchtiger und Heiden nicht prinzipiell aufgegeben wird. An Pfingsten legt Petrus in seiner Predigt die Pfingstereignisse anhand der Schrift aus (Apg 2,14–36). Pfingsten kommt erst, nachdem die Jünger mit der Wahl des Matthias die ganze Schrift erfüllt haben (Apg 1,15–24). Paulus bringt am Jerusalemer Tempel noch Opfer dar, nachdem er seine Gemeinden gegründet hat (Apg 24,17). Die Heiden müssen als Jesusanhänger zwar nicht jüdisch leben, sich nicht beschneiden
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Saulus wird erst ab dem 13. Kapitel Paulus genannt.
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lassen und die Speisegebote nicht halten, aber dennoch müssen sie vier grundlegende Weisungen der Tora halten (Apg 15,29).2 Der jüdischen Identität dieser Bewegung entspricht die Hebräische Bibel als hermeneutische Basis dieser Ausbreitungserzählung. Bis zum Schluss wird immer wieder hervorgehoben, dass durch das Wirken der Apostel die Schrift erfüllt wird (vgl. Apg 28,25–28). Diese Bewegung breitet sich äußerst erfolgreich im paganen Umfeld aus. Die Herausforderungen der Integration der Nichtjuden in diese Bewegung zeigt sich nicht nur an den zahlreichen Problemen, die die Mission von Nichtjuden mit sich brachte, sondern auch an den vielen inhaltlichen Inklusionen nichtjüdischer Vorstellungen, die die »Penetration« dieser jüdischen Messiasbewegung in das Umfeld hellenistischer Kultur und Religiosität mit sich brachte. Die Apostelgeschichte stellt die Mission als relationales Geschehen dar, indem nicht nur die Apostel und die Missionare den Nichtjuden das Evangelium brachten, sondern auch die potentiellen Empfänger auf jene und ihre Botschaft zurückwirkten. Dies zeigt sich an zahlreichen Geschichten. Einige seien hier kurz genannt. Paulus und Barnabas verkündigten in Lystra das Evangelium. Paulus heilte einen Gelähmten. Über die Reaktion des Volkes verloren die beiden vollständig die Kontrolle. Denn das Volk nahm die Botschaft weder an noch lehnte es sie ab, sondern erkannte in ihnen Hermes und Zeus und wollte ihnen opfern (Apg 14,8–18). In Philippi reagierte eine Magd mit einem Wahrsagegeist so stark auf sie, dass Paulus sich dieser Belästigung nur noch durch einen Exorzismus zu erwehren wusste. Da dieser ohne Absprache mit den Besitzern erfolgte, ließen die obersten Beamten (στρατηγοί) Paulus und Silas gefangen nehmen und schlagen (Apg 16,16–22). Als diese wiederum vernahmen, dass jene römische Bürger waren, ließen sie sie erschrocken frei (Apg 16,38 f.). In Kenchreä lässt Paulus sein Haupt rasieren (Apg 18,18). Dies erinnert an das Nasirat. Doch diese Rasur passt nicht zu den Angaben zum Nasirat in Num 6,5.19, welches eng an den Jerusalemer Tempel gebunden ist. In Kenchreä steht ein wichtiges Heiligtum der Göttin Isis, welche auch Schutzgöttin der Seefahrt ist (Apuleius, met. 10,35). Mancher kahlköpfige Isisanhänger wird das Stadtbild geprägt haben. Hat sich Paulus in der Symbolwelt dieser Stadt als einer präsentiert, der vom Gott der Juden Schutz für die bevorstehende Seefahrt erfleht hat? Diese Beispiele müssen genügen, um zu zeigen, dass es bei der Völkermission in der Apg immer um ein hoch relationales Geschehen geht. Nicht nur die Apostel und Missionare der Jesusbewegung »beeinflussen«, sondern gerade sie sind vielen Einflüssen ausgesetzt. Allerdings ist »Beeinflussung« gerade nicht der adäquate Begriff, denn er impliziert, dass die Empfängerseite gegenüber dem Einfluss passiv ist und dass die Geberseite durch ihr »Senden« unverändert bleibt. 2
Zum optimistischen Grundton des Endes der Apg s. Peter Pilhofer, Die frühen Christen und ihre Welt. Greifswalder Aufsätze 1996–2001, WUNT 145, Tübingen 2002, 363.
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2. Die hochdynamisch-relationale Identita¨tsentwicklung der Jesusbewegung durch ihre Missionserfolge In der Apg wirkt dieses relationale Geschehen durch seine Wechselwirkungen für beide Seiten identitätsgenerierend. Die Apg stellt die Jesusanhänger als toraobservante Juden dar. Durch die Aufnahme von Heidenchristen stellt sich die Frage, ob nun innerhalb der Gemeinde eine Mahlgemeinschaft von Juden und Heiden möglich ist. Eine solche scheint für den Verfasser zuvor unmöglich gewesen zu sein. Der dargestellte Prozess ist ebenfalls hochrelational und verändert die jüdische Identität der Jesusgruppe dynamisch: Weil Nichtjuden das Evangelium vom jüdischen Messias glaubend annehmen, müssen die jüdischen Jesusanhänger klären, ob jene nun durch die Beschneidung auch Juden werden und so gewissermaßen ihre bisherige Identität ganz aufgeben sollen. Das sogenannte Apostelkonzil in Jerusalem beschließt, dass die Glaubenden aus den Völkern sich nicht beschneiden lassen müssen. Zugleich wird ihnen – aus der Sicht der Apg – ein absolutes Minimum an Geboten abverlangt. Sie sollen auf den Verzehr von Blut und von Ersticktem, auf Götzendienst und Unzucht verzichten (Apg 15,1–29). Da es beim Verbot von Blut und Ersticktem jeweils um das Verbot des Blutgenusses geht, wird diesem Speisegebot eine besonders hohe Stellung zugewiesen. Unter dieser Voraussetzung ist Mahlgemeinschaft zwischen Juden und Nichtjuden möglich. Dies verlangt den jüdischen Jesusanhängern viel ab. Sie müssen innerhalb der Gemeinde in der Gegenwart von Nichtjuden auf die Einhaltung ihrer eigenen Speisegebote und damit auch Reinheitsvorstellungen verzichten, da solches nur in exklusiven Mahlgemeinschaften von toraobservanten Juden gegenseitig garantiert werden kann. Da aber Beschneidung und Speisegebote als »identity markers«3 für die Sicherung der eigenen Identität im damaligen Judentum grundlegend sind, kommt es um der Mahlgemeinschaft von Juden und Nichtjuden willen zu einer deutlichen Veränderung der Identität der jüdischen Jesusanhänger. Die Identität derer, von denen die Heidenmission ausgegangen ist, verändert sich aufgrund des Erfolgs von dieser einschneidend. Dieser Konflikt und das Ausmaß dieses Eingriffes in die eigene Identität werden narrativ am Beispiel des Petrus entfaltet. Erst auf mehrfache göttliche Intervention hin ist er bereit, auf Speise- und Reinheitsgebote zugunsten des Kontakts mit nichtjüdischen Gottessuchern zu verzichten (Apg 10,9–23). Diese hochdynamisch-relationale Identitätsentwicklung der Jesusbewegung durch die Völkermission scheint Teil der intendierten Strategie des Autors zu sein. Sie gehört zu seinem Plot. Er stellt die Entwicklung der Identität der ersten Gemeinden als solch ein Geschehen dar. Diese ist nicht immer von Erfolg gekrönt. 3
S. James D.G. Dunn, The New Perspective on Paul, in: Ders. (Hrsg.), The New Perspective on Paul. Collected essays, WUNT 185, Tübingen 2005, 89–110, 98–101.
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In Apg 17,22–34 entfaltet Paulus das Evangelium in Athen vor philosophisch gebildeten Zuhörern in stoischer Terminologie. Dabei wagt er es, das Evangelium mit der panentheistischen Vorstellung der Stoa zu verbinden und verzichtet sogar auf die Nennung des Namens Jesu, wahrscheinlich um erfolgreicher bei seinen Zuhörern anknüpfen zu können. Doch dieser Versuch scheitert und hat kaum Erfolg. Allein die Erwähnung der Auferstehung der Toten ist ein zu großer Anstoß für die Zuhörer. Doch der Verfasser zeichnet diesen relationalen identitätsbildenden Zug der Apostelgeschichte zutiefst in die Biographie seines Hauptakteurs Paulus ein. An seiner Person wird greifbar, dass der Verfasser intentional die erfolgreiche Ausbreitung als Bewegung der Gegenseitigkeit und als identitätsverändernden Rückkopplungsprozess für alle beschreibt. Ganz zu Beginn der ersten Missionsreise begegnet Saulus dem Prokonsul Sergius Paulus, der hören will und glaubt (Apg 13,7.12). Mitten in der Erzählung von dieser erfolgreichen missionarischen Verkündigung führt der Autor ein, dass Saulus auch Paulus heißt (Apg 13,9). Während der Sergius Paulus das Evangelium hört, ändert der Verfasser narrativ den Namen seines Helden zu dem des erfolgreich missionierten Nichtjuden. Vorher nannte er ihn nur Saulus, danach nur noch Paulus. Saulus heißt schon davor Paulus, aber der Kontakt mit diesem römischen Paulus aktiviert narrativ offensichtlich diesen römischen Namen des Saulus und drängt den hebräischen ganz in den Hintergrund.4 »Vom Saulus zum Paulus« steht in der Apg nicht für Konversion, sondern für ein identitätsveränderndes Kontaktgeschehen.
3. Das Pha¨nomen der dionysischen Elemente in der Apg Dreimal berichtet der Erzähler von der Berufung des Paulus. In Kap. 9 erzählt er selbst, in Apg 22 und 26 lässt er Paulus berichten. Diese beiden Berufungsberichte haben je unterschiedliche Adressaten, die offensichtlich auf den Inhalt des Berichts zurückwirken und diesen verändern. Im zweiten Berufungsbericht in Apg 22 verteidigt sich Paulus mit seiner Berufung vor einer aufgebrachten jüdischen Menge am Jerusalemer Tempel (Apg 21,27–38). Sein Bericht ist voller jüdischer Elemente. So hat er seine Be-
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Vgl. Ben Witherington, The Acts of the Apostles. A socio-rhetorical commentary, Grand Rapids MI 1998, 401 f., und Klaus Haacker, Die Apostelgeschichte, ThKNT 5, Stuttgart 2019, 219, der betont, dass »Lukas den Namen des Prokonsuls Sergius Paulus in V. 9 zum Anlass nimmt, den Namen Paulus als zweiten Namen des Saulus einzuführen […]«. Haacker geht im Folgenden auf weitere historisch-biographische Hypothesen zu Paulus und seinem Verhältnis zu Sergius Paulus ein.
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rufung zur Heidenmission nicht vor Damaskus gehabt, sondern am Jerusalemer Tempel selbst (Apg 22,17–21). Solche Elemente fehlen in den anderen Berichten. Adressat der dritten Schilderung ist der römische Statthalter Festus (vgl. Apg 25,13–26,3). Jesus fragt Saulus wie in den beiden anderen Berichten: »Saul, Saul, was verfolgst Du mich?« Aber nur hier wird von einem weiteren Satz berichtet: »Es wird dir schwer sein, wider den Treiberstachel auszuschlagen« (Apg 26,14; vgl. 9,4; 22,7). Der Auferstandene nimmt mit der Wendung »wider den Treiberstachel auszuschlagen« ein in der Antike verbreitetes Sprichwort auf,5 dem in der Tragödie »Die Bacchantinnen« des Euripides eine wichtige Funktion zukommt.6 König Pentheus von Theben will Dionysos weder als Gott anerkennen noch ihm die Ehre geben. Dionysos warnt Pentheus zum letzten Mal, bevor er ihn durch Wahnsinn überwältigt, mit den Worten: »Es wird dir schwer sein, wider den Treiberstachel auszuschlagen« (Euripides, Bacch. 794). Damit bietet Paulus auch dem römischen Statthalter ein ihm bekanntes Muster an, um seinen Bericht einzuordnen. Nach diesem Verstehensmuster wäre Paulus wahnsinnig gewesen beziehungsweise geworden, wenn er nicht gehorcht hätte, weil er so gegen den Sohn Gottes, ja Gott selbst gekämpft hätte. Für den Statthalter wirkt das Auftreten des Paulus und sein Bericht wie eine dionysische Raserei (Mania) im Gewand jüdischer Schriftgelehrsamkeit. Er spricht zu ihm (Apg 26,24): »Du bist wahnsinnig (μαίνῃ), Paulus, die vielen Schriften bringen dich in den Wahnsinn (εἰς μανίαν).«7 Bei jüdischen Zuhörern prägt ein deutlicher Bezug zur Heiligen Schrift, zum Tempel, zu zeitgenössischen jüdischen Gruppierungen und zu anderen jüdischen Werten die Erzählung. Bei nichtjüdischen Zuhörern wird der Bericht stärker mit dionysischen Motiven eingefärbt. Wilhelm Nestle bringt im Jahre 1900 erstmals die Apostelgeschichte in Verbindung mit Euripides und kommt zu dem Fazit: »daß ihn [d. h. den Verfasser der Apostelgeschichte] insbesondere auch der gelesenste aller griechischen Tragiker und namentlich dessen letztes Drama, die Bakchen, beeinflußte«.8 Friedrich 5
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Vor Euripides, Bacch. belegt bei Pindarus, Pyth. II 174; Aeschylus, Ag. 1624; ders., Prom. 322 f. Herleitungen aus jüdischen Quellen überzeugen nicht, s. Witherington, The Acts of the Apostles (s. Anm. 4), 743. Dazu auch ausführlich Courtney J. P. Friesen, Reading Dionysus. Euripides’ Bacchae and the cultural contestations of Greeks, Jews, Romans, and Christians, STAC 95, Tübingen 2015, 213–221. Er betont den Nachdruck, mit dem im Text darauf verwiesen wird, dass dieses griechische Sprichwort vom Auferstandenen in hebräischer Sprache gesagt worden ist. So auch Detlef Ziegler, Dionysos in der Apostelgeschichte. Eine intertextuelle Lektüre. Religion und Biographie 18, Berlin u. a. 2008, 200. Vgl. Wilhelm Nestle, Anklänge des Euripides in der Apostelgeschichte, in: Philologus 59 (1900), 46–57, 57.
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Smend, Otto Weinrich9 und andere sprachen sich für eine literarische Abhängigkeit aus. In den 1950er Jahren wird die These einer literarischen Abhängigkeit von Alfred Vögeli10 und John Hackett11 angezweifelt und wirksam verworfen. Dagegen bringen Richard Seaford 199712 sowie Detlev Dormeyer 2005 die beiden Werke wieder miteinander in Verbindung und beziehen ebenfalls die Dionysosmysterien mit ein. So kommt Dormeyer am Ende seines knappen Aufsatzes zu dem Ergebnis, dass indirekte Anspielungen auf den Dionysos-Kult gegeben seien, was ihn zu dem Schluss führt: »Er hat die religiösen Erwartungen seiner Hörer an Mysterien, sinnliche Symbolhandlungen und Erlösung plausibel aufgegriffen. Er hat […] sogar eng begrenzte Berührungen mit dem Bakchos-Kult hergestellt. Die Hörer sollen sich […] mit dem Propheten Teiresias und die hybriden Verfolger mit Pentheus identifizieren«.13
In einer 2008 erschienenen Dissertation setzt sich Detlef Ziegler vor allem in rezeptionsorientierter Perspektive intensiv mit der Frage der intertextuellen Beziehungen der beiden Werke auseinander.14 Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Bacchantinnen des Euripides als Hypotext in die Apostelgeschichte eingespielt seien, betont aber, dass es »sich hierbei [lediglich] um eine mögliche Lektüre der Apostelgeschichte«15 handele. Jan Schäfer verstärkte diese These mit einem eigenen Aufsatz.16 9
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Otto Weinrich, Religionsgeschichtliche Studien. Zweite Abhandlung. Türöffnung im Wunder-, Prodigien- und Zauberglauben der Antike, des Judentums und des Christentums, Stuttgart 1968, 178 f. Alfred Vögeli, Lukas und Euripides, in: ThZ (1953), 415–438. John Hackett, Echoes of Euripides in Acts of the Apostels?, in: IThQ (1956), 218–366, 218–227; 350–366. Er versucht in geradezu apologetischer Weise zu verhindern, »St. Luke« in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Euripides zu bringen. Als Hauptargument führt er an, dass die einfache, von der LXX geprägte Sprache sowie der Stil des lukanischen Doppelwerkes zeige, »that classical literature has influenced St. Luke only to a very superficial extent« (a. a. O., 350). Vgl. Richard Seaford, Thunder, Lightning and Earthquake in the Bacchae and the Acts of the Apostles, in: Alan B. Lloyd/Walter Burkert (Hrsg.), What is a god? Studies in the nature of Greek divinity, London 1997, 139–151. Detlev Dormeyer, Bakchos in der Apostelgeschichte, in: Raban von Haehling (Hrsg.), Griechische Mythologie und frühes Christentum, Darmstadt 2015, 153–173, 172. Vgl. Ziegler, Dionysos (s. Anm. 7). A. a. O., 211. Vgl. Jan Schäfer (heute Jan Heilmann), Zur Funktion der Dionysosmysterien in der Apostelgeschichte. Eine intertextuelle Betrachtung der Berufungs- und Befreiungserzählungen in der Apostelgeschichte und der Bakchen des Euripides, in: ThZ 66 (2010), 199–222. Diesem Aufsatz verdankt dieser Beitrag zahlreiche Hinweise und Quellen.
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Im Anschluss an Seaford, Dormeyer und Ziegler ist mit dem Ertrag von Schäfers Arbeit festzuhalten, dass es in der Apostelgeschichte ein dichtes Netz von mindestens zum Teil vom Verfasser intendierten Anspielungen auf den Dionysosmythos gibt und dass dieser mit großer Wahrscheinlichkeit dem Verfasser auch in der durch die »Bacchantinnen« des Euripides geprägten Gestalt bekannt war. Euripides dramatisiert in den »Bacchantinnen« den Mythos vom Siegeszug des nicht zum olympischen Pantheon gehörenden Dionysos. Dionysos als Sohn des höchsten Gottes Zeus zieht siegreich über die Erde. Nachdem ihn schon viele Völker verehren, kommt er nach Theben. Doch in der Stadt, in der seine irdische Mutter Semele lebte und in der er geboren wurde, stößt er auf erbitterten Widerstand. Der König Pentheus, der mit ihm verwandt ist, bekämpft ihn. Er wehrt sich gegen die dionysische Raserei. Doch sein Widerstand richtet ihn selber in Raserei zugrunde. Nach dem Siegeszug in der Fremde stößt der Gott so auf eine erbitterte Theomachie durch die Nahestehenden. Dieser Kontrast ist grundlegender Teil der Dramatik dieses Werkes. Zu den zahlreichen Parallelen der Apostelgeschichte und der »Bacchantinnen« des Euripides gehört, dass Paulus vor seiner Berufung gegen die Kirche »geschnaubt hat« (Apg 9,1). Dasselbe tut Pentheus gegen Dionysos. Wenn der Auferstandene fragt »Saul, Saul, was verfolgst Du mich?« wird Paulus als Theomache angesprochen. Er ist einer, der gegen einen Gott kämpft. Die Begriffe θεομάχος und θεομαχέω kommen in der griechischen Literatur nur sehr selten vor, aber sie werden überproportional häufig in den Bacchantinnen verwendet17 und sind vermutlich von Euripides selber geprägt worden. In Apg 5,39 finden wir die einzige Belegstelle im Neuen Testament.18 Dort rät Gamaliel im Hohen Rat, nicht mehr gegen die Apostel vorzugehen, denn wenn diese Bewegung von Gott ist, ist es unmöglich sie zu vernichten und sie würden dabei zu Theomachen werden. Der Verfasser der Apostelgeschichte lässt bemerkenswerterweise diesen angesehenen, pharisäischen Schriftgelehrten den Theomachiebegriff verwenden (θεομάχοι). In den »Bacchantinnen« kommt ein göttlicher Blitz vor, der von Dionysos gegen Pentheus, den Verfolger des neuen Kultes, gerichtet ist. Die Lichterscheinungen bei der Berufung des Paulus, die heller als die Sonne sind, stellen hier gewisse Ähnlichkeiten dar. Dreimal wird in der Apostelgeschichte auch von Befreiungswundern erzählt; jeweils in verschiedenen Zusammenhängen mit verschiedenen Beteiligten und an unterschiedlichen Orten, wobei die intertextuellen Bezüge auf die »Bacchantinnen« je nach Kontext unterschiedlich deutlich sind. Zwei Befreiungswunder (Apg 5 und 12) finden in Jerusalem statt. Dasjenige im nichtjüdischen 17 18
Unter anderem in Euripides, Bacch. 325; 635 f.; 795. Vgl. Otto Bauernfeind, Art. θεομάχος, in: ThWNT Bd. 4, 1942, 534, u. Nestle, Anklänge (s. Anm. 8), 48 f. Als einzige Stelle im biblischen Kontext: 2Makk 7,19 LXX.
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Philippi in Apg 16 erinnert besonders stark an die Befreiung des Dionysos und seiner Anhängerinnen aus dem Kerker des Pentheus. Wie Dionysos in Theben stößt Paulus in Philippi auf offenen Widerstand. Sehr deutlich werden bei Paulus und Silas die besonderen Sicherheitsmaßnahmen betont, um das Wunderbare der Befreiung deutlicher herauszustellen: Die beiden Gefangenen werden im ἐσωτέραν φυλακήν (»inneren Gefängnis«) durch den Kerkermeister mit ihren Füßen εἰς τὸ ξύλον (»im Holz«)19 gesichert (Apg 16,24). Auch in den »Bacchantinnen« wird die gute Bewachung der Bacchantinnen betont, die ebenfalls an den Füßen gefesselt sind.20 In beiden Texten spielt das Motiv der Dunkelheit eine wichtige Rolle. In Apg 16,24 wird beschrieben, dass Paulus und Silas um Mitternacht (im inneren Gefängnis!) zu Gott beten und bei Euripides werden die Orte der Gefangenschaft des Dionysos u. a. als »finstere abgeschlossene Räume« sowie als »finsteres Gefängnis« bezeichnet.21 Das hymnische Singen der DionysosAnhängerinnen22 kann mit dem hymnischen Singen (ὕμνέω) von Paulus und Silas verglichen werden (V. 25). Das Erdbeben bringt sowohl in Philippi die Fundamente des Gefängnisses ins Schwanken als auch in Theben das Haus des Pentheus.23 Des Weiteren werden sowohl im Gefängnis in Philippi als auch im Gefängnis in Theben die Fesseln der Gefangenen gelöst und die Türen durch wundersame Weise geöffnet.24 Ebenfalls gleichen sich die Reaktionen des Pentheus bzw. des Gefängniswächters. Auf die Vermutung hin, die Gefangenen seien geflohen, hetzen beide ins Haus bzw. ins dunkle Innere der Zelle und greifen – allerdings mit verschiedener Intention25 – nach ihrem Schwert.26 Vergleichbar ist
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Gemeint ist ein Gerät aus schweren Holzblöcken, in das die Füße der Gefangenen eingeschlossen wurden. Vgl. Johannes Schneider: Art. ξύλον, in: ThWNT Bd. 5 (Studienausgabe), 1990, 36–40, 38. Vgl. Euripides, Bacch. 226 f.; 447. Euripides, Bacch. 549; 611, vgl. auch 510; Seaford, Thunder (s. Anm. 12), 254, sieht im Motiv der Nacht eine Anspielung auf die Befreiung aus Ägypten (Ex 11,4; 12,29). M. E. nach wären diese Anspielungen im griechisch-hellenistischen Kontext nicht verständlich und sind eher eine Anspielung des Verfassers auf pagane Motive. Euripides, Bacch. 518–575; 589 f. Euripides, Bacch. 587 f. Vgl. Apg 16,26 mit Euripides, Bacch. 447 f. Pentheus, um gegen ein Trugbild anzukämpfen, das er für Dionysos hält (Euripides, Bacch. 625–632), und der Gefängniswächter, um sich selbst zu töten. Apg 16,27 u. Euripides, Bacch. 627 f. Ziegler beschreibt dies als »antitypologische Rollenkonstellation«. Während der thebanische König die Göttlichkeit von Dionysos nicht erkennt, nimmt der Kerkermeister den christlichen Glauben an, vgl. Ziegler, Dionysos (s. Anm. 7), 192 f.
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außerdem, dass sowohl Dionysos als auch Paulus und Silas nach ihrer Befreiung versichern, nicht zu fliehen.27
4. Der Siegeszug des Gottessohnes Der Verfasser des lukanischen Geschichtswerks berichtet vom Siegeszug des Evangeliums Jesu Christi, des Sohnes Gottes, bis nach Rom.28 Dieser Siegeszug stößt immer wieder auf erbitterten Widerstand gerade von Seiten der Nahen, zu denen der Sohn Gottes von seiner Abstammung her gehört. Doch gerade bei denen am Rande, bei den Fernen und Fremden wird er angenommen und verehrt oder doch mindestens nicht gehindert. Um eine solche Erzählstrategie dramatisch zu inszenieren, gibt es im ersten Jahrhundert n. Chr. einen bekannten Prätext beziehungsweise Hypotext, der in seinen Grundzügen als Teil der hellenistischen Kultur bei nichtjüdischen aber auch bei hellenistisch geprägten jüdischen Adressaten vorausgesetzt werden kann:29 Der Dionysosmythos, wie er von Euripides’ »Bacchantinnen« und weiteren Traditionen geprägt worden ist. Die Grundstruktur des lukanischen Geschichtswerks passt auffallend gut zu diesem Prätext. Durch die Verknüpfung des Siegeszuges des Dionysos mit dem Siegeszug Alexander des Großen nach dessen Tod prägte sich dieses Siegeszugmotiv tief in das kollektive Bewusstsein der hellenistischen Welt ein. Der Verfasser scheint seinem Text absichtlich diesen Prätext unterlegt zu haben. Die Hebräische Bibel bietet kaum Modelle und Typen für den Siegeszug Gottes in der Fremde und für eine Theomachie des Menschen gegen Gott.30 Doch das Theomachiemotiv prägt die ganze Apostelgeschichte. Schon Judas Iskarioth stirbt den Tod eines Theomachen (Apg 1). Gamaliel warnt den Hohen Rat vor dieser Gefahr. Dieses Muster wird in der Apg zu einem prägenden Element 27 28
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Euripides, Bacch. 659 u. Apg 16,28. Vgl. insg. dazu: Seaford, Thunder (s. Anm. 12), 141 f. Alfred Wikenhauser, Die Apostelgeschichte, RNT 5, Regensburg 31956, 4, betont, dass das Interesse des Verfassers der Apg vor allem auf »den gewaltigen Siegeslauf des Evangeliums durch die damals bekannte Welt« ausgerichtet ist. Selbstverständlich wird bei diesen Adressaten eine gewisse kulturelle Bildung vorauszusetzen sein, dies impliziert aber schon die schriftliche Form und die elaborierte Gestalt des lukanischen Doppelwerks. Zur Theomachie zwischen Jahwe und Dagoon von Aschdod in 1Sam 4 f., s. Othmar Keel, Warum im Jerusalemer Tempel kein anthropomorphes Kultbild gestanden haben dürfte, in: Gottfried Boehm (Hrsg.), Homo Pictor, München 2001, 244–282, 263. Zur Theomachie als Götterkampf im AT s. Hermann Spieckermann, Art. Theologie II. Altes Testament, in: TRE Bd. 33, 2002, 264–268, 266, und Reinhard Gregor Kratz/Hermann Spieckermann, Art. Schöpfer/Schöpfung II. Altes Testament, in: TRE Bd. 30, 1999, 258– 283.
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ausgebaut. Der aus den Kreisen des griechisch sprechenden Judentums stammende Stephanus stößt in Jerusalem gerade in diesen auf scharfen Widerstand (Apg 6,9). Paulus predigt auf seinen Missionsreisen in der Regel solange in den Synagogen, bis ihm der Zutritt von seinen Volksgenossen verweigert wird (z. B. Apg 14,1–6). Seine römische Gefangenschaft beginnt am Jerusalemer Tempel, wo ihn seine Volksgenossen umbringen wollen (Apg 22,22–25) und er von den Römern in Schutzhaft genommen wird (Apg 23,23 f.). Deshalb liegt es auf der Hand, dass der Verfasser der Apg den Mythos von Dionysos, der sich auf dem Siegeszug befindet und dem ausgerechnet in seiner Heimat theomachischer Widerstand geleistet wird, als Tradition und Prätext und sogar gewissermaßen als Erzählmuster verwenden kann, um seine Botschaft zu konturieren und möglichst verständlich und in pragmatischer Hinsicht wirksam zu machen. Dieser zweite Prätext interpretiert den ersten Prätext. Der pagane Prätext wird so zu einem hermeneutischen Leitfaden für den biblischen Prätext. Die Inklusion von Dionysosmythen als ein Prätext der Apostelgeschichte wird zum Teil schon im Evangelium mit vorbereitet. Die Motive der himmlischen Zeugung und der irdischen Mutter (Apg 1,35) sind Zeitgenossen, die mit Dionysosmythen vertraut sind, wohl bekannt. Dies gilt auch für das Leiden und Sterben des Sohnes Gottes. Der Mythos vom Zerreißen des Dionysoskindes durch die Titanen und der vom tragischen Tod der Mutter noch vor seiner Geburt betonen die prinzipielle Leidensfähigkeit dieses Gottes. Sogar der lukanische Aufruf zur Hinwendung zu den Armen und die Stärkung der gesellschaftlich Schwachen durch Gott verbleiben nicht ohne Assoziationsmöglichkeiten zu den »Bacchantinnen« des Euripides.31 Doch auch Siegeszug und vor allem Theomachie durch Nahestehende sind im Evangelium präsent. Der jüdische Messias und Sohn Gottes findet in seiner Heimat, in Bethlehem, dem verheißenen Ort seiner Herkunft, keine gastliche Aufnahme. In seiner Vaterstadt Nazareth trachtet man ihm nach dem Leben, sobald seine Vollmacht offenkundig wird (Lk 4,29). Die lukanischen Aussagen, dass in Jerusalem die Juden Jesus getötet haben (z. B. Apg 3,15), passen zwar nicht in die Erzählung von der Hinrichtung Jesu durch die Römer in diesem Text, aber sehr gut zum Topos, dass Dionysos gerade in der Heimat, in Theben, von seinen Verwandten abgelehnt worden ist. Das Evangelium geht zuerst zu den Nahestehenden, welche je nach erzählter Situation verschiedene Personengruppen umfassen können: Bewohner Bethlehems, Bewohner Nazareths, Bewohner Jerusalems, Juden als Volksgenossen Jesu, der Jünger und des Paulus. Erst durch deren Ablehnung gelangt es immer mehr zu den Fremden und weiter in die Fremde hinein. Wenn der mythische Siegeszug des Dionysos trotz jeglicher Theomachie auch in der Heimat 31
Vgl. Helmut Foers, Dionysos und die Stärke der Schwachen im Werk des Euripides, Tübingen 1964, 157; 163.
Inklusion der Fremden und fremder Gedanken in der Apostelgeschichte
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zum Ziele führt, so werden die Theomachien gegen den Siegeszug Jesu Christi in der Apostelgeschichte gerade zu dessen Antrieb und Beschleunigung. Die Apostelgeschichte dramatisiert diesen Prätext. Rezeption eines solchen Prätextes bedeutet zugleich auch einen kreativen Umgang damit. Dieses formal-inhaltliche Gestaltungsprinzip kann als lukanisches Missionsschema bezeichnet werden, welches für die Makrostruktur des Doppelwerkes prägend ist.
5. Fazit: Identita¨tsentwicklung durch hermeneutische Ru¨ckkopplungsprozesse Zusammenfassend kann festgehalten werden: Die Apostelgeschichte – unterstützt vom Lukasevangelium – betont, wie extrem schriftorientiert die Jesusbewegung ist. Sie empfängt vom auferstandenen Herrn den Auftrag, das Evangelium bis ans Ende der Erde zu bringen (Apg 1,8). Indem sie das tut, bringt sie das Evangelium zu den Fremden. Dadurch greift die entstehende Kirche zutiefst in die Identität von diesen ein. Ein hellenistischer Gottesfürchtiger und erst recht ein hellenistischer Polytheist verändern ihre Identität grundlegend, wenn sie anfangen, exklusiv einem jüdischen Messias anzuhängen. Die Kirche ist auf die Fremden ausgerichtet und verändert die Identität der Fremden. Doch dabei kommt es zu einem hermeneutischen Rückkopplungsprozess. Die »Heiden« sind eben nicht nur Empfänger, sondern die Empfänger wirken durch diesen Prozess zurück auf die jüdische Identität der Kirche. Judenchristen verzichten auf die Speisegebote als identitätssichernde Zeichen. Sie praktizieren enge Mahlgemeinschaft mit Nichtbeschnittenen, was ihre Identität stark verändert. Aus der Zielkultur werden religiöse Elemente inkludiert. Die Verbreitung des Evangeliums und damit der Glauben an den Sohn Gottes, der vorher unbekannt war, von Israel aus über die ganze hellenistische Welt, wird nicht mit einem jüdischen Format erzählt, sondern mit einem heidnischen beziehungsweise in Interaktion eines biblischen mit einem hellenistisch-mythischen. Das Judentum zur Zeit des Neuen Testaments war Teil des Hellenismus. Doch es gab von Seiten der Juden eine kultische, rituelle und religiöse Abgrenzung gegenüber den Nichtjuden. Diese stiftete grundlegende Identitätsmerkmale. Das Christentum löst diese Abgrenzung auf, ohne dabei polytheistisch zu werden. Dafür inkludiert es religiöse Vorstellungen der nichtjüdischen Umwelt, indem sie dieser den Glauben an den jüdischen Messias nahebringt. Dabei verändert sie nicht nur deren Identität, sondern in einem hermeneutischen Rückkopplungsprozess wird auch die eigene Identität durch die nichtjüdischen Fremden verändert.
Iron Maidens »The Number of the Beast« Eine ra¨tselhafte Zahl und die Faszination des Bo¨sen – Auslegungsvorschla¨ge zu Offb 13 im Dialog mit einer Verstehensspur Michael Labahn
1. Einleitende Bemerkungen Marco Frenschkowski ist bekannt für sein weitgefächertes Interessenspektrum, das sich ihn neben dem frühchristlichen Schrifttum, der antiken Religiosität und Philosophie auch religionswissenschaftlichen Fragestellungen sowohl auf methodisch-theoretischer als auch historischer Ebene widmen lässt.1 Weniger bekannt ist möglicherweise sein Wirken als Herausgeber und Übersetzer von fantastischer bzw. von Horror-Literatur.2 Vor diesem weiten Horizont, den Marco Frenschkowski mit beeindruckender Kompetenz abschreitet, ist es schwierig, ein spezielles Thema für einen kritischen Dialog, wie er für einen Festschriftbeitrag Sinn macht, »herauszupicken«. Um dem besonderen Charakter dieses Spektrums gerecht zu werden, widme ich mich in meinem Beitrag einem speziellen Beispiel aus der Wirkungsgeschichte der Johannesoffenbarung, um damit sein Interesse am frühchristlichen Schrifttum, an der Gegenwartsreligiosität und an der fantastischen Literatur zu verbinden. Dass im Musikgenre des Heavy-Metal3 Motive, Themen und Texte der Johannesoffenbarung eine große Rolle spielen, dürfte den Forscherinnen und Forschern bekannt sein, die sich der Wirkungsgeschichte des letzten Buches der Bibel widmen. Das Nischendasein dieser Musikform zumindest in intellektuellen
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Einen Einblick in sein Wirken bis Dezember 2018 gibt die Bibliographie: https://nt.theol. uni-leipzig.de/download/0/0/1892027411/547604f4d79fd85ccef 762f9599144fd 54147b18/fileadmin/nt.theol.uni-leipzig.de/uploads/SchriftenverzeichnisMarcoFren schkowski.pdf (Stand: 30. 11.2019). Beispielsweise zählt Marco Frenschkowski zu den Herausgebern der im Verlag ›Edition Phantasia‹ erscheinenden deutschsprachigen Gesamtausgabe der Schriften von Howard P. Lovecraft und trägt selbst Einleitungen und Kommentare bei. Zur Einführung kurz: Colin Larkin, The Virgin Encyclopedia of Heavy Rock, London 1999, 210.
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Kreisen4 führt allerdings,5 wenn ich dies recht erkenne, zu geringer Wahrnehmung bei der Analyse der Auslegungsgeschichte des letzten biblischen Buches.6 Das hedonistische Musikgenre, dessen Lyrik oftmals auf Provokation und Normenverletzung bisweilen bis an die Grenzen des guten Geschmacks setzt, scheint nicht für die Auseinandersetzung um das Fortwirken biblischer Texte geeignet – wobei zugleich vor zu pauschalen Urteilen über Texte und Musik des Genres gewarnt werden sollte. In diesem Essay wird diese Lücke an dem wohl bekanntesten und zudem eindeutig markierten Beispiel in diesem Musikgenre, Iron Maidens »Number of the Beast«, mit Hilfe eines Textvergleichs7 gefüllt werden.8 Dieser zeigt, wie eine markierte Rezeption von Offb 13 einen Prozess künstlerischer Verdichtung und Verfremdung mit Einflüssen anderer Themenbereiche darstellt, dabei zugleich Impulse für das Verstehen des biblischen Referenztextes geben kann. 4
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Einiges zu den – teilweise sachlich angemessenen – Gründen, warum konservative wie progressive Kritiker dieses Musikgenre verschmähen, beispielsweise bei Robert Walser, Running with the Devil: Power, Gender, and Madness in Heavy Metal Music, Hanover NH 1993; s. a. Deena Weinstein, Heavy Metal. The Music and Its Culture, Cambridge MA 2000; methodische Impulse zur Erforschung des Phänomens Heavy Metal bieten Florian Heesch/Anna-Katharina Höpflinger (Hrsg.), Methoden der Heavy Metal-Forschung. Interdisziplinäre Zugänge, Münster 2014. Zudem ist diese Musikform vor allem in konservativ-christlichen Kreisen suspekt, weil sie in die Nähe der Satansverehrung gerückt wird. Ein Thema, das in diesem Beitrag bestenfalls am Rande berücksichtigt wird. Den starken Einfluss der Johannesoffenbarung auf Heavy Metal betont z. B. Weinstein, Heavy Metal (s. Anm. 4), 39: »rich source of imagery for heavy metal lyrics«. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass ein Festschriftbeitrag immer nur ein begrenztes Ziel verfolgen kann; dies besteht in der Darstellung einer Textrezeption der Johannesoffenbarung und ihres möglichen Impulses für ihre Interpretation. Rezeptionen finden jedoch in speziellen kulturellen und soziologischen Räumen statt, deren Diskussion gerade im Blick auf den Rezeptionstext aus räumlichen Gründen nicht erfolgen kann; verwiesen sei auf die in Anm. 4 genannte Literatur. Diese Grenzziehung beinhaltet, dass dieser Beitrag den Songtext und seine literarisch-narrative Perspektive in den Blick nimmt, nicht aber was der Songtext als Rezeption zum Narrativ der Band und ihrer Fans beiträgt (zu dieser Fragestellung: Dominik Irtenkauf, Mythosmaschine Metal: Viel Lärm um nichts? Zur Bedeutung des Erzählens im Metal-Szenen-Diskurs aus der Sicht der Narratologie, in: Heesch/Höpflinger (Hrsg.), Methoden der Heavy Metal-Forschung (s. Anm. 4), 47–60. Eine Ausnahme stellt z. B. Michael J. Gilmore, Gods and Guitars. Seeking the Sacred in Post-1960s Popular Music, Waco TX 2009, dar, der jedoch eher kulturgeschichtlich nach der Präsenz religiöser Themen in der Popularmusik fragt. Der Fokus meines Beitrags liegt auf der Form der Textrezeption und ihrer möglichen Rückwirkung auf das exegetische Urteil.
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Zuvor einige kurze Erinnerungen zum Verständnis der Johannesoffenbarung und zur methodischen Perspektive dieses Beitrages. Rätselhafte Texte von barocker Bilderpracht,9 in denen Leserinnen und Leser eine Bedeutungstiefe erfahren – sei es in Zustimmung oder ablehnender Distanz –, hinterlassen Spuren in der menschlichen Kultur und ihrem künstlerischen Schaffen – dies kann in direkter Abhängigkeit oder in indirekten Formen der Textwirkung erfolgen. Zu solchen wirkmächtigen Texten gehört die wahrscheinlich am Ende der Herrschaft von Kaiser Domitian im Westen Kleinasiens entstandene Johannesoffenbarung. Sie ist ein Text, dessen Erzähler den Anspruch erhebt, göttliche Enthüllung der Wirklichkeit zu bieten, wie sie im Horizont des göttlichen Wirkens zu verstehen ist – eine Enthüllung, die einem Menschen, einem Propheten mit Namen Johannes, zuteil wurde und die dieser, wie er sie sah und (hörte), weitergab mit einem Anspruch auf Akzeptanz, der keinen Spielraum für Kompromisse lässt (vgl. Offb 1,1–3).10 Mit erzählten Klangwelten und mit teilweise Angst einflößenden und gewaltsamen11 Bildern, aber auch opulenten Heilsgemälden (insbesondere die Zuflucht auf dem Berg Zion [14,1–5] oder vom Neuen Jerusalem [21,1–22,5]) untermalt die Johannesoffenbarung ihre Darstellung einer Wirklichkeit, die das himmlische Wirken Gottes in den Mittelpunkt stellt und so die irdische Macht und die zeitgenössischen politisch-religiösen Sinnangebote mit ihren sozialen und kultischen Ansprüchen subversiv als überwundene Größen darstellt, deren Macht und Einfluss zwar verführerisch, aber letztlich doch nachrangig sind.12 Ihre Wirklichkeitswahrnehmung ist kritisch und ihre Sinnbildung in gewisser Hinsicht nonkonformistisch, was sie für die Rezeption eines ebenso nonkon9
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Vgl. aus der inzwischen intensiveren Diskussion um die Bilderwelt der Johannesoffenbarung und ihrer Hermeneutik z. B. Otto Böcher, Die Bildwelt der Apokalypse des Johannes, in: JBTh 13 (1998), 77–105; Knut Backhaus, Apokalyptische Bilder? Die Vernunft der Vision in der Johannes-Offenbarung, in: EvTh 64 (2004), 421–437. Michael Labahn, »Ja, Amen!«: Die Autorität der »Offenbarung« und die Antwort ihrer Empfänger. Der briefliche Rahmen der Johannesoffenbarung und seine Pragmatik als Teil eines formalen Hybrids, in: ders. (Hrsg.), Spurensuche zur Einleitung in das Neue Testament. Eine Festschrift im Dialog mit Udo Schnelle, FRLANT 271, Göttingen 2017, 395–420, 400–405. Zur Problematik der Gewalt in der Johannesoffenbarung vgl. Moisés Mayordomo, Gewalt in der Johannesoffenbarung als theologisches Problem, in: Thomas Schmeller/ Martin Ebner (Hrsg.), Die Offenbarung des Johannes. Kommunikation im Konflikt, QD 253, Freiburg i. Br. 2013, 107–136. Vgl. Michael Labahn, »Gefallen, gefallen ist Babylon die Große«. Die Johannesoffenbarung als subversive Erzählung, in: Julian Elschenbroich/Johannes de Vries (Hrsg.), Worte der Weissagung. Studien zu Septuaginta und Johannesoffenbarung, ABG 47, Leipzig 2014, 319–341.
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formistischen Musikstils prädestiniert – sieht man davon ab, dass ihre Enthüllung der Wirklichkeit auf unbedingte Akzeptanz zielt, was der Rebellion des Heavy Metals widerspricht.13 Es ist diese intensive Darstellung der Johannesoffenbarung, die Leserinnen und Lesern in Erinnerung bleibt und sich so in der Erinnerungsgeschichte des Werkes verselbständigt und zu einem beachtenswerten Beispiel biblischer Rezeptionsgeschichte wird. Dem hier beklagten Mangel an Beachtung einzelner Aspekte der Wirkungsgeschichte steht jedoch eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber, die die biblische Rezeptionsgeschichte zu Recht erhalten hat, nicht allein durch ihre exponierte Berücksichtigung im Kommentarteil des Evangelisch-Katholischen Kommentars, sondern auch in der methodischen Diskussion selbst. Idealtypisch kann dabei zwischen einer eher technisch durch Methodik bestimmten Auslegungs- oder Interpretationsgeschichte und einer Wirkungsgeschichte als enge oder offene Anknüpfung an einen (biblischen) Prätext unterschieden werden. Martin Karrer14 hat zudem darauf hingewiesen, dass sich in zahlreichen Rezeptionen vor allem der Moderne und Post-Moderne durch die Veränderung der Präsenz biblischer Texte in der weiten Öffentlichkeit die Rezeption vom Text selbst gelöst hat und so eher als eine »Gedächtnisspur« zu bestimmen ist.15 Auf den Spuren Karrers ist ein rezeptionsästhetischer Gedanke zu verfolgen, bei dem der Betrachter bzw. die Betrachterin mit eigenen Kenntnissen und Erinnerungen Wirkungsspuren vernimmt, die neue Spielarten der Wirkung eines Textes ausmachen, ohne dass sie jeweils an den Rezeptionen selbst verifizierbar sind. Rezeption wird so zu einem geradezu unendlichen Gewebe, das nicht allein durch direkte Rezeptionen, sondern durch die Erinnerungen, die Enzyklopädie, aber auch die Fantasie ihrer Rezipientinnen und Rezipienten bestimmt ist. Der folgende Vergleich fokussiert nicht auf das Gewebe der Wirkungsgeschichte, sondern untersucht anhand von Textanalyse und Textvergleich die markierte Rezeption von Offb 12 f. in einem Beispiel populärer Musik, verbunden mit der Frage, welchen Impuls Rezeptionen für das Textverständnis geben können. 13
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Auch wenn deren überzeugte Fans eine unverbrüchliche Anhängergemeinde der verehrten Gruppen bilden; hierzu z. B. Weinstein, Heavy Metal (s. Anm. 4). Martin Karrer, Ein optisches Instrument in der Hand der Leser. Wirkungsgeschichte und Auslegung der Johannesoffenbarung, in: Friedrich Wilhelm Horn/Michael Wolter (Hrsg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung. Festschrift für Otto Böcher, Neukirchen-Vluyn 2005, 402–432, 419–421; 422. Martin Karrer, Instrument (s. Anm. 14), 414; 423 f.; s.a. zum Thema Michael Labahn, Erfahrungen von Krieg und Zerstörung als Rezeptionsimpuls und die Frage nach der Möglichkeit von Hoffnung. Die Darstellung der apokalyptischen Reiter aus Offb 6 bei Frans Masereel und Basil Wolverton, in: Manfred Lang (Hrsg.), Worte und Bilder. Beiträge zur Theologie, Christlichen Archäologie und Kirchlichen Kunst. Zum Gedenken an Andrea Zimmermann, Theologie – Kultur – Hermeneutik 13, Leipzig 2011, 23–56.
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2. Iron Maidens Rezeption von Offb 13,11–18 in »The Number of the Beast« Der 1982 im gleichnamigen Album16 der Heavy-Metal-Band Iron Maiden veröffentlichte Song »The Number of the Beast« ist, wie bereits der Titel besagt, eine an den biblischen Text anschließende Textrezeption von Offb 12 f.,17 die durch Veränderung der Erzählperspektive eigenständige Verschiebungen und Akzente gegenüber dem biblischen Referenztext setzt. Der Titel und das anfängliche leicht variierte Schriftzitat markieren die Verbindung mit dem Referenztext jedoch explizit. Als Autor ist Steve Harris zu nennen; auch der noch im Rechtsstreit mit seiner alten Band liegende neue Sänger der Band Bruce Dickinson hatte bereits tragenden Einfluss.18 Allerdings ist die Frage nach den Verfassern von sekundärem Gewicht, da es bei dem Vergleich von Rezeptions- und Referenztext im Rahmen der wirkungsgeschichtlichen Analyse um den Textvergleich und seine Impulse für das Verstehen des Referenztextes gehen soll, nicht aber um die Feststellung einer (mutmaßlichen) Autorintention. Diese Überlegungen schließen die Bewertung des Vorwurfs ein, der die Band aufgrund dieses Songs in die Nähe des Satanismus rückte.19 Diese Beurteilung ist nicht Gegenstand der Untersuchung, sondern die Frage, wie der neutestamentliche Text in diesem Gebrauch gelesen, rezipiert und gedeutet wird. Betrachten wir nunmehr den in vier Elemente aufzugliedernden Rezeptionstext.
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Das Album »The Number of the Beast« gilt als künstlerischer Meilenstein in der Bandkarriere mit Bruce Dickinson als neuem Sänger der Band (seit 1981), vgl. Mick Wall, Iron Maiden: Run to the Hills, London 32004, 223. Laut der autorisierten Bandbiographie, a. a. O., 224, stammt die Inspiration zu »The Number of the Beast« aus dem Film »Damien: Omen II« (Twenty Century Fox Film Coporation 1978), einem Horrorfilm, in dem die Geschichte vom zwölfjährigen Damien, der der Antichrist sein soll, und dem erfolglosen Versuch ihn zu töten, erzählt wird. Vgl. die Bemerkungen in der Bandbiographie, https://web.archive.org/web/2014080 8052631/http://www.monstersandcritics.com/people/Iron-Maiden/biography/ (Stand: 02. 10.2019): »Dickinson at the time was still in legal difficulties with Samson’s management, and was not permitted to add his name to any of the songwriting credits. However, he was still able to lend ›creative influence‹ to many of the songs.« Vgl. die Bandbiographie, a. a. O.: »The tour’s U.S. leg was marred by controversy stemming from an American right-wing political pressure group that (wrongfully) claimed Iron Maiden was Satanic because of the new album’s title track. The band members’ attempts to deflect the criticism failed to dampen persistent accusations.«
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2.1 Einleitung: Zitat aus Offb 12,12; 13,18 Am Anfang des Liedes wird der biblische Text von Offb 12,12; 13,18 nach der Übersetzung der Revised Standard Version in getragener Sprache deklamiert,20 bevor ein druckvoller und für das Spiel der Band typischer Gitarrenriff den eigentlichen Gesangspart einführt, der auch in den jeweiligen Textbeilagen vom Zitat des biblischen Textes getrennt ist. Der zitierte Bibeltext lautet: »Woe to you, Oh Earth and Sea, for the Devil sends the beast with wrath, because he knows the time is short! […] Let him who hath understanding reckon the number of the beast for it is a human number, its number is Six hundred and sixty six.«21
Fälschlicherweise wird in beiden Nachweisen des biblischen Zitats lediglich auf »Revelations ch. xiii v. 18« als Quelle verwiesen, was entweder darüber Auskunft gibt, dass der Zielpunkt die »666« als Zahl der Bestie ist, oder zu erkennen gibt, dass das Zitat aus Offb 12,12 frei bearbeitet wurde. Offb 12,12 lautet »Wehe der Erde und dem Meer! Denn der Teufel ist herabgestiegen zu euch und hat großen Zorn – er weiß, dass er wenig Zeit hat« (οὐαὶ τὴν γῆν καὶ τὴν θάλασσαν, ὅτι κατέβη ὁ διάβολος πρὸς ὑμᾶς ἔχων θυμὸν μέγαν, εἰδὼς ὅτι ὀλίγον καιρὸν ἔχει). Anders als im bearbeiteten Eingangszitat zum Lied wirkt sich der Zorn des Teufels nach Offb 12,12 unmittelbar auf die Erde und das Meer aus, begründet durch den besonderen Druck seines zeitlich begrenzten Handelns. Die Niederlage des Satans (12,7–9), die im Himmel ausdrücklich als ein eschatologischer Sieg zum Heil der Anhängerinnen und Anhänger des Lammes gefeiert wird (12,10–12a), führt zu einem entscheidenden Leitmotiv für die Bewohnerinnen und Bewohner der Erde; sie sind dem Zorn des Satans unterworfen. Dies geschieht zunächst in Kap. 12 durch die Verfolgung der aus 12,4–6 bekannten Kindsmutter, die jedoch zweimal gerettet wird 20
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Nach Gilmore, Gods and Guitars (s. Anm. 8), 105, handelt es sich bei der Stimme um einen Vincent Price-Imitator. Vincent Price war – und dies dürfte wieder das Element unseres Jubilars sein – ein US-amerikanischer Schauspieler und Autor, beispielsweise von Kochbüchern, der sich vor allem mit Horrorfilmen einen Namen gemacht hat. Es ging bei der getragenen Einführung also bereits direkt um den im Songtext beschriebenen Schrecken, den diese Stimme somit vorwegnimmt. Ob es ein Zufall ist, dass Price in einem Radiostück mit dem Titel »The Name of the Beast« vom April 1946 (https://www.escape-suspense.com/2012/09/suspense-the-name-of-the-beast.html [Stand: 01. 10. 2019]) mitspielte? Im Textflyer der CD wird der (veränderte) Bibeltext (mit altertümlichem »hath« anstelle von »has« und der im Textabdruck übernommenen Groß- und Kleinschreibung) nicht als Einleitung des Songtextes zitiert, sondern bereits auf S. 2 geboten; dies entspricht dem LP-Cover, auf dem der Bibeltext auf der Rückseite zitiert wird, nicht jedoch dem der LP beigefügten Textblatt.
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(12,13 f. und 12,15 f.). Beide Episoden sind dem Auftreten der beiden Bestien aus dem Meer (13,1–10) und vom Land (13,11–18) voraus. Ob diese beiden Szenen separat gelesen werden müssen oder 12,13–16 als eine biblisch-mythologische Vorwegnahme der in 13,1–18 und 14,1–20 erzählten Wirklichkeitskonstruktion aus Bedrohung und Bewährung und dem versprochenen Heil samt Verurteilung der Gegner zu verstehen ist, wird eher im Sinne der letztgenannten Option zu entscheiden sein.
Der in der Einleitung zum Song vorgetragene Bibeltext überspringt den biblischmythologisch gestalteten22 Abschnitt von der Verfolgung der Frau durch den Drachen/Satan und zeigt bereits an, dass der biblische Text eher Inspiration denn eine enge Vorlage ist. Der Zorn des Drachens und seine Nachstellungen in Kap. 12 spielen somit keine eigene Rolle; für den Song konkretisiert sich der Zorn des Satans – wenn man so will entsprechend dem Gesamtduktus von 12,12–18 – in der Sendung der Bestie, während die apokalyptische Erzählung eine biblischmythologische Fundierung, die in der Zusicherung von Gottes rettendem Mitsein in den Nachstellungen ihre Pragmatik hat, als theologische Basis den innerweltlichen Herausforderungen voranstellt. Die Aspekte von Trost und Mahnung, die für die religiöse Sinnbildung der Johannesoffenbarung so wichtig sind, haben für die Rezeption keine Bedeutung. Im Song repräsentiert die Bestie den Zorn des Satans, wobei sich noch die Frage stellen wird, wie weit zwischen beiden Figuren überhaupt unterschieden wird. Diese enge Verbindung von Satan und Bestie, die in der abschließenden Ich-Rede der Figur des Bösen noch einmal thematisiert werden muss, hat ein nahes Vorbild in 13,4a, wo die Anbetung des Satans (καὶ προσεκύνησαν τῷ δράκοντι) und der Bestie aus dem Meer (καὶ προσεκύνησαν τῷ θηρίῳ) in paralleler Formulierung konstatiert werden; in der Textwelt des Metalsongs macht die Unterscheidung wenig Sinn, aber für die biblische Erzählung wird durch einen zwischengeschalteten Erzählerkommentar so differenziert, dass der Satansdrache dem Tier die Vollmacht gegeben hat (ὅτι ἔδωκεν τὴν ἐξουσίαν τῷ θηρίῳ) – um auch dies später dahingehend zu interpretieren, dass es Gottes Zulassen ist, das das ganze »Drama« ermöglicht: 13,5.7.15.
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Steven J. Friesen, Satan’s Throne, Imperial Cults and the Social Settings of Revelation, in: JSNT 27 (2005), 351–373, erkennt im mythischen Erzählen der Johannesoffenbarung eine »innovative mythical method«; darunter kann man die biblische Fundierung, aber auch die Adaption von nicht-biblischen mythischen Motiven im Dienst der eigenen Sinnbildung rechnen, wie es gerade in Kap. 12 f. zu erkennen ist, aber in dieser Studie nicht weiter diskutiert werden kann. Eine Darstellungsweise, die auch für Offb 13,1–10 wahrzunehmen ist: vgl. Henk Van de Kamp, Leviathan and the Monsters in Revelation, in: Koert van Beckum u. a. (Hrsg.), Playing with Leviathan. Interpretation and Reception of Monsters from the Biblical World, Themes in Biblical Narrative 21, Leiden 2017, 167– 175, 172–174.
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Im Blick auf die Rezeption bedeutet dies, dass zwar die Dynamik des Textes erkannt und verdichtet wird, aber die erzählte Ambivalenz der Erzählfigur des Satans als einem gefährlichen Verlierer23 wird in der Überschrift und im Songtext selbst nicht aufgenommen; ohne über die Intention dieser Selektion zu spekulieren, dient sie einer alternativen Erzählperspektive, die eine Binnenperspektive in der Erzählung selbst einnimmt – es ist nicht der Blickwinkel des allwissenden Erzählers oder der himmlischen Festgesellschaft, die den Untergang des Satans feiert, sondern die eines »Menschleins« als Spielball der verschiedenen Mächte und Gewalten24 bzw. des Bösen, von dem sich die Rezeption nicht absetzt, sondern seine Besitznahme und die entstehende Distanz zur Normen gebenden Gesellschaft beschreibt. Es ist somit die Binnenperspektive derer, die dem Auftritt und Wirken der Bestie laut Erzähler ausgeliefert sind und ihrer Faszination unterliegen (s. hierzu den folgenden Abschnitt). Die Stellenangabe zielt auf den zweiten Teil des bearbeiteten Mischzitats: ὁ ἔχων νοῦν ψηφισάτω τὸν ἀριθμὸν τοῦ θηρίου, ἀριθμὸς γὰρ ἀνθρώπου ἐστίν, καὶ ὁ ἀριθμὸς αὐτοῦ ἑξακόσιοι ἑξήκοντα ἕξ (»Wer Verstand hat, berechne die Zahl der Bestie, denn es ist die Zahl eines Menschen und seine Zahl ist 666«). Die Zahl bindet Bibelzitat und Songtext eng aneinander und zeigt, worauf der Rezeptionstext hinzielt. Dort wird »666 the number of the beast« viermal wiederholt, wobei die Wendung vor allem durch die Schlüsselworte »Hölle« (»some kind of hell […] Hell and fire was spawned to be released«), »Satan« und das »Opfer für Satan« (»Satan’s work is done […] Sacrifice is going on tonight«) sowie sein Besitzergreifen vom Ich-Erzähler (»but I feel drawn towards the evil chanting hordes / they seem to mesmerise me […] can’t avoid their eyes«) interpretiert wird. Die Zahl repräsentiert Satan und sein Wirken und steht damit für das Böse. Bei der vierten Wiederholung findet eine charakteristische Veränderung statt: »666 the one for you and me«. Der biblische Referenztext ist in dieser 23
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Vgl. z. B. Michael Labahn, The Dangerous Loser. The Narrative and Rhetorical Function of the Devil as Character in the Book of Revelation, in: Ida Fröhlich/Erkki Koskenniemi (Hrsg.), Evil and the Devil, LNTS 481 = ESCO, London 2013, 156–179; Michael Labahn, Teufelsgeschichten. Satan und seine Helfer in der Johannesapokalypse, in: ZNT 28 (2011), 33–42. Zur Interpretation des Satans und seiner Negativkarriere vom Mitstreiter Gottes hin zu einer Negativfigur und Repräsentanz des Bösen schlechthin vgl. jetzt Ryan A. Stokes, Satan. How God’s Executioner Became the Enemy, Grand Rapids MI 2019. Diese Wendung nimmt die Beschreibung der Alltagswelt des ersten Jahrhunderts von Peter Lampe auf, der ihre Situation folgendermaßen beschrieb: »Mit dem Menschlein des ersten Jahrhunderts spielen die Mächte« (Peter Lampe, Die Apokalyptiker – ihre Situation und ihr Handeln, in: Ulrich Luz/Jürgen Kegler/Peter Lampe [Hrsg.], Eschatologie und Friedenshandeln. Exegetische Beiträge zur Frage christlicher Friedensverantwortung, SBS 101, Stuttgart 21982, 59–114, 94); gemeint ist der Personenkreis, zu dem die Adressatinnen und Adressaten der Johannesoffenbarung gehören.
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Wendung gespiegelt, da hier jeder Mensch ein Mal (δῶσιν αὐτοῖς χάραγμα ἐπὶ τῆς χειρὸς αὐτῶν τῆς δεξιᾶς ἢ ἐπὶ τὸ μέτωπον αὐτῶν, 13,16) eingebrannt oder eintätowiert bekommt, das im Namen respektive der Zahl des Tieres besteht.25 Ohne diese Zahl besteht keine Möglichkeit zur vollwertigen Teilnahme am Alltagsleben, die das Handeln einschließt (Kaufen oder Verkaufen).26 Für den Songtext liegt das Verständnis der Zahl darin, dass sie ein Symbol des Satans als Repräsentanz des Bösen ist. Die Zahl bedarf keiner Interpretation, sondern zielt auf Aneignung (»the one for you and me« – die Verweigerung ist nicht im Blick). Beachtenswert ist, dass mit beiden Bibelstellen eine Art Rahmung um den Referenztext aus Offb 12,18–13,17 gelegt wird, die den Gliederungen von Bibelausgaben und der Kommentarliteratur so nicht zu entnehmen ist, aber der Verknüpfung des Himmelssturzes des Satans (12,8 f.) mit der Herrschaft seiner irdischen Repräsentanten (13,1–18) entspricht. Hier signalisiert der Rezeptionstext, dass ein am Referenztext orientierter Verstehens- und Interpretationsprozess erfolgt ist, der im Rahmen der Exegese neu bedacht werden sollte. Mit der Schriftverlesung wird der Verstehenshorizont für den im Ich-Stil erzählten Songtext geschaffen:
2.2 Erinnerung an eine schreckliche Nacht »I left alone my mind was blank I needed time to think to get the memories from my mind
»Ich blieb allein – mein Kopf war leer, / ich brauchte Zeit zum Nachdenken, um die Erinnerung aus meinem Gedächtnis zu löschen. / What did I see can I believe Was sah ich, kann ich das glauben, / that what I saw that night was real dass das, was ich in dieser Nacht sah, wahr war / and not just fantasy und nicht allein ein Trugbild. Just what I saw in my old dreams were they Genau das, was ich in meinen alten Träumen reflections of my warped mind staring back at sah, waren sie, ein Ersinnen meines verwirrten Geistes, die mich anstarrten. me
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Offb 13,17: τὸ ὄνομα τοῦ θηρίου ἢ τὸν ἀριθμὸν τοῦ ὀνόματος αὐτοῦ. Der Begriff ὄνομα macht in dieser Parallelformulierung deutlich, dass durch die Zahl die Bestie selbst repräsentiert wird. Die Einführung und das Verständnis der Zahl der Bestie sind somit im Zusammenhang mit der Kritik der kaiserzeitlichen Ökonomie zu sehen, vgl. Martin Karrer, Zur Ethik der Apokalypse, in: Jochen Flebbe/Matthias Konradt (Hrsg.), Ethos und Theologie im Neuen Testament. Festschrift für Michael Wolter, Neukirchen-Vluyn 2016, 441–464, 446.
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Cos in my dreams it’s always there the evil face that twists my mind and brings me to despair.«
Denn in meinen Träumen, da kehrt immer das böse Gesicht zurück, das meinen Verstand verdreht und mich zum Verzweifeln bringt.«
Der nächste Abschnitt schildert, was die Begegnung mit dem Tier (vgl. die Einführung) beim Erzähler als bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Wer der IchErzähler, eine von zwei Ich-Stimmen im Song, ist, wird nicht ausgeführt, sondern entwickelt sich als Figur allein durch seine direkte Rede; so berichtet er von ihn verwirrenden Ereignissen, die er (oder sie) nicht erklären kann, aber dennoch bleibenden Eindruck bewirken; er berichtet von seinem Unverständnis,27 Unbehagen und dem Ergriffenwerden durch das, was gegen das Gesetz ist. In Relation zum Referenztext handelt es sich um eine Figur, die sich innerhalb der von Offb 13 inspirierten Textwelt bewegt – es ist also ein Wechsel der Erzählperspektive vom allwissenden Erzähler hin zu einer Gestalt, die sich in der erzählten Welt bewegt, erfolgt, wobei dieser Transfer zugleich von den Anspielungen auf die kleinasiatische Alltagswelt wegführt in eine unbestimmte Welt. Diese Veränderung schafft kreative Freiheiten gegenüber dem Referenztext. Im Ich-Bericht handelt es sich um einen Rückblick, der den Erzähler in Verwirrung gestoßen hat, weil die Erinnerung nicht zu löschen ist, sondern als alter Traum immer wiederkehrt und zur Verzweiflung führt. Die Erinnerung wird als Gefahr wahrgenommen und deutlich als böse (»evil face«) bestimmt. Erkennbar ist der Wunsch nach Distanz zum Geschehenen, die jedoch nicht möglich ist. Die die Gesellschaft verneinende Welt des Bösen ergreift Besitz, sie fasziniert, sie steht dem Gesetz und den gesellschaftlichen Normen entgegen. Aus diesem Fremden lässt sich entlang des Ich-Berichts eine Faszination des Horrors erkennen. Die Kerndifferenz zwischen Referenztext und Rezeption kommt in den Blick, in der der biblische Text die Gesellschaft mit dem Bösen identifiziert, der Zorn des Satans nach dem Song der Gesellschaft gegenübersteht und das Böse als nonkonformistisches Element jenseits der Gesellschaft beeindruckt.
27
Details der Charakterisierungen der Bestie aus dem Meer (und vom Land) und ihres Handelns bleiben gegenüber Offb 13 unerwähnt; die gesamte christologisch-karikierende Übermalung des Tieres etwa oder die Wunder des Landtieres (vgl. zu den Zeichen des »Landtiers« z. B. Beate Kowalski, Eschatological Signs and Their Function in the Revelation of John, in: Michael Labahn/Bert Jan Lietaert Peerbolte [Hrsg.], Wonders Never Cease. The Purpose of Narrating Miracle Stories in the New Testament and Its Religious Environment, ECSO = LNTS 288, London 2006, 200–218, 213 f.) finden keine Erwähnung, dürften jedoch in der Frage nach dem Realitätscharakter des Erlebten transponiert sein.
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Lässt der Auftakt keine sicheren Rückschlüsse auf eine Textbasis in der biblischen Vorlage zu, so liegt dennoch eine Art verfremdende Verdichtung der Hinweise auf Faszination und Anerkennung der Bestie vor, wie beispielsweise das Hinterherstarren der faszinierten Menge hinter dem Tier in Offb 13,3: »Und die ganze Welt staunte hinter dem Tier her« (Καὶ ἐθαυμάσθη ὅλη ἡ γῆ ὀπίσω τοῦ θηρίου). Auch die Anbetung von Satan und Tier in 13,4.8 zeigt, dass sich die Zeitgenossen dem Einfluss des Tieres kaum entziehen können – sein adlatus in 13,11–17, das Tier vom Land, wird seinerseits Anbetung, Verführung sowie die Errichtung eines Kultbildes generieren.28 So wird ein Spannungsbogen eröffnet, der die Erwartung auf das, was diese Erregung beim Ich-Erzähler ausgelöst hat, steigert.
2.3 Die Begegnung mit dem Bo¨sen »The night was black was no use holding back Cos I just had to see was someone watching me In the mist dark figures move and twist
»Die Nacht war schwarz, / es gab keinen Grund sich zurückzuhalten. / Was ich gerade sehen musste, war, dass jemand mich beobachtete. / Im Nebel bewegten sich und tanzten dunkle Gestalten, / was this all for real or some kind of hell war das wirklich oder eine Art Hölle? / 666 the number of the beast 666, die Zahl der Bestie. Hell and fire was spawned to be released Hölle und Feuer wurden hervorgebracht, um freigesetzt zu werden. / Torches blazed and sacred chants were Fackeln loderten und heilige Gesänge wurden praised angestimmt. / as they start to cry hands held to the sky Als sie begannen zu schreien, wurden Hände in den Himmel gestreckt. / In the night the fires burning bright In der Nacht brannten die Feuer hell, / the ritual has begun Satan’s work is done das Ritual hatte begonnen – Satans Werk ist getan. / 28
Man kann im Standbild von 13,14 durchaus einen Hinweis auf Kulthandlungen finden, so dass auch die Opferungen (vgl. im Songtext: »Sacrifice is going on tonight«) nicht allein populären Vorstellungen vom Satanskult entspringen, sondern einen Haftpunkt im Text von Offb 13 haben; zur Interpretation des Standbildes, das in V. 15 sogar durch Verleihung von Geist (durch Gott; passivum divinum!) kommunikationsfähig wird und zu dessen Anbetung unter Androhung der Todesstrafe die Bewohner der Welt gezwungen werden, vgl. z. B. Akira Satake, Die Offenbarung des Johannes, KEK 16, Göttingen 2008, 300; Craig R. Koester, Revelation. A New Translation with Introduction and Commentary, Anchor Yale Bible, New Haven CT/London 2014, 603, bezeichnet dies als Zauberwerk, womit der Erzähler den Kult parodiert.
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666 the number of the beast Sacrifice is going on tonight This can’t go on I must inform the law
666, die Zahl der Bestie. Die Opferung findet heute Abend statt. / Das kann so nicht weitergehen, ich muss das Gesetz informieren. / Can this still be real or some crazy dream Kann dies noch Wirklichkeit sein oder ist es ein verrückter Traum? / but I feel drawn towards the evil chanting Aber ich fühle mich angezogen von den bösen hordes Gesangeshorden, / they seem to mesmerise me … sie scheinen mich zu hypnotisieren … can’t avoid their eyes Ich kann ihren Augen nicht ausweichen. / 666 the number of the beast 666, die Zahl der Bestie. / 666 the one for you and me« 666, die für dich und für mich.«
Der Ich-Erzähler setzt seinen Bericht von dem Geschehen fort, das ihn so sehr in Verwirrung gebracht hatte. Dieser Abschnitt ist durch die Wendung »666 the number of the beast« in zwei Teile untergliedert, womit auch der Songtitel hervorgehoben wird. Die abschließende Erwähnung ergänzt »666 the one for you and me«, was die Ich-Erzählung hin zu den Hörerinnen und Hörern öffnet. Das »you and me« entfaltet einen größeren Raum als nur das Ich des Sprechers – daraus eine satanistische Pragmatik des Liedes abzuleiten, geht zu weit; allerdings werden ein Sog und ein Ergreifen durch das in der Zahl repräsentierte Böse berichtet. Der Rezeptionstext kümmert sich nicht um den Drachen als Schlange, das Tier aus dem Meer oder aus der Erde, sondern unter dem Signalmotiv der satanischen 666 um die kultische Verehrung der Bestie bzw. des Satans,29 dessen Werk in der Nacht getan wird. Die verwendeten Motive entsprechen populären Vorstellungen vom Satanskult, wie man sie in Horrorfilmen finden kann: Es ist finstere Nacht, eine neblig-dunstige Atmosphäre, Feuer brennen,30 satanische Gesänge, wilder ekstatischer Tanz, zum Himmel gereckte Arme und ein bevorstehendes Opfer. Die Haftpunkte zu Offb 12,18–13,18 sind gering, sieht man von dem Motiv der Hölle (vgl. den Feuersee in 20,14 f.), der 666 als Zahl der Bestie (13,18) und der Erwähnung des Satans (12,18 als Drachen) ab. Wird der biblische Text damit nur zu einer Folie für popularisierte Satanismusvorstellungen? Die sarkastische Ironie eines aus christlicher Perspektive dargestellten satanischen Dreigestirns31 fehlt im Songtext vollständig. Allerdings 29
30 31
Als Referenzbereiche bieten sich grundsätzlich die Erwähnung der Anbetung der Bestie (13,4.8.15) und die vom Tier aus der Erde organisierte kultische Verehrung der Bestie (13,15) an. Offb 13,13 nennt »Feuer vom Himmel« als Zeichen des Tieres aus der Erde. In der Exegese findet sich verschiedentlich die Begrifflichkeit »Trinität«, z. B. Traugott Holtz, Die Offenbarung des Johannes, NTD 11 Göttingen, 2008, 97; Überblick zu Begriff
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kehrt das Motiv der Attraktion des als böse erkannten Geschehens (»Satan’s work, this can’t go on, I must inform the law, evil chanting hordes«) wieder, dem sich der Erzähler nicht entziehen kann (»but I feel drawn towards the evil chanting hordes, they seem to mesmerise me, can’t avoid their eyes«). Wie im ersten Abschnitt der Ich-Rede begegnen die Kernpunkte der unwillentlichen Faszination (13,3: Καὶ ἐθαυμάσθη ὅλη ἡ γῆ ὀπίσω τοῦ θηρίου32 über das mit christologischen Motiven gezeichnete Tier aus dem Meer) durch die Verführung (13,14: καὶ πλανᾷ τοὺς κατοικοῦντας ἐπὶ τῆς γῆς διὰ τὰ σημεῖα ἃ ἐδόθη αὐτῷ ποιῆσαι ἐνώπιον τοῦ θηρίου über das Tier aus dem Meer) des satanischen Kultes – im Blick auf die Darstellung der Johannesoffenbarung könnte man fast von einer Ästhetik des Bösen sprechen33 –, die zu Anbetung und Unterwerfung34 führt, auch wenn die Darstellung dieses Abschnitts keine wirkliche sprachliche und bildliche Nähe des Rezeptionstextes erkennen lässt.
2.4 Die Drohung der Bestie »I’m coming back I will return And I’ll possess your body and I’ll make you burn I have the fire I have the force I have the power to make my evil take it’s course«
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»Ich werde zurückkommen, ganz bestimmt, / und ich werde deinen Körper besitzen und ich werde ihn zum Brennen bringen. / Ich habe das Feuer und ich habe die Stärke. / Ich habe die Macht, dass meine Bosheit ihren Weg geht.«
und Deutung der Gestalten: Otto Böcher, Die Johannesapokalypse, EdF 41, Darmstadt 3 1988, 76–83, die in der Gefahr steht, spätere dogmengeschichtliche Vorstellungen in die Johannesoffenbarung zurückzutragen. Der ebenfalls anachronistische Begriff des »Dreigestirns« hingegen scheint mir im Blick auf den parodistischen Charakter der Figurendarstellung angemessener. Zum Idiom ἐθαυμάσθη ὅλη ἡ γῆ ὀπίσω τοῦ θηρίου vgl. Daria Pezzoli-Olgiati, Between Fascination and Destruction. Considerations on the Power of the Beast in Rev 13:1–10, in: Michael Labahn/Jürgen Zangenberg (Hrsg.), Zwischen den Reichen. Neues Testament und Römische Herrschaft, TANZ 36, Tübingen/Basel 2002, 229–237, 231 f. Diese Ästhetik ist für den Erzähler nur ein Zerrspiegel christlicher Glaubensvorstellungen, wie noch zu zeigen sein wird, zieht aber wohl nicht allein die nichtchristlichen Zeitgenossen in den Bann, sondern nach der Darstellung auch Mitchristen, die so ihrerseits verteufelt werden, vgl. Labahn, Teufelsgeschichten (s. Anm. 23), 38 f. Vgl. Offb 13,4: Anbetung des Drachens und des Tieres aus dem Meer; nach 13,4.8 werden alle das Tier aus dem Meer anbeten, also auch Christen, die der Warnung der Johannesoffenbarung nicht folgen (ermöglicht dadurch, dass sie vorzeiten im Lebensbuch verzeichnet sind).
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Ohne leserleitendes Signal setzt abschließend eine weitere Ich-Rede ein, die durch den Inhalt zu erkennen gibt, dass nicht mehr der betroffene Mensch, sondern das ihn ergreifende Böse die Stimme erhebt. Ohne jegliche Markierung stellt sich die Frage, welche Figur des Bösen hier im Rezeptionstext zu Wort gebracht wird – das Tier oder der ihn sendende Satan. Mangels ausreichender Identifizierung kann aufgrund der inhaltlichen Angaben nur eine Antwort versucht werden, die nicht eindeutig ausfallen kann. Wie bereits erwähnt, lässt der Rezeptionstext auf der Ebene der textinternen Figuren eine gewisse Austauschbarkeit zu. Die Selbstcharakterisierung der Ich-Stimme besteht aus vier verschiedenen Elementen: a) die Drohung der Rückkehr, b) die Inbesitznahme des Opfers mit der Androhung des Verbrennens, c) die Beanspruchung des Feuers und der Stärke sowie d) die Beanspruchung der Macht, seine Bosheit durchzusetzen.
Bei der Bewertung des letzten Abschnitts als Rezeption von Offb 13 ist zu bedenken, dass diese Selbstrede ohne direkte Textbasis geformt wurde. Genügt es der neutestamentlichen Erzählung, den gewaltsamen Zorn des Satans als lebensgefährliche Bedrohung festzustellen, so füllt die Rezeption die damit verbundene Erzähllücke mit psychologischem Interesse und beantwortet die Frage nach dem Selbstverständnis dieser Erzählfigur in Bezug auf das aus dem Referenztext herausdestillierte Opfer. Dieses frei gestaltete Element reflektiert nicht die Bewertung der Figur in der Erzählung, entspricht aber der in Offb 20 gezeichneten Hybris des Satans als einer Figur, die, zunächst gebunden in der Unterwelt gehalten (20,1–3), noch einmal freigelassen wird (20,8), um (vergeblich) gegen die »Heiligen und die geliebte Stadt« zu kämpfen (20,9).35 Diese Figur wird niemanden verbrennen, vielmehr wird sie als Strafe Gottes mit ihren Anhängern in den Feuersee geworfen (20,10: καὶ ὁ διάβολος ὁ πλανῶν αὐτοὺς ἐβλήθη εἰς τὴν λίμνην τοῦ πυρὸς καὶ θείου ὅπου καὶ τὸ θηρίον καὶ ὁ ψευδοπροφήτης, καὶ βασανισθήσονται ἡμέρας καὶ νυκτὸς εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων).36 Das Element des Höllenfeuers ist für den Song zumindest als Gedächtnisspur, möglicherweise aber sogar als direkte 35 36
Zur tragikomischen Eigenart dieser Szene s. z. B. Labahn, Loser (s. Anm. 23), 169. In gewisser Weise entspricht es dem ethisch-narrativen Gefälle von Offb 13, dass die Faszination der Bestie zu Anhängerschaft führt, die ihrerseits das Strafgericht Gottes mit dem Feuersee zur Folge hat. Ohne die Motive vom Feuer und Verbrennen werden jedoch alle die, die sich der Verehrung des Satans und seiner Bestie verweigern, mit dem Tod bedroht ([…] ὅσοι ἐὰν μὴ προσκυνήσωσιν τῇ εἰκόνι τοῦ θηρίου ἀποκτανθῶσιν, 13,15). In dieser Perspektive hat das Verbrennen einen sachlichen Haftpunkt im Text von Offb 13.
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Rezeption von Offb 20 zu verstehen, einem Textbereich, der angesichts der inhaltlichen Spuren eventuell auch als Referenzbereich zur Verfügung stand. Aus dieser Beobachtung heraus wäre nicht die Bestie, sondern der Satan selbst Sprecher der zweiten Ich-Rede. Eine Rede des Satans hat kein Vorbild, weder in Kap. 13 noch in der Gesamterzählung. Der Satan ist zwar ein aktiver, gefährlicher, zugleich auch in einzelnen Zügen lachhafter Charakter, aber er verfügt über keine eigene Stimme, was in diesem lautstarken und durch seine Sprech- (und Sing‐)Handlungen geprägten Text eine starke Einschränkung darstellt. Auch der Inhalt der Selbstcharakterisierung lässt sich nicht dem Zusammenhang von Offb 12 f. entnehmen, sieht man zumindest vom Anspruch auf Macht ab, die der Figur des Tieres und der sie einsetzenden Figur des Satans/ Drachens anhaftet.37 Dass die Satansrede einen völlig andersartigen Blick auf das Geschehen hat, entspricht der andersartigen Erzählperspektive des Rezeptionstextes, dessen Wirklichkeitskonstruktion nicht aus der Perspektive des aufdeckenden Gottes gehalten ist, sondern aus der Binnenperspektive von Menschen, die die Erzählung bevölkern. Eine erste und zugleich wesentliche Grundeinsicht aus der textvergleichenden Analyse mit dem Songtext ist, dass nicht allein das Zitat aus Offb 12,12; 13,18 in der gesprochenen Ouvertüre zum Liedtext eine markierte Rezeption von Offb 13 zu erkennen gibt. Auch wenn direkte sprachliche Anspielungen ausbleiben, werden verschiedene Elemente des Referenztextes und vor allem, wie dem nächsten Abschnitt zu entnehmen sein wird, seine Pragmatik aufgenommen, die in der gefährdenden Faszination der Bestie für die Bewohner der Erde besteht – eine Gefahr, vor der Offb 13 warnt, deren Bewältigung aber von den Adressatinnen und Adressaten nach Ausweis der Johannesoffenbarung erwartet werden kann und muss.38 37
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Eine freilich, wie der Erzähler der Johannesoffenbarung betont, durch Gottes Gabe vermittelte Macht, vgl. 13,5.7.15; hierzu z. B. Stefan Alkier/Thomas Paulsen, Der kommende Gott und die Götter der Anderen, in: dies. (Hrsg.), Apollon, Artemis, Asteria und die Apokalypse des Johannes. Eine Spurensuche zur Intertextualität und Intermedialität im Rahmen griechisch-römischer Kultur, Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main 9, Leipzig 2018, 13– 147, 138 Anm. 138: »Dadurch wird den Rezipienten geradezu eingehämmert, dass das Tier keine eigene Wirkmacht hat, sondern ganz und gar von Gott abhängig ist.« Vgl. z. B. Michael Labahn, Der Konflikt zwischen Gut und Böse und seine ethische Dimension für frühchristliche Gemeinden in der römischen Provinz Kleinasien. Überlegungen zur Begründungsstrategie der Ethik in der Johannesoffenbarung, in: Ruben Zimmermann/Stephan Joubert (Hrsg.), Biblical Ethics and Application. Purview, Validity, and Relevance of Biblical Texts in Ethical Discourse, WUNT 384, Tübingen 2017, 371–396.
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Zentrale Differenz ist die Veränderung der Erzählperspektive zwischen Referenz- und Rezeptionstext, bei dem statt des allwissenden und alles kommentierenden Erzählers zwei Ich-Erzähler auftreten, die direkt ohne metasprachliche Redeeinführung sprechen. Allein die inhaltlichen Ausführungen lassen eine Unterscheidung der Sprecher zu. Hat Offb 13 eine – m. E. deutliche – Fundierung in der Alltagswelt der Adressatinnen und Adressaten der Erzählung, so ist der Wortwechsel in »The Number of the Beast« zeit- und situationslos, kann also genauso im Kleinasien der Johannesoffenbarung spielen wie zu einem Konzert von Iron Maiden in London oder anderen Städten der Hörerinnen und Hörer. Kernpunkt des Songs ist die Begegnung mit der Verehrung des Satans oder seiner Bestie, wie aufgrund des biblischen Auftakts zu erwarten ist, die gleichermaßen als gesetz- bzw. normenwidrig dargestellt wird und doch den IchErzähler in den Bann zieht; es ist die Faszination einer religiösen bzw. kultischen Verehrung der bösen Figur, die den ersten Sprecher in seinen Bann zieht und ihn in das Geschehen selbst hineinzieht. Das »Böse« wird ganz im Sinne des biblischen Referenztexts als normenwidrig begriffen (»This can’t go on I must inform the law«), auch wenn der besungene Mensch sich nicht dem Einfluss des Bösen entziehen kann.39 Das Böse steht dabei diesen Normen gegenüber. Die Faszination, die das Böse im Songtext ausübt, steht für etwas Gesellschaftskritisches, das den üblichen Normen und Gesetzen nicht folgt. So beschreibt Michael Gilmore die Eindruckskraft des Songs auf ihn als Jugendlichen als »something forbidden and dangerous, even rebellious«.40 Diese Faszination entspricht dem provozierenden und nonkonformistischen Charakter der Metal-Musik. Der Bezug auf den Referenztext nimmt Momente der Verehrung und der Faszination des Bösen auf, ohne jedoch seine Sprache und Bilder zu verwenden. Für die Darstellung des Kultes sind andere Quellen als die Johannesoffenbarung zu suchen. Der Hinweis auf das Höllenfeuer, die Macht des Satans, seine Hybris können ebenso als indirekte Gedächtnisspur der Johannesoffenbarung interpretiert werden wie auch aus Kap. 20 stammen. Entscheidende Differenz ist die Relationierung des Bösen zur Gesellschaft, in deren Distanz Referenz- und Rezeptionstext stehen. Die Johannesoffenbarung identifiziert die Alltagswelt mit dem Satanischen, für den Song steht der Satan der Gesellschaft als das Fremde und Faszinierende gegenüber. Neben dem Schriftzitat ist das zentrale Bindeglied zwischen Referenz- und Rezeptionstext die Zahl »666«, die als zentrales Auslegungsproblem die Exegetinnen und Exegeten der Johannesoffenbarung interessiert. Insbesondere der 39
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Wie zu zeigen sein wird, sind gerade die Faszination und die Gefahr, unter den Einfluss der Bestie zu gelangen, ein wichtiges Moment des Referenztextes, das durch die Rezeption deutlicher wird und damit die Pragmatik unterstützt, sich nicht der (konstruierten) Wirklichkeit anzupassen. Gilmore, Gods and Guitars (s. Anm. 8), 105.
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gematrisch – d. h. mit Hilfe einer besonders im antiken Judentum verwendeten Auslegungsmethode, die aus den Zahlenwerten der verwendeten Buchstaben einen tieferen Sinn ermittelt – begründete Hinweis auf »Kaiser Nero«,41 der dem Modellleser wie den realen Leserinnen und Lesern auch Kenntnisse des Hebräischen zumutet, spielt dabei hierfür eine zentrale Rolle. Die Frage, auf wen die Zahl »666« hinweist, hat in der Rezeption von Offb 13 hingegen keine Funktion. Auch wenn ψηφίζω geradezu auf eine gematrische Lösung zugeschnitten ist und das zweimalige ἀριθμός zum Zahlenspiel einlädt, kann diese scheinbare Definition gematrischer Methodik anders entschlüsselt werden. Das Berechnen der Zahl stellt sie als defizitär dar: »666« ist ein Symbol vollständiger Unvollkommenheit 42 im Vergleich mit der göttlichen Siebenzahl. Dem entspricht ihre Gleichsetzung als »menschliche Zahl« (ἀριθμὸς ἀνθρώπου). Das Zahlenspiel demaskiert jeglichen soteriologischen oder gar göttlichen Anspruch auf anbetende Verehrung in der Kaiserpropaganda, von der 13,12–16 spricht, als Irreführung und als Anmaßung. Sie steht mehr als für die Bestie für den Satan und sein Regiment; sie wird darin zu einem Symbol des Bösen, was durchaus in der Tendenz ihrer Wirkungsgeschichte liegt.43 Entscheidend ist nicht die Frage, wie die Zahl zu dekodieren ist, sondern wie sich der Mensch zu dem von ihr repräsentierten und gefährlich faszinierenden Bösen verhält – darin ist m. E. ein wichtiger Impuls für das Verständnis des Referenztextes gegeben, der im Folgenden in einem kursorischen Durchgang analysiert werden wird.44
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Nach der hebräischen Schreibweise ergibt sich für Kaiser Nero folgende Addition: qsr nron ( = )קסר נרון100 + 60 + 200 + 50 + 200 + 6 + 50 = 666. Vgl. z. B. zur Diskussion die Überblicke bei David E. Aune, Revelation I–III, WBC 52, Nashville TN 1996–1998, 771– 773; für ältere Kommentarliteratur s. Böcher, Johannesapokalypse (s. Anm. 31), 84–96. Z. B. Holtz, Offenbarung (s. Anm. 31), 100 f., mit Hinweis auf Philo Leg. I 2–4.16; Joseph L. Trafton, Reading Revelation. A Literary and Theological Commentary, Macon GA 2005, 130; s. a. M. Eugene Boring, Revelation. Interpretation: A Bible Commentary for Teaching and Preaching, Louisville KY 1989, 163 f., und Ian Paul, Revelation. An Introduction and Commentary, Tyndale New Testament Commentaries 20, London 2018, 239, die dennoch am Bezug auf Nero festhalten. Zur Wirkungsgeschichte der Zahl 666 vgl. kurz Koester, Revelation (s. Anm. 28), 538– 540. Die Einforderung zum Verstehen am Anfang des Verses – Ὧδε ἡ σοφία ἐστίν – ist für den Rezeptionstext scheinbar gegeben und wird durch die Wiederholung des Textkerns »666 the number of the beast« geradezu vorausgesetzt.
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3. Der Zorn des Satans, sein Tier aus dem Meer, die Faszination des Bo¨sen und der Universalanspruch auf die Menschheit in der Zahl des Tieres – ein exegetisch-historischer Durchgang durch Offb 13 als Referenztext Mit Heinz Giesen bildet Offb 13 als Mittelteil von Offb 12–14 geradezu die »dramatische Mitte des apk Hauptteils« der Johannesoffenbarung,45 die die Wahrnehmung der kulturellen, religiösen und politischen Wirklichkeit in der Erzählung radikalisiert neu konstruiert.46 Somit repräsentieren nicht allein die oftmals als Fenster in die Alltagswelt des Erzählers und seiner Adressatinnen und Adressaten gedeuteten Sendschreiben,47 sondern auch Offb 13 die Wirklichkeitskonstruktion des Erzählers,48 so dass diese Passage nicht unmittelbar als Abbildung der text45
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Heinz Giesen, Die Offenbarung des Johannes, RNT, Regensburg 1997, 52; 269. Giesen denkt an Kap. 4–22, aber der Abschnitt Offb 12–14 bildet in etwa den Mittelabschnitt der Zeit, die der Erzähler zum Erzählen der Geschichte braucht; zudem sollten die Sendschreiben auch nicht zu sehr aus dem Erzählablauf herausgehoben, sondern als Teil des Sinnentwurfs betrachtet werden, dessen auch inhaltliche Mitte (in der Zusage von Heil, der Notwendigkeit von Bewährung und letztlich der Schutzzusage in Bedrängnis) der Abschnitt darstellt; den zentralen Charakter von Kap. 13 unterstreichen z. B. auch Konrad Huber, Einer gleich einem Menschensohn. Die Christusvisionen in Offb 1,9–20 und Offb 14,14–20 und die Christologie der Johannesoffenbarung, NTA 51, Münster 2007, 218 f. Der dramatische Charakter, den Klaus Berger, Die Apokalypse des Johannes. Kommentar, Freiburg i. Br. 2017, herausstellt, möchte nicht wie in der Kommentierung gattungstechnisch verstanden werden, sondern in Relation zum spannenden Erzählplot. Vgl. Harald Ulland, Die Vision als Radikalisierung der Wirklichkeit in der Apokalypse des Johannes, TANZ 21, Tübingen 1997. Z. B. Hans-Josef Klauck, Das Sendschreiben nach Pergamon und der Kaiserkult in der Johannesoffenbarung, in: ders., Alte Welt und neuer Glaube. Beiträge zur Religionsgeschichte, Forschungsgeschichte und Theologie des Neuen Testaments, NTOA 29, Göttingen 1994, 115–143; Beate Kowalski, Das Verhältnis von Theologie und Zeitgeschichte in den Sendschreiben der Johannes-Offenbarung, in: Knut Backhaus (Hrsg.), Theologie als Vision. Studien zur Johannes-Offenbarung, SBS 191, Stuttgart 2001, 54–76. Keine dieser Analysen behauptet eine naive Abbildung der sozio-politischen und ökonomischen Alltagswelt des Sehers, aber m. E. ist bei diesen Analysen immer zu betonen, dass die gesamte Erzählung ein Deutungsprozess dieser Alltagswelt ist, so dass die Gesamterzählung auch ein (Zerr‐)Spiegel dieser Wirklichkeit ist – vielleicht mit höherer Transparenz auf die textexterne Welt in Einzelabschnitten, wie den genannten Sendschreiben und eben Offb 13. Vgl. zu diesem Thema Michael Labahn, »Enthüllte« Wirklichkeit. Neutestamentliche Spielarten, wie Wahrheit und Glaube in der Erschließung und Wahrnehmung neuer
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externen Welt gelesen werden kann, sondern als ihre – in Verbindung mit dem einführenden titulum (1,1–3) als Paratext – von Gott enthüllte Einsicht in den Charakter von Wirklichkeit, von der die Adressaten betroffen sind und deren Interpretation sich der ideale Leser aneignet. Der seine Erzählwelt reichlich durch Bilder, Bildprogramme und Metaphern gestaltende Erzähler übertrifft sich in diesem Abschnitt selbst, indem er seine Wirklichkeit als Abfolge kleiner Szenen wiederspiegelt, die durch satirische Übertreibungen und als religiös anmaßende Karikatur zu verstehen sind. Wie in der Interpretation von Iron Maiden setzt diese Darstellung beim Teufel selbst an, dessen Zorn über seine Niederlage im Himmelssturz sich nunmehr auf der Erde ergießt und die Anhänger Gottes und des Lammes trifft. In 12,18–13,3 berichtet der Erzähler in einer raschen Folge von zum Teil kommentierten Einzelbildern, die dem Charakter nach an eine Text gewordene Graphic novel49 erinnern. Zunächst zeichnet die Erzählung das Bild vom Drachen, der am Meer steht; ein Einzelbild, das Tempo aus dem Erzählablauf nimmt. In diesem Bild fließen die Ereignisse aus 12,1–17 zusammen und wird zugleich die Basis für 13,1–18 gelegt. Das Stichwort »Meer« verbindet beide Episoden wie auch die Figur des Drachens. Der Drache teilt dem Tier die Macht zu (13,2b). So wird die Figur innerhalb des Wertesystems der Erzählung in Opposition zu Gott gestellt. Mit »Ich sah« – eigentlich eine Art Episodentrenner – wird gewissermaßen – in der Sprache der Graphic novel – ein neuer Frame geschaffen. Das Tier steigt aus dem Meer auf, also aus dem Bereich des Chaotischen und der Lebensverneinung,50 was diese Figur, die als Repräsentanz des Römischen Reichs durch den römischen Kaisers erscheint,51 in Opposition zur Reichs- und Kaiserpropa-
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Wirklichkeit zur Geltung gebracht werden, in: Christof Landmesser/Doris Hiller (Hrsg.), Wahrheit – Glaube – Deutung. Theologische und philosophische Konkretionen, Veröffentlichungen der Rudolf-Bultmann-Gesellschaft für Hermeneutische Theologie e.V., Leipzig 2019, 51–78, 66–75. Zur kulturgeschichtlichen Einführung, auch zu Formen und Analysemethoden z. B. Julia Abel/Christian Klein, Comics und Graphic Novels. Eine Einführung, Stuttgart 2016. Vgl. Daria Pezzoli-Olgiati, Täuschung und Klarheit. Zur Wechselwirkung zwischen Vision und Geschichte in der Johannesoffenbarung, FRLANT 175, Göttingen 1997, 124 f. Zum Hinweis auf den Kaiser z. B. Bert Jan Lietaert Peerbolte, To Worship the Beast. The Revelation of John and the Imperial Cult in Asia Minor, in: Michael Labahn/Jürgen Zangenberg (Hrsg.), Zwischen den Reichen. Neues Testament und Römische Herrschaft. Vorträge auf der Ersten Konferenz der European Association for Biblical Studies, TANZ 36, Tübingen 2002, 239–259, 243. Die Bestie aus dem Meer stellt eine komplexe Einzelfigur dar, weshalb sie m. E. ein Repräsentativcharakter ist, auf den sich andere Figuren der Szenen beziehen und dem Anbetung zuteil werden kann, die jedoch einen
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ganda setzt.52 Die Dan 7,3.7 anspielende53 Figur wird mit hybriden Motiven gestaltet:54 zehn Hörner, sieben Köpfe mit jeweils zehn Diademen. Im Zusammenhang mit dieser Machtüberfülle schreibt der Erzähler den Köpfen ohne Details Lästerungen zu (13,1). Das widergöttliche Wesen, das der Erzähler sieht, maßt sich Bezeichnungen an, wie sie beispielsweise auf Inschriften visuell wahrnehmbar sind. Dafür bieten sich Titel wie Allbeherrscher, Herr, Heiland oder auch Gott an,55 die auch in der Sinnbildung der Christusgläubigen zentrale Funktionen haben. Im ersten Bild ist der Blick lediglich auf den Bereich der Köpfe fixiert, so dass der Erzähler für die gesamte Gestalt einen neuen Bildrahmen schafft (13,2). Eingeleitet durch καὶ τὸ θηρίον ὃ εἶδον erinnert die gesamte Gestalt an einen Panther, die Füße an die eines Bären und das Maul an das eines Löwen. Das Tier ist ein Raubtier durch und durch und doch sind die genannten Motivspender – Panther, Bär und Löwe – Tiere, die ein hohes Maß an Stärke symbolisieren und so gleichermaßen Angst wie Anerkennung generieren können (13,2a). Diese Ambivalenz des zweiten Bildes nimmt ein direkter Erzählerkommentar auf, der die Figur mit dem Drachen, von dem her Kraft, Thron und Macht stammen (13,2b: καὶ
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umfassenden Inhalt repräsentiert, nämlich das vom Kaiser beherrschte und repräsentierte Reich; dieser Aspekt wird auch bei den zumeist vertretenen Deutungen der Bestie auf die römische Herrschaft anerkannt; vgl. z. B. Brian K. Blount, Revelation. A Commentary, NTL, Louisville KY 2009, 246; Giesen, Offenbarung (s. Anm. 45), 303 (mit dem Hinweis, dass der Kaiser das Reich repräsentiert); Paul B. Duff, Who Rides the Beast? Prophetic Rivalry and the Rhetoric of Crisis in the Churches of the Apocalypse, Oxford 2001, 67; van de Kamp, Leviathan (s. Anm. 22), 173: »unmistakable sharp characterization of the contemporaneous Roman system […] Rome is labelled as the personification of all suppressors in history, the height of all evil powers.« Nach römischem Selbstverständnis bringt das Römische Reich Sicherheit und Ordnung in die damalige Welt, vgl. klassisch Cicero, ad Quint. fratr. I 11,34; s.a. Plutarch, fort. Rom. 316e–317c; Aelius Aristides, or. 26,103. Zu Vorstellung und Kritik der pax Romana vgl. bes. Klaus Wengst, Pax Romana. Anspruch und Wirklichkeit. Erfahrungen und Wahrnehmung des Friedens bei Jesus und im Urchristentums, München 1986, 19– 71; zu den unterschiedlichen Bewertungen der pax Romana s. a. Christoph Markschies, Zwischen den Welten wandern. Strukturen des antiken Christentums, Europäische Geschichte, Frankfurt a. M. 1997, 29–31. Vgl. Gregory K. Beale/Sean McDonough, »Revelation«, in: Gregory K. Beale/Donald A. Carson (Hrsg.), Commentary on the New Testament’s Use of the Old Testament, Grand Rapids MI 2007, 1081–1161, 1127: »creative reworking of Dan 7:1–7«. Vgl. z. B. van de Kamp, Leviathan (s. Anm. 22), 172 f. Z. B. Satake, Offenbarung (s. Anm. 28), 296: »konkrete Titel, die im Rahmen des Kaiserkults verwendet worden sind«. Auf die Nomenklatur der Kaiserpropaganda verweist auch Dominique Cuss, Imperial Cult and Honorary Term in the New Testament, Paradosis 23, Fribourg 1974, 50–74.
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ἔδωκεν αὐτῷ ὁ δράκων τὴν δύναμιν αὐτοῦ καὶ τὸν θρόνον αὐτοῦ καὶ ἐξουσίαν μεγάλην), kombiniert. Beim nächsten Bild übertrifft die Erzählung noch einmal die Intensität ihrer Darstellung durch einen verschärften satirischen Pinselstrich. Tod und das wieder Lebendigwerden zeichnen im Figureninventar der Johannesoffenbarung das christliche Lamm aus (5,6: ἀρνίον ἑστηκὸς ὡς ἐσφαγμένον). Auch das Tier aus dem Meer erträgt Tötung und wird wieder zum Leben geheilt (13,3a): »Und einer seiner Köpfe war wie zum Tode geschlachtet. Und seine Wunde des Todes wurde geheilt.«
καὶ μίαν ἐκ τῶν κεφαλῶν αὐτοῦ ὡς ἐσφαγμένην εἰς θάνατον, καὶ ἡ πληγὴ τοῦ θανάτου αὐτοῦ ἐθεραπεύθη.
Das widergöttliche Tier wird mit Farben der Christologie coloriert; zugleich aber so, dass es eine Karikatur des Auferstehungsglaubens ist:56 Ein Kopf wird »wie zum Tode« geschlachtet und die tödliche Wunde wird geheilt. Die Bestie ist gewissermaßen ein Antilamm.57 Dieses Bild ist so ambivalent, dass der folgende Erzählerkommentar feststellt: »Und die ganze Welt staunte hinter dem Tier her« (Καὶ ἐθαυμάσθη ὅλη ἡ γῆ ὀπίσω τοῦ θηρίου, 13,3b). Dass die ganze Welt in Staunen verfällt ist eine derart umfassende Formulierung, dass die Gefahr, die Bildlichkeit des Tieres misszu56
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Nach James L. Resseguie, The Revelation of John. A Narrative Commentary, Grand Rapids MI 2009, 183, parodiert das Tier aus dem Meer das Lamm, aber damit wird m. E. die Pointe genau umgekehrt. Das Porträt des Tieres verrät dessen hybriden und gottwidrigen Anspruch und wird so zur Karikatur des wirklich mächtigen und soteriologisch relevanten Heilstodes des Lammes. S. a. z. B. Thomas Söding, Heiliger Krieg? Politik und Religion in der Offenbarung des Johannes, NWAWK G 435, Paderborn 2011, 31: »Johannes erkennt eine perverse imitatio Christi. Der Antichrist tut so, als sei er gestorben und auferstanden, wie Jesus, der aber wirklich gestorben und auferstanden ist«. Werden für die Darstellung der Bestie Motive aus Offb 12,3 aufgenommen, so ist sie geradezu ein »Abbild des Satans« (Ulrich B. Müller, Die Offenbarung des Johannes, ÖTbK 19, Gütersloh/Würzburg 1984, 249). Vgl. aus den verschiedenen Bildrahmen von 13,1–3 die Erwähnung der Hörner, bei der das Tier das Lamm an Zahl überbietet und so gerade die widergöttliche Unvollkommenheit seiner Macht abbildet (5,6), das Geschlachtetsein (13,3: ὡς ἐσφαγμένην εἰς θάνατον, 5,6: ὡς ἐσφαγμένον) und die Identifikation des Lammes als Löwe aus Juda (5,5). S.a. van de Kamp, Leviathan (s. Anm. 22), 173 f., der weitere Motive benennt. Wird dieser intratextuell aufgebaute, parodistische Charakter der Bilder der Bestie aus dem Meer anerkannt, so ist der Bezug auf die Nero redivivus-Vorstellung zum Verständnis von Offb 13,2 f. m. E. im Widerspruch zu Marco Frenschkowski, Art. Nero, in: RAC Bd. 25, 2013, 839–878, 859 (z. B. auch Giesen, Offenbarung [s. Anm. 45], 304 f., etc.), nicht von Nöten.
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verstehen, auch Christen einschließt – diese Fehlinterpretation des Kaisers und seines Reichs wirft die Johannesoffenbarung tatsächlich auch ihren innerchristlichen Kontrahenten vor, die wahrscheinlich ihre Identität als Christen und Bürger des Römischen Reichs definiert haben.58 Mit diesem Erzählerkommentar endet die kurze und intensive Bilderfolge über den Drachen und das Tier aus dem Meer. Der Erzähler berichtet nunmehr von der Anbetung des Satans und dem Tier (13,4) und reflektiert auf die Frage nach dem »Woher« dieser Macht, auf ihre Folgen und Grenzen, aber auch die Notwendigkeit und Möglichkeit, dieser Herrschaft zu widerstehen (13,5–7). In V. 8 nimmt der Erzähler noch einmal V. 3b–4 auf, indem er die universelle Anbetung des Tieres feststellt, jedenfalls soweit der Name dieser Verehrerinnen und Verehrer nicht im Buch des Lebens verzeichnet ist. Dies klingt nach einer prädestinatorischen Aussage,59 aber der Weckruf von V. 9 macht demgegenüber deutlich, dass es um Bewährung in akuter Lebensgefahr (V. 10) geht. Das Aufschreiben des Namens vor Gründung der Welt ermöglicht Verweigerung und Widerstand, wie sie in Gott vor der Schöpfung bereits begründet sind. Es geht darum, aus der Darstellung der radikalisierten Wirklichkeit die nach dem Sinnangebot der Johannesoffenbarung notwendigen Schlüsse zu ziehen. Mit der Erwähnung des geschlachteten Lammes als Eigentümer des Buches wird die Todeswunde des Tieres und ihre Heilung mit der heilsrelevanten Schlachtung des Lammes konfrontiert und steht für den Heilswillen Gottes für seine Gemeinde. Offb 12,18–13,10 stellt die Alltagswelt der Adressatinnen und Adressaten als eine Welt in der Bedrohung durch den Zorn des Satans dar. Dieser Zorn konkretisiert sich in der Herrschaft des Tieres aus dem Meer, das für den herrschenden Kaiser und sein Reich samt den in ihm bestehenden religiösen und gesellschaftlichen Normen steht. Die ambivalente Zeichnung dieser Figur deutet sie gleicherweise negativ, wie sie auch eine von ihr ausgehende, auch religiöse Faszination anerkennt, die scheinbar auch für Christen in dieser Alltagswelt attraktiv ist. Hans-Josef Klauck hat in einem Beitrag zur kleinasiatischen Archäologie gezeigt, wie präsent für die Bewohner Kleinasiens die religiösen Normen und Ansprüche der Alltagswelt einschließlich der Herrscherverehrung sind.60 Der Faszination und Besitzergreifung durch die Ansprüche und Normen der
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Vgl. Michael Labahn, »Sympathy for the Devil«? Die umstrittene Wirklichkeitswahrnehmung der Gegner in der Johannesoffenbarung als Ausdruck eines eigenständigen frühchristlichen Identitätskonzepts, in: Ute E. Eisen/Heidrun Mader (Hrsg.), Talking God in Society. Multidisciplinary (Re)constructions of Ancient (Con)texts. Festschrift für Peter Lampe, Göttingen (im Druck). Z. B. Holtz, Offenbarung (s. Anm. 31), 98. Hans-Josef Klauck, Die Johannesoffenbarung und die kleinasiatische Archäologie, in: Max Küchler/Karl Matthias Schmidt (Hrsg.), Texte – Fakten – Artefakte. Beiträge zur
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Bestie steht in der Erzählung die durch Gott und das Lamm ermöglichte und geforderte Bewährung der sich verweigernden Christusanhänger gegenüber,61 denen Gefängnis und Tod droht. Für die Pragmatik des Abschnitts zum kompromisslosen Widerstehen ist entscheidend, dass die Macht des Bösen und seiner Alliierten gebrochen ist; der Satan ist besiegt (vgl. die hymnische Feier des Himmelsturzes in 12,10–12), die Bewahrung der durch das Blut des Lammes zur himmlischen Bürgerschaft freigekauften (1,5 f.; 5,9 f.) Christusanhänger vor dem Zorn zugesagt (vgl. die biblisch-mythischen Rettungserzählungen) und fixiert (Buch des Lebens: 13,9), der Zion fungiert als Gegenwirklichkeit62 (14,1–5) sowie Ankündigung und Vollzug des Gerichts über die widergöttlichen Mächte in prophetischer Schau und insofern als Zusage in der Bewährungsforderung (vgl. 14,6–20).63 So ist die satanische Herrschaftsausübung durch das Tier aus dem Meer eine von Gott zugelassene (13,5.7.14) und zugleich auch begrenzte Herausforderung zum Widerstehen (zeitlich 13,5). Faszination und Besitzergreifung sind somit eine wesentliche Schnittmenge zwischen Referenz- und Rezeptionstext – der aus der Binnenperspektive der Menschen in der Textwelt erzählte Bericht der Ich-Stimme im Songtext kennt dabei nicht die theologischen, christologischen und vor allem ethisch-appellativen Reflexionen der biblischen Erzählung und zeigt, gerade darin, dass das teuflische Geschehen als normenwidrig begriffen wird, nicht die gleichen Vorbehalte des Referenztextes. Für die exegetische Arbeit stellt unter dieser Fragestellung die Rezeption eine Art Gedankenexperiment dar, das veranschaulicht, welchen Anpassungsdruck die biblische Erzählwelt durch die Bestie aus dem Meer respektive die römisch beherrschte Alltagswelt Kleinasiens generiert – ein Druck, den der Erzähler der Johannesoffenbarung für seine Adressatinnen und
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Bedeutung der Archäologie für die neutestamentliche Forschung, NTOA 59, Freiburg i. Ü./Göttingen 2006, 197–229, 201–206. Vgl. Labahn, Konflikt (s. Anm. 38), 380–383. Zu Vorstellung und Konzept(en) von Gegenwelten, wie sie der Sinnkosmos der Johannesoffenbarung in seiner Wirklichkeitskonstruktion schafft, vgl. den Sammelband von Tonio Hölscher (Hrsg.), Gegenwelten zu den Kulturen Griechenlands und Roms in der Antike, München 2000. Vgl. Rita Müller-Fieberg, »Schick deine Sichel und ernte!« (Offb 14,15). Gedanken zur Erntemetaphorik in Offb 14,14–20, in: Michael Labahn/Martin Karrer (Hrsg.), Die Johannesoffenbarung. Ihr Text und ihre Auslegung, ABG 38, Leipzig 2012, 253–274, 272: »Die Zeit vor der als unmittelbar bevorstehend gedachten Ernte ist letzte Bewährungszeit. Es gilt, gegenüber den Drangsalen, aber auch den Verlockungen der römischen Gesellschaft nur noch für eine kurze Zeit standhaft zu bleiben. Und so will der Text, pragmatisch gesehen, die sichere Gewissheit verleihen, dass die Macht der Bedränger ein Ende haben wird. Gott selbst wird es zur rechten Zeit herbeiführen.«
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Adressaten gegeben sieht und der ihn zu seiner kompromisslosen Wirklichkeitskonstruktion animiert. Offb 13,11–18 fügt nur bedingt Neues zu dieser Analyse hinzu. In 13,11 beginnt der Erzähler neu. Er »sieht« ein weiteres Tier, diesmal aus der Erde aufsteigen, das in einem kurzen Bild vorgestellt wird: Es »hatte zwei Hörner wie ein Lamm und sprach wie ein Drache« (εἶχεν κέρατα δύο ὅμοια ἀρνίῳ καὶ ἐλάλει ὡς δράκων, 13,11b). Im Bild zeigt sich wieder dieselbe Ambivalenz wie beim ersten Tier; es erinnert einerseits mit seinen Hörnern an ein Lamm (vgl. das Christuslamm: 5,6), fällt andererseits gegenüber dessen siebenfachem Hörnerschmuck ab. So ist auch das zweite Tier eine – gewissermaßen »abgespeckte« – Karikatur des Christuslammes, das mit seiner Sprache auf die Seite des Satans gehört. Die Hörner weisen das Tier der politischen Machtsphäre zu, seine Sprachhandlungen vollziehen politische Kommunikation, wie sie auf die Seite der Reichspropaganda gehört. Die wenig detaillierte Bilddarstellung ordnet es dem Tier aus dem Meer nach. Laut 13,12–17 übt das Landtier die Macht des ersten aus (13,12a). Dabei greift die Ausübung von Macht, die politische Kommunikation mit der religiösen Ausübung zusammen. Dazu gehört in der Darstellung der Johannesoffenbarung die Aufgabe, die Erdbewohner zur Anbetung des ersten Tieres zu bringen (13,12b). Das Tier vollbringt Machtzeichen (13,13 f.: der an 2Kön 1,10–12 erinnernde Feuerregen), lässt ein Standbild errichten (13,14), das lebendig spricht (13,15).64 Das Aufgabenspektrum umfasst also auch kultisches Geschehen, so dass verschiedentlich vermutet wurde, im zweiten Tier sei das Personal, näherhin Priester des Kaiserkultes, repräsentiert.65 Sein Wirken ist jedoch umfassender, so dass es die römische Herrschaftsausübung mitsamt
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Manipulationen in kultischen Vollzügen, die als Wunder erschienen, sind in der Antike durchaus bekannt und kritisch gewertet; zu antiker Wunderkritik vgl. Marco Frenschkowski, Antike kritische und skeptische Stimmen zum Wunderglauben als Dialogpartner des frühen Christentums, in: Bernd Kollmann/Ruben Zimmermann (Hrsg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven, WUNT 339, Tübingen 2014, 283–308, der a. a. O., 300 f., auch die Kritik des Plutarch an sprechenden Standbildern (Plutarch, vit. Coriol. 38,1–4) thematisiert. Für die Johannesoffenbarung geht es jedoch nicht um die Manipulation, sondern um das Manipulative, die Verführung zur Anbetung des Tieres aus dem Meer. Als Repräsentanten der Priester des Kaiserkultes deuten das Tier z. B. Dieter Sänger, Destruktive Apokalyptik? Eine Erinnerung in eschatologischer und ethischer Perspektive, in: ders., Schrift – Tradition – Evangelium. Studien zum frühen Judentum und zur paulinischen Theologie, Neukirchen-Vluyn 2016, 117–141, 134; Klaus Wengst, Wie lange noch? Schreien nach Recht und Gerechtigkeit – eine Deutung der Apokalypse des Johannes, Stuttgart 2010, 144.
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dem Akzeptanz fordernden Kaiserkult abbildet.66 Für den Sinnentwurf ist dies ein widergöttlicher Zwang zur Verehrung des Tieres, aus der es kein Entkommen gibt, da das Tier jede Verweigerung mit dem Tode bedroht (13,5).67 Im letzten Aspekt des Erzählerberichts geht es um die Teilhabe am Handel, die der Erzähler an ein eintätowiertes Mal bindet.68 Jegliche wirtschaftliche Interaktion stellt damit eine Unterwerfung unter die satanische Herrschaft des Tieres dar – eine Sichtweise, die die in den Sendschreiben erkennbaren wohlhabenderen Gemeinden (vor allem Laodiceia: 3,14–22; s. a. Thyatira und Sardes)69 der Christusanhänger nicht teilen werden.70 Am Ende der Episode geht es um die Identifikation des Males. Diese Zahl gilt es zu verstehen: »Hier ist die Weisheit: Wer Verstand hat, berechne die Zahl des Tieres, denn es ist die Zahl eines Menschen und seine Zahl ist 666« (Ὧδε ἡ σοφία ἐστίν. ὁ ἔχων νοῦν ψηφισάτω τὸν ἀριθμὸν τοῦ θηρίου, ἀριθμὸς γὰρ ἀνθρώπου ἐστίν, καὶ ὁ ἀριθμὸς αὐτοῦ ἑξακόσιοι ἑξήκοντα ἕξ, 13,18). Leicht ironisch könnte man meinen, es gäbe mindestens 666 Interpretationsmodelle,71 die sich an der Frage abarbeiten, auf welche konkrete Gestalt der Geschichte sich die Zahl be66
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Vgl. z. B. Jürgen Roloff, Die Offenbarung des Johannes, ZBK.NT 18, Zürich 21987, 140: »Johannes will in einer auf das Typische abhebenden Weise alle jene Institutionen, Menschen und Kräfte charakterisieren, die die im Kaiserkult gipfelnde religiöse Verehrung des Imperiums und seiner Macht fördern«; s. a. Henk Jan De Jonge, The Apocalypse of John and the Imperial Cult, in: Herman Frederik Johan Horstmanshoff u. a. (Hrsg.), ΚΥΚΕΟΝ. Studies in Honour of H. S. Versnel, RGRW 142, Leiden 2002, 127– 141, 134. Hierbei handelt es sich möglicherweise um eine Referenz auf die Todesandrohung im Falle der Verweigerung des Opfers vor dem Standbild des Kaisers, das Plinius in seinem Briefwechsel mit Kaiser Trajan als übliche Praxis notiert, Plinius, ep. X 96; vgl. z. B. Holtz, Offenbarung (s. Anm. 31), 100; Hermann Lichtenberger, Die Apokalypse, ThKNT 23, Stuttgart 2014, 191 f.; Müller, Offenbarung (s. Anm. 56), 254. Letztlich darf der Einfluss von Dan 3,5 nicht übersehen werden. Wie konkret der Hinweis auf den Geldlauf in der zeitgenössischen Alltagswelt zu sehen ist (z. B. Adela Yarbro Collins, Crisis and Catharsis. The Power of the Apocalypse, Philadelphia PA 1984, 126, die an Münzen mit dem Kaiserbild als Zahlungsmittel denkt) bleibt zu fragen. Es geht eher darum zu warnen, dass die wirtschaftliche Interaktion in der kleinasiatischen Alltagskultur die satanischen Rahmenbedingungen Roms akzeptiert, und damit gerät jede/jeder Interagierende in den Einflussbereich des Satans; s. a. Kirsi Siitonen, Merchants and Commerce in the Book of Revelation, in: Michael Labahn/Outi Lehtipuu (Hrsg.), Imagery in the Book of Revelation, CBET 60, Leuven 2011, 145–160, 151. S.a. Collins, Crisis (s. Anm. 68), 132 f. S.a. kurz Labahn, »Sympathy« (s. Anm. 58). Zu den unterschiedlichen Interpretationsmodellen vgl. die Kommentare zu Offb 13,18 und o. Anm. 39 u. 40.
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zieht. Vor allem Nero bzw. die Erwartung eines Nero redivivus werden genannt. M. E. liegt in der Verstehensforderung jedoch eine ähnliche Pragmatik wie am Ende des ersten Segments in 13,9 f. zugrunde. Es geht nicht um eine bestimmbare Gestalt, sondern um das Verstehen der Alltagswirklichkeit nach dem Sinnangebot der Johannesoffenbarung; es geht um Einsicht in eine enthüllte Wirklichkeit, die die hellenistisch-römische Alltagswelt mit ihren religiösen Normen und Forderungen als Spielwiese des Satans erkennt – eine Sichtweise, der die Gegner der Schrift nicht folgen. Die Zahl 666 ist lediglich ein Symbol vollständiger Unvollkommenheit, die für das Böse steht. Verstehen heißt für die Johannesoffenbarung zu widerstehen und sich der Alltagswelt zu entziehen (vgl. 18,4). Wie im Rezeptionstext steht eine gefährliche Faszination des Bösen im Blick, die verbunden ist mit der Todesandrohung im Falle der Verweigerung. Die Zahl des Bösen zu erkennen heißt, und auch hier lässt sich die Rezeption des Liedtextes als interessanter Verstehensimpuls begreifen, nicht über die Identität hinter der Zahl 666 zu spekulieren, sondern die Verstehensforderung als Weigerung gegenüber der Besitzergreifung durch das Böse zu begreifen.
4. Auswertung Auch wenn der Rezeptionstext seinen Bezug durch ein Zitat aus dem Referenztext deutlich markiert, ist das Lied »The Number of the Beast« keine enge Nacherzählung von Offb 12,12–13,18. Es handelt sich um eine kreative und eigenständige Rezeption, die an verschiedenen Punkten eine Transparenz gegenüber dem Referenztext erkennen lässt. Diese wird durch Inhalte aus der Gedächtnisspur der Johannesoffenbarung, möglicherweise auch mit Kenntnis weiterer Stoffe, vor allem aus Offb 20, ergänzt. Entscheidend für die Darstellung des Referenztextes ist die Veränderung der Erzählperspektive, die anstelle eines allwissenden Erzählers zwei Figuren der Erzählwelt als Ich-Erzähler zu Wort kommen lässt – einen von der Inszenierung des (Satan‐)Kultes Betroffenen, der sich dem Gesehenen nicht entziehen kann, und den Satan selbst, der seine eigene Macht feiert. Dem Referenztext wird bei dieser Rezeption vor allem das Element der gefährlichen Besitzergreifung durch die Faszination des Bösen entnommen und so auch – eben durch das Experiment der Rezeption – für die Exegese anschaulich gemacht. Im Dialog mit meinen wirkungsgeschichtlichen Überlegungen in der Gedenkschrift für Andrea Zimmermann aus dem Jahr 201172 ist die Dynamik zwischen dem Referenztext und seiner Gedächtnisspur hervorzuheben. Die Erinnerung bringt in ihrer künstlerisch frei gestalteten Auslegung den Aspekt der Rezeptionsästhetik – wenngleich in einem neuzeitlichen Verstehensrahmen –, 72
Labahn, Erfahrungen (s. Anm. 15).
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der Teil des hermeneutischen Prozesses der Textauslegung sein sollte, so zur Geltung, dass sie Aspekte des exegetischen Diskurses beleuchtet. Wie gesehen, inszeniert Iron Maidens Aufnahme von Offb 13 den Text dramatisch; die Rezeption macht sich Aussagen jenes Textes so zu eigen, dass der Sänger als Ausleger Teil der Textwelt wird, die jenseits der historischen Kenntnis der Entstehungssituation der Johannesoffenbarung plausibel wird. Man kann sagen, die Bedrohung, die die Johannesoffenbarung als Sinnkonstruktion der Wirklichkeit ihrer Adressatinnen und Adressaten mit Hilfe alttestamentlicher Erinnerungen, aber auch apokalyptischer Denkmuster aufbaut, wird anschaulich gemacht. Es wird so zugleich deutlich, dass das Bild der Bedrohung, das der Text entwickelt, aber historischer Nachfrage so nicht standhält, durch die Erzählung als eine reale Gefahr vorgestellt wird. Der zweite wichtige Rezeptionsgegenstand ist »666, die Zahl der Bestie«. Sie wird – wie im Referenztext – zum Bild der Herrschaft des Bösen, wobei die Rezeption den Fokus nicht darauf setzt, eine Figur hinter der Zahl zu identifizieren, sondern den Anspruch dieses Symbols auf Gefolgschaft zwischen Akzeptanz (so im Liedtext) und Verweigerung darzustellen. Anders als im Referenztext geht es nicht um Deutung der Wirklichkeit und entsprechenden Lebensvollzug, sondern um Unterhaltung, bei der der Schauder des Bösen eine Rolle spielt. Die unterschiedliche Pragmatik setzt die Grenzen des Vergleichs, der aber m. E. zeigt, dass Wirkungsgeschichte Impulse zum exegetischen Verständnis setzen kann, auch wenn jede exegetische Argumentation ihr eigenes Methodeninventar als Koordinatenkreuz der Interpretation verwendet. Blick man auf die Pragmatik beider Texte, so ist im Blick auf »The Number of the Beast« daran zu erinnern, dass dies kein (anti‐)religiöser Traktat mit Satanspropaganda ist, sondern ein Teil der Unterhaltungsindustrie, der auf bestimmte, vor allem jugendliche Hörerinnen und Hörer zielt. Ohne soziologische Detailstudien kann hier nur festgehalten werden, dass mit dem durch Satan, seinen Kult und seine Zahl repräsentierten Esoterischen und Fremden gespielt wird. Das Satanische wird zum Gegenentwurf des Etablierten mit seinen anerkannten gesellschaftlichen Normen. Das Spiel mit dem Bösen kann für die Rezipientinnen und Rezipienten zum Akt der Selbstfindung und einer Identitätsfindung werden, jenseits von den gesellschaftlich und politisch anerkannten Normen. Gerade diese Pointe ist sehr beachtlich. Formt im Metal-Song das Böse eine Anti-Gesellschaft, so repräsentiert in der Erzählung der Johannesoffenbarung die Gesellschaft das Böse, dem sich die Adressatinnen und Adressaten entziehen sollen. Auch im biblischen Text geht es um einen Protest – nicht der Jugend, sondern eines radikalen Verstehens der Christusbotschaft –, der auf Identitätsbildung jenseits der religiösen, politischen und ökonomischen Forderungen und Normen der etablierten Alltagswelt zielt.73 Die kreative Perspek73
S. a. Labahn, Konflikt (s. Anm. 38), 394–396.
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tivverschiebung der Rezeption spielt sich nicht allein auf der Ebene der Erzählung ab, sondern auch in der Verbindung des Bösen mit der Gesellschaft; hier steht das Böse für einen notwendigen Gegenentwurf, im Bibeltext ist die Gesellschaft Ausdruck des Widergöttlichen und verlangt ihrerseits nach einem alternativen Lebensmodell. Stehen beide Texte der jeweiligen Gesellschaft distanziert gegenüber, so ist die Motivation grundlegend verschieden – im Verhältnis zum Bösen liegt nicht allein eine unterschiedliche Reflexionstiefe beider Präsentationen vor, sondern es sind auch unterschiedliche Sinnentwürfe, die eine breite Differenz zwischen Referenz- und Rezeptionstext umreißen. Dass die Normenkritik der Johannesoffenbarung ihrerseits in den frühchristlich-kleinasiatischen Christusgemeinden anstößig war, wie Heavy-Metal-Musik bis in die Gegenwart, ist eine Randbemerkung, die zu weiterer kritischer Auseinandersetzung mit dem letzten Buch der Bibel einlädt – in diesem Sinne darf man hoffentlich auf weitere Beiträge des Jubilars zu diesem Buch gespannt sein.
Haben die Magier den Verstand verloren? Jannes und Jambres im 2. Timotheusbrief Jens Herzer
Das Interesse und, ja, auch die wissenschaftliche Lust am Imaginären und Kuriosen, am Numinosen und Magischen ohnehin – das ist es, was Marco Frenschkowski und seine wissenschaftliche Arbeit in besonderer Weise auszeichnet. Auf welch breite Aufmerksamkeit diese Entdeckerfreude stößt, zeigt nicht zuletzt die beachtliche und vielbeachtete »Magica«-Ausstellung in Leipzig, als deren Kurator Marco Frenschkowski die Leipziger Sammlung von Zauberbüchern erstmals präsentiert, arrangiert und erklärt hat.1 Er ist wohl auch der Einzige, der diese Aufgabe in dieser Weise und mit immenser Sach- und Detailkenntnis hat übernehmen können. So erscheint es mir nicht unangemessen, ihm als meinem geschätzten Leipziger Kollegen diese Miszelle, ja diese – um bei meinem »Leisten« zu bleiben – exegetische Miniatur einer religionsgeschichtlich kuriosen Anspielung auf zwei dubiose Gestalten im 2. Timotheusbrief zu widmen, Jannes und Jambres nämlich, die sich – so die Legende – der Magie verschrieben haben und damit (wie sollte es anders sein) ein unrühmliches Ende nahmen.2 Hinter der Erwähnung dieser beiden legendären Figuren im 2. Timotheusbrief steht nicht zuletzt die innovative Imagination eines kreativen biblischen Autors, der sich als religionsgeschichtlich versiert zu erkennen gibt und es versteht, seine Leserinnen und Leser durch überraschende Vergleiche gleichermaßen zu erstaunen und 1
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Marco Frenschkowski, Zauberbücher. Die Leipziger Magica-Sammlung im Schatten der Frühaufklärung. Katalog zur Ausstellung der Universitätsbibliothek Leipzig 15. 11. 2019–16. 02.2020, hrsg. v. der Universitätsbibliothek Leipzig, Schriften aus der Universitätsbibliothek 44, Leipzig 2019. Unter der Voraussetzung des Genres der Miszelle muss in dem hier gegebenen Rahmen auf eine umfassende Dokumentation der exegetischen Forschung verzichtet werden. In seinem materialreichen Werk über die Bedeutung und Verbreitung von Magie im antiken Christentum erwähnt Marco Frenschkowski zwar gelegentlich Jannes und Jambres und die mit ihnen verbundenen Überlieferungen, 2Tim 3,8 nennt er dabei allerdings nur beiläufig, vgl. Marco Frenschkowski, Magie im antiken Christentum. Eine Studie zur Alten Kirche und ihrem Umfeld, StAC 7, Stuttgart 2016, 183 Anm. 391.
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zu faszinieren. Dabei spielt es vordergründig keine entscheidende Rolle, ob es sich bei diesem Autor um eine literarische »Impersonation« des Apostels handelt, um Paulus selbst – wie ich inzwischen begründet vermute – oder eben vielleicht auch um die ehemaligen Mitarbeiter aus dem einstigen Missionsteam des Paulus, wie Marco Frenschkowski in einem viel zitierten Beitrag vorgeschlagen hat.3
1. Mose in der paulinischen U¨berlieferung Die Anspielung – mehr ist es leider nicht – auf Jannes und Jambres und ihren Widerstand gegen Mose in 2Tim 3,8 kommt in der Tat überraschend, zumal die biblische Tradition diese Namen sonst nicht kennt. Entsprechend schwierig ist die Deutung dieser Stelle: »Was unser Autor durch die Nennung dieses Beispieles verdeutlichen will, ist nicht eindeutig zu klären.«4 Es ist noch nicht einmal angedeutet, dass es bei den beiden um zwei Vertreter jener ägyptischen »Weisen und Zauberer« (ֲחָכִמים/ ;ְמַכ ְשִּׁפיםLXX: σωφίσται/φάρμακοι) geht, die in der Auseinandersetzung mit Mose und Aaron als deren »Gegenspieler«5 aufseiten des Pharao antreten (vgl. Ex 7,11; 9,11). Die sich daraus ergebende Frage ist, welche Funktion diese beiden Figuren für die im 2. Timotheusbrief entfaltete Argumentation haben und welche Assoziationen Timotheus bzw. die Leserinnen und Leser damit verbinden sollen. Man muss nämlich schon recht gut mit der legendarischen Überlieferung des Judentums vertraut sein,6 um sie aus der bloßen 3
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Ders., Pseudepigraphie und Paulusschule. Gedanken zur Verfasserschaft der Deuteropaulinen, besonders der Pastoralbriefe, in: Friedrich Wilhelm Horn (Hrsg.), Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte, BZNW 106, Berlin/New York 2001, 239–272. Da ich es inzwischen nicht mehr für ausgeschlossen halte, dass Paulus selbst für die Abfassung des 2Tim (und auch den Tit) verantwortlich ist, nenne ich ihn im Folgenden stets als Autor. Lorenz Oberlinner, Die Pastoralbriefe. Zweite Folge: Kommentar zum zweiten Timotheusbrief, HThKNT XI/2, Freiburg/Basel/Wien 1995, 131. Vgl. dazu Hermann Lichtenberger, »Wie Jannes und Jambres Mose widerstanden« (2Tim 3,8), in: Michael Tilly/Ulrich Mell (Hrsg., unter Mitarbeit von Manuel Nägele), Gegenspieler. Zur Auseinandersetzung mit dem Gegner in frühjüdischer und urchristlicher Literatur, WUNT 428, Tübingen 2019, 207–218. Vgl. dazu die umfassende Bearbeitung, Herausgabe, Übersetzung und Kommentierung der Fragmente bei Albert Pietersma, The Apocryphon of Jannes and Jambres the Magicians. P. Chester Beatty XVI (with New Editions of Papyrus Vindobonensis Greek inv. 29345 + 29828 verso and British Library Cotton Tiberius B. v f. 87), RGRW 119, Leiden/New York/Köln 1994; vgl. auch ders./R. Theodore Lutz, Jannes and Jambres (First to Third Centuries A.D.). A New Translation and Introduction, in: James. H. Charlesworth (Hrsg.), The Old Testament Pseudepigrapha, Bd. 2, New York u. a. 1985, 427–442; ders., Jannes und Jambres, JSHRZ.NF 2/4, Gütersloh 2013.
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Namensnennung überhaupt als Widersacher des Mose zu identifizieren und zu verstehen, warum Paulus sie an dieser Stelle auf so einzigartige Weise namentlich nennt. Das Attribut »einzigartig« ist freilich insofern zu relativieren, als gerade die Mosefigur bei Paulus des Öfteren auftritt und zur Darstellung und Veranschaulichung aktueller Problemkonstellationen funktionalisiert wird. So entfaltet Paulus in 1Kor 10,1–13 die Wunder im Zusammenhang des Exodus Israels unter der Führung des Mose – Wolkensäule (vgl. Ex 31,21), Durchzug durch das Meer als Taufe auf Mose (vgl. Ex 14,22), Wasser aus dem Felsen (vgl. Ex 17,16) – sowie den Ungehorsam Israels mit seinen Folgen als Folie für eine Warnung an diejenigen in Korinth, die sich im Hinblick auf ihr unbekümmertes Verhalten den paganen Dämonen respektive Göttern gegenüber zu den »Starken« zählen und mit ihrer »aufgeblasenen Gnosis« die »Schwachen« dominieren: »Wer meint, er steht, sehe zu, dass er nicht falle« (1Kor 10,12). In 2Kor 3,7–16 ist es die Decke, die Mose bei seinem Herabkommen vom Berg der Gottesoffenbarung über sein Haupt legte, damit Israel den Gottesglanz nicht sehen sollte (vgl. Ex 34,29–35) – von Paulus interpretiert als Veranschaulichung der Unmöglichkeit, die geistliche Bedeutung der Schriften des »alten Bundes« zu verstehen, weil die Verhüllung nur in der »Zuwendung zum Herrn« bzw. »in Christus abgetan« werde (2Kor 3,14.16). Nicht namentlich genannt, aber doch in der Figur des »Mittlers« präsent ist Mose auch in Gal 3,19 f.: Durch ihn ist das Gesetz gegeben, das er zuvor von Engeln empfangen habe. In diese Bezüge zur Mosegestalt, die in den Briefen des Paulus jeweils auch einzigartig sind, fügt sich die Anspielung auf den Widerstand von Jannes und Jambres7 gegen Mose in 2Tim 3,8 – erneut unter Aufnahme eines Motivs im Zusammenhang mit dem Exodus – durchaus ein.
2. Jannes und Jambres im Kontext von 2Tim 3 Es sei hier nur kurz bemerkt, dass der 2. Timotheusbrief als ein testamentarischer Text gestaltet ist und insofern innerhalb der drei Pastoralbriefe eine Sonderstellung einnimmt. Daher ist literarisch zu beachten, dass wir es entweder mit einem persönlichen Schreiben zu tun haben, das im Wesentlichen nur einen Adressaten, den Paulusmitarbeiter Timotheus, voraussetzt, oder aber mit der fiktiven Imagination einer solchen persönlichen Adressierung, in der gewissermaßen die impliziten Leserinnen und Leser die Position des adressierten Mitarbeiters einnehmen. Was der Autor bei der Nennung der Namen von Jannes
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In lateinischer Überlieferung findet sich in 2Tim 3,8 auch die wohl ursprüngliche Namensform »Mambres«, dem folgen u. a. die griechischen Handschriften F und G (beide 9. Jh.); zu den Namensformen vgl. unten mit Anm. 31.
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und Jambres voraussetzt und intertextuell für das Verstehen aufruft, läuft dabei letztlich auf dasselbe hinaus. Der nähere Kontext dieser Stelle liest sich zunächst wie eine apokalyptisch anmutende Bestandsaufnahme, mit der Paulus seinen Mitarbeiter Timotheus zugleich warnen und ermutigen will, sich angesichts der zu erwartenden Umstände nicht beirren zu lassen und bei seinen gelernten und gewonnenen Überzeugungen zu bleiben (2Tim 3,1–10): »(3,1) Dies aber sollst du wissen, dass in den letzten Tagen schlimme Zeiten anbrechen werden, (2) denn die Menschen werden selbstsüchtig sein, geldgierig, prahlerisch, hochmütig, lästerlich, den Eltern ungehorsam, undankbar, unheilig, (3) unzufrieden, unversöhnlich, verleumderisch, haltlos, unbändig, das Gute nicht liebend, (4) betrügerisch, dreist, aufgeblasen, mehr das Vergnügen als Gott liebend; (5) sie geben sich den Anschein von Frömmigkeit, verleugnen aber deren Kraft – und von solchen (Leuten) wende dich ab. (6) Unter denen sind nämlich die, die sich in die Häuser einschleichen und (jene) ›Fräuleins‹ vereinnahmen, welche überhäuft sind von Sünden, getrieben von vielfältigen Begierden, (7) die (zwar) ständig lernen und doch niemals zur Erkenntnis der Wahrheit kommen können. (8) Auf (dieselbe) Weise aber, in der sich Jannes und Jambres Mose widersetzt haben, so widersetzen sich auch jene der Wahrheit, Menschen, die den Verstand verloren haben, unfähig was den Glauben angeht. (9) Aber sie werden (damit) nicht weiter vorankommen, denn ihr Unverstand wird für alle offenkundig sein, wie auch der von jenen (offenbar) wurde. (10) Du aber bist mir nachgefolgt in der Lehre […].«
Der Text wirft freilich mehr Fragen auf, als hier erörtert werden können. Im Fokus steht vor allem die Frage nach der Funktion des Vergleichs von Jannes und Jambres als »Widerständler« gegen Mose mit Menschen, die vor dem Hintergrund des apokalyptischen Klischees vom endzeitlichen Sittenverfall mittels eines Lasterkatalogs regelrecht diffamiert werden.8 Man fragt sich freilich, wie derart offenkundig »schlechte« Menschen mit ihrem Auftreten und mit ihren Verführungskünsten bei anderen überhaupt Erfolg haben können, wobei zu konzedieren ist, dass diese nicht weniger schlecht wegkommen als jene. Dies hat offenbar mit jener μόρφωσις (3,5) zu tun, mit der sich die Verführer nach außen hin als besonders »fromm« verstellen und mit dieser Illusion andere über ihr eigentliches Wesen und ihre eigentlichen Absichten hinwegtäuschen, ja – um diese semantische Spur fortzuführen – regelrecht »verzaubern«. Dieser Aspekt wird allerdings nicht explizit benannt; im Griechischen müsste man dafür einen Begriff wie βασκαίνω erwarten, wie ihn Paulus beispielsweise in Gal 3,1 zur Charakterisierung der Wirkung derer verwendet, die mit ihrer Beschneidungsfor8
Vgl. dazu Jens Herzer, Vom Sinn und Nutzen der Polemik. Zur Pragmatik der Gegnerinvektiven in den Pastoralbriefen, in: Tilly/Mell (Hrsg.), Gegenspieler (s. Anm. 5), 183–205.
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derung die Galater von der »Wahrheit des Evangeliums« des Paulus abspenstig machen und für sich vereinnahmen (Gal 2,5.14; vgl. 4,16; 5,7). Allerdings könnte der Begriff αἰχμαλωτίζειν »gefangen nehmen« in 2Tim 3,6 im übertragenen Sinn eine solche Konnotation durchaus tragen, auch wenn er traditions- bzw. begriffsgeschichtlich eher als Ausdruck für die Gefangennahme Israels durch die Babylonier geprägt ist.9 Dieser Zusammenhang spielt in 2Tim 3 jedoch keine Rolle, und da der Begriff auch sonst von Paulus gelegentlich für das gebraucht wird, was den Menschen bzw. seinen Willen und Verstand verdunkelt (Röm 7,23) bzw. auch positiv für eine bewusste Ausrichtung des Denkens auf Christus hin (2Kor 10,5), wird man ihn auch in 2Tim 3,6 in übertragener Bedeutung unabhängig von der ansonsten starken traditionsgeschichtlichen Prägung interpretieren müssen: Jemanden entweder durch Gewalt oder durch Verstellung bzw. Täuschung so für sich fesseln und vereinnahmen, dass er bzw. in diesem Fall konkret: sie dem Willen des Täuschenden folgt bzw. folgen. Genau dies ist es, was von den γυναικάρια gesagt wird: Sie lassen sich vereinnahmen und wollen von den Verführern lernen, können aber natürlich darin keinen Erfolg haben, weil bereits der gesamte Vorgang unter einem negativen Vorzeichen steht. Nicht nur, dass die Verführer sich mit unlauteren Mitteln ihrer Verstellung (μόρφωσις) Zugang zu den Häusern verschaffen,10 sondern auch die verführten Frauen sind »mit Sünden beladen und getrieben von vielfältigen Begierden« (3,6). Dieses frauenfeindliche Klischee wird unterstrichen durch den in der Gräzität seltenen Diminutiv γυναικάριον, das zumal im Plural hier deutlich herabsetzenden Charakter trägt.11 9
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Vgl. z. B. LXX Ps 125,1; Jes 45,13; Ez 1,1 f.; 3,11.15 u. v. a. bis hin in die Literatur des Frühjudentums in hellenistisch-römischer Zeit. Zum falschen Schein als Klischee der Kritik an herumreisenden Philosophen vgl. Luke T. Johnson, The First and Second Letters to Timothy. A New Translation with Introduction and Commentary, AB 35 A, New York u. a. 2001, 410 f. (mit Belegen): »All such charges can readily be found in virtually any of Lucian’s attacks on phony philosophers […]« (a. a. O., 410). Vgl. etwa Epiktet, ench. 7; diss. 2,18.22; Marc Aurel, seips. 5,11. Dabei ist der Begriff (z. B. in Epiktet, ench. 7; diss. 2,22) nicht generell negativ konnotiert (gegen Martin Dibelius/Hans Conzelmann, Die Pastoralbriefe, HNT 13, Tü bingen 41966, 87), wohl aber als Objekt des Begehrens des Mannes beschrieben; in Epiktet, diss. 2,18, bezeichnet der Begriff eine Ehebrecherin. Eine anschauliche Parallele bietet Lukian von Samosata in seinem Werk über entlaufene Sklaven (fug. 18 f.), der die Verführung von Frauen durch zweifelhafte Philosophen aufs Korn nimmt: Kynische Wanderphilosophen verführen die Frauen ihrer Gastgeber und versprechen ihnen, sie zu lehren und zu Philosophen zu machen. Einher geht dies mit der Klage über ausschweifende Symposien und der Feststellung, dass ihnen nichts so entgegensteht wie ihre Worte und Taten. Interessant ist hier vor allem die Verbindung mit dem Motiv des Lernens bzw. »Philoso-
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Da Paulus nichts Näheres über Jannes und Jambres sagt, als dass sie Mose widerstanden hätten, ist für die Frage nach der Funktion ihrer Erwähnung in 2Tim 3,8 bzw. nach der Art des Widerstands die kontextuelle Einbindung wichtig. Interessant ist dabei die Formulierung von 3,8: ὃν τρόπον […] οὕτως καὶ – »auf dieselbe Art und Weise wie […] so auch«: Der Widerstand der diffamierten Gegner gegen die Wahrheit geschieht danach »auf dieselbe Weise« wie derjenige von Jannes und Jambres gegen Mose.12 Aufgrund der Formulierung bin ich mit Hermann Lichtenberger der Meinung, dass diese Analogie zu Jannes und Jambres auf innerchristliche Gegner hinweist,13 was auch insgesamt dem Profil der Widerständler gegen die Wahrheit im 2. Timotheusbrief entsprechen würde.14 Dies wiederum könnte Rückschlüsse auf die Art der vorausgesetzten Tradition zulassen. Das ist deshalb bemerkenswert, weil schon von der biblischen Überlieferung her die Widersacher des Mose Zauberer sind (Ex 7,11) und diese Charakteristik auch in der Jannes-und-Jambres-Rezeption dominierend gewesen ist (s. u. 3.). Dabei ist jedoch die Tatsache von Bedeutung, dass im 2. Timotheusbrief keine Andeutung darüber gemacht wird, es ginge bei der Auseinandersetzung mit den Widersachern um magische Praktiken wie bei den »Gegenmirakeln« der ägyptischen Zauberer gegen die (oft ebenfalls als Zauberei beurteilten)15 Zeichen des Mose vor dem Pharao, und dass daher die Analogie zu Jannes und Jambres auf ein solches Profil abheben würde.16 Vielmehr geht es ausdrücklich um Differenzen in der Lehre bzw. in Bezug auf die Gestalt der Evangeliumsverkündigung. Im 2. Timotheusbrief bekommen die Gegner
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phierens«. Von einer Verführung – allerdings nicht nur der Frauen – durch daherkommende »Überapostel« und »Diener des Satans« geht letztlich auch Paulus etwa in 2Kor 11,1–6.12–15 aus. Irenäus, haer. I 13,6, verwendet den Begriff γυναικάρια zur Bezeichnung von Frauen, die durch den Gnostiker Markos betrogen wurden. Zur auffälligen Formulierung vgl. Gerd Häfner, »Nützlich zur Belehrung« (2 Tim 3,16). Die Rolle der Schrift in den Pastoralbriefen im Rahmen der Paulusrezeption, HBS 25, Freiburg u. a. 2000, 185: Damit »könnte gerade auf das ganze Geschick der beiden in der Konfrontation mit Mose angespielt sein: auf jene Weise nämlich widerstehen sie, die zwar zunächst zu glücken scheint, dann aber kläglich scheitert«. Lichtenberger, »Wie Jannes und Jambres Mose widerstanden« (s. Anm. 5), 212 f.; vgl. auch Alfons Weiser, Der zweite Brief an Timotheus, EKK XVI/1, Düsseldorf u. a. 2003, 258 f. Offener formuliert Pietersma, Jannes und Jambres (s. Anm. 6), 14 Anm. 39, mit Blick auf Plinius d. Ä., n. h. 2,11 (»Es gibt auch noch eine andere magische Sekte, die von Moses, Jannes, Lotapes und den Juden ausgeht, aber viele tausend Jahre nach Zoroaster«, Übersetzung Pietersma, a. a. O., 14): »Jannes und Jambres in 2Tim 3,8 (können) im Grunde genommen sowohl als ›insiders‹ als auch als ›outsiders‹ betrachtet werden.« Vgl. Jens Herzer, Juden – Christen – Gnostiker. Zur Gegnerproblematik der Pastoralbriefe, in: BThZ 25 (2008), 143–168. Vgl. Frenschkowski, Magie im antiken Christentum (s. Anm. 2), 172. Vgl. Weiser, Der zweite Brief an Timotheus (s. Anm. 13), 259.
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gleichsam ein Gesicht bzw. zumindest einen Namen durch zwei andere Personen, die in 2Tim 2,17 f. genannt werden: Hymenaios und Philetos, denen der Autor vorwirft, sie seien von der Wahrheit abgewichen indem sie behaupten, die Auferstehung sei schon geschehen, und damit andere von ihrem Glauben abbringen. Die gegnerische Auffassung sei ein »Krebsgeschwür« (γάγγραινα), das deren »zunehmendes Voranschreiten in der Gottlosigkeit« anschaulich macht – dieselbe Konsequenz, wie sie auch in 3,9 hinsichtlich der Analogie der Gegner mit Jannes und Jambres beschrieben wird und die zudem auch als »Widerstand gegen die Wahrheit« gilt (3,8). Die Funktion der Analogie besteht im Kontext des Briefes also nicht in dem, was die Gegner konkret tun, sondern in der Vergeblichkeit der Anmaßung, sich dem Willen Gottes bzw. der Wahrheit widersetzen und andere von den eigenen Lehren überzeugen zu wollen sowie letztlich im Scheitern solcher Bemühungen, trotz des relativen Erfolges bei manchen, die sich ihnen öffnen.17 Nur ἄνθρωποι κατεφθαρμένοι τὸν νοῦν können sich zu dieser Vermessenheit versteigen, sich gegen Gottes Wahrheit zu stellen – »Menschen, die den Verstand verloren haben«, und das ist es, was letztlich offenkundig werden wird. Der im Neuen Testament singuläre Begriff καταφθείρω bezeichnet – verstärkt durch die Vorsilbe κατά – das vollständige Verderben bzw. die Vernichtung, nicht einfach nur eine »Verdorbenheit« oder »Zerrüttung« (so viele Übersetzungen).18 »Erfolg« können solche Leute nur bei denen haben, die selbst nicht ganz bei Trost sind und sich vom »Unverstand« der Verführer gefangen nehmen lassen (3,6).
3. Jannes und Jambres in der U¨berlieferung Die Rezeption der ägyptischen Zauberer, die im Laufe der Überlieferung die Namen Jannes und Jambres erhalten, ist vielfältig und hat Spuren nicht nur in jüdischer und christlicher, sondern auch paganer Literatur hinterlassen.19 Von 17
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Vgl. bereits Heinrich Julius Holtzmann, Die Pastoralbriefe kritisch und exegetisch behandelt, Leipzig 1880, 429. Vgl. Norbert Brox, Die Pastoralbriefe, RNT 7/2, Regensburg 1969, 255: »Ihr Verstand ist zerstört […]«; ähnlich z. B. Weiser, Der zweite Brief an Timotheus (s. Anm. 13), 258 f.; Heinz-Werner Neudorfer, Der zweite Brief des Paulus an Timotheus, HTA, Witten/ Gießen 2017, 199 f. u. a. Auch im Koran (Sure 20) wird die Geschichte von Mose und den Zauberern des Pharao erzählt, allerdings ist nicht erkennbar, dass die Jannes-und-Jambres-Legende bekannt ist; die Namen werden jedenfalls nicht erwähnt. Außerhalb der jüdisch-christlichen Tradition ist die Legende bekannt bei Plinius d. Ä., n. h. XXX 1,2 (1. Jh.); Apuleius Madaurensis (Mitte 2. Jh.), apol. (De magia) 90; Numenius von Apamea (2. Jh.; bei Euseb, praep. ev. 9,8. Origenes, c. Cels. 4,51, ist der Meinung, Numenius habe aus der Ge-
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besonderer Bedeutung ist das sog. »Apokryphon Jannes und Jambres«, dessen Problem jedoch der nur fragmentarische Zustand ist. Albert Pietersma, der sich in besonderer Weise um die Rekonstruktion des Textes des Apokryphons anhand der erhaltenen Fragmente verdient gemacht hat, identifizierte mehr als vierzig verschiedenartige Rezeptionstypen mit sehr unterschiedlichen Motiven.20 Inwieweit von einer frühen Existenz eines apokryphen Buches (liber secretus) über »Jannes und Jambres« auszugehen ist, wie es bereits Origenes für das 3. Jh. belegt und hinter 2Tim 3,8 vermutet, bleibt umstritten.21 An dieser Stelle sei in besonderer Weise auf ein Papyrusfragment hingewiesen, das 2018 von Frederic Krueger publiziert wurde und nun zur Liste der Textzeugen hinzuzufügen ist.22 Das koptisch-christliche Fragment aus der Papyrussammlung der Leipziger Universitätsbibliothek unter der Inventarnummer P.Lips.Inv. 229923 stammt aus dem 4. Jh. und ist als Übersetzung eines griechischen Textes erkennbar.24 Das Fragment zeigt einmal mehr, wie verbreitet und bekannt die Legende von Jannes und Jambres gewesen ist – ein Wissen, das offenbar auch der Autor des 2. Timotheusbriefes voraussetzt. Die wenigen erhaltenen bzw. rekonstruierbaren Zeilen des Leipziger Fragments sind offenbar Teil einer altäthiopischen Version der Jannes-und-Jambres-Legende und wurden als solche erst 2015 identifiziert. Sehr viel ist dem Fragment freilich nicht zu
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schichte von Jannes und Jambres zitiert, was von Pietersma als Indiz für eine Kenntnis des Buches »Jannes und Jambres« gewertet wird, vgl. Pietersma, Jannes und Jambres [s. Anm. 6], 13). Zur These von Martin McNamara, The New Testament and the Palestinian Targum to the Pentateuch, AnBib 27, Rom 1966, 82–86, die einzige wirkliche Parallele zu 2Tim 3,8 sei TPsJ zu Ex 7,11 f., wovon der Paulustext abhängig sei, vgl. (mit negativem Ergebnis) Häfner, »Nützlich zur Belehrung« (s. Anm. 12), 177 f.; vgl. dazu auch Lester L. Grabbe, The Jannes/Jambres Tradition in Targum Pseudo-Jonathan and Its Date, in: JBL 98 (1979), 393–401. Zur Dokumentation der rabbinischen Überlieferung vgl. Hermann L. Strack/Paul Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 3. Die Briefe des Neuen Testaments und die Offenbarung Johannis, München 21926, 661–664. Pietersma, Jannes und Jambres (s. Anm. 6), 16–19. Origenes, in Mt. comm. 117 (zu Mt 27,3–10; PL 13, 1796); vgl. Pietersma, Jannes und Jambres (s. Anm. 6), 21 f., der selbst eine Datierung in das 1. Jh. n. Chr. sowie jüdischen Ursprung in Ägypten für wahrscheinlich hält (a. a. O., 31 f.). Zum Verhältnis von 2Tim 3,8 zur Jannes-und-Jambres-Überlieferung vgl. auch Häfner, »Nützlich zur Belehrung« (s. Anm. 12), 175–182. Frederic Krueger, Pharaoh’s Sorcerers Revisited: A Sahidic Exodus Apocryphon (P.Lips. Inv. 2299) and the Legend of Jannes and Jambres the Magicians between Judaism, Christianity, and Native Egyptian Tradition, in: APF 64 (2018), 148–198. Vgl. https://papyri.uni-leipzig.de/receive/UBLPapyri_schrift_00273760 (Stand: 30. 12. 2019). Krueger, Pharaoh’s Sorcerers Revisited (s. Anm. 22), 174–176.
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entnehmen. In der englischen Übersetzung von Frederic Krueger lautet der Text von P.Lips.Inv. 2299: 2299r (16 Zeilen): »[…] he [said], ›Hasten t[o …] encamped in the eas[t …] … three … [… (5) …] … you return to the/so that (?) [… pro]ceed to wipe … [… wip]e (?) them out, eradicate them f[ro]m the lan[d …]‹ They counted [the(ir?)] myriads and said: ›They are a hundred times ten thousand under the leadership of this little boy. He is going to sh[ut (10) th]e desert against us, and those who are his own he has ta[ken away fr]om those who are not his own!‹ When Pharaoh heard these things, he forthwith wrote a furious letter, say[ing], ›[G]o to Memphis! Bring ye [Jan]nes and Jambres, the Two Sons, the priests (15) of Heliopolis!‹ And on that day [did] Jann[es and] Jambres come to Pharaoh …«25 2299v (15 Zeilen): »… break the (? or: … yourself in/as the ?) … […] … […] … (5) … men of … and ten thousand […] pure … and eight [hundred?] trumpeters, and six hundred of the best chariots at the rate of fourteen per chariot, and [a hundred?] (10) armored horsemen, and a hundred and forty thousa[nd …] … hundred teachers as hostages, and eight pure little boys to speak m[ag]ic (?) and […] hundred asses saddled with saddles of gold. [They said], namely Jannes and Jambres, ›And now [go], (15) find the He[brew a]n[d] br[ing him …].‹«26
Erstaunlich ist der militärisch anmutende Kontext, in dem Jannes und Jambres erscheinen, die als »die zwei Söhne« sowie als Priester von Heliopolis identifiziert und aus Memphis geholt werden. Man gewinnt den Eindruck, als ginge es weniger um einen Zweikampf der Magier mit Mose, sondern vielmehr um eine militärische Auseinandersetzung zwischen den von Mose angeführten Hebräern und den von Jannes und Jambres angeführten Ägyptern, die nicht nur militärische Kräfte einschließen, sondern erstaunlicherweise auch »Hunderte von Lehrern als Geiseln sowie acht kleine Jungen, um Magie zu sprechen« (Z. 11 f.v).27 Auf eine militärisch-exekutive Funktion von Jannes und Jambres deutet der Auftrag, den sie erteilen, »den Hebräer« zu finden und zu bringen (Z. 15v).28 Der Aspekt des Widerstandes von Jannes und Jambres gegen Mose käme dadurch noch deutlicher zum Ausdruck als lediglich durch einen Wettbewerb in Zauberkunststü25 26
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A. a. O., 177 (im Original kursiv). A. a. O., 180 (im Original kursiv). Nicht aufgenommen sind fünf Kleinstfragmente (a–d), die lediglich einzelne Buchstaben aufweisen, vgl. a. a. O., 179 (2299r) und 182 (2299v). Vgl. a. a. O., 191. Vgl. a. a. O., 191 f.: »It seems that Pharaoh’s usual solution for the crisis presented by the prediction of Moses’ leading the Exodus, namely throwing all newborn Hebrew boys into the Nile, is here replaced by a rather excessive military expedition specifically aimed at Moses that foreshadows (again: or actually is?) the pursuit of the Hebrews that we expect to take place at the time of Ex 14« (a. a. O., 192).
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cken. Dieser ägyptische Text gehört damit – ebenso wie etwa der Chester Beatty Papyrus XVI – zum ersten Grundtypus der Jannes-und-Jambres-Geschichten, die Hermann Lichtenberger identifiziert hat, in welchem (entsprechend der biblischen Exodustradition) die beiden Ägypter sind und als solche Feinde des Mose und des Volkes Israel bzw. seines Gottes.29 Ein zweiter Grundtypus von Überlieferungen charakterisiert die beiden als israelitische Gegner des Mose, die zudem die jüdischen Namensformen Jochana und Mambre tragen, die etymologisch aufschlussreich sind: Während Jochana ( )יחנהein bekannter theophorer Name (Johannes) ist, geht der Name Mambres auf hebr. »( ממריder Widerspenstige«) zurück.30 Aus der Kombination von Jochanan/Jannes und Mambres/Jambres erklärt sich auch, warum diese beiden Namen für die Widerständler gegen Mose gleichsam in der Tradition »erfunden« wurden.31 Besonders prominent ist ihre Erwähnung in der sog. Damaskusschrift (CDa V,17–19), die »Jochana ( )יחנהund seinen Bruder« (dessen Name nicht explizit genannt wird) als Widersacher von Mose und Aaron bereits für das frühe 1. Jh. v. Chr. bezeugt.32 Kontext ist hier der Kampf des »Fürsten der Lichter« gegen Belial; Jannes und Jambres werden zu Anführern des abtrünnigen Israel während des Exodus, die aus egoistischen Motiven heraus gegen Mose handeln und ihm das Volk abspenstig machen.33 Man könnte zwar, wie etwa Albert Pietersma, die Identifikation dieser in CD V genannten Brüder als Widersacher des Mose mit den ägyptischen Zauberern Jannes und Jambres bezweifeln, weil jene als israelitische Gegner des Mose dargestellt sind und nicht als Ägypter im Dienste des Pharao.34 Doch wird man eher damit zu rechnen haben, dass der relativ frühe Text von CD V gleichsam ein Baustein in der Geschichte dieser »Widerstandstradition« war, die letztlich zu einer Legende in vielfältiger Gestalt, unter anderem auch zu der eines apokryphen Buches, geführt hat. Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Überlieferungsstränge ist auch 2Tim 3,8 zu verstehen. Diese inhaltlich so wenig aussagekräftige Stelle ist zwar kein hinreichender Beleg für ein frühes Datum jenes liber secretum, das schon Origenes dahinter vermutete. Aber sie zeigt, dass es eine bereits entwickelte Legendenbildung gab, die die Namen Jannes und Jambres mit der Mosegeschichte von Ex 7 verband und diesen Bezug in unterschiedlicher Weise 29 30 31
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Vgl. Lichtenberger, »Wie Jannes und Jambres Mose widerstanden« (s. Anm. 5), 208 f. Vgl. dazu Strack/Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament (s. Anm. 19), 660. Zweifelhaft ist die Namensetymologie zu Jannes, über die Philip H. Towner, The Letters to Timothy and Titus, NICNT, Grand Rapids MI/Cambridge 2006, 564 (im Anschluss an Thackeray), spekuliert: »Jannes may be the Greek transliteration of Johana, which is possibly derived from the Hebrew ‘anah, meaning ›to oppose or contradict‹.« Vgl. Lichtenberger, »Wie Jannes und Jambres Mose widerstanden« (s. Anm. 5), 210. Vgl. a. a. O., 210 f. Vgl. Albert Pietersma, Art. Jannes und Jambres, in: ABD Bd. 3, 1992, 638–640, 638.
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ausgestaltete. Hermann Lichtenberger hat darauf hingewiesen, dass das oben erwähnte und für 2Tim 3,8 konstitutive Motiv des »Unverstandes« der Gescholtenen eine Affinität zur lateinischen Fassung des Textes von »Jannes und Jambres« (repräsentiert durch die Handschrift British Library Cotton Tiberius B V Fol. 87a und 87b35) aufweist, in der die Vermessenheit des Jannes gegenüber den Künsten des Mose als Grund für seinen Tod genannt wird.36 Die Frage ist, was sich daraus überlieferungsgeschichtlich ableiten lässt. Im griechischen Text des Apokryphons ist dieses Motiv nicht enthalten, allerdings ist er an dieser Stelle sehr fragmentarisch und bricht zudem ab, so dass kein letztes Urteil darüber möglich ist, ob das Motiv ursprünglich dazu gehörte oder der Überlieferung erst zugewachsen ist. Die Parallele macht auf jeden Fall deutlich, dass 2Tim 3,8 eine substantiellere Überlieferung voraussetzt, als es durch die Knappheit der Notiz scheint.
4. Resu¨mee Die kurze Notiz über Jannes und Jambres dient in 2Tim 3,8 zur Veranschaulichung der Gefahr, die von denen ausgeht, die der Wahrheit widerstehen. Wie deutlich geworden ist, setzt sie gerade in ihrer Knappheit und Unbestimmtheit keine fest geprägte bzw. bereits literarisch vorliegende Überlieferung voraus, nicht einmal die von Ex 7 herkommende Vorstellung, dass die beiden Genannten speziell mit magischen Kräften ausgestattet sind. Allerdings passt dies zumindest indirekt zu ihren verführerischen Künsten, ein Gedanke, den die Verwendung des Begriffes γόητες (»Betrüger, Scharlatane«) in 3,13 zusätzlich verstärkt. Doch wird darauf nicht explizit hingewiesen, schon gar nicht darf man diesen Aspekt realistisch überhöhen, als hätte Zauberei bei den konkreten Gegnern tatsächlich eine Rolle gespielt.37 Es geht bei der Beurteilung ihres Verhaltens als Widerstand gegen die Wahrheit um dieselbe Wahrheit des Evangeliums, von der bereits in Kap. 2 die Rede war. Der Unterschied liegt also nicht in der Sache, sondern in den Personen, die – wie schon in 3,2 und dann wieder in 3,13 – auch in 3,8 mit dem generellen Begriff ἄνθρωποι bezeichnet werden. Auf diesen Zusammenhang verweist auch die Tatsache, dass im 2. Timotheusbrief überhaupt konkrete Namen genannt werden, was in polemischen Kontexten eher ungewöhnlich ist. Der Umstand, dass in 2Tim 2,17 zwei konkrete 35
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Text bei Pietersma, Jannes und Jambres (s. Anm. 6), 68–72; vgl. die Dokumentation der British Library unter http://www.bl.uk/manuscripts/FullDisplay.aspx?ref=Cotton_MS_ Tiberius_B_V/1&index=0 (Stand: 30. 12.2019). Vgl. Lichtenberger, »Wie Jannes und Jambres Mose widerstanden« (s. Anm. 5), 213. Vgl. in diesem Sinne z. B. Gottfried Holtz, Die Pastoralbriefe, ThHK 13, Berlin 41986, 182; dagegen Oberlinner, Kommentar zum zweiten Timotheusbrief (s. Anm. 4), 131.
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Personen genannt sind und diese in 3,8 mit zwei konkreten, namentlich genannten Personen aus der Tradition verglichen werden, legt die Vermutung nahe, dass es tatsächlich um den Konflikt mit lediglich zwei innergemeindlich bekannten Personen und ihren schlechten Einfluss geht und nicht um eine unbestimmte Gegnerfront.38 Beide Male geht es um die Wahrheit; Hymenaios und Philetos sind nicht einfach nur von der Wahrheit abgewichen (2,18), sondern »schreiten immer weiter voran (προκόψουσιν) in der Gottlosigkeit (ἀσέβεια)« und begeben sich damit auf einen auch für andere gefährlichen Weg. Mit dem Beispiel von Jannes und Jambres in 3,8 wird dieses Abweichen von der Wahrheit gesteigert zum regelrechten Widerstand. Der entscheidende Kritikpunkt ist die Vermessenheit, mit der sie vorgehen, in der verfehlten Überzeugung, eine andere Wahrheit als die des (paulinischen) Evangeliums durchsetzen zu können. Sie mögen vielleicht andere »verzaubern«, aber wenn sie meinen, damit nachhaltigen Erfolg haben zu können, dann zeigen sie damit nur, dass sie selbst allen Verstand verloren haben und erweisen sich im Blick auf den Glauben als vollständig unglaubwürdig (3,9). Bemerkenswert ist dabei theologisch wie anthropologisch die Verbindung zwischen νοῦς und πίστις: Wessen Verstand nicht in der Lage ist, die Wahrheit zu erkennen, kann dieser Wahrheit auch nicht vertrauensvoll folgen und sich damit vor Gott bewähren und zum glaubwürdigen Vertreter der Wahrheit werden (vgl. 2,15). Zu erinnern ist daran, dass der Begriff Wahrheit im 2. Timotheusbrief kein unbestimmtes Abstraktum bleibt, sondern jenes Evangelium vom auferweckten Davidssohn Jesus Christus ist, um dessentwillen der Apostel leidet und von dem er für sich und alle Glaubenden die endgültige Rettung erwartet (2,8–10; vgl. 1,8–12; 2,25 f.). Entsprechend thematisiert Paulus diesen Aspekt erneut in 3,10–13. Der Unverstand im Blick auf die Wahrheit des Glaubens ist letztlich auch der Grund für das Scheitern dieser »Menschen«, der allen – gemeint ist wohl: allen, die selbst die Wahrheit kennen – offenbar sein muss. Paulus ist zuversichtlich, dass dieser offenkundige Unverstand dazu beiträgt, dass sie mit ihren Machenschaften letztlich nicht weiterkommen. Der vergleichende Bezug auf Jannes und Jambres lässt erkennen, dass Paulus bei Timotheus (bzw. bei den Leserinnen und Lesern) nicht nur ein Wissen um deren Identität, sondern auch um ihre Geschichte und ihr Schicksal voraussetzt, und zwar bezogen auf die aktuelle Auseinandersetzung: Es sind »schlechte Menschen und Betrüger, die ›voranschreiten‹ (προκόψουσιν) zum (immer) Schlimmeren, (andere) in die Irre leitend und selbst in die Irre geleitet« (3,13). Vor allem durch die erneute Verwendung des futurisch ausgerichteten Begriffes προκόψουσιν mit negativem Vorzeichen ist der Asebie-Gedanke von 2,16 noch einmal und abschließend aufgenommen. 38
Vgl. Neil J. McEleney, The Vice-Lists of the Pastoral Epistles, in: CBQ 36 (1974), 203– 219, 212.
Haben die Magier den Verstand verloren?
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Die Erwähnung von Jannes und Jambres in 2Tim 3,8 wird damit zum Ausgangspunkt für die breite Rezeption, die diese beiden Gestalten als Typoi der Christentumsgegner in der nachfolgenden christlichen Überlieferung erfahren haben.
Petrus, der »Heilige Gottes« Zum Verha¨ltnis von ActPe 22 und Mk 1,24 Paulus Enke
In den apokryphen Petrusakten, in denen es um die Taten und Wunder des Apostels Petrus sowie seine Auseinandersetzung mit der schillernden Figur des Simon Magus (s. Apg 8) geht, findet sich in Kapitel 22 eine Formulierung, welcher besondere Aufmerksamkeit gebührt. Petrus, der sich zu einem Kampf mit Simon rüstet, wird von einem Nebenprotagonisten namens Marcellus als »Heiliger Gottes« bezeichnet. Im Gutachten zu meiner Dissertation »Traum und Traumdeutung in den christlichen Apokryphen« schrieb der Jubilar zu der von mir eher am Rande angeführten Notiz, an dieser Stelle würde ein christologischer Titel auf Petrus übertragen: »Dazu wüsste man gerne mehr!«1 Der folgende Beitrag ver1
Obwohl es sich hier um einen christologischen Hoheitstitel handelt, findet dies in der Forschung kaum Beachtung. Der Abschnitt über die Petrusakten in Ruben Zimmermann (Hrsg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Bd. 2. Die Wunder der Apostel, Gütersloh 2017, 569–681, sagt dazu nichts. Marietheres Döhler (Hrsg.), Acta Petri. Text, Übersetzung und Kommentar zu den Actus Vercellenses, TU 171, Berlin/ Boston MA 2018, 271, verweist lediglich auf die Evangelienstellen, in welchen die Bezeichnung für Jesus verwendet wird und schreibt ebd., zur Formulierung cum Petro sancto dei nur, diese sei »geeignet, Petrus zu ehren«. Jan N. Bremmer, Women, Magic, Place and Date, in: ders. (Hrsg.), The Apocryphal Acts of Peter: Magic, Miracles and Gnosticism, Studies on the Apocryphal Acts of the Apostles 3, Leuven 1998, 1–20, 8–10, thematisiert zwar unsere Traumerzählung und die göttlichen Attribute des Simon Magus (ActPe 4; s. ferner u.) und geht a. a. O., 11, auch darauf ein, dass Petrus im Namen Jesu Christi einen Dämon austreibt (Kap. 11), sagt aber nichts zu dem christologischen Hoheitstitel für Petrus in Kap. 22. Auch sonst wird lediglich die Selbstbezeichnung des Simon Magus als »Kraft Gottes« berücksichtigt. So etwa bei Otto Zwierlein, Petrus in Rom: Die literarischen Zeugnisse. Mit einer kritischen Edition der Martyrien des Petrus und Paulus auf neuer handschriftlicher Grundlage, UALG 96, Berlin/New York 22010, 52–60. Pál Herczeg, Theios aner Traits in the Apocryphal Acts of Peter, in: Bremmer (Hrsg.), Acts of Peter, 29–38, geht ebenfalls auf die Titulierung des Petrus nicht ein. Unabhängig von den Überlegungen Herczegs scheint mir das Konzept des ›Theios aner‹ für unsere Überlegungen hier zu allgemein und weitläufig zu sein, um es als Verste-
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Paulus Enke
steht sich als Versuch, diesem Wunsch zu entsprechen und der Notiz im Rahmen dieser Festschrift – wenn auch nicht erschöpfend, sondern eher im Sinne einer Problemanzeige bzw. Bestandsaufnahme – nachzugehen.2
1. Kurze Bemerkungen zu den Petrusakten3 Die erste sichere Bezeugung der Akten findet sich in Eusebius’ Historia Ecclesiastica III 3,2.4 Das bedeutendste Teilstück der nur fragmentarisch überlieferten Akten bilden die Actus Vercellenses, eine lateinische Übersetzung spanischer oder vielleicht auch nordafrikanischer Herkunft aus dem 6. oder 7. Jh.5 In den
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hensfolie verwenden zu können. Wir konzentrieren uns hier v. a. auf den Vergleich zwischen Jesus als dem »Heiligen Gottes« und Petrus als dem, der in gleicher Weise angesprochen wird. Was Literatur zum Thema und deren Diskussion betrifft, wird in diesem Beitrag lediglich eine Auswahl getroffen, keine Vollständigkeit angestrebt. Auch hinsichtlich der Formulierung von Ergebnissen und Bezügen v. a. zur frühen Kirchengeschichte am Ende meiner Ausführungen sollen nur einige mögliche Richtungen gewiesen werden. Die Apostelakten im Allgemeinen und die Petrusakten im Speziellen haben theologisch weit mehr zu bieten als einen unterhaltenden Charakter, auf den sie meist reduziert werden. S. dazu auch den Beitrag von Tobias Nicklas in diesem Band und Paulus Enke, Traum und Traumdeutung in den christlichen Apokryphen (im Druck). Als Literatur zu den Petrusakten seien neben dem nach wie vor viele Aspekte der Acta Petri besprechenden Band von Bremmer (Hrsg.), Acts of Peter (s. Anm. 1), genannt: Christopher R. Matthews, The Acts of Peter and Luke’s Intertextual Heritage, in: Robert F. Stoops (Hrsg.), The Apocryphal Acts of the Apostles in Intertextual Perspectives, Semeia 80, Atlanta, GA 1997, 207–222; ders., The Acts of Peter in Intertextual Context, in: ders. (Hrsg.), Acts of the Apostles, 57–86; ders., The Acts of Peter, ECA 4, Salem MA 2012; Christine M. Thomas, The Acts of Peter, Gospel Literature, and the Ancient Novel. Rewriting the Past, Oxford/New York 2003; dies., Canon and Antitype. The Relationship between the Acts of Peter and the New Testament, in: Stoops (Hrsg.), Acts of the Apostles, 185–205. Auch die französische Einleitung zu den Akten von Gérard Poupon, Actes de Pierre, in: Francois Bovon/Pierre Geoltrain (Hrsg.), Écrits apocryphes chrétiens, Bd. 1, Bibliothèque de la Pléiade 442, Paris 1997, 1039–1114, soll erwähnt werden. Hans-Josef Klauck, Apokryphe Apostelakten. Eine Einführung, Stuttgart 2005, 94. S. auch Eusebius, h. e. III 1,2 f., zum Kreuzestod des Petrus sowie János Bolyki, ›Head Downwards‹: The Cross of Peter in the Lights of the Apocryphal Acts, of the New Testament and of the Society-transforming Claim of Early Christianity, in: Bremmer (Hrsg.), Acts of Peter (s. Anm. 1), 111–122. Wolfgang Grünstäudl, Petrus Alexandrinus. Studien zum historischen und theologischen Ort des zweiten Petrusbriefes, WUNT II/353, Tübingen 2013, 148; vgl. Susanne Luther, Hinführung zu den Wundererzählungen in den Petrusakten, in: Ruben Zim-
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Actus Vercellenses liegen etwa zwei Drittel des ursprünglichen Umfangs der Petrusakten vor, welche auf Griechisch verfasst wurden.6 Bezüglich der Entstehungszeit ist am ehesten an das Ende des 2. Jhs. zu denken, beim Entstehungsort an Kleinasien oder Rom.7 Werden in den anderen »großen« Apostelakten8 v. a. die Reisen, die Taten und der Tod des jeweiligen Apostels thematisiert, so steht in den Petrusakten die Auseinandersetzung, um nicht zu sagen der Kampf, zwischen Petrus und seinem Gegenspieler Simon Magus9 im Vordergrund. Petrus und der Zauberer liefern sich in Rom einen regelrechten Wunderwettkampf.10 Worum es eigentlich in den Akten geht, ist nicht der Kampf zwi-
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mermann (Hrsg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Bd. 2. Die Wunder der Apostel, Gütersloh 2017, 569–582, 569. Eine neue Edition der ActVerc mit Übersetzung und Kommentar bietet Döhler, Acta Petri (s. Anm. 1). Luther, Petrusakten (s. Anm. 5), 569. Jan N. Bremmer, The Apocryphal Acts: Authors, Place, Time and Readership, in: ders. (Hrsg.), The Apocryphal Acts of Thomas, Studies on Early Christian Apocrypha 6, Leuven 2001, 149–170, 152 f.; Wilhelm Schneemelcher, 4. Petrusakten, in: ders. (Hrsg.), Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 2. Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 61999, 243–289, 255. Klauck, Apostelakten (s. Anm. 4), 95 f., hingegen spricht sich für den Zeitraum 200–250 aus und bringt auch Syrien ins Gespräch. Zur Beziehung der Acta Petri zu den Johannesakten s. Pieter J. Lalleman, The Relation Between the Acts of John and the Acts of Peter, in: Bremmer (Hrsg.), Acts of Peter (s. Anm. 1), 161–177. Schneemelcher, Petrusakten (s. Anm. 7), 249, sieht eine Abhängigkeit der Philippusakten von den Petrusakten. Als Literatur zu Simon Magus seien als Auswahl folgende Titel genannt: Alastair H.B. Logan, Art. Simon Magus, in: TRE Bd. 31, 1999, 272–276; Karlmann Beyschlag, Simon Magus und die christliche Gnosis, WUNT 16, Tübingen 1974; Gerd Theißen, Simon Magus. Die Entwicklung seines Bildes vom Charismatiker zum gnostischen Erlöser. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Gnosis, in: Axel von Dobbeler (Hrsg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments. Festschrift für Klaus Berger, Tübingen u. a. 2000, 407– 443; Jürgen Zangenberg, Dynamis tou theou. Das religionsgeschichtliche Profil des Simon Magus aus Sebaste, in: Dobbeler (Hrsg.), a. a. O., 519–541; Alberto Ferreiro, Simon Magus in Patristic, Medieval and Early Modern Traditions, Studies in the History of Christian Traditions 125, Leiden 2005; Stephen Haar, Simon Magus – The First Gnostic?, BZNW 119, Berlin/New York 2003. Ausführlicher zur mit einiger Sicherheit historischen Person des Simon Magus s. Enke, Traum und Traumdeutung (s. Anm. 3). Wichtige frühkirchliche Belegstellen zu Simon Magus sind Origenes, c. Cels. 5,62; Eusebius, h. e. II 1,11; Justin, apol. 1,26.56; 2,15; dial. 120. Der erste Teil der Akten ist verloren und spielte wahrscheinlich in Jerusalem, wobei hier vermutlich auch der erste Zusammenstoß der Antipoden Simon Petrus und Simon Magus stattgefunden hat. Die Actus Vercellenses beginnen nicht mit Erzählungen über Petrus,
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Paulus Enke
schen rechtem Glauben und Irrlehre, sondern letztlich der zwischen Gott und dem Teufel.11 Ähnlich den Petrusakten bestehen auch die Pseudoklementinen aus dem ständigen Streit (hier allerdings anhand von ausführlichen Streitgesprächen) zwischen Petrus und Simon Magus. Am Ende der Petrusakten erleidet Petrus den Tod am Kreuz, nachdem er am Kreuz hängend (auf eigenen Wunsch mit dem Haupt nach unten) abschließend gepredigt hatte.
2. Der Text ActPe 2212 Dem Kapitel vorangegangen waren Heilungswunder, Predigt und Gebet des Petrus (Kap. 20 f.), der sich mit Mitgliedern der römischen Gemeinde im Haus des Senators Marcellus13 befindet. Dem Kapitel nachfolgend wird ein großer öffentlicher Kampf zwischen Petrus und Simon Magus (Kap. 23–28) geschildert. Unser
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sondern dem Aufenthalt des Paulus in Rom, seinem Umgang mit den dortigen Gemeindegliedern, mit denen er Eucharistie feiert, und seiner Abreise nach Spanien (vgl. 1Clem 5,6 f.). Wahrscheinlich hat der Verfasser der Actus Vercellenses die ersten drei Kapitel (über Paulus in Rom) vorgeschaltet, um überhaupt zu klären, wie sich die römische Gemeinde entwickeln konnte, bevor Petrus in Rom eintraf. Dass Paulus von Rom nach Spanien abreist, basiert auf seinen im Römerbrief angekündigten Reiseplänen. Zudem konnte der destruktive Einfluss des Simon Magus auf die Gemeinde in Rom (Kapitel 4; 6) nur durch die Abwesenheit der Apostel erklärt werden, Schneemelcher, Petrusakten (s. Anm. 7), 252. Zu Magie in den Apostelakten s. Marco Frenschkowski, Magie und Mission. Konkurrenzszenarien in altkirchlicher Erzählliteratur, in: Jens Kamlah u. a. (Hrsg.), Zauber und Magie im antiken Palästina und in seiner Umwelt. Kolloquium des Deutschen Vereins zur Erforschung Palästinas vom 14. bis 16. November 2014 in Mainz, ADPV 46, Wiesbaden 2017, 507–542, bes. 520–526. Ferner Matthias Hoffmann, »Die Stadt ist zu klein für uns beide!« (Wunder des Petrus und Zauberei Simons). ActPetr 4–15, in: Zimmermann (Hrsg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Bd. 2 (s. Anm. 5), 601–624. Eckhard Plümacher, Art. Petrusakten, in: 4RGG Bd. 6, 2003, 1177. Zu Kap. 19–22 s. Magda Misset-van de Weg, Viermal wunderbares Sehen: Gott sorgt überall für die Seinen (Wunder im Hause des Marcellus). ActPetr 19–22, in: Zimmermann (Hrsg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Bd. 2 (s. Anm. 5), 639– 656. Ob es sich hier um Marcus Granius Marcellus (Tacitus, ann. 1,74) handelt, wie Gerhard Ficker, Die Petrusakten. Beiträge zu ihrem Verständnis, Leipzig 1903, 38 f.43 f., einst meinte, muss an dieser Stelle nicht diskutiert werden. S. dazu auch Thomas, Acts of Peter (s. Anm. 3), 48 f.
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Text bereitet diese Situation vor; er wirkt wie »die Ruhe vor dem Sturm« vor der Auseinandersetzung:14 Und er ermahnte alle, den Herrn aus ganzem Herzen zu erkennen; dann begann er mit Marcellus und anderen Brüdern den Jungfrauen des Herrn zu dienen und bis zum Morgen auszuruhen. Zu ihnen […] sprach Marcellus: »Ihr heiligen und unversehrten Jungfrauen des Herrn, hört: […] am morgigen Sabbattage, der kommen wird, hat Simon einen Kampf mit Petrus, dem Heiligen Gottes. Wie nun der Herr immer mit ihm gewesen ist, so möge auch jetzt Christus der Herr ihm als seinem Apostel beistehen! Petrus nämlich verharrt (im Gebet) und […] fastet, um den bösen Feind und den Verfolger der Wahrheit des Herrn zu besiegen. Denn seht, da sind meine jungen Leute gekommen und berichten, sie hätten gesehen, wie auf dem Forum stufenförmige Gerüste aufgebaut würden, und die Menge sage (dazu): ›Hier haben morgen […] zwei Juden einen Streit auszufechten […].‹ Darum laßt uns jetzt bis zum Morgen wachbleiben und beten […].« Marcellus aber schlief für kurze Zeit ein, und als er aufgewacht war, sprach er zu Petrus: »Petrus, Apostel Christi, mutig wollen wir an unser Vorhaben gehen. Als ich nämlich jetzt für kurze Zeit eingeschlafen war, sah ich dich auf einem erhöhten Platz sitzen und vor dir eine große Menschenmenge; und ein sehr hässliches Weib, ihrem Aussehen nach eine Äthiopierin, keine Ägypterin, sondern eine ganz schwarze, in schmutzige Lumpen gehüllte (Person)15 (sah ich) tanzen, eine eiserne Kette um den Hals und Ketten an Händen und Füßen. Als du sie sahst, sagtest du mit lauter Stimme zu mir: ›Marcellus, alle Kraft Simons und seines Gottes ist die, die da tanzt: enthaupte sie!‹ Und ich sagte zu dir: ›Bruder Petrus, ich bin Senator von vornehmer Herkunft, und niemals habe ich meine Hände befleckt […].‹ Und als du das gehört hattest, fingst du an, noch lauter zu rufen: ›Komm, unser wahres Schwert, Jesus Christus, und haue diesem Dämon nicht nur den Kopf ab, sondern zerschlage ihm auch alle seine Glieder, in Gegenwart aller jener, die ich in deinem Kriegsdienst erprobt habe.‹ Und sofort nahm einer, der dir glich, das Schwert und hieb sie ganz zusammen, so daß ich mein Augenmerk auf euch beide richtete, auf die, die dir und jenem, der jenen Dämon zusammenhieb, so ähnlich waren, zu meiner großen Ver-
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Die folgende (gekürzte) Übersetzung stammt ebenso wie die unten angeführten deutschen Zitate aus Schneemelcher, Petrusakten (s. Anm. 7), 256–289. Der im Folgenden in Auszügen benutzte lateinische Text folgt der Edition Richardus Adelbertus Lipsius, Acta Petri. Acta Pauli. Acta Petri et Pauli. Acta Pauli et Theclae. Acta Thaddaei, AAAp 1, Leipzig 1891. Totam nigram sordibus, pannis involutam. Niger kann sowohl »schwarz«, »dunkelfarbig« als auch »unheilvoll« und »böse« heißen, s. Der Neue Georges. Ausführliches LateinDeutsches Handwörterbuch, Bd. 2. Hrsg. v. Thomas Baier. Bearb. v. Tobias Dänzer, Darmstadt 2013, 3261 f. Vgl. dazu Enke, Traum und Traumdeutung (s. Anm. 3), sowie die ausgezeichneten Ausführungen in Peter Habermehl, Perpetua und der Ägypter oder Bilder des Bösen im frühen afrikanischen Christentum. Ein Versuch zur Passio sanctarum Perpetuae et Felicitatis, TU 140, Berlin 22004, 145–177. Vgl. ebenfalls Artemidor, onir. IV 38.
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wunderung. Nachdem ich erwacht bin, berichte ich dir diese Zeichen Christi.« Als Petrus dies gehört hatte, wurde er noch mehr ermutigt, weil Marcellus dies gesehen hatte; denn der Herr sorgt überall für die Seinen. […]
3. Exegetische Bemerkungen zum Text Einige Beobachtungen am Text, v. a. was beteiligte Personen, Orts- und Zeitangaben betrifft, sind zu seinem Verständnis, besonders zu dem des Hoheitstitels für Petrus, notwendig. Zuerst ist das etwa in der Mitte des Textes stehende autem zu erwähnen (»Marcellus aber schlief für kurze Zeit ein«), welches unser Kapitel, gleich einem Scharnier, in zwei Teile gliedert. Der erste Teil führt in Situation, Ort und Zeit ein, stellt die Ausgangslage und die beteiligten Personen vor. Der zweite Teil bietet dann den eigentlichen Gehalt, nämlich den Traum des Marcellus mit seinen positiven Konsequenzen für den anstehenden Kampf zwischen Petrus und Simon Magus. Interessanterweise fällt die Bezeichnung »Heiliger Gottes« in den ersten, weniger bedeutsamen Teil. Was beteiligte Personen bzw. deren Bezeichnungen angeht, so wird Marcellus fünf Mal mit Namen genannt (davon ein Mal als Senator; ein weiteres Mal spricht er von sich als Senator in der ersten Person Singular), Petrus acht Mal, Simon zwei Mal. Christus wird fünf Mal genannt,16 Gott zwei Mal.17 »Petrus« begegnet also öfter als »Christus«, was ein erstes Zeichen dafür ist, dass er hier eine besondere Stellung innehat.18 »Dominus« als Gottes- bzw. Christusbezeichnung wird acht Mal verwandt – und liegt damit wortstatistisch zumindest gleichauf mit Petrus, unterstreicht also den eben genannten Befund. Dieser wird noch interessanter durch die Bezeichnung Jesu als »wahres Schwert«, mit der Folge, dass allerdings jemand, der Petrus ähnlich sieht, den Dämon zerschlägt (nachdem Marcellus diese Aufgabe vorher abgelehnt hatte). Petrus wird hier, ähnlich wie der Apostel Thomas in der Thomastradition, zu einer Art »Doppelgänger« Jesu.19 Zwei Mal wird dieser im letzten Drittel des Kapitels genannt: 16
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Die wortstatistischen Angaben beziehen sich auf den ungekürzten lateinischen Text. Bezüglich Christus wechseln die Bezeichnungen gleichmäßig: Christus – Jesus Christus – Christus – Jesus Christus – Christus. Ein Mal in unserem Hoheitstitel, ein Mal als Bezeichnung für den Gott des Simon (deus ipsius), wobei das nachgestellte Pronomen abwertend wirkt. Petrus wird, neben »Heiliger Gottes«, zwei Mal mit dem Aposteltitel und ein Mal als frater bezeichnet. S. dazu Marco Frenschkowski, Zwillingsmythologie in der Thomastradition, in: Jens Schröter (Hrsg.), The Apocryphal Gospels within the Context of Early Christian Theology, BETL 260, Leuven u. a. 2013, 509–528; Enke, Traum und Traumdeutung (s. Anm. 3) mit weiterer Literatur.
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Zuerst ist von jemandem die Rede, der Petrus ähnlich sieht, dann von »beiden, die dir und jenem, der jenen Dämon zusammenhieb, so ähnlich waren«. Marcellus sieht im Traum also Petrus bzw. jemanden, der ihm entspricht und jemanden, der diesem wiederum ähnelt.20 Auf der anderen Seite wird Simon die wenig schmeichelhafte Bezeichnung malum inimicum et persecutorem ueritatis domini als Inkarnation des Bösen zuteil. Das korrespondiert mit der dämonischen Frauengestalt, die als mulier quendam turpissima, in aspectu Ethiopissima, neque Aegyptia, und im letzten Viertel des Textes zwei Mal als daemonium bezeichnet wird. Daemonis/daemonium bildet mit dominus/dominum durch die Ähnlichkeit im Klang eine Paronomasie, zugleich aber auch eine Art Gegensatzpaar.21 Der Text ist ganz auf seine Hauptfiguren und deren Verhältnis zueinander fokussiert. Das wird dadurch unterstrichen, dass die Zuschauenden im Traumspektakel lediglich als anonyme Menge dargestellt werden (turba bzw. turbam magnam).22 Bezüglich der im Text genannten Zeitangaben ist das doppelte in mane – (usque) in mane zu erwähnen. Es gibt den Morgen als Zeitpunkt der Auseinandersetzung an. Dabei wird das erste in mane mit repausare, das zweite aber mit pervigilare verbunden. Petrus fastet und wacht. Indem er das tut, findet eine Identifikation mit dem Jesus der Gethsemaneszene (Mk 14,32–42 parr) statt, also wieder eine Überlagerung der beiden Personen. Das Gefolge soll sich hingegen ausruhen, dann jedoch (Marcellus richtet diese Aufforderung an die Jungfrauen, bezieht sich selbst aber mit ein) bis zum Morgen wachen und beten. Dennoch schläft Marcellus ein, erfährt wiederum dadurch den Traum, der den Sieg des Petrus gegen Simon Magus voraussagt. Man sieht, wie die Rollen regelrecht rotieren: die Jünger, die wachen sollen (Mk 14,38), bilden nun die Jungfrauen, und der einschlafende Petrus (14,37) wird mit Marcellus assoziiert. Petrus hingegen entspricht dem wachenden, betenden Jesus. Die hohe Verehrung, die Petrus durch den Verfasser der Akten (und durch die Leserschaft) zuteil wurde, 20
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Im Text wird dies jedoch recht verwirrend dargestellt. Praktisch haben wir es eigentlich mit zwei Petrusgestalten zu tun, welche Marcellus im Traum sieht. Dass es sich um einen »Christus-Doppelgänger« handelt, wird aber durch die Formulierung »Komm, unser wahres Schwert, Jesus Christus« deutlich. Es handelt sich hier im Übrigen nicht um die einzige Stelle dieser Art in den Petrusakten (s. u.). Versucht man den Traum unter tiefenpsychologischen Gesichtspunkten zu deuten, also mit Blick auf das Unbewusste, bildet das Gegensatzpaar eine Einheit. Das heißt, im Traum zeigt sich eine gute und eine böse göttliche Seite. Das soll hier aber nur angedeutet werden. S. dazu ausführlich Enke, Traum und Traumdeutung (s. Anm. 3). Auch zu den auf der Seite des Marcellus stehenden »jungen Leute« (iuvenes) wird nichts weiter gesagt. Genannt werden müssen noch die Mitbrüder des Petrus und die Jungfrauen im ersten Teil des Textes.
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Paulus Enke
wird an dieser Stelle schon sehr deutlich. Die Angabe, dass Gott immer (semper) mit Petrus gewesen ist, unterstreicht diesen Befund.23 Neben dem genannten Forum als dem Platz der Auseinandersetzung zwischen Petrus und Simon ist v. a. die im Traum gemachte Ortsangabe in excelso loco zu erwähnen. Durch das erhöhte Sitzen des Petrus wird dessen ebenfalls erhöhte Stellung gegenüber allen Anwesenden, natürlich vor allem gegenüber der Dämonin respektive Simon, zum Ausdruck gebracht. Mehr noch: Petrus scheint über das Geschehen erhaben zu sein. Dies korrespondiert mit seiner Zwillingshaftigkeit Christus betreffend.
4. »Heilig«/»Heiligkeit« im Neuen Testament und »Heiliger Gottes« als christologischer Hoheitstitel24 Interessant sind hier v. a. die Belege, welche die Heiligkeit von Personen beschreiben. Zuerst wäre der Begriff ἅγιος als Attribuierung des göttlichen Geistes zu nennen (so z. B. Mt 1,8; Joh 14,26; 1Kor 6,19). Auch ὁ θεὸς ὁ παντοκράτωρ ist ἅγιος ἅγιος ἅγιος κύριος (Offb 4,8). Im hohepriesterlichen Gebet spricht Jesus Gott mit πάτερ ἅγιε an (Joh 17,11). Petrus bezeichnet Jesus als τὸν ἅγιον καὶ δίκαιον (Apg 3,14). Auch die Engel sind heilig (Mk 8,38 parr; Apg 10,22; Offb 14,10). Zudem begleiten Heilige die Wiederkunft Christi (1Thess 3,13; vgl. Jud 14). Johannes wird als »gerechter und heiliger Mann« bezeichnet (Mk 6,20). Ferner sind die Propheten heilig (Lk 1,70; Apg 3,21; 2Petr 3,2), ebenso Größen der alttestamentlich-heilsgeschichtlichen Vergangenheit (1Petr 3,5). Wichtiger ist aber, dass die Christen der ersten Generationen selbst als Heilige tituliert werden, und zwar nicht nur in Jerusalem (Apg 9,13; Röm 15,25 f.; 1Kor 16,1 u. ö.), sondern auch in Lydda (Apg 9,32), Joppe (Apg 9,41), Rom (Röm 1,7; vgl. Hebr 13,24), Korinth (1Kor 1,2), der Achaja (2Kor 1,1), Philippi (Phil 1,1) und Kolossä (Kol 1,2). Auch Christen in einem allgemeineren Kontext können als »Heilige« bezeichnet werden (1Kor 14,33; 2Thess 1,10; Phlm 5.7 u. ö.). In Offb 11,18 stehen die Heiligen für die Christen generell.25 In 5,8; 8,3 f. ist von den Gebeten der Heiligen die Rede, die im himmlischen Thronsaal vor Gott gebracht
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Sicut enim dominus semper cum eo fuit, et nunc stet pro eo tamquam apostolo suo Christus dominus. […] Nunc itaque peruigilemus usque in mane, rogantes et petentes dominum nostrum Iesum Christum ut exaudiat praeces nostras pro Petro. Das semper konkretisiert sich in dem zweimaligen nunc. Deutsche Übersetzungen von Bibelstellen sind der unrevidierten Elberfelder Bibel von 1932 entnommen. Vgl. Heinrich Kraft, Die Offenbarung des Johannes, HNT 16a, Tübingen 1974, 162, der ebd. v. a. auch die Urgemeinde mit dem Attribut angesprochen sieht.
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werden,26 in 16,6 und 18,24 vom Blut der Heiligen (und Propheten), in 19,8 von den Taten der Heiligen und in 20,9 vom Heerlager der Heiligen. Der Verfasser des 1Petr ruft seine Leserschaft auf, heiliges Priestertum zu sein (2,5), denn sie seien »auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, eine heilige Nation« (2,9). Heiligkeit zeigt sich im christlichen Lebensvollzug (Kol 1,22; 3,12; Eph 5,3; vgl. 1Petr 1,15 f.27; Offb 19,8; 22,11 f.). Die eigentliche Bezeichnung »Heiliger Gottes« für Jesus findet sich lediglich an drei Stellen im Neuen Testament. In Mk 1,24 (und Lk 4,3428) ist es ein Mensch mit unreinem Geist, welcher Jesus zuruft: οἶδά σε τίς εἶ, ὁ ἅγιος τοῦ θεοῦ. In Joh 6,69 ist es das sogenannte Petrusbekenntnis, in welchem Petrus im Namen der Zwölf spricht: ἡμεῖς πεπιστεύκαμεν καὶ ἐγνώκαμεν ὅτι σὺ εἶ, ὁ ἅγιος τοῦ θεοῦ. Im Johannesevangelium findet sich also die Hoheitsbezeichnung Jesu an prominentem, zentralem Ort:29 Beim Bekenntnis einer der gewichtigsten Figuren jesuanischer Nachfolge im Johannesevangelium wird nicht einer der in den Evangelien wesentlich breiter belegten christologischen Hoheitstitel wie Menschensohn (allein 13 Mal im Johannesevangelium), Kyrios oder Sohn Gottes gebraucht, sondern eben »Heiliger Gottes«. Hermeneutisch jedoch hilft der jo26
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Vgl. a. a. O., 112; 135, sowie Hermann Lichtenberger, Die Apokalypse, ThKNT 23, Stuttgart 2013, 153. Vgl. (zu Offb 5,8) auch Martin Karrer, Johannesoffenbarung. Teilband 1: Offb 1,1–5,14, EKK 24/1, Ostfildern/Göttingen 2017, 464. Kraft, Offenbarung (s. Anm. 25), 134 f., denkt bzgl. Offb 8,3 f., von 6,9–11 herkommend (s. a. a. O., 118 f.), bei den Heiligen u. a. an die alttestamentlichen Märtyrer, deren Gebete vor Gott gebracht werden. Die Petrusakten sind, was den kirchengeschichtlichen Hintergrund angeht, jedenfalls in die sich entwickelnde Märtyrerverehrung einzuordnen (dazu u. kurz). Auch wird Petrus in Kap. 10 gebeten, stellvertretend als »Anwalt« für Marcellus vor Gott einzutreten (ebenfalls s. u.), was an Offb 5,8; 8,3 f. erinnert. Was die theologische Prägung der Schrift per se betrifft, ist jedoch Vorsicht geboten. Zwar erleidet Petrus am Ende der Akten das Martyrium, auch läuft inhaltlich Einiges auf dieses zu. Prinzipiell spielt aber sein Leben und Wirken (auch in unserem Kapitel) eine ebenso große Rolle wie sein Martyrium, wenn nicht sogar eine größere. Die Aufforderung des Verfassers, die Leser sollen heilig sein ἐν πάσῃ ἀναστροφῇ, wird mit dem Zitat aus Lev 11,45 begründet: weil Gott heilig ist. Im Folgenden vernachlässigt, da parr. Weitere Stellen, die Jesus mit Heiligkeit in Verbindung setzen, sind v. a. Lk 1,35; Apg 3,14; 4,27.30; Offb 3,7 (hier ist Christus ὁ ἅγιος, ὁ ἀληθινός). Besonders Lk 1,35 ist in unserem Zusammenhang von Bedeutung, da hier neben der Attribuierung des angekündigten Jesuskinds als des Heiligen der christologische Hoheitstitel des Sohnes Gottes gebraucht wird. Ähnliches gilt für Joh 6,69 in Beziehung auf 10,35. In Offb 6,10 ist hingegen Gott, nicht Christus gemeint mit der Anrede ὁ δεσπότης ὁ ἅγιος. S. dazu Kraft, Offenbarung (s. Anm. 25), 119. Traugott Holtz, Die Offenbarung des Johannes, NTD 11, Göttingen 2008, 66, meint, Gott würde hier »mit einer Wendung angerufen […], die an die Benennung des römischen Herrschers anzuklingen scheint«.
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hanneische Beleg kaum weiter, u. a. weil in ActPe 22 der Titel nicht in einem Bekenntniszusammenhang verwandt wird. Wesentlich ergiebiger scheint ein Blick in die markinische Stelle zu sein. Im Zusammenhang des Exorzismus in Kapernaum, welcher die erste Wundertat Jesu im Markusevangelium bildet, spricht der Dämon zu Jesus die Worte: »Was haben wir mit dir zu schaffen, Jesus, Nazarener? Bist du gekommen, uns zu verderben? Ich kenne dich, wer du bist: der Heilige Gottes« (Mk 1,24). Ebenso wie in ActPe 22 wird der Hoheitstitel also im Zusammenhang eines Exorzismus bzw. einer Dämonenbekämpfung gebraucht.30 Was Mk 1,24 betrifft, nähert sich Ferdinand Hahn von alttestamentlich-jüdischer Seite der Titulatur und nimmt von Anfang an einen eschatologischen Zusammenhang an.31 Einen kultischen Hintergrund, von Sir 45,6 und Ps 105,16 LXX herkommend, sieht er kaum gegeben.32 Stattdessen geht er von Ri 13,7, vor allem aber 16,17 LXX in der Lesart des Vaticanus33 sowie 1Kön 17,18;34 2Kön 4,9 LXX aus und stellt Mk 1,24 in die Nähe »der alttestamentlichen Charismatiker und Gottesmänner« bzw. des eschatologischen Propheten.35 Interessant ist, was 30
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Dieser Fakt ist für unsere Untersuchung hier von zentraler Bedeutung. Ein detaillierter Ablauf des markinischen Exorzismus ist an dieser Stelle jedoch nicht von Belang. Zu konstituierenden Elementen eines Exorzismus s. u. Es gehe beim Begriff »heilig« »vor allem um das von der Welt abgesonderte und zu Gott Gehörende«, »um eine besondere Aufgabe im Auftrag Gottes«. Man dürfe »wohl speziell an eine endzeitliche Funktion denken« (Ferdinand Hahn, Christologische Hoheitstitel. Ihre Geschichte im frühen Christentum, FRLANT 83, Göttingen 51995, 236 f.). A. a. O., 237–241. Die Handschrift A liest als Bezeichnung für Simson an der Stelle ναζιραῖος θεοῦ, B stattdessen ἅγιος θεοῦ. Beide Begriffe sind augenscheinlich austauschbar, vgl. Peter Dschulnigg, Das Markusevangelium, ThKNT 2, Stuttgart 21997, 81. In Mk 1,24 wird Ναζαρηνέ vor allem deshalb verwendet, »weil der böse Geist diese Herkunft mit Nasiräer assoziiert und daraus schließt, dass er von Gott als sein besonderer Machtträger, als Mann und ›Heiliger Gottes‹ bestimmt ist« (ebd.). Die Vorstellung von Simson dem Nasiräer, der mit göttlicher Kraft ausgestattet wird bzw., wie eben beschrieben, als »Heiliger Gottes« bezeichnet werden kann, wird hier auf Jesus übertragen. Eben diese göttliche Kraft- oder Geistbegabung ist es, welche der Dämon in Mk 1 als Bedrohung empfindet; vgl. Hahn, Hoheitstitel (s. Anm. 31), 237 mit Anm. 4. Zu den Nasiräern s. Num 6,1–21. Über die Frage: »Was haben wir miteinander zu schaffen?« Der Wortwechsel zwischen dem Dämon und Jesus (V. 24 f. bzw. 23–26, wenn man das doppelte Schreien mit zum Dialog rechnet) spielt für unseren Vergleich mit den Petrusakten keine Rolle. S. dazu Adela Yarbro Collins, Mark. A Commentary, Hermeneia – A Critical and Historical Commentary on the Bible, Minneapolis MN 2007, 168–170; 172 f. Hahn, Hoheitstitel (s. Anm. 31), 237; 238 mit Anm. 1; 296 Anm. 1. Zum eschatologischen Propheten s. a. a. O., 351–404. Diese Vorstellung sei »offensichtlich früh auf Jesus übertragen worden« (a. a. O., 238).
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die Frage des Dämons an Jesus in Mk 1,24 (τί ἡμῖν καὶ σοί) betrifft, einen Blick auf Mk 5,7 zu werfen, wo die Dämonenfrage, bis auf die Veränderung von 1. Person Plural in 1. Person Singular,36 dieselbe wie in 1,24 ist: τί ἐμοὶ καὶ σοί. Hier nun bezeichnet der Dämon Jesus nicht erneut als ὁ ἅγιος τοῦ θεοῦ, sondern als Ἰησοῦ υἱὲ τοῦ θεοῦ τοῦ ὑψίστου. Zweifelsohne liegt hier eine Steigung der Jesus-Prädikate vor (was an dieser Stelle aber nur erwähnt werden soll). Zu Beginn des Markusevangeliums ist also noch eine gewisse Zurückhaltung in Bezug auf die christologische Rolle Jesu zu spüren,37 wo die Bezeichnung Jesu als dem »Heiligen Gottes« einzuordnen ist. Auch etliche Kommentatoren folgen Hahn in seiner Interpretation von Jesus als dem charismatischen, eschatologischen Propheten unter Bezugnahme auf Ri 16,17 LXX und 1Kön 17,18 LXX.38 Dabei spricht Dschulnigg unter Einbezug von Mk 1,7.11 von einem Kampf zwischen Jesus und dem Dämon, welchen Jesus machtvoll gewinnt.39 Dieses Setting ist es ja, das für die Betrachtung von ActPe 22 36 37
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Erstaunlicherweise obwohl hier der Name des Dämons ›Legion‹ ist. Vgl. Hahn, Hoheitstitel (s. Anm. 31), 296 f. »An unserer Stelle bedeutet dies, daß wir uns im Bereich des frühen hellenistischen Judentums befinden, in dem die Anschauung von Jesus als Gottesmann und ›Heiligem Gottes‹ nun durch die Vorstellung von Jesus als ›Gottessohn‹ abgelöst wird. Die in Mk 1,23 ff. gewahrte Zurückhaltung in der christologischen Ausdeutung eines Exorzismus ist hier preisgegeben«, wenn auch »die jüdischen Voraussetzungen [die Geistbegabung Jesu durch Gott als Voraussetzung der Vollmacht über die Dämonen] noch ausgesprochen stark« hervorträten (a. a. O., 297). Dschulnigg, Markusevangelium (s. Anm. 33), 81; Dieter Lührmann, Das Markusevangelium, HNT 3, Tübingen 1987, 122, der ebd., Anm. 20, noch Ri 13,5B LXX und VitProph 17 ergänzt und schreibt: »Der Titel ›der Heilige Gottes‹ wird Gemeindeauslegung des Namens ›Nazarener‹ (bzw. Nazoräer) sein«, allerdings davon spricht, dass Jesus die eschatologischen Propheten bzw. Charismatiker des AT überbietet und als der »die unreinen Mächte verderbende Heilige schlechthin dargestellt« werden soll (a. a. O., 122); vgl. Collins, Mark (s. Anm. 34), 169 Anm. 72. Vgl. auch Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. 1. Teilband. Kapitel 1–10, ThKNT 4/1, Stuttgart 2000, 262. Collins, Mark (s. Anm. 34), 167 f.; 170, vergleicht Jesus hingegen mit Henoch, s. u. Der Aspekt, im Exorzismuskampf Macht über die jeweils andere Seite durch Nennung des Namens bzw. Identifizierung (οἶδά σε τίς εἶ, ὁ ἅγιος τοῦ θεοῦ) zu erlangen (vgl. v. a. Mk 1,34; 3,11 f.) oder Gegenwehr bzw. Widerstand zu leisten (Gerd Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, Gütersloh 71998, 96), spielt für unseren Vergleich mit den Petrusakten keine Rolle. S. dazu Collins, Mark (s. Anm. 34), 168–173; Dschulnigg, Markusevangelium (s. Anm. 33), 80 f.; Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 38), 122. Nach Christian Wetz, Art. Dämonen/Dämonenbeschwörung (NT), in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bi bellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/daemonen-daemonenbeschwoerung-nt/ ch/63e60b9df47c43979046e3072f102b39/, 2015, 4. (Stand: 10. 12.2019), gehören drei
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grundlegend ist.40 Indem Jesus den Dämon besiegt, schließt sein Auftreten an das des machtvollen Richters Simson oder des Propheten Elia an; Jesus wird nun selbst eschatologischer Prophet bzw. Charismatiker. Die Aufgabe der alttestamentlichen Gestalten aber war es, Gottes Volk von Feinden zu befreien und Wunder zu wirken.41 Demnach ist das Handeln Jesu so zu bewerten: »Die Welt des Bösen, die Menschen knechtet, wird durch Jesus, den Stärkeren und mit Gottes Geist Gesalbten besiegt, womit das Reich Gottes bereits in diese Welt einbricht (1,7.10.15).«42
Der Dämon hingegen wird als »unrein« – ἀκάθαρτος charakterisiert (1,23.27): Er gehört damit zu einem widergöttlichen Bereich, vertritt das Böse und den Tod und bestimmt das Leiden der Menschen. Er verkörpert die dunkle Geistseite; Jesus, als Geistbegabter und Heiliger Gottes die heilige, göttliche Geistseite.43 Die Dä-
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konstituierende Elemente zur Dämonenaustreibung: 1. Fremdbeherrschung des Besessenen durch den Dämon (Mk 5,5); 2. Kampf zwischen Exorzist und Dämon, und zwar meistens mit den gleichen Mitteln (Mk 1,24 f.; 5,7); 3. eine letzte Aktion oder Reaktion des Dämons vor, während oder nach dem Ausfahren (Mk 1,26; 5,12 f.). Zum Kampf gehören Apopompe (Mk 1,25; 5,8), selten Epipompe (Mk 5,13), onomastische Bestandteile (Mk 5,9), Schweigegebote (Mk 1,25) und Bedrohung der besetzenden Macht (Mk 1,25). Vgl. dazu auch Theißen, a. a. O., 95–98. Zwar findet im Traum keine Auseinandersetzung mit der Dämonin statt, kein Kampf. Sie wird vielmehr ohne Gegenwehr hingerichtet. Das Moment des Bedrohlichen ist unterschwellig jedoch ebenso enthalten wie bei Markus. Die eigentliche Auseinandersetzung, der Dämonenkampf, ereignet sich in den Petrusakten am Tage nach dem Traum zwischen Petrus und Simon. Dschulnigg, Markusevangelium (s. Anm. 33), 81. A. a. O., 78. Vgl. Wetz, Art. Dämonen/Dämonenbeschwörung (NT) (s. Anm. 39), 3; Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 38), 126 f. Vgl. Rudolf Pesch, Das Markusevangelium. Teil 1. Einleitung und Kommentar zu Kap. 1,1–8,26, HThKNT 2/1, Freiburg 51989, 121; Dschulnigg, Markusevangelium (s. Anm. 33), 80. Ähnlich Collins, Mark (s. Anm. 34), 170: »The holiness of Jesus is the polar opposite of the uncleanness of the spirit.« Der unreine Geist sei unrein, wie die gefallenen Engel (Gen 6,1–4; Hen[aeth] 6–11), welche vom Himmel herabgestiegen seien; Jesus sei heilig wie Henoch, welcher in den Himmel auffuhr, »but the definite article in the phrase ›the holy one of God‹ (ὁ ἅγιος τοῦ θεοῦ) exalts Jesus over Enoch and all other mere human beings as the holies of God’s elect« (ebd.). Überhaupt sei die Formulierung πνεῦμα ἀκάθαρτον »a Jewish formulation«, welche in Beziehung zu den eben genannten Texten stehe (a. a. O., 167). Dies verdeutlicht Collins u. a. anhand von Hen[aeth] 15,3 f. und Jub 7,21, a. a. O., 167 f. mit weiteren Belegen in Anm. 60; 63; 64. Anschaulich, wenn auch etwas »heruntergebrochen« verdeutlicht Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 38), 121 (unter Bezugnahme auf Otto Böcher, Dämonenfurcht und
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monin im Traum des Marcellus ist ebenfalls der ersten Seite zuzuordnen. Davon abgesehen wird ihre Unreinheit ganz plastisch ausgemalt: Sie ist mit Fetzen behangen, von ganz dunkler Hautfarbe und tanzt einen wilden Tanz. Dämonenkampf, Sieg über denselben bzw. dieselbe als Verkörperung des Bösen sowie Erweis der Vollmacht sind also Motive, welche Mk 1,23–26 ebenso eigen sind wie ActPe 22 (dazu unter 7. ausführlicher). Natürlich gehört zu der Darstellung der Vollmacht Jesu und seinem Auftreten als eschatologischer Prophet ebenso Mk 1,21 f., also seine Verkündigung44 sowie die Verkündigung des Petrus in den Acta Petri bzw. im Kap. 22 nachfolgenden (aber ja im Traum vorweggenommenen) Disput mit Simon Magus (Kap. 23–28). Dieser Aspekt soll aber hier nur kurz genannt werden.45 Kurz erwähnt muss weiterhin werden, dass
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Dämonenabwehr. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der christlichen Taufe, BWANT 90, Stuttgart 1970, 22 f.; 103 f., u. ö.): »[D]er laute Schrei ist das Zeichen des Geistträgers, positiv: der mit heiligem Geist Erfüllten (z. B. [Mk] 15,37), negativ: der vom unreinen Geist Besessenen.« Der Schrei des Besessenen bzw. des Dämons kennzeichnet den Widerstand desselben, aber auch die »vernichtende Gewalt des Exorzisten« (Lührmann, Markusevangelium [s. Anm. 38], 123). Handelt es sich bei Acta Petri auch nicht um einen Exorzismus an sich, so ist doch der von Lührmann betonte Aspekt der »vernichtenden Gewalt« für unseren Traumtext von Bedeutung: Die Dämonin wird mit übermächtiger, schon brutaler Gewalt vernichtet; erst soll sie lediglich geköpft, dann aber ganz »zusammengehauen« werden. Die Erstaunen (V. 22) und Entsetzen (V. 27) hervorruft und als neu und vollmächtig von den Zuhörern charakterisiert wird (V. 27; vgl. V. 22). Gerade in dem Neuen tritt der eschatologische Gehalt des Lehrens und Wirkens Jesu zutage, vgl. Karl Kertelge, Die Wunder Jesu im Markusevangelium. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung, München 1970, 57; Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 38), 124; »Jesu Exorzistentätigkeit [ist] unablösbar verbunden […] mit seinem eschatologischen Selbstverständnis« (Otto Böcher, Christus Exorcista. Dämonismus und Taufe im Neuen Testament, BWANT 96, Stuttgart 1972, 167). Das Wunder, das Jesus tut, »zeigt, daß der Verkündiger der Gottesherrschaft (1, 14 f) zugleich ihr Vorkämpfer ist« (Lührmann, Markusevangelium [s. Anm. 38], 127). Zu καινός s. Johannes Behm, Art. καινός, in: ThWNT Bd. 3, 1936, 450–452. S. dazu z. B. Mk 2,1–12; 3,1–6; 7,1–13 u. ö. sowie Dschulnigg, Markusevangelium (s. Anm. 33), 78 f.; Collins, Mark (s. Anm. 34), 162–167. Dies., a. a. O., 162, fasst unsere Mk-Perikope folgendermaßen zusammen: »[T]he scene as a whole expresses the idea that both the teaching and power of Jesus to exorcise have their basis in the authority of Jesus.« Ähnlich Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 38), 118: »Es geht dem Evangelisten […] um die Demonstration der Vollmacht Jesu, vorab in seiner Lehre, dann in seiner Gewalt über die Dämonen.« Dennoch gehören die vollmächtige Verkündigung und die Vollmacht über die Dämonen zusammen und sind nur möglich, weil Jesus als der Heilige Gottes mit dessen Geist ausgerüstet ist, vgl. a. a. O., 121 und 124: »der Exorzismus ist tatgewordene, vollmächtige Lehre«.
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Jesus sich in Mk 1 nicht (ebenso wie in ActPe 22 Petrus bzw. der Doppelgänger Jesu) magischer oder manipulierender Praktiken bedient, sondern dass allein sein vollmächtiges Wort (καὶ ἐπετίμησεν αὐτῷ, φιμώθητι καὶ ἔξελθε, V. 25) ausreicht, um den Kampf zu entscheiden und sich als »Heiliger Gottes« zu erweisen.46 So taugt womöglich die erstaunte Aussage der Umstehenden in Mk 1,27 am besten als Fazit und Skizzierung Jesu als dem Heiligen Gottes: Jesus lehrt und handelt in Vollmacht, er gebietet den unreinen Geistern und sie gehorchen ihm.47 Joh 6,69 soll an dieser Stelle lediglich ganz kurz betrachtet werden, da die Mk-Stelle aufgrund des im Hintergrund stehenden Exorzismus eindeutig die relevantere Parallele zu ActPe 22 bildet. Hahn verweist bezüglich Joh 6,69 auf 10,36: Jesus als vom Vater Geheiligter bezeichnet sich selbst als Sohn Gottes. Beide Bezeichnungen werden also gleichgesetzt.48 Trotz der wenigen Belegstellen wird an dieser Stelle die Bedeutung des Titels sehr deutlich (und unterstreicht dann auch in ActPe 22 die gottähnliche Rolle des Petrus, s. u.). Schnelle fasst das Bekenntnis des Petrus folgendermaßen zusammen: Der Titel bringe »in besonderer Dichte die Einheit von Vater und Sohn zum Ausdruck. Jesus hat als ἅγιος τοῦ θεοῦ Anteil am innersten Wesen Gottes (vgl. Joh 10,30.36; 14,10 f; 17,17.19). Für Johannes bilden das exklusive Verhältnis des Gesandten zum Sendenden (vgl. Joh 17,18.20), sein Wirken als Wahrheit in der Welt, seine Rückkehr zum Vater und die Vergegenwärtigung dieses Geschehens im Wort, in der Kraft des Geistes und in den Gaben der Eucharistie eine innere Einheit; in all diesen Di-
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»Der Erzähler zeigt Jesus als einen überragenden Exorzisten, der vor der Apopompē nur dieses eine exorzistische Wort spricht. […] Daß der Heilige Gottes, der die Dämonen mit göttlich-herrischem Machtwort angeht, sie durch seinen bloßen Befehl austreibt, entspricht […] ihrem christologischen Anliegen« (Lührmann, Markusevangelium [s. Anm. 38], 123, vgl. 126). Die Brücke bilden dabei die Bedeutungen von ἐπιτιμάω (in der LXX beschreibt es das »machtwirkende Schelten und Drohen Gottes« [Ethelbert Stauffer, Art. ἐπιτιμάω, in: ThWNT Bd. 2, 1935, 620–623, 620]) und φιμόω (»den Mund mit einem Maulkorb verschließen«, so Kurt Aland/Barbara Aland [Hrsg.], Griechischdeutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin/New York 61988, 1718; weiter »bannen, knechten«, so Friedrich Pfister, Art. Beschwörung, in: RAC Bd. 2, 1954, 169–176, 174), Belege bei Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 38), 123 mit Anm. 21; 23; 24. Gerade diese aggressive Terminologie bildet für Acta Petri und das »Zusammenhauen« der Dämonin eine wichtige Parallele. Eine Aussage, die ihre Fortführung dann u. a. in 4,41 findet: nicht nur die Dämonen, sondern auch die Elemente gehorchen Jesus, vgl. Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 38), 124. Hahn, Hoheitstitel (s. Anm. 31), 235.
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mensionen vollzieht sich Jesu Heiligung, deshalb ist er ›der Heilige Gottes‹.«49 Nach Wengst wiederum verdeutlicht die Bezeichnung Jesu als Heiliger Gottes, dass Jesus auf der Seite Gottes stehe. Als solcher fungiere er als Repräsentant Gottes bzw. der göttlichen Welt und stehe dem »Widergöttlichen und Dämonischen« fundamental entgegen. Gott »als ›der Heilige‹ schlechthin« habe Jesus vollkommen »mit Beschlag belegt und beauftragt, der nun seinerseits den heiligen Gott repräsentiert«.50
5. Titulierungen in den Petrusakten Für Interpretationsansätze der Bezeichnung »Heiliger Gottes« in ActPe 22 ist schließlich noch zu prüfen, wie Petrus oder andere beteiligte Figuren in den Akten selbst tituliert werden. So wird der Apostel Paulus, der in den ersten drei Kapiteln die Hauptrolle übernimmt, in Kap. 1 als »Diener Gottes« bezeichnet, die Römer, zu denen er spricht, hingegen als »Knechte Gottes«51 (Kap. 2), in Kap. 3 ist von dem »seligen Paulus«52 die Rede. Simon Magus wird in seiner Selbstbezeichnung als »die große Kraft Gottes« in Anlehnung an Apg 8,10 in Kap. 4 eingeführt und spöttisch ge-
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Udo Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK 4, Leipzig 52016, 187. Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 22015, 380, weiß zum christologischen Hoheitstitel im johanneischen Petrusbekenntnis lediglich zu sagen, dass der Satz des Petrus »du bist […]« den ἐγώ εἰμι-Worten Jesu entspricht. Wengst, Johannesevangelium (s. Anm. 38), 262. Diese Ausführungen sind natürlich richtig, bedürfen aber der Vertiefung. Petrus erlangt einen (kurzen) Blick in das innerste, wirkliche Wesen Jesu, das ihn zum Bekenntnis treibt, ja zwingt, dessen Tragweite dann am ehesten spürbar ist, wenn der Leser bzw. die Leserin davon selbst ergriffen wird. Der Schlüssel zu der Bezeichnung »Heiliger Gottes« liegt in der von Schnelle richtig gesehenen Einheit oder besser: Vereinigung Jesu mit seinem himmlischen Vater. Eine solche weisen die Petrusakten im Übrigen kaum auf (dazu s. u.). Klaus Hausberger, Art. Heilige/Heiligenverehrung III. Anfänge der christlichen Heiligenverehrung, in: TRE Bd. 14, 1985, 646–651, 647, verbindet, von Lev 19,2 herkommend, Johannes mit Markus: »Das alttestamentliche Verständnis von der originären Heiligkeit Gottes, in der alle irdische Heiligkeit ihren Grund hat, wird im Neuen Testament übernommen und an entscheidender Stelle modifiziert. Der heilige Gott erscheint als Vater (Joh 17,11; vgl. 1Joh 3,3), und aufgrund seiner einzigartigen Beziehung zu Jesus von Nazareth ist dieser der ›Heilige Gottes‹ (Mk 1,24).« Hingegen in Kap. 8 u. ö. ebenfalls »Diener Gottes« und »Diener Christi«. Von Petrus ebenfalls in Kap. 40; in Kap. 19 sogar (zwei Mal) in der gesteigerten Form »Seligster«.
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fragt: »Ist er etwa Christus selbst?«53 Im selben Kapitel wird erzählt, Simon sei am Vortag vom Volk angerufen worden: »Du bist in Italien Gott, du, der Heiland der Römer […].«54 Christus hingegen, welcher Petrus vor seiner Reise nach Rom in einem Gesicht erscheint, disqualifiziert Simon Magus als Kraft des Satans (Kap. 5). Wiederum wird Petrus vom Kapitän seines Schiffes, das ihn nach Rom bringt, als »Diener Gottes«55 tituliert, nachdem der Kapitän im Traum ermahnt worden war, Petrus sei »höchster Verehrung wert« (Kap. 5). Weitere Bezeichnungen für Petrus sind »heiliger Knecht« (Kap. 6), »Diener des unaussprechlichen, lebendigen Gottes« (Kap. 9), »Diener Christi« (Kap. 9 u. ö.), »heiliger Knecht des heiligen Gottes« (Kap. 10). Verhältnismäßig selten wird Petrus hingegen als Apostel bezeichnet: so in Kap. 12 als »Bote und Apostel des wahren Gottes«.56 Bezeichnungen für Christus hingegen sind durchweg Hoheitstitel, die im NT benutzt werden oder ihnen ähneln: »Bester und allein Heiliger« (Kap. 5), »Herr« (Kap. 6 u. ö.), »heiliger Sohn Gottes« (Kap. 10), »heiliger Herr« und »Hirt« (Kap. 10), »Sohn Gottes« (Kap. 11), »Sohn des unsichtbaren Gottes« (Kap. 17), »Herr Jesus Christus« (Kap. 28) etc.57 Kurz ist noch einmal auf Petrus und Simon zurückzukommen. In Kap. 6 fällt ein Mann aus Puteoli, Ariston mit Namen, vor Petrus auf die Knie und spricht zu ihm: »Bruder und Herr, der du an den heiligen Geheimnissen teilhast und den rechten Weg zeigst, der in dem Herrn Jesus Christus, unserem Gott, ist.« In Kap. 10 fällt wiederum Marcellus Petrus zu Füßen58 und bittet ihn, bei Christus für seine Sünden einzustehen und bezeichnet ihn als »Anwalt bei Gott«. Petrus wird also nicht nur mit göttlichen bzw. gottähnlichen Elementen bedacht (Teilhabe an himmlischen Geheimnissen, Proskynese, Anrede mit »Herr«), sondern hat zugleich schon eine Art Stellvertreterfunktion inne, die außergewöhnliche Gottesnähe voraussetzt und eine sich im Hintergrund entwickelnde Heiligenverehrung widerspiegelt.59 53
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In Kap. 6 wird Simons Wirken als »Lehre des verbrecherischen Menschen« bezeichnet, in Kap. 9 Simon als »Gottloser und Aufwiegler einfältiger Seelen«, s. a. Kap. 15. Dass Simon letztlich die Macht des Teufels verkörpert, wird auch in Kap 6 f. verdeutlicht. In Kap. 17 wird Simon sogar selbst als Dämon und als »Engel des Satans« bezeichnet, dessen Vater der Teufel ist (Kap. 28). Simon selbst bezeichnet sich als »Kraft Gottes«, Gott hingegen als »Vater« und sich als seinen »Sohn« (Kap. 31). Vgl. Kap. 10. S. auch Kap. 30 u. ö. Auch Mose wird in Kap. 8 als »heilige[r] Diener Gottes« bezeichnet. Ansonsten in Kap. 11 f.; 22. S. aber die Beschreibungen Christi in Kap. 20. S. auch Kap. 12; 17. Inwiefern hier das nach umfassender Autorität strebende römische Episkopat im Hintergrund steht, wird unten (wenn auch nur kurz) angerissen. Wir lassen es hier bei der Beobachtung, dass Petrus enorme Verehrung zuteil wird. Immerhin findet sich in Kap. 7 auch eine gegenläufige Tendenz: Petrus schildert kurz verschiedene Erlebnisse, welche
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Weiterhin ist zu beobachten, dass der Nennung Simons als »Kraft Gottes« die Begabung des Petrus mit der Kraft (des wahren) Gottes entgegengesetzt wird.60 Anders gesagt: Petrus gewinnt den Wettkampf mit Simon und kann die in diesem enthaltenden Wunder tun, weil er – im Gegensatz zu Simon – wirklich mit göttlicher Kraft ausgestattet ist. Dabei ist Petrus bemüht zu differenzieren: Was er tut, kann er nicht aus sich selbst heraus tun – er ist fleischlich und sündhaft –, sondern durch die Kraft Christi (Kap. 28).61 Das Volk scheint diese Unterscheidung jedoch deutlich schwerer nachzuvollziehen, denn sie bewundern die Kraft des Menschen Petrus (Kap. 27), und – das ist die wichtigste Stelle für unseren Zusammenhang – sie verehren ihn »wie einen Gott« (Kap. 29).62 Petrus ist der »Heilige Gottes« nicht nur wegen der göttlichen Vollmacht, die ihm geschenkt ist, sondern auch aufgrund der Verehrung, die ihm zuteil wird und die ihm nicht nur eine große Gottessnähe unterstellt, sondern ihn christusähnlich bzw. gottähnlich erscheinen lässt.
6. Auswertung und Deutungsansa¨tze a) Zuerst sind die Ergebnisse der exegetischen Betrachtung unseres Textes heranzuziehen. Es wurde gezeigt, dass Petrus öfter genannt wird als Christus und dass die Bezeichnung Dominus für Gott bzw. Christus ebenso oft verwandt, wie Petrus mit Namen genannt wird. Die literarische Figur des Petrus ist der Christi zumindest gleichgestellt (wenngleich wortstatistische Erhebungen nur
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er mit Jesus gehabt hat, und geht dabei auch auf seine dreimalige Verleugnung Jesu ein. In diesem Zusammenhang bekennt Petrus eigene Schwachheit und einen schwachen Glauben. Ähnlich Kap. 20 und 28. So in Kap. 25–28 sechs Mal. Beispielsweise heißt es in Kap. 26 in einem Gebet des Petrus: »[O] Herr, erwecke du den, den Simon durch Berührung getötet hat, durch meine Stimme mit deiner Kraft!« In Kap. 32 ist Petrus sogar die Kraft Gottes selbst! Übrigens ist es auch die Kraft Jesu, die die vier Konkubinen des Präfekten Agrippa zu sexueller Enthaltsamkeit ermächtigt (Kap. 33) – und den Petrusakten zuletzt ein enkratitisches Achtergewicht verleiht. Die Auswirkungen der enkratitischen Predigt des Petrus führen schließlich zum Todesbeschluss gegen ihn (Kap. 34). S. dazu Enke, Traum und Traumdeutung (s. Anm. 3). S. Anm. 59. »Von dieser Stunde verehrten sie ihn wie einen Gott; die Kranken aber, die sie in den Häusern hatten, legten sie ihm zu Füßen, damit er sie heile.« Im Text ist an dieser Stelle nichts zu spüren, das diese Einschätzung des Volkes mindern oder gar kritisch bewerten würde, so wie es etwa in Apg 14,14 f.; 18 zu beobachten ist, wo ja ein ganz ähnlicher Fall vorliegt. Interessanterweise nennt Herczeg, Theios aner Traits (s. Anm. 1), 35, die Notiz über Petrus, geht darauf aber nicht ein.
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einen begrenzten Aussagewert haben). Auch die Anspielung auf die GethsemaneSzene – wobei es nun Petrus ist, welcher wacht und betet – hebt hervor, dass eine Überlagerung der Figuren Jesus und Petrus stattfindet. Die Ortsangabe in excelso loco, welche den erhöhten Platz des Petrus im Traum beschreibt, passt zu seiner hoheitlichen Stellung im Text. Die Bezeichnungen für Petrus in den Akten sind durchweg geeignet, die Autorität und Verehrung der Petrusfigur zur Zeit der Textentstehung auszudrücken. Deutlich abgesetzt sind jedoch die Titulierungen »Herr« und »Heiliger Gottes«, die vier proskynetischen Berichte (Kap. 6; 10; 12; 17), die Teilhabe an »heiligen Geheimnissen« (Kap. 6) sowie vor allem die Notiz, dass Petrus wie ein Gott verehrt wird (28). Dies alles sind Eigenschaften, die Petrus als gottähnliche Figur stilisieren oder zumindest zum Ausdruck bringen, dass Petrus in so hohem Maß verehrt wurde, dass er gottähnliche Züge annimmt. Hierhin gehört auch, dass Petrus nicht nur mit der Kraft Gottes ausgestattet ist, sondern diese in Kap. 32 auch selbst verkörpert (als Antipode zu Simon Magus). Zudem ist an Kap. 10 zu erinnern: Petrus wird zum Anwalt, der Gott gegenüber für die Sünden anderer Menschen eintritt. Zwar finden sich gegenläufige Tendenzen, in denen Petrus seine eigene Schwachheit und seinen Unglauben thematisiert. Diese besitzen innerhalb der Schrift jedoch kaum Strahlkraft und wirken seltsam kokett gegenüber den eben aufgezählten Befunden. b) Weiterhin ist zu prüfen, inwiefern ein Vergleich von ActPe 22 mit Mk 1,21– 28 ertragreich ist. Im Vergleich zur markinischen Perikope finden sich bezüglich des Ablaufs nur wenige Übereinstimmungen.63 Ähnlichkeit gibt es in Bezug auf den Zeitpunkt (Jesus geht am Sabbat in die Synagoge, der Kampf zwischen Petrus und Simon findet ebenfalls am Sabbat statt [auch wenn der Traum in der Nacht vorher spielt]) und das Setting (Jesus predigt und handelt in Vollmacht, Petrus am Tag nach dem Traum in der Auseinandersetzung mit Simon ebenfalls). Ferner ist das Zerren des Dämons bei Markus mit dem wilden kettenbehangenen Tanzen der Dämonin parallel zu setzen. Weiterhin stimmt das Resultat überein: Wie Jesus den Dämon austrieb und von diesem als »Heiliger Gottes« erkannt wird, »treibt« auch Petrus die Dämonin »aus«, indem er sie zerstückelt und am nächsten Tag Simon besiegt. Diese Macht entfalten sowohl Jesus als auch Petrus aufgrund ihrer Eigenschaft als »Heilige Gottes«. Dass in Acta Petri gefordert wird, die Dämonin nicht nur zu köpfen, sondern auch alle Glieder abzuschlagen und dies auch umgesetzt wird, steigert die Vollmacht, mit der gegen die Dämonin vorgegangen wird. Was gegenüber Markus und Johannes fehlt, ist der Bekenntnisaspekt: Marcellus bringt die Rede von Petrus als dem »Heiligen Gottes« regelrecht nebenbei. Dennoch: Gerade dass im johanneischen Petrusbekenntnis die Anrede »Heiliger Gottes« durch Petrus gebraucht und diese dann in ActPe 22 auf Letzteren 63
Auch wenn der Verfasser der Akten den Mk-Plot nicht kopiert, ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass er den markinischen Exorzismus kannte.
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übertragen wird, unterstreicht, wie hoch Petrus in den Augen des Autors und der Leserschaft der Petrusakten gestanden haben muss. Was die Darstellung Jesu in der markinischen Perikope angeht, wurde eine Nähe zum alttestamentlichen Charismatiker und Gottesmann konstatiert. Dies dürfte auf Petrus ähnlich zutreffen. Dass in ActPe 8 Mose als »heilige[r] Diener Gottes« bezeichnet wird, unterstreicht den Befund, macht aber auch deutlich, dass bei Petrus an »mehr« gedacht ist. So wie Jesus (nach Markus, s. o. – bei Johannes wurde ja eine Äquivalenz der Bezeichnungen festgestellt) nicht nur Heiliger Gottes, sondern Sohn Gottes ist, ist Petrus nicht nur heiliger Diener Gottes, sondern Heiliger Gottes. Dass Petrus verehrt wird wie ein Gott ist dann wiederum keine Steigerung, sondern entspricht der dadurch ausgedrückten Gottähnlichkeit. Insofern unterscheiden sich Petrus und der markinische Jesus.64 Weiterhin passt die oben getroffene Feststellung, dass die Geistbegabung Jesu durch Gott Voraussetzung der Vollmacht über die Dämonen sei, ebenso auf Petrus. Nur legt sich bezüglich der Acta Petri ein diametrales Verhältnis nahe: Jesus ist geistbegabt und besitzt dadurch Vollmacht über die Dämonen (d. h. wird zum »Heiligen Gottes«). Petrus ist nach der Darstellung der Akten der »Heilige Gottes« (d. h. er ist geistbegabt und dies wird vorausgesetzt) und das bestätigt sich durch seine Vollmacht über die Dämonin. Auch dies ist zugleich Gemeinsamkeit und Unterschied zwischen Markus und den Acta Petri. Es lässt sich festhalten, dass alle drei Eigenschaften des markinischen Jesus auch zu Petrus passen: Er verkündigt in Vollmacht wie Jesus (auch wenn wir diesen Aspekt hier vernachlässigt haben), er wirkt in Vollmacht und er wird, wie Jesus, von außen als Heiliger Gottes erkannt.
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Auch was die johanneische Christologie angeht, unterscheiden sich Petrus und Jesus. Wie wir oben gesehen haben, liegt der Schlüssel des johanneischen Jesus in seiner Reziprozität und Gleichwertigkeit Gott gegenüber: Jesus und Gott sind in einem wechselseitigen Verhältnis verbunden. Davon kann aber in den Acta Petri kaum die Rede sein. Petrus wird zwar verehrt und mit göttlichen Attribuierungen versehen, zugleich ordnet er sich Christus unter, der eindeutig sein Herr ist (s. bes. Kap. 20 u. ö.). Zudem wirkt besonders der Schlüsselsatz, dass Petrus verehrt wird wie ein Gott, ausgesprochen plump. Zumindest gegenüber dem johanneischen »Heiligen Gottes« und seinem Gottesverhältnis erscheinen die Akten, als hätte man Petrus mit einem »göttlichen Anstrich« versehen. Zwar wird die Stilisierung des Petrus als gottähnlich vor dem Hintergrund verstehbar, dass er die Antipode zu Simon bilden soll, welcher sich wie ein Gott verehren lässt (s. o. die Bezeichnungen für ihn sowie Irenäus, haer. I 23,1). D. h., der Verfasser wollte eine Art positives Gegengewicht zu Simon Magus setzen und zeigen, dass statt Simon dem Petrus die Verehrung gebührt. Das erklärt aber nicht, warum es nicht Christus (was zu erwarten gewesen wäre), sondern eben Petrus ist, der gottgleich verehrt wird.
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Ein Wort muss schließlich zu den Dämonen gesagt werden. Sowohl bei Markus als auch bei Petrus vertreten sie den widergöttlichen Bereich und das Böse und sind per se unrein (Mk 1,23.27; in den Petrusakten durch die Fetzenkleidung und die betont schwarze Hautfarbe dargestellt). Sie vertreten die dunkle Geistseite; Jesus und Petrus die göttliche Geistseite. Anschließend an Lührmann65 geht es sowohl dem Evangelisten als auch dem Verfasser der Akten um eine Demonstration der göttlichen, die Dämonen bezwingenden Vollmacht, die wiederum nur in der Geistbegabtheit und Befähigung als »Heiliger Gottes« begründet sein kann. Zwei Unterschiede sind ferner festzuhalten: Bei Markus ist der Dämon in aktiver Weise aggressiv, er besetzt einen Menschen, reißt ihn und verursacht dem Besessenen Leiden (Mk 1,26). In den Akten ist zumindest die Dämonin passivaggressiv: Sie tanzt in Ketten und gebärdet sich wild. Aber sie wehrt sich nicht gegen das Vorgehen gegen sie und ist stumm, d. h. sie legt kein Bekenntnis dem göttlich autorisierten Gegenüber ab.66 Weithin wurde schon gesagt, dass in den Akten die Unreinheit der Dämonin ausgemalt wird. Und schließlich sind bei Markus der Dämon und der Besessene prinzipiell unterscheidbar, in den Akten hingegen bilden Dämonin und Simon eine Person. Dies ist zum einen mit dem »Setting« des Traums zu erklären, zum anderen aber damit, dass Simon (wie wir oben gesehen haben), selbst als Angehöriger und Werkzeug Satans dargestellt wird. Er ist also nicht besessen, sondern per se böse. c) Die Gottähnlichkeit des Petrus ist in gewisser Weise dadurch zu relativieren, dass schon Synoptiker und Apostelgeschichte erzählen, dass auch die Jünger bzw. Apostel exorzieren (Mk 6,7.13 parr, vgl. 9,18; Lk 10,17; Petrus: Apg 5,16;67 Philippus: Apg 8,7; Paulus: Apg 16,18; vgl. Apg 19,12 [böse Geister fahren bei Berührung mit Schweißtüchern bzw. Schurzen des Paulus aus]68). Hierbei ist essenziell, dass sich Jesu Lehre als διδαχὴ καινὴ κατ᾽ ἐξουσίαν (Mk 1,27) manifestiert – durch seine Verkündigung und die Macht über die Dämonen – und Jesus eben diese Vollmacht seinen Jüngern zum selbstständigen Exorzieren und Heilen (Mk 3,15; 6,7.13) weitergibt.69 Die folgerichtige Frage wäre: Müssten nicht alle heilenden und exorzierenden Jünger »Heilige Gottes« genannt werden? Dazu kommt, dass in der neutestamentlichen Briefliteratur die Bezeichnung »Heilige« oft für die Empfänger bzw. Adressaten der Briefe benutzt 65 66
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Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 38), 118. Das holt Simon Magus, den die Dämonin ja per se und in seinen Eigenschaften verkörpert, dann in den folgenden Kapiteln ausführlich nach. Auch in ActPe 11 führt Petrus einen Exorzismus durch. Im selben Kapitel ist sogar Marcellus an einem Wunder beteiligt. Diese Stelle dürfte für weiterführende Überlegungen zum hier dargestellten Thema besonders interessant und relevant sein. Vgl. Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 38), 127.
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wird (s. o.). Dies muss an dieser Stelle so stehen bleiben. Es macht aber den Eindruck, als würde die Charakterisierung des Petrus in den Akten über die im Neuen Testament qualitativ hinausgehen. Er ist nicht einer der Apostel, welcher gegen eine Dämonin antritt – er ist der Apostel. Die Darstellung des Petrus in den Acta Petri steigert die des Neuen Testaments.70 d) Wie hier versucht wurde nachzuweisen, findet eine literarische Überlagerung der Person Jesu mit der des Petrus statt. Am deutlichsten macht natürlich der Traum an sich deutlich, dass beide als eine Art Doppelgänger zueinander stehen (s. o.). Dieser Befund liefert die vielleicht wichtigste »Verstehensbrücke« dafür, dass Petrus mit einem christologischen Hoheitstitel angesprochen wird.71 An einer anderen, bedeutenderen Stelle in den Akten ist ebenfalls das Doppelgängermotiv verwandt – in der »quo vadis«-Szene in Kap. 35. Hier deckt sich das angekündigte (erneute) Martyrium Jesu mit dem des Petrus (bzw. überträgt Petrus das angekündigte jesuanische Martyrium auf sich). Spätestens an dieser Stelle wird die Nähe bzw. Überlagerung der beiden Figuren deutlich: Der Apostel und Christus gleichen sich nicht nur in (vollmächtigem) Leben und Wirken, sondern auch im Martertod. Durch diese Übertragung des Sterbens Jesu auf Petrus wird das entscheidende Stück der Bezeichnung Petri als »Heiliger Gottes« verständlich: Petrus ahmt Jesu Tod nicht nur anhand des eigenen nach,72 sondern sein Tod wird dem Tod Jesu gleichgestaltet.73 e) Zuletzt ist zu fragen, wie das bisher Dargestellte in die kirchengeschichtliche Situation der Abfassung- und Entstehungszeit der ActPe eingeordnet werden kann. Dies soll hier jedoch lediglich genannt, nicht ausführlich verfolgt werden – das wäre eine eigene Studie wert. Am ehesten ist die Überlappung Petrus – Jesus bzw. die benannte Rolle des Ersteren aus der immer stärker werdenden Petrusverehrung der ersten Jahrhunderte zu erklären. Hier ist zum einen das römische Episkopat zu bedenken, dass zur Zeit der Entstehung der Akten zwar keinesfalls eine gesamtkirchliche 70
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Nicht vergessen werden darf, dass die Apostelakten, die sich vom Schwerpunkt her zumeist einer Person verpflichten, ein Zeugnis für Konkurrenzszenarien, wenn nicht (mehr) zwischen den einzelnen Aposteln selbst, so doch zwischen ihren Schulen oder Verehrerkreisen darstellen. Dies habe ich versucht, anhand von ActAndr 20 nachzuweisen, s. Enke, Traum und Traumdeutung (s. Anm. 3). Selbstverständlich sind dafür auch psychologische Fragestellungen unerlässlich. Andererseits ist diese Deutung nicht frei von Widersprüchen. So wäre zu fragen, warum die Überlagerung Petrus – Christus nicht durchgehender in die Akten eingearbeitet wurde, sondern lediglich an bestimmten Punkten. Auch die Selbstrelativierungen, die Petrus vornimmt (s. o.), passen nicht zu einer »Christus-Doppelgängerrolle«. Er tut dies, indem er sich verkehrt herum kreuzigen lässt, um die eigene Demut gegenüber Jesus und seinem Kreuzestod auszudrücken (Kap. 37). Insofern handelt es sich eben nicht um eine imitatio Christi.
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Führungsgewalt innehat, jedoch auf eben dieselbe drängt (und Petrus als Leitbild dafür funktionalisiert).74 Die theologische Darstellung der Gottähnlichkeit des Petrus wäre also auch in kirchenpolitischer Hinsicht zu bedenken, insofern als die Petrusdarstellung geeignet ist, das petrinisch-römische Episkopat (weiter) zu untermauern und mit Autorität zu versehen. Ein zweiter Hintergrund ist die einsetzende Heiligen- bzw. Märtyrerverehrung, für die das Martyrium des Polykarp eine Zäsur darstellt.75 Innerhalb dieser Verehrung entsteht seit dem 3. Jh. die Vorstellung, Heilige könnten für die Menschen vor Gott Fürsprache halten76 bzw. darüber hinaus direkt angerufen werden.77 Beide Aspekte treffen für die Petrusakten zu. Der Apostel erleidet das Martyrium und er wird in Stellvertretung um Fürsprache bei Gott gebeten. Zwar geschieht Letzteres dem »lebenden« Apostel gegenüber, also zur erzählten Zeit, 74
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Hanns Christof Brennecke, Art. Papsttum I. Alte Kirche, in: 4RGG Bd. 6, 2003, 866– 870, 866–868. Leitung der Gesamtkirche, Jurisdiktions- und Lehrprimat hat der römische Bischof erst seit dem Mittelalter inne und lediglich auf das lateinische Abendland bezogen. Ein monarchischer Episkopat ist hingegen für Rom ab der Mitte des 2. Jhs. nachweisbar. Eine Begründung der römischen Autorität von Mt 16,18 f. her ist für Stephanus I. (254–257) belegt, vgl. Brennecke, Art. Papsttum, 866 f. S. auch Eckhard Wirbelauer, Art. Primat, in: RAC Bd. 28, 2017, 156–183. »Seit Tertullian findet sich zunehmend die Auffassung, der Märtyrertod […] mache die Betroffenen zu H.[eiligen]. Dadurch verband sich der Begriff des H.[eiligen] mit der erstmals im Martyrium Polykarps von Smyrna faßbaren kultischen Märtyrerverehrung« (Ulrich Köpf, Art. Heilige/Heiligenverehrung II. Kirchengeschichtlich, in: 4RGG Bd. 3, 2000, 1540–1542, 1540). Zur Einführung in das Thema vgl. Theofried Baumeister, Art. Heiligenverehrung I., in: RAC Bd. 14, 1988, 96–150. Zur Petrusverehrung s. Ernst Dassmann, Art. Petrus III. Ikonographie und Kult, in: RAC Bd. 27, 2016, 427–455, bes. 439–455. Köpf, Art. Heilige (s. Anm. 75), 1541. Natürlich existierte sowohl im jüdischen als auch griechisch-römischen Kulturkreis schon vorher die Verehrung von Heiligen bzw. Heroen. Besonders der für uns wichtige Aspekt von Fürbitte und Mittlerschaft vor Gott war Teil der jüdischen Theologie (so der Hohepriester [Lev 16], Könige [1Kön 8,28–53; 2Chr 30,18–20], Propheten [1Sam 7,5; Jer 42] etc.; seit makkabäischer Zeit die Blutzeugen [2Makk 15,12–16]), aber auch des NT (Offb 8,3 f., s. o.), Hausberger, Art. Heilige/Heiligenverehrung (s. Anm. 50), 647 f., sowie Joachim Kügler, Art. Fürbitte, in: 4HGANT, 2015, 207 f., mit weiteren Beispielen. Die Entstehung dieses Motivs kann hier nicht weiter erörtert werden; für unsere Überlegungen reicht es aus, es christlicherseits in relativer Nähe zu den Acta Petri ausmachen zu können. Prominentes Beispiel dafür ist der Graffito in der Sebastians-Katakombe in Rom aus dem Jahre 260: »Paulus und Petrus, betet für Nativus in der Ewigkeit!« (Hausberger, Art. Heilige/Heiligenverehrung [s. Anm. 50], 649, Übersetzung ebd.). Damit sei »der Übergang vom Gebet für zum Gebet zu den Märtyrern markiert« (ebd.; genau genommen enthält die Inschrift beide Aspekte: Bitte um Gebet und das Gebet selbst).
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ist aber v. a. vor dem Hintergrund der Petrusverehrung zur Zeit der Abfassung zu verstehen, also in dem Wissen, dass Petrus tot ist, aber dennoch (oder gerade deswegen) vor Gott für die Menschen eintreten kann. Eine Aufgabe für weitere Forschungen wäre hier, das Verhältnis zwischen der Charakterisierung des Apostels in den Akten und der sich entwickelnden Märtyrer- bzw. Heiligenverehrung des Petrus zu untersuchen. Letztere scheint jedenfalls ein wichtiger Schlüssel zum besseren Verständnis der Bezeichnung »Heiliger Gottes« für Petrus zu sein.
7. Fazit Festzuhalten bleibt, dass Petrus zu Christus in eine außerordentliche Nähe gesetzt wird, die deutlich über die Verehrung eines Menschen aber auch über eine imitatio Christi hinausgeht. Petrus wird – spürbar – verehrt wie ein Gott, dies geht so weit, ihn als »Heiliger Gottes« anzureden. Vor allem Mk 1, aber auch Joh 6 sind wesentliche Bezugspunkte, ebenso die Entwicklung des römischen Episkopats und die Heiligen- und Märtyrerverehrung des Apostels zur Abfassungszeit. Aber Petrus bekennt sich ebenso als Sünder und Unvollkommener. Insofern bleibt das Petrusbild bis zum Schluss in einer gewissen Ambivalenz, seine Verehrung wirkt mitunter recht schlicht. Eine Möglichkeit wäre (wie oben versucht wurde), Petrus eine Art Christusähnlichkeit in den Akten zu attestieren.78 Schon von daher bedarf sowohl die Christologie als auch das Petrusbild der Acta Petri weiterer, intensiver Untersuchung unter Einbezug der christlichen Frömmigkeits- und Kirchengeschichte der ersten Jahrhunderte, in welche die Texte der Akten untrennbar eingebunden sind.
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Eine interessante Einordnung schlägt Monika Pesthy, Cross and Death in the Apocryphal Acts of the Apostles, in: Bremmer (Hrsg.), Acts of Peter (s. Anm. 1), 123–133, 129, vor: Petrus sei (vor allem im Blick auf seine Kreuzigung) »a substitute of Christ«.
Barnabas Remembered Apokryphe Barnabastexte und die Kirche Zyperns1 Tobias Nicklas
In seiner bedeutenden Monographie »The Rise of Western Christendom« beschreibt Peter Brown die Umdeutung des Raumes wie damit verbundener Objekte als eine der entscheidenden Herausforderungen der Christianisierung des Römischen Reiches. Noch viele Generationen nach den Reformen Theodosius’ I. (347–395 n. Chr.)2 blieb auch weiterhin die alte Topographie des Heiligen präsent. Brown spricht von noch immer genutzten Tempeln und Schreinen, erinnert aber auch an heilige Quellen und Bäume oder die vor allem in Ägypten erkennbare tiefe Assoziation der Tierwelt mit den Göttern der Vergangenheit.3 Schritt für Schritt, von Region zu Region unterschiedlich – und mit deutlichen Differenzen zwischen Städten und den meisten ländlichen Regionen – gelang es den Christen, Räume neu zu definieren und zu besetzen: »Christian writers pointed out that Christian holy men now perched on mountains once sacred to the gods; that Christian churches rose triumphantly from the foundations of levelled temples; and that the names of the gods were forgotten, while those of the saints and martyrs were on everyone’s lips.«4
Die These des folgenden Beitrags ist, dass auch Erzählungen über die Ursprünge des Christentums in verschiedenen Regionen, in vielen Fällen apokryphe Apos1
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Ich hoffe sehr, mit diesem Beitrag Marco Frenschkowski, den ich seit vielen Jahren als einen höchst inspirierenden, klugen und spannenden Kollegen kenne, eine kleine Freude zu bereiten. Lieber Marco, ad multos annos! Zur Religionspolitik des Theodosius vgl. u. a. Hartmut Leppin, Theodosius der Große. Auf dem Weg zum christlichen Imperium, Darmstadt 2003, 169–181. Peter Brown, The Rise of Western Christendom. Triumph and Diversity, A.D. 200–1000, Chichester ³2013, 148. A. a. O., 149. Das Zitat bezieht sich auf Entwicklungen im Osten, die Brown, a. a. O., 150 f., von denen im lateinischen Westen mit seiner deutlich differierenden historischen Entwicklung unterscheidet.
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telakten, in diesem Prozess eine wichtige Rolle spielten. Die Tatsache, dass jene Schriften meist in erster Linie als erbauliche und unterhaltende Literatur ohne historischen oder theologischen Wert angesehen wurden (und zum Teil weiterhin werden), verdeckte diesen Aspekt ihrer Bedeutung für lange Zeit. Inzwischen wird deutlich, dass hier – und zwar gerade auch jenseits der in der Forschung bekannteren Schriften des zweiten und dritten Jahrhunderts, also den Akten des Paulus, des Andreas, Petrus, Johannes und Thomas – viel zu entdecken ist. An einer Reihe von Beispielen habe ich gezeigt, wie apokryphe Apostelerzählungen (wie auch manche üblicherweise hagiographischer Literatur zugeordnete Schrift)5 an »Erinnerungslandschaften«6 partizipieren: Indem sie Überliefertes »neu inszenieren«, ja in vielen Fällen an der Kreation von Erinnerung an die (angeblichen) Ursprünge teilhaben, schaffen sie Tradition, die Eingang in das »kulturelle Gedächtnis«7 der Trägergruppe findet oder dieses beeinflussen soll. Dies geschieht jedoch in vielen Fällen nicht über den geschriebenen Text allein, sondern über im Text besonders markierte Orte, Gegenstände und Zeiten, an denen diese »Erinnerung« in besonderer Weise vergegenwärtigt werden soll. So bieten etwa die Akten des Titus eine Gründungserzählung der Kirche von Kreta, die auch – am Gedenktag des Titus jeweils am 22. August – Eingang in das liturgische Jahr gefunden hat.8 Im Martyrium des Markus wiederum stehen der Tod des Apostels und die Rettung seiner Reliquien für den Sieg Christi über die »Dämonen« der Vergangenheit – und
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Die übliche Differenzierung zwischen apokrypher und hagiographischer Literatur ist in vielen Fällen nicht hilfreich. Vgl. auch die Überlegungen in Tobias Nicklas, Gedanken zum Verhältnis zwischen christlichen Apokryphen und hagiographischer Literatur, in: NedThT 62 (2008), 45–63. Der Begriff geht zurück auf Pierre Nora, Les lieux de mémoire, 3 Bde., Paris 1984–1992. Zur Bedeutung des Konzepts für das Verständnis antiken Christentums vgl. auch Tobias Nicklas, New Testament Canon and Ancient Christian »Landscapes of Memory«, in: Early Christianity 7 (2016), 5–23, sowie ders., Neutestamentlicher Kanon, christliche Apokryphen und antik-christliche »Erinnerungskulturen«, in: NTS 62 (2016), 588–609. Zu diesem Begriff vgl. die klassische Studie von Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München ³2000. Einen guten Überblick über Diskussionen zur Bedeutung der Begriffe »kulturelles Gedächtnis«, »soziales Gedächtnis« sowie »kollektives Gedächtnis« für Studien zum frühen Christentum bietet Tom Hatina, Intertextual Transformations of Jesus, in: Robert M. Calhoun/David P. Moessner/Tobias Nicklas (Hrsg.), The Gospels and Ancient Narrative Literary Criticism, WUNT, Tübingen 2020 (im Druck). Weiterführend Tobias Nicklas, Die Akten des Titus: Rezeption »apostolischer« Schriften und Entwicklung antik-christlicher »Erinnerungslandschaften«, in: EC 8 (2017), 458– 480.
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zwar ganz besonders über den Kult des Serapion.9 Der Gedenktag des Märtyrers überlagert von nun an den Festtag zu Ehren Serapions. Gleichzeitig weisen beide Texte auf materiale Überreste, die Reliquien der beiden Apostel, die auch weiterhin an im Text markierten Orten zu verehren sind und von denen noch immer Wunderkräfte ausgehen. Auch der folgende Beitrag möchte der so gelegten Spur nachgehen. Ich konzentriere mich im Folgenden auf Traditionen um den Apostel Barnabas auf Zypern und möchte dabei zeigen, dass diese auch von höchster politischer Brisanz sein konnten.10 Nach einem kurzen Blick in die kanonische Apostelgeschichte werde ich mich dazu den Akten des Barnabas und schließlich dem Barnabas-Encomium des Mönches Alexander zuwenden und versuchen zu zeigen, wie sich ändernde historische Umstände zu veränderten Erzählungen über die Ursprünge des Christentums auf Zypern führten und wie diese über Umdeutungen von Raum und Objekten im Raum Plausibilität für ihre Deutung der Gegenwart zu erzeugen suchten.
1. Von der kanonischen Apostelgeschichte zu den Akten des Barnabas Zwar mag Barnabas auch in der kanonischen Apostelgeschichte eine Rolle spielen, die seine Bedeutung für die früheste Bewegung der Christusanhänger wenigstens erahnen lässt; und doch bleibt er eine Figur im Schatten des Paulus.11 Bereits in Apg 4,36 wird er als »Josef,12 der von13 den Aposteln Barnabas genannt wurde, das heißt übersetzt ›Sohn des Trostes‹, ein Levit, Zypriot von Abstam9
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Weiterführend Tobias Nicklas, The Martyrdom of Mark in Late Antique Alexandria, in: Jörg Frey/Thomas J. Kraus/Benjamin Schliesser (Hrsg.), Alexandria – Hub of the Hellenistic World, WUNT, Tübingen 2020 (im Druck). Eine Reihe von Texten, die ich z. T. in den Fußnoten erwähnen werde, deren präzisere Diskussion aber an der entscheidenden These nichts ändern würde, bietet Bernd Kollmann, Joseph Barnabas. Leben und Wirkungsgeschichte, SBS 175, Stuttgart 1998, 76–101. Die vielleicht wichtigsten neueren, an der historischen Figur des Barnabas orientierten Arbeiten sind sicherlich der bereits erwähnte Kollmann, Joseph Barnabas (s. Anm. 10) sowie Markus Öhler, Barnabas. Die historische Person und ihre Rezeption in der Apostelgeschichte, WUNT 156, Tübingen 2003 und (an ein breiteres Publikum gerichtet) ders., Barnabas. Der Mann in der Mitte, BG 12, Leipzig 2005. Einige Textzeugen bieten hier die alternative Lesart »Joses«. Der Text ist hier uneindeutig überliefert. Während die kritischen Ausgaben hier ἀπὸ τῶν ἀποστόλων bieten, findet sich bei Zeugen des »westlichen« Textes (u. a. D) das grammatisch korrektere ὑπὸ τῶν ἀποστόλων.
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mung«, eingeführt. So steht er bereits deutlich vor Paulus in Beziehung zur Jerusalemer Urgemeinde, der er nach Apg 4,37 das durch den Verkauf eines Ackers erlöste Geld übergibt.14 Laut Apg 9,27 führt er Saulus unter den Aposteln ein; Apg 11,19–26 berichtet von ihm, der hier als ein »guter Mann, erfüllt vom Heiligen Geist und vom Glauben« (Apg 11,24), umschrieben wird, beim Aufbau der Gemeinde von Antiochia. Wieder ist er es, der die Initiative ergreift, um Saulus von Tarsus nach Antiochien zu bringen (Apg 11,25 f.).15 Auch bei der Aktion zur Unterstützung der Gemeinden von Judäa treten Barnabas und Saulus als ein Paar auf (Apg 11,27–30), Barnabas wird vor Saulus genannt (Apg 11,30). Auf Initiative des Heiligen Geistes schließlich werden Barnabas, der zunächst als erster einer Gruppe von Propheten und Lehrern der Gemeinde Antiochias erwähnt ist (Apg 13,1), und Saulus (wieder in dieser Reihenfolge!) zu einer Missionsreise ausgesandt (Apg 13,1–3).16 Dass gleich die erste Station der Reise die beiden nach Zypern, also in die Heimat des Barnabas, führt, macht ebenfalls deutlich, wer (noch) die bestimmende der beiden Figuren ist. Die nun folgende Passage ist deswegen von besonderem Interesse, weil sie einen entscheidenden Vergleichspunkt für die in den Akten des Barnabas wie auch dem Encomium überlieferten Zyperntraditionen bietet (Apg 13,4–13). Der Text gibt folgende Informationen: Aus Barnabas und Saulus wird unvermittelt ein Trio, das, in Salamis ankommend und weiter bis Paphos ziehend, beginnt, »das Wort Gottes in den Synagogen der Juden« (Apg 13,5) zu verkünden: Ihnen steht als Helfer Johannes (Markus) zur Seite (vgl. Apg 12,25). Innerhalb der Zypernszene zeigt sich nun eine spannende und im Text nicht vorbereitete Verschiebung der Rollen. In der Auseinandersetzung mit dem zunächst als Barjesus (Apg 13,6) eingeführten jüdischen Magier Elymas (Apg 13,8) aus dem Umfeld des Prokonsuls Sergius Paulus tritt nun Saulus, der zudem erstmals mit den Worten »der auch Paulus heißt« (ὁ καὶ Παῦλος) umschrieben wird (Apg 13,9), plötzlich in den Vordergrund. Während noch in Apg 13,7 davon die Rede war, dass Barnabas und Saulus gerufen werden, vollbringt Paulus vor den Augen des Prokonsuls ein Strafwunder an Elymas, welcher erblindet (Apg 13,10 f.), während Sergius Paulus zum Glauben kommt (Apg 13,12).17 Von nun an rückt Barnabas vollkommen in 14
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Woher er, der Zypriot, diesen Acker hat, wird nicht erwähnt. Diese Leerstelle wird später durch das Encomium gefüllt werden. Apg 9,27 und 11,26 verwenden für die Aktion des Barnabas die gleiche Verbform ἤγαγεν, ihm kommt also in beiden Szenen im wahrsten Sinne eine gegenüber Saulus »führende Rolle« zu. Diese wird normalerweise als »erste Missionsreise des Paulus« verstanden, ist aber zunächst eine Missionsreise des Barnabas mit Saulus (und Johannes Markus). Von einer Taufe des Prokonsuls ist allerdings nicht die Rede. Zu möglichen historischen Hintergründen der Szene vgl. z. B. Niclas Förster, Der besiegte Magier (Die Blendung des Barjesus Elymas) – Apg 13,6–12, in: Ruben Zimmermann u. a. (Hrsg.), Kompendium
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den Hintergrund. Ganz unvermittelt ist von »den Leuten des Paulus« (οἱ περὶ Παῦλον, Apg 13,13) die Rede, welche nun aus Zypern abreisen. Johannes (Markus), der in der ganzen Erzählung keine Rolle gespielt hat, »trennte sich von ihnen und kehrte nach Jerusalem zurück« (ἀποχωρήσας ἀπ̓ αὐτῶν ὑπέστρεψεν εἰς Ἱεροσόλυμα, Apg 13,13b) – ein konkreter Grund für seine Rückkehr wird nicht genannt. Die späteren Traditionen werden diese Leerstelle auf sehr unterschiedliche Weise ausfüllen. Beim Rest der weiteren Missionsreise wie auch beim Apostelkonzil bleibt Barnabas zwar an der Seite des Paulus, dieser aber wird nun zur Hauptfigur. Die zweite für die mit Zypern verbundenen Barnabastraditionen entscheidende Passage bietet Apg 15,36–41: Dieses Mal ist es Paulus, der die Initiative zu einer erneuten Missionsreise mit Barnabas ergreift (Apg 15,36).18 Die beiden zerstreiten sich jedoch über der Frage, ob Johannes Markus sie wieder begleiten soll. Von nun an sind zwei Paare unterwegs: Barnabas und Johannes Markus, Paulus und Silas. Während die Apostelgeschichte sich im Folgenden auf Paulus und Silas konzentriert, wird von den ersten beiden nur noch berichtet, dass sie (erneut) nach Zypern segeln (Apg 15,39b). Ihr weiteres Schicksal rückt aus dem Blick der lukanischen Darstellung. Natürlich ging es mir mit dieser knappen Zusammenfassung nicht um die Darstellung der möglichen historischen Hintergründe der Erzählung. Wichtig für das Folgende bleibt: Zypern wird in der Apostelgeschichte mehrfach erwähnt; als Heimat des Barnabas bildet die Insel zudem den Auftakt der ersten, von Antiochia ausgehenden Missionsreise. Ohne Erwähnung konkreterer topographischer Details werden die Orte Salamis und Paphos genannt; die Verkündigung findet in nicht näher spezifizierten »Synagogen der Juden« statt. Neben dem Trio Barnabas, Saulus/Paulus und Johannes Markus treten als Antagonisten der jüdische Zauberer Barjesus/Elymas sowie der Prokonsul Sergius Paulus auf, letzterer belegbar eine historische Gestalt.19 Nur angedeutet ist schließlich eine zweite Missionsreise, an der nur Barnabas und Johannes Markus teilnehmen – erneut entsteht so eine Leerstelle, die in der lukanischen Apostelgeschichte nicht gefüllt wird. Die meisten dieser Elemente bilden auch das Grundgerüst der Akten des Barnabas; umso mehr sind die teils sehr deutlichen Verschiebungen gegenüber
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der frühchristlichen Wundererzählungen, Bd. 2. Die Wunder der Apostel, Gütersloh 2017, 216–227, 223. In der Wortstellung des Satzes steht Paulus als Subjekt interessanterweise am Schluss. Von einer Initiative des Geistes ist, anders als in vielen anderen Passagen, dagegen nicht die Rede. Zu den (wenigen) historischen Informationen über Sergius Paulus (oder präziser Sergius Paullus) vgl. Öhler, Barnabas (s. Anm. 11), 282–285.
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der Apostelgeschichte wichtig.20 Ein erster, ganz entscheidender Unterschied besteht bereits darin, dass die Akten des Barnabas Barnabas von Beginn an als »Apostel« bzw. »heiligen Apostel« auffassen (Titel; §§ 2, 5 und 26).21 Interessant ist zudem die Erzählperspektive: In der lukanischen Apostelgeschichte nur eine Randfigur, ein Objekt der Auseinandersetzung, wird Johannes Markus, welcher mit § 26 als Missionar Alexandrias verstanden wird, zum Erzähler der Geschehnisse.22 In einer Vision wird dem neugetauften Johannes Markus verkündet, er werde die »Geheimnisse Gottes erkennen« (§ 3). Er offenbart sich nur dem Barnabas, welcher ihm rät, »die Worte, die er geschaut und gehört habe«, noch für sich zu bewahren, nicht aber dem Paulus (§ 4). Dies wiederum begründet das enge Verhältnis zwischen Barnabas und Johannes Markus. Bezeichnenderweise wird die aus der lukanischen Apostelgeschichte bekannte Erzählung über die Erstmission Zyperns nun nur ganz knapp geschildert: »Von dort nun [Ikonium] gelangten wir nach Seleukia, blieben (dort) drei Tage lang und segelten nach Zypern, und ich war ihnen zu Dienst, bis wir Zypern durchwandert hatten. Wir segelten von Zypern ab und liefen in Perge in Pamphylien ein. Und dort blieb ich etwa zwei Monate; ich wollte zu den westlichen Regionen absegeln, aber der Heilige Geist ließ mich nicht. Ich kehrte um und suchte wieder die Apostel, und als ich erfuhr, dass sie in Antiochia waren, ging ich zu ihnen« (§ 5).
Diese Zusammenfassung der Ereignisse ist aus mehreren Gründen interessant. Zunächst einmal fehlt auch im unmittelbaren Kontext jeglicher Hinweis darauf, dass die Reise von Antiochien her initiiert sein könnte; so besteht keinerlei Ursprungsbezug zwischen der Gemeinde Antiochiens und der Kirche Zyperns. Stattdessen wird, gegenüber dem Text der Apostelgeschichte in eigentlich überflüssiger Weise präzisierend, so doch aber die Glaubwürdigkeit der Erzählung betonend, die Länge des Aufenthalts in Seleukia angegeben. Der eigentliche Zypernaufenthalt dagegen ist auf das Notwendigste zusammengekürzt. Weder die Orte Salamis noch Paphos sind genannt, noch ist die Rede von einer Predigt in den Synagogen. Wir hören nichts über die Begegnung mit Barjesus/Elymas, die 20
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Meine Übersetzung des Textes folgt der Edition von Maximilianus Bonnet (Hrsg.), Acta Apostolorum Apocrypha, Darmstadt 1959 (Neudruck), 292–302; sie ist an einzelnen Stellen leicht gegenüber der Wiedergabe, die ich in Tobias Nicklas, Die Akten des Barnabas. Neuinterpretation und Übersetzung, in: Brent Landau/Claire Clivaz (Hrsg.), Studies in Luke and Christian Apocrypha. Studies in Memory of Francois Bovon, WUNT, Tübingen 2020 (im Druck), vorgelegt habe, abgeändert. Im lukanischen Konzept gelten nur die Zwölf als Apostel, nicht einmal Paulus kann diesen Titel für sich beanspruchen. Bezüge des Textes zu den verschiedenen Markusakten bzw. den in ihnen zu findenden Traditionen sind wahrscheinlich, aber nicht sehr spezifisch.
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Bekehrung des Prokonsuls oder gar das Wunder des Paulus. Die Gruppe »durchwandert Zypern« und reist wieder ab. Mit anderen Worten: Das in der Apostelgeschichte Berichtete ist für die Frage nach den Ursprüngen der Kirche Zyperns kaum interessant; die Rolle des Paulus wird zudem geradezu auf ein Minimum reduziert. Stattdessen ist die in Apg 13,13b unmotiviert bleibende Trennung des Johannes Markus von den beiden anderen nun begründet: Dieser kehrt nicht einfach nach Jerusalem zurück, sondern wird vom Geist abgehalten, einen eigenen Weg nach Westen einzuschlagen. So ist die Gruppe wenigstens in der Erzählfolge der Akten des Barnabas, die die gesamte erste Missionsreise wie auch die Ereignisse um das Apostelkonzil überspringt, offenbar nur kurze Zeit getrennt. Sobald es ihm möglich ist, schließt sich Johannes Markus wieder den Aposteln in Antiochia an. Der Fokus der folgenden Abschnitte (§§ 6–9) liegt nun ganz auf den in Apg 15,36–41 berichteten Ereignissen, die zur Trennung von Paulus und Barnabas führen. Obwohl Barnabas alles tut, um den von der Reise noch erschöpften Paulus zu versöhnen, und obwohl Johannes Markus auf Knien Abbitte leistet, lässt sich Paulus nicht erweichen. Er ist nicht nur deswegen verärgert, weil Johannes Markus in Perge zurückgeblieben war, sondern auch – ein gegenüber der Apostelgeschichte neues Motiv – weil er »die meisten Pergamente«, also bisher im Text nicht erwähnte Bücher, »in Pamphylien [gelassen] hatte« (§ 6). Auch die folgenden Passagen, die vom Zerwürfnis zwischen Paulus und Barnabas sprechen, sind mit zusätzlichen Zügen versehen: Zunächst sind die Reisepläne der beiden nicht in Übereinstimmung zu bringen, dann entsteht weiterer Streit über Johannes Markus: »Barnabas aber bat, dass auch ich sie begleitete, da ich von Beginn an ihr Knecht gewesen war, ihnen in ganz Zypern als Knecht gedient hatte, bis sie nach Perge in Pamphylien gelangt waren und ich dort viele Tage geblieben war. Paulus aber schrie den Barnabas an und sagte: ›Unmöglich, dass dieser mit uns kommt.‹ Auch die, die mit uns dort waren, baten, dass auch ich ihnen folgen solle, weil ein Gelübde auf mir lag, ihnen bis zum Ziel zu folgen. So sagte Paulus zu Barnabas: ›Wenn du Johannes, der zu Markus umbenannt wurde, mit dir nehmen willst, [dann] geh einen anderen Weg, denn er soll nicht mit uns kommen.‹ Barnabas aber, der [wieder] zu sich gekommen war, sagte: ›Den, der einmal dem Evangelium gedient hat und der mit uns den Weg gemacht hat, verlässt die Gnade Gottes nicht. Wenn also dies dir genehm ist, Vater Paulus, nehme ich ihn und gehe.‹ Und dieser sagte: ›Geh in der Gnade Christi und wir in der Kraft des Geistes‹« (§ 8).
Trotz dieser Auseinandersetzung, in der gegenüber der Apg die Rolle des Barnabas klar erweitert ist, kommt es schließlich zur Versöhnung; Paulus und Barnabas, der auf Zypern seine »Vollendung«, also seinen Märtyrertod, erwartet, trennen sich unter Tränen (§ 9) und auch Paulus erkennt, von einer Vision geleitet, dass der Weg des Barnabas nach Zypern führen muss (§ 10). Alles, was in
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den §§ 11–25 folgt, füllt die in Apg 15,39b entstandene Leerstelle aus: »Barnabas nahm Markus mit und segelte nach Zypern.« Die §§ 11–14 sprechen von den Stationen der Reise – u. a. werden die beiden durch widrige Winde aufgehalten;23 erst am Ende von § 14 finden wir die beiden auf Zypern an »einem Ort, der Krommyakita24 genannt wird«. Dort werden sie von Timon und Ariston, zwei »Tempelsklaven«, gastlich aufgenommen. Mit Hilfe offenbar eines Exemplars des Matthäusevangeliums, beschrieben als »(schriftlich niedergelegte) Lehren«, »ein Buch der Stimme Gottes und eine Schrift25 über Wunder und Lehren« (§ 15), heilt Barnabas den fieberkranken Timon. Von nun an finden wir die beiden Protagonisten zusammen mit Timon in schneller Abfolge an verschiedenen Orten Zyperns.26 In Lapithos (Lapta) können sie wegen eines heidnischen Festes nicht einziehen, in Lampadistos (Lampadistis), der Heimat Timons, treffen sie auf Herakleios/Heracleon,27 einen bereits bei der ersten Missionsreise Getauften (§ 16 f.). Dessen Name wird nun in Herakleides geändert, er wird zum Bischof von Zypern geweiht und eine in Tamasos bereits bestehende Gemeinde bestätigt. Über das Chionodes-Gebirge gelangt die Gruppe nach Palaia Paphos, dann nach Kourion und schließlich über Amathos und Kition (heutiges Larnaca) nach Salamis. Obwohl an den meisten Orten nur ganz kurze Szenen berichtet werden, können auf diese Weise große Teile und vor allem entscheidende Orte Zyperns mit dem Wirken des Apostels in Beziehung gesetzt werden. Wenigstens in Ansätzen entsteht eine kirchliche Organisation: Neben Timon wird auch ein gewisser Aristoclianus, ebenfalls bereits ein Getaufter der ersten Missionsreise, als Bischof bestätigt (§ 20). Verglichen mit der lukanischen Apostelgeschichte, aber auch Texten wie den Akten des Paulus, des Andreas, Petrus, Johannes oder Thomas fällt aber auch auf, wie knapp die einzelnen Passagen geschildert sind. Längere theologische Reden entfallen; ausführlichere 23
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Zu den geographischen Gegebenheiten hier vgl. Peter Pilhofer, Von Segeltouren und Konjekturen. Die Barnabas-Akten als Quelle zur Topographie der isaurischen Küste, in: Orbis Terrarum 13 (2015), 192–210. Es handelt sich um das Kap Krommion (Κρομμίου ἄκρις), den nördlichsten Punkt Zyperns im Distrikt der Stadt Lapithos/Lapta. Vgl. Enrico Norelli, Actes de Barnabé, in: Pierre Geoltrain/Jean-Daniel Kaestli (Hrsg.), Écrits apocryphes chrétiens, Bd. 2, Paris 2005, 619–642, 636. Der Text ist hier nicht eindeutig überliefert. Eine Karte, die den durchaus nachvollziehbaren Weg der Protagonisten durch Zypern – vom äußersten Norden nach Süden und Südwesten und von dort aus entlang der Südküste bis Salamis im Osten – nachzeichnet, findet sich bei Bernd Kollmann, Hinführung zu den Wundererzählungen in den Barnabasakten, in: Zimmermann u. a. (Hrsg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Bd. 2 (s. Anm. 17), 969–975, hier 971. Der Text ist hier nicht eindeutig überliefert.
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Berichte von Wundern fehlen fast vollkommen.28 Überraschend häufig ist von der Ablehnung der christlichen Botschaft die Rede. Dies wird immer wieder mit der Feier nicht näher benannter Feste und Prozessionen zu Ehren der Götter in Bezug gesetzt. Als entscheidender Antagonist erweist sich aber ab § 18 der bereits in Apg 13,6 erstmals erwähnte, nun offenbar nicht mehr blinde Barjesus, welcher den jüdischen Widerstand gegen die Mission des Barnabas anstiftet. Der von ihm aufgewiegelte jüdische Mob verhindert, dass die Gruppe in Kourion eintreten kann (§ 19), Gleiches geschieht in Amathos (§ 20), bevor Barjesus in Salamis den Lynchmord an Barnabas anstiftet. Auch die Szene vom Tod des Apostels ist in auffallend knapper Weise erzählt: »Als aber Barjesus nach zwei Tagen, nachdem wir nicht wenige Juden unterrichtet hatten, ankam, versammelte er voller Zorn die Menge der Juden, sie brachten Barnabas in ihre Gewalt und suchten ihn Hypatus, dem Statthalter von Salamis, zu übergeben. Sie fesselten ihn, um ihn zum Statthalter zu bringen; es war aber ein frommer Jebusiter, ein Verwandter Neros, nach Zypern gelangt. Die Juden erfuhren dies, nahmen den Barnabas bei Nacht, fesselten ihn an einem Strick um den Hals, zerrten ihn von der Synagoge zum Hippodrom, brachten ihn hinaus vor das Tor und verbrannten ihn, um ihm stehend, im Feuer, so dass auch seine Knochen zu Asche wurden. Sofort aber in derselben Nacht nahmen sie seine Asche, warfen sie in ein Tuch, und fest gemacht in Blei, überlegten sie, ihn ins Meer zu werfen« (§ 23).
Von nun an konzentriert sich alles auf die sterblichen Überreste des Barnabas: Markus, Timon und Rhodon, ein weiterer Neubekehrter, bringen die Asche des Barnabas an sich und verstecken sie mit dem Evangelienbuch »an einem gewissen Ort« (§ 24), welcher jedoch nicht präzise genug bezeichnet wird, um eine Lokalisierung der Reliquien zu ermöglichen. Den dreien gelingt es, den sie verfolgenden Juden zu entfliehen. Am Ende des Textes finden wir Johannes Markus in Alexandrien, wo er »das Wort des Herrn« (§ 26) verkündet. Immer wieder werden die Akten des Barnabas in das ausgehende 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung datiert und mit der Auffindung des Grabes des Barnabas in der Zeit Zenos des Isauriers (474–491 n. Chr.) in Verbindung gebracht. Wie etwa auch Bernd Kollmann betont, »verfolgen die Barnabasakten ein konkretes kirchenpolitisches Ziel, nämlich die Selbständigkeit der Kirche Zyperns zu erweisen. Kirchenhistorischer Hintergrund ist der auf dem Konzil von
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Vgl. auch die im Vergleich zu anderen Texten knappe Übersicht über Wunder in den Barnabasakten in Kollmann, Hinführung (s. Anm. 26), 975. Knapp erzählt wird die Heilung des fieberkranken Timon (§ 15), ein Strafwunder, bei dem Barnabas ein Stadion zum Einsturz bringt (§ 19); hinzu kommt der Hinweis, dass Aristoclianus einst in Antiochien vom Aussatz gereinigt worden sei (§ 20).
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Ephesos (431 n. Chr.) zwar zurückgewiesene, um 488 n. Chr.29 von dem antiochenischen Patriarchen Petrus Fullo aber mit besonderem Nachdruck erneut erhobene Anspruch, die Kirche Zyperns habe sich dem Bischofsstuhl von Antiochia zu unterwerfen.«30 Um diesem Anspruch entgegenzuwirken und die eigene Unabhängigkeit zu begründen, benötigte die Kirche Zyperns ein eigenes Apostelgrab. Ich bin selbst zunehmend unsicher, wie eng die Beziehung zumindest zwischen den kirchenpolitischen Entwicklungen am Ende des 5. Jahrhunderts und dem Text tatsächlich zu sehen sind. Anders als Kollmann würde ich z. B. nicht davon ausgehen, dass § 24 der Barnabasakten »die Auffindung des Apostelgrabes […] vorauszusetzen scheint«.31 Im Gegenteil: § 24 spricht ja weiter von einem »unbekannten Ort« und einem Beutel von Asche. Für den Anspruch der Kirche Zyperns, ein Apostelgrab zu besitzen, scheint mir das kaum ein besonders schlagkräftiges Argument zu liefern. Und »gefunden« wurde, wie wir im nächsten Text sehen werden, offenbar ein Leichnam und nicht nur ein Beutel, wie hier beschrieben.32 Aufgrund der wenigen Wunder, die erzählt werden, eignet sich der Text kaum als »Propagandaschrift« für Barnabas. Zum Schlüssel könnte stattdessen vielleicht die mit der Personenkonstellation des Textes verbundene topographische Struktur werden: Innerhalb Zyperns werden so viele Orte bereist, 29
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Zu dieser Datierung vgl. Peter van Deun, Hagiographica Cypria. Sancti Barnabae Laudatio auctore Alexandro Monacho et Sanctorum Bartholomaei et Barnabae Vita e Menologio Imperiali deprompta, CCSG 26, Turnhout 1993, 17 Anm. 12, sowie 21, der hierzu auf die Chronik des Victor von Tunnunum (6. Jh.) verweist. Kollmann, Joseph Barnabas (s. Anm. 10), 66 f. Ganz ähnlich ders., Hinführung (s. Anm. 26), 971. In ihrem Kern geht diese Deutung bereits auf Richard A. Lipsius, Die Acten des Barnabas, in: ders., Die apokryphen Apostelgeschichten und Apostellegenden. Ein Beitrag zur altchristlichen Literaturgeschichte, Bd. 2/2, Braunschweig 1884, 270– 320, zurück; sie werden seitdem im Grunde in allen Einleitungen zum Text wiederholt. Vgl. z. B. auch Aurelio de Santos Otero, Jüngere Apostelakten, in: Wilhelm Schneemelcher (Hrsg.), Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 2. Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 61997, 381–438, 421, aber auch Norelli, Actes de Barnabé (s. Anm. 24), 622 f., und Glenn E. Snyder, The Acts of Barnabas, in: Tony Burke/Brent Landau (Hrsg.), New Testament Apocrypha. More Noncanonical Scriptures, Bd. 1, Grand Rapids MI 2016, 317–336, 324, und Michael R. Cosby, Creation of History. The Transformation of Barnabas from Peacemaker to Warrior Saint, Eugene OR 2017, 158, der den Text auf etwa das Jahr 488 datiert. Kollmann, Joseph Barnabas (s. Anm. 10), 66. Die Auffindung des gesamten Leichnams berichten neben dem unten diskutierten Encomium auch die Kirchengeschichte des Mitte des 6. Jhs. verstorbenen Theodorus Lector (Epitome 436 [GCS NF 3, 121]) sowie die Suda. Deutsche Übersetzungen dieser Quellen, die in klarem Gegensatz zum Zeugnis der Akten stehen, bei Kollmann, Joseph Barnabas (s. Anm. 10), 100.
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dass im Grunde ganz Zypern als durch den »Apostel Barnabas« besucht verstanden werden kann. Auch wenn noch keine Struktur von Bischofssitzen erkennbar ist und die Missionare an manchen Orten abgelehnt werden, ja erfolglos bleiben, sind zumindest die ersten Bischöfe Zyperns von Aposteln eingesetzt. Doch auch im Verhältnis zu anderen Orten ergibt sich eine interessante Konstellation: Die Erstmission Zyperns ist nicht mit Antiochien in Bezug gesetzt, dagegen finden wir Paulus dort und später auf dem Weg nach Jerusalem. Von ihm trennen sich nach einem Konflikt, aber doch von Christus so gewollt, Barnabas und sein Schüler Johannes Markus. Die beiden Letzteren betreiben unabhängige Mission: zunächst beide in Zypern, dann Johannes Markus in Alexandrien. So argumentiert der Text indirekt ebenfalls für eine vom Einfluss Antiochias unabhängige Kirche Zyperns, die in guter Beziehung zu Alexandrien steht, arbeitet aber offenbar noch nicht mit dem »Beleg« sichtbarer Reliquien. Während das Motiv der Überwindung griechisch-römischer Kulte (und entsprechender Kultorte) für apokryphe Apostelakten typisch ist, ist gleichzeitig der Zug, dass der entscheidende Antagonist Barjesus Jude ist und Barnabas letztlich von Juden gelyncht wird, überraschend und schwer zu erklären. Konkrete Auseinandersetzungen von Christen und Juden sind, soweit ich die wenigen Zeugnisse, die überhaupt für jüdische Präsenz im frühbyzantinischen Zypern sprechen, überblicke, nicht belegt.33 Ergibt sich die Darstellung einfach daraus, dass noch die Apostelgeschichte die Wirkung von Barnabas und Saulus in den Synagogen Zyperns ansiedelt? Und spielt vielleicht einfach die Tatsache, dass der Antagonist der kanonischen Erzählung nun auch hier wieder auftritt, die entscheidende Rolle? Eine sichere Entscheidung scheint mir nicht möglich. In jedem Falle halte ich es für sinnvoll, den Text nicht erst in die Schlussphase der Auseinandersetzungen zwischen dem antiochenischen Patriarchen Petrus Fullo (471, 476–477 sowie 485–488 n. Chr.)34 und der Leitung der Kirche Zyperns einzuordnen, würde er doch beweisen, dass Letztere nicht im Eigentum eines vollständigen Leichnams des Apostels sein kann.35 Wie weit man mit der Datierung
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Vgl. den Überblick bei Pieter W. van der Horst, The Jews of Ancient Cyprus, in: ders., Jews and Christians in Their Graeco-Roman Context. Selected Essays on Early Judaism, Samaritanism, Hellenism, and Christianity, WUNT 196, Tübingen 2006, 28–36 (mit Hinweisen auf weiterführende Sekundärliteratur). Eine knappe Einführung zu Leben und Werk dieser faszinierenden Figur bietet Peter Bruns, Art. Petrus der Walker (Fullo), in: LACL, 1998, 502. Die Unterbrechungen seiner Amtszeit als Patriarch von Antiochien hängen mit Exilierungen aufgrund der von ihm vertretenen miaphysitischen Lehre zusammen. Zurückhaltend äußert sich auch István Czachesz, Commission Narratives: A Comparative Study of the Canonical and Apocryphal Acts, Studies on Early Christian Apocrypha 8, Leuven 2007, 192 f.
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noch nach vorn gehen kann – vielleicht in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts –, muss momentan offen bleiben.
2. Das Barnabasencomium des Mo¨nches Alexander Ganz anders sieht dies in dem wenig bekannten Barnabasencomium des Mönches Alexander36 aus, einem Text, der bereits auf die Auseinandersetzung zurückschaut und wohl in die Mitte des 6. Jahrhunderts datiert werden kann.37 Erst hier wird deutlich, wie ein Text aussehen mag, dem es wirklich um mit der bleibenden Präsenz (wie auch Wirkkraft) des Apostels auf Zypern verbundene politische Propaganda geht. Der Autor der Schrift, der sich als Mönch Alexander (Z. 1)38 zu erkennen gibt, arbeitet nach eigenen Angaben im Auftrag des »Schlüsselhalters« (κλειδοῦχος) eines bereits bestehenden Barnabas-Heiligtums (Z. 3 f.), des (mit Unterbrechungen) bis heute bestehenden Barnabasklosters bei Salamis. Anders als die Akten des Barnabas macht er von Beginn an klar, welches Interesse er nicht nur am Leben des »heiligen Apostels«, sondern an der »Art der Offenbarung seiner heiligen Reliquien« (τρόπος τῆς ἀποκαλύψεως τῶν ἁγίων αὐτοῦ λείψανων) (Z. 4–5) hat. Über mehrere Seiten folgen Aussagen über die Unwürdigkeit und Unfähigkeit des Verfassers, die Tugenden des Barnabas zu beschreiben (Z. 12– 51.59–65),39 sowie eine (reichlich ermüdende) schier unendliche Liste preiswürdiger Attribute der Apostel im Allgemeinen (Z. 52–57) und des Barnabas im Besonderen (Z. 9–11.66–131). Darunter nimmt die Bezeichnung »Sohn des Trostes« (υἱὸς παρακλήσεως, z. B. Z. 9.67 f.) aus Apg 4,36 eine besondere Rolle ein. Nach einer erneuten Hervorhebung der eigenen Unwürdigkeit wie auch der Größe der bevorstehenden Aufgabe gibt der Autor an, in seiner Schrift einige Aspekte des Lebens des Barnabas »aus den Stromata sowie aus anderen alten Schriften« (ἔκ τε τοῦ Στρωματέως καὶ ἐξ ἑτέρων ἀρχαίων συγγραμμάτων) wiederzugeben (Z. 137 f.). Damit verweist er wohl auf Clemens von Alexandria, der in strom. II 116,3 f. sowie V 63,1 Barnabastraditionen bewahrt (vgl. auch die Angaben des Eusebius von Caesarea, h. e. I 12,1–2; II 1,4; VI 14,1 zu den Hypoty-
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Ich arbeite mit der Edition von Peter van Deun, Hagiographica Cypria (s. Anm. 29); meine Zitate folgen den Zeilenangaben van Deuns. Eine vollständige englische Übersetzung bietet Cosby, Creation (s. Anm. 30), 164–197; Auszüge bietet Kollmann, Joseph Barnabas (s. Anm. 10), 83–93. Die folgenden Übersetzungen stammen jedoch von mir. Eine Übersicht über Datierungsversuche bietet van Deun, Hagiographica (s. Anm. 29), 16, der sich dann a. a. O., 21, für die Zeit zwischen 530 und 566 n. Chr. entscheidet. Auf diesen Autor geht auch eine Inventio Crucis (BHG 410, 410b–c; CPG 7398) zurück (van Deun, Hagiographica [s. Anm. 29], 15). Dies ist natürlich ein klassischer Topos encomischer Literatur.
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posen des Clemens).40 Dass er seine anderen Quellen nicht vollständig aufdeckt, ist natürlich schade: Es mag sowohl mit der Tatsache, dass er an mancher Stelle sicher einfach seine Vorlagen breit ausschreibt, zu tun haben, als auch damit, dass er, wie wir sehen werden, wohl die apokryphen Pseudoclementinen herangezogen hat. In einem ersten Teil malt er den in der Apg nur knapp beschriebenen Hintergrund des Barnabas ausführlich aus. Erklärt wird, wie seine Familie »aus dem gesegneten Stamm des Levi, aus dem Mose und Aaron hervorgingen, die großen Propheten Gottes« (Z. 145 f.) sowie aus der »Verwandtschaft des Propheten Samuel« (Z. 149) nach Zypern gelangte,41 dann aber auch Grundbesitz in der Nähe von Jerusalem erworben habe (Z. 151–160);42 auch der Name Joseph wird sowohl als πρόσθεσις θεοῦ (»Zugabe Gottes«, Z. 166) als auch als δόξα θεοῦ (»Herrlichkeit Gottes«, Z. 169) gedeutet. Nach einer Kindheit auf Zypern habe Barnabas zusammen mit Paulus »zu Füßen des Gamaliel« (παρὰ τοὺς πόδας Γαμαλιήλ, Z. 179 f., vgl. Apg 22,3) sorgfältig Gesetz und Propheten erlernt.43 So habe er sich zu einem Kenner von Tora und Schriften entwickelt und sei dabei »ein reines und unversehrtes und unbeflecktes Schmuckstück« (Z. 190 f.)44 geblieben. Bei der
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Einen Überblick über diese eher knappen Zeugnisse bietet Kollmann, Joseph Barnabas (s. Anm. 10), 93 f. Immerhin versteht Clemens Barnabas als »apostolischen Mann« (strom. II 116,3) und reiht ihn unter die siebzig von Jesus ausgesandten Jünger ein. Das Problem, wie jemand, der aus Zypern stammt, Levit sein kann, treibt auch Epiphanius von Salamis, haer. XXX 25,6–9, um. Die Familienmitglieder des Barnabas seien womöglich in der Zeit des Antiochus Epiphanes (oder eines anderen Kriegs) als Kriegsgefangene oder Flüchtlinge nach Zypern verschlagen worden. Als Grund für den Erwerb des Besitzes wird ein Zitat aus Jes 31,9 LXX (»Selig der, der Nachkommen im Zion und Familien in Jerusalem hat«) angegeben (Z. 157 f.). Cosby, Creation (s. Anm. 30), 77; 158, führt die Tradition, dass Paulus und Barnabas sich schon von Kindheit an kannten, bereits auf Johannes Chrysostomus zurück. Der von ihm genannte Beleg ist kaum nachzuvollziehen; es handelt sich aber um in Act. hom. XXI zu Apg 9,26 f. Dort (PG 60, 167,17) findet sich der sehr vorsichtig formulierte Satz: ἐμοὶ δοκεῖ ὁ Βαρνάβας ἄνωθεν αὐτῷ εἶναι φίλος. Dieser erscheint mir jedoch vieldeutig, weil die Bedeutung von ἄνωθεν unklar ist. Natürlich kann der Satz so verstanden werden, dass Barnabas schon von früher her Freund des Paulus war; es kann aber auch einfach meinen, dass er ihm von Anfang an – also vom Beginn ihrer Begegnung an – Freund war. Die Vorstellung, dass Johannes Chrysostomus von einer Begegnung der beiden schon in ihrer Kindheit ausging, lässt sich daraus jedoch kaum folgern. Die Übersetzung folgt hier Kollmann, Joseph Barnabas (s. Anm. 10), 85. Nicht leicht wiederzugeben ist, dass das hier als »Schmuckstück« übersetzte Wort ἄγαλμα auch für das »Götterbild« steht, was im Kontext der Rede davon, dass Barnabas nicht vom Tempel wich und dabei Gott in Fasten und Gebet bei Tag und Nacht diente, natürlich Sinn macht.
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Heilung des Gelähmten »beim Schaftor« (Z. 193 f.; vgl. Joh 5,1–9)45 begegnet Barnabas zum ersten Male Jesus und kommt sofort zum Glauben. Er verkündet Maria, der Mutter des Johannes Markus, die gleichzeitig – die Verbindung ist über Kol 4,10 hergestellt – als Tante des Barnabas bezeichnet wird, dass er Jesus, »einem Propheten aus Nazaret in Galiläa, einem großartigen Wundertäter«, begegnet sei, der, »wie es vielen scheint, der Messias ist, der kommen wird« (Z. 206– 209). Diese nimmt daraufhin regelmäßig Jesus als Gast in ihr Haus auf, in dessen Obergemach der Text das letzte Abendmahl,46 die Erscheinung vor Thomas (Joh 20,24–29), den Aufenthalt nicht nur der Zwölf (Apg 1,12–14), sondern von 120 Jüngern (Apg 1,15) – unter ihnen auch Barnabas und Johannes Markus – sowie das Pfingstereignis (Apg 2,1–13) lokalisiert. Hier nimmt der Text zum ersten Mal Bezug auf einen auch außerhalb der Textwelt bestehenden Ort: »Dort« – also beim Wohnhaus der Mutter des Johannes Markus – »ist nun die große und heiligste Zion errichtet, die Mutter aller Kirchen« (Z. 236 f.). Barnabas begegnet Jesus aber nicht nur in Jerusalem, er folgt ihm auch, als dieser nach Galiläa zurückkehrt. So kann er als nicht nur einer, sondern der »erste, der Vorgänger und Anführer« (πρῶτος καὶ ἔξαρχος καὶ κορυφαῖος) der siebzig von Jesus ausgesandten Jünger (Z. 243 f., vgl. Lk 10,1.17) beschrieben werden.47 Petrus selbst habe ihm aufgrund einer Offenbarung des Geistes den Beinamen »Sohn des Trostes« (vgl. Apg 4,36) beigelegt (Z. 247–253). Barnabas erhält zunächst den gesamten Besitz seiner Eltern, um ihn an die Armen zu verteilen, sowie nach Ostern, wie Apg 4,37 berichtet, den Acker bei Jerusalem (Z. 254–270). Bereits jetzt soll deutlich werden, welch unübertreffliche Rolle Barnabas im Netzwerk der Apostel und frühesten Christusnachfolger zukommt. Dies wird dadurch noch einmal verstärkt, dass das Encomium von einer Missionsreise des Barnabas zu erzählen weiß, die diesen mit verschiedenen Orten außerhalb Zyperns verbindet. Noch vor dessen Bekehrung steht Barnabas in heftiger Auseinandersetzung mit seinem einstigen »Schulkameraden« Paulus (Z. 271–290); nach dessen Begegnung mit Christus ist er der erste, der diesen in die Gemeinschaft aufnimmt (Z. 291–356). Gesandt von den Aposteln, unterstützt 45
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Daneben ist von »vielen weiteren Zeichen und Wundern« des »Herrn« »im Heiligtum« (Z. 194 f.) die Rede. Alexander identifiziert dabei denjenigen, der laut Mk 14,13/Lk 22,10 den Krug trägt, dem die Jünger folgen, welche das Paschamahl vorbereiten, mit Johannes Markus (Z. 221–225). Hier zeigt sich möglicherweise ein Bezug zu Traditionen, die auch – wenigstens in Andeutung – bei Clemens von Alexandrien, strom. II 116,3, sowie in den Hypotyposen (bei Eusebius von Caesarea, h. e. I 12,2) zu finden sind. Eusebius nimmt diese Tradition knapp in seinem Jesaja-Kommentar (LXIII 11,11) auf; vgl. auch Epiphanius von Salamis, De Incarnatione 4,3 f. Vgl. den hilfreichen Überblick bei Kollmann, Joseph Barnabas (s. Anm. 10), 93 f.; 97 f.
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er den Aufbau der Gemeinde von Antiochia (Z. 357–364). Von dort aus unternimmt er allein eine in der Apostelgeschichte nicht erwähnte Missionsreise, auf der sein Weg ihn »durch alle Städte und Regionen« (Z. 366, vgl. Apg 8,40) führt. Schließlich gelangt er nach Rom, wo er zum Erstverkünder des Evangeliums wird (Z. 367–369).48 Konkretere Ereignisse aus dieser Zeit – seien es Wunder, Widerstände gegen Barnabas, wichtige Begegnungen oder besondere Missionserfolge – werden nicht berichtet. Es kommt allein auf das »Dass« der Erstverkündigung an: Barnabas ist somit auch der erste Apostel Roms.49 Von dort reist er nach Alexandria und verkündet dort das »Wort Gottes«.50 Obwohl der Text für dieses Ereignis nur zwei Zeilen reserviert, ist Barnabas somit auch hier 48
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Der Text lautet: αὐτὸς γὰρ πρὸ παντὸς ἑτέρου τῶν τοῦ κυρίου μαθητῶν ἐκήρυξεν ἐν Ῥώμῃ τὸ εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ (»Denn er verkündete vor jedem anderen der Jünger des Herrn in Rom das Evangelium Christi«). Die wohl älteste Parallele hierzu findet sich in den Pseudoclementinischen Rekognitionen I 7,1–9, in denen die Verkündigung des Barnabas in Rom aus der Perspektive des Clemens geschildert wird. Dagegen kennt die Parallele in den Homilien I 7,1–8, gegen Cosby, Creation (s. Anm. 30), 75; 157, diese Barnabastradition nicht, sondern spricht nur von einem anonymen Missionar. Soll hier die Barnabastradition unterdrückt werden? Mir erscheint dies als die beste Deutung des Befunds. Zur Barnabas-Figur in den Pseudoclementinen vgl. Joseph Verheyden, Presenting Minor Characters in the Pseudo-Clementine Novel. The Case of Barnabas, in: Frédéric Amsler u. a. (Hrsg.), Nouvelles intrigues pseudo-clémentines. Plots in the Pseudo-Clementine Romance, PIRSB 6, Prahins 2008, 249–258. Alexander kann, muss seine Information aber nicht unbedingt aus den Pseudoclementinen haben. Dass die Vorstellung, Barnabas sei Erstverkünder des Evangeliums in Rom gewesen, in Zypern bekannt gewesen sein mag, zeigt eine ganz knappe, auch bei Cosby, Creation (s. Anm. 30), 75, angegebene Notiz bei Epiphanius von Salamis, Index Discipulorum, in: Theodor Schermann (Hrsg.), Prophetarum vitae fabulosae. Indices apostolorum discipulorumque Domini Dorotheo, Epiphanio, Hippolyto aliisque vindicata, Leipzig 1907, 118 Z. 14: Βαρνάβας ὁ μετὰ Παύλου τῷ λόγῳ διακονήσας πρῶτος ἐν ̔Ρώμῃ τὸν Χριστὸν ἐκήρυξε. μετίπειτα δὲ Μεδιολάνων ἐπίσκοπος ἐγίνετο (»Barnabas, der mit Paulus dem Wirt diente, verkündete als Erster in Rom Christus. Danach aber wurde er Bischof von Mailand«). Dass Alexander die Mailand-Tradition nicht erwähnt, spricht allerdings zumindest gegen eine Kenntnis der konkreten Passage bei Epiphanius. Dies ist auch deswegen interessant, weil in der Zeit der Entstehung des Encomiums natürlich bereits gewachsene und differenzierte Petrus- wie Paulustraditionen in Rom entstanden sind. Weiterführend (mit Fokus auf Petrus): Tobias Nicklas, Antike Petruserzählungen und der erinnerte Petrus in Rom, in: Jörg Frey/Martin Wallraff (Hrsg.), Petrusliteratur und Petrusarchäologie, Tübingen 2020, 159–187, sowie David L. Eastman, The Many Deaths of Peter and Paul, Oxford Early Christian Studies, Oxford u. a. 2019. Der Text wählt die zutreffende Bezeichnung »Alexandria bei Ägypten« (᾿Aλεξάνδρειαν τὴν πρὸς Αἴγυπτον, Z. 381 f.).
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wenigstens implizit zum Erstverkünder stilisiert. Von hier aus durchzieht er »alle Städte« (Z. 383) bis Jerusalem (Z. 384), um schließlich wieder Antiochia zu erreichen (Z. 385). Seine Reise umspannt somit einen größeren Bogen als alles, was überhaupt in der kanonischen Apostelgeschichte angesprochen ist – und gleichzeitig interessiert sie nur an sich: Barnabas ist zwar in ganz besonderer Weise Apostel Zyperns; dies aber steht im Horizont seiner weltweiten Bedeutung. Immerhin tritt er (z. T. als Erstverkünder) in vier der fünf altkirchlichen Patriarchate auf. Dass Konstantinopel nicht genannt werden kann, liegt einfach daran, dass dieses zu Lebzeiten des Apostels noch nicht existierte.51 Erst nach dieser Missionsreise setzt der am Vorbild der lukanischen Apostelgeschichte orientierte Erzählfaden wieder ein. Besonders auffallend sind die Unterschiede der Darstellung zur Zypernmission in Apg 13,4–10: »Von der [Gemeinde] der Antiochener ausgesandt durch den heiligen Geist, kamen sie nach Zypern [Apg 13,4]. Und sie durchwanderten die gesamte Insel [Apg 13,6] von Salamis bis Paphos. Dabei verkündeten sie das Evangelium, und wirkten Wunder, als sie den Elymas blendeten und den Prokonsul erleuchteten. Und als sie eine stattliche Zahl zu Jüngern gemacht hatten [vgl. Apg 14,21!], da segelten die um Barnabas [οἱ περὶ Βαρνάβαν] von Zypern ab und kamen nach Pamphylien [Apg 13,13]« (Z. 398–405).
Wie in den Akten des Barnabas ist diese Zypernepisode nur auf wenige Züge reduziert; immerhin angedeutet sind bzw. werden Anfangs- und Endpunkt der Route (Salamis und Paphos) sowie die Tatsache, dass die gesamte Insel bereist wird. Anders als in der Apostelgeschichte sind bzw. werden das Strafwunder gegen Elymas wie auch die damit einhergehende Konversion des nicht namentlich genannten Sergius Paullus nun beiden zugeschrieben. Von Paulus ist nicht mehr explizit die Rede – die Gruppe wird, sicherlich sich bewusst von Apg 13,13 absetzend, als »die um Barnabas« (und nicht »die um Paulus«) beschrieben. Johannes Markus verlässt die Gruppe in Pamphylien und kehrt zu seiner Mutter zurück; anders als in den Akten dargestellt, ist er tatsächlich noch zu jung, unvollkommen und furchtsam, um den drohenden Gefahren zu trotzen (Z. 405–412). Erst als Barnabas und Paulus beim Apostelkonzil in Jerusalem auftreten, wird Johannes Markus sein Fehler bewusst und er vertraut sich dem Barnabas an, welcher ihn unter Ermahnungen wieder als Begleiter akzeptiert (Z. 412–435). Bei der an Apg 15,36–41 angelehnten Erzählung über die Trennung von Paulus und Barnabas (Z. 438–460) legt Alexander großen Wert darauf, 51
Natürlich existierte – etwa seit 660 v. Chr. – an der Stelle des späteren Konstantinopel der Ort Byzantion. Seine Bedeutung (auch für das östliche Christentum) erhielt der Ort aber erst nach der Neugründung durch Konstantin im Jahr 324 n. Chr. und v. a. in seiner Funktion als Hauptstadt ab 356 n. Chr. Weiterführend: Albrecht Berger, Konstantinopel. Geschichte – Topographie – Religion, StAC 3, Stuttgart 2011, 1–35.
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dass die Darstellung der Apostelgeschichte keinesfalls im Sinne eines Streits zwischen Paulus und Barnabas, sondern als Zeichen des gemeinsamen Eifers für Gott ausgelegt werden dürfe.52 Gleichzeitig betont er die besondere Menschenliebe des Barnabas (Z. 462). Anders als in den Akten des Barnabas legt das Encomium nun keinerlei Wert auf Details der zweiten Zypernmission. Alles konzentriert sich auf die letzten Tage in Salamis53 – der Erfolg des Barnabas, beschrieben mit Aussagen, wie sie sich auch in der Apostelgeschichte finden, ist deutlich: »Er nahm also Markus und segelte nach Zypern [Apg 15,39], und nachdem er die ganze Insel durchzogen und viel Volk gelehrt hatte, kam er nach Salamis. Und dort verweilte er, wirkte Wunder und verkündete das Reich Gottes [vgl. Apg 28,31]; und es wurde dem Herrn eine große Menge hinzugefügt [Apg 11,24]. Er redete aber jeden Sabbat in der Synagoge zu den Juden und legte ihnen aus den Schriften dar, dass Jesus der Christus sei [vgl. Apg 17,17; 18,4.28]« (Z. 463–469).54
Wie in den Akten des Barnabas ist dieser Friede jedoch nicht von langer Dauer. Allerdings spielt nun Barjesus/Elymas hier keine Rolle. Stattdessen geht die Initiative, Barnabas zu töten, von syrischen Juden aus (Z. 479–485) – die konkrete Formulierung lehnt sich interessanterweise an Apg 13,48 aus der Szene um das Wirken von Paulus und Barnabas im pisidischen Antiochien an.55 Als er die 52
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Wichtig ist ihm die Deutung des in Apg 15,39 begegnenden Wortes παροξυσμός, welches auf keinen Fall im Sinne eines »heftigen Streits« ausgelegt werden dürfe, sondern positiv als »Anregung« (Z. 450–460). Hierzu auch Kollmann, Joseph Barnabas (s. Anm. 10), 90 Anm. 184. Die in Apg 15,39 geschilderte Auseinandersetzung zwischen Paulus und Barnabas hat viele altkirchliche Autoren irritiert. Einen Überblick bietet Martin Meiser, Das Paulusbild in der altkirchlichen Literatur, in: Manfred Lang (Hrsg.), Paulus und Paulusbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation, ABG 31, Leipzig 2013, 319– 346, 339–341. Dies muss nicht verwundern, sondern zeigt, wie sehr das Encomium an das bei Salamis liegende Barnabaskloster gebunden ist. Die Zeilen 469–477 fügen zudem eine Beschreibung des Aussehens des Barnabas hinzu, die in Teilen an die des Paulus in den Akten des Paulus und der Thekla erinnert (vgl. hierzu: Tobias Nicklas, No Death of Paul in Acts of Paul and Thecla?, in: Armand Puig i Tarrèch/John M.G. Barclay/Jörg Frey [Hrsg.], The Last Years of Paul, WUNT 352, Tübingen 2015, 333–342, bes. 334–337 [mit Diskussion der Sekundärliteratur]), in Teilen weit darüber hinausgeht. Allein diese Passage und die in ihr zum Tragen kommenden Ideale wären eine eigene Untersuchung wert. Diese sprengt jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit. Erneut stellt sich die Frage, warum der Text dem jüdischen Widerstand gegen Barnabas wie auch der Schuld von Juden an seinem Tode eine solch große Rolle einräumt. Natürlich könnte man daran denken, dass Barnabas durch die Anspielungen an Apg 13,48 noch
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Gefahr erkennt, versammelt Barnabas die Gemeinde um sich und spricht eine Abschiedsrede, die sich zu großen Teilen aus Zitaten biblischer Schriften, u. a. Teilen der Abschiedsrede des Paulus in Milet (Apg 20,17–34), zusammensetzt (Z. 486–518). Man feiert ein letztes Mal Eucharistie (Z. 521–524), Barnabas prophezeit seinen Tod (Z. 525–527) und weiht den Johannes Markus ein, wo er seinen Leichnam finden wird und was er nach seinem Tode tun soll (Z. 527–532). Das eigentliche Martyrium des Apostels wird, ähnlich wie in den Akten, eher knapp erzählt: Barnabas betritt wieder die Synagoge, wird von den syrischen Juden gefangen genommen, gefoltert und schließlich gesteinigt. Dies alles ist dem Text nicht mehr als sechs Zeilen wert (Z. 536–541). Obwohl man seine sterblichen Überreste zu verbrennen sucht, gelingt dies nicht (Z. 542–544). Interessant ist, dass das Encomium sich nicht einmal ansatzweise die Mühe macht, gegen das Zeugnis der Akten konkret zu begründen, wie es dazu kommen konnte: Stattdessen wird lapidar festgestellt, dass der Leichnam des Barnabas »aufgrund der Vorsehung Gottes« unversehrt gefunden wurde (Z. 543 f.).56 Auch die Frage, wie es dem Johannes Markus zusammen mit einigen Brüdern – offenbar ohne jeglichen Widerstand – gelingt, den Leichnam an sich zu nehmen und ihn zu bestatten, interessiert nicht (Z. 544–547). Wichtig ist nur, festzuhalten wo dies geschieht: »etwa fünf Stadien von der Stadt entfernt in einer Höhle« (ἐν σπηλαίῳ ὡς ἀπὸ σταδίων πέντε τῆς πολέως, Z. 547). Wie ihm von Barnabas aufgetragen ist, verlässt Johannes Markus nun Zypern; er gelangt zuerst nach Ephesus zu Paulus, dann mit Petrus nach Rom, wo er auch sein Evangelium verfasst (Z. 560, vgl. Eusebius, h. e. II 15,1 f.), und schließlich nach Alexandria. Hiermit könnte – parallel zu den Akten des Barnabas – der Text eigentlich enden. Stattdessen jedoch beginnt ein zweiter Teil, der uns in die Auseinandersetzungen um die Unabhängigkeit der Kirche Zyperns – mit einem besonderen Schwerpunkt auf den Auseinandersetzungen unter dem antiochenischen Patriarchen Petrus Fullo – einführt. Zuvor aber wird in einer wichtigen Übergangsszene deutlich gemacht, dass von dem mittlerweile vergessenen Grab des Barnabas (Z. 552 f.) auch weiterhin unerklärliche Wunder ausgingen (Z. 570– 583), so dass die Bewohner der Region ihn als »Ort der Gesundheit« (τόπος τῆς ὑγείας, Z. 583) bezeichnen. Ausführlich wird nun der Aufstieg des Petrus – aus Sicht des Textes ein »Teufel und wahrer Judas« (Z. 589) – vom Walker zum
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»paulusgleicher« wird; doch damit wäre die Frage, warum es sich bei den Gegnern um syrische Juden handelt, unbeantwortet. Ist damit vielleicht schon der auch für die spätere Zeit zu erwartende Widerstand aus Antiochien unter Petrus Fullo, den immerhin Z. 589 als »Judas« betitelt, vorweggenommen? Eine sichere Entscheidung scheint mir nicht möglich. Soweit ich sehe, wird das Problem auch in der doch dünnen Sekundärliteratur zum Text nicht angesprochen. Das Martyrium des Markus (§ 9) z. B. macht ein Wetterwunder dafür verantwortlich, dass der Leib des Markus nicht verbrennt.
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einflussreichen Kirchenmann beschrieben (Z. 587–687), der sich, als er an die Macht kommt, an all seinen früheren Gegnern zu rächen sucht. Nun erst kommt der Text zu seinem eigenen Ziel: Petrus Fullo reiht nun an all seine bisherigen Missetaten den Versuch, »auch den von Anfang an und von oben her heiligsten, freien und apostolischen Thron von Zypern an sich zu reißen« (Z. 691 f.) – die Perspektive des Textes in der ja nicht unumstrittenen Frage ist mehr als eindeutig. Interessant ist das im Text erwähnte Argument des Antiocheners: In Anspielung auf Apg 13,4 f. behauptet er, dass »das Wort Gottes von Antiochien nach Zypern ausgegangen sei« (Z. 694 f.) und deswegen die Kirche Zyperns unter dem Thron Antiochiens stehe, weil es sich dabei um einen apostolischen und patriarchalen Thron handele (Z. 696 f.). Als selbst Anthemios, der Bischof von Salamis,57 wegen des antiochenischen Patriarchen in Furcht gerät (Z. 705 f.),58 ist es Barnabas selbst, welcher seine Kirche errettet (Z. 700–702) und sich als »Retter seiner Heimat« erweist (τῆς πατρίδος […] ἀντιλήπτωρ, Z. 702). In einer nächtlichen Vision spricht eine überirdisch anmutende Gestalt dem Bischof Mut zu, er habe von den Gegnern nichts zu befürchten (Z. 709–716). Auf die Gebete des zweifelnden Bischofs hin erscheint die Gestalt noch zwei Mal, wiederholt ihre Aussage (Z. 717–739) und offenbart sich schließlich als Barnabas selbst: »›Ich bin es, Barnabas, der Jünger unseres Herrn Jesus Christus, der mit dem Apostel Paulus, dem erwählten Werkzeug [vgl. Apg 9,15], vom Heiligen Geist zum Apostolat für die Völker abgesondert wurde. Und dies sei dir das Zeichen: Gehe‹, sagte er, ›hinaus aus der Stadt etwa fünf Stadien nach Westen zu dem Ort, der [Ort] der Gesundheit genannt wird – denn durch mich vollbringt Gott die Wunder an jenem Ort – grabe bei dem Johannisbrotbaum59 und du wirst eine Höhle finden und einen Sarg in ihr. Dort liegt mein ganzer Leib und ein Evangelium, in eigener Hand geschrieben,60 das ich vom heiligen Apostel und Evangelisten Matthäus empfangen habe‹« (Z. 741– 752). 57
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Eine präzise historische Einordnung der Regierungszeit des Anthemios ist nicht möglich. Die erzählten Ereignisse spielen jedoch um das Jahr 488 n. Chr. Hierzu auch van Deun, Hagiographica (s. Anm. 29), 17 mit Anm. 11 u. 12. Aufgrund der engen Beziehungen des antiochenischen Patriarchen zu Kaiser Zeno dem Isaurier (474–475 sowie 476–491 n. Chr.) war die Situation tatsächlich äußerst bedrohlich. Interessanterweise jedoch wird Zeno hier (Z. 693) nicht namentlich genannt. Das Motiv des Johannisbrotbaums findet sich auch in der kurzen Passage über die Auffindung der Barnabasreliquien in der Kirchengeschichte des Theodorus Lector. Der erst im 11. Jh. schreibende Georgios Kedrenos dagegen verwechselt in seiner Darstellung der Ereignisse den Johannisbrotbaum mit einem Kirschbaum (PG 121, 673 f.). Es geht um ein Evangelienbuch. Anders als Cosby, Creation (s. Anm. 30), 192, der das Attribut ἰδιόχειρον als »written by my hand« deutet, halte ich es aufgrund des Kontexts für wahrscheinlicher, dass es um ein von Matthäus eigenhändig geschriebenes Evan-
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Diese Entdeckung werde dem Bischof das entscheidende Argument liefern, um die Ansprüche aus Antiochien zu widerlegen. Stärker könnte der Unterschied zu den Akten des Barnabas nicht betont werden: Am »Ort der Gesundheit« ist nicht einfach ein Tuch, das die (unidentifizierbare) Asche des Apostels birgt, zu finden (§ 24),61 sondern dessen ganzer Leib. Dieser wird wiederum durch einen Codex mit dem Evangelium identifiziert, dem die Akten wunderwirkende Kräfte zuschreiben (§ 15), ohne dass das Encomium darauf eingehen müsste, denn Gott selbst, der durch Barnabas wirkt, ist der eigentliche Wundertäter. Damit aber wird auch das Verhältnis zwischen Barnabasakten und Encomium klar: Letzteres setzt die Akten voraus, kritisiert Erstere aber deutlich. Das für den Text so wichtige Barnabaskloster bei Salamis, welches von der Verehrung der Reliquien des Apostels lebt, stellt einen Anspruch, der mit den Aussagen der Akten unvereinbar ist. Als sich der Bischof am kommenden Tag zusammen mit einer Vielzahl von Zeugen auf die Suche macht, findet er natürlich alles wie von Barnabas prophezeit (Z. 758–770).62 Da Anthemios nun beweisen kann, dass er »in seiner Heimat den vollständigen Leib eines Apostels« habe (ἀπόστολον ὁλόσωμον ἔχω ἐν τῇ πατρίδι μου, Z. 786 f.), werden alle Gegner der Unabhängigkeit der Kirche Zyperns zum Schweigen gebracht (Z. 775–791). Das Evangeliar wird auf dessen Bitte hin dem Kaiser ausgehändigt,63 welcher wiederum den Bau einer Barnabas geweihten Kirche anordnet, deren Finanzierung und Bau nun ausführlich beschrieben werden (Z. 820–843). Zur Rechten des Altars wird »die heilige Grablege des Apostels platziert« und »mit Silber und Marmor im Überfluss verziert« (Z. 842 f.). Doch nicht nur das Grab repräsentiert die Barnabas-Tradition und mit ihr die Ansprüche der Kirche Zyperns. Es folgt die Festlegung eines jährlichen Gedenktages für Barnabas (Z. 845–855).64 Auch jetzt ist der Text noch nicht beendet: Bevor der Autor noch einmal in ein Preislied für den Apostel Barnabas einstimmt (Z. 860–897), mit dem der Text schließt, schwenkt er noch einmal in die Gegenwart. Das bisher Erzählte ist nicht einfach Vergangenheit; vielmehr wird das im Text präsentierte »Barnabas«-Gedächtnis nun an den eben beschriebenen Ort seines Grabes, an dem auch Alexander wirkt, gebunden:
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geliar geht. Sonst hätte Barnabas es ja nicht von diesem erhalten können. Hier also scheint die Tradition des Textes nicht von der der Akten (vgl. § 15) zu divergieren. So auch Czachesz, Commission Narratives (s. Anm. 35), 192. Ein zusätzlicher Beweis dafür, dass die Reliquien des Apostels gefunden wurden, besteht darin, dass diese laut Z. 767 den »Wohlgeruch geistlicher Gnade« ausströmen. Zu diesem Motiv vgl. Susan Ashbrook Harvey, On Holy Stench: When the Odor of Sanctity Sickens, in: StPatr 35 (2001), 90–101. Soll damit nun auch noch der Bezug zu Konstantinopel, der zu Lebzeiten des Apostels ja nicht möglich ist, hergestellt werden? Wenn ja, dann geschieht dies nur in Andeutung. Angegeben sind verschiedene kalendarische Systeme, die auf den 11. Juni verweisen.
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»Die Offenbarung der Reliquien des heiligen Apostels Barnabas aber ist von dieser Art: Falls jemand die zu jeder Zeit aus seiner heiligen Grablege aufquellenden Wunder aufschreiben wollte, würde er, wie ich glaube, nicht für alles ausreichend Papyrus finden.«65
Der Barnabas, welcher Zeit seines Lebens als »idealer« Verkünder des Evangeliums nahezu auf der ganzen bekannten Welt und in besonderer Weise auf Zypern beschrieben wurde, ist somit für diesen Text nicht nur eine Figur der Vergangenheit. Wie er selbst in Zeiten, in denen sein Grab vergessen war, wirkte, wie er dieses in bedrohlicher Situation dem Bischof offenbarte und sich so (auch nach seinem Tode) als »Retter der Heimat« (Z. 702) erwies, so ist er auch weiterhin nicht untätig. Sein Wunderwirken bleibt überreich und unfassbar; es ist allerdings jetzt an sein Grab an dem Ort, an dem auch Alexander lebt, gebunden. Die dort geschehenden Wunder sind unzählbar – in besonderer Weise wird des Apostels aber an seinem Gedenktag gedacht. Diese Erinnerung bezieht sich jedoch nicht einfach auf eine ferne Vergangenheit: Am Grab des Apostels ist die apostolische Zeit weiterhin gegenwärtig.
3. Zusammenfassung Auf unterschiedliche Weise illustrierten die bisher besprochenen Schriften die eingangs formulierte These: Die wenigen Aussagen der Apostelgeschichte zum Aufenthalt von Paulus, Barnabas und Johannes Markus auf Zypern beschreiben zunächst einmal einen entscheidenden Wandel in der Figur des Saulus/Paulus, welcher in genau dieser Szene vom Begleiter des Barnabas zur Hauptfigur der Gruppe von Verkündern wird. Gleichzeitig bilden sie den Ausgangspunkt einer »Tradition«, auf die verschiedene Gruppen auf verschiedene Weisen zurückgreifen, um ihren Anspruch auf Autorität zu begründen. Wollen wir den Aussagen des Encomiums (Z. 694 f.) Glauben schenken, so scheint die Tatsache, dass Apg 13,4–13 eine von Antiochien ausgehende Initiative der Mission Zyperns beschreibt, zu einem Argument gemacht worden zu sein, um die Kirche Zyperns bleibend der Antiochiens unterzuordnen. So naheliegend wie diese Idee ist, dürfte sie kaum erst in der Schlussphase der Auseinandersetzungen unter Petrus Fullo aufgekommen sein. Wie auch immer: Bereits die Akten des Barnabas nehmen dazu wenigstens implizit Stellung. An keiner Stelle lesen wir davon, dass die erste, nur ganz skizzenhaft erzählte Missionsreise auf Initiative Antiochiens gestartet worden war. Der Schwerpunkt liegt nun auf der zweiten, in der Apostelgeschichte nur angedeuteten Missionsreise, in der nur noch das Paar Barnabas und Johannes Markus unabhängig von Paulus und Silas auftritt. Nun 65
Das Motiv erinnert natürlich an Joh 21,25, den Schluss des Johannesevangeliums.
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wird ganz Zypern durchzogen und jeder wichtigere Ort wenigstens knapp erwähnt; erste Ansätze einer Kirchenorganisation werden auf den Apostel Barnabas zurückgeführt sowie mit dem Schlusskapitel ein besonderer Bezug zu Alexandrien hergestellt. Zypern wird zu einem Ort, an dem das Christentum präsent ist und beginnt, die Zeugnisse der alten Religion66 (vgl. besonders das Strafwunder gegen den Tempel in § 19) zu überwinden. Die Reliquien des Barnabas spielen eine noch untergeordnete Rolle: Markus hat die Asche des Apostels gerettet; verborgen ist sie auch weiterhin auf Zypern gegenwärtig. Dem widerspricht das Encomium entschieden: Nicht nur die Asche, der gesamte Leib des Apostels, dessen Bedeutung unüberbietbar scheint, ja der in nahezu der gesamten bekannten Welt das Evangelium verkündete, war seit seinem Tode in der Nähe von Salamis, dem Ort seines Martyriums, gegenwärtig. Damit ist der Anspruch der Kirche Antiochiens null und nichtig. Selbst die Tatsache, dass sein Grab für lange Zeit vergessen war, konnte sein wunderbares Wirken nicht aufhalten: Barnabas ist weiterhin für seine Heimat wirkend. So wie er in der Zeit des Konfliktes mit Petrus Fullo zum »Retter der Heimat« (Z. 702) wurde, so wirkt er auch heute noch von seiner Grablege aus, die besucht werden kann und an der man seiner in besonderem Maße gedenkt, auf wunderbare Weise. Während die Barnabasakten wenigstens in Ansätzen eine ganz Zypern umfassende Topographie apostolischen Wirkens beschreiben, konzentriert sich das Encomium auf den konkreten Ort seiner Grablege. In beiden Fällen, ganz explizit aber im Encomium, ist die apostolische Zeit so nicht einfach »Vergangenheit«. Sie wird vielmehr durch das Zueinander von Text, Ort und (wenigstens im Encomium) liturgischer Feier am Gedenktag präsent gemacht – am rechten Ort und mit der vom Text gegebenen Perspektive ist es möglich, auch weiterhin an ihr teilzuhaben.
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Ich verwende trotz der Einwände z. B. von Brent Nongbri, Before Religion. A History of a Modern Concept, New Haven/London 2013, weiterhin den (etisch verstandenen) Begriff »Religion« bei der Beschreibung griechisch-römischer Kulte. Für eine kluge kritische Auseinandersetzung mit den Gedanken Nongbris vgl. Tim Whitmarsh, The Invention of Atheism and the Invention of Religion in Classical Athens, in: Babett Edelmann-Singer/ Tobias Nicklas/Janet E. Spittler/Luigi Walt (Hrsg.), Sceptic and Believer in Ancient Mediterranean Religions, WUNT, Tübingen 2020 (im Druck).
The Two Deaths
U¨berlegungen zur Imagination des Todes in einem irischen Apokryphon Lena Seehausen
Was passiert im Moment des Todes? Wie müssen wir uns diesen Moment vorstellen? Lässt sich der Tod imaginieren? Wenn ja, wie? Es gibt wahrscheinlich ebenso viele Vorstellungsmöglichkeiten darüber, wie es Kulturkreise und Epochen gibt, wenn nicht sogar mehr. Ich möchte in diesem Beitrag eine kleine irische Erzählung und ihre Imagination des Todes in den Fokus rücken.1 Die Erzählung unter dem Titel The Two Deaths ist ein bislang wenig bekanntes Apokryphon aus Irland, und da bislang noch keine deutsche Übersetzung des Textes erarbeitet wurde, soll im Folgenden zunächst dessen Inhalt bewusst detailliert zusammengefasst werden, bevor die eigentümlichen Todesvorstellungen näher in den Blick kommen. Als Textgrundlage dient die Edition des Textes, mit englischer Übersetzung, in The End and Beyond. Medieval Irish Eschatology. 2
1. The Two Deaths – Textzusammenfassung Der Text beginnt mit der Ermahnung, dass sich ein jeder auf den Moment des eigenen Todes vorbereiten soll. Es ist sicher, dass dieser kommt, aber wann dieser eintritt, ist unsicher. Eine jede soll sich auf die Begegnung mit Gott – mit all seiner Schönheit und Herrlichkeit – und auf die Begegnung mit dem Teufel – mit all seiner Finsternis, Niedertracht und seinen bösen Beratern – einstellen, denn beide werden im Moment des Todes nach der Seele trachten. Auf die Frage nach dem Unterschied zwischen einem »death of the sinner« und einem »death of the 1
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Ich habe den Text nicht zufällig gewählt, hängt er doch mit meinem Dissertationsprojekt zusammen, an dessen Entwicklung mein geschätzter Doktorvater Marco Frenschkowski mit seinen vielseitigen Interessen und Kenntnissen selbstverständlich nicht ganz unbeteiligt ist. The Two Deaths, ediert und übersetzt von Katja Ritari, in: John Carey u. a. (Hrsg.), The End and Beyond. Medieval Irish Eschatology, Bd. 1, Aberystwyth 2014, 101–111. Nach dieser Edition richtet sich auch Zählung und Angabe der Paragraphen.
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rigtheous« antwortet Holy Gregory: »Ni hansa« (not difficult), und illustriert dies mit einer kleinen Erzählung: Ein Mönch, der vierzig Jahre in der Wüste war, fastete, damit ihm der Tod eines Sünders und der Tod eines Gerechten offenbart würde. Ein Engel erscheint ihm im Schlaf und erklärt ihm, dass morgen »the beast of the beasts of the desert« zu ihm kommen und ihn an seinem Mantel packen wird, und dass er diesem folgen soll (§ 2). Das »beast« führt ihn in eine große Stadt, welche sie am Ende des nächsten Tages, gegen Mitternacht, erreichen. Der Mönch geht zur Kirche »to make a circuit of the relics«. Dort beobachtet er eine Menschenansammlung auf dem Weg durch die Stadt zu einer Kapelle. Ein jeder der Männer trägt eine brennende Kerze in seiner Hand und der Mönch folgt ihnen zu einem Haus, in dem der »leader of the city« im Sterben liegt (§ 3). Alle setzen sich und nun passiert etwas, was nur dem jungen Mönch offenbart wird (§ 3 f.): »Satan comes into the house with a three-pronged fiery fleshfork in his hand. He gave a leap so that he was on the breast of the sick man, and he turned around upon him three times lefthandwise.« Des Weiteren darf der Mönch die Stimme Gottes hören, die zu dem Sterbenden spricht und ihm »eternal punishment« prophezeit, weil er den Willen Gottes nicht beachtet hat, nicht einmal für eine Stunde. Bei jedem Versuch, den Körper zu verlassen, wird die Seele des Mannes von Satan mit seiner »fleshfork« zurückgedrängt (§ 5). Schließlich stößt Satan seinen Dreizack unter die linke Brust des Mannes, zieht die Seele heraus und wirft sie auf den Boden. Sie ist schwarz wie ein Rabe. Es folgen nun drei Ausrufe der Seele: Magnae sunt tenebrae – Arduum iter – Altiores tibi restant. Satan erwidert diese jeweils mit einer Steigerung ins Negative: Maiores tibi restant – Altiores tibi restant – Maiores tibi restant. Zunächst nimmt Satan die Seele in seine Hand, bis diese schließlich linksherum um den zurückgelassenen Körper des Mannes (§ 6) kreist und ihn verflucht und dann zur Haustür gelangt, wo die »hosts of the demons« auf sie warten und schreien. Die Dämonen teilen sich in zwei Gruppen auf und positionieren sich vor bzw. hinter der Seele. Dabei singen sie Ps 52,3: Quid gloriaris in malitia? 3 Anschließend tragen sie die Seele durch die Stadt. Die Engel weinen und klagen, gehen aber nicht in die Nähe der Seele. Der Mönch verlässt im Anschluss (§ 7) das Haus. Das »beast« kommt wieder auf ihn zu und zeigt ihm den Weg zu einem Haus in der Nähe der Stadt. Eine »speckled soul« begrüßt dort den Mönch, der sich daraufhin im Haus niederlässt. Hier wird er zum Beobachter einer Szene mit den Engeln Gabriel und Michael und einem »pitiable man«, der im Sterben liegt (§ 8). Andere Personen scheinen nicht anwesend zu sein und Interesse für den Tod des Mannes zu zeigen. Michael und Gabriel sind gekommen, um die Seele des Mannes zu holen. Dies gelingt 3
Dieser Teilvers wird auch im irischen Text lateinisch zitiert, ebenso wie die o. g. Ausrufe der Seele.
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scheinbar nicht, was Michael irritiert. Auf Lateinisch folgt die Antwort des Herrn: Psalmgesänge müssen erklingen, damit die Seele hervorkommen kann. Unmittelbar danach ist das Singen der »company of heaven« zu hören und auch David, der mit seiner Harfe voran geht.4 Sobald die Seele diese Musik hört, springt sie auf die Brust des Mannes (§ 9). Sie erstrahlt hell wie die Sonne und gibt ebenfalls drei Äußerungen von sich: Magna est lux ista – Planae sunt uiae – Latae uiae sunt. Diese werden von einem Engel – welcher es ist, erfährt der Leser nicht – ins Positive gesteigert: Maiores tibi erunt – Planiores erunt tibi – Latiores tibi erunt. Schließlich wird berichtet (§ 10), dass der Sünder »with the band of demons« in die Hölle geführt wird, während der gerechte Mann, welcher nun mit dem Mönch identifiziert wird, begleitet von den Engeln in den Himmel gelangt. Der Mönch geht nach diesen Offenbarungen in sein Haus zurück und berichtet seinen Brüdern von dem, was er erfahren hat. Die Erzählung endet mit der paränetischen Zusammenfassung: »So it is not right for a person to despise anyone because of the puniness of his person so long as his deeds are good; for it is on account of his deeds that God chooses someone« (§ 11).
2. Hintergrundinformationen zum Text Die zusammengefasste Erzählung ist im Liber Flavus Fergusiorum, RIA MS 23 O 48, erhalten geblieben.5 Hierbei handelt es sich um eine irische Textsammlung mit hauptsächlich religiösem Material aus dem 15. Jahrhundert. Carl Marstrander hat The Two Deaths 1911 erstmals ediert und übersetzt.6 Er gab dem Text auch seinen Titel. Wenige Jahre später beschäftigte sich John D. Seymour in seinem Artikel The Bringing Forth of the Soul in Irish Literature mit der Erzählung.7 Knapp 100 Jahre später hat Katja Ritari die Forschungen zur Erzählung entscheidend vorangetrieben. Ihr Artikel The Irish Eschatological Tale The Two Deaths and Its Sources 8 und ihre Einführung zum Text in The End and Beyond. Medieval Irish Eschatology, herausgegeben von John Carey u. a., machen einen 4
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Die Beschreibung der Todesszene des Gerechten ist leider nicht vollständig rekonstruierbar, speziell der Dialog zwischen Michael und Gott, da das Manuskript an dieser Stelle nicht einwandfrei lesbar ist, vgl. Katja Ritari, The Irish Eschatological Tale The Two Deaths and Its Sources, in: Traditio 68 (2013), 125–151, hier 134 f. und 140. Das Manuskript kann digital eingesehen werden: www.isos.dias.ie (letzter Aufruf: 06. 01. 2020). Carl Marstrander, The Two Deaths, in: Éiru 5 (1911), 120–125. John D. Seymour, The Bringing Forth of the Soul in Irish Literature, in: JT 22 (1920), 16– 20. Ritari, The Irish Eschatological Tale (s. Anm. 4), 125–151.
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möglichen Entstehungsprozess von The Two Deaths nachvollziehbar.9 Im erwähnten Band findet sich auch die neueste Edition und Übersetzung der Erzählung, ebenfalls von Katja Ritari erarbeitet.10 Anknüpfend an Marstrander und Seymour diskutiert Ritari, dass der Erzählung The Two Deaths vor allem drei Quellen zugrunde liegen, aus welcher der irische Redaktor einen eigenständigen und kohärenten Text, mit ganz eigenen Besonderheiten, verfasst hat. So ist die Rahmenhandlung von The Two Deaths der Bericht vom Tod eines Sünders und eines Gerechten aus De vitis patrum, einer Sammlung von Apophthegmata und Anekdoten, die den Wüstenvätern zugeschrieben werden, und die auch unter dem griechischen Titel Apophthegmata Patrum bekannt ist. Herausgegeben wurde sie mit der lateinischen Bezeichnung Verba Seniorum in Patrologia latina 73.11 Diese Rahmenerzählung wird mit dem Motiv der Three Utterances ausgeschmückt. Gemeint ist die Vorstellung, dass die Seele, sobald sie im Moment des Todes den menschlichen Körper verlässt, drei Äußerungen von sich gibt, welche dann von den Dämonen, im hier diskutierten Text ist es Satan, bzw. von den Engeln gesteigert werden. Das Motiv der Three Utterances war weit verbreitet und auch auf den Britischen Inseln im frühen Mittelalter sehr populär. Es ist in verschiedensten Versionen sowohl in lateinischen als auch altenglischen Traditionen erhalten.12 In De vitis patrum kommt das Motiv so nicht vor, so dass davon ausgegangen werden kann, dass dem irischen Verfasser eine Version der Three Utterances bekannt war.13 Der Hinweis, dass die Seele, bei dem Versuch den Körper zu verlassen, von Satan zurückgedrängt wird, erinnert an eine weitere mögliche Quelle, nämlich an
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Ritari, The Two Deaths (s. Anm. 2), 101–105. A. a. O., 106–111. Siehe Seymour, The Bringing Forth (s. Anm. 7), 18–20; Ritari, The Two Deaths, (s. Anm. 2), 101; Ritari, The Irish Eschatological Tale (s. Anm. 4), 127; Charles D. Wright, Next-to-Last Things: The Interim State of Souls in Early Irish Literature, in: Carey u. a. (Hrsg.), The End and Beyond (s. Anm. 2), 309–396, hier 362–369. Wright listet fünfzig Manuskripte der Three Utterances und das sind nur die, die ihm bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bekannt waren: Charles D. Wright, Latin Analogue for The Two Deaths: The Three Utterances of the Soul, in: Carey u. a. (Hrsg.), The End and Beyond (s. Anm. 2), 113–137, hier 128–137. Vgl. Ritari, The Irish Eschatological Tale (s. Anm. 4), 127.150; Wright, Next-to-Last Things (s. Anm. 11), 362–369; Wright, Latin Analogue for The Two Deaths (s. Anm. 12), 113–137.
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The Dispute between the Soul and the Body. 14 Weder De vitis patrum noch The Three Utterances enthalten dieses Motiv, so dass es als wahrscheinlich gelten kann, dass eine Version von The Dispute between the Soul and the Body von dem Verfasser des irischen Textes eingearbeitet worden ist. Ein weiterer Text muss im Entstehungszusammenhang noch erwähnt werden: die Visio Pauli. Der Text der Visio Pauli, bis heute neben vielen anderen auch in einer irischen Version erhalten,15 mag als Inspirationsquelle gedient haben, da in ihm eine sehr frühe Vorstellung von dem Tod des Sünders und dem Tod des Gerechten zu finden ist.16 Bezüglich der Entstehung der Erzählung The Two Deaths bleibt weiterhin unklar, ob der erhaltene irische Text eine eigene Kreation eines irischen Autors aus den oben genannten Textquellen in Kombination mit irischen Besonderheiten ist oder ob das Zusammenspiel als solches schon als eine lateinische Quelle existierte, die wiederum aber auch ihren Ursprung in Irland haben könnte. Ein Hinweis auf einen bereits vorliegenden lateinischen Text könnten zudem die lateinischen Zitate sein.17 Sicher lässt sich aber sagen, dass es sich bei The Two Deaths nicht um eine schlichte Aneinanderreihung von bereits existierenden Textbausteinen, Motiven und Vorstellungen handelt, sondern um ein geschicktes Ineinanderweben dieser verschiedenen Elemente, ergänzt um einige irische Besonderheiten, so dass der irische Redaktor, ob nun Autor oder ›nur‹ Übersetzer, einen erheblichen persönlichen Anteil an der Erzählung hatte.18
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Eine genauere Darstellung und Untersuchung dieses Textes kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Siehe dazu z. B. Seymour, The Bringing Forth of the Soul (s. Anm. 7), 17 f.; John Carey, The Dialogue of the Body and the Soul, in: Carey u. a. (Hrsg.), The End and Beyond (s. Anm. 2), 47–65, und Charles D. Wright, Latin Analogues for The Dialogue of the Body and the Soul, in: Carey u. a. (Hrsg.), a. a. O., 65–100. Vgl. z. B. die englische Übersetzung in: Máire Herbert/Martin McNamara (Hrsg.), Irish Biblical Apocrypha, Selected Texts in Translation, London/New York 2004, 132–136. Vgl. Ritari, The Irish Eschatological Tale (s. Anm. 4), 142–144. Allerdings ist nicht alle wörtliche Rede im irischen Text in Latein. Auf Irisch wird die Seele des Sünders zu ewiger Strafe verdammt: »Uair nocha dernuis mo riar-sa a anim anfeachtnach-sa fri re n-ᴂnuaire cidh itir, do-ber-sa pein suthuin duitt-siu ind-sin« (§ 4). Und auch Michael fragt auf Irisch nach dem Zugang zur Seele: »Cad na tuc an anmuin asa corp?« (§ 8). Vgl. auch Ritari, a. a. O., 137. Vgl. Ritari, a. a. O., 146–148.
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Die Frage nach der Datierung des Textes kann nur sehr vage beantwortet werden. Marstrander schreibt lediglich, dass »the language gives evidence of considerable age«.19 Einige Anhaltspunkte können jedoch bei der Datierung von The Two Deaths ein wenig weiterhelfen. So lässt sich die genannte Quelle De vitis patrum auf die Mitte des sechsten Jahrhunderts zurückführen. Für The Two Deaths würde das dann bedeuten, dass der Text in jedem Fall nach dieser Zeit entstanden sein müsste. Dies deckt sich auch mit der Erwähnung von Gregor dem Großen, der 604 n. Chr. starb. Gregor der Große tritt nur im irischen Text als Erzähler auf und ist in keiner der erwähnten möglichen Quellen vorzufinden. Diese irische Besonderheit erscheint nicht ungewöhnlich, da die Dialoge Gregors im frühen Mittelalter in Irland sich großer Beliebtheit erfreuten und auch Verwendung fanden.20 Die Datierung der Three Utterances ist ebenso schwierig wie die von The Two Deaths selbst. Die ältesten Manuskripte, in denen eine Version von The Three Utterances enthalten ist, stammen aus dem achten Jahrhundert. Da es in diesen aber schon viele Varianten des Motivs gibt, ist davon auszugehen, dass das Motiv älter ist.21 Die Sprache in The Two Deaths lässt größtenteils auf die Zeit des Old Irish schließen, die bis in das 9. Jh. n. Chr. andauerte. Demnach könnte The Two Deaths irgendwann zwischen dem späten 6. und dem 9. Jh. verortet werden. Der Text weist aber auch einige wenige sprachliche Aspekte und Veränderungen auf, die erst im späteren Middle Irish üblich wurden. Deshalb sollte The Two Deaths wohl eher in das späte 9. Jahrhundert datiert werden.22
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Marstrander, The Two Deaths (s. Anm. 6), 120. John Kenney zitiert seine Einschätzung in: James F. Kenney, The Sources for the Early History of Ireland. An Introduction and Guide, Vol. I: Ecclesiastical, New York 1929, 743. Vgl. Ritari, The Irish Eschatological Tale (s. Anm. 4), 133.149. Vgl. Ritari, a. a. O., 149–150. Siehe auch Charles D. Wright, Three Utterances Apocryphon, in: Frederick M. Biggs (Hrsg.), Sources of Anglo-Saxon Literary Culture. The Apocrypha, Instrumenta Anglistica Mediaevalia 1, Kalamazoo 2007, 80–83, und Rudolph Willard, Two Apocrypha in Old English Homilies, Beiträge zur englischen Philologie 30, Leipzig 1935, 32–36. Vgl. Ritari, The Irish Eschatological Tale (s. Anm. 4), 150, und Ritari, The Two Deaths, (s. Anm. 9), 105.
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3. Der Tod in The Two Deaths Hinsichtlich der Imagination des Todes und ihrer Beschreibung fallen viele Aspekte in der kleinen, aber sehr dichten Erzählung auf, von denen einige benannt werden sollen. Die Erzählung stellt den Moment des Sterbens zweier unterschiedlicher Menschen gegenüber. Auf der einen Seite wird der Tod eines Sünders beschrieben, auf der anderen Seite der eines Gerechten. Die Darstellung des Todes eines Sünders wird mit der Beschreibung einer großen Prozession eingeleitet, die auf dem Weg zum Sterbebett des »leader of the city« ist, um ihn im Moment seines Todes zu begleiten. Am Ende jedoch wird sein dramatisches Schicksal deutlich und seine Seele wird vom Satan brutal aus dem Körper des Mannes herausgerissen und schließlich von den Dämonen in die Hölle geführt. Der zweite – »pitiable« – Mann, dessen Tod dem Mönch vor Augen geführt wird, lebt und stirbt, zunächst, einsam in einem Haus ganz in der Nähe der Stadt. Es sind schließlich die Engel Michael und Gabriel, die ihn in seinem Tod begleiten (§ 8). Erklingende Musik lockt die Seele, die auf die Brust des Mannes springt (§ 9) und später von den Engeln geleitet in den Himmel gelangt. Inhaltlich interessant sind die entgegengesetzten Entwicklungen der sterbenden Männer: der Fall des angesehenen Stadtoberhauptes einerseits, der Aufstieg des einsamen Mannes andererseits. Ersterer wird als »leader of the city« vorgestellt, zu dessen Tod, und damit wohl zu seinen Ehren, viele Männer gehen, die zudem Licht, die brennenden Kerzen, zu ihm bringen. Alle versammeln sich in seinem Haus – das also eher als groß und stattlich vorzustellen ist und mitten in der Stadt liegt. Dieser Gedanke wird verstärkt, wenn der Mann in § 4 als reich bezeichnet wird. Die große Anteilnahme an seinem Tod lässt auch vermuten, dass er nicht nur bekannt bei den Menschen war, sondern auch angesehen, was einen positiven Eindruck bei dem Leser hervorrufen lässt. Das Bild ändert sich jedoch schlagartig, wenn die Leserin die Stimme Gottes hört. Hier ist auf einmal von einer »unfortunate soul« (§ 4) die Rede, die den Willen Gottes nicht erfüllt hat und dafür auf ewig bestraft werden soll. Von hier an treten der Mann und sein Körper immer mehr in den Hintergrund und seine Seele in den Vordergrund. Während der Leser von dem äußeren Erscheinungsbild des Mannes nichts erfahren hat, wird seine Seele nun als schwarz wie ein Rabe dargestellt, was in einem starken Kontrast zu den brennenden, Licht spendenden Kerzen am Anfang steht. An dieser Gegensätzlichkeit wird der Fall des Mannes vom Licht in die Dunkelheit am besten deutlich. Betont wird sein Abstieg dann natürlich v. a. durch die, die ihn begleiten. War es zu Beginn noch eine »assembly of the people« (§ 3), so sind es nun die Dämonen. Die Engel werden zwar erwähnt, wagen sich aber nicht in die Nähe der Seele. Komplettiert wird der Abstieg des Sünders durch das Ziel seiner Reise: die Hölle.
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In der Darstellung des zweiten Sterbenden verläuft die Entwicklung genau anders herum. Zu Beginn wird der Leserin ein scheinbar einsamer Mann skizziert, der erbärmlich am Rande der Stadt lebt und allein sterben muss. Niemand ist an sein Sterbebett gekommen, um ihn zu begleiten. Diese Wahrnehmung verändert sich jedoch schnell, nämlich dann, wenn sich die Engel um ihn sorgen, für ihn singen (sogar David kommt) und die Seele als hell und strahlend wie die Sonne erscheint. Die Seele fährt begleitet von Engeln in den Himmel. Erst im Nachsatz (§ 11) erfährt der Leser, warum ihm dies zustehen mag: Er hat in seinem Leben gute Taten vollbracht, die, wenn auch von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen, von Gott anerkannt worden sind. Der Verlauf der beiden Schicksale erinnert stark an die Beispielerzählung vom reichen Mann und armen Lazarus in Lk 16,19–31, in der ebenfalls der reiche Mann in der Hölle endet, während der arme Mann von den Engeln in Abrahams Schoß getragen wird (V. 22). Der Fokus hier liegt zunächst allerdings darauf, dass der Reiche »Gutes empfangen hat in [seinem] Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen« (V. 25). Es sind also nicht die vollbrachten oder eben nicht vollbrachten Taten, die entscheidend sind am Lebensende, sondern das, was dem Menschen zu Lebzeiten widerfahren ist. Im weiteren Verlauf der Erzählung wird dies allerdings darum ergänzt, dass auch hier der Glaube bzw. Unglaube – und dies wiederum dürfte entsprechende Verhaltensweisen und Taten einschließen – eines Menschen ausschlaggebend für die Zeit nach dem Tod ist (vgl. V. 27–31). Der Grundgedanke von The Two Deaths und von Lk 16,19–31 ist also durchaus vergleichbar.23 Lk 16,19–31 könnte demnach eine weitere Inspirationsquelle für die motivliche Struktur von The Two Deaths gewesen sein oder – präziser formuliert – für die Struktur des bereits erwähnten Textes De vitis patrum. 24 23
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Auch im Jerusalemer Talmud begegnet die Gegenüberstellung zweier Sterbender, deren Schicksal nach dem Tod in Abhängigkeit zu ihrer Lebensweise steht, vgl. Ritari, The Irish Eschatological Tale (s. Anm. 4), 135. Die irische Fassung von Transitus Mariae arbeitet ebenfalls mit diesem Motiv. So heißt es hier: »[…] for two angels come to meet the soul of every person at the hour of death, the angel of righteousness, and the angel of unrighteousness. If a person performs good deeds while alive, the angel of righteousness will come for his soul, and will take it to the abode of the just. However, if a person does evil, the inhabitants of hell along with the devil will come for him […]« (englische Übersetzung in: Herbert/McNamara, Irish Biblical Apocrypha [s. Anm. 15], 121). In der irischen Version der Visio Pauli klingt Ähnliches an, wenn der Schreiber den Text mit folgenden Worten schließt: »Therefore, beloved brothers and sisters, be instructed to do good deeds, to protect yourselves from the pain of hell, so you may be brought to your own Lord, the King of heaven and earth. For those who do not believe in him, and do not do penance for their sins will be consigned to the punishments which we have related« (englische Übersetzung a. a. O., 136).
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Auch narratologisch ist der Aufbau der Erzählung interessant. So unterschiedlich die Entwicklungen der beiden Sterbenden verlaufen, so parallel sind doch die Beschreibungen der Abläufe im Tod und der Vorgänge der Seelen aufgebaut: (1) Beide Seelen bekommen im Moment des Todes des Menschen, in dem sie waren, Besuch: Bei dem einen kommen Satan und die Dämonen, bei dem anderen die Engel (§ 3–6; 8–10). (2) Die Farben der Seelen beim Verlassen des Körpers werden in den Fokus genommen: Die erste ist schwarz wie ein Rabe, die zweite hell wie die Sonne.25 Die eine wird herausgerissen, die andere springt – gelockt vom Klang der Musik – freiwillig heraus (§ 5; 9). (3) Es folgen die Three Utterances und ihre entsprechenden Repliken. Die Ausrufe der Seele des Sünders werden ins Negative, die des Gerechten ins Positive gesteigert (§ 5; 9). (4) Schließlich wird berichtet, wohin die Seelen gelangen und in wessen Begleitung: mit den Dämonen in die Hölle bzw. mit den Engeln in den Himmel (§ 6; 10). Der parallele Aufbau der eigentlich so konträr zueinander stehenden Todesszenen verdeutlicht die unterschiedlichen Schicksale der beiden Männer. Die Parallelität in der Beschreibung der Seelen macht erst einen Vergleich der beiden Szenen überhaupt möglich und entblößt so die Eigenschaften der Männer zu Lebzeiten und den daraus resultierenden Verbleib nach dem Tod. Innerhalb der beiden Beschreibungen fallen weitere Details auf, von denen hier noch zwei Elemente betrachtet werden sollen, die vor allem mit Blick auf den irischen Kontext von Interesse sind. Beim Tod des Sünders dreht sich Satan dreimal linksherum über dem Sterbenden und auch die Seele des Sünders kreist linksherum um den Leichnam. Beide Szenarien sind nicht Bestandteil der oben erwähnten, zugrundeliegenden Textquellen und können als irisches Spezifikum angesehen werden. Hinter der Betonung auf die Drehrichtung linksherum liegt ein Gedanke, der noch auf das vorchristliche Irland zurückgeht, in dem der Glaube vorherrschend war, dass es
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Interessanterweise scheint das Aussehen der Menschen irrelevant zu sein. Erst die Farbe der Seele lässt auf die Eigenschaften des Menschen schließen. In einigen Versionen von The Three Utterances taucht ebenfalls dieses bekannte Schema von hell und dunkel für Engel und Dämonen auf. In The Three Utterances sind es entweder die Seelen, denen die Farben zugeteilt werden, oder aber die Heerscharen (Engel oder Dämonen), die im Tod begegnen. Nur in The Two Deaths werden die Seelen und die hosts mit dem Hell-DunkelGegensatz beschrieben, vgl. Ritari, The Irish Eschatological Tale (s. Anm. 4), 138 f.
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großes Unglück bedeuten würde, etwas entgegen dem Verlauf der Sonne zu tun.26 Glückbringend war es, sich rechtsherum dem Verlauf der Sonne entsprechend zu bewegen bzw. seine Tätigkeit in dieser Richtung hin auszuüben. Wallfahrten, die »Annäherung an das Heiligtum desiul [führten] von Osten nach Westen […]. Das schadenzauberische oder häretische Ritual aber wird tuapholl (›widdershins‹ […]) vollzogen.«27
Hierzu passt auch, dass die Seele des Sünders laut der Erzählung unterhalb der linken Brust verortet ist (§ 5). Dies kann zum einen natürlich damit zusammenhängen, dass die Seele nicht selten im Herzen oder zumindest in der Nähe des Herzens imaginiert wurde. Da dieser Hinweis jedoch in der Beschreibung der Seele des Gerechten fehlt, kann die linke Seite als Wohnstätte der Seele im Körper des Sünders als zusätzliche Unterstreichung der unfortunate soul und ihrem schrecklichen Ausgang gelesen werden. Die Tatsache, dass es sich in The Two Deaths um einen Mönch handelt, dem die Todesszenen offenbart werden, und dass dieser am Ende sogar noch mit dem Gerechten identifiziert wird, dürfte im damaligen Irland auf fruchtbaren Boden gefallen sein, in dem das Mönchtum von immenser Bedeutung war, für das Leben generell, v. a. aber auch für die Verbreitung des Christentums auf der Insel.28 Die Erzählung könnte als eine »monastic instruction«29 fungiert haben, ähnlich der Anekdoten der Wüstenväter in Verba seniorum.
4. Abschließende Bemerkungen The Two Deaths führt den Leserinnen und Lesern eine sehr plastische Imagination des Todes vor Augen. Im Moment des Todes verlässt die Seele, ob nun gewollt oder gezwungenermaßen, den Körper des sterbenden Menschen. Die Seele 26
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Vgl. Seymour, The Bringing Forth (s. Anm. 7), 20; vgl. auch Ritari, The Irish Eschatological Tale (s. Anm. 4), 138. Marco Frenschkowski, Magie im antiken Christentum. Eine Studie zur Alten Kirche und ihrem Umfeld, SAC 7, Stuttgart 2016, 39 f. Vgl. auch Seymour, The Bringing Forth (s. Anm. 7), 20, und Helmut Birkhan, Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur, Wien 1997, 808 f. Vgl. für eine ausführliche Darstellung z. B. Walter Delius, Geschichte der irischen Kirche. Von ihren Anfängen bis zum 12. Jahrhundert, München 1954, bes. Kapitel II–VII und X; Kathleen Hughes, The Church in Irish Society. 400–800, in: Dáibhí Ó Cróinín (Hrsg.), A New History of Ireland. Vol. I. Prehistoric and Early Ireland, 301–330; Kathleen Hughes, The Irish Church, 800–c.1050, in: a. a. O., 635–655. Ritari, The Irish Eschatological Tale (s. Anm. 4), 134.
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scheint nun in ihrem Zwischenzustand amorphe Züge anzunehmen: Ihr wird eine Farbe zugewiesen, was zeigt, dass sie als etwas Sichtbares vorgestellt wurde; ihr werden Aussagen zugesprochen (§ 5 bzw. 9) und auch die Fähigkeit, sich eigenständig zu bewegen30 und zu agieren.31 Die Erzählung The Two Deaths macht m. E. mit ihrer doch sehr detaillierten Beschreibung der Sterbeszenen und der Beschaffenheit der Seelen und dem jeweiligen Verbleib der Seelen ebenfalls deutlich, wie groß das damalige Bedürfnis nach einer genauen Vorstellung von Tod und Jenseits und allem, was dazwischen liegt, gewesen sein muss. Der Mensch, nicht nur der Ire (das belegen die zahlreichen Versionen der Textgrundlagen), wollte wissen, was auf ihn zukommt und wie er sich vor einem schrecklichen Ausgang möglicherweise schützen könne. Mit The Two Deaths wird er dazu aufgefordert, seinen eigenen Lebenswandel mit Blick auf sein Lebensende und den möglichen Folgen seines Tuns zu überdenken. Ein weiterer Kontext, in dem The Two Deaths ihren Sitz im Leben gehabt haben könnte, könnte daher die Predigt bzw. die religiöse Unterweisung gewesen sein. Dies legt auch der belehrende Ton der Einleitung in den Text nahe. Die Einführung Gregors des Großen, der in Fragen der Eschatologie als Autorität galt, unterstreicht dies.32 Dass Gregor der Große als Erzähler im irischen Text auftritt, erscheint auch sonst als gekonnter literarischer Schachzug und ist ein Beispiel für ein gelingendes Verbinden verschiedener Traditionen. Gregor der Große beantwortet die Eingangsfrage nach dem Unterschied des Todes eines Sünders und dem eines Gerechten mit dem irischen »Ni hansa«. Hier folgt der Verfasser von The Two Deaths nicht nur dem Frage-Antwort-Schema der Dialoge des Gregor, sondern knüpft auch an die zahlreichen irischen Überlieferungen an, die ebenfalls dialogisch beginnen.33 Auch als Ganzes ist The Two Deaths ein gutes Beispiel für das Verschmelzen von unterschiedlichen Traditionen im Zuge der Entwicklung des Christentums im keltisch geprägten Irland. Die Vorstellung einer Körper-Seele-Dichotomie, die erst die im Text beschriebene Seelenwanderung möglich macht, findet sich nicht nur in The Two Deaths, sondern auch in den möglichen Quellentexten. Die Iren, denen diese Vorstellung mit Blick auf die eigenen vorchristlichen Traditionen alles andere als fremd war, konnten sie offenbar gut nachvollziehen und mit irischen Nuancen – so v. a. die widdershins-Einfügung – ergänzen, ohne dass 30
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Vgl. z. B. § 4: »An tan iarum tigeatt an anim co beolo ind fir, do-bereadh an satan fuasma danael dia saigh, co teitheadh in anim isin corp doriisid.« (»Wann immer die Seele emporkommen würde zum Mund des Mannes, würde Satan ihr mit seinem Trident einen Stoß versetzen, so dass die Seele zurück in den Körper fliehen würde.«) Vgl. z. B. § 6, wo die Seele den Leichnam verfluchen kann. Siehe Ritari, The Irish Eschatological Tale (s. Anm. 4), 127 f. und 133 f. A. a. O., 133.
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der Text an Plausibilität verloren hätte.34 Das Verbinden der Traditionen und das Wiedererkennen der vertrauten alten Imaginationen und Motive, dürfte zur Akzeptanz der neuen, christlich geprägten Vorstellungen und Lehren beigetragen und so das Fortschreiten des irischen Christentums unterstützt haben.
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Zur Vorstellung der Seele bei den Kelten vgl. z. B. Birkhan, Kelten (s. Anm. 27), 913–915.
Die Anfa¨nge der lateinischen Paulustradition in Nordafrika Klaus Fitschen
Von den Anfängen der lateinischen Paulustradition in Nordafrika zu reden heißt sich ungefähr in das Jahr 200 zu begeben, und hier vor allem nach Karthago. Das literarische Werk des freien christlichen Lehrers Tertullian spielt dabei eine Rolle, aber auch die frühen Märtyrerinnen- und Märtyrerakten sind hier von Belang. Der Begriff »Paulustradition« wiederum meint nicht nur die Geschichte der Übersetzung der Paulinen ins Lateinische, sondern auch die Bedeutung anderer, mit der Gestalt des Paulus in Verbindung stehender Texte, und damit sind hier die Paulus- und Thekla-Akten ebenso gemeint wie der Paulustext Markions.
1. Tertullian, Markion und der lateinische Paulustext Der Befund, dass die Anfänge der altlateinischen Bibelübersetzung, also der Vetus Latina, im Dunkeln liegen und dass die mündliche Übersetzungspraxis im Rahmen des kirchlichen Lebens eine große Rolle bei ihrer Entstehung spielte, ist ein Gemeinplatz. Dieser Befund stützt sich weniger auf die Geschichte der ja erst in relativ späten Zeugen vorliegenden divergierenden Handschriftenüberlieferung denn auf die Varianz der neutestamentlichen Zitate bei den frühen christlichen lateinischen Autoren. In Rom erleichterte die griechisch-lateinische Zweisprachigkeit der christlichen Gemeinde diesen aus der kirchlichen Praxis geborenen sprachlichen Umformungsprozess der Bibel ins Lateinische. Im lateinischsprachigen römischen Nordafrika aber war das Christentum wahrscheinlich viel stärker auf die Übersetzungstätigkeit Weniger und damit auf die Verschriftlichung solcher Übersetzungen angewiesen. Darum ist es kein Zufall, dass der erste Beleg für eine schriftlich vorliegende Übersetzung der Paulusbriefe ins Lateinische aus Nordafrika stammt: Die im Jahre 180 in Karthago verurteilten, aus dem heute nicht mehr identifizierbaren Städtchen Scili stammenden Märtyrerinnen und Märtyrer tragen ihren Acta zufolge epistulae Sancti Pauli, Briefe des Heiligen Paulus, und zwar ganz offensichtlich in lateinischer Sprache, mit sich. Dass es sich schon um eine lateinische Übersetzung handelt, ist kaum in
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Zweifel zu ziehen; die Herkunft der Frauen und Männer – es handelt sich um schlichte Leute aus dem Volk – schließt Zweisprachigkeit aus. Wie alt diese lateinische Paulus-Übersetzung ist und von wem und woher sie stammen könnte, ist allerdings nicht zu klären. In dieser und in vielen anderen Fragen ist die Urteilsbildung von einem zeitlich und auch lokal sehr vereinzelten Quellenbefund abhängig. Im Blick auf die Übersetzung der Paulinen ist zu berücksichtigen, dass, wie Hermann Josef Frede im Anschluss an die ältere Forschungsgeschichte herausgearbeitet hat,1 eine »Ur-Übersetzung« anzunehmen sein könnte: »Vielleicht im Gegensatz zu manchen anderen biblischen Büchern geht der Text der 13 Paulusbriefe auf eine einzige Übersetzung zurück. Dafür sprechen die zugrundeliegende einheitliche Form des Urtextes, die allenthalben erkennbare Einheitlichkeit der Wiedergabe […] und die Tatsache, daß in allen Formen bereits ein Grundstock von typischen Termini der im Werden befindlichen christlichen Sondersprache vorliegt, aus der die Sprache schon der ältesten lateinischen Bibel schöpft. Diese Übersetzung wurde wohl im 2. Jh. in Rom vorgenommen.«2
Dieser Text ist auf jeden Fall um 250 von Bischof Cyprian von Karthago benutzt worden, aber die Frage bleibt, wie alt er wirklich ist. Lag er also um das Jahr 200 schon Tertullian vor und ist dieser Text es, der im Jahre 180 den Märtyrerinnen und Märtyrern von Scili zuhanden war? Die Beantwortung dieser Frage wird schon dadurch erschwert, dass Tertullian des Griechischen mächtig war und er selbst keinerlei klare Hinweise darauf gibt, dass er eine schriftliche lateinische Übersetzung benutzte. Hieronymus und Augustinus versuchten später je auf ihre Weise, die divergierenden vorhandenen Übersetzungen zu harmonisieren und zu emendieren: Das Ergebnis ist zum einen Augustinus’ Handbuch der Exegese und Homiletik, also De doctrina christiana, zum anderen die von Hieronymus begonnene Vulgata-Übersetzung. Tertullians vielgerühmte sprachliche Kreativität aber, die entscheidend zur Formierung einer lateinischen christlichen Sondersprache beitrug, könnte ihn eventuell gar keine Rücksicht auf eine schon vorliegende Übersetzung haben nehmen lassen. Außerdem hatte Tertullian natürlich genauso wenig wie andere Autoren einen Sinn für das Kenntlichmachen und Verifizieren von Zitaten im modernen Sinne. Hermann-Josef Frede gelangte bei der Erstellung der Vetus-Latina-Bände zu den Paulinen zu der Einschätzung, Tertullian habe meist selbst aus dem Griechischen 1
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Zur Forschungsgeschichte s. Thomas P. O’Malley, Tertullian and the Bible. Language – Imagery – Exegesis, Nijmegen/Utrecht 1967, 4–8. Hermann Josef Frede (Hrsg.), Vetus Latina. Die Reste der altlateinischen Bibel nach Petrus Sabatier neu ges. u. hrsg. von der Erzabtei Beuron, Bd. 24/1. Epistula ad Ephesios, Freiburg i. Br. 1962–1964, 29*.
Die Anfa¨nge der lateinischen Paulustradition in Nordafrika
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übersetzt: »Jedenfalls scheinen fixierte lateinische Paulus-Übersetzungen, die ihm sicherlich zur Hand und vertraut waren und gelegentlich Einfluß auf seine Formulierungen gewinnen, ihm keine Autorität zu sein.«3 Dementsprechend wurden die Testimonien Tertullians von Frede auch als »Text X« gesondert dokumentiert. Das Problem lässt sich beispielhaft an der Anführung von Eph 1,9 f. in Adversus Marcionem V 17,1 verdeutlichen. Der griechische Text spricht hier im Zusammenhang mit dem Heilsplan Gottes von dem Ziel, ἀνακεφαλαιώσασθαι τὰ πάντα ἐν τῷ Χριστῷ, und das lässt sich so übersetzen: »das alles in Christus wieder zusammenzufassen«. Bei Tertullian wird dies zu recapitulare omnia in Christum. Interessant ist nun, dass das Wort recapitulare von Tertullian ausdrücklich als Übersetzung von ἀνακεφαλαιώσασθαι eingeführt wird mit der Bemerkung »um es so zu sagen, so wie jenes Wort im Griechischen lautet, nämlich zum Anfang zurückbringen oder von Anfang an durchgehen (ad initium redigere vel ab initio recensere)«. Warum betont Tertullian eigens die Bedeutung des Wortes recapitulare? Will er, wie Harnack und andere meinten, das schon von Markion gebrauchte Wort erklären? Oder führt er es selbst neu ein? Damit wäre Tertullian auch der Übersetzer des auch von Markion gebrauchten Paulus-Zitates. In De monogamia 5,2 gebraucht Tertullian bei der Zitierung von Eph 1,9 f. den Begriff recapitulare aber gerade nicht, sondern umschreibt ihn mit ad caput, id est ad initium reciprocare universa in Christo. An anderen Stellen spricht Tertullian von restaurare und instaurare. Auch sonst ist der Begriff recapitulare in der VetusLatina-Tradition selten.4 Die Divergenz der Übersetzungen ins Lateinische ließe sich damit erklären, dass Tertullian wohl eine Paulus-Übersetzung kannte, aber an der erwähnten Stelle in Adversus Marcionem besonderen Wert auf den Begriff recapitulare legte, vielleicht, weil er den von Markion angeführten Text anhand des griechischen Originals nachprüfte und ihn entsprechend präzisierte. Dass er aber eine schriftliche Paulus-Übersetzung eben nicht vorliegen hatte, ist genauso wahrscheinlich. Mit der Anführung von Tertullians Adversus Marcionem begegnet man einem weiteren Paulus-Tradenten, also Markion. Warum, so muss man fragen, verwandte Tertullian derart viel Energie auf die Widerlegung Markions, wenn dieser nicht in Karthago oder weiterhin in Nordafrika rezipiert wurde? Und wie hätte er in Nordafrika rezipiert werden sollen, wenn nicht in einer lateinischen Übersetzung? Die auf Adolf von Harnack zurückgehende These, Markion habe mit der Schaffung eines eigenen neutestamentlichen Kanons die Formierung des »kirchlichen« Kanons provoziert, ist für diese Fragestellung zu berücksichtigen. 3
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Hermann Josef Frede (Hrsg.), Vetus Latina. Die Reste der altlateinischen Bibel nach Petrus Sabatier neu ges. u. hrsg. von der Erzabtei Beuron, Bd. 25. Epistulae ad Thessalonices, Timotheum, Titum, Philemon, Hebraeos, Freiburg i. Br. 1975–1982, 143*f. O’Malley, Tertullian and the Bible (s. Anm. 1), 60 f.
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Harnack hatte ferner auch die Frage gestellt, »ob nicht der lateinische M[arkion-] Text die erste Übersetzung der Paulusbriefe ins Lateinische ist, auf welcher die katholische Übersetzung […] fußt.«5 John J. Clabeaux hat in seinem thesenreichen Buch »A lost edition of the letters of Paul« in einem Exkurs die Frage gestellt: »Did Tertullian use a Marcionite Pauline corpus that was in Latin?«6 Wäre dies also der älteste Beleg für einen lateinischen Text, der – wenn auch markionitisch verformten – Paulinen? Allerdings wird diese These von Clabeaux in der Folge von Bonifatius Fischer und Hermann Josef Frede abgelehnt. Die vorherrschende Annahme ist also: Tertullian zitierte eben keinen markionitischen lateinischen Paulustext, sondern übersetzte den griechischen Paulustext, wie er sich bei Markion fand, selbständig.7 Tertullians Zitate aus und Anspielungen auf die Paulusbriefe sind durch die Vetus-Latina-Edition gut dokumentiert. Der Apparat legt Rechenschaft über den Textbestand und die Zitierweise Tertullians ab, wobei ein großer Teil des Bibeltextes sich allein aus Anspielungen rekonstruieren lässt. Unübersehbar ist, dass Tertullian »seinen« Paulus autoritativ zitiert: Besonders deutlich sichtbar wird dies im V. Buch seines Werkes gegen Markion, wo Tertullian nach dem Ursprung des Apostels Paulus (origo apostoli Pauli) bei Markion fragt, also der Begründung seines Umgangs mit dem Text der Paulusbriefe (adv. Marc. V 1,1). Im weiteren Verlauf geht Tertullian die Paulusbriefe durch und benutzt sie als Autorität gegen Markion. So werden in einem Abschnitt wie Adversus Marcionem V 17 Pauluszitate eingeführt mit: inquit (adv. Marc. V 17,9), dicit (V 17,10), inquit (V 17,12), meminerat und wiederum inquit (V 17,13). Ein längeres Zitat wird andererseits aber ohne jede Einleitungsformel angeführt (V 17,12). Dementsprechend wird Markion die Weglassung von Wörtern vorgeworfen: abstulit (V 17,14), bzw.: subtrahit, rapuit (V 18,1) und mutabit (V 18,3). Wie wirkte diese Zitierweise aber auf die Leserinnen und Leser Tertullians? Wie kannten sie »ihren« Paulus, und in welchem Licht lasen sie die Pauluszitate Tertullians, wenn es denn schon die von Frede vermutete lateinische »UrÜbersetzung« gab? Gab es sie überhaupt im Umkreis Tertullians im Sinne eines normativen Textes? Hätte es nicht Tertullians eigener Intention eher entsprochen, einen vorhandenen, einheitlichen Paulustext zu sanktionieren – wenn es ihn denn gab –, um damit einem Markion entgegenzutreten? Im Übrigen waren für Tertullian nicht nur die Anhänger von Interesse, sondern auch gnostische Strömungen, die jeweils »ihren« Paulus konstruierten. Tertullian selbst nennt 5
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Adolf von Harnack, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott, TU 45, Leipzig 1924, Nachdruck Darmstadt 1960, 160*f. John J. Clabeaux, A Lost Edition of the Letters of Paul. A Reassessment of the Text of the Pauline Corpus attested by Marcion, CBQ.MS 21, Washington 1989, 49. Vgl. zu diesem Problem und zur Forschungsgeschichte O’Malley, Tertullian and the Bible (s. Anm. 1), 37–41.
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Paulus einmal den Apostel der Häretiker.8 Auch wenn Paulus tatsächlich bei den Gnostikern keine große Rolle spielte, hatte er doch für Valentin und seine Schüler eine gewisse Autorität9 – aber eben nur eine gewisse, während Paulus für Tertullian, für Markion und für die Paulusakten eine maßgebliche Autorität war. Die Fragen, die an Tertullian und seine Zeitgenossen zu richten sind, können nicht nur text- und literaturgeschichtlicher Natur sein, sondern müssen eben mit solchen Fragen gekoppelt werden, die sich auf die Geschichte und das Milieu des Christentums dieser Zeit und Region insgesamt beziehen.
2. Die Paulus- und Thekla-Akten Das Zeugnis, das die Akte der Scilitanischen Märtyrerinnen und Märtyrer für die Paulustradition gibt, ist durchaus rätselhaft. Die als Christen angeklagten Frauen und Männer werden in Karthago vor den Proconsul Saturninus geführt, und dies – wie durch die Angabe von Konsulatsjahren in der Akte genau zu datieren ist – im Jahr 180 nach Christi Geburt. Im Verlauf des üblichen Verhörs fällt ganz beiläufig die Frage: Quae sunt res in capsa vestra? Gemeint ist ein wohl rundes Behältnis für Schriftrollen, wie es auch aus Malereien, etwa in der Synagoge von Dura-Europos, bekannt ist. Der Wortführer der Gruppe, Speratus, antwortet: libri et epistulae Sancti Pauli, viri iusti. Bei den epistulae muss es sich um eine lateinische Übersetzung der Paulusbriefe handeln, doch was hat man sich unter den libri vorzustellen? Fabio Ruggiero hat in seiner 1991 erschienenen, sorgfältig kommentierten Ausgabe der Akten die gängigen Erklärungen aufgeführt: Während die einen meinen, es handle sich um die Evangelien, denken andere an Paulusbriefe, die noch nicht in den Kanon gelangt waren, wieder andere erklären »Bücher und Briefe« als Synonyme.10 Die antiken Quellen, die auf die Scilitanischen Akten Bezug nehmen – zu nennen ist hier neben einer Stelle bei Tertullian vor allem Augustinus – haben die Passage kommentarlos hingenommen.11 In der Textüberlieferung der Akten der Scilitanischen Märtyrerinnen und Märtyrer ist libri et epistulae dann allerdings gern zu libri legis divinae verbessert worden.12 Eine andere Möglichkeit freilich, die libri zu deuten, könnte wiederum Tertullian als Referenzquelle nutzen. Markion war für Tertullian im Blick auf die 8 9
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Tertullian, adv. Marc. III 5,4. Ernst Dassmann, Der Stachel im Fleisch. Paulus in der frühchristlichen Literatur bis Irenäus, Münster 1979, 193–199. Fabio Ruggiero (Hrsg.), Atti dei Martiri Scilitani, Atti della Accademia nazionale dei Lincei, Memorie IX I,2, Rom 1991, 110 f. A. a. O., 81–83. A. a. O., 73.
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Paulustradition nur eine Herausforderung. Demgegenüber gab es aber noch eine zweite Alternative zur kanonischen Paulusrezeption, und davon berichtet Tertullian im 17. Kapitel von De Baptismo: Hier kritisiert er, Frauen maßten sich die Autorität zu lehren und zu taufen an, was an sich schon verwerflich genug war, aber sie stützten sich dabei auch noch auf die Paulusüberlieferung und das darin gegebene Beispiel der Thekla. Die Acta Pauli aber, so Tertullian, seien das Werk eines Presbyters in Kleinasien, der sie aus Liebe zu Paulus verfasst habe und dafür seines Amtes enthoben worden sei. Dieser Beleg Tertullians nun gibt einige textkritische Probleme auf. Der in der Reihe Corpus Christianorum von Ernest Evans edierte Text lautet: »Wenn also irgendwelche Paulusakten (Quodsi quae Acta Pauli), die als Fälschung geschrieben sind (quae perperam scripta sunt), das Beispiel der Thekla für die Freiheit von Frauen zur Lehre und zum Taufen in Anspruch nehmen (exemplum Theclae ad licentiam mulierum docendi tinguendique defendunt).«
Dies ist die Version einer Handschrift aus dem 12. Jahrhundert, der allgemein großer Wert für die Textüberlieferung beigemessen wird und die 1916 entdeckt wurde. Bis dahin musste man sich an die Textüberlieferung der einzigen sonst bekannten Handschrift halten, die 1545 erstmals ediert wurde und später verlorenging.13 Hier lautet der Text: »Wenn also irgendwelche [Frauen] falsche Paulusschriften lesen (Quodsi quae Pauli perperam scripta legunt) […]«. Mit der Bezeichnung scripta Pauli aber käme man den libri Pauli der Scilitanischen Märtyrerinnen und Märtyrer recht nahe.14 Der Versuch von Stevan L. Davies, in den scripta Pauli einen verlorenen pseudepigraphen Brief des Paulus zu sehen, erscheint nicht plausibel, selbst wenn man in Betracht zieht, dass die Paulus- und Thekla-Akten gar nicht von Taufen durch Thekla berichten.15 Hieronymus nimmt in seiner altkirchlichen Literaturgeschichte, also De viris illustribus, auf Tertullians Auseinandersetzung in De Baptismo Bezug und führt sogar aus, der in Asien lebende Presbyter sei von dem Apostel Johannes als Autor der Periodoi Pauli et Theclae überführt worden: 13 14
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Vgl. dazu die Praefatio in der Edition von Evans. Nicht verschwiegen werden soll, dass die Wörter exemplum Theclae gelegentlich gegen die eindeutige Textüberlieferung zur Disposition gestellt werden, da man das quae am Anfang des Satzes, anstatt es auf scripta oder Acta zu beziehen, auch als Indefinitpronomen auffassen könnte: »Wenn also irgendwelche [Frauen] falsche Paulusschriften für die Freiheit von Frauen zur Lehre und zum Taufen in Anspruch nehmen«. Die Worte exemplum Theclae könnten dann als Doppelung zu scripta bzw. Acta Pauli angesehen werden, vgl. Anton Hilhorst, Tertullian on the Acts of Paul, in: Jan N. Bremmer (Hrsg.), The Apocryphal Acts of Paul and Thecla, Kampen 1996, 150–163, 153 f. Stevan L. Davies, Women, Tertullian and the Acts of Paul, in: Semeia 38 (1986), 139–143.
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convictum apud Iohannem quod auctor esset libri. 16 Der Titel des Werkes scheint also noch zur Zeit des Hieronymus nicht Acta, sondern »Rundreisen« bzw. tatsächlich noch wie zur Zeit der Scilitanischen Märtyrerinnen und Märtyrer libri bzw. liber gewesen zu sein.17 Die erst später einhellig so genannten Paulus- und Thekla-Akten würden somit nicht erst von Tertullian, sondern schon ca. 20 Jahre zuvor in der Martyriumsliteratur bezeugt, und auch hier stellt sich die Frage, ob sie nicht wie die Paulusbriefe in einer lateinischen Fassung vorlagen. Gewiss ist die lateinische Überlieferungstradition der scripta, libri oder eben Acta Pauli eher marginal und ihre Bezeugung spät – die lateinische Texttradition setzt breit erst im Mittelalter ein.18 Andererseits ist immerhin deutlich, dass diese Texte von Frauen in Nordafrika als Argumentationsbasis genommen wurden, und dies ist am ehesten möglich, wenn die Akten in einer lateinischen Version vorlagen. Die Paulusakten haben in den letzten Jahren wieder verstärkte Aufmerksamkeit gefunden, vor allem seit einem 1996 erschienenen Tagungsband.19 Hierzu hat auch die historische Frauenforschung mit ihrem Interesse an der Thekla-Gestalt entscheidend beigetragen. Diese Thekla-Gestalt hat schon zu Tertullians Zeiten die Akten in die Diskussion gebracht, und auf sie beziehen sich moderne Versuche, den Akten historischen Wert abzugewinnen. Auf jeden Fall ist sie ein für historisch gehaltenes Vorbild der Askese gewesen: Hier sei nur Gregor von Nyssa mit der Lebensbeschreibung seiner Schwester Makrina herausgegriffen, in der diese als neue Thekla stilisiert wird.20 1999 hatte die in Graz lehrende Anne Jensen in einem Taschenbuch »Thekla – Die Apostolin« popularisiert und dabei »Reminiszenzen an eine historische Frauengestalt« vorausgesetzt.21 Das Vorhandensein einer alternativen Paulustradition um das Jahr 200 in den scripta, libri oder Acta Pauli lässt nun nach ihrer Beziehung zu den kanonisch gewordenen Paulustexten bzw. zur Apostelgeschichte fragen. Mehr als wahrscheinlich ist, dass die Paulusakten jüngeren Datums sind; sie dürften, folgt man 16 17 18
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Hieronymus, vir. ill. 7 (TU 14/1, 11). Vgl. dazu auch Hilhorst, Tertullian on the Acts of Paul (s. Anm. 14), 162. Oscar von Gebhardt, Die lateinischen Übersetzungen der Acta Pauli et Theclae, TU NF 7/2, Leipzig 1902, V: »Welcher Beliebtheit die Thekla-Legende in der lateinischen Kirche des Mittelalters sich erfreute, erhellt aus der Thatsache, dass sie in mindestens vier, vielleicht in fünf unabhängig von einander entstandenen Übersetzungen und ausserdem in mehreren kürzeren Fassungen […] verbreitet gewesen ist.« Bremmer (Hrsg.), Acts of Paul and Thecla (s. Anm. 14). Vgl. dazu Monika Pesthy, Thecla among the Fathers of the Church, in: Bremmer (Hrsg.), Acts of Paul and Thekla (s. Anm. 14), 164–178, 166–168. Anne Jensen, Thekla – Die Apostolin. Ein apokrypher Text neu entdeckt, Gütersloh 1999, 13.
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ihrer Bezeugung, spätestens in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts entstanden sein. Schon aus Tertullians Kritik ist erkennbar, dass man dieser Paulustradition durchaus eine gute Intention zubilligte, da ein Presbyter sie ja aus Liebe zu Paulus verfasst habe, und auch Euseb stellte sie noch dem Hirten des Hermas, der Didache und dem Barnabasbrief an die Seite.22 Die Paulusakten waren trotz des ablehnenden Votums Tertullians zu seiner Zeit durchaus nicht verpönt; Tertullians römischer Zeitgenosse Hippolyt nimmt ganz selbstverständlich auf sie Bezug.23 Sie verloren erst ihre Bedeutung, als sie von den Manichäern rezipiert wurden.24 Ihr Anliegen war es, das Paulus- und ebenso doch auch das Thekla-Bild zu popularisieren, und dies in einer Zeit, die sich aus Paulus wenig machte, wie die Apologeten und die Apostolischen Väter zeigen. Sollten die Paulusakten den kanonisch werdenden Schriften gar an die Seite gestellt werden? Es ist ja davon auszugehen, dass der Verfasser – man mag natürlich auch sagen: die Verfasserin – den Paulusbriefen und der Apostelgeschichte in populärer Form Konkurrenz machte. Gerade im Blick auf die Pastoralbriefe sind Beobachtungen gemacht worden, die darauf hindeuten, dass die Paulus- und Theklaakten die dort vertretene Unterordnung der Frau (vgl. z. B. 1Tim 2,11 f.) aufheben und die asketischen Anforderungen verschärfen: Paulus ist das große Vorbild in extremem Fasten (ActPl 23 und 25).25 Eine literarische Abhängigkeit vom kanonischen Paulusgut wird geradezu peinlich vermieden. Zwar tauchen Namen wie Titus auch in den Paulusakten auf, doch gibt es keine längeren Zitate, sondern allenfalls die Übernahme einzelner Wendungen, an deren Zitatcharakter man zweifeln kann.26 Die immer wieder, so von Willy Rordorf und ausführlich von Dennis Ronald MacDonald vorgetragene Vorstellung, es bestehe kein direkter Bezug der Paulusakten zur kanonisch gewordene Paulustradition, und hinter der Apostelgeschichte wie hinter den Paulusakten ständen unterschiedliche Traditionssträn-
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Eusebius, h. e. III 25,4, vgl. III 3,5. Hippolyt, in Dan. comm. 3,29. Zu weiteren Belegen vgl. Wilhelm Schneemelcher, Einleitung zu »Paulusakten«, in: ders. (Hrsg.), Neutestamentliche Apokryphen, Bd. 2. Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 61997, 195 f. Hippolyt, in Dan. comm. 3,29; Origenes, princ. I 2,3; in Joh. comm. 20,12; Augustinus, c. Faust. 30,6; vgl. Wilhelm Schneemelcher, Gesammelte Aufsätze zum Neuen Testament und zur Patristik, hrsg. v. Wolfgang A. Bienert/Knut Schäferdiek, Thessalonike 1974, 222 f. Vgl. Joachim Rohde, Pastoralbriefe und Acta Pauli, Studia Evangelica V, TU 103, Berlin 1968, 303–310, 308. Pál Herczeg, New Testament Parallels to the Apocryphal Acta Pauli Documents, in: Bremmer (Hrsg.), Acts of Paul and Thekla (s. Anm. 14), 142–149.
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ge,27 ist demgegenüber doch problematisch, da für solche Traditionsstränge keine literarischen Zeugnisse existieren. Zwar zog Rordorf Texte aus späterer Zeit hinzu und ging auch von einer mündlichen Erzähltradition aus, doch scheint es sich dabei eher um Quellen zu handeln, die die Paulusakten weitersponnen, denn um Testimonien einer frühen Tradition, in der auch die Paulusakten stehen könnten.28 Hier wird man bei Wilhelm Schneemelchers Befund bleiben müssen: »Auch wenn diese Teile vielleicht von einem Verf.[fasser] der A[cta] P[au]l[i] schon vorgefunden und in sein Werk eingebaut worden sind, kann man über eine eigene Überlieferungsgeschichte vor der Aufnahme in die A[cta] P[au]l[i] nichts sagen.«29 Andererseits ist mit Schneemelcher auch festzuhalten: »[Der Verfasser] hat umlaufende Legenden schriftlich fixiert und in eine größere Komposition eingefügt, manchen Abschnitt wohl auch selbst erfunden.«30 So ist davon auszugehen, dass die Paulusakten ein Roman sind, oder um es mit Ernst Dassmann zu sagen: »Hatte die Apostelgeschichte ein Paulusbild entworfen unter Ignorierung der Paulusbriefe, so besitzen die Paulusakten die Kühnheit, beide zu verwerten und doch den Paulus ihrer eigenen Zeit zu zeichnen.«31 Hier war ein Autor oder eine Autorin am Werk, der oder dem wir ja sogar eine Beschreibung des Paulus verdanken, der zufolge er bald wie ein Mensch, bald wie ein Engel aussah, wobei die konkret genannten Merkmale sich wohl auf sein Aussehen als Mensch beziehen sollten: zusammengewachsene Augenbrauen, Hakennase, Glatzkopf, untersetzt, hinkend, kleingewachsen.32 Die Passage liest sich wie eine Antwort auf 2Kor 10,10, also auf den Befund, die starken Briefe des Apostels stammten von einem körperlichen Schwächling.33
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Willy Rordorf, Was wissen wir über Plan und Absicht der Paulusakten, in: Damaskinos Papandreou/Wolfgang A. Bienert/Knut Schäferdiek (Hrsg.), Oecumenica et Patristica. Festschrift für Wilhelm Schneemelcher, Stuttgart u. a. 1989, 71–79, 71; Dennis R. MacDonald, The Legend and the Apostle. The Battle for Paul in Story and Canon, Philadelphia PA 1983. A. a. O., 72–74. Vgl. Rordorf, In welchem Verhältnis stehen die apokryphen Apostelakten zur kanonischen Apostelgeschichte und zu den Pastoralbriefen?, in: Tjitze Baarda u. a. (Hrsg.), Text and Testimony. Essays on New Testament and Apocryphal Literature in Honour of A.F.J. Klijn, Kampen 1988, 225–241, 226. Schneemelcher, Einleitung (s. Anm. 22), 197. A. a. O., 200. Dassmann, Stachel (s. Anm. 9), 273. Vgl. die Analyse der Begriffe durch János Bollók, The description of Paul in the Acta Pauli, in: Bremmer (Hrsg.), Acts of Paul and Thekla (s. Anm. 14), 1–15, 6–9. Vgl. hierzu wiederum Bollók, Acta Pauli (s. Anm. 32), 9–11.
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3. Text-, Literatur- und Kirchengeschichte: plurale Paulustraditionen Was lässt sich nun als Ergebnis festhalten? Der Ertrag für die lateinische Tradition der Paulusbriefe mag nach wie vor ambivalent bleiben. Was die von Frede angenommene Urübersetzung angeht, ist kein sicheres Urteil zu gewinnen. Was immer auch die Scilitanischen Märtyrerinnen und Märtyrer in ihrer capsa hatten – eine Urübersetzung oder eine Variante davon: Tertullian weiß sich frei genug, davon keinen normativen Gebrauch zu machen. Wenn man angesichts der heftigen Reaktion Tertullians davon ausgeht, dass Markions Apostolikon, also seine Sammlung der Paulusbriefe, in Nordafrika in einer lateinischen Version rezipiert wurde, dann reagierte Tertullian gerade so darauf, dass er keinen eigenen normativen Paulustext dem gegenüberstellte. Somit stellt sich die Frage, wie Tertullian das Problem normativer Autorität löste. Vielleicht ist die Frage nach dem für Tertullian verbindlichen Paulustext aber auch die falsche: Für Tertullian nämlich stand der Text der Bibel gar nicht im Mittelpunkt des Interesses. Heinrich Karpp hat in seiner Abhandlung »Schrift und Geist bei Tertullian« kenntlich gemacht, dass Tertullian auf keinen Fall ein Biblizist ist, sondern dass die Lehrtradition, also die regula fidei, und der Heilige Geist für das Verständnis der Bibel bei ihm eine große Rolle spielen.34 Über die Bibel zu diskutieren war mit Häretikern ohnehin ausgeschlossen, wie aus dem 37. Kapitel von Tertullians Schrift De Praescriptione Haereticorum deutlich wird: Die Häretiker dürfen sich nicht auf die Schrift berufen, weil sie sie nicht anhand der von den Aposteln übernommenen Tradition, also wiederum der Glaubensregel, interpretieren. Die Berufung der Gegner auf die Bibel ist ein unrechtmäßiger Übergriff: Ita non christiani nullum ius capiunt christianarum litterarum: »Da sie keine Christen sind, haben sie kein Recht an den christlichen Schriften.« Oder anders und viel schöner von Tertullian gesagt: »Mit welchem Recht fällst du, Markion, eigentlich meinen Wald?« Tertullian qualifiziert sich selbst als heres Apostolorum, als »Erbe der Apostel«.35 Die Autorität der Bibel wird also verbürgt durch die Autorität der Tradition. Jener namenlose kleinasiatische Presbyter, der aus Liebe zu Paulus die Paulus- und Thekla-Akten fabrizierte, hatte diese Tradition genauso wie Markion eben nicht auf seiner Seite. Mit dieser Auffassung hätte es Tertullian noch zu einem der Kronzeugen des Trienter Konzils für dessen Auffassung des Verhältnisses von Schrift und Tradition bringen können, doch war Tertullian durch seinen Übergang zum Montanismus als Halbketzer diskreditiert. Erst das II. Vaticanum nimmt gelegentlich in Anspielungen auf ihn Bezug.
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Heinrich Karpp, Schrift und Geist bei Tertullian, BFChTh 47, Gütersloh 1955. Tertullian, praescr. 37,1–5 (CChr.SL 1).
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Was ist demnach der Ertrag für die Geschichte des Christentums in der Antike? Insgesamt blicken wir um das Jahr 200 in Nordafrika auf ein Panorama lateinischer Paulustraditionen, die zum Teil miteinander konkurrierten, sich aber auch ergänzten, so die Paulusakten, vielleicht eine Urübersetzung, der markionitische Paulustext und Tertullians freier Umgang mit den Paulusbriefen. Für die Geschichte des frühen Christentums ist dies ein weiteres Indiz dafür, dass zwar nicht Toleranz, wohl aber Pluralität eines seiner Kennzeichen war, und dies lässt sich eben auch an der Geschichte des Bibeltextes und seiner Übersetzungen zeigen. Wo es um Textforschung und Textgeschichte geht, ist also die Frage nach der Einordnung der Überlieferung in das kirchengeschichtliche Umfeld weiterhin spannend.
Die neuen neutestamentlichen Texte der Perikopenrevision Oder: Das Neue Testament zwischen Konvention und Skandal Alexander Deeg
Die 2018 eingeführte revidierte Ordnung der gottesdienstlichen Texte und Lieder wurde und wird vor allem wegen der rund 70 neuen alttestamentlichen Texte wahrgenommen und diskutiert. Demgegenüber fanden die Veränderungen bei den neutestamentlichen Texten und die ca. 13 neuen NT-Texte in der Ordnung kaum Beachtung. Der Beitrag stellt diese Veränderungen vor und diskutiert die Frage, ob und warum das Neue Testament als ›vernachlässigtes‹ Testament gegenwärtiger kirchlich-theologischer Wahrnehmung gelten kann.
1. Das Neue und vernachla¨ssigte Testament? Zum Ersten Advent 2018 wurde in den Kirchen der UEK und der VELKD eine neue »Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder« eingeführt.1 Die weitaus größte Aufmerksamkeit galt dabei in den ca. zehn Jahren der Vorbereitung und Erarbeitung, aber auch in den Wahrnehmungen und Diskussionen seither dem Alten Testament (den Neutestamentler, dem dieser Beitrag mit besten Wünschen zum 60. Geburtstag gewidmet ist, mag diese Erkenntnis schmerzen!). Durch die Revision wurde die Anzahl alttestamentlicher Texte annähernd verdoppelt. An den Sonn- und Feiertagen des Kirchenjahres wurden mehr als 70 neue alttestamentliche Texte aufgenommen – darunter erstmals auch Predigttexte aus den
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Vgl. Liturgische Konferenz für die Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.), Perikopenbuch nach der Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder. Mit Einführungstexten zu den Sonn- und Feiertagen, Bielefeld/Leipzig 2018. Eine herausragende Übersicht über die neue Ordnung im Vergleich zur bisherigen bietet Thomas Melzl, Die revidierten Perikopen. Praktische Einführung, Nürnberg 2018. Vgl. zum Prozess der Revision und zu den liturgischen und liturgiewissenschaftlichen Konsequenzen auch Alexander Deeg, Neue Speisen am Tisch des Wortes. Zehn Thesen zur evangelischen Perikopenrevision und ihren liturgischen Implikationen, in: JLH 57 (2018), 11–40.
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Psalmen, zahlreiche Texte aus der Weisheitsliteratur, aber etwa auch neue Erzähltexte aus dem Pentateuch und den ›vorderen Propheten‹.2 Demgegenüber stand von Anfang an eine Textgruppe aus dem Neuen Testament im Fokus kritischer Aufmerksamkeit: die Episteltexte. In einer vor der Durchführung der Perikopenrevision von Gert Pickel und Wolfgang Ratzmann erhobenen empirischen Studie unter Praxisexpertinnen und -experten (hauptund ehrenamtlich Verkündigenden sowie Kirchenmusikern) zeigte sich, dass 22 % der Befragten Episteltexte für in der gegenwärtigen Lese- und Predigttextordnung überrepräsentiert halten.3 Damit schneiden diese Texte als Lese- und Predigttexte schlechter ab als jede andere der abgefragten Textgruppen. Luthers Verdikt gegen den Jakobusbrief, er sei eine »stroherne Epistel«,4 hat sich mittlerweile bei vielen Predigenden augenscheinlich zu einem Verdikt gegen alle Brieftexte des Neuen Testaments erweitert. Sie gelten als komplex, begrifflich überladen, abstrakt und daher nicht unmittelbar verständlich, vor allem aber in theologischer und ethischer Perspektive als weit schwerer mit den Lebenssituationen im 21. Jahrhundert vermittelbar als andere biblische Texte. Blickt man auf die etwa zehn Jahre, die die Revision der gottesdienstlichen Texte und Lieder in Anspruch genommen hat, so wurde rege um das Alte Testament und seine Hermeneutik diskutiert – vor allem seit Notger Slenczkas bereits 2013 veröffentlichter Aufsatz »Die Kirche und das Alte Testament«, in dem er, u. a. Schleiermacher, Harnack und Bultmann aufnehmend, kritisch nach der Prädikabilität des Alten Testaments fragte,5 im Frühjahr 2015 in großer medialer Öffentlichkeit bekannt wurde. Vergleichbare Diskussionen um das Neue Testament begegneten demgegenüber nicht. Das Neue Testament scheint – zugespitzt formuliert – in der gegenwärtigen Wahrnehmung das weitaus weniger spekta2
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Vgl. Alexander Deeg/Andreas Schüle, Die neuen alttestamentlichen Perikopentexte. Exegetische und homiletisch-liturgische Zugänge, Leipzig 42019. Vgl. Gert Pickel/Wolfgang Ratzmann, Gesagt wird – Eine empirische Studie zur Rezeption der gottesdienstlichen Lesungen, in: Kirchenamt der EKD/Amt der UEK/Amt der VELKD (Hrsg.), Auf dem Weg zur Perikopenrevision. Dokumentation einer wissenschaftlichen Fachtagung, Hannover 2010, 95–109, 104. Besonders kritisch wurde dabei beurteilt, dass in Predigttextreihe II ein ganzes Jahr lang nur über Episteltexte gepredigt werden ›muss‹. Vgl. Martin Luther, Vorrede auf die Epistel S. Jacobi (1522), in: Heinrich Bornkamm (Hrsg.), Luthers Vorreden zur Bibel, Göttingen 31989, 215–218. Vgl. inzwischen die zusammengefassten Äußerungen zum Thema in: Notger Slenczka, Vom Alten Testament und vom Neuen. Beiträge zur Neuvermessung ihres Verhältnisses, Leipzig 2017; vgl. z. B. auch meine Replik auf Slenczka: Alexander Deeg, Faktische Kanones und der Kanon der Kirche. Überlegungen angesichts der Diskussionen um die Rolle der Bibel in der evangelischen Kirche, um die Kanonizität des Alten Testaments und die Revision der Lese- und Predigtperikopen, in: PTh 104 (2015), 269–284.
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kuläre Testament zu sein. Die Forderung, bislang ungepredigte Texte aus dem Neuen Testament in die Ordnung der gottesdienstlichen Texte aufzunehmen, begegnete kaum. Und umgekehrt war und ist es augenscheinlich gerade die »Fremdheit« mancher alttestamentlichen Texte, die homiletisch-liturgisch reizvoll scheint. Natürlich darf demgegenüber nicht vergessen werden: Noch immer stammen zwei Drittel der Texte in der Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder aus dem Neuen Testament; und da das Neue Testament mit 7.934 Versen deutlich weniger Umfang bietet als das Alte Testament mit seinen im reformatorischen Kanon 23.186 Versen ist die quantitative Abdeckung des Neuen Testaments in der Lese- und Predigttextordnung selbstverständlich höher.6 Freilich sind quantitative Überlegungen an dieser Stelle nur bedingt aussagekräftig. Die hermeneutische Frage lautet vielmehr, ob wesentliche Inhalte und Sprachformen der jeweiligen Kanonteile in der gottesdienstlichen Lese- und Predigttextordnung berücksichtigt werden und sich die Pluralität des biblischen Kanons so auch im liturgischen Vollzug abbildet. In der bisherigen Diskussion ging auf dem dargestellten Hintergrund beinahe unter, dass es auch neue neutestamentliche Texte gibt. Diesen Aspekt stelle ich im Folgenden zunächst deskriptiv dar und leite im dritten Punkt zwei Folgerungen aus dem dargestellten Befund ab.
2. Die neuen neutestamentlichen Texte an den Sonnund Feiertagen im Kirchenjahr In die Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder wurden 2018 einige Gedenktage aufgenommen, die es in der vorher gültigen Perikopenordnung nicht gab. Für diese Tage musste die Kommission Texte auswählen und so neue Texträume konstruieren, die dem besonderen Tag eine spezifische biblische Kontur verleihen.
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Mir liegen keine exakten Statistiken vor, die zeigen, wie viele der biblischen Verse in der Perikopenordnung insgesamt berücksichtigt werden. Es wäre aber zweifellos nicht uninteressant, für jedes einzelne biblische Buch genauer zu betrachten, welche Teile in der Ordnung der gottesdienstlichen Texte und Lieder vorkommen und welche nicht. Eine Perikopenordnung kann als »faktischer Kanon« bezeichnet werden, der im Blick auf gegenwärtige kirchliche Bibelrezeption aussagekräftig ist; vgl. dazu Deeg, Faktische Kanones (s. Anm. 5). Ein guter Blick auf die Auswahl aus der Bibel aufgrund der alten und der neuen Perikopenordnung bietet die Tabelle bei Melzl, Die revidierten Perikopen (s. Anm. 1), 154–181.
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Das gilt etwa für den neu aufgenommenen 9. November, dem Tag des Gedenkens der Novemberpogrome. 7 Als Evangelienlesung wird hier Mk 14,66–72 vorgeschlagen, die Erzählung von der Verleugnung des Petrus, die als Ankündigung der Verleugnung in der Lukas-Fassung (Lk 22,31–34) noch einmal als Predigttext an diesem Gedenktag begegnet. Die ethische Herausforderung als Frage danach, wer im Angesicht von Bedrohung und Verfolgung treu bleibt, prägt diesen Tag. In diese Richtung weisen auch die Epistellesung 1Petr 5,8 f., die den teuflischen Widersacher vor Augen malt, sowie die weiteren Predigttexte Mt 24,23–27 (falsche Christusse und falsche Propheten), 2Kor 8,7–9 (Die Prüfung der Liebe auf ihre Echtheit) und die alttestamentliche Lesung aus Spr 24,10– 12 (»Der ist nicht stark, der in der Not nicht fest ist«, V. 10). Trotz ihrer Prominenz und Bekanntheit war die »Verleugnung des Petrus« bisher nicht Bestandteil der regulären Lese- oder Predigttexte an den Sonn- und Feiertagen im Kirchenjahr; ebenfalls neu ist die Perikope aus Mt 24. Die beiden weiteren neutestamentlichen Texte begegneten auch bisher im Kirchenjahr (1Petr 5 in erweiterter Versauswahl am 15. Sonntag nach Trinitatis; 2Kor 8 an Christfest II), erhalten aber durch die Verortung am 9. November einen neuen und spezifischen Klang. Die Verleugnung des Petrus (Lk 22,[31–34.]54–62) erscheint auch am neu aufgenommenen 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, der generell große Ähnlichkeiten mit dem 9. November aufweist. Als Evangelientext an diesem Tag ist die bisher und auch in der neuen Ordnung ebenfalls dem Reformationsfest zugeordnete Perikope Mt 10,26b–28(29–31) vorgesehen, die die Frage nach Menschenfurcht und Gottesfurcht thematisiert. Aus den Episteln begegnen 1Joh 2,9–11 (Gebot der Bruderliebe) und Eph 4,25–32 (Weisungen für das neue Leben) als neue Texte. Aus dem Alten Testament wurden Gen 4,1–10 (Kain und Abel) sowie der neue Text Koh 8,10–14.17 (Das Schicksal der Gerechten und Ungerechten) als Texte für diesen Tag bestimmt. Zum ersten Mal wurden durch die Perikopenordnung auch zwei nicht-biblische Heilige in den Reigen der Feste und Gedenktage aufgenommen: Martin von Tours und Nikolaus von Myra. Die Frage nach dem Umgang mit dem Nächsten prägt den Martinstag und führte dazu, als Evangelium Mt 25,31–40 vorzusehen – ein Text, der auch am vorletzten Sonntag im Kirchenjahr begegnet. Das Evangelium für den Nikolaustag ist Mt 6,1–4, ein bislang nicht in der Perikopenordnung vorgesehener Abschnitt aus der Bergpredigt, der das Almosengeben zum Gegenstand hat. An den Sonn- und Feiertagen im Kirchenjahr begegnen folgende 13 neue neutestamentliche Texte, die hier zunächst in ihrer kanonischen Reihenfolge angeordnet werden: 7
Die vielfältigen Dimensionen, die das ›kulturelle Gedächtnis‹ am 9. November bestimmen, wurden in der Perikopenordnung bewusst auf das Gedenken der Novemberpogrome reduziert.
Die neuen neutestamentlichen Texte der Perikopenrevision
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Text (Predigtreihe)
Sonn- bzw. Feiertag
Mt 9,14–17 (II) – Die Frage nach dem Fasten
Aschermittwoch
Mt 26,36–46 (IV) – Jesus in Gethsemane
Reminiscere
Mk 5,24b–34 (V) – Die Heilung einer blutflüssigen Frau
4. Sonntag vor der Passionszeit
Mk 8,1–9 (II; neues Leseevangelium) – Die Speisung der Viertausend
Erntedankfest
Lk 6,27–38 (I) – Von der Feindesliebe und der Stellung zum Nächsten
Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres
Lk 13,10–17 (VI) – Die Heilung einer verkrümmten Frau am Sabbat
12. Sonntag nach Trinitatis
Lk 22,39–46 (V) – Jesus in Gethsemane
Gründonnerstag
Lk 22,47–53 (V) – Jesu Gefangennahme
Okuli
Lk 22,54–62 (VI) – Die Verleugnung des Petrus
Lätare
Joh 13,21–30 (III) – Jesus und der Verräter
Invokavit
Joh 18,28–19,5 (I) – Jesu Verhör vor Pilatus, Geißelung und Verspottung
Judika
Röm 11,17–24 (V) – Warnung an die Heidenchristen vor Überheblichkeit
Gedenktag der Zerstörung Jerusalems – 10. Sonntag nach Trinitatis (violett)
Hebr 13,1–3 (II) – Geschwisterliche Liebe, Gäste, Gefangene
7. Sonntag nach Trinitatis
In der Ordnung des Kirchenjahres ergibt sich folgendes Bild: Sonn- bzw. Feiertag
Text (Predigtreihe)
4. Sonntag vor der Passionszeit
Mk 5,24b–34 (V) – Die Heilung einer blutflüssigen Frau
Aschermittwoch
Mt 9,14–17 (II) – Die Frage nach dem Fasten
Invokavit
Joh 13,21–30 (III) – Jesus und der Verräter
Reminiscere
Mt 26,36–46 (IV) – Jesus in Gethsemane
Okuli
Lk 22,47–53 (V) – Jesu Gefangennahme
Lätare
Lk 22,54–62 (VI) – Die Verleugnung des Petrus
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(Fortsetzung) Sonn- bzw. Feiertag
Text (Predigtreihe)
Judika
Joh 18,28–19,5 (I) – Jesu Verhör vor Pilatus, Geißelung und Verspottung
Gründonnerstag
Lk 22,39–46 (V) – Jesus in Gethsemane
7. Sonntag nach Trinitatis
Hebr 13,1–3 (II) – Geschwisterliche Liebe, Gäste, Gefangene
Gedenktag der Zerstörung Jerusalems – 10. Sonntag nach Trinitatis (violett)
Röm 11,17–24 (V) – Warnung an die Heidenchristen vor Überheblichkeit
12. Sonntag nach Trinitatis
Lk 13,10–17 (VI) – Die Heilung einer verkrümmten Frau am Sabbat
Erntedankfest
Mk 8,1–9 (II; neues Leseevangelium) Die Speisung der Viertausend
Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres
Lk 6,27–38 (I) – Von der Feindesliebe und der Stellung zum Nächsten
Blickt man auf diese Liste, so zeigt sich, dass vor allem Texte aus den Passionserzählungen neu aufgenommen wurden. Die bisherige Perikopenordnung ging davon aus, dass Passionserzählungen in den Gemeinden an vielen Orten präsent sind – etwa in eigenen Passionsgottesdiensten oder Passionsandachten, die während der Woche gefeiert werden. Die Einsicht, dass diese spezifischen Feiern jenseits der Sonntagsgottesdienste selten geworden sind und – falls sie angeboten werden – nur von wenigen besucht werden, führte zu der Überlegung, an jedem der Sonntage der Passionszeit einen Text aus der Passionserzählung zu verorten, so dass sich – wie die nach dem Kirchenjahr geordnete Tabelle zeigt – eine Folge von Passionsgeschichten ergibt, die bis zum Geschehen am Gründonnerstag reichen. Die Texte finden sich in unterschiedlichen Predigtjahren und bieten so Jahr für Jahr den Anreiz, in den sieben Wochen der Passionszeit die Erzählungen von Jesu Weg in Jerusalem zu bedenken. Teilweise erweisen sich die Texte im Klangraum der jeweiligen Sonntage als eher widerständig, mindestens herausfordernd (etwa wenn am Sonntag Lätare die Verleugnung des Petrus bedacht werden soll). Teilweise fügen sie sich geschmeidiger in das Proprium ein (etwa die Erzählung von der Gefangennahme Jesu in der Lukas-Version am Sonntag Okuli, der insgesamt auf die Kreuzesnachfolge ausgerichtet ist; die Frage, was Nachfolge in herausgeforderter Situation heißt, wird in Lk 22 sehr deutlich: »Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen?«; V. 49). Neben den Passionserzählungen fällt eine zweite, kleinere Gruppe von neuen neutestamentlichen Texten auf, in denen Frauen im Mittelpunkt stehen: die Heilung einer blutflüssigen Frau nach Mk 5 und die Heilung einer verkrümmten
Die neuen neutestamentlichen Texte der Perikopenrevision
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Frau am Sabbat nach Lk 13. Die Perikopenrevision war u. a. auch mit dem seit vielen Jahren zurecht geäußerten Anliegen gestartet, mehr ›Frauentexte‹ in die Ordnung aufzunehmen. Bald zeigte sich freilich, dass die Bezeichnung ›Frauentext‹ nicht unproblematisch ist. Die Tatsache, dass eine Frau in einem biblischen Text vorkommt, macht diesen noch nicht eo ipso zu einem ›Frauentext‹. Entscheidender ist, dass es durch die Textauswahl gelingt, Lebenswirklichkeiten von Frauen (und Männern) deutlicher zu berücksichtigen, als dies in der bisherigen Ordnung der Fall ist. So ist Lk 8,1–3 ein Text, der in der 2014 vorgelegten Ordnung zur Erprobung enthalten war, aufgrund der Rückmeldungen aus dem Erprobungsverfahren deutlich abgelehnt wurde. Er sagt zwar, dass »etliche Frauen« (Lk 8,2) mit Jesus und den Zwölfen unterwegs waren, und nennt Maria Magdalena, Johanna und Susanna namentlich, erwies sich aber als wenig prädikabel. Außer dem Dass der Begleitung Jesu durch Frauen bietet der Text selbst wenige für eine Predigt relevante Aussagen. Das ist bei den beiden neuen Texten aus Mk 5 und Lk 13 zweifellos anders. Jesus lobt den Glauben der sogenannten blutflüssigen Frau (Mk 5,34) und bezeichnet die seit achtzehn Jahre verkrümmte Frau als »Abrahams Tochter« (Lk 8,16). Beide Heilungsgeschichten sind narrativ in einen Kontext eingeordnet, in dem die patriarchal strukturierte Gesellschaft gerade wegen der ›Marginalität‹ der Frauen ablehnend reagiert. Das dezidiert andere Verhalten Jesu ist durch die Zeiten in der Lage, dominante Machtstrukturen in Frage zu stellen. Die weiteren neuen neutestamentlichen Texte wurden aus anderen Gründen in die Ordnung aufgenommen: Am Erntedankfest war das bisherige Leseevangelium Lk 12,(13 f.)15–21 schon lange deutlicher Kritik ausgesetzt. Ausgerechnet an dem Tag, an dem nicht wenige Landwirte in die Kirchen kommen, konfrontiert man diese mit einem biblischen Text, der den »reichen Kornbauern« als »Narren« bezeichnet und notwendig vorausschauendes Agieren polemisch kritisiert. In der kleinen Revision angesichts der Einführung des Evangelischen Gottesdienstbuchs 1999 wurde der Perikope aus dem Lukas-Evangelium daher Mt 6,25–34 an die Seite gestellt (Jesu Aufruf zur Sorglosigkeit, der allerdings bereits am 15. Sonntag nach Trinitatis begegnet). Nun wurde Mk 8,1–9 (Speisung der Viertausend) als neues Leseevangelium ausgewählt. Am 7. Sonntag nach Trinitatis, dem »Brotsonntag« in der Trinitatiszeit, wurde mit Hebr 13,1–3 ein weiterer Text ausgewählt, der nicht nur zur brüderlichen Liebe ermahnt, sondern auch an Gen 18, den Besuch der drei Männer bei Abraham und Sara, erinnert und so die Testamente verbindet. Der Israelsonntag, 10. Sonntag nach Trinitatis, erhielt in der revidierten Ordnung zwei Proprien: eines, das die Verbindung von »Kirche und Israel« bedenkt, und eines, das den traditionellen »Gedenktag der Zerstörung Jerusalems« aufnimmt und daher die Farbe violett als Farbe der Buße trägt. Für diesen Tag
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wurde Röm 11,17–24, die Warnung des Paulus vor heidenchristlicher Überheblichkeit, als neuer neutestamentlicher Text ausgewählt. Der drittletzte Sonntag im Kirchenjahr wurde in der Perikopenrevision auf das Thema »Frieden« fokussiert und erhielt mit Lk 6,27–38 einen dazu passenden weiteren Evangelientext. Vor allem bei der Neuaufnahme zahlreicher Passionserzählungen, aber auch bei den beiden neuen Texten, in denen Frauen im Mittelpunkt stehen, zeigt sich, dass auch das Neue Testament bislang ungehobene Schätze bietet. Es dürfte sich lohnen, im Miteinander von Neutestamentlern und Praktischen Theologen genau danach in den kommenden Jahren zu fragen.
3. Skandal und Konvention – Zum Umgang mit neutestamentlichen Texten in der einen Heiligen Schrift Es kann den Anschein erwecken, dass es sich beim Neuen Testament um das vernachlässigte Testament der Perikopenrevision handelt – obwohl auch aus dem Neuen Testament neue Texte aufgenommen und die bisherigen kritisch bedacht wurden. Angesichts dieser Situation geht es m. E. (1) um die Erarbeitung einer liturgischen Hermeneutik, die die Testamente nicht auseinanderreißt, sondern in ihrem Zusammenhang bedenkt, und (2) um die Neuentdeckung des skandalösen, in jedem Fall provozierenden Inhalts des Neuen Testaments.
3.1 Eine liturgische Hermeneutik der einen Bibel Martin Luthers Bibelausgabe trug den Titel »Biblia: Das ist: Die gantze Heilige Schrift«. Die neuzeitliche Entwicklung zu einem dominanten historischen Paradigma bedeutete eine historische Differenzierung, die bald auch zu qualitativen Urteilen führte. So betont bekanntlich Schleiermacher in seiner Glaubenslehre, dass die historisch vor-christlichen alttestamentlichen Texte »die normale Dignität oder die Eingebung der neutestamentischen« nicht teilen könnten – und verbindet dazu inhaltliche und formale Argumente.8 Für ihn gilt:
8
Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (21830/31). Hrsg. v. Rolf Schäfer, Berlin/ New York 2008, § 132, 337–341, 337.
Die neuen neutestamentlichen Texte der Perikopenrevision
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»[…] so ist im Ganzen nicht zu läugnen, daß der fromme Sinn der evangelischen Christen im Ganzen einen großen Unterschied zwischen beiderlei heiligen Schriften anerkennt […].«9
Die problematische Linie der Abwertung des Alten Testaments, die damit einhergehen konnte, lässt sich bis zu Notger Slenczkas Überlegungen aus dem Jahr 2013 verfolgen. Auf diesem Hintergrund ist die neue Betonung der Bedeutung des Alten Testaments in der Perikopenordnung m. E. nur allzu berechtigt.10 Es sollte keinen Sonntagsgottesdienst geben, in dem nicht auch das Alte Testament gelesen wird. Schließlich wurde das Neue Testament nie geschrieben, um die einzige Quelle des Christlichen zu sein und hinge keineswegs nur historisch, sondern vor allem theologisch in der Luft, wenn es das Alte Testament nicht gäbe. Gleichzeitig aber geht es m. E. gegenwärtig darum, bei aller Berechtigung historischer Nachfrage, Hermeneutiken wahrzunehmen bzw. neu zu entwickeln, die die historische Linearität hinter sich lassen und das Miteinander der Texte zum Ausgangspunkt des Verstehens machen. In den Jahren der Perikopenrevision erwies sich dabei die Metapher des Textraums für die Arbeit an den Proprien als hilfreich. An einem Sonn- oder Feiertag im Kirchenjahr treten biblische Texte, die literarisch-genetisch in aller Regel nichts miteinander zu tun haben, in ein Wechselspiel. Dies gilt vor allem für die drei Lesungstexte, den jeweiligen Predigttext, den Spruch der Woche/des Tages und den Psalm (sowie die Hallelujaverse, wo sie denn liturgisch Verwendung finden). Ein Textraum ist ein einerseits traditionell vorgegebener, andererseits durch die Revisionen der Perikopenordnung bewusst gestalteter biblischer Begegnungsraum, in dem sich ein intertextuelles Wechselspiel ereignet, das die einzelnen Texte verändert. So kommt etwa am 2. Sonntag nach Epiphanias der johanneische Jesus (Hochzeit zu Kana, Joh 2,1–11) mit Mose, der die Herrlichkeit Gottes schauen will (Ex 33,18–23), und Paulus, der auf seine auf das Kreuz fokussierte Verkündigung »in Furcht und mit großem Zittern«, aber zugleich »in Erweisung des Geistes und der Kraft« (1Kor 2,1–10; Zitate: V. 3 und V. 4) verweist, zusammen. Die Frage, wie sich Gottes Herrlichkeit zeigt (die große Epiphanias-Frage), oszilliert an diesem Sonntag zwischen erfahrbarer Präsenz der Herrlichkeit (»Zeichen«, Joh 2,11) und Verborgenheit des Geheimnisses Gottes (»[…] du darfst hinter mir her sehen«, Ex 33,23; die »Weisheit Gottes, die im Geheimnis verborgen ist«, 1Kor 2,7) – und jeder einzelne Text gewinnt an Reichtum, wenn er mit Blick auf die anderen wahrgenommen wird.11 9 10
11
A. a. O., 339. Vgl. dazu auch grundlegend Jürgen Ebach, Das Alte Testament als Klangraum des evangelischen Gottesdienstes, Gütersloh 2017. Dabei ist es freilich nochmals sehr offen, was die Gottesdienst Feiernden aus diesem Wechselspiel der Texte ›mitnehmen‹ bzw. ob und wie sie es überhaupt wahrnehmen. In
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In der Exegese wurden synchrone Auslegungen von Texten vielfach ins Methodenrepertoire übernommen, wobei der liturgische Textraum dabei weit weniger hermeneutisch bedacht wird, so dass an dieser Stelle ein Desiderat exegetischer Forschung und ein anregender Ort für exegetisch-praktisch-theologische Forschungsprojekte besteht.12 Aber auch in der Homiletik wäre es ebenso nötig wie anregend, diese Wechselseitigkeit noch stärker als bisher aufzunehmen und das Eigene des Predigttextes bewusst im Kontext der weiteren Texte des Sonn- oder Feiertags zur Sprache zu bringen. Die Chance evangelischer Predigt im gottesdienstlichen Kontext liegt darin, Idion und Proprium zu verschränken. Den Begriff »Idion« prägte der Erlanger Praktische Theologe Manfred Seitz und verstand darunter das spezifisch Eigene eines biblischen Textes in inhaltlicher und formaler Perspektive. Dieses Eigene ist in einer liturgischen Hermeneutik im Kontext des Klangraums der weiteren Texte wahrzunehmen. Eine Predigt, die Idion und Proprium verbindet, kommt aus dem gemeinsam gefeierten Gottesdienst, ist als Rede zu einem biblischen Text etwas anderes als die bisherige Feier, führt aber dann zurück in den gefeierten Gottesdienst. Gerade so erwiese sie sich als »Unterbrechung des Ritus im Kontext des Ritus« (Michael Meyer-Blanck).13
3.2 Das Provokativ-Skandalo¨se des Neuen Testaments Es geht nie nur darum, welche Texte in einer Ordnung der gottesdienstlichen Texte und Lieder vorkommen, sondern darum, wie sie gelesen und gepredigt werden. Vielleicht leiden gerade neutestamentliche Texte unter einer zu großen Bekanntheit (was vor allem für die narrative Überlieferung der Evangelien gelten dürfte) oder einer zu starken Einebnung von Begriffen in eine Konventionalität des Verstehens (was vor allem im Blick auf die Epistelteste gelten dürfte). So war das »Gleichnis vom verlorenen Sohn« zweifellos ein herausragendes narratives Ereignis, als Jesus es erstmals erzählte – und bleibt es für jeden und jede, der
12
13
den empirischen Studien zum Gottesdienst wird bislang immer wieder deutlich, dass die Lesungen in qualitativen Befragungen »kaum von sich aus angesprochen [werden], und die Frage nach ihnen […] meist nur einen geringen Erzählimpuls [bietet]« (Uta PohlPatalong, Gottesdienst erleben. Empirische Einsichten zum evangelischen Gottesdienst, Stuttgart 2011, 131). Genauere Studien zur Rezeption der Lesungen sind methodisch schwierig und liegen bislang nicht vor. Vgl. dazu auch Martin Nicol, Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, Göttingen 22005, 83–85. Michael Meyer-Blanck, Ritus und Rede. Eine Verhältnisbestimmung auf dem Hintergrund ökumenischer Theologie, in: Alexander Deeg u. a. (Hrsg.), Gottesdienst und Predigt – evangelisch und katholisch, EKGP 1, Neukirchen-Vluyn 2014, 11–39, 22.
Die neuen neutestamentlichen Texte der Perikopenrevision
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und die es zum ersten Mal hört oder erzählt bekommt. Als Leseevangelium am 3. Sonntag nach Trinitatis dürfte es aber für nicht wenige Gottesdienstbesucherinnen und -besucher ein eher allzu bekannter, recht langer und in seiner Pointe alles andere als überraschender Text sein, der sich zudem in gängigen Bildern von einem guten Jesus und einem beinahe schon langweilig gnädigen Gott ergeht. Im Blick auf die Epistelüberlieferung besteht die größte Gefahr wohl darin, die dort vorkommenden Begriffe zu schnell einzuordnen. Glaube, Friede, Gnade, Hoffnung, Herrlichkeit, Bedrängnis, Geduld, Bewährung, Liebe Gottes – die Liste dieser Begriffe, die alle in Röm 5,1–5 (Epistel an Reminiszere) begegnen, lässt wohl eher einen gewissen »kirchlichen Sound« erklingen, anstatt als direkt ansprechende, unmittelbar lebensrelevante oder herausfordernde Botschaft gehört zu werden. Entscheidend dürfte es sein, dass das Neue Testament nicht in die Konventionalität eingeebnet, sondern in seinem provokativen, teilweise skandalösen Potential neu entdeckt wird. Dies gilt zu allererst für die Episteltexte, die in den vergangenen Jahren immer wieder unter besonderer Kritik standen. Entsprechend wurden allerdings auch einige Plädoyers für die Episteltexte geschrieben.14 So betont Ulrich H.J. Körtner, dass die Briefe des Neuen Testaments »den Kern des neutestamentlichen und damit des gesamtbiblischen Werdens der Schrift, der Kanonisierung ihrer Einzelschriften wie auch der Idee ihrer inneren Einheit bilden«.15 Sie stünden nicht nur historisch am Beginn der Kanonisierung der Bibel, sondern markierten durch die Art und Weise ihrer Verbindung von Christusgeschehen und alttestamentlichen Texten die innere Logik des gesamten Kanons. In praktischer Hinsicht seien sie »öffentliche Briefe« für die »versammelte Gemeinde« und stünden somit am Ausgangspunkt des christlichen Gottesdienstes als »primäre[m] Ort der Rezeption und Interpretation biblischer Texte«.16 Für die gegenwärtige Predigt hätten Episteltexte aber schlicht auch deshalb Bedeutung, weil sie »ein Gegengift gegen die Banalisierung des Glaubens« darstellen und zum Denken herausfordern.17 Körtner fordert, ausgehend von den Episteltexten die »Lehrpredigt« neu zu etablieren.18 An dieser Stelle ist der Leipziger Dichter und Theologe Christian Lehnert vorsichtiger. Er sieht Paulus weit mehr als Dichter denn als Systematiker und Denker. Paulus spreche 14
15
16 17 18
Vgl. neben den im Folgenden genannten Ulrich H.J. Körtner und Christian Lehnert z. B. auch Ulrich Wilckens, Freude an der Epistelpredigt, in: GPM 64 (2009/2010), 2–5. Ulrich H.J. Körtner, Ein Brief Christi oder: Was hilft eine systematisch-theologische Schriftlehre für die Predigt der Episteltexte, in: GPM 64 (2009/2010), 372–378, 375. Ebd. A. a. O., 378. Ebd.
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»von Herzen, überstürzt und ins Unreine geredet, er korrigiert sich und treibt damit alles wieder ins Unreine weiter. […] Hier sucht jemand nach Worten für etwas, das er um Himmels willen nicht verschweigen kann.«19
Daher auch vertrügen Predigten zu diesen Briefen keine »Lehrsätze« oder »Systembildungen«, »keine allzu große Sicherheit in der Sprache«.20 Gleichzeitig meint Lehnert, die Briefe des Neuen Testaments seien »die ideale literarische Form für das christliche Selbstverständnis zwischen umfassender Zeitgenossenschaft und dem Wissen, nicht dieser Zeit anzugehören«.21
Näher an die Anfänge des ›Christlichen‹ kommt man nicht heran als durch die Briefe des Neuen Testaments, allen voran die Paulusbriefe. Hier zeigt sich Theologie im Entstehen, vorsichtiger und mit Lehnert gesprochen: ein erstes Tasten und Suchen nach Worten und das Finden erster Haltepunkte in der Sprache, erster Leitern und Gerüste. In diesem Bild könnte die Lesung der Episteltexte bedeuten, uns aus der Sicherheit der fest gebauten dogmatischen Häuser bzw. des selbst zusammengezimmerten eigenen Glaubenshauses immer wieder hinauszuführen in die Anfänglichkeit des Denkens und die Suche nach einer Lebensgestaltung, die dem Bekenntnis zu Jesus als dem Christus entspricht. In Zeiten, in denen die Selbstverständlichkeit des Christlichen erodiert, erschiene genau diese Haltung einladend und verheißungsvoll für die Kirche der Gegenwart. Freilich müssten dann auch Lektorinnen und Lektoren diesen Charakter der Episteltexte hörbar werden lassen. Die Aufgabe der Exegese scheint mir in diesem Zusammenhang zu sein, Konventionen des Verstehens immer neu zu zerschlagen. Marco Frenschkowski gelingt dies – nicht nur, aber auch durch seine religionsgeschichtlichen Forschungen – immer wieder auf herausragende Weise. Die fremde Welt des Neuen Testamentes wahrzunehmen, hilft auch das Überraschende, Fremde und Skandalöse an diesen Texten neu zu sehen. In einer Diskussion im Rahmen einer Dissertationsverteidigung an der Theologischen Fakultät im Sommer 2019 ging es um die Frage nach der Attraktivität des Christentums in den ersten Jahrzehnten seines Entstehens. Es wurden einige Erklärungen bemüht: der Egalitarismus der neu entstehenden Gemeinschaften, die überzeugende diakonische Praxis etc. Frenschkowski meinte dann – augenzwinkernd –, ob die Attraktivität nicht vielleicht darin bestand, dass man im Christentum einfach die »cooleren Wundertäter« hatte. Ge19
20 21
Christian Lehnert, Nur ein Augenblick noch. Meine Freude an Paulusbriefen, in: GPM 64 (2009/2010), 134–142, 137. Ebd. A. a. O., 142.
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nau von dieser Art ist die Provokation, die die Exegese immer neu einzuspielen hat, damit Theologie spannend und unterwegs bleibt und es gelingt, was in einem beinahe schon klassischen Zitat Walter Benjamin forderte: »In jeder Epoche muss versucht werden, die Ueberlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.«22
22
Walter Benjamin, Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 19. Über den Begriff der Geschichte. Hrsg. v. Raulet Gérard, Frankfurt a. M. 2010, 84.
Das Urbild der himmlischen Tafel (al-lauh al-mahfu¯z/ )ﺍﻟ ّﻠ ْﻮﺡ ﺍ ْﻟ َﻤﺤ ُﻔﻮﻅals 1 ˙¨ res Fundament ˙ ˙ imagina des Islams Naghmeh Jahan
Einfu¨hrung Der Islam ist eine Schriftreligion par excellence, deren Zentrum die Heilige Schrift (der Koran) bildet. Nach dem islamischen Verständnis gilt der Koran als die authentische wörtliche Offenbarung Gottes, dessen Ursprung auf eine bei Gott befindliche himmlische Originalschrift (in Form einer Ur-Tafel) zurückgeführt wird. »Viele Muslime glauben, der Koran existiere im Himmel als himmlisches Urbild bzw. sogar als eine Art ›Urexemplar‹«,2 mit diesen Worten beschreibt Prof. Frenschkowski das islamische Verständnis vom Koran. Darum geht es auch bei dem Thema des vorliegenden Beitrags, um die Vorstellungen vom Ur-Koran im Koran und in der frühislamischen Theologie. Im Folgenden werden zunächst die koranischen Selbstaussagen, die mit der Vorstellung von der himmlischen Tafel oder Urschrift assoziiert sind, dargestellt (1. und 2.). Danach werden die Weiterentwicklungen dieser Idee in der frühislamischen Theologie aufgezeigt (3. und 4.). Der Beitrag wird dann mit dem Resümee der Darstellungen abgeschlossen (5.).
1. Die Offenbarung des Korans Nach der islamischen Überlieferung empfing Mohammed im Jahr 610 seine erste Offenbarung in einer Höhle auf dem Gebirge von al-Ḥira in der Nähe von Mekka, wohin er sich regelmäßig zur Meditation zurückzog. In der islamischen Tradition 1
2
Das Thema des vorliegenden Beitrags wurde in einem Teil der Dissertation der Verfasserin mit dem Thema »Das Konzept des ewigen transzendenten Buches und seine historisch bedingten Modifikationen vom Alten Orient über das Judentum, das Christentum und den Islam« ausführlich behandelt. Marco Frenschkowski, Heilige Schriften der Weltreligionen und religiösen Bewegungen, Wiesbaden 2017, 21.
228
Naghmeh Jahan
werden die ersten fünf Verse der 96. Sure3 als die erste Offenbarung an Mohammed begriffen, von denen zwei Verse (V. 1 und 4) für die frühislamischen Tafelvorstellungen von erheblicher Bedeutung sind: In V. 1 wird Mohammed vom Mittlerengel aufgefordert, die ihm übermittelte göttliche Botschaft vorzutragen. Dabei erfolgt die Übermittlung nicht visuell, sondern auditiv: ِ ﭐ ۡﻗ َﺮ ۡﺃ ِﺑﭑ ۡﺳ ِﻢ َﺭﺑّ َﻚ ﭐﻟَّ ِﺬﯼ َﺧﻠَ َﻖ »Trag vor im Namen deines Herrn, der schafft.«4
Nach der islamischen Tradition bildet dieser Vers »quasi den Auftakt des Korans«.5 Grammatikalisch ist die Bezeichnung »qurʾān/( «ﻗﺮﺁﻥLesung, Rezitation) eine Substantivbildung zum Verbum qraʾ/( ﻗﺮﺃlesen, vortragen), etymologisch wird sie jedoch als ein Lehnwort aus dem syrischen Begriff qeryānāʾ/ (Lektionar, Perikope oder Schriftlesung) vermutet.6 Der Koran gilt somit als ein »schriftlich fixiertes mündliches Wort Gottes«.7 Nach seinem Selbstverständnis ist er »ein Buch mit liturgischen Rezitationstexten ›in klarem Arabisch‹ [bi-lisānin ʿarabiyyin mubīnin/] ِﺑﻠِ َﺴﺎ ٍﻥ َﻋ َﺮ ِﺑ ٍّﯽ ُّﻣ ِﺒﻴ ٍﻦ8«.9 Für Muslime ist die Rezitation des Korans die Vergegenwärtigung des Wortes Gottes bzw. der mündlichen Verkündigung Mohammeds.10 3
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In diesem Beitrag wird auf eine chronologische bzw. historisch-kritische Untersuchungsmethode des Korantextes verzichtet. Der Koran wird als ein in sich abgeschlossenes Buch vorausgesetzt. Die Übersetzung der Koranzitate – wenn nicht anders vermerkt – erfolgt nach Hans Zirker, Der Koran. Übersetzt und eingeleitet, Darmstadt 42013. Bertram Schmitz, Selbstbeweis und Selbsttranszendierung im Koran als religionswissenschaftliches Phänomen, in: Armenuhi Drost-Abgarjan/Jens Kotjatko-Reeb/ Jürgen Tubach (Hrsg.), Vom Nil an die Saale. Festschrift für Arafa Mustafa, Halle 2008, 367–385, 370. Vgl. William A. Graham, Art. Orality, in: EQ Bd. 3, 2003, 584–587, 584 f.; vgl. Kurt Bangert, Muhammad: Eine historisch-kritische Studie zur Entstehung des Islams und seines Propheten, Wiesbaden 2016, 310 f. Abdullah Takım, Grundlegung einer islamischen Religionspädagogik im europäischen Kontext, in: Yaşar Sarıkaya/Franz-Josef Bäumer (Hrsg.), Aufbruch zu neuen Ufern. Aufgaben, Problemlagen und Profile einer islamischen Religionspädagogik im europäischen Kontext, Studien zur Islamischen Theologie und Religionspädagogik 2, Münster 2017, 95–136, 120. Sure 26,195. Karl Prenner, Islam, in: Johann Figl (Hrsg.), Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen, Innsbruck 2003, 436–445, 441. Vgl. Michael Marx, Der Koran. Das erste arabische Buch. Araber in der Antike, in: RoJKG 31 (2012), 25–48, 47.
Das Urbild der himmlischen Tafel (al-lauh al-mahfu¯z/)ﺍﻟﻠّ ْﻮﺡ ﺍﻟْ َﻤﺤ ُﻔﻮﻅ ˙ ˙ ˙
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Der interessante Punkt ist hier, dass die Offenbarung Gottes an Mohammed primär nicht mündlich vermittelt wird. Denn der Mittlerengel überbringt Mohammed eine bereits schriftlich-fixierte Botschaft, die als eine Textvorlage der himmlischen Urschrift bzw. Tafel zu imaginieren ist.11 Nach Neuwirth stehe hier die Schrift »als virtuelle Vorlage des Verkünders im Hintergrund«.12 Weiter in V. 4 ist von einem Schreibrohr (qalam/ ) َﻗﻠَﻢdie Rede: ﭐﻟَّ ِﺬﯼ َﻋﻠَّ َﻢ ِﺑﭑ ۡﻟ َﻘﻠَ ِﻢ »[E]r [Gott] hat mit dem Schreibrohr gelehrt« oder nach einer alternativen Übersetzung »der den Gebrauch des Schreibrohrs gelehrt hat«.13
Es ist nicht deutlich, was genau mit dem Schreibrohr (qalam/ ) َﻗﻠَﻢin diesem Vers gemeint ist. Einerseits werden in diesem Vers Anspielungen auf die Schreibkunst »als eine dem Menschen von Gott beigebrachte Kunstfertigkeit«14 gesehen, andererseits wird er auf den Offenbarungstext bezogen.15 In diesem Fall könnte mit dem Schreibrohr ein himmlisches Werkzeug gemeint sein, mit dem Gott die zu rezitierende himmlische Textvorlage gelehrt bzw. geschrieben hat.16 Ein Bezug des Schreibrohrs zum himmlischen Schreibakt ist in Sure 68,1 zu vermuten: َﻭﭐ ۡﻟ َﻘﻠَ ِﻢ َﻭ َﻣﺎ َﻳ ۡﺴ ُﻄ ُﺮﻭ َﻥ »Beim Schreibrohr und dem, was sie niederschreiben!«
Wer die Schreiber sind oder was sie schreiben, wird nicht weiter ausgeführt. Paret sieht hier neben den beiden Deutungen des Schreibrohrs in Sure 96,4 eine dritte Interpretationsmöglichkeit. Demnach könnte mit dem Schreibrohr in Sure 68,1 der himmlische Schreibakt bzw. die himmlische Aufzeichnung der Taten gemeint sein.17 Dagegen ist Neuwirth der Ansicht, dass das Schreibrohr im Koran ausschließlich als himmlisches Instrument vorkomme.18
11
12 13 14 15 16 17 18
Vgl. Angelika Neuwirth, Der Koran, Bd. 1. Frühmekkanische Suren, Berlin 2011, 258 f.; 267. A. a. O., 270. Rudi Paret, Der Koran. Kommentar und Konkordanz, Stuttgart 1980, 515. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Neuwirth, Der Koran Bd. 1 (s. Anm. 11), 270. Vgl. Paret, Der Koran (s. Anm. 13), 515 f. Vgl. Neuwirth, Der Koran Bd. 1 (s. Anm. 11), 270.
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In den klassischen exegetischen Werken wird Sure 68,1 oft mit Bezug auf die himmlische Tafel ausgelegt. Der qalam/( َﻗﻠَﻢin Sure 68,1 und 96,4) wird u. a. in Verbindung mit dem himmlischen Schreibakt verstanden, der sich entweder auf den Ur-Koran oder auf die himmlische Aufzeichnung der Taten und der Schicksale bezieht.19
2. Selbstaussagen und Selbst-Imagination des Korans Der Koran gilt als eine selbstreferenzielle Schrift. Denn er bezieht sich oft auf sich selbst. Das bedeutet: Er ist häufig selbst das Thema der Botschaft, die er seinen Hörern und Lesern mitteilt. »Er ist Träger und Inhalt der Botschaft.«20 In der Selbstreferenzialität des Korans äußert sich sein Selbstbild bzw. seine Vorstellung von sich selbst. »[I]m Selbstverständnis des Korans beweist dieser seine eigene transzendente Existenz und seinen eigenen göttlichen Offenbarungscharakter in unwiderlegbarer Weise.«21 Das Selbstbild und Selbstverständnis des Korans kommt deutlich in seinen Selbstbezeichnungen bzw. in der Art, wie er von sich selbst spricht und sich präsentiert, zum Ausdruck. So beschreibt er sich und seine Speichermedien mit erhabenen und bildhaften Termini. Er bezeichnet sich z. B. als »ein edler Koran, in verborgener Schrift«22 (qurʾānun karīmun fī kitābin maknūnin/ُﻗﺮﺀﺍ ٌﻥ َﻛﺮﻳ ٌﻢ ِﻓﻲ ِﻛﺘﺎ ٍﺏ ) َﻣ ْﻜﻨﻮﻥ, »Mutter der Schrift«23 (umm al-kitāb/)ﺃُ ُّﻡ ﺍ ْﻟ ِﻜ َﺘﺎﺏ, »Buch Gottes«24 (kitāba Allāhi/) ِﻛﺘ َﺐ ﺍﻟّﻠ ِﻪ, »ein rühmenswerter Koran auf wohlverwahrter Tafel«25 (qurʾānun maǧīdun fī al-lauh ̣in al-mah ̣fūz ̣in/) ُﻗ ۡﺮ َﺀﺍﻥ َّﻣ ِﺠﻴ ٌﺪ ِﻓﯽ ﻟَ ۡﻮ ٍﺡ َّﻣ ۡﺤ ُﻔﻮ ٍﻅ, »erinnernde Mahnung […] auf geehrten Blättern«26 (taḏkiratun […] fī s ̣uh ̣ufin mukarramatin/َﺗ ْﺬﻛﺮ ٌﺓ ]…[ ﻓﻲ 27 ٍ ﺻ ُﺤ ﻒ ُﻣ َﻜ َّﺮ َﻣ ٍﺔ ُ ) etc. Diese koranischen Selbstaussagen sind für die islamischen Vorstellungen vom Ur-Koran von zentraler Bedeutung. Insbesondere werden die drei koranischen Selbstbezeichnungen »die Mutter der Schrift«, »die verborgene Schrift«
19
20 21 22 23 24 25 26 27
Vgl. Adel Theodor Khoury, Der Koran. Arabisch-Deutsch. Übersetzung und wissenschaftlicher Kommentar, Bd. 12. Sure 58,1–114,6, Gütersloh 2001, 198. Bangert, Muhammad (s. Anm. 6), 459. Schmitz, Selbstbeweis und Selbsttranszendierung im Koran (s. Anm. 5), 367 f. Sure 56,77 f. Sure 43,4; 13,39; 3,7. Sure 35,29. Sure 85,21 f. Sure 80,11 f. Vgl. Daniel A. Madigan, The Qur’ân’s self-image, writing and authority in Islam’s scripture, Princeton NJ 2001, 37 f.
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und »die wohlverwahrte Tafel« mit dem himmlischen Original des Korans identifiziert. Im Islam wird der Koran »nicht als Ergebnis religiöser Denkprozesse Mohammeds«28 gesehen. Mohammed fungiert primär als der Übermittler der koranischen Offenbarung. »Der in arabischer Sprache verkündigte Text wurde zunächst vorgetragen und von der ersten Gemeinde gehört, aber auch nachgesprochen (re-zitiert).«29 Erst nach Mohammeds Tod erfolgte die Verschriftlichung und Redaktion des Korans. Im Islam werden die Sammlung und Kanonisierung des Korans als Werk der drei ersten Kalifen angesehen. Unter dem dritten Kalifen ʿUṯmān ibn ʿAffān (574–656) fand schließlich die letzte Redaktion des offiziellen und überall gültigen Korantextes statt. Der ʿuṯmān’sche Korankanon wird mush ̣af/( ﻣﺼﺤﻒCodex) genannt, der als physisch-materialisierte Form des Ur-Korans betrachtet wird.30 Parallel zur Sammlung und Redaktion des Korantextes entwickelte sich auch eine zunehmende Hochachtung im Umgang mit dem Koran (mush ̣af)31 als dem »irdischen Reflex einer himmlischen Offenbarungsschrift«.32 Ein Beispiel dafür ist Sure 56,77–79, wo es von »dem edlen Koran, in verborgener Schrift« heißt, dass sie nur von den Gereinigten berührt werden darf ) َّﻻ َﻳ َﻤ ُّﺴ ُﻪۥٓ ﺇِ َّﻻ ﭐ ۡﻟ ُﻤ َﻄ َّﻬ ُﺮﻭ َﻥ. Nach einer Deutung (lā yamassuhū ʾilla l-mutahharūna/ ̣ werden unter dem Begriff mutahharūn/ ̣ ( ُﻣ َﻄ َّﻬ ُﺮﻭﻥGereinigte) u. a. die Engel verstanden, die frei von Sünden sind und als Vermittler der göttlichen Offenbarungsschrift dienen. In einer anderen Deutung wird mutahharūn/ ̣ ُﻣ َﻄ َّﻬ ُﺮﻭﻥin Bezug auf den Umgang mit dem Koran (mush ̣af) verstanden. So heißt es, dass der Koran nur im rituell reinen Zustand (tahāra/ ̣ )ﻃﻬﺎﺭﺓberührt werden dürfe.33
28 29 30
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32 33
Frenschkowski, Heilige Schriften (s. Anm. 2), 136. Marx, Der Koran (s. Anm. 10), 46 f. Vgl. Dorothea Krawulsky, Eine Einführung in die Koranwissenschaften: ʻUlūm alQurʾān. Welten des Islams, Bern u. a. 2006, 145; zur ausführlichen Darstellung der Sammlung und Kanonisierung des Korans s. Bangert, Muhammad (s. Anm. 6), 362–371; vgl. Adel Theodor Khoury, Der Koran. Arabisch-Deutsch. Übersetzung und wissenschaftlicher Kommentar, Bd. 1. Sure 1,1–2,74, Gütersloh 1990, 71–79. Vgl. Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2000, 202. Frenschkowski, Heilige Schriften (s. Anm. 2), 136. Vgl. Hartmut Bobzin, Der Koran. Eine Einführung, München 72007, 66 f.; vgl. Adel Theodor Khoury, Der Koran. Arabisch-Deutsch. Übersetzung und wissenschaftlicher Kommentar, Bd. 11. Sure 37,1–57,29, Gütersloh 2000, 560. Der Reinheitszustand bezieht sich sowohl auf innerliche als auch auf äußerliche Reinheit. Vgl. z. B. Al-Qurt ̣ubī, ğāmiʿ al-ah ̣kām, Komm. zu Sure 56,79.
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Auch die sprachliche Ästhetik bzw. die schöne Rezitation des Korantextes sowie die Kalligraphie seiner Verse sind Ausdruck der Hochachtung und Ehrerbietung der Muslime gegenüber ihrer Heiligen Schrift.
3. Transzendenz und Pra¨existenz des Korans Die himmlische Tafel bzw. die göttliche Urschrift spielte bereits seit den Anfängen des Islams in zwei theologisch-philosophischen Debatten eine wichtige Rolle: 1. Prädestination und freier Wille34 und 2. Erschaffenheit und Unerschaffenheit des Korans.35 Allein die Vorstellung vom Ur-Koran impliziert eine Präexistenzvorstellung. Bereits im 8.–9. Jh. gehört die ontologische Frage nach dem Wesen des Korans bzw. die Frage nach dessen transzendenter und präexistenter Natur zu den wichtigen Diskussionsthemen der islamischen Theologen. Heftig diskutiert wurde v. a. die Frage, ob der Koran ewig und unerschaffen oder erschaffen sei. Die Grundlage für die Idee des ewigen und unerschaffenen Korans bildeten die koranischen Ausdrücke »die wohlverwahrte Tafel« bzw. »die Mutter der Schrift«. Dabei wurde der Koran als die Materialisierung dieses himmlischen Originals begriffen, das sich seit Ewigkeit her bei Gott befindet.36 Des Weiteren etablierte sich im 9. Jh. das islamische Dogma vom Wundercharakter bzw. der Unnachahmlichkeit des Korans (iʿǧāz al-qurʾān/)ﺇﻋﺠﺎﺯ ﺍﻟﻘﺮﺁﻥ, das besagt, dass der Koran in Bezug auf seinen Inhalt und Sprachstil unnachahmlich bzw. wunderhaft sei. Außerdem sollte die iʿǧāz-Lehre Mohammeds prophetische Sendung legitimieren, indem sie den Koran als das von ihm vollbrachte Wunder erklärte.37 Die Hauptvertreter der Lehre von der Erschaffenheit des Korans (ḫalq al-qur’ān/ )ﺧﻠﻖ ﺍﻟﻘﺮﺁﻥwaren die Muʾtaziliten, während die Lehre von der Unerschaffenheit 34
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Die frühesten Debatten zu diesem Thema fanden Ende des 7. Jhs. zwischen den philosophischen Denkschulen der Qadarīya/ ﻗﺪﺭﻳﺔund ihrer Kontrahentin Ǧabrīya/ﺟﺒﺮﻳﺔ statt. Siehe dazu W. Montgomery Watt, Free Will and Predestination in Early Islam, London 1948; Shams uz Zaman, Art. Fate Destiney (Taqdeer), in: Islam. A Worldwide Encyclopedia, Bd. 2, 2017, 457–461; Hans-Michael Haußig, Islam, in: Karl E. Grözinger (Hrsg.), Religionen und Weltanschauungen. Werte, Normen, Fragen in Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus/Buddhismus, Esoterik und Atheismus, Bd. 3, Berlin 2009, 21 f. Vgl. Robert Wisnovsky, Art. Heavenly Book, in: EQ Bd. 2, 2002, 412. Vgl. Lirim Selmani, Die arabische linguistische Tradition, in: Ludger Hoffmann (Hrsg.), Sprachwissenschaft. Ein Reader, Berlin u. a. 2019, 192–218, 195 f. Vgl. Anton Grabner-Haider/Johann Maier/Karl Prenner, Kulturgeschichte des frühen Mittelalters. Von 500 bis 1200 n. Chr., Göttingen 2010, 255.
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des Korans (ġair maḫlūq/ )ﻏﻴﺮ ﻣﺨﻠﻮﻕvon den Hadith- und Rechtsgelehrten vertreten wurde. Zwar wurde die Lehre von der Erschaffenheit des Korans zuerst ausgesprochen, jedoch war offenbar die Idee der Präexistenz und Unerschaffenheit des Korans viel früher entstanden. Nach der islamischen Überlieferung sei Ibn ʿAbbās (gestorben 687), ein Gefährte Mohammeds, der erste gewesen, der die Unerschaffenheit des Korans behauptete.38 Um die beiden gegensätzlichen Positionen zu versöhnen, wurden diverse Kompromissformeln entwickelt. In einer Kompromissformel, die in der islamischen Theologie mehr oder weniger standhalten konnte, hieß es, dass die eigentliche Gottesrede, da sie reiner Inhalt und somit unwandelbar sei, als ungeschaffen und urewig bezeichnet werden könne. Jedoch sei alles, was ein sprachliches Gewand annehme, wie z. B. der arabische Koran als Druckfassung der himmlischen Urschrift, geschaffen.39 Heute gehört die Lehre der Unerschaffenheit zum festen Dogmenbestand des sunnitischen Islams.40 Die Schiitischen dagegen vertreten die Ansicht, dass der Koran als göttliche Rede (kalām-ullah/ )ﻛﻼﻡ ﺍﻟﻠﻪein Merkmal Gottes sei, weshalb er weder geschaffen noch Schöpfer sei.41 Somit setzte sich die Vorstellung von der Ur-Tafel bzw. der Ur-Schrift als dem ewig-transzendenten Ur-Koran weitgehend durch.
4. Die himmlische Tafel und die lailat al-qadr/ﻟﻴﻠﺔ ﺍﻟﻘﺪﺭ In der koranischen Sprache ist die Offenbarung u. a. auch ein göttlicher Akt der »Herabsendung«42 (tanzīl). Das arabische Wort tanzīl ist in einem Räum38
39 40
41
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Vgl. Harry A. Wolfson, The Philosophy of the Kalām, Cambridge 1976, 239; vgl. Rifa’at Lenzin, »Dies ist die Schrift«. Die Autorität der Schrift im Islam, in: ThZ 64 (2008), 129– 143, 131 f. Vgl. Lenzin, a. a. O., 132. Vgl. Matthias Radscheit, Arabisch als lingua sacra. Zum linguistischen Rangstreit im Irak des 9. Jh. n. Chr., in: Ralf Georg Czapla/Ulrike Rembold (Hrsg.), Gotteswort und Menschenrede. Die Bibel im Dialog mit Wissenschaften, Künsten und Medien. Vorträge der interdisziplinären Ringvorlesung des Tübinger Graduiertenkollegs »Die Bibel – ihre Entstehung und ihre Wirkung« 2003–2004, Jahrbuch für internationale Germanistik 73, Bern u. a. 2007, 105–123, 118. Vgl. Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra, Bd. 1, Berlin/New York 1991, 376. Als weitere koranische Offenbarungstermini sind u. a. wah ̣y/ َﻭ ْﺣﻲund ʾilhām/ ﺇﻟﻬﺎﻡzu nennen, die jedoch ganz unterschiedlich konnotiert sind. S. dazu Stefan Wild, »We have sent down thee the book with the truth…«. Spatial and temporal implications of the Qurʾanic concepts of nuzūl, tanzīl, and ʾinzāl, in: ders. (Hrsg.), The Qurʾan as Text, Is-
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lichkeitsverhältnis (mit einem Oben und einem Unten) zu imaginieren: Gott, dessen Sitz bzw. Thron im Himmel gedacht wird, sendet vertikal von oben (vom Himmel) eine Botschaft, einen Vers, eine Sure, den Koran oder die Heiligen Schriften nach unten (zur Erde) zu seinen Gesandten herab.43 So versteht die klassische Koranexegese die lailat al-qadr/( ﻟﻴﻠﺔ ﺍﻟﻘﺪﺭNacht der Vorherbestimmung oder der Macht)44 als eine heilige Nacht im Fastenmonat Ramad ̣ān/ﺭﻣﻀﺎﻥ, in der der Koran herabgesandt wurde.45 Der Ausdruck lailat al-qadr kommt in Sure 97,1 vor. Jedoch werden in dieser Sure weder der Koran noch der Fastenmonat Ramad ̣ān erwähnt. Vielmehr ergibt sich dieses Verständnis aus der Kombination der Aussagen von Sure 2,185 und Sure 44,2–4 mit Sure 97,1. Dabei werden alle drei koranischen Stellen in einen komplementären Bezug zueinander gesetzt46 und dementsprechend auch kommentiert. Die Herabsendung der koranischen Offenbarung wird in der klassischen Koranexegese in einem doppelphasigen Prozess imaginiert: In der ersten Offenbarungsphase wurde der gesamte Koran (ğumlah wāh ̣idah) von der himmlischen Tafel in der lailat al-qadr auf den untersten Himmel (al-asmāʾ al-dunyā/)ﺍﻟﺴﻤﺎﺀ ﺍﻟﺪﻧﻴﺎ bzw. auf eine irdische Stufe47 (bayt al-ʿizzāʾ/ )ﺑﻴﺖ ﺍﻟﻌﺰﺍﺀherabgesandt. Von dort aus wurde er dann in der zweiten Offenbarungsphase in einem Zeitraum von mehr
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lamic Philosophy, Theology and Science, Texts and Studies 27, Leiden/New York/Köln 1996, 137–153. Vgl. a.a.O., 141. Das arabische Verbum qadara hat ein breites Bedeutungsspektrum. Im Koran wird es sehr vielfältig verwendet. Deshalb kann der Ausdruck lailat al-qadr als Nacht der Macht, der Vorherbestimmung oder des Schicksals übersetzt werden. Vgl. Nicolai Sinai, »Weihnachten im Koran« oder »Nacht der Bestimmung«? Eine Interpretation von Sure 97, in: Der Islam 88 (2010), 11–32, 19 f. In der frühislamischen Exegese wird oft auch von der Herabsendung der Tora und des Evangeliums im Monat Ramad ̣ān ausgegangen. Vgl. z. B. Al-T ̣abarī, ğāmiʿ al-bayān, Komm. zu Sure 2,185; Al-Suyūt ̣ī, durr al-mantūr, Komm. zu Sure 2,185; Al-Baid ̣awī, ¯ anwār at-tanzīl, Komm. zu Sure 2,185; Ibn Qurt ̣ubī, ğāmiʿ al-ah ̣kām, Komm. zu Sure 2,185 etc. Sure 97,1: »Wir haben ihn hinabgesandt [ ﺃﻧ َﺰﻟْﻨ ُﻪ/ ʾanzalnāhu] in der Nacht der Bestimmung«; Sure 44,2–4: »Bei der deutlichen Schrift! Wir haben sie hinabgesandt in gesegneter Nacht […] in der jegliche weise Verfügung entschieden wird«, und Sure 2,185: »Der Monat Ramadan, in dem der Koran herabgesandt worden ist als Führung für die Menschen […]«. Diese irdische Stufe (bayt al-ʿizzāʾ) ist jedoch nicht genau definiert. Nach der islamischen Tradition liegt bayt al-ʿizza (Haus der Würde) auf dem untersten Himmel, ähnlich wie die Kaaba. Hier verrichten die Engel ihre eigene Ḥaǧǧ (Wallfahrt). Vgl. Arnold Yasin Mol, Laylat al-Qadr as Sacred Time. Sacred Cosmology in Sunnī Kalām and Tafsīr, in: Majid Daneshgar/Walid A. Saleh (Hrsg.), Islamic Studies Today. Essays in Honor of Andrew Rippin, Bd. 11. Texts and Studies on the Qurʾān, Brill/Leiden 2017, 74–97, 78 f. Anm. 17.
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als zwanzig Jahren stückweise durch den Mittlerengel Gabriel an Mohammed offenbart.48 Das Zentrum dieses Offenbarungskonzeptes bildet die himmlische Tafel (»die wohlverwahrte Tafel«), die als »eine konkrete Texttafel mit einem feststehenden Wortlaut«49 verstanden wird, von der der herabgesandte Koran wörtlich genau abgeschrieben wurde.50 Die Herabsendung des Korans wird zwar in diesem doppelphasigen Modell als »ein prozessuales und dialogisches Ereignis in einem geschichtlichen Kontext«51 imaginiert, dennoch werden die Worte des Korans (mush ̣af) als präexistent und damit auch das koranische Offenbarungsereignis als vorherbestimmt gedacht.52 Die Forscher der westlichen Welt sind der Meinung, dass die lailat al-qadr ursprünglich auf ein altarabisches Fest zurückgehe.53 Insbesondere lassen sich bei den frühislamischen Vorstellungen von der lailat al-qadr Parallelen zu den altorientalischen und jüdischen Neujahrsfesten erkennen. Im Alten Orient glaubte man z. B. an die jährliche Neubestimmung der Schicksale zum Neujahrsfest (akῑtu-Fest). Höhepunkt und Abschluss dieses Festes bildeten gemäß dem Enuma-Elish-Mythos die Festlegung der Schicksale und deren Aufzeichnung auf den Schicksalstafeln.54 Im Judentum findet sich die Vorstellung vom alljährlichen Gericht Gottes zum Neujahrsfest (אשׁ ַה ָּ ׁש ָנה ֹ ֹ ר/Rosch ha-Schanah). Die Kulmination dieses Festes bildet der Versöhnungstag (יוֹם ִּכפּוּר/Jom Kippur), der nach einer zehntägigen Bußfrist stattfindet. Nach jüdischer Vorstellung trägt Gott zum Neujahr sein vorläufiges Urteil über die Menschen in das »Buch des Lebens« (ספר חיים/Sefer Chajjim) ein. Jedoch erst am Versöhnungstag besiegelt er es. Das endgültige göttliche Urteil bestimmt somit auch das Schicksal der Menschen für das kommende Jahr.55 48
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Vgl. Nimet Seker, Geschichtlichkeit in der Koranexegese. Die Kontextgebundenheit der Bedeutungen des Korans, in: Abbas Poya (Hrsg.), Koranexegese als »Mix and Match«. Zur Diversität aktueller Diskurse in der tafsir-Wissenschaft, Bielefeld 2017, 131–162, 151. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. a. a. O., 151 f. Vgl. z. B. Sinai, »Weihnachten im Koran« (s. Anm. 44), 19; Jan A. Wensinck, Arabic new year and the Feast of Tabernacles, Amsterdam 1925, 2 f. Zum altorientalischen Neujahrsfest siehe Annette Zgoll, Königslauf und Götterrat. Struktur und Deutung des babylonischen Neujahrsfestes, in: Erhard Blum/Rüdiger Lux (Hrsg.), Festtraditionen in Israel und im Alten Orient, Gütersloh 2006, 11–79. Im Mittelpunkt des Versöhnungstages stehen Reue, Buße und Umkehr. In der zehntägigen Bußfrist hat der Mensch die Möglichkeit, durch Buße und Umkehr, auf Gottes Vergebung zu hoffen und sein Urteil am Versöhnungstag in ein gutes zu verwandeln. Zum jüdischen Neujahrsfest und Versöhnungstag s. Leo Trepp, Der jüdische Gottes-
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Auch die lailat al-qadr wird mit einer Nacht des neuen Jahres (mit ähnlichen Vorstellungen) assoziiert. Eine theologische Deutung dafür ist, dass in dieser Nacht das Schicksal zyklisch zum Beginn des Jahres in die Welt eintritt. Die Vorstellung dabei war, dass die Engel mit der Tafel, auf der sowohl die Offenbarung als auch das jährliche Schicksal (qadr) geschrieben sind, hinabsteigen.56 Al-T ̣abarī (839–923) z. B. versteht die lailat al-qadr im Sinne einer Nacht der Schicksalsbestimmung, in der Gott u. a. den Todestermin, die Arbeit und die Nahrung des Einzelnen für das kommende Jahr bestimme.57 Al-Māturīdī (893– 941) charakterisiert die lailat al-qadr als eine Nacht des Gerichts und der Entscheidung (lailat al-h ̣ukm wa-l-qad ̣āʾ/)ﻟﻴﻠﺔ ﺍﻟﺤﻜﻢ ﻭﺍﻟﻘﻀﺎﺀ.58 Ihm zufolge urteile und entscheide Gott in dieser Nacht über alles, was im kommenden Jahr geschehen wird. Für Al-Rāzī (1149–1209) ist die lailat al-qadr eine Nacht der Schicksalsbestimmung, der Angelegenheiten und Regelungen (lailat al-taqdīr wa-l ʾmūr wa al-ah ̣kām/)ﻟﻴﻠﺔ ﺍﻟﺘﻘﺪﻳﺮﻭﺍﻷﻣﻮﺭ ﻭ ﺍﻻﺣﻜﺎﻡ. Insbesondere charakterisiert er den qadr als vorkosmisch und präexistent. Außerdem versteht er diese Nacht als eine Zeit, in der das qadr-Buch (Vorherbestimmungsbuch) der gesamten Schöpfung herabgesandt worden sei. In jener Nacht werden die Bestimmungen Gottes auf die »wohlverwahrte Tafel« aufgezeichnet.59 Die himmlische Tafel (oder die Urschrift) ist somit in der frühislamischen Theologie von einem doppelten Schriftverständnis60 geprägt: Zum einen wird unter den drei Termini »die Mutter der Schrift«, »die verborgene Schrift« und »die wohlverwahrte Tafel« das himmlische Original des Korans verstanden, das als die Quelle (ʾas ̣l al-kitāb/ )ﺃﺻﻞ ﺍﻟﻜﺘﺎﺏoder als die erste Schrift (kitāb-i awwal/ )ﻛﺘﺎﺏ ﺃﻭﻝsowie als die Ganzheit (ǧumla/ )ﺟﻤﻠﻪaller Offenbarungen Gottes61 bezeichnet wird.62 Dieser Ur-Koran wird als Gottes unabän-
56 57
58
59 60
61
dienst. Gestalt und Entwicklung, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, 111–151; vgl. auch Ludwig Wächter, Die göttliche Vorherbestimmung nach rabbinischem Glauben, in: ders., Jüdischer und christlicher Glaube, AVTRW 64, Berlin 1975, 44–57. Vgl. Mol, Laylat al-qadr (s. Anm. 47), 89 Anm. 58. Vgl. Al-T ̣abarī, ğāmiʿ al-bayān, Komm. zu Sure 44,4; 97,1 f.: yaqd ̣ī-u-llāh kullan ağalan wa ʿamalan wa rizqan/ ;ﻳﻘﻀﻰ ﺍﻟﻠﻪ ﻛﻞ ﺍﺟﻞ ﻭ ﻋﻤﻞ ﻭﺭﺯﻕs. auch Zamahšarī, al-kaššāf, Komm. zu ̆ Sure 44,4; Ibn Katīr, tafsīr, Komm. zu Sure 44,4; 97 etc. ¯ Vgl. Al-Māturīdī, taʾwīlāt, Komm. zu Sure 97; vgl. auch ʻAbd al-Razzā q, tafsīr, Komm. zu Sure 97. Vgl. Al-Razī, mafātih ̣ al-ġayb, Komm. zu Sure 97. Bei jeder Deutung der Urschrift spielt die theologische Prägung des Auslegers eine große Rolle. Dementsprechend variieren die Interpretationen bzgl. der Urschrift, je nachdem, ob der Ausleger von der Erschaffenheit oder Unerschaffenheit des Korans ausgeht. Der Koran versteht seine Botschaft als die Bestätigung der früheren Offenbarungen. Vgl. Sure 2,41.89.91.97.101; 3,3.39; 4,47; 5,48; 6,92; 10,37; 12,111; 35,31; 46,12.30.
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derliche Uroffenbarungsschrift betrachtet, aus der alle früheren Offenbarungen stammen. Zum anderen werden jene drei Termini mit der Vorstellung von einem universalen himmlischen Schicksalsbuch assoziiert, in dem alle vergangenen und zukünftigen Ereignisse bis zum Tag der Auferstehung detailliert aufgeschrieben sind. Zudem beinhaltet es auch Gottes Aufzeichnung der Taten der Menschen, die als Vorlage zum göttlichen Gericht dient. Diese himmlische Urschrift ist quasi die schriftliche Manifestation des allumfassenden Wissens Gottes über seine Geschöpfe sowie über den gesamten Kosmos und die Menschheit.63
5. Resu¨mee Mit den koranischen Termini »die wohlverwahrte Tafel«, »die Mutter der Schrift« und »die verborgene Schrift« sowie mit der Idee der Herabsendung des Korans in der Nacht der Vorherbestimmung ist bereits die Basisidee für den Ur-Koran geschaffen. Der Koran führt selbst seinen Ursprung auf eine Ur-Tafel (oder Ur-Schrift) bei Gott zurück. Er differenziert jedoch nicht zwischen den jeweiligen Termini bzw. er expliziert seine Aussagen nicht. In der frühislamischen Theologie werden die koranischen Selbstaussagen in Bezug auf die Urfassung des Korans und der früheren Offenbarungsschriften gedeutet und um diverse Vorstellungen erweitert. So wurde die himmlische Tafel auch als eine Art Schicksalstafel begriffen, bei der es sich wohl um eine Erweiterung des Inhalts der Urschrift (zusätzlich zum Ur-Koran) handelt. Diese Vorstellung lässt sich vor dem Hintergrund des koranischen Gottesbildes erklären. Im Koran wird Gott u. a. als ʿalīm/( ﻋﻠﻴﻢwissend), h ̣akīm/ﺣﻜﻴﻢ (weise), samīʿ/( ﺳﻤﻴﻊhörend) und qadīr/( َﻗ ِﺪﻳﺮmächtig) etc. gepriesen.64 Seine Allmacht und Allwissenheit sowie seine Kenntnis alles Verborgenen (ﻏﻴﺐ/ġayb)65 werden stets hervorgehoben. Er ist nicht nur allwissend, sondern auch ein Gott, der sein umfassendes Wissen über seine Schöpfung schriftlich festhält.66 Vor diesem 62
63 64 65 66
Vgl. z. B. Al-T ̣abarī, ğāmiʿ al-bayān, Komm. zu Sure 43,2; 13,39; 85,22; Zamahšarī, al̆ kaššāf, Komm. zu Sure 13,39; 43,2; Al-Suyūt ̣ī, durr al-mantūr, Komm. zu Sure 43,2; ¯ 13,39; 85,22; Al-Baid ̣awī, anwār at-tanzīl, Komm. zu Sure 43,2; 13,39; 85,22 etc. Manche islamischen Exegeten bezeichnen auch die erste Sure (Surat al-fātih ̣a) als umm al-kitāb. Vgl. Al-Qummī, tafsīr, Komm. zu Sure 43,4; Al-Suyūt ̣ī, itqān, 91 f.; Al-Māturīdī, taʾwīlāt, Komm. zu Sure 3,7; vgl. auch Daniel A. Madigan, Art. Book, in: EQ Bd. 1, 2001, 242–251, 248; vgl. John Wansbrough, Quranic Studies. Sources and Methods of Scriptural Interpretation, Amherst NY 2004, 153. Vgl. Wisnovsky, Art. Heavenly Book (s. Anm. 35), 412. Vgl. z. B. Sure 4,58.130; 8,61; 60,7 etc. Vgl. z. B. Sure 6,59; 3,179; 27,65 etc. Vgl. z. B. Sure 6,38.59; 22,70; 11,6 etc.
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Naghmeh Jahan
Hintergrund betrachtet, erlangt die Idee der Urschrift eine weitere Dimension. Sie symbolisiert Gottes (Vor‐)Wissen und Weisheit.67 Mit der Tafelvorstellung verbindet sich die Idee der Ursprünglichkeit und Verewigung der Schrift. Tafeln gehören nicht nur zu den ältesten Schriftmaterialien, sondern sie bringen auch den Aspekt der Verewigung des Geschriebenen stärker zum Ausdruck. So ist z. B. eine eingemeißelte Schrift auf einer Tafel nicht leicht auslöschbar bzw. veränderbar. Wenn nun die Schrift auf der Tafel von Gott stammt, dann verstärken sich diese Eigenschaften. Sie ist dann nicht nur ewig und unveränderbar, sondern auch autoritativ. Religionsgeschichtlich gesehen bilden die altorientalischen Schicksalstafeln (tuppi šῑmāti/dub nam-tar-ra) die historisch älteste Grundlage für die Vorstellung ̣ von göttlich-jenseitigen Schriften. Auch im Judentum stehen am Anfang der göttlichen Gesetzgebung die zwei mit Gottes Finger beschriebenen Tafeln, die als zugrunde liegende Idee für das rabbinische Dogma »Tora vom Himmel« (tôrāh min ha-šāmājīm/ )תורה מן השמיםaufzufassen sind.68 So ist auch die wohlverwahrte Tafel (al-lauh ̣ al-mah ̣fūz ̣/ )ﺍﻟﻠّ ْﻮﺡ ﺍﻟْ َﻤﺤ ُﻔﻮﻅdas imaginäre Fundament des Islams.
»Nein, es ist ein rühmenswerter Koran auf wohlverwahrter Tafel.«a) (Sure 85,21 f.) Arabische Kalligraphie von Naghmeh Jahan a) Übersetzung nach Nagel, Der Koran (s. Anm. 67), 328. 67
68
Auch im Koran ist teilweise eine genaue Unterscheidung zwischen der Urschrift als UrKoran und als Schicksals- und Vorherbestimmungsbuch kaum möglich, wie z. B. in Sure 13,39, wo die Urschrift stärker auf Gottes Vorherbestimmung bezogen ist. Vgl. Tilmann Nagel, Der Koran. Einführung, Texte, Erläuterungen, München 1983, 329. Wichtig ist hier die zugrundeliegende Idee vom göttlichen Ursprung der Schrift in Verbindung mit den Tafeln. Im rabbinischen Judentum spielen die Tafeln als Medium der Offenbarung des göttlichen Gesetzes eine nicht so große Rolle wie das Buch des Gesetzes (sefær hatôrāh/תּו ָרה ֹ )ֵסֶפר ַה. So wird später die Tora (Torarolle) als Bauplan der Welt und
Das Urbild der himmlischen Tafel (al-lauh al-mahfu¯z/)ﺍﻟﻠّ ْﻮﺡ ﺍﻟْ َﻤﺤ ُﻔﻮﻅ ˙ ˙ ˙
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Islamische Quellen ʻAbd al-Razzāq ibn Hammām al-Ḥimyarī, Tafsīr ʻAbd al-Razzāq, tas ̣nīf ʻAbd al-Razzāq ibn Hammām al-S ̣anʻānī, 3 Bde., Beirut 1999. Al-Baid ̣awī, Nās ̣ir al-Dīn Abī Saʻīd ʻAbd Allāh ibn ʻUmar ibn Muh ̣ammad al-Šīrāzī: Tafsīr alBaid ̣awī, Anwār al-tanzīl wa-asrār al-taʾwīl ( ﺍﻧﻮﺍﺭ ﺍﻟﺘﻨﺰﻳﻞ ﻭﺍﺳﺮﺍﺭ ﺍﻟﺘﺄﻭﻳﻞ،)ﺗﻔﺴﻴﺮ ﺍﻟﺒﻴﻀﺎﻭﻱ, tah ̣qīq Muh ̣ammad ʿAbd Al-Rahmān al-Murʽašlī, 5 Bde., Beirut 1998. Al-Qurtubī, ̣ Abī ʻAbd Allāh Muh ̣ammad ibn Ah ̣mad al-Ans ̣ārī, al-ğāmiʻ li-ah ̣kām al-Qurʼān: tafsīr al-Qurtubī ̣ ( ﺗﻔﺴﻴﺮ ﺍﻟﻘﺮﻃﺒﻲ:)ﺍﻟﺠﺎﻣﻊ ﻻﺣﻜﺎﻡ ﺍﻟﻘﺮﺍﻥ, tah ̣qīq ʻAbd al-Razzāq al-Mahdī, 20 Bde. in 10, Bayrūt 2008. Al-Qummī, ʻAlī ibn Ibrāhīm, Tafsīr al-Qummī, li-Abī Al-Ḥasan ʻAlī ibn Ibrāhīm Al-Qummī, wa min Mašāyḫ al Kulaynī, 3 Bde., Die heilige Stadt Qum (1435) 2001. Al-Rā zī, Al-Faḫr al-Dīn Muh ̣ammad ibn ʻUmar, mafā tīh ̣ al-ġayb al-muštahir bi-al-Tafsīr alKabīr, lil-Imā m Muh ̣ammad al-Rā zī Faḫr al-Dīn ibn Ḍiyā ʼ al-Dīn ʻUmar al-muštahir biHā tīb al-Rayy. Wa-bi-hā mišihi tafsīr Abī al-Suʻū d, 32 Bde., Beirut (1401) 1981. Al-Suyūtī,̣ Ğalāl al-Dīn, durr al-manṯūr fi-l-tafsīr bi-l-ma’ṯūr, tah ̣qīq ʿAbdullāh bin ʽAbd alMuh ̣sin al-Turkī, 17 Bde., Kairo (1424) 2003. Al-Suyūtī,̣ Ğalāl al-Dīn, al-Itqān fī ʻulū m al-Qurʾā n, ed. by Sadīd-u al-dīn Ḫān wa Bašīr-u aldīn, Calcutta 1857. Al-T ̣abarī, Abī Ğaʻfar Muh ̣ammad ibn ğarīr, Ğāmiʻ al-bayān ʻan taʾwīl āyy al-Qurʾān, 30 Bde., Mis ̣r 1954–1968. Ibn Kaṯīr, Abū l-Fidāʾ ʿImād al-Dīn Ismāʿīl ibn Šihāb al-Dīn ʿUmar, Tafsīr al-Qurʾān al-ʿaz ̣īm ()ﺗﻔﺴﻴﺮ ﺍﻟﻘﺮﺁﻥ ﺍﻟﻌﻈﻴﻢ, li-lh ̣āfiz ̣ Abī al-Fidāʾ Ismāʻīl ibn Kaṯīr al-Dimašqī, tah ̣qīq Sāmī ibn Muh ̣ammad al-Salāmah, 8 Bde., Riad 21999. Muqā til ibn Sulaymā n al-Balḫī, Tafsīr Muqā til ibn Sulaymā n (80–150 H.), tah ̣qīq ʻAbd Allā h Mah ̣mū d Ših ̣ā tah, 5 Bde., Beirut [o. J.]. Zamaḫšarī, Mah ̣mūd ibn ʻUmar, al-Kaššāf ʻan h ̣aqāʼiq ġawāmid ̣ al-tanzīl wa-ʻuyūn alaqāwīl fī wuğūh al-ta’wīl ()ﺍﻟﻜﺸﺎﻑ ﻋﻦ ﺣﻘﺎﺋﻖ ﻏﻮﺍﻣﺾ ﺍﻟﺘﻨﺰﻳﻞ ﻭﻋﻴﻮﻥ ﺍﻻﻗﺎﻭﻳﻞ ﻓﻲ ﻭﺟﻮﻩ ﺍﻟﺘﺄﻭﻳﻞ, taʼlīf Abī al-Qāsim ğār Allāh Mah ̣mūd ibn ʻUmar al-Zamaḫšarī. Wa-bih ̣awāšīh arbaʻat kutub, al-awwal: al-Intis ̣āf/ li-Ah ̣mad ibn al-Munayyir al-Iskandarī; al-ṯānī: al-Kāfī alšāf fī taḫrīğ ah ̣ādīṯ al-Kaššāf/ lil-Ḥāfiz ̣ Ibn Ḥağar, al-ṯāliṯ: Ḥāšiyat al-Šayḫ Muh ̣ammad ʻAlyān al-Marzūqī ʻalā tafsīr al-Kaššāf, al-rābiʻ: Mašāhid al-ins ̣āf ʻalā šawāhīd alKaššāf, lil-Šayḫ Muh ̣ammad ʻAlyān al-maz ̣kūr; rattabah wa-d ̣abatah ̣ wa-s ̣ah ̣h ̣ah ̣ah Muh ̣ammad ʻAbd al-Salām Šāhīn, 6 Bde., Beirut (1418) 31998. Zirker, Hans, Der Koran. Übersetzt und eingeleitet, Darmstadt 42013.
präexistente Schrift Gottes begriffen. S. dazu Paul Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 2. Das Evangelium nach Markus, Lukas und Johannes und die Apostelgeschichte, München 102009, 175 f.; zur Präexistenz der Tora im rabbinischen Judentum s. Günter Stemberger, Judaica Minora. Teil I. Biblische Traditionen im rabbinischen Judentum, TSAJ 133, Tübingen 2010, 4 f.; Martin Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh. v. Chr., WUNT 10, Tübingen 21973, 307 f.
II. Literatur
»Mir war, als flo¨g ich in den Himmel.« Effi Briests Weg zu Beichte und Verso¨hnung in Theodor Fontanes gleichnamigem Roman Peter Zimmerling
2019 jährte sich zum 200. Male der Geburtstag Theodor Fontanes. Der Roman »Effi Briest« ist sein Alterswerk und hat ihn weltberühmt gemacht. Die Konsequenzen des Ehebruchs von Effi von Innstetten, geb. von Briest, mit Major von Crampas bieten Fontane die Möglichkeit, im Roman zentrale Lebens- und Glaubensfragen zu thematisieren. Im Vordergrund steht dabei der Umgang mit der Schuld des Ehebruchs durch Effi selbst, aber auch durch die anderen Personen des Romans. Immer entscheidender wird für Effi die Frage, ob Versöhnung möglich ist: mit Gott, mit ihren Mitmenschen, an denen sie schuldig geworden ist, und mit sich selbst. Der letzte Teil des Romans – weit über ein Drittel des Gesamtwerks – beschreibt den Weg, den Effi und ihre Umgebung hin zur Versöhnung gehen. Fontane ist es dabei gelungen, Psychogramme zu zeichnen, die im deutschen Roman des 19. Jahrhunderts einzigartig sind: vor allem von Effi, ihrem geschiedenen Mann und ihren Eltern. Aus der Perspektive der christlichen Seelsorge gelesen enthält der Roman bis heute gültige Einsichten im Hinblick auf den Umgang mit Schuld und wie Versöhnung möglich ist.
1. Der Ehebruch Effi Briest wurde von ihren Eltern mit Baron von Innstetten, einem wesentlich älteren Mann, verheiratet. Er scheint früher um die Mutter Effis geworben und in der Zwischenzeit im Staatsdienst Karriere gemacht zu haben. Am Ende des Romans, unmittelbar vor ihrem Tod, charakterisiert Effi ihn mit den Worten: »Denn er hatte viel Gutes in seiner Natur und war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist« (308 f.).1 Sie selbst hat ihn anfangs weniger aus Liebe geheiratet, als mit der Hoffnung, zusammen mit ihm in der Gesellschaft Karriere 1
Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die Ausgabe: Theodor Fontane, Effi Briest. Fontanes Werke in fünf Bänden, Bd. 4, Bibliothek Deutscher Klassiker, Berlin/Weimar 1983.
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machen und auf diese Weise ein amüsantes und abwechslungsreiches Leben führen zu können. Die Ehe von Effi und Innstetten lässt sich in zwei Phasen unterteilen: die Zeit vor und nach dem Ehebruch, d. h. zunächst ihr Leben in Kessin und danach in Berlin. Zwar kommen sich beide bereits in der ersten Phase näher, aber Innstetten wirklich zu lieben, beginnt Effi paradoxerweise erst nach ihrem Ehebruch. In der ersten Phase ihres Zusammenlebens sucht die junge Effi bei ihrem Ehemann vor allem Aufmerksamkeit, Umworbenwerden, Verständnis, Trost in ihren Ängsten und gleichzeitig Zerstreuung und Unterhaltung. Dem stehen jedoch das ausgeprägte preußische Pflichtbewusstsein – verbunden mit dem Ehrgeiz, beruflich hoch hinaus zu wollen – des Landrats von Innstetten und die besonderen Lebensumstände im abgelegenen Provinzstädtchen Kessin in Hinterpommern entgegen. Fast zwangsläufig erliegt Effi darum der Werbung des Majors von Crampas, eines früheren Regimentskameraden von Innstettens. Crampas wird von Effi selbst als »Frauenmann« charakterisiert. Die Affäre ist nur kurz und endet mit der Berufung von Innstettens in ein Ministerium nach Berlin und dem Umzug dorthin. Effi bekennt später, dass sie Crampas nicht wirklich geliebt und ihn in der Zeit danach sogar vergessen habe (289). Erstaunlicherweise scheint gerade das der Grund zu sein, wieso Effi mit der Schuld, die sie durch den Ehebruch auf sich geladen hat, nicht fertig wird. Im gesamten weiteren Roman geht es um den Umgang Effis und – nach Bekanntwerden der Affäre – auch der anderen Personen des Romans mit dem Ehebruch und der damit verbundenen Schuld. Fontane setzt voraus, dass es sich dabei um wirkliche Schuld handelt, ohne im ersten Teil des Romans die mildernden Umstände zu verschweigen, die mitverantwortlich dafür sind, dass es zum Ehebruch kommt.
2. »Mit einem Ehemanne … das tut nie gut« – Effi Im Gespräch mit ihrer Dienerin Roswitha, die Effi beim Flirten mit dem verheirateten Kutscher erwischt hat, spricht sie erstmals – allerdings indirekt – über das Problem der mit ihrem Ehebruch verbundenen Schuld. Effi stellt fest: »Ja, was weiß man nicht alles und handelt doch, als ob man es nicht wüßte« (185). Etwas später konkretisiert sie: »Mit einem Ehemanne […] das tut nie gut« (187). Beide Aussagen erinnern daran, wie Paulus den Menschen in Röm 7 beschreibt. Dort heißt es u. a.: »Denn ich habe Freude an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Verstand und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist« (Röm 7,22 f.). Durch den Ehebruch hat Effi, wie ihr Mann – ohne etwas von ihrem Ehebruch zu ahnen – hellsichtig erkennt, ihre kindliche Unschuld verloren:
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»Du hattest so was von einem verwöhnten Kind, mit einem mal siehst du aus wie eine Frau […] du kannst es dir gutschreiben, wenn es etwas Gutes ist […]« (188).
Wiederum drängen sich biblische Bezüge auf. Hier besonders das Verhalten Adams und Evas nach dem Sündenfall, an dem sichtbar wird, dass sie ihr ungebrochenes Vertrauen Gott gegenüber verloren haben: Sie erkennen, dass sie nackt sind und fürchten sich vor Gott: »Und Gott der Herr rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du? Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich. Und er sprach: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen?« (Gen 3,11).
Effi wird als Zeichen für den Verlust ihrer Unschuld im Gespräch mit ihrem Mann rot. Um mit dem in ihr entstandenen Zwiespalt fertig zu werden, setzt Effi verschiedene Strategien ein. Sie lenkt sich ab, indem sie sich in Modezeitschriften vertieft: »Womit man sich nicht alles hilft! Eine hübsche Dame mit einem Muff und eine mit einem Halbschleier; Modepuppen. Aber es ist das beste, mich auf andere Gedanken zu bringen« (187). Auch das Gespräch mit anderen Menschen dient der Ablenkung – so der Besuch des befreundeten Apothekers Gieshübler (188). Effi legt sogar – intuitiv, spontan ihrem Gefühl folgend – ein Bekenntnis ihrer Schuld vor ihrem Ehemann ab, als dieser ihr mitteilt, dass er nach Berlin berufen worden sei: »Mit einem Male aber glitt sie von ihrem Sitze vor Innstetten nieder, umklammerte seine Knie und sagte in einem Tone, wie wenn sie betete: ›Gott sei Dank!‹« (191).
Da der im Kaiserreich herrschende Ehrenkodex ein derartiges Schuldeingeständnis verbietet, muss Effi mit allen Mitteln versuchen, den in ihrem Mann geweckten Verdacht wieder abzulenken. Das gelingt, wenn auch nur mit größter Mühe. Am Ende des Gesprächs bittet Innstetten seinerseits Effi um Verzeihung und gesteht instinktiv den eigenen Anteil am Ehebruch seiner Frau ein: »Wir Männer sind alle Egoisten« (192). Bemerkenswert ist, dass Effi auch dem Apotheker Gieshübler, der ihr neben dem Ehemann und der Dienerin Roswitha in Kessin am nächsten steht, vor ihrer Abreise nach Berlin indirekt ihre Schuld eingesteht: »Ich habe mich hier mitunter einsam gefühlt, und mitunter war mir so schwer ums Herz, schwerer, als Sie wissen können; ich habe es nicht immer richtig eingerichtet; aber wenn ich Sie gesehen habe, vom ersten Tage an, dann habe ich mich immer wohler gefühlt und auch besser« (198; Hervorhebung von P.Z.).
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Kurz vor der endgültigen Abreise von Kessin bekennt Effi in ihrem Abschiedsbrief an Crampas schonungslos ihr Versagen. Dabei nimmt sie alle Schuld auf sich und versucht, dessen Verhalten zu entschuldigen. Während Crampas in unglücklichen familiären Verhältnissen lebte, wusste sie sich letztlich von der Liebe und Fürsorge ihres Ehemanns getragen. Ihre Affäre war für sie am Ende nur ein Spiel, um die Langeweile eines Lebens in der Provinz zu durchbrechen. Indem Effi Crampas mit »Sie« anredet, macht sie klar, dass sie ihr Verhältnis unwiderruflich beenden will. Im Hinblick auf die Zukunft hofft sie für sich auf Gottes Gnade: »Alle Schuld ist bei mir. Blick ich auf Ihr Haus […], Ihr Tun mag entschuldbar sein, nicht das meine. Meine Schuld ist sehr schwer. Aber vielleicht kann ich noch heraus. Daß wir hier abberufen wurden, ist mir wie ein Zeichen, daß ich noch zu Gnaden angenommen werden kann. Vergessen Sie das Geschehene, vergessen Sie mich. Ihre Effi« (199).
Dass Crampas ihr Bekenntnis verstanden hat, geht aus der Szene hervor, in der ihre Abfahrt per Schiff von Kessin beschrieben wird: »Sie erschrak bei seinem Anblick und freute sich doch auch. Er seinerseits, in seiner ganzen Haltung verändert, war sichtlich bewegt und grüßte ernst zu ihr hinüber, ein Gruß, den sie ebenso, aber doch zugleich in großer Freundlichkeit, erwiderte; dabei lag etwas Bittendes in ihrem Auge« (200).
Bemerkenswert erscheint mir, dass Effi damit in den Grundlinien der neutestamentlichen Vorstellungen von Buße und Umkehr handelt. Man denke etwa an Paulus, den früheren Christenverfolger, der sich Zeit seines Lebens als der größte Sünder verstand (1Tim 1,15), ohne etwas zu beschönigen oder zu entschuldigen. Oder an die apostolische Anweisung, die Verlockungen des Fleisches zu fliehen (1Kor 6,18). Das alles andere überstrahlende Ziel der Buße ist auch im Neuen Testament die Erfahrung der Vergebung durch Gott: »Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit« (1Joh 1,9). Effis Sehnsucht nach Vergebung und Neuanfang ist von Anfang an gefährdet. Sie hatte mit ihrem Mann ausgemacht, lediglich eine passende Wohnung in Berlin zu mieten und dann nach Kessin zurückzukehren. Unter allen Umständen will sie jedoch in Berlin bleiben, ohne noch einmal zurückzukehren. Darum stellt sie sich krank und ist sich gleichzeitig bewusst, sich durch die Vorspiegelung falscher Tatsachen erneut schuldig zu machen. Der herbeigerufene Arzt Rummschüttel durchschaut ihre Komödie: »Schulkrank und mit Virtuosität gespielt; Evastochter comme il faut« (210). Allerdings erkennt er an Effis Verle-
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genheit bei seinen Krankenbesuchen, dass hinter ihrem Verhalten ein tieferer Grund liegen muss: »Rummschüttel kam den zweiten Tag und dann jeden dritten, weil er sah, welche Verlegenheit sein Kommen der jungen Frau bereitete. Dies nahm ihn für sie ein, und sein Urteil stand ihm nach dem dritten Besuche fest: ›Hier liegt etwas vor, was die Frau zwingt, so zu handeln, wie sie handelt‹« (211).
Fortan kennt Effi nur ein Bestreben: Sie will ein neues Leben, frei von den Altlasten ihrer Vergangenheit, beginnen. In der neuen Berliner Wohnung allein, spricht sie halb zu Gott und halb zu sich selbst gewandt: »Sie […] faltete die Hände. ›Nun, mein Gott, ein neues Leben! Es soll anders werden‹« (213). Und zu ihrem Mann sagt sie bei dessen Ankunft in der Berliner Wohnung: »Nun bricht eine andere Zeit an, und ich fürchte mich nicht mehr und will auch besser sein als früher und dir mehr zu Willen leben« (213). Sie versteht den ihr mit der Übersiedlung nach Berlin geschenkten Neuanfang als Gnade und ihr Verhalten gegenüber ihrem Ehemann als Wiedergutmachung ihrer Schuld: »In jedem, was sie tat, lag etwas Wehmütiges wie eine Abbitte und es hätte sie glücklicher gemacht, dies alles noch deutlicher zeigen zu können. Aber das verbot sich freilich« (217) – aufgrund des die tonangebende Gesellschaft damals beherrschenden Ehrenkodex. Bemerkenswert ist, dass sie sich einige Zeit später, gerade während eines längeren Aufenthalts auf dem elterlichen Gut, der auf ihr immer noch lastenden Schuld bewusst wird: »Ich kann es nicht loswerden […]« (229). Dort, wo sie aufgewachsen ist, getragen von der Liebe ihrer Eltern und umgeben von vertrauten Menschen, fühlt sie sich am wohlsten, weil am heimatlichsten. In dieser Atmosphäre ist es nur natürlich, dass verborgene und verdrängte Erfahrungen ins Bewusstsein treten. Fontane zeigt sich hier erneut als glänzender Psychologe. Tatsächlich sind Zeiten der Besinnung, der Einkehr und der Stille nötig, um sich mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen zu können. In der Stille der Nacht wird Effi in Hohen-Cremmen klar, warum sie ihre Schuld nicht loswerden kann. Sie gewinnt die Überzeugung, dass sie weder die rechte Reue noch die rechte Scham habe (229 f.). Stattdessen hat sie lediglich »Angst, Todesangst und die ewige Furcht« (229), dass ihr Ehebruch eines Tages doch noch herauskommen könnte. Auch schämt sie sich nicht ihrer Schuld, sondern lediglich ihres dauernden Lügenspiels wegen, etwa gegenüber dem Arzt Rummschüttel (230). Letzteres schmerzt sie besonders, weil sie immer stolz darauf gewesen ist, nicht zu lügen. »Aber Scham über meine Schuld, die hab ich nicht oder doch nicht so recht oder doch nicht genug, und das bringt mich um, daß ich sie nicht habe« (230). Sie kommt zu dem Schluss, dass ihr »das richtige Gefühl« fehle.
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In diesem Zusammenhang erinnert sie sich an eine Aussage ihres Konfirmator-Pastors Niemeyer: »Auf ein richtiges Gefühl, darauf käme es an, und wenn man das habe, dann könne einem das Schlimmste nicht passieren, und wenn man es nicht habe, dann sei man in einer ewigen Gefahr, und das, was man den Teufel nenne, das habe dann eine sichere Macht über uns. […] und weinte bitterlich« (230).
Niemeyer scheint ein von Herrnhuter Frömmigkeit geprägter Seelsorger gewesen zu sein – eine Frömmigkeit, die für Fontane zeit seines Lebens besonders attraktiv war. Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf hatte lange vor Friedrich Schleiermacher, dem Herrnhuter »höherer Ordnung«,2 die Gewissheit des Glaubens im menschlichen Gefühl verankert. Das »es ist mir so« ist ein vom Geist Gottes im Herzen des Menschen gewirktes Empfinden, das ihn in seinem Handeln des Willens Gottes gewiss sein lässt.3 Trotz – vielleicht auch wegen – der radikalen Selbstanklage Effis bewirkt das neue Leben in Berlin, das vom Verkehr in der Berliner Gesellschaft geprägt ist, dass die Sorgen und Ängste der Vergangenheit allmählich von ihr abfallen (233). Gleichzeitig scheint sie die Frage ihrer Schuld weiterhin zu beschäftigen. In einem Gespräch mit ihrer katholischen Dienerin Roswitha kommt sie während dieser Zeit auf die Beichte zu sprechen. Roswitha hatte als junges Mädchen ein Verhältnis mit einem Mann, vom dem sie schwanger wurde – mit einschneidenden Konsequenzen für ihr weiteres Leben. Effi will wissen, ob sie als Katholikin damals die Freude der Beichte empfunden habe: »Hast du denn nie empfunden, daß es ein Glück ist, wenn man etwas auf der Seele hat, daß es runter kann?« (235). Roswitha verneint. Für sie waren allein die anderen an ihrem Unglück schuld. Außerdem findet sie, dass das Geschehene längst verjährt ist. Roswitha lässt keinerlei Sündenbewusstsein erkennen. Darum hat sie in der Beichte auch nie das Richtige gesagt (235) – und folglich auch deren wohltuende Wirkung nicht erfahren können. Eine ganz neue Dimension und existenzbedrohende Kraft entfaltet die Schuld Effis, als der Ehebruch nach sechseinhalb Jahren doch noch entdeckt wird. Während ihres mehrwöchigen Kuraufenthalts außerhalb Berlins, fallen von Innstetten durch einen Zufall die Briefe von Crampas an seine Frau in die Hände. Der Major wird daraufhin von von Innstetten beim Duell erschossen. Nach Berlin zurückgekehrt, verändert sich Effis Leben radikal. Da sie von ihrem Mann schuldig geschieden wird, stößt die sog. bessere Gesellschaft sie aus. Effi muss fortan allein leben und hat zunächst weder mit ihrer kleinen Tochter Annie noch 2 3
Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 295. Zit. nach Otto Uttendörfer, Zinzendorfs Weltbetrachtung. Eine systematische Darstellung der Gedankenwelt des Begründers der Brüdergemeine, Berlin 1929, 215.
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mit ihren Eltern Kontakt, die immerhin für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Lediglich ihre alte Dienerin Roswitha entschließt sich aus Dankbarkeit für Effis Barmherzigkeit ihr gegenüber, wieder in deren Dienste zu treten und das einsame Leben mit ihr zu teilen. Die bis zu Effis frühem Tod verbleibenden Jahre bilden den Rahmen für die nun folgende bewegende Versöhnungsgeschichte. Am Ende stirbt sie im Frieden mit sich, mit ihren Eltern und sogar mit ihrem Ehemann. Dabei scheint die Frage nach ihrer Schuld Effi während dieser Jahre, wenn auch zunächst nur untergründig, permanent zu beschäftigen. So sucht sie als Erstes Trost im Gottesdienst. Schon in den Jahren vor ihrer Scheidung hat sie sich von ihm Hilfe erwartet. Eine Frau, mit der sie während ihrer Kur nähere Bekanntschaft gemacht hat, spottet in einem Brief, nachdem Effis Ehebruch entdeckt worden ist: »Daß sie mit Vorliebe von den Berliner Modepredigern sprach und das Maß der Gottseligkeit jedes einzelnen feststellte […]« (271). Jedoch befriedigt Effi der Gottesdienstbesuch nicht. Sie kritisiert, dass die Predigt auf sie wie das Lesen eines gelehrten Buches wirke. Gerade die Gelehrsamkeit des Predigers lässt sie kalt. Zudem hat sie den Eindruck, dass dessen Eitelkeit verhindere, dass seine Botschaft bei ihr ankommt: »Und wenn er dann so laut spricht und herumficht und seine schwarzen Locken schüttelt, dann bin ich aus meiner Andacht heraus« (279). Sie bemängelt außerdem die Betonung des Alten Testaments – wahrscheinlich predigt der Pastor vor allem Moral –, so dass sie nicht erbaut wird. Schließlich hat sie den Eindruck, durch das Zuhören noch tiefer in ihre Selbstvorwürfe hineinzugeraten: Besser wäre es für sie, sich im Rahmen der von Johann Hinrich Wichern (1808–1881) ins Leben gerufenen diakonischen Initiativen (im 19. Jahrhundert sprach man noch von den Werken der »Inneren Mission«) zu betätigen, indem sie armen Kindern Nachhilfe gäbe. Aber sie weiß, dass die gesellschaftliche Ächtung ihr sogar verbietet, »bei Gutem mit dabeizusein« (279). Ihre Dienerin weist sie in diesem Zusammenhang realistischerweise darauf hin, dass sie für den Umgang mit schmutzigen Kindern gar nicht geeignet sei. Effi gibt ihr Recht und kommt am Ende zu folgender schonungslosen Selbsteinschätzung: »Aber es ist schlimm, daß du recht hast, und ich sehe daran, daß ich noch zuviel von dem alten Menschen in mir habe und daß es mir noch zu gut geht« (279 f.). Auf der gleichen Linie liegt bei einem späteren Gespräch ihre Reaktion auf die Feststellung Roswithas, wonach die Tochter Annie mehr dem Vater nachschlage: »›Gott sei Dank!‹ sagte Effi« (382).
Die Zeit nach der Ehescheidung ist geprägt von einem wachsenden Schuldbewusstsein, das sie »mit einer halb leidenschaftlichen Geflissenheit« in sich nährte (282). Gleichzeitig lehnt sie sich immer wieder gegen das Verhalten ihres Ehemannes auf. So kommt sie zu der Überzeugung, dass der Ehebruch bei seiner Entdeckung schon zu lange zurücklag und längst für sie und von Innstetten ein
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neues Leben begonnen hatte. Eine dramatische Steigerung erfährt dieser Zwiespalt in Effi im Gefolge einer missglückten Begegnung mit ihrer Tochter, die durch die Fürsprache der Gattin des Ministers, von Innstettens Vorgesetzter, zustande gekommen war. Während des Treffens zwischen Mutter und Tochter stellt sich heraus, dass der Vater Annie in der Ablehnung gegen die eigene Mutter erzogen hat. Nach dem Besuch bricht Effi zusammen. Unmittelbar nachdem die Tochter gegangen ist, ergreift sie in größter innerer Not Bibel und Gesangbuch, die neben Schiller und Körner auf dem Bücherbrett liegen. Indem sie beides auf den Rand des Tisches an die Stelle legt, wo gerade noch die Tochter gestanden hat, kniet sie sich vor beidem nieder und betet: »O du Gott im Himmel, vergib mir, was ich getan; ich war ein Kind […] Aber nein, nein, ich war kein Kind, ich war alt genug, um zu wissen, was ich tat. Ich hab es auch gewußt, und ich will meine Schuld nicht kleiner machen […] aber das ist zuviel. Denn das hier, mit dem Kind, das bist nicht du, Gott, der mich strafen will, das ist er, bloß er! Ich habe geglaubt, daß er ein edles Herz habe, und habe mich immer klein neben ihm gefühlt; aber jetzt weiß ich, daß er es ist, er ist klein. Und weil er klein ist, ist er grausam« (288).
Effis Gebet endet mit dem Ausruf: »Mich ekelt, was ich getan; aber was mich noch mehr ekelt, das ist eure Tugend« (289). Martin Luther hat von den Psalmisten gesagt, dass man ihnen in ihren Gebeten ins Herz schauen könne.4 Das trifft auch auf das Gebet Effis zu. Es ist ein modernes Klagelied, wie es sich leidenschaftlicher kaum denken lässt, das sich in seiner Ausdruckskraft und Tiefe durchaus mit entsprechenden Psalmen messen kann. Effi verkleinert ihre eigene Schuld nicht. Gleichzeitig klagt sie jedoch ihren Mann vor Gott an, ein grausamer Despot zu sein. Ein daraufhin einsetzendes Nervenleiden lässt ihren Arzt Krummschüttel die Eltern bitten, Effi wieder ins Elternhaus nach Hohen-Cremmen aufzunehmen. Die Versöhnung mit den Eltern macht sie glücklich, ohne dass sich deshalb ihre Lebenswunde ganz schließt. Auch wenn andere ihr einzureden versuchen, dass sie noch dieselbe ist, die sie früher einmal war, weiß sie, dass das nicht stimmt (295). Während dieser Zeit führt sie beim Spazierengehen viele Gespräche mit ihrem ehemaligen Konfirmator, dem alten Pastor Niemeyer. Eines Tages fragt sie ihn, nachdem sie wie früher auf ihrer alten Schaukel durch die Luft geflogen ist – »Mir war, als flög ich in den Himmel« –, ob sie wohl in den Himmel hineinkomme. »Niemeyer nahm ihren Kopf in seine zwei alten Hände und gab ihr einen Kuß auf die Stirn und sagte: ›Ja; Effi, du wirst‹« (295). Diese Szene ist eine, vielleicht sogar die Schlüsselszene des gesamten Romans. Wahrscheinlich hat der alte 4
Heinrich Bornkamm (Hrsg.), Luthers Vorreden zur Bibel, Göttingen 31989, 67.
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Fontane im Roman indirekt seine eigene Schuld thematisiert und auch die Antwort angedeutet, die er auf seine eigene Lebensfrage gefunden hat. Niemeyer tut das seelsorgerlich einzig Richtige: Indem er Effi zusagt, dass sie in den Himmel kommen wird, spricht er ihr auf indirekte Weise die bedingungslose Vergebung ihrer Schuld zu. Die Performativität der Szene wird noch dadurch verstärkt, dass er seinen verbalen Zuspruch durch eine doppelte körperliche Geste unterstreicht: durch Handauflegung und einen Kuss auf die Stirn. Dass Effi tatsächlich zum Frieden mit Gott gefunden hat, wird wenig später durch eines ihrer letzten Gespräche mit der Mutter bestätigt. Auch wenn sie nach ihren eigenen Worten »eine schwache Christin« gewesen ist, stirbt sie mit der Sehnsucht, in die himmlische Heimat zurückzukehren: »Ich war immer eine schwache Christin; aber ob wir doch vielleicht von da oben stammen und, wenn es hier vorbei ist, in unsere himmlische Heimat zurückkehren, zu den Sternen oben oder noch drüber hinaus! Ich weiß es nicht, ich will es auch nicht wissen, ich habe nur die Sehnsucht« (306).
Die Sehnsucht Effis ist zwar nicht der gewisse Glaube, von dem Hebr 11,1 spricht. Aber vielleicht ist sie das moderne Kleid, in das sich der Glaube in einer skeptischen Zeit hüllt. Ihre letzten Frühlings- und Sommermonate bieten Effi die Chance, auch zum Frieden mit sich selbst und schließlich sogar zum Frieden mit ihrem geschiedenen Ehemann zu finden. Einen ersten Hinweis auf die Versöhnung mit dem eigenen Schicksal stellt ihre Weigerung dar, das Elternhaus zu verlassen, um einen Kuraufenthalt am Mittelmeer anzutreten: »Ich mag nicht mehr weg von Hohen-Cremmen, hier ist meine Stelle. Der Heliotrop unten auf dem Rondell, um die Sonnenuhr herum, ist mir lieber als Mentone« (297).
Am Ende des Romans, einen Monat nach ihrem Tod, wird berichtet, dass sie an eben dieser Stelle, unter dem Platz der Sonnenuhr – offensichtlich auf ihren Wunsch hin – beerdigt wurde: »Auf dem Rondell hatte sich eine kleine Veränderung vollzogen, die Sonnenuhr war fort, und an der Stelle, wo sie gestanden hatte, lag seit gestern eine weiße Marmorplatte, darauf stand nichts als ›Effi Briest‹ und darunter ein Kreuz« (309).
Effi hatte darum gebeten, wieder ihren Mädchennamen führen zu dürfen: »›Ich möchte auf meinem Stein meinen alten Namen wiederhaben; ich habe dem andern keine Ehre gemacht.‹ Und es war ihr versprochen worden« (309).
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Auch der Wunsch nach ihrem Mädchennamen ist ein Zeichen der Versöhnung Effis mit ihrem Schicksal. Vielleicht am deutlichsten bringt die folgende Episode die Versöhnung Effis mit sich selbst zum Ausdruck: Unmittelbar vor ihrem Tod führt sie ein letztes Gespräch mit ihrer Mutter. Es hat den Charakter eines Beichtgesprächs. Darin betont sie, dass sie angesichts ihres Sterbens »ganz ruhig« sei (307). Auf das ungläubige Erstaunen Frau von Briests antwortet sie mit einer Geschichte, wobei sie ausdrücklich vermerkt, dass von Innstetten sie ihr aus einem guten Buch vorgelesen habe: »Es sei wer von einer fröhlichen Tafel abgerufen worden, und am anderen Tag habe der Abgerufene gefragt, wie’s denn nachher gewesen sei. Da habe man ihm geantwortet: ›Ach, es war noch allerlei, aber eigentlich haben Sie nichts versäumt.‹ Sieh, Mama, diese Worte haben sich mir eingeprägt – es hat nicht viel zu bedeuten, wenn man von der Tafel etwas früher abgerufen wird« (307 f.).
Letztlich weiß schon der gesunde Menschenverstand, dass es für das Glück eines Menschen nicht primär darauf ankommt, ob er ein paar Jahre mehr oder weniger lebt. Die Geschichte hilft der jungen Effi, ihren frühen Tod bewusst und getröstet anzunehmen. Das Leben abwerten wollte sie damit nicht. Denn ausdrücklich betont sie in ihren letzten Lebenswochen in den Gesprächen mit ihrer Mutter regelmäßig, wie glücklich sie wieder sei: »›Wie schön ist dieser Sommer! Daß ich noch so glücklich sein könnte, liebe Mama, vor einem Jahre hätte ich’s nicht gedacht‹ – das sagte Effi jeden Tag, wenn sie mit der Mama um den Teich schritt oder einen Frühapfel vom Zweig brach und tapfer hineinbiß« (305).
Sie stellt im Hinblick auf ihre Krankheitstage sogar fest, dass sie »fast meine schönsten gewesen sind« (308). Vielleicht am erstaunlichsten ist die Tatsache, dass Effi sich am Ende auch mit von Innstetten versöhnen kann: »Ich sterbe mit Gott und Menschen versöhnt, auch versöhnt mit ihm« (308). Im schon erwähnten letzten Gespräch mit der Mutter beschreibt Effi, welchen Weg sie bis zu dieser Versöhnung gehen musste. Dass der geschiedene Ehemann die Tochter in der Abwehr gegen sie erzogen hat, habe sie Verwünschungen gegen ihn ausstoßen lassen. In den Wochen vor ihrem Tod habe sie jedoch erkannt, dass der von ihr begangene Ehebruch die Ursache für alles Weitere war: sowohl für das Duell mit Crampas als auch für die Erziehung der Tochter. Ausdrücklich spricht Effi die Bitte aus, Innstetten auszurichten, dass sie in dieser Überzeugung gestorben sei (308).
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3. »Die ist uns u¨ber« – der Ehemann Als von Innstetten die Briefe von Crampas im Nähtisch seiner Frau findet, fühlt er sich nach dem damals herrschenden Ehrenkodex verpflichtet, diesen zum Duell zu fordern. Grund dieses Ehrenkodex ist der Gedanke: »Schuld verlangt Sühne« (254). Doch ist diese Forderung in von Innstettens Augen – nicht anders als für seinen Freund und Sekundanten Wüllersdorf – von Anfang an eine fragwürdige Angelegenheit. Mehrere Dinge lassen ihm das gesellschaftlich vorgeschriebene Verhalten zweifelhaft erscheinen: Er ist ohne jedes Gefühl von Hass oder Rache: »Man spricht immer von unsühnbarer Schuld: vor Gott ist es gewiß falsch, aber vor den Menschen auch« (246). Das Verhältnis Effis mit Crampas liegt schon viele Jahre zurück. Immer wieder überlegt von Innstetten deshalb, ob es nicht doch so etwas wie Verjährung gebe. Außerdem liebt er seine Frau weiterhin und fühlt sich in seinem letzten Herzenswinkel zum Verzeihen geneigt (247). Vor allem aber ist er sich bewusst, dass es sich bei dem herrschenden Ehrenkultus um »Götzendienst« handelt (249). Solange der Götze jedoch gilt, ist er – nicht anders als Wüllersdorf – nicht stark genug, den Kampf mit ihm aufzunehmen, und meint, sich ihm unterwerfen zu müssen. Deswegen empfindet er das Duell, in dessen Verlauf Crampas stirbt, als Komödie: »Und diese Komödie muß ich nun fortsetzen und muß Effi wegschicken und sie ruinieren, und mich mit […]« (255). Wiederum drängen sich biblische Bezüge auf. Altes wie Neues Testament gehen davon aus, dass menschliche Schuld – egal ob Gott oder einem Mitmenschen gegenüber – gesühnt werden muss. Der ganze alttestamentliche Opferkult, wie er vor allem in Lev entfaltet wird, ist ein Zeichen dafür. Auch in den neutestamentlichen Aussagen wird deutlich, dass Gott nicht einfach »fünfe gerade sein lässt«, sondern seinen Sohn Jesus Christus zur Sühne für die Schuld der Menschheit in die Welt gesandt und dahingegeben hat (z. B. Röm 3,25). Allerdings kommen von Innstetten und Wüllersdorf in ihren Gesprächen ausdrücklich zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem in Preußen damals herrschenden Ehrenkodex um einen Götzendienst handele. Damit sprechen sie sich selbst das Urteil. Denn nach dem Alten Testament ist Götzendienst die größte Sünde und muss mit dem Tod bestraft werden (z. B. Jes 65,5). Dazu kommt noch etwas anderes: Vom Neuen Testament her ist deutlich, dass Jesus Christus durch sein Sterben am Kreuz die menschliche Schuld ein für alle Mal getragen und Gott in ihm die Menschheit mit sich selbst versöhnt hat (2Kor 5,19). Konsequenterweise fordert Paulus darum die Glieder der Gemeinde in Rom dazu auf, sich nicht selbst zu rächen, sondern Gott die Rache zu überlassen (Röm 12,19). Ja, es geht im Zusammenleben zwischen Christen darum, die Vergebung zur Geltung zu bringen (Mt 18,21 f.). Von Innstetten weiß offensichtlich all das: Der im Duell von ihm tödlich verwundete Crampas verfolgt ihn und klagt ihn an: »[…] aber ich hätte das Auge mit seinem Frageblick und mit seiner stummen leisen Anklage nicht vor mir« (255).
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Ausgelöst durch die brieflich vorgetragene Bitte der Dienerin Roswitha an von Innstetten, Effi den Hund Rollo zu überlassen, kommt es wenige Jahre später zu einem erneuten Austausch zwischen ihm und Wüllersdorf. Mit gleicher Post hat er von seinem vorgesetzten Minister die Nachricht erhalten, dass ihn der Kaiser zum Ministerialdirektor ernannt habe. Durch den Ausgang des Duells ist er jedoch kritisch gegenüber Ehren und Gunstbezeugungen geworden. Er lebt seitdem im Bewusstsein, dass sein Leben verpfuscht ist und würde gerne neu anfangen: »So hab ich mir im stillen ausgedacht, ich müßte mit all den Strebungen und Eitelkeiten überhaupt nichts mehr zu tun haben und mein Schulmeistertum, was ja wohl mein Eigentlichstes ist, als ein höherer Sittendirektor verwenden können« (301).
Dieser Satz stellt eine schonungslose Selbstanklage von Innstettens dar. Er nennt darin die beiden Grundmotive, die sein Leben früher geprägt und angetrieben haben: Ehrgeiz und Hochmut. Mit beiden Gesinnungen geht nicht erst die Alte Kirche hart ins Gericht. Sie stellen zwei der sieben sog. Todsünden dar. Schon im Alten Testament heißt es in den Sprüchen: »Hochmut kommt vor dem Fall« (Spr 16,18). Ehrgeiz ist eng mit Neid verbunden (vgl. dazu Kains Brudermord: Gen 4). Indem von Innstetten sich beider Sünden bewusst wird und sich von ihnen distanziert, öffnet sich ein Weg zu möglicher Versöhnung. Schon im Alten Testament heißt es, dass Gott es dem Aufrichtigen gelingen lässt (Spr 2,7). Im Neuen Testament sagt Jesus von sich selbst, dass er die Wahrheit ist (Joh 14,6). Ein Mensch, der sich seiner Schuld bewusst wird und diese eingesteht, gerät automatisch in den Machtbereich Jesu Christi und wird von seiner Schuld befreit (Joh 8,32). Von Innstetten überlegt, ob er seinen Ehrgeiz und sein Schulmeistertum in Zukunft nicht zum Wohle bedürftiger Mitmenschen einsetzen könnte. Aber ähnlich wie Effi ist ihm weder ein Leben in der Nachfolge Wicherns noch als Entwicklungshelfer in Afrika möglich. Auch dort würde ihn seine Vergangenheit einholen, dass er Crampas im Duell erbarmungslos erschossen hat. Als einziger Ausweg bietet sich nach Wüllersdorf an: »Hierbleiben und Resignation üben« (302). »In der Bresche stehen und aushalten, bis man fällt, das ist das beste« (303). Von Innstetten selbst überlegt: »Das Glück, wenn mir recht ist, liegt in zweierlei: darin, daß man ganz da steht, wo man hingehört (aber welcher Beamte kann das von sich sagen), und zum zweiten und besten in einem behaglichen Abwickeln des ganz Alltäglichen, also darin, daß man ausgeschlafen hat und daß einen die neuen Stiefel nicht drücken« (299 f.).
Mit solchen Gedanken kommt er biblischen Vorstellungen von einem gelingenden Leben durchaus nahe: »Wenn wir aber Nahrung und Kleider haben, so
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wollen wir uns damit begnügen« (1Tim 6,8); »Hoffe auf den Herrn und tue Gutes, bleibe im Lande und nähre dich redlich« (Ps 37,3). Am klarsten scheinen mir die beiden folgenden Beobachtungen in Richtung einer Versöhnung zu deuten: Indem von Innstetten seiner geschiedenen Frau Rollo überlässt, sendet er ihr ein deutliches Zeichen, dass er ihr vergeben hat. Effi ihrerseits bittet, wie bereits erwähnt, im letzten Gespräch mit der Mutter unmittelbar vor ihrem Tod, ihm auszurichten, dass er »in allem richtig gehandelt [habe]« (308). Effi gewährt ihm damit sogar expressis verbis Vergebung. Es ist das erste Mal, dass sie in einem Gespräch den Namen ihres geschiedenen Ehemanns erwähnt, was das Gewicht der Bitte noch erhöht.
4. »Effi komm« – die Eltern Beide Eltern sind Effi auf je eigene Weise in herzlicher Liebe zugetan. Darum sorgen sie sich von Anfang an um das Glück ihrer Tochter und tauschen sich über ihre Beobachtungen zu deren Ehe mit von Innstetten, aber auch über ihren Charakter im Allgemeinen aus. Diese Gespräche intensivieren sich, seitdem Effi mit Mann und Tochter in Berlin, in der Nähe von Hohen-Cremmen wohnt. Im Gespräch mit ihrem Mann bekennt Frau von Briest, dass ihre Tochter zwar immer wieder ihr Herz bei ihr ausschütte. Sie ist sich jedoch im Klaren: »Das Eigentliche bleibt doch zurück« (225). Während der Vater in ihren Gesprächen über die Tochter stärker die Liebenswürdigkeit und Herzensgüte Effis hervorhebt, stellt die Mutter heraus: »Sie hat einen Zug, den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen und sich zu trösten, er werde wohl nicht allzu streng mit ihr sein« (226). Diese Beobachtung Frau von Briests erinnert an eine Fülle biblischer Aussagen, z. B.: »Gott lässt sich nicht spotten« (Gal 6,7). Allerdings herrscht in der kirchlichen Verkündigung heute ein völlig anderes Gottesverständnis vor: Das des lieben, allzeit vergebungsbereiten Gottes, der durch die Finger schaut – letztlich ein Gottesbild, wie es Frau von Briest ihrer Tochter vorwirft. Obwohl sich die Beziehung zwischen von Innstetten und Effi seit dem Umzug nach Berlin vertieft hat, erkennt Frau von Briest intuitiv, dass ihre Tochter eine Schuld mit sich herumträgt. »Ja, Briest; du glaubst immer, sie könnte kein Wasser trüben. Aber darin irrst du. Sie läßt sich gern treiben, und wenn die Welle gut ist, dann ist sie auch selber gut. Kampf und Widerstand sind nicht ihre Sache« (227).
Als der Ehebruch herauskommt ist die Haltung der Eltern zunächst klar: Zwar sorgen sie für den Lebensunterhalt ihrer Tochter, versichern sie auch ihrer ungebrochenen Liebe, sind aber gleichzeitig überzeugt, »Farbe bekennen und vor aller Welt« ihr Tun verurteilen zu müssen (268), was einschließt, dass Effi nicht
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nach Hohen-Cremmen in ihr Elternhaus zurückkehren kann. Dabei können sie sich auf neutestamentliche Ermahnungen berufen, mit Ehebrechern keine Gemeinschaft zu haben (1Kor 5,11). Ausdrücklich hält Frau von Briest im Brief an ihre Tochter fest, dass es nicht gesellschaftliche Gründe sind, die ihren Mann und sie zu diesem Entschluss bewogen haben: »[W]ir können Dir keinen stillen Platz in Hohen-Cremmen anbieten, […] denn es hieße das, dies Haus von aller Welt abschließen, und das zu tun, sind wir entschieden nicht geneigt. Nicht weil wir zu sehr an der Welt hingen und ein Abschiednehmen von dem, was sich ›Gesellschaft‹ nennt, uns als etwas unbedingt Unerträgliches erschiene; nein, nicht deshalb, sondern einfach weil wir Farbe bekennen und vor aller Welt, ich kann Dir das Wort nicht ersparen, unsere Verurteilung Deines Tuns, des Tuns unseres einzigen und von uns so sehr geliebten Kindes, aussprechen wollen …« (267 f.).
Erst nachdem Effi ernstlich erkrankt ist, ändern sie ihre Meinung. Dabei sind sie sich bewusst, dass dieser Entschluss auch ihr eigenes Leben tiefgreifend verändern wird. Allerdings sind sie jetzt bereit, den Preis einer gesellschaftlichen Ächtung zu bezahlen, weil sie erkannt haben, dass es sich bei der Frage von Effis möglicher Rückkehr in ihr Elternhaus um einen ethischen Konfliktfall handelt, in dem unterschiedliche ethische Forderungen gegeneinander abgewogen werden müssen. Den Ausschlag gibt die elterliche Erkenntnis, dass die Liebe der Eltern zu ihren Kindern den Vorrang vor allen anderen Forderungen hat: »›Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Und wenn man gar bloß eines hat […].‹ ›Dann ist es vorbei mit Katechismus und Moral und mit dem Anspruch der ›Gesellschaft‹.‹ ›Ach, Luise, komme mir mit Katechismus, soviel du willst; aber komme mir nicht mit ›Gesellschaft‹.‹« (291).
Auch wenn die Eltern den Ehebruch Effis weiterhin für Unrecht halten, kommen sie zu der Überzeugung, dass sie dies nicht daran hindern darf, sich zugunsten der Liebe zu ihrem kranken Kind über die Konventionen der Gesellschaft hinwegzusetzen. Sie handeln damit nach biblischen Überzeugungen. So heißt es etwa in 1Petr 4,8 in Aufnahme von Spr 10,12: »Liebe deckt der Sünden Menge zu.« Die Selbstlosigkeit des Verhaltens der Eltern entspricht den Eigenschaften, die der Apostel Paulus der göttlichen Liebe zuschreibt: »Die Liebe sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, […] sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles« (1Kor 13,5.7). Der Roman endet nach Effis Tod mit einem Gespräch zwischen Herrn und Frau von Briest. Beide fragen sich, ob sie vielleicht doch schuld sind am frühen Tod der Tochter: beide, weil sie ihre Tochter nicht streng genug erzogen haben; der Vater speziell wegen seiner Zweideutigkeiten, die eine strengere Erziehung der Tochter unmöglich machten, und die Mutter, weil sie den Altersunterschied
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zwischen Effi und von Innstetten unterschätzt hat. Es ist die Kreatur, die den Eltern am Ende die Versöhnung predigt und die Vergebung zuspricht: »Rollo, der bei diesen Worten aufwachte, schüttelte den Kopf langsam hin und her […]« (310). Und der Vater fügt hinzu, dass die Frage »ein zu weites Feld« sei (ebd.), d. h. dass sie sich auf die Barmherzigkeit eines Höheren verlassen müssten.
5. »Er frißt auch nicht mehr« – der Hund Rollo Effi stirbt, versöhnt mit Gott, mit sich selbst, mit ihrem geschiedenen Ehemann und mit ihren Eltern. Fontane unterstreicht die Richtigkeit von Effis Überzeugung dadurch, dass sie überdies versöhnt mit ihrer Mitwelt heimgeht. Das Versöhntsein mit der Mitwelt zeigt sich zunächst darin, dass Effi in der Schönheit der Natur inneren Frieden findet: »Sie bildete […] die Kunst aus, still und entzückt auf die Natur zu blicken, und wenn das Laub von den Platanen fiel, wenn die Sonnenstrahlen auf dem Eis des kleinen Teiches blitzten oder die ersten Krokus aus dem noch halb winterlichen Rondell aufblühten – das tat ihr wohl, und auf all das konnte sie stundenlang blicken und dabei vergessen, was ihr das Leben versagt oder, richtiger wohl, um was sie sich selbst gebracht hatte« (293).
Dass die Schöpfung Gottes »ewige Kraft und Gottheit« predigt (Röm 1,20), bringen viele Bibelverse zum Ausdruck: Die Werke der Schöpfung singen ein Loblied auf ihren Schöpfer (Ps 104,24). In der Bergpredigt weist Jesus auf die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde hin, um Gottes Fürsorge für den Menschen zu beweisen (Mt 6,25–32). Vor allem aber wird Rollo für Effi zum Prediger der Versöhnung. Der von ihr geliebte Hund gehörte ursprünglich zum Haushalt von Innstettens und war auch nach Effis Scheidung zunächst dort geblieben. Erst nachdem sie krank nach Hohen-Cremmen zurückgekehrt war, stellte sich die Frage, wer sie angesichts des fortgeschrittenen Alters ihrer Eltern und der Korpulenz ihrer Dienerin auf den langen Spaziergängen über die Felder begleiten könnte. Sie meinte: »Rollo, ja, das ginge; der ist mir auch nicht gram. Das ist der Vorteil, daß sich die Tiere nicht so drum kümmern« (301). Es war die Dienerin Roswitha, die sich ein Herz fasste und sich mit der entsprechenden Bitte brieflich an von Innstetten wandte. So wurde Rollo in Effis letzten Lebenswochen ihr unentbehrlicher Begleiter – und vor allem zum Zeugen der ihr von Gott und Menschen zuteil gewordenen Vergebung und Versöhnung:
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»Mit seinen Zärtlichkeiten blieb er sparsam, wie er beim Wiedersehen sparsam mit seinen Freudenbezeugungen gewesen war, aber in seiner Treue war er womöglich noch gewachsen. Er wich seiner Herrin nicht von der Seite« (304).
Diese Treue überdauert sogar Effis Tod. Frau von Briest sagt zu ihrem Mann, nachdem auf das Grab Effis die Grabplatte gelegt worden ist: »Sieh, Briest, Rollo liegt wieder vor dem Stein. Es ist ihm doch noch tiefer gegangen als uns. Er frißt auch nicht mehr« (309). Bibelkundige kennen die alttestamentliche Geschichte von Bileam und seinem Esel (Num 22). Es ist auch hier die Kreatur, die seinem Herrn zum Prediger Gottes wird. Zunächst nonverbal, indem sie auf dem Weg einfach stehenbleibt und dadurch verhindert, dass Bileam dem Schwert eines (für diesen nicht sichtbaren) Racheengels zum Opfer fällt. Am Ende beginnt der Esel sogar zu sprechen, um seinen Herrn im Auftrag Gottes vor dem falschen Weg zu warnen, den er eingeschlagen hat.
I.N.R.I. 2000 – Wo bleibt Judas? Neueste Blicke auf die Passionsgeschichte (Ann Leibovitz, Bettina Rheims, Lady Gaga) Hans Richard Brittnacher
1. Ein Verra¨ter? In der Kulturgeschichte des christlichen Abendlandes gibt es wohl kaum eine Figur, die über Jahrhunderte hinweg konstant ein so einmütiges Maß an Verachtung und Abscheu auf sich gezogen hat wie Judas Iskariot. In den synoptischen Evangelien, deren gelassene, fast gleichmütige Darstellung des Judas, des Verräters unter den Jüngern, den Theologen Karl Barth zu weitreichenden Überlegungen veranlasst hat,1 erscheint Judas Iskariot als der einzige Judäer inmitten der Galiläer, wenn man seinen Beinamen als »Mann aus Kerijoth« (oder »Kariot«) übersetzt,2 offenbar als einziger Intellektueller inmitten von Fischern und Zöllnern, denn ihm wird die Verwaltung der Kasse anvertraut (Joh 12,6; 13,29). Wie die anderen Jünger auch wurde er von Jesus ausgewählt, aber immer erscheint sein Name als letzter in der Liste der Berufenen – und wenn er genannt wird, folgt unweigerlich der Zusatz: »der ihn verriet« (z. B. Mt 10,1–4; Mk 3,13– 19). »Judas ist nicht nur der Letzte sondern auch das Letzte, und zwar von Anfang an.«3 Doch der ihm angelastete Verrat verdankt sich möglicherweise einer problematischen Übersetzung. Das griechische Verb paradidonai bedeutet zwar auch: ›verraten‹, zunächst aber meint es soviel wie ›ausliefern‹, ›dahingeben‹, ›überliefern‹ oder ›übergeben‹. Das Verb findet Verwendung, wenn es im Römerbrief über das Handeln Gottvaters heißt: »Er, der seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat« (Röm 8,32). Paulus gebraucht das gleiche Wort zur Charakteristik von Jesu Selbstopfer: »Er hat mich 1
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»Man muß wohl vor allem die merkwürdige Ruhe beachten, in der das Neue Testament von Judas Ischarioth berichtet. […] Genau genommen wird kein einziger Stein auf Judas geworfen« (Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. II/2, Zürich 1942, 509–511). Vgl. dazu Werner Vogler, Judas Iskarioth. Untersuchungen zu Tradition und Redaktion von Texten des Neuen Testaments und außerkanonischer Schriften, Berlin 1983, 18–21. Matthias Krieg, Judas als Figur des Neuen Testaments, in: ders./Gabrielle ZanggerDerron (Hrsg.), Judas. Ein literarisch-theologisches Lesebuch, Zürich 1996, 13–28, 15.
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geliebt und sich für mich dahingegeben« (Gal 2,20). Dass Jesus ohne Judas sich nicht hätte hingeben können, verweist über das Aporetische des Heilsgeschehens hinaus auf Schatten im Bild des Erlösergottes. Die Worte Karl Barths: »Gott(vater) [hat] so gehandelt wie Judas gehandelt hat«,4 rücken das Handeln des Judas eher in die Nähe von Traditionsstiftung und Überlieferungsgeschehen als in die eines schmählichen Vertrauensbruchs. Aber in den 34 Fällen, in denen das Verb paradidonai im Zusammenhang mit Judas erwähnt wird, hat Luther es in fast boshafter Eintönigkeit konsequent mit »verraten« übersetzt. Die Einheitsübersetzung hat Luthers entstellende Konjekturen mittlerweile korrigiert, denn die Semantik erlaubt keine andere Lesart: Judas hat offenbar dasselbe getan, was Gott getan hat. Die Übersetzungskorrekturen freilich weisen auf weitere Probleme hin: Jesus soll also dem Vorhaben des Vaters zugestimmt haben, der dazu notwendigen Tat des Jüngers nicht? Den einen gepriesen, den anderen verdammt? In der berüchtigten Abendmahlsszene spricht Jesus das unum vestrum: Nach Auskunft von Matthäus (Mt 26,24) und Lukas (Lk 22,21) sei jener unter den Zwölfen der Verräter, der gleichzeitig mit ihm die Hand in die Schüssel tauche. Die forensische Dramatik dieser Szene wird indes relativiert durch eine merkwürdige Bitte, die das Johannesevangelium mitteilt: »Was du tun musst, das tu bald!« (Joh 13,28). Schwer vorstellbar, die eigene Hinrichtung zu prophezeien, den Denunzianten zu identifizieren und dann auf zügige Erledigung der Angelegenheit zu drängen. Auch die Gefangennahme Jesu im Garten Gethsemane ist mindestens in zwei Hinsichten deutungsbedürftig: Einerseits war Jesus, nachdem er auf einem weißen Esel in Jerusalem eingeritten war, durch spektakuläre öffentliches Auftritte wie der Vertreibung der Wechsler aus dem Tempel stadtbekannt und hielt sich nicht verborgen – warum also brauchte es eines Denunzianten, der den Häschern verriet, was jeder wissen konnte? Und warum geschah dieser Verrat mit einem Kuss, einer Geste liebevoller Zärtlichkeit also, deren Außergewöhnlichkeit auch die Evangelisten erwähnen (Mk 14,45; Mt 26,48, Lk 22,48)?5 Für die Judasverächter deutet dies – wie auch andere Details, etwa die merkwürdig geringe Summe, für die Judas laut Matthäus den Verrat beging (Mt 26,15) – auf die Schäbigkeit des Judas hin, seine niedrige und krämerische Gesinnung: Die Infamie verberge er hinter geheuchelter Zuneigung, das furchtbar Pathetische des Verrats entwerte er mit schnöder Geldgier. Die Intensität des Hasses auf Judas schlägt sich nicht zuletzt nieder in den Berichten über seinen Tod, die in mehreren Versionen kursieren: nach Matthäus reute ihn seine Tat, er ging hin und erhängte sich (Mt 27,3–10). Nach Auskunft 4 5
Barth, Dogmatik Bd. II/2 (s. Anm. 1), 543. Das von der Schrift verwendete Verb bedeutet eigentlich »abküssen; zärtlich, heftig küssen« (Meinrad Limbeck, Das Judasbild im Neuen Testament aus christlicher Sicht, in: Hermann Levin Goldschmidt/Meinrad Limbeck [Hrsg.], Heilvoller Verrat? Judas im Neuen Testament, Stuttgart 1976, 37–101, 97).
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der Apostelgeschichte erstand er sich vom Geld des Verrats einen Acker vor den Toren Jerusalems; auf ihm stürzte er, das Bauchfell klaffte auseinander und die Seele (die nicht durch den von Judas’ Kuss auf die Wange des Erlösers geheiligten und damit versiegelten Mund entweichen konnte) entfloh aus der Bauchhöhle (Apg 1,16–19). Eine dritte Version des Endes hat Papias (ca. 120–130 n. Chr.), Bischof von Hierapolis und einer der frühesten Kirchenväter, überliefert. Sie ist weniger bekannt, deshalb teile ich sie hier ausführlicher mit: »Als hervorragendes Beispiel von Gottlosigkeit wandelte Judas in dieser Welt, der zu einem solchen Fleischesumfang angeschwollen war, daß er nicht einmal, wo ein Wagen leicht durchfährt, hindurchgehen konnte, ja nicht einmal die Masse seines Kopfes. Denn seine Augenlider, heißt es, seien dermaßen angeschwollen gewesen, daß er überhaupt das Licht nicht sah, und seine Augen konnten auch nicht von einem Arzt mit Hilfe eines Augenspiegels erblickt werden; so tief lagen sie von der äußeren Oberfläche. Sein Schamglied erschien aber durch Mißgestaltung überaus widerlich und groß, und es gingen dadurch aus dem ganzen Körper zusammenfließend Eiterteile und Würmer zu (seinem) Schimpf ab, allein schon durch die natürlichen Bedürfnisse. Als er dann nach vielen Qualen und Strafen an privatem Ort, wie es heißt, gestorben war, sei der Ort von dem Geruch bis jetzt öde und unbewohnt gewesen; ja es könne bis zum heutigen Tage nicht einmal einer an der Stelle vorübergehen, ohne sich die Nase mit den Händen zuzuhalten. So stark erfolgte der Ausfluß durch sein Fleisch auch auf die Erde.«6
Gemeinsam ist den drei Versionen von Judas’ Tod die Unterstellung einer gleichsam primitiven Kreatürlichkeit des Judas, am krassesten bei Papias, wo die Unförmigkeit des Judas seine Habgier, seine Fresssucht und deren grässliche Folgen veranschaulicht. Markus hingegen dramatisiert den Tod des Judas durch den impliziten Vergleich mit dem Jesu: Beide sterben am Holz. Aber dem altruistischen Erlösertod des einen, der stirbt, um die Menschen zu erlösen, steht der Verzweiflungstod des Judas gegenüber – noch im einsamen Tod eine letzte Gebärde radikaler Selbstbezüglichkeit. Jesus wird beweint von drei Frauen am Fuße des Kreuzes, treue Jünger wie Joseph von Arimathäa nehmen sich des Leichnams an, hüllen ihn in Tücher, sorgen für eine Grablegung in Übereinstimmung mit den religiösen Bräuchen. Judas hingegen stirbt einen einsamen Tod an einem verdorrten Baum in der Wüste, niemand beklagt ihn, keiner bestattet ihn. Vielleicht kehrt er – hier verbindet sich die erste mit der zweiten und dritten Version – auf diese Weise zurück in den Kreislauf einer unerlösten Natur, die vor ihm zurückschaudert. Was keine Seele hat, kann nicht auferstehen, bleibt auf ewig gefesselt an die unermüdlich kreisläufige Natur, die ihn transformieren, aber nimmermehr transzendieren kann. Dies deutet ein Gedicht des deutschen 6
Zit. nach Donatus Haugg, Judas Iskarioth in den neutestamentlichen Berichten, Freiburg i. Br. 1930, 39 f.
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Expressionisten Georg Heym an, der den Ebereschenbaum, an dem Judas sich erhängt haben soll, durch Judas’ Tod als auf alle Zeiten entweiht ansieht.7 Die Figur des Judas sollte also, statt weiter Hass und Antisemitismus zu produzieren, die Gläubigen (und wohl auch die Nachdenklichen und literarisch Interessierten unter den Ungläubigen) zu mindestens zwei grundlegenden Fragen provozieren: 1. Warum hat Judas Jesus verraten (oder ausgeliefert)? Die Evangelien geben keine explizite Antwort. Matthäus (26,14–16) deutet Geldgier an, Lukas und Johannes sehen in ihm das Werkzeug Satans, der sich seiner Seele bemächtigt habe (Lk 22,3; Joh 13,27). Seit etwa dreihundert Jahren sucht die Literatur nach plausiblen Motiven: So habe Judas, vom Ausbleiben spektakulärer Aktionen enttäuscht, Jesus drängen wollen, sich zu seiner Sendung zu bekennen. Das war die Deutung Klopstocks, und in dieser Tradition steht auch noch der vorletzte Roman von Amos Oz.8 Oder war Judas ein von einem apolitischen, gegenüber den Römern defensiven Jesus desillusionierter Revolutionär und Patriot, der auf einen Befreiungskämpfer hoffte, um die Römer aus dem Land zu jagen? Diese Überlegung haben u. a. Carl Sternheim und Egon Friedell entwickelt.9 Sehr viel spekulativer bereits ist die Idee einer erotischen Rivalität – Jesus und Judas als Liebhaber von Maria Magdalena.10 Hat Judas Jesus den ersten Rang in der Gruppe nicht zugestehen wollen? Oder hat Judas – das ist die weitestreichende Konjektur einer lückenhaften und dunklen Erzählung – im Einverständnis mit Jesus, 7
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»Nur eine Eberesche / Mit roten Beeren bespickt / Wie mit feurigen Zungen / Hat ihm Obdach gegeben« (Georg Heym, Der Baum, in: ders., Dichtungen und Schriften, Bd. 1. Lyrik. Hrsg. v. Karl Ludwig Schneider, Hamburg/München 1964, 490). Vgl. dazu Hans Richard Brittnacher, Um den Verrat betrogen. Die Figur des Judas im Expressionismus (Heym, Sternheim, Kirchner, Kokoschka), in: Expressionismus 3 (2016): Religion, 13–33. Friedrich Gottlieb Klopstock, Der Messias. Ein Heldengedicht (1749–1773), in: Friedrich Gottlieb Klopstock, Ausgewählte Werke. Hrsg. v. Karl August Schleiden, München 1960, 195–772; Amos Oz, Judas, Berlin 2015; vgl. dazu Hans Richard Brittnacher, Der Jesus des Judas, in: Yvonne Nilges (Hrsg.), Jesus in der Literatur. Tradition, Transformation, Tendenzen – vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Heidelberg 2016, 251–267. Carl Sternheim, Judas Ischarioth. Die Tragödie vom Verrat (1901), in: Carl Sternheims Gesamtwerk Bd. 7: Frühwerk. Hrsg. v. Wilhelm Emrich, Neuwied/Berlin 1967, 65–124 u. 783–788 (Kommentar); Egon Friedell, Judastragödie (1920), in: Egon Friedell, Die Judastragödie (1920), Wien 1963. Vgl. dazu Hans Richard Brittnacher, Der rebellische Apostel. Zur Judas-Darstellung bei Carl Sternheim und Egon Friedell, in: Zagreber Germanistische Beiträge 22 (2013), 1–15. Durch Nikos Kazantzakis’ Roman Die letzte Versuchung (1955), München 1988, mehr noch durch die folgenreiche Verfilmung von Martin Scorsese, ist die Idee einer Liebesbeziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena zum Anlass abenteuerlicher Spekulationen geworden, etwa in Dan Browns Bestseller The Da Vinci Code (2011), Bergisch Gladbach 2017.
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vielleicht sogar in dessen Auftrag gehandelt, wohl wissend, zwar unverzichtbar für das Heilsgeschehen zu sein, aber dennoch ewiger Verdammnis anheimzufallen? Dann wäre sein Tod noch um einiges heroischer als der des Jesus Christus. Diese Perspektive deuten Jorge Luis Borges, Walter Jens und Uwe Saeger an.11 Zu allen diesen denkbaren Motivationen, die, jede für sich, plausibler sind als das rätselhafte Schweigen der Evangelien, sind eine Reihe teils reizvoller literarischer Lösungsvorschläge ausgearbeitet worden.12 2. Das zweite Problem trifft jedes religiöse Denken ins Herz: Jesus musste verraten werden und sterben, um seine Heilsmission zu verwirklichen, und dies war schon im Voraus beschlossen. Dies legen die Schriften des Alten Testaments nahe, auf die Jesus sich selbst mit den Worten, die seinen Opfertod ankündigen, bezieht: »Der Menschensohn muss zwar seinen Weg gehen, wie die Schrift über ihn sagt, doch wehe dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird. Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre« (Mk 14,21).
Auch bei Lukas fällt unter Hinweis auf die Prophetien des Alten Testaments der Fluch des Weherufs auf Judas: »Denn der Sohn des Menschen geht dahin, wie es bestimmt ist: doch wehe dem Menschen, durch den er ausgeliefert wird« (Lk 22,22). Die Verse von Markus und Lukas sind deutungsbedürftig, wenn nicht sogar aporetisch, weil hier die theologische Diskrepanz von Determinismus und persönlicher Schuld aufbricht – warum wird Judas verurteilt, wenn er doch nur tut, was getan werden muss? Welche Schuld trifft den, der als Werkzeug einer göttlichen Vorsehung handelt? Warum wäre es besser für ihn, ›er wäre nie geboren worden‹, wenn doch seine Existenz die unverzichtbare Voraussetzung für den Tod Jesu und damit die Erlösung des Menschen ist? Die Figur Judas ist der schwarze Fleck im Christentum – nicht wegen der dieser Figur zugeschriebenen niederträchtigen Energie, sondern wegen der Aporie eines religiösen Denkens, das einen Judas braucht, aber nicht haben will. Die Transformation vom doppelgesichtigen, eben auch rachsüchtigen und jähzornigen Vatergott des Alten Testaments zum ausschließlich gütigen, verzeihenden und liebenden Gottessohn des Neuen Testaments kann nur gelingen, wenn eine dritte Figur die verwaisten, die vakant gewordenen Anteile des Bösen übernimmt. Nach erledigter Tat wird er, der unverzichtbare Täter, davongejagt, wie der Sündenbock, der beladen mit den Sünden der anderen in die Wüste 11
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Jorge Luis Borges, Tres Versiones de Judas (1944; deutscher Titel: Drei Fassungen von Judas), in: Jorge Luis Borges, Fiktionen. Erzählungen 1937–1944, Frankfurt a. M. 1982, 139–145; Walter Jens, Der Fall Judas (1975), Stuttgart 1975; Uwe Saeger, Die gehäutete Zeit. Ein Judasbericht, Rostock 2008. Eine Übersicht bietet die sorgfältig ausgewählte und kommentierte Anthologie Krieg/ Zangger-Derron (Hrsg.), Judas (s. Anm. 3).
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geschickt wird. Judas, der unerlöst starb, vielleicht unerlöst sterben musste, wirft einen Schatten auf die christliche Religion, die Vergebung und Erlösung predigt. Trotz dieser – literarisch oft ergiebigen – Widersprüche, die zunehmend auch die Theologie irritieren, bleibt das Masternarrativ vom Erlöser und Verräter, kulturgeschichtlich erfolgreich wie kein zweites, weitgehend unverändert: Das betrifft nicht nur die Stationen der Passion, die einem dramatisch wirkungsvollen Ablaufplan folgen, sondern auch das Gestaltbild, das wir uns von den Protagonisten der Vorgänge machen: ein androgyn wirkender, schlanker und schöner Jesus von ernster Entschlossenheit, eine im liebenden Schmerz erstarrte Mutter Gottes, eine klagende Maria Magdalena, ein femininer Lieblingsjünger, der seinen Kopf an Jesu Brust legt, ein rauhbeiniger und heftiger Petrus usf. – und ein hakennasiger, rothaariger, scheeläugig und missgünstig dreinblickender Judas, der in seiner klauenhaften Hand hinter seinem Rücken den Geldbeutel versteckt.13
2. Annie Leibovitz: The last Supper Neueste Stellungnahmen zum theologischen und literarischen Rätsel des Judas setzen nicht länger nur an den neuralgischen Punkten und Leerstellen der Erzählung an, sondern an ihrer ästhetischen Gestaltung. Ein markantes Beispiel dafür ist das Foto The last Supper der amerikanischen Fotografin Ann Leibovitz. Es ist entstanden als fotografische Inszenierung zu der amerikanischen Serie The Sopranos, ein auch von der Kritik akklamierter Beitrag des neueren QualityTV. Schon am Ende der ersten Staffel stand für die Kulturkritik der nicht leicht zu beeindruckenden New York Times das Urteil fest: »the greatest work of american popular culture of the last quarter century.«14 Es geht um den Mafia-Boss Tony Soprano, der in New Jersey eher glücklos agiert. Er hat Probleme mit seiner Familie, einer neurotischen und nörgelnden Mutter, einer Ehefrau, die sich vernachlässigt fühlt, zwei halbwüchsigen Kindern, einem eifersüchtigen Onkel, der Tony seine Erfolge auf der kriminellen Karriereleiter neidet und einem drogensüchtigen Neffen, den er zu seinem Nachfolger aufbauen wollte. Aber seine Probleme betreffen auch seine soziale famiglia, also den Mafia-Clan, dem er als Oberhaupt vorsteht, dessen Mitglieder ihren Aufgaben nur nachlässig nachkommen, in die eigene Tasche wirtschaften oder Tony bespitzeln. Als Mafia-Boss hat Tony zudem beständig Probleme mit den Vertretern des Gesetzes. Hinzu 13
14
Vgl. ausführlicher zur bildkünstlerischen Denunziationsgeschichte des Judas Hans Richard Brittnacher, Die Physiognomik des Verräters. Der Judas des Leonardo von Leo Perutz, in: Zagreber Germanistische Beiträge 21 (2012), 49–74. Zit. nach Frank Kelleter, Populärkultur und Kanonisierung. Wie(so) erinnern wir uns an Tony Soprano?, in: Matthias Freise/Claudia Stockinger (Hrsg.), Wertung und Kanon, Heidelberg 2010, 55–76, 65.
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kommt, dass Tony, eine auch physisch durchaus eindrucksvolle Erscheinung, von Panikattacken geplagt wird und die Hilfe einer Psychoanalytikerin in Anspruch nehmen muss. Dass ein Capo der patriarchalisch organisierten italienischen Mafia möglicherweise Geschäftsgeheimnisse ausplaudert – und dies auch noch bei einer Frau! –, darf in seinen Kreisen nicht bekannt werden. So sieht sich Tony in einen Mehrfrontenkrieg verwickelt, der am Ende der ersten Staffel eskaliert, als er erkennen muss, dass seine Mutter, eine verhärmte Lady Macbeth, sich mit dem Onkel verschworen hat, um ihn umbringen zu lassen.
Abb. 1: Annie Leibovitz: The last Supper15
Auffällig an Leibovitz’ Inszenierung ist das arithmetisch durchdachte und symmetrisch choreographierte Arrangement der Figuren zu einem Schaubild gruppendynamischer Konflikte vor dem Hintergrund der Abendmahlsikonographie: Tony, der Schmerzensmann, sitzt in der Mitte, in der Pose des segnenden Christus, dessen Arme kraftlos auf die Tischplatte gesunken sind. Den Bildraum links von ihm teilen sich sechs Mitglieder seiner Familie, rechts sechs Mitglieder aus dem professionalen Umfeld. Die zusätzliche Untergliederung der beiden Gruppen in Zweier- oder Dreierkonstellationen lässt an Leonardos Abendmahlsdarstellung im Mailänder Kloster Santa Maria delle Grazie denken, wo drei Lunetten als architektonische Vorgaben eine solche arithmetische Gliederung der Gestalten in drei Segmente nahelegten. Die beiden Außengruppen erhalten hier wiederum durch die Aufteilung in je vier sitzende und zwei (bzw. drei) stehende 15
https://i.pinimg.com/736x/6f/70/6c/6f706cfda200f47e65fd17ea25e218a9.jpg (Stand: 03. 02. 2020).
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Figuren eine zusätzliche Dynamik. Die choreographische Verteilung der Personen auf Leonardos Abendmahl hatte zudem den großen Vorteil, die schematische Gegenüberstellung mittelalterlicher Abendmahlsdarstellungen abzulösen, in denen dem ausgeschlossenen, allein am Fuße oder an einer Seite des Tisches sitzenden Judas ein selbstgerechtes Tribunal der Jünger gegenübersaß. An die Stelle dieses einfallslos denunziatorischen Arrangements der Figuren war mit Leonardos Darstellung erstmals eine dramatische Szenerie getreten, die lebhafte Bewegung der in Gespräche verwickelten Jünger, wen Jesus mit seiner Prophezeiung wohl gemeint haben könnte. Auf Leibovitz’ Variante der Abendmahlsikonographie wird die ›biologische‹ Familie links von Tony/Christus ergänzt durch den ideellen Vater von Tony Soprano, David Chase, den Showrunner der Serie. Nicht einmal er scheint zu wissen, wie es mit seinem Helden weitergehen wird. Neben ihm sitzen die beiden Kinder Tonys, die ehrgeizige und kapriziöse Tochter Meadow und Anthony junior, ein desorientierter Teenager, die beide den Vater mit Blicken bedrängen. Im Hintergrund sehen wir den missgünstigen und intriganten ›uncle junior‹, eine Judasfigur aus dem innersten Kreis, der Tonys Ehefrau Carmela etwas ins Ohr flüstert, vielleicht auch die Lippen zum Judaskuss spitzt. Den dramatischsten Akzent des Bildes setzt die Gestalt von Tonys Mutter Lydia, die neben Tony in der Rolle des Judas sitzt. Rechts von Tony sehen wir Christopher, den Dauphin der famiglia, in der Rolle des Lieblingsjüngers Johannes, hinter ihm Tonys Ratgeber – einerseits Sylvio Dante, der in Tonys Crew als consigliere agiert, andererseits Tonys Therapeutin Dr. Melfi. In der Gruppe rechts außen debattieren Paulie, Tonys Adjutant, Hash, ein Freund aus der jüdischen Mafia, und Pussy Bompensiero, ein alter Freund aus Jugendzeiten, Patenonkel seines Sohnes, aber auch Spitzel des FBI, der versucht, verräterische Aussagen Tonys auf Band mitzuschneiden – auch er also eine Judasfigur, ein Verräter in der unmittelbaren Umgebung. Während die Gruppe links die von Tony Abhängigen zeigt, die ihn bedrängen, Zuwendung, Beachtung oder Entscheidungen erwarten, haben sich auf der rechten Seite die in Stellung gebracht, die Tonys Autorität als Boss in Frage stellen – sei es, dass sie auf ihn einreden, ihn lenken wollen, sei es, dass sie sich von ihm abwenden und eigene Interessen verfolgen. Zwischen ihnen, also auch: zwischen mehreren Judasfiguren im inner circle, sitzt Tony in der Rolle des Schmerzensmannes, der es offensichtlich keiner Partei recht machen kann. Es hätte nahegelegen, den Spitzel Pussy – der in der zweiten Staffel der Serie als Spitzel entlarvt und von Tony und seinen Männern auf einem Boot hingerichtet wird – die Rolle des Judas unmittelbar zur Rechten von Christus/Tony besetzen zu lassen. Dass die Wahl hingegen auf Tonys Mutter fällt, verdoppelt die Provokation des Verrats durch den Rollenwechsel der Geschlechter. Diese Provokation – eine Frau als Verräterin! – ergänzt noch das Skandalon, dass es sich bei ihr um die leibliche Mutter des Sohnes handelt. Die Vorstellung der Mutter als Verräterin, die sich mit ihrem Schwager verschwört, um den eigenen Sohn ermorden
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zu lassen, bezieht ihre provozierende Energie aus der Verletzung eines Urvertrauens, das alle Kulturen für die Mutter-Kind-Dyade annehmen. Die vielen cumare, die Geliebten, die Tony im Lauf der sieben Staffeln neben seiner Frau aushält, sind allesamt jüngere, noch femme fatale-taugliche Ebenbilder seiner Mutter, die ihm die vorenthaltene mütterliche Liebe ersetzen sollen, wie er selbst in der Episode »Amour Fou« erkennt: »I’ve known you my whole fucking life« (3.38). Die grundsätzliche anthropologische Provokation erhält einen zusätzlich blasphemischen Charakter, bedenkt man, dass Lydia nicht nur grundsätzlich gegen die Rolle der Mutter verstößt, sondern damit auch in ikonische Rivalität zur Muttergottes gerät. Drastischer könnte der Gegensatz zwischen zwei Müttern kaum ausfallen als zwischen Maria und Lydia, der ätherischen, in vielen Pietàs zur ikonischen Mutter gewordenen Maria, und der herben Lydia Soprano, einer mater dolorosa in Kittelschürze, der Nancy Marchand mit einer unnachahmlichen Performance als nörgelnde Witwe im Trauerhabitus der ewig Benachteiligten und Vernachlässigten Kontur verleiht. Ihr skeptischer Blick verrät, dass sie Tony, den der Vorspann der Serie noch als den von der Mutter begrüßten »chosen one« besingt,16 eben nicht als den Auserwählten erkennt, sondern als einen Schwächling, der seiner Aufgabe nicht gewachsen ist. Im Unterschied zum Evangelium, in dem Jesus sich von seiner Mutter distanziert, als sie ihn mit dem Wunder in Kana zur Übernahme seiner messianischen Rolle nötigt (»Was habe ich mit Dir zu schaffen, Weib!« [Joh 2,4]), ist es hier die Mutter, die sich von ihrem Sohn löst. Gleichwohl: So sehr sich Ann Leibovitz mit dem gendering der Verräterfigur vom Subtext der Evangelien löst – in der Identifikation des Judas, mag er auch das Geschlecht gewechselt haben, als eines Verräters greift ihre Darstellung aus naheliegenden Gründen auf die problematische Tradition eines unreflektierten Judashasses zurück.
3. Serge Bramly & Bettina Rheims: I.N.R.I. Eine vergleichbare religionskritische oder vielmehr aktualisierende Sicht auf eine ikonisch verbrauchte religiöse Tradition liegt auch dem Werk I.N.R.I zugrunde, einer Kollaboration des Schriftstellers und Kunstkritikers Serge Bramly, eines Franzosen tunesisch-jüdischer Herkunft, und der französischen Fotografin Bettina Rheims, die für ihre erotisch-freizügigen Fotos von Frauen berühmt wurde. Beider Anliegen in einer Ausstellung und einem Bildband ist es, die ikonologisch gleichsam ausgezehrte Passionsgeschichte neu zu erzählen, indem die Protagonisten und ihre Rollen die gleichen bleiben, jedoch ihr Erscheinungsbild, ihre Posen und ihre Physiognomie in einem an der Modefoto16
Im Refrain des Songs »Woke Up This Morning« der Band Alabama 3 heißt es immer wieder: »mama always said you’d be / the chosen one«.
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grafie angelehnten, fast plakativen ästhetischen Verfahren verändert werden. Ein Verfremdungseffekt soll die Aktualität der alten Fabel in neuem Gewand zeigen und an die gerade in der antisemitischen Tradition gerne geleugnete jüdische Herkunft von Jesus und seinen Jüngern erinnern. Bei diesem Unternehmen einer ästhetischen und religiösen Verfremdung liegt es nahe, dem zu einem universellen ästhetischen Katalysator gewordenen gendering auch hier eine besondere Funktion zuzuweisen. Das bleibt hinter der Provokation von Leibovitz zurück, weil männliche Models sowohl Jesus als auch Judas darstellen. Aber das Tryptichon der Kreuzigung ist aufschlussreich: Eine leere Tafel in der Mitte, die lediglich ein Kreuz enthält, das abstrakte Symbol des christlichen Glaubens, wird von zwei Bildern flankiert, die jeweils in den Rollen der Schächer einen Mann in der Pose des erlösten Christus und eine Frau in der Pose des Schmerzensmannes am Kreuz zeigen, wobei die Scham der Frau, der Kreuzigungsikonographie entsprechend, durch ein Lendentuch verhüllt wird. Eine fast nackte Frau – die auch als Titelbild des Bandes erscheint – hat eine eklatante blasphemische Tradition, wenn man an Die Versuchung des Hl. Antonius von Felicien Rops (1878) oder in der Literatur an Hanns Heinz Ewers’ Roman Der Zauberlehrling oder Die Teufelsjäger (1909) denkt, ist aber nach Auskunft von Bramly ausdrücklich nicht polemisch gemeint, sondern will die von der Religionsgeschichte nicht angemessen reflektierte Bedeutung der Frau als Märtyrerin ergänzen.17
Abb. 2: Bettina Rheims: Judaskuss18
17
18
Interview mit Serge Bramly, https://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/inri/interview. htm (Stand: 29. 11.2019). Abb. entnommen Serge Bramly/Bettina Rheims, I.N.R.I., New York 1999, 101.
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Judas bleibt auch in der genderisierten Variante von Bramly/Rheins ein Mann, wenn auch physiognomisch verändert, fast femininisiert: keine bärtige, rothaarige und hässliche Visage, sondern ein attraktiv und cool wirkender blonder Schönling. Die an Lukas angelehnte Nacherzählung weist ihm keine persönliche Schuld zu: »He [Jesus, H.R.B.] then turned toward Judas, the last of the twelve, and placed the morsel of bread between his lips. Judas swallowed it, and on doing so, the devil seems to enter his body, intoxicating him. ›What you have to do, do quickly‹, murmured Jesus.«19
Der Judas auf den Bildern von Rheims handelt unter dem Einfluss des Teufels wie unter dem einer Droge: Der Judaskuss zeigt einen seiner selbst entfremdeten Judas, der seine Handlung offensichtlich unter Zwang begeht, der seinem Freund und Rabbi einen Kuss geben will, der ihm den Angstschweiß auf die Stirne und Wangen treibt. Jesus erwehrt sich der Annäherung, indem er sanft seine Hand auf die Lippen des Judas legt. Die modernistische Neukalibrierung des Jesusverräters als Szeneboy setzt sich auch in seinem Sterben fort: Er erhängt sich nicht, sein Leib bricht nicht auf, sondern er wird wie ein Drogentoter, der sich den »letzten Schuss« – wenn auch mit einer Pistole – gesetzt hat, in einem leeren Apartment gefunden – auch dies ein Nicht-Ort der Einsamkeit,20 das großstädtische moderne Gegenstück zur menschenleeren Wüste, in der Judas sich erhängte. Zur Deutung des Judas trägt auch diese fotografische Inszenierung wenig bei. Sie bestätigt durch ihre Aktualisierung die Unverwüstlichkeit einer Erzählung, ohne Gründe dafür angeben zu können, wenn sie Judas als Opfer bzw. als unfreiwilligen Täter erscheinen lässt, was die anhaltende Popularität der Urgeschichte des Christentums kaum zu erklären vermag.
19 20
A. a. O., 151–153. Vgl. Marc Augé, Nicht-Orte, München 2014.
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Abb. 3: Bettina Rheims: Der Tod des Judas21
4. Lady Gaga: Judas Schon bei Sternheim war die Beziehung zwischen Jesus und Judas nicht frei von erotischer Rivalität. Zugespitzt wird dieser Aspekt des Motivs in dem Musikclip Judas (2011) der amerikanischen Popsängerin Stefani Germanotta, die sich mit
21
Abb. entnommen Bramly/Rheims, I.N.R.I. (s. Anm. 18), 175.
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extravaganten Kostümen und provozierenden acts als Lady Gaga inszeniert.22 Die für die treibenden hooklines ihrer Songs bekannte Sängerin verbindet bei ihrem Auftritt ikonographische Merkmale der Maria Magdalena mit denen einer leichtgeschürzten, tanzenden Salomé. Die zwölf Apostel formieren sich hier zu einer Motorradgang, die in Bikerkluft (mit auf den Rücken aufgemalten Namen) auf schweren Maschinen in Formation auf der Autobahn fahren und in einen Club einkehren.
Abb. 4: Maria Magdalena (Lady Gaga) zwischen Jesus (links) und Judas (rechts)23
Der orientalisch wirkende Jesus scheint der sanftmütige Repräsentant der Gruppe zu sein, Judas hingegen – ihn stellt der durch die Serie The Walking Dead als Zombiekiller Daryl Dixon bekannt gewordene Schauspieler Norman Reedus dar – ist der gewalttätige Outlaw, der keinem Streit und keiner Bar-Liebschaft aus dem Wege geht. Maria Magdalena/Lady Gaga liebt Jesus, aber fühlt sich zugleich vom düsteren Charme des Judas angezogen: »Jesus is my virtue, and Judas is the demon I cling to.« Die naive Liebende und Sünderin bezeichnet sich selbst als »holy fool«, eine heilige Närrin, die Judas seine Untreue verzeiht und im letzten Drittel des Clips in einer Geste der Versöhnung mit beiden in einer Badewanne 22
23
Der Song findet sich auf dem Album »Born this Way«, erschien 2011 und erhielt innerhalb der ersten beiden Tage 156.000 Downloads. Vgl. dazu https://medium.com/@ba roness09/artifact-analysis-lady-gagas-music-video-judas-decdb805304f (Stand: 30. 11. 2019). http://www.myvideo.de/watch/8122937/Lady_Gaga_Judas, Screenshot (Stand: 29. 11. 2019).
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sitzt: Sie wäscht Jesus die Füße, während Judas ihr seine Stiefel auf den Nacken setzt. Andererseits deutet die Symbolik der Szene an, dass sie anschließend auch Judas die Füße waschen will. Die Schlussszene jedoch zeigt unmissverständlich das Scheitern der Botschaft der Nächstenliebe: Maria Magdalena, die zunächst als spärlich bekleidete Tänzerin aufgetreten war, erscheint jetzt im Brautkleid, wird gesteinigt und liegt am Ende des Clips wie eine leblose Puppe am Boden.24 Lady Gagas Judas lässt sich als eine an den Figuren des Neuen Testaments entwickelte Parabel über die Ambivalenz der Liebe, über Verrat und Vergebung verstehen – eine ironische Reverenz der Postmoderne vor der anthropologischen Weisheit des Neuen Testaments und eine Erinnerung an die wahren Opfer religiös motivierter Gewalt: Frauen wie Maria Magdalena. Es ist auch die in die Form einer Popballade gekleidete Absage an ein männliches Masternarrativ: Die Geschichte vom Heilsbringer und vom Verräter, in der Religion, in der Literatur und im Film immer wieder neu erzählt, bleibt sich in allen Varianten darin gleich, dass die Akteure Männer sind. Lady Gaga erinnert daran, dass das Opfer dieses »Männerdinges« Frauen sind, die anschließend achtlos entsorgt werden. Das Schlussbild des Clips spricht Bände.
Abb. 5: Die gesteinigte Maria Magdalena (Lady Gaga)25
24 25
http://www.myvideo.de/watch/8122937/Lady_Gaga_Judas (Stand: 29. 11. 2019). http://www.myvideo.de/watch/8122937/Lady_Gaga_Judas, Screenshot (Stand: 29. 11. 2019).
Steve Duffys »The Penny Drops« und die Ghost Stories von M.R. James Johannes Dillinger
1. James und Duffy »Few people can resist the temptation to try a little amateur research in a department quite outside their own, if only for the satisfaction of showing how successful they would have been had they only taken it up seriously.«1 Der Autor bekennt sich dazu, der von Montague Rhodes James beschriebenen Versuchung nachgegeben zu haben. Obwohl er Historiker ist, will er sich hier auf das Gebiet der Literaturwissenschaft wagen. Die Festschrift für Marco Frenschkowski ist der richtige Ort für ein solches Experiment. Nicht etwa, weil Marco Frenschkowski diesem »mean desire«2 selbst nachgeben würde, sondern weil er ein Freund und Kenner der Fantastischen Literatur ist. In diesem Text soll es nämlich um Fantastische Literatur gehen. Es wird gefragt, inwieweit Steve Duffys Kurzgeschichte »The Penny Drops« in der Tradition der Ghost Stories von M.R. James steht.3 Zunächst soll das Werk der beiden Autoren ganz knapp dargestellt werden. Zur Orientierung wird Duffys Ghost Story »The Penny Drops« dann kurz zusammengefasst. Es folgt ein zweiter, detaillierterer Durchgang durch Duffys 1
2 3
M.R. James, »Oh, Whistle, and I’ll Come to You, My Lad«, in: Darryl Jones (Hrsg.), M.R. James. Collected Ghost Stories, Oxford 22017, 76–93, 80. James’ Werk wird hier durchgehend nach der von Jones edierten Ausgabe zitiert, weil es die Neueste ist. Die Qualität der Ausgabe ist leider fragwürdig. Die zu James’ Lebzeiten unveröffentlichte, aber abgeschlossene Geschichte »The Fenstanton Witch« wird ebenso wie James’ umfangreiche Fragmente ohne Begründung weggelassen. Die besten annährend vollständigen Ausgaben der fantastischen Geschichten von James und seinen Äußerungen zur Fantastik sind Barbara Roden/Christopher Roden (Hrsg.), M.R. James: A Pleasing Terror. The Complete Supernatural Writings, Ashcroft 2001, und Stephen Jones (Hrsg.), Curious Warnings. The Great Ghost Stories of M.R. James, London 2012. James, »Oh, Whistle« (s. Anm. 1), 80. Steve Duffy, The Penny Drops, in: ders./Ian Rodwell, The Five Quarters, Ashcroft 2001, 41–72.
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Geschichte. Dabei wird jeweils gefragt, ob Parallelen zwischen den einzelnen Elementen der Erzählung und dem Werk von M.R. James bestehen. Abschließend werden die Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst. Im Bereich der Fantastik darf der Brite Steve Duffy als prominenter Autor gelten. Im Jahr 2000 gewann Duffy für »The Rag and Bone Man« den Preis für die beste Kurzgeschichte der International Horror Guild. 2016 wurde ihm für »Even Clean Hands Can Do Damage« der Shirley Jackson Award für die beste Novelle verliehen. 2009 und 2012 war er auf der Auswahlliste für den World Fantasy Award.4 Zu James’ Werk hat sich Duffy aus literaturwissenschaftlicher Perspektive geäußert.5 Die James-Gesamtausgabe aus dem Jahr 2001 hat Duffy mit einem Vorwort versehen.6 In Duffys Oeuvre gibt es einige offensichtliche Pastiches. »The Oram County Whoosit« übernimmt Motive aus Lovecrafts Cthulhu Mythos.7 Alle Geschichten in Duffys erster Sammlung von Ghost Stories »The Night Comes On« und drei der fünf Stories seines zweiten Sammelbandes »The Five Quarters« spielen auf die Ghost Stories von Montague Rhodes James an.8 »The Five Quarters«, publiziert von Steve Duffy und Ian Rodwell 2011 bei Ash Tree Press, ist eine Sammlung von fünf Horrorkurzgeschichten. Die Geschichten werden verbunden durch eine Rahmenhandlung, wie sie in der Fantastik spätestens seit den Serapionsbrüdern beliebt ist: Fünf Herren kommen in jedem Quartal zu einem geselligen Treffen zusammen. In einem Jahr ergibt es sich, dass bei jedem Treffen von unheimlichen Ereignissen berichtet wird. Obwohl Rodwell zur Entwicklung der Stories beitrug, wird man Duffy als den eigentlichen Autor ansehen können. Von ihm allein verfasste Erläuterungen zu den Geschichten schließen den Band ab. Diesen Erläuterungen nach ist nur eine der Stories – »Uneasy Lies the Head« – eine Hommage an James. Auf seine berühmte Kurzgeschichte »A Warning to the Curious« geht nicht nur die Handlung von Duffys Geschichte indirekt ein; die Protagonisten dieser Geschichte sprechen über James’ Werk. Tatsächlich spielen aber zwei weitere Geschichten, »Better Than One« 4 5
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https://www.goodreads.com/author/show/376166.Steve_Duffy (Stand: 08. 07.2019). Steve Duffy, »They’ve Got Him! In the Trees!« M.R. James and Sylvan Dread, in: Sunand T. Joshi/Rosemary Pardoe (Hrsg.), Warning to the Curious. A Sheaf of Criticism on M.R. James, New York 2007, 177–183; Steve Duffy, The Dennistoun Effect, in: Roger Johnson (Hrsg.), Formidable Visitants, Chelmsford 1999, 30 f. Steve Duffy, Introduction, in: Barbara Roden/Christopher Roden (Hrsg.), M.R. James: A Pleasing Terror. The Complete Supernatural Writings, Ashcroft 2001, XV–XXV. Trotz des schnodderigen Tons ist dieser Text Duffys nicht nur Lob eines »Fans« für James, sondern auch ein interessanter Kommentar zu James’ Arbeitsweise. Steve Duffy, The Oram County Whoosit, in: Barbara Roden/Christopher Roden (Hrsg.), Shades of Darkness, Ashcroft 2008, 3–27. Steve Duffy, The Night Comes On, Ashcroft 1998; ders./Ian Rodwell, The Five Quarters, Ashcroft 2001.
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und »The Penny Drops« auf Motive von James’ Stories an.9 »Better Than One« entwickelt ein typisches Element von James’ Geschichten, nämlich die schwierige Kommunikation zwischen Personen mit stark unterschiedlicher Bildung, interessant weiter. Zudem bietet die Kurzgeschichte einen reizvollen Schurken, der sehr viel mit Karswell aus James’ »Casting the Runes« gemeinsam hat.10 Dennoch beschränkt sich der vorliegende Text auf »The Penny Drops«. Diese Geschichte wurde nicht nur in der Anthologie »Year’s Best Fantasy & Horror« für das Jahr 2000 abgedruckt, sondern auch auf Empfehlung der James Expertin Pardoe »In Ghosts & Scholars« publiziert.11 Es soll untersucht werden, inwieweit Duffys Geschichte mit dem Oeuvre von James korrespondiert: Gibt es Personenkonstellationen, Charaktere, Situationen, Schauplätze, Motive in »The Penny Drops«, die man als Zitate aus James oder Anspielungen auf ihn verstehen kann? Falls ja, ist zu fragen, wie diese Berührungspunkte mit James in der Geschichte eingesetzt werden. Vergleiche zwischen James und Duffy sind schwierig, nicht nur weil fast siebzig Jahre James’ letzten und Duffys ersten Sammelband voneinander trennen. Das Werk beider Autoren ist vielschichtig. Duffys Werk ist inzwischen nicht nur umfangreicher als das von James, es ist in sich auch komplexer. Duffys Protagonisten bewegen sich in einer Vielzahl von Milieus und sehen sich einer Reihe sehr unterschiedlicher Herausforderungen gegenüber. Duffy präsentiert Geschichten, erzählt aus der Perspektive eines menschenscheuen alternden Akademikers, eines Teenagers aus den Vororten Tokyos, eines sterbenden HIVInfizierten.12 Bedroht werden seine Helden von den Geistern angelsächsischer Krieger, einer Jagdgesellschaft, einer sich verselbständigen Gestalt aus einem Vincent Price-Horrorfilm oder einem dämonischen Wesen, das sich nur als Stimme in einem dunklen Raum manifestiert.13 Ton und Atmosphäre von Duffys 9
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Duffy, Penny (s. Anm. 3); ders., Better Than One, in: ders./Ian Rodwell, The Five Quarters, Ashcroft 2001, 101–142; Steve Duffy, Uneasy Lies the Head, in: ders./Ian Rodwell, The Five Quarters, Ashcroft 2001, 143–222. Vgl. M.R. James, Casting the Runes, in: Jones (Hrsg.), M.R. James. Collected Ghost Stories (s. Anm. 1), 145–164. Steve Duffy, Notes on the Stories, in: ders./Ian Rodwell, The Five Quarters, Ashcroft 2001, 223–246, 230 f.; Ellen Datlow/Terri Windling, Year’s Best Fantasy and Horror 14, New York 2001, 271–294. Duffy, Better (s. Anm. 9); ders., The Suicide Wood, in: ders. (Hrsg.), The Moment of Panic, Hornsea 2013, 253–272; ders., Numbers, in: ders. (Hrsg.), Tragic Life Stories, Ashcroft 2010, 147–165. Ders., Uneasy (s. Anm. 9); ders., Tantara, in: ders. (Hrsg.), Tragic Life Stories, Ashcroft 2010, 38–59; ders., Vulnavia, or, The Mechanical Princess, in: ders. (Hrsg.), The Moment of Panic, Hornsea 2013, 79–106; ders., Certain Death for a Known Person, in: ders. (Hrsg.), Tragic Life Stories, Ashcroft 2010, 60–73.
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Geschichten sind hochgradig variabel. Fast alberne Parodien stehen neben grauenhaften Alpträumen persönlichen Verfalls und politisch engagierten Texten.14 Damit soll freilich nicht angedeutet werden, dass im Gegensatz zu Duffy James nur ein begrenztes Repertoire von Charakteren und Handlungslinien gehabt hätte. James ist weit weniger »Jamesian« als manchmal angenommen wird. Das ist der Grund, wieso Versuche, ihn schlicht nachzuahmen, scheitern. Der Leser will den Epigonen ein Zitat aus »Oh, Whistle« zurufen: »Fur … flebis!«15 Sie überziehen und vereinfachen, was nur in der Andeutung und komplex eingebettet überzeugen kann. Es ist sicherlich richtig, dass in vielen Ghost Stories von James eine Art historische Recherche eine Rolle spielt. In einigen Geschichten von James tritt entsprechend ein Akademiker mit historischem Interesse als zentraler Protagonist auf. Das trifft aber nicht für alle Ghost Stories zu: In einigen von James’ besten Geschichten gibt es diese Gestalt des Antiquary16 gar nicht oder nur als Erzähler der Rahmenhandlung, z. B. in »The Ash Tree«, »School Story«, »Martin’s Close«, »Mr Humphreys and his Inheritance«, »Residence at Whitminster«, »An Episode of Cathedral History«, »Story of a Disappearance«, »Two Doctors«, »The Malice of Inanimate Objects«.17 In anderen Stories ist diese historisch interessierte Person der Schurke z. B. in »Lost Hearts« oder »An Evening’s Entertainment«.18 In »A View from a Hill« wird die Gestalt des Antiquary dreimal variiert als Akademiker, Heimatforscher aus der Oberschicht und Hei14
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Ders., The Marsh Warden, in: ders., The Night Comes On, Ashcroft 1998, 200–215; ders., Someone Across the Way, in: Barbara Roden/Christopher Roden (Hrsg.), Acquainted with the Night, Ashcroft 2004, 272–290; Steve Duffy, The Rag-and-Bone Men, in: ders. (Hrsg.), The Moment of Panic, Hornsea 2013, 131–148. James, »Oh, Whistle« (s. Anm. 1), 82. Das Wort kann nicht exakt ins Deutsche übertragen werden. Der »Antiquary« ist nicht unbedingt ein professioneller Historiker, eher ein Sachverständiger für Antiquitäten oder allgemein eine an Geschichte interessierte Person. Was James selbst mit dem Wort meinte, ist vielleicht in dem lapidaren »You know about old things« angedeutet, mit dem in »A School Story« die Person angesprochen wird, die die rätselhaften Vorgänge in der Geschichte wenigstens teilweise erklären könnte, James, School (s. Anm. 17), 116. Ders., The Ash-Tree, in: Jones (Hrsg.), M.R. James. Collected Ghost Stories (s. Anm. 1), 35–47; M.R. James, A School Story, in: Jones, a. a. O., 111–117; M.R. James, Martin’s Close, in: Jones, a. a. O., 179–198; M.R. James, Mr Humphreys and His Inheritance, in: Jones, a. a. O., 197–220; M.R. James, The Residence at Whitminster, in: Jones, a. a. O., 221–241; M.R. James, An Episode of Cathedral History, in: Jones, a. a. O., 252–268, M.R. James, The Story of a Disappearance and an Appearance, in: Jones, a. a. O., 268–280; M.R. James, Two Doctors, in: Jones, a. a. O., 281–288; M.R. James, The Malice of Inanimate Objects, in: Jones, a. a. O., 397–400. M.R. James, Lost Hearts, in: Jones (Hrsg.), M.R. James. Collected Ghost Stories, a. a. O., 14–23; M.R. James, An Evening’s Entertainment, in: Jones, a. a. O., 358–367.
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matforscher aus der Mittelschicht, wobei letzterer natürlich zu Magie greifen muss, um von den anderen überhaupt wahrgenommen zu werden. An die Grenze geht James in »Tractate Middoth«, wo der Antiquary wieder verdreifacht wird als Universitätsangestellter, habgieriger Betrüger und Gespenst, wobei der dritte dem ersten zum Vermögen des zweiten verhilft.19 Betrachtet man die Geschichten näher, erweist sich, dass selbst die, in denen es irgendeine Form historischer Nachforschung als Basiselement gibt, mit dieser auf sehr unterschiedliche Art umgehen. Auch wenn James’ Geschichten den Spuk meist in irgendeiner Weise erklären, ist das doch nicht immer der Fall: James hat ›lose Enden‹ bis zu einem gewissen Grad toleriert. »An Evening’s Entertainment« reimt man sich zusammen. Wer oder was genau sich in dem Grab in »An Episode of Cathedral History« oder in der Kommode in »Residence at Whitminster« verbirgt, erfahren wir nicht. Wie exakt die beiden Teile der letztgenannten Geschichte überhaupt zusammenpassen, bleibt unklar. In »Two Doctors« scheint James mit einer sehr offenen Erzählung bewusst zu experimentieren. Die Personen, durch deren Augen wir die Geschehnisse erleben, sind gar nicht in der Lage, diese voll zu erfassen, geschweige denn zu erklären. Wir müssen uns mit ihrer begrenzten Sicht abfinden.20 Bei James sind sich keine zwei Geschichten wirklich ähnlich. Er arbeitet mit einer Vielzahl von Personenkonstellationen und Situationen. Die Komplexität beider Autoren macht daher die Konzentration auf nur eine Kurzgeschichte von Duffy notwendig.
2. »The Penny Drops«: eine Inhaltsu¨bersicht Der Inhalt von »The Penny Drops« darf kurz zusammengefasst werden: Die Rahmenhandlung präsentiert die fünf Freunde, die sich einmal im Quartal treffen, auf einem Wanderausflug an der Küste von East Anglia. Einer der fünf, der Makler May, kommt auf ein merkwürdiges Erlebnis zu sprechen, das ihm eine irrationale Angst vor Seebrücken beschert hat. Der Makler May erhält 1986 den Auftrag, die alte Seebrücke von Hemsley, einem fiktiven Seaside Resort an der Nordküste von Norfolk, zu untersuchen. Die Seebrücke, in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein erfolgreiches Pleasure Pier mit großem Funhouse, wurde 1953 durch einen Sturm vom Land getrennt. Nun will die Londoner Firma Red Manor sie renovieren und neu eröffnen, vor19
20
M.R. James, A View from a Hill, in: Jones (Hrsg.), M.R. James. Collected Ghost Stories, a. a. O., 326–342; M.R. James, The Tractate Middoth, in: Jones, a. a. O., 129–144. In den Ghost Stories von Reggie Oliver – in diesem Genre neben Duffy der wohl wichtigste zeitgenössische britische Autor – werden die »losen Enden« geradezu zum zentralen Element. Fast keine seiner Geschichten bietet eine eindeutige Erklärung für den Spuk, vgl. z. B. die Sammlung Reggie Oliver, Dramas from the Depths, Lakewood 2011.
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ausgesetzt May kann bestätigen, dass die Seebrücke strukturell solide ist. May hat als Kind immer wieder mit seiner Familie in Hemsley Urlaub gemacht. Sein größter Wunsch, einmal den für Kinder gesperrten Teil des Funhouses der Seebrücke zu sehen, blieb aber unerfüllt, weil dieser bei ihrem letzten Besuch aus unerfindlichen Gründen geschlossen war. Williamson, der Justiziar der Gemeinde Hemsley, scheint überraschenderweise an einer Neueröffnung der Seebrücke kein Interesse zu haben. May vermutet, dass er in betrügerische Machenschaften verwickelt ist. May untersucht die Seebrücke und stellt fest, dass sie mit geringem Aufwand renoviert werden könnte. Er erfüllt sich seinen Kindertraum: Mit einem Rest Diesel im Generator schaltet er alle Automaten im Funhouse an. Er spielt sie mit alten Pennies – da die Automaten vor 1971 gebaut wurden, sind sie nicht auf Dezimalwährung eingestellt –, die er im Funhouse in einer alten Wechselstube entdeckt hat. Alle Spiele erweisen sich als enttäuschend oder sogar als vage bedrohlich. Den größten Eindruck macht May der Automat »Haunted House«: Er zeigt ein Miniaturhaus, vor dem eine vermummte Gestalt in Umhang und Schlapphut erscheint. Diese bewegt sich mit mechanischem Rucken über Schienen bis zum obersten Zimmer des Hauses, wo eine weitere Figur, ein Mädchen in einem Bett mit Bettvorhängen, sichtbar wird. Die erste Figur bleibt kurz stehen, hebt dann klauenbewehrte Hände und stürzt sich auf das Mädchen. Das Mädchen schreit, das Licht verlischt und der Automat stoppt. Als May zurück an Land ist, glaubt er sich beobachtet. Der Makler schreibt einen Bericht, in dem er die Renovierung der Seebrücke empfiehlt. Als er die Badewanne im Etagenbad seines Hotels benutzt, bemerkt er, dass eine Gestalt in den Raum eingedrungen ist. Sie bewegt sich ruckartig wie der Unhold aus dem »Haunted House«. Die Gestalt stürzt sich auf May und zerreißt mit ihren Klauen den Duschvorhang, May kann ihr jedoch ausweichen. Im Korridor läuft er dem Hotelbesitzer Anthony in die Arme. Als sie gemeinsam in das Bad zurückgehen, ist es leer. Anthony glaubt sofort, dass May eine übernatürliche Erfahrung hatte und bestätigt diesen darin, dass er nicht nur Opfer einer Sinnestäuschung geworden ist. May schreibt daraufhin den Bericht über die Seebrücke neu: Er erklärt sie für baufällig, um auszuschließen, dass je wieder jemand mit dem Spuk in Berührung kommen kann. Williamson gegenüber lässt May durchblicken, dass er auf diese Weise Red Manor betrügen wird. Williamson ist erleichtert: Die beiden haben ein Einvernehmen erreicht, ohne dass einer von ihnen dem anderen gegenüber den Spuk auch nur erwähnt hätte. Ein Sturm vernichtet die Seebrücke wenige Jahre später. May erfährt aber, dass kurz zuvor ein Makler, der denselben Auftrag wie er von einer Konkurrenzfirma von Red Manor erhalten hatte, tot mit Kratzwunden in seinem Hotelzimmer aufgefunden worden ist. May erinnert sich, dass er einen alten Penny in der Wechselstube zurückgelassen hatte.
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3. »The Penny Drops« und James Urlaubsorte an der englischen Ostküste sind der Schauplatz einiger der bekanntesten Ghost Stories von M.R. James. »A Warning to the Curious« beginnt mit einer scheinbar schwerfälligen Konstruktion, deren Sinn nur darin besteht, gleich zwei Ich-Erzählern die Gelegenheit zu geben, sich an einen Urlaubsort an der Küste East Anglias zu erinnern.21 Seaburgh in James’ Story ist ein stilles Idyll. Die Atmosphäre scheint nachgerade kontemplativ. Es ist so ruhig, dass der Erzähler als Kind Variationen des Klangs der Kirchenglocken je nach der Wetterlage unterscheiden kann. Intensiv erinnert wird der sonntägliche Kirchgang der Familie. Mindestens so wichtig wie der Ort selbst ist die ihn umgebende Natur. Der Erzähler bekennt sich dazu, einfach über Seaburgh schreiben zu müssen: Details »come crowding to the point of the pencil«. Für James’ Verhältnisse außerordentlich scharf distanziert sich der Erzähler von seinem eigenen Text: Er ermahnt sich selbst, sich des »word-painting business« schnell zu entledigen. Die Erinnerung an die sommerliche Ruhe Seaburghs scheint schmerzlich zu sein. Wieso, bleibt offen. Eventuell, weil die Geschichte des zweiten Ich-Erzählers den Ort als Schauplatz eines mörderischen Spuks präsentiert und damit den Eindruck einer Idylle unwiederbringlich zerstört. Auch der zweite Ich-Erzähler in James’ Geschichte erklärt, Seaburgh als Urlaubsziel sehr geschätzt zu haben. Nun jedoch besucht er den Ort nicht mehr, einmal weil Long, der Freund, mit dem er dort »very happy« sein konnte, nicht mehr lebt, zum anderen wegen der ungewöhnlichen Erlebnisse, die Long und er dort hatten. Der zweite Erzähler nennt als organisiertes Freizeitvergnügen in Seaburgh nur Golf.22 Die kurzen Erwähnungen von Golf und anderen Sportarten bei James dienen als sparsam gesetzter Comic Relief. Daneben ist Sport bei James ein Statussymbol, das er bei aller ironischen Brechung als solches nie in Frage stellt.23 May in Duffy’s Story erinnert sich auch mit Wehmut und dem Gefühl des Verlustes an Hemsley. Die ganze Geschichte ist durchsetzt mit Reminiszenzen an die Urlaubstage, die er als Kind im Grundschulalter mit seinen Eltern dort verbracht hat. May erinnert sich an Hemsley jedoch durchaus nicht als Idylle. Aber genau darin lag für ihn als Kind der Reiz von Hemsley als Urlaubsort, genau darin liegt nun der Reiz der Erinnerung. May erinnert sich an Hemsley als billig 21
22 23
M.R. James, A Warning to the Curious, in: Jones (Hrsg.), M.R. James. Collected Ghost Stories (s. Anm. 1), 343–357, 343. A. a. O., 343 f. A. a. O., 354 f.; James, »Oh, Whistle« (s. Anm. 1), 79; 86–88; ders., The Mezzotint, in: Jones (Hrsg.), M.R. James. Collected Ghost Stories (s. Anm. 1), 24–34, 29. Folgerichtig ist »After Dark in the Playing Fields« eine humoristische Geschichte, ders., After Dark in the Playing Fields, in: Jones (Hrsg.), M.R. James. Collected Ghost Stories (s. Anm. 1), 377– 380.
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und laut. Von Kirchgang und Landschaft ist keine Rede. Der Ort, insbesondere die Seebrücke, gleicht einem Rummelplatz, der sehr einfache Vergnügungen für einfache Leute anbietet. Wenn May an die Ferientage in Hemsley denkt, verbindet sich das für ihn mit dem Bewusstsein seines eigenen sozialen Aufstiegs. Dem erfolgreichen Makler geht es wirtschaftlich sehr viel besser als seinem Vater dreißig Jahre zuvor. May erinnert sich, wie sehr die kurzen Urlaubsfahrten nach Hemsley die finanziellen Möglichkeiten seiner Eltern strapazierten. Er erinnert sich aber auch an das rauschhafte Amüsement im Funhouse. Teil dieser Erinnerung ist jedoch eine Enttäuschung: Vor dreißig Jahren wünschte May sich nichts sehnlicher, als die Teile des Funhouses zu sehen, zu denen Kinder keinen Zutritt hatten. Als ihm bei seinem letzten Besuch dieser Zutritt endlich erlaubt sein soll, ist das ganze Funhouse für das Publikum geschlossen. Die Versuche von Mays Vater, den Grund dafür zu erfahren, werden vom Personal kurz angebunden zurückgewiesen. Die sozial schwache Position der Familie wird dadurch demütigend bestätigt, dass sich Mays Vater vom Management des Funhouses mit einem Beutel voll Kleingeld entschädigen lässt.24 Die Erinnerung an Hemsley ist für May also zunächst getrübt durch einen unbefriedigten Wunsch nach einem weiteren billigen Vergnügen. Dieses dürfte, da der Teil des Funhouses für Kinder gesperrt ist, leicht anrüchig gewesen sein oder (milden) Horror nach Art einer Geisterbahn geboten haben. May freut sich auf ein Wiedersehen mit Hemsley. Aber es geht ihm eigentlich ums Geschäft. Obwohl May seine Auftraggeber, die Londoner Yuppies von Red Manor, insgeheim verachtet, ist er sich sehr im Klarem darüber, welche wirtschaftlichen Vorteile die Kooperation mit ihnen für ihn haben könnte.25 Eine Sentimental Journey zu einem Ort seiner Kindheit ist die Fahrt an den Küstenort also nur in zweiter Linie. Mays erster Eindruck von Hemsley ist, dass es sich zwar wenig verändert hat, alle Veränderungen aber Verschlechterungen sind. Ohne begehbare Seebrücke ist der Ort ruhiger geworden. Die guten Zeiten sind offenbar vorbei. Hemsleys Besucher scheinen mit ihm gealtert zu sein. Alles Neue gereicht dem Ort zum Nachteil: Ein hässliches Rathaus im »early Legoland«-Stil und ein paar neue, billige Spielhallen fallen auf, »the usual offenders […] all nasal bingo and squalling video games«. Später entdeckt May eine Bar, die er für den Schauplatz von »iffy transactions« hält. Das Hotel, in dem May absteigen muss, schlicht weil vor Saisonbeginn kein anderes geöffnet ist, scheint das Gegenteil der Hotels in James’ Geschichten zu sein. »El Morocco« ist zwar »Ewardian«, aber »down at heels«. Am ehesten an »the great British seaside experience« erinnert noch der typische Hotelgeruch, »that subtle blend of beeswax polish and essence of English breakfast«. Das Haus ist nicht ausgestattet mit antiken Stahlstichen euro24 25
Duffy, Penny (s. Anm. 3), 46; 49; 52; 54–57. A. a. O., 45 f.
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päischer Architektur, wie die Hotels in James’ Geschichten, sondern mit Lithografien von Marrakesch und Algier. Der Eigentümer, Mr Anthony, scheint das Klischee des alleinstehenden homosexuellen Roué zu sein, der seine Isolation hinter selbstironischem Charme verbirgt. Mr Anthony ist weit herumgekommen. Zu Hemsley passt er nicht, von dessen Einwohnern grenzt er sich fast sofort selbst klar ab.26 Als Sprecher oder gar Personifikation des Lokalen wie die zahlreichen Wirte und Hoteliers in James’ Werk, die gerade durch ihren begrenzten Horizont charakterisiert sind, kann er keineswegs angesehen werden.27 Die Schlüssel zum Funhouse erhält May von Williamson, dem Justiziar von Hemsley. Williamson, altmodisch korrekt und etwas betulich, irritiert den Makler. May misstraut Williamson sofort, denn der hat offensichtlich kein Interesse an einer Neueröffnung der Seebrücke durch Red Manor. Die Aussicht auf »a ›marine-side leisure experience‹: nightclub, video-game arcade, sushi bar, the works«, mit einer Monorailbahn zu erreichen, ist Williamson nicht willkommen, obwohl Hemsley davon immens finanziell profitieren könnte. Williamson spricht von einem erhaltenswerten »melancholic charm […] which proves quite an attraction for a type of visitor less inclined to seek out pleasure at every opportunity […]. Would the town be best served by trying to emulate our more commercial coastal cousins?«
Williamson scheint sich Hemsley als Seaside Resort nach Art von Seaburgh zu wünschen oder zumindest als einen Ort, an dem James sich wohler als in einem auf ein Massenpublikum eingestellten Urlaubsziel gefühlt hätte. James und seinen Helden scheint Williamson deutlich näher zu stehen als der Makler. May kann Williamsons Einstellung nicht nachvollziehen. Wieso der Ort und seine Besucher kommerzielle Vergnügungen und den damit verbundenen Profit zurückweisen könnten, ist ihm ein Rätsel. Er vermutet, dass Williamson lügt. May argwöhnt sofort, dass der Justiziar an einer betrügerischen Machenschaft beteiligt ist: »Perhaps, I thought, with all my professional cynicism, there was some shady local consortium with its own designs on the pier; a consortium with which, maybe, Mr Williamson was not wholly unconnected.« Später wird sich herausstellen, dass Williamson tatsächlich nicht ganz ehrlich ist, aber aus anderen
26 27
A. a. O., 47–49; 60. M.R. James, Number 13, in: Jones (Hrsg.), M.R. James. Collected Ghost Stories (s. Anm. 1), 48–62, 55–58; M.R. James, Count Magnus, in: Jones, a. a. O., 63–75, 69–70; James, Story (s. Anm. 17), 271; ders., The Treasure of Abbot Thomas, in: Jones, a. a. O., 94–110, 106; M.R. James, Canon Alberic’s Scrap-Book, in: Jones, a. a. O., 3–13, 10 f.; M.R. James, Rats, in: Jones, a. a. O., 371–376, 371; 374 f.
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Gründen. Diese deuten sich bereits an: Williamson warnt May abschließend, dass er die Seebrücke vor Einbruch der Nacht verlassen sollte.28 Williamson ist auf den ersten Blick vor allem eine neue, männliche Version der transsilvanischen Kassandra, die »the Herr English-man« Jonathan Harker vor seiner Abfahrt zu seinem Geschäftspartner das Kruzifix umhängt und ihm die ominösen Fragen stellt, ob er wisse wohin und zu was (nicht zu wem) er gehe.29 Diese tragische Figur, die es riskiert, sich lächerlich zu machen und deren Warnungen immer in den Wind geschlagen werden, ist nach Stokers Roman ein Klischee vor allem des Horrorfilms geworden. James spielte nur in der Tochter des Küsters in »Canon Alberic’s Scrapbook« auf diese Gestalt an. Er stellte die kurze Szene, die fast ein Zitat aus »Dracula« sein könnte, aber in einen weitaus komplexeren Zusammenhang. Die Tochter des Küsters ist froh, dass ihr Vater das unheilvolle Buch losgeworden ist, indem er es (für einen Spottpreis) an den Engländer verkauft hat. Sie will den ihr völlig Fremden aber auch nicht ohne jeden Schutz in sein Unglück laufen lassen. Als sie ihm ihr Kruzifix schenkt, missversteht Dennistoun diese konkrete Hilfe als den plumpen Versuch, dem Touristen Geld für nutzlosen Kram abzuluchsen.30 May macht in seiner Einschätzung Williamsons den gleichen Fehler. Auch er versteht nicht, wieso Williamson dringend rät, vor Einbruch der Dunkelheit die Seebrücke zu verlassen. Er versteht vor allem nicht, wieso Williamson die Pläne zur Neueröffnung der Seebrücke ablehnt. Diesen mangelnden Enthusiasmus für ein großes Geschäft verspottet er heimlich als »let-well-enough-alone«-Haltung.31 Williamson weiß im Gegensatz zu May, dass die Seebrücke von (mindestens) einem Geist heimgesucht wird. Es ist bezeichnend für May, dass er Williamsons ungewöhnliches Verhalten sofort damit erklärt, dass er ihm unlautere finanzielle Interessen unterstellt. Williamson wagt es nicht, seine Bedenken offenzulegen, vermutlich weil er damit rechnet, dass May ihm nicht glauben und erst recht einen Hintergrund dubioser Geschäftemacherei vermuten wird. May personifiziert hier geradezu das konventionelle Denken der Gegenwart, das Profitinteressen hinter allem, gerade auch hinter Religion und Magie vermutet, und sich dabei auch noch ›smart‹ vorkommt. Die Leitmotive der ersten Abschnitte von »The Penny Drops« sind Kommerz und billige, kindliche oder kindische Vergnügungen, die mit ihm verbunden sind. Damit hebt sich Duffys Story von James’ Erzählungen über Reisen zu Küstenorten ab. Damit unterscheidet sich konkret May von Parkins, Thomson in »Rats« und dem Erzähler in »Warning«. May unterscheidet sich auch und gerade von 28 29
30 31
Duffy, Penny (s. Anm. 3), 45; 51 f. Bram Stoker, Dracula, London 1897, https://en.wikisource.org/wiki/Dracula/Chapter_1 (Stand: 25. 07. 2019). James, Canon (s. Anm. 27), 10. Duffy, Penny (s. Anm. 3), 51.
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Paxton: Weder dieser noch seine Helfer gehen je auf den materiellen Wert seines Fundes sein. Paxtons Fehler ist keineswegs Habgier, wie der Titel der Geschichte »A Warning to the Curious« (nicht etwa: to the Greedy) bestätigt.32 Gewiss: Im Gegensatz zu James’ Protagonisten soll May im Urlaubsort Hemsley arbeiten, nicht seine Freizeit verbringen. Gleichwohl nähert er sich Hemsley orientiert an dessen Qualität als Touristenattraktion und an seiner Erinnerung an Hemsley als Ferienziel. Es lassen sich also Unterschiede in den Erwartungen an Seaside Resorts bei Duffys und bei James’ Helden benennen. Diese spiegeln die massiven Umbruchsprozesse der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert wider. Die Verbesserung der sozialen Situation und der Aufstieg der Mittelstandsgesellschaft haben Massentourismus ermöglicht, der zur Zeit von James noch in den Kinderschuhen steckte. Die Urlauber der Nachkriegszeit suchen nicht nur Erholung und Freizeitvergnügen auf andere Art als der reiselustige Gelehrte James. Für sie ist der Urlaub vor allem auch eine finanzielle Herausforderung: Man kann ihn sich leisten, aber man muss genau überlegen, was man sich leisten kann. Das Seaside Resort wird gerade für Briten zum Ziel des Billigurlaubs. Golf, zur Zeit von James und bis tief in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts noch eindeutig ein exklusiver Sport für Gentlemen, ist außerhalb ihrer Möglichkeiten. Sie genießen den Rummel der Seebrücke. Es ist, als wollte Duffy alle Erwartungen des Publikums an eine Spukgeschichte über einen Küstenort in East Anglia ganz gezielt und gründlich enttäuschen. Besonders scheint er dabei die vor den Kopf stoßen zu wollen, die James’ Geschichten über diese Orte schätzen. Duffy reitet auf käuflichem Vergnügen und käuflichem Verdruss wie dem Funhouse, Mays Dienstleistung und Williamsons vermeintlicher Korruption herum. Es geht in »Penny« offenbar vor allem um den Penny, um Geschäfte. Wenig könnte James fremder sein. Ausgehend von James’ Werk müsste der Rummelplatz, auf dem die Opfer des Massentourismus ihre sauer verdienten Pennies für Geschmackloses und allzu Einfaches ausgeben, als ein sehr schlechter Ort für eine Ghost Story erscheinen. 32
James, Warning (s. Anm. 21), 348 f. Nach englischem Recht hätte Paxton eine namhafte Summe vom Staat erwarten können, wenn er den Fund der Krone den Behörden angezeigt hätte, vgl. Johannes Dillinger, Magical Treasure Hunting in Europe and North America. A History, Basingstoke 2012, 12–20. Darauf spielt in der Geschichte aber niemand an: James scheint wie selbstverständlich davon auszugehen, dass es nur um den historischen (und magischen) Wert der Krone geht. Tatsächlich sind die drei Kronen auch nicht versteckt worden, um sie als wertvolle Gegenstände vor Dieben und Plünderern zu schützen, sondern weil sie magische Eigenschaften haben. Es ist bezeichnend, dass auch die schöne Verfilmung von »A Warning to the Curious« aus dem Jahr 1972 Paxton zu einem zwar von Armut getriebenen, letztlich aber ökonomisch motivierten Schatzgräber macht.
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Allenfalls die Schreckgestalten der heruntergekommenen Vorstädte und urbanen Seitengassen Ramsey Campbells würde man hier vermuten.33 Der geschäftstüchtige, bis zu einem gewissen Grad sogar zynische May ist James’ Helden sehr unähnlich. Einer der bekanntesten von James’ Helden scheint geradezu eine Gegenfigur zu May zu sein: Professor Parkins aus »Oh, Whistle«, einer der Geschichten um einen Urlaubsort an der Küste von East Anglia. Parkins ist »an old woman«, ein hyperkorrekter Prinzipienreiter, stolz darauf, absolut wahrheitsliebend zu sein. Parkins ist in seiner moralischen Arroganz altjüngferlich und pubertär zugleich. Neben der absoluten Ehrlichkeit hat Parkins die Ablehnung von Magie und Geisterglauben zum Prinzip erhoben; und er scheint nur auf Gelegenheiten zu lauern, diese Prinzipien streitlustig zu verteidigen.34 May dagegen ist ›relaxt‹. Er macht gute Arbeit für gutes Geld, von Prinzipien darüber hinaus hören wir nichts. Ob er je vor seinem Besuch in Hemsley einen Gedanken an die Existenz von Geistern verschwendet hat, erfahren wir nicht. Der fröhliche Zynismus und die Bereitwilligkeit, mit der er sowohl Profit als auch – im Fall Williamsons – Betrug wittert, unterscheiden ihn sehr deutlich von Parkins. »Oh, Whistle« verrät nichts über Parkins’ soziale Herkunft. Dass der Cambridge Don aus dem frühen 20. Jahrhundert ein Aufsteiger aus der unteren Mittelschicht wie May sein könnte, ist aber eher unwahrscheinlich. May hat offenbar mehr mit einigen von James’ negativen Figuren gemeinsam. In James’ Geschichten scheint sich Desinteresse oder sogar Abneigung gegen Geschäftsleute und das Geschäftsleben zu äußern. Dennistoun schämt sich für den geringen Preis, den er für die Sammelmappe von Canonicus Alberich zahlt und versucht, gegen allen Geschäftssinn, den Verkäufer hoch-, nicht herunterzuhandeln. Denton in »The Diary of Mr Poynter« vergisst Einkäufe und handelt nur notgedrungen Aufträge mit einem Unternehmer aus, den James prompt als halbgebildeten Schwätzer denunziert.35 Sowohl in »The Mezzotint« als auch in »The Haunted Dolls House« lassen sich Williams und Dillet zu ihrem Nachteil durch Überlegungen zum Preis der eponymen Objekte von deren magischen Qualitäten ablenken. Der Antiquitätenhändler Chittenden in letztgenannter Geschichte ist eine zwielichtige Gestalt, die genau diese Schwäche des Helden ausnutzt.36 James’ Sympathieträger Somerton ist eher an der Lösung des Rätsels von Abt Thomas interessiert als am materiellen Wert von dessen Schatz.37 Auf Paxton wurde bereits eingegangen. Für Poschwitz – James hätte sich vor dem 33 34 35
36
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Vgl. etwa die Anthologie Ramsey Campbell, Alone with the Horrors, London 1994. James, »Oh, Whistle« (s. Anm. 1), 76–78. M.R. James, The Diary of Mr Poynter, in: Jones (Hrsg.), M.R. James. Collected Ghost Stories (s. Anm. 1), 242–251, 244–247. James, The Mezzotint (s. Anm. 23), 25–27; M.R. James, The Haunted Dolls’ House, in: Jones (Hrsg.), M.R. James. Collected Ghost Stories (s. Anm. 1), 289–299, 289 f. James, Treasure (s. Anm. 27), 100–105.
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dummen antisemitischen Stereotyp hüten sollen – ist sein geschäftliches Interesse an Kulturgütern, die solchen Erwägungen enthoben sein sollten, sein Untergang.38 Burton, der in einem Streit um ein Testament sein finanzielles Interesse radikal durchsetzt und damit seinen Gegner ruiniert, wird in »The Malice of Inanimate Objects« drastisch bestraft.39 James’ vielleicht gelungenster Bösewicht, Karswell, wird – auf den ersten Blick ganz atypisch für einen Magier – mit Paraphernalia der Geschäftswelt umgeben. Karswell wird in akademischen Kreisen nicht akzeptiert, vielleicht nicht nur, weil er die Methodik nicht beherrscht, sondern auch weil er ein Parvenu aus dem Geschäftsleben zu sein scheint. Seinen luxuriösen Landsitz hat er erst vor kurzem gekauft. Kontakt mit der guten Gesellschaft vor Ort hat Karswell nicht. Sein unverschämter Ton Leuten gegenüber, die er als sozial unterlegen betrachtet, verrät mangelnde Kinderstube und die Unsicherheit des Aufsteigers. Karswell vergiftet das Hauspersonal seines Gegners verkleidet als Straßenhändler. Er warnt seine Opfer über eine Werbeanzeige in der Straßenbahn, durch einen Reklamezettel, wie sie von »enterprising firms« verteilt werden, und einen Kalender »such as tradesmen often send«. Briefe von ihm sind »in a commercial hand« geschrieben. Harrington macht sich verwundbar, weil er im Theater ein paar Pennies für ein Programmheft sparen will: Erst als er sich auf dieses Niveau herabbegibt, kann Karswell den Zettel mit den unheilvollen Runen an den Mann bringen. Zur Strecke gebracht wird der Magier schließlich, weil er geizig und stillos genug ist, ein »Cook’s ticket-case«, ein billiges Werbegeschenk einer Reisefirma, zu verwenden.40 Selbst Richter Jeffreys passt besser als nicht völlig negative Hauptfigur in eine Ghost Story von James als ein geschäftstüchtiger Unternehmer wie May.41 Duffy modernisiert James’ Setting des Urlaubsortes an der Küste nicht. Er zeigt, dass es unmöglich geworden ist und ersetzt es durch ein neues. Sein Porträt von Hemsley und Hemsleys Besuchern ist keineswegs schmeichelhaft, aber auch frei von sozial arroganter Kritik. Dass es ums Geld, und zwar ums möglichst schnelle Geld für ein schnelles Vergnügen geht, wird ganz selbstverständlich hingenommen. May hat schöne Erinnerungen an den billigen Spaß im alten Funhouse und er hat – sicherlich auch deshalb – überhaupt kein Problem mit »a ›marine-side leisure experience‹: nightclub, video-game arcade, sushi bar, the works«, wie seine Auftraggeber sie Hemsley bescheren wollen.42 Auch wenn May so rein gar nichts mit den Helden von James’ Ghost Stories gemeinsam zu haben scheint: Der fröhliche Plauderton, in dem May die ersten Seiten seiner 38
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Ders., The Uncommon Prayer-Book, in: Jones (Hrsg.), M.R. James. Collected Ghost Stories (s. Anm. 1), 300–314. James, Inanimate (s. Anm. 17), 398. Ders., Casting (s. Anm. 10), 146–148; 150–163. Ders., Martin’s Close (s. Anm. 17), 180. Duffy, Penny (s. Anm. 3), 45.
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Geschichte erzählt, macht ihn für den Leser durchaus attraktiv. Mays problematische Einstellung springt nicht ins Auge. Die Bereitschaft, ihn als Helden und seine Sicht der Dinge zu akzeptieren, ist zunächst einmal hoch. Die zweite Hälfte von »The Penny Drops« entwickelt die Geschichte rasch in eine neue Richtung. May lässt sich von einem Fischer auf den vom Festland getrennten Teil der zerstörten Seebrücke übersetzen. Eine weitere indirekte Warnung – der Fischer hat es offenbar eilig wieder abzulegen – ignoriert May. May untersucht die Struktur des Bauwerks genau und kommt zu dem Schluss, dass es sich mit geringem Aufwand wiederherstellen lassen wird. Dann endlich tritt der professionelle Makler May in den Hintergrund und verhilft dem frustrierten Kind, seinem dreißig Jahre jüngeren Ich, zu seinem Recht: May lässt den alten Generator, in dem noch etwas Treibstoff ist, anlaufen und spielt sämtliche Automaten im Funhouse. Er ist dabei so einfallsreich, für Automaten, die neue englische Münzen nicht akzeptieren, aus der ehemaligen Wechselstube vergessene alte Pennies zu holen. Kommerz und einfaches Vergnügen bleiben also im Zentrum der Geschichte; ihre Bedeutung wird sogar bestätigt. Nun erst lernt der Leser einen anderen May kennen. Ja, May selbst lernt offenbar etwas Neues über sich: Das kindische Vergnügen, das er sich gönnt, ist keines mehr. Alle Unterhaltungsmaschinen erscheinen May bestenfalls öde, häufig aber direkt unangenehm, bedrohlich oder sogar gefährlich. Das große Vergnügen, auf das er sich dreißig Jahre lang gefreut hat, erweist sich als herbe Enttäuschung. Obwohl er es einfallsreich sogar schafft, sich alle billigen Vergnügungen wieder zum alten Preis zu verschaffen, empfindet er kein Vergnügen mehr. Wo May Spaß und einfache Unterhaltung erwartet hatte, findet er Frustration, Beklemmung und schließlich das Gefühl unwiederbringlichen Verlustes. Das Funhouse mit seinen Automaten wird immer unangenehmer: Dass es Vergnügen verspricht, erweist sich als Täuschung oder gar als Falle. Die bedrückende Gegenwart im alten Funhouse beginnt sogar, Mays schöne Erinnerungen an seine Kindertage dort zu verdüstern. Die Szene spielt in gewisser Weise auf einen der dunkelsten Momente bei James an: den Augenblick in »A Neighbour’s Landmark«, wenn alle Bilder von Licht und Leben von Todessymbolen verdrängt werden, weil die Illusion der Idylle zusammenbricht und der Erzähler schlagartig »flying Time and all it had taken out of my life« gewahr wird.43 May erlebt einen bitteren Reifungsprozess. Zum ersten Mal in der Geschichte funktioniert der kommerzielle Austausch nicht mehr. Die kindische Gier nach kindlichem Vergnügen wird enttäuscht. May muss erwachsen werden. May sträubt sich gegen diese Erkenntnis mit einem letzten Versuch, den Spaß herbei zu zwingen: Er spielt als letzten Automat das »Haunted House«. Sofort wird offensichtlich, dass May wieder nicht bekommt, was er erwartet. Die 43
M.R. James, A Neighbour’s Landmark, in: Jones (Hrsg.), M.R. James. Collected Ghost Stories (s. Anm. 1), 315–325, 319.
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Szene, die der simple mechanische Automat darstellt, ist reichlich einfach: Eine vermummte Figur, wohl in Umhang und Mantel, bewegt sich mechanisch auf Schienen durch die Miniatur eines Hauses hin zu einer weiteren Figur, einem Mädchen, das hinter den Vorhängen eines Himmelbettes sichtbar wird. Der Automat spielt dazu Musik ab. Als die Musik verstummt, stürzt sich die vermummte Figur mit ausgestreckten Armen auf das Mädchen. Es ertönt ein Schrei und das Licht im Automaten verlischt. Die Maschine erweist sich als die größte Enttäuschung: Statt sich zu amüsieren, fühlt May sich »quite sick«. Ihn beunruhigt, dass er die Gestalt des Angreifers nie richtig sehen kann. Er scheint Klauen statt Hände zu haben, seine Augen scheinen aus seinem stets verborgenen Gesicht zu leuchten. Was der Unhold genau sein soll – ein Gespenst, ein Monster, ein Dämon – bleibt unklar. Dass sich der Spuk einer klaren visuellen Wahrnehmung entzieht, begegnet prominent auch bei James: Von Agers Geist in »Warning« heißt es ausdrücklich, dass er »some power over your eyes« hat.44 Dunning kann die rätselhafte Gestalt, die ihm in »Casting the Runes« den Zettel mit der Warnung in die Hand drückt, nicht genau sehen.45 Wraxall ist sich lange unsicher, ob er Graf Magnus de la Gardie und dessen Wallfahrtsandenken aus Chorazin überhaupt sieht.46 Auch in »The Mezzotint« und »Haunted Dolls’ House« ist der mörderische Geist nicht klar zu erkennen.47 Freilich spielt Duffy mit dem »Haunted House«-Automaten auf James’ »Haunted Dolls’ House« und »The Mezzotint« an. In beiden Geschichten präsentiert James Objekte, in die ein Spuk gebannt scheint: Sie verändern sich in magischer Weise vor den Augen des Betrachters, um einen Mord und einen Spuk darzustellen. Zum wesentlichen Inhalt beider Geschichten gehören jeweils die Nachforschungen, die die Helden betreiben, um die realen Ereignisse zu identifizieren, welche die sich verändernden Gegenstände abbilden. James-typisch wird der Spuk als historischer Forschungsauftrag interpretiert.48 Duffys Geschichte spielt auf James’ Ansatz an. Sie tut das mit so grimmigem Ernst, dass man trotz einer ironischen Brechung nicht von einer Parodie sprechen will. Jeder Spuk ist charakterisiert durch eine an Theater oder Film erinnernde Wiederholung allenfalls leicht variierter Abläufe. Ob man hierzu verzweifelte Untröstlichkeit, unerbittliches Beharren auf dem eigenen Recht oder senilen Starrsinn assoziieren will: Die Wiederholung hat etwas Mechanisches; der Spuk erscheint unbelebt in mehrfacher Hinsicht. Das macht James in »Mezzotint« und »Haunted Dolls’ House« selbst sehr deutlich. Duffy geht hier den entscheidenden Schritt weiter: Er ersetzt das Objekt, das auf magische Weise 44 45 46 47 48
James, Warning (s. Anm. 21), 351. Ders., Casting (s. Anm. 10), 153. Ders., Count (s. Anm. 27), 73 f. Ders., Mezzotint (s. Anm. 23), 32; ders., Haunted (s. Anm. 36), 296. Ders., Mezzotint (s. Anm. 23), 32–34; ders., Haunted (s. Anm. 36), 297–299.
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Spuk zeigt, durch einen Automaten. Die kleine Show, die die Maschine für einen Penny bietet, ist unerwartet sinister, aber zumindest auf den ersten Blick nicht magisch. Die Veränderungen, die der Betrachter sehen kann, sind eigentlich kein Anlass zu Faszination und Entsetzen wie bei James das Bild und das Puppenhaus. Sie verlangen auch nach keiner weiteren Erklärung. Man erwartet diese Bewegungen des Automaten natürlich, sie sind die Unterhaltung, für die man bezahlt hat. Vollständig im Einklang mit Kommerz als dem Leitmotiv von »Penny« präsentiert Duffy einen Bezahlspuk: Das »Haunted House« wird nur für Geld aktiv. Hierzu passt, dass der Automat eine einfache Maschine zum kommerziellen Gebrauch ist, sicherlich nicht großartiges Kunsthandwerk wie James’ Puppenhaus und Kunst wie sein Mezzotint. Es ist bezeichnend für James’ Präsentation der Spukobjekte, dass der auf den ersten Blick »indifferent mezzotint« mit der magischen Veränderung auch künstlerisch besser zu werden scheint.49 James erklärt ironisch, dass erst nach längerer Betrachtung deutlich wird, was tatsächlich in einem Kunstwerk steckt bzw. dass sich Kunst je nach Betrachter wandelt. Für nichts von alledem ist bei Duffy Platz. Die Anspielung auf James wird sofort mit einer radikalen Abkehr von seinen Motiven verbunden. Duffy scheint die Magie zu ironisieren, ja tendenziell zu leugnen, indem er einen billigen Automaten vollführen lässt, was bei James geheimnisvoller Spuk ist. Den ganzen Rest des Abends sieht May immer wieder aus dem Augenwinkel eine Gestalt, die dem Unhold im Automaten gleicht. Der Leser fühlt sich an ähnliche Erlebnisse von Parkins, Paxton und Wraxall erinnert.50 Duffy übernimmt hier ein typisches James-Motiv, den geisterhaften oder dämonischen Verfolger. Spät nachts, nachdem der Makler einen positiven Bericht über die Seebrücke für Red Manor verfasst hat, kommt es in Mays Hotel zur Konfrontation. In der Wanne des Etagenbades seines Hotels nimmt May durch den Duschvorhand undeutlich eine Gestalt wahr. Sie ist mannsgroß, gleicht jedoch dem Unhold aus dem Automaten und bewegt sich ruckartig wie dieser. Durch einen technischen Fehler spielt Mays Diktiergerät, mit dem er, ohne es zu bemerken, die Musik des »Haunted House«-Automaten aufgenommen hatte, die Melodie ab. May ist plötzlich sicher, dass die Gestalt jenseits des Duschvorhangs der Unhold aus dem Automaten ist und dass er ihn angreifen wird, wenn die Musik verstummt. Aus der Szene des Automaten – dem Himmelbett mit dem Vorhang, in dem das Mädchen liegt – wird nun in der Realität die Badewanne mit dem Duschvorhang, in der ein Mann mittleren Alters liegt. Die Komik dieser Parallele treibt die Spannung der Szene auf die Spitze. May nutzt die wenigen Sekunden, die ihm die Musik verschafft, um aus der Badewanne zu steigen. Dem Unhold, der sich mit seinen Krallen durch den Duschvorhang auf ihn stürzen will, 49 50
Ders., Mezzotint (s. Anm. 23), 25–27; ders., Haunted (s. Anm. 36), 289–292. Ders., »Oh, Whistle« (s. Anm. 1), 80; 84 f.; ders., Warning (s. Anm. 21), 350–353; ders., Count (s. Anm. 27), 73 f.
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entgeht er um Haaresbreite. May flieht panisch in den Hotelkorridor, wo er Mr Anthony in die Arme läuft. Als sie beide in das Bad zurückgehen, ist der Raum leer, der Duschvorhang aber zerfetzt. Die Parallelen zwischen dieser Szene und dem Höhepunkt von James’ »Oh, Whistle« sind offensichtlich. Der Makler May und Professor Parkins, scheinbar gegensätzliche Figuren, werden hier zusammengeführt. Auch in »Oh, Whistle« wird der Protagonist nach einer Phase der Bedrohung direkt mit dem Geist konfrontiert. Das unheimliche Wesen dringt in einen privaten und abgeschlossenen Bereich ein, in dem man sich sicher fühlt, faktisch aber hilflos ist. Der Geist manifestiert sich nachts in einem Bett in Parkins’ Hotelzimmer. Sehr ähnlich erscheint der Unhold im Bad von Mays Hotel, als dieser gerade badet. Hinzu kommt eine ironische Anspielung auf die bekannteste Szene aus »Psycho«. Duffy hat sich zu dem Zitat aus Blochs Roman (nicht Hitchcocks Film) selbst bekannt.51 Was in »Oh, Whistle« geschieht, ist einigermaßen klar: Ein Geist sucht Parkins heim, weil er die Pfeife aus der Ruine der Templerkirche gestohlen und mit ihr gepfiffen hat. Das war ihm in gewisser Weise durch die Inschrift auf der Pfeife angekündigt worden: »Fur flabis flebis. Quis est iste qui venit?«52 Die freche Frage der Inschrift kann Parkins freilich letztlich nicht beantworten. Ebenso unklar bleibt die Identität des Unholdes bei Duffy. Ganz anders als in James’ »Mezzotint« und »Haunted Dolls’ House« wird keinerlei Erklärung nachgereicht. Ob der Automat irgendwie auf ein Ereignis in der Vergangenheit anspielen soll, wie der Mezzotint und das Puppenhaus es tun, bleibt offen. Darauf, dass der Automat ein historisches Ereignis abbilden soll, deutete die Szenerie des »Haunted House« hin, die vage am 17. Jahrhundert orientiert ist.53 Zeigt der Automat eine Spukerscheinung aus der Vergangenheit, so wie der Mezzotint? Darauf deutet die schwer fassbare Gestalt des klauenbewehrten Unholds hin. Wäre das der Fall, dann wäre die Erscheinung im Etagenbad quasi der Spuk eines Spuks, die erneute Manifestation eines früheren magischen Ereignisses. Irgendetwas Konkreteres erfährt May jedoch nie und er fragt auch nicht nach. May ist Geschäftsmann, er wandelt sich nicht zum Geschichtswissenschaftler. Die historische Recherche, ein wichtiges, wenn auch kein unverzichtbares Element bei James, fehlt bei Duffy komplett. Das darf nicht als grundsätzlicher Gegensatz zwischen James und Duffy verstanden werden: Auch James hat, wie oben besprochen wurde, ›lose Enden‹ bewusst toleriert. Die Unschärfen, die Duffy zulässt, eröffnen eine zweite Deutungsmöglichkeit: Es ist denkbar, dass der Automat gar keine Vergangenheit abbildet, sondern die 51
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Duffy, Notes (s. Anm. 11), 230; vgl. Robert Bloch, Psycho, New York 1959, Nachdruck New York 2010. James, »Oh, Whistle« (s. Anm. 1), 82–92. Duffy, Penny (s. Anm. 3), 59.
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Zukunft. Er bedroht den Betrachter und warnt ihn vor dem, was ihm bevorsteht. Zugleich erfüllt der ›Ghost in the Machine‹ selbst, wovor er warnt. Das Mädchen wäre dann nur ein Platzhalter. Es wird als generisches Opfer gezeigt, schlicht weil irgendein Opfer gezeigt werden muss. Für diese zweite Deutung eher als für die erste spricht der wesentliche Unterschied zwischen Duffys Geschichte und James’ »Mezzotint« und »Haunted Dolls’ House«: James’ Protagonisten, die die magischen Objekte beobachten, sind zu keinem Zeitpunkt selbst in Gefahr. In »Oh, Whistle«, der anderen James-Story, auf die Duffy zurückgreift, wird ausdrücklich festgestellt, dass die Macht der Geistererscheinung nur darin besteht, Angst zu machen. Ihre Verfügung über die materielle Welt erschöpft sich darin, den Scheinleib aus Betttüchern zu formen.54 James betont sogar in der Passage um den Diener Filcher die Harmlosigkeit des Mezzotint. Die größte Gefahr, die von dem Bild ausgeht, ist, dass ein Kind es sehen und sich erschrecken könnte.55 Die Aufgabe von James’ Helden besteht darin, die Hintergründe der Spukobjekte aufzudecken. Im Gegensatz dazu lässt Duffy keinen Zweifel daran, dass May körperlicher Schaden droht, er konkret in Lebensgefahr ist. Am Ende der Geschichte erfährt May sogar, dass ein anderer Makler, der nach ihm das Funhouse untersucht hatte, von Krallen zerrissen tot in seinem Hotelbett gefunden wurde. Die Aufgabe von Duffys Held besteht darin zu überleben. Wieso ist Duffys Geist so viel aggressiver als die Erscheinungen in »Mezzotint« und »Haunted Dolls’ House«? Dass James keinerlei grundsätzliche Abneigung gegen blutigen Horror hatte, zeigen »Warning«, »Lost Hearts«, »Count Magnus«, »The Malice« oder das süffisant irreführend betitelte »Evening’s Entertainment«.56 »Mezzotint« und »Haunted Dolls’ House« lassen die historisierende Betrachtung der Geistererscheinung nicht nur zu, sie konzentrieren sich auf sie. Ein gewalttätiges Überwinden der Grenze zwischen Betrachtetem und Betrachtern hätte James’ Stories wohl aus dem Gleichgewicht gebracht. In »Evening’s Entertainment« und »A View from a Hill« hat er die Gefahren geschildert, in die man geraten kann, wenn die Betrachteten sich gegen die voyeuristische Betrachtung (und ihre Voraussetzungen) zur Wehr setzen.57 Bei Duffy geht es allerdings um etwas wesentlich anderes: May handelt nicht wirklich schuldhaft. Man kann ihm nur vorwerfen, dass er in kindischer Gier nach Vergnügen auf die Verführung des Automaten hereingefallen ist. ›Verdient‹ hat er den Angriff des Unholds sicherlich nicht.
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James, »Oh, Whistle« (s. Anm. 1), 93. Ders., Mezzotint (s. Anm. 23), 31 f. Ders., Warning (s. Anm. 21); ders., Lost (s. Anm. 18); ders., Count (s. Anm. 27); ders., Malice (s. Anm. 17); ders., Evening’s Entertainment (s. Anm. 18), jeweils passim. Ders., Evening’s Entertainment (s. Anm. 18), 360–364; ders., View (s. Anm. 19), 339 f.
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Freilich könnte man sich auf den Standpunkt zurückziehen, dass es bei Geschichten in der Tradition von James gar nicht nötig ist, die Geisterwelt zu reizen. Gewiss, einige von James’ Geistern bestrafen Missetäter, z. B. in »The Stalls of Barchester Cathedral«, »Lost Hearts«, »Martin’s Close« oder »The Uncommon Prayer Book«. Die meisten von James’ Geisterwesen attackieren die Helden aber schlicht, weil sie bösartig sind: Sie greifen, wie in »Number 13«, »A Neighbour’s Landmark«, »Canon Alberic’s Scrapbook«, »An Episode of Cathedral History«, »Rats«, dem zweiten Teil von »Residence at Whitminster« etc. unprovoziert und wahllos bzw. schon auf die kleinste Provokation hin mit mörderischer Wut an.58 Es geht aber um mehr. Die Oxford Dons in »Mezzotint« und Dillet, der Käufer, also des Puppenhauses, wahren stets in gewisser Weise Distanz zu dem magischen Objekt. Im weiteren Verlauf der Geschichte werden sie diese Distanz für quasi wissenschaftliche Nachforschungen über den Spuk nutzen können. Sie haben aber zu Beginn der Geschichte die spukhafte Veränderung nicht provoziert und nicht gewünscht, nicht einmal erwartet. Sie wollten den Spuk nicht sehen. May jedoch bezahlt dafür, das Haunted House in Aktion zu sehen. Insofern hat er die Distanz, die die Protagonisten der beiden James-Geschichten wahren, von Anfang an selbst verletzt. Worauf er sich damit einlässt, ahnt er freilich nicht. Vielleicht darf man hier noch mehr sehen: In »Penny« geht es bis zu dem Angriff des Geistes wesentlich um kindisches bzw. kindliches Vergnügen und Kommerz. Als May den Automaten spielt, versucht er ein Vergnügen gleichsam nachzuholen, das ihm als Kind verwehrt worden ist. Daher macht er sich für den Spuk auf besondere Weise anfällig, ähnlich wie ein Kind durch ein Bild oder eine Theaterinszenierung mehr als ein Erwachsener beeinflusst werden kann. Kinder verstehen die Trennung zwischen Realität und Fiktion, dem Wahren und dem Vorgetäuschten nur unzureichend. Beim Theater glauben sie sich rasch in die Handlung miteinbezogen. Auf bestimmte Art passiert May genau das: Er wird in die Aktion des Automaten miteinbezogen, den er wie ein Kind betrachten wollte. Hinzu kommt der Kommerz: Auch wenn May der Sympathieträger der 58
Ders., The Stalls of Barchester Cathedral, in: Jones (Hrsg.), M.R. James. Collected Ghost Stories (s. Anm. 1), 165–178; James, Lost (s. Anm. 18); ders., Martin’s Close (s. Anm. 17); ders., Uncommon (s. Anm. 38); ders., Number (s. Anm. 27); ders., Neighbour’s Landmark (s. Anm. 43); ders., Canon (s. Anm. 27); ders., Episode (s. Anm. 17); ders., Rats (s. Anm. 27); ders., Residence (s. Anm. 17), jeweils passim. Vgl. dazu auch ders., Preface to »More Ghost Stories of an Antiquary«, in: Jones, a. a. O., 406 f., 407, wo sich James klar dazu bekennt, dass der Geist in einer Ghost Story »malevolent and odious« zu sein hat. Dass Edmund Gill Swain, eigentlich ein Autor der James sehr nahestand, gegen diese Grundregel verstößt, dürfte einer der Gründe dafür sein, dass seine Geschichten wenig Eindruck hinterlassen, Edmund Gill Swain, The Stoneground Ghost Tales, Cambridge 1912, Neudruck Cambridge 2009.
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Geschichte ist, besteht kein Zweifel daran, dass er im Wesentlichen von finanziellen Interessen motiviert ist. Mehr noch: Er hat sich die Regeln des Kommerzes zu eigen gemacht. Deshalb wird er Teil des kommerziellen Spieles des Automaten. Der kommerzielle Spuk, der Unhold, der für einen Penny mechanisch den immer gleichen Akt vollführt, kann ihn heimsuchen. Eine gewisse Parallele wird man wieder in Parkins sehen können. Der wird ebenfalls, wenn auch weit weniger drastisch als May, von einem Geist bedroht. Der Geist bestraft Parkins nicht nur einfach dafür, dass er die Pfeife an sich genommen hat. Er kommt, wie der Titel der Geschichte offenkundig macht, weil Parkins ihn mit der Pfeife gerufen hat. Dass das sicherlich nicht Parkins’ Absicht war – keine von James’ Personen hat weniger Ambitionen mit der Geisterwelt in Kontakt zu kommen als Parkins – spielt keine Rolle. Dass Parkins sich wie May auf die Geisterwelt einlässt, ohne sich dessen im mindesten bewusst zu sein, betont die Parallele zwischen ihnen. Ähnlich wie in »Oh, Whistle« Colonel Wilson Professor Parkins zu Hilfe eilt, rettet Anthony den Makler May. Beide leisten Hilfe nicht nur dadurch, dass sie sich der Spukopfer in ihrer Verwirrung und ihrem Schock annehmen. Beide leisten Beistand vor allem dadurch, dass sie nicht daran zweifeln, dass Parkins bzw. May von einem Geist heimgesucht worden sind. Dass der Colonel an Geister und Magie glaubt, ist von vornherein klar. Darüber (und über Parkins’ Golfspiel) kommt es zwischen beiden fast zum Streit. Parkins pflegt seine Attitüde als Skeptiker. Seine Kollegen an der Universität nehmen ihn für seine pubertäre Rechthaberei auf den Arm. An der fast sektiererischen Selbstsicherheit, mit der er Magie ablehnt, ändert das freilich gar nichts. Für den Colonel sind Magie und Geisterwesen kein Scherz: Er glaubt an sie so fest wie an seinen aggressiven Protestantismus. Dass es eine Spannung zwischen Protestantismus und Gespensterglauben gibt, scheint der Colonel ebenso wenig zu bemerken wie der Großteil der anderen Protestanten, übrigens einschließlich M.R. James.59 Mit der Wut eines Radikalen aus dem 16. Jahrhundert rückt Colonel Wilson sogar den Katholizismus in die Nähe der Magie. Parkins, wie viele Materialisten in religiösen Fragen ein Idiot – er weiß nicht, ob die Sadduzäer ins Alte oder ins Neue Testament gehören –, kann der Argumentation Wilsons in diesen Angelegenheiten nicht folgen. Es genügt ihm, wenigstens den Gespensterglauben des Colonels zurückzuweisen, wenn er sich auch nicht traut, dem erregbaren Offizier gegenüber den arroganten Ton anzuschlagen, den er für seine Dozentenkollegen bereithält. Parkins revidiert seine Haltung erst radikal und komplett nach seiner Begegnung mit dem Geist. Der Colonel trumpft nun nicht auf, sondern unterstützt den Professor selbstlos. Er ist es, der die magische Pfeife unschädlich macht. Die Begegnungen mit dem Colonel
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Dillinger, Magical (s. Anm. 32), 73–79.
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und mit dem Geist bescheren Parkins zwar noch einige schlaflose Nächte, aber sie machen ihn zu einem reiferen Menschen mit weniger vorgefassten Meinungen.60 Dass Anthony an Magie glaubt, erweist sich erst in seinem Gespräch mit May nach der Erscheinung. Der weit gereiste Anthony deutet an, dass er selbst bereits mehrere sehr ungewöhnliche Erfahrungen gemacht hat. Dass er dennoch den Mut findet, ohne Zögern in das Bad zu gehen, das May fluchtartig verlassen hat, hängt damit zusammen, dass er eine weitere Gemeinsamkeit mit dem Colonel hat. In der Unterhaltung mit May zeigt sich der alternde Lebemann als gläubiger und bibelfester Christ. Spielt sein Name auf Antonius von Padua an, der nach katholischer Tradition der Schutzheilige sowohl der Reisenden als auch der Geschäftsleute ist und zudem Hilfe gegen böse Geister bietet? Dafür scheint auch zu sprechen, dass Anthony sein Hotel »El Morocco« nennt, womit auf Antonius’ Bezug zu Marokko angespielt werden könnte.61 Anthony ist keine Karikatur wie der Colonel, dessen konfessionelle Angriffslust ihm völlig fehlt. Das scheinbar Gegensätzliche, das in der Gestalt des weltgewandten, homosexuellen, gläubigen Hoteliers aus dem heruntergekommenen Touristenort in Norfolk zusammenkommt, macht ihn zu einer der interessantesten Figuren Duffys überhaupt. Früh am Morgen des nächsten Tages schreibt May seinen Bericht an Red Manor neu: Er präsentiert die Seebrücke als hochgradig einsturzgefährdet. Jeder Versuch, aus ihr wieder eine Urlauberattraktion zu machen, kann nur ein Verlustgeschäft sein. May entscheidet sich also, seine Auftraggeber zu täuschen, um dem Spuk jede Möglichkeit zu nehmen, neue Opfer zu finden. Dieser Betrug ist nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig. Red Manor mag nicht ganz zuverlässig sein. Weiß man vielleicht dort von dem Spuk und ignoriert ihn aus Profitinteresse? Dass die Firma Red Manor heißt, könnte eine Anspielung auf Red Lodge sein, freilich in der für Makler typischen Übertreibung, die aus einem Lodge, einem Haus auf dem Land, ein Manor, einen Herrensitz, macht. »Red Lodge« ist der Titel einer Kurzgeschichte von H. Russell Wakefield, einem von James geschätzten Autor von Gespenstergeschichten. Darin geht es um ein Spukhaus, dessen Eigentümer es aus Habgier immer wieder gegen besseres Wissen an ahnungslose Mieter abgibt.62 Im langen Schluss von Mays Erzählung, der eine handlungsarme Antiklimax zu sein scheint, verbirgt sich die Sinnspitze des Textes. May sucht erneut Williamson auf, um ihm die Schlüssel zum Funhouse zurückzuerstatten. May verhält sich Williamson gegenüber noch immer nicht ganz fair: Der Makler nimmt es 60 61 62
James, »Oh, Whistle« (s. Anm. 1), 79; 86–93. Duffy, Penny (s. Anm. 3), 65 f. Herbert Russell Wakefield, The Red Lodge, in: ders., They Return at Evening, London 1928, Nachdruck Ashcroft 2005, 185–210. Zu James’ Einschätzung von Wakefield vgl. James, Some Remarks on Ghost Stories, in: Jones (Hrsg.), M.R. James. Collected Ghost Stories (s. Anm. 1), 410–416, 415.
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dem Justiziar übel, ihn nicht deutlicher gewarnt zu haben. Mays alte Arroganz ist jedoch verschwunden. Er zieht Williamson ins Vertrauen und verrät ihm unter der Hand den Inhalt seines neuen Gutachtens. May gesteht Williamson praktisch den Betrug an Red Manor – und der heißt ihn stillschweigend gut. Die beiden verstehen sich: Ohne den Spuk mit einem Wort zu erwähnen ist ihnen klar, was der jeweils andere weiß, denkt und will. An die Stelle der missglückten Kommunikation bei ihrem ersten Treffen tritt nun ein vollständiges Einvernehmen: »We shook hands; just two old business partners, […] with the dirty deed well and truly done.«63 May hat sich gewandelt: An kommerziellem Erfolg oder auch nur der geschäftlichen Seite seines Besuches in Hemsley ist er nicht mehr interessiert. Er tritt aus dem kommerziellen Zusammenhang nun erst vollständig heraus, indem er tut, was er verantworten kann, nicht das, wofür er bezahlt wird oder was er nach den Konventionen des Geschäftes verpflichtet ist zu tun. Er überwindet die Fixierung auf allzu einfache, vordergründige Regeln seines Geschäftes ebenso wie die kindische Fixierung auf käufliche Funhouse-Vergnügungen. Beide sind, so suggeriert die Geschichte, ohnehin nur zwei Seiten derselben Medaille. May hat einen Reifungsprozess durchgemacht. Er hat sich von seinen kindischen Zügen verabschiedet und eine höhere Stufe von Verantwortlichkeit und Professionalität erreicht. Genau dieser Reifungsprozess erinnert stark an Professor Parkins in James’ »Oh, Whistle«. Am Ende der Geschichte ist Parkins ein anderer: Auf der einen Seite leidet er unter Angstzuständen. Ähnlich wie May eine phobische Angst vor Seebrücken nicht abschütteln kann, erschreckt Parkins bewegter Stoff, der ihn an die Manifestation des Geistes mit Hilfe der Betttücher erinnert. Auf der anderen Seite jedoch hat Parkins sich als Person positiv entwickelt. Er ist bereit, sich lange nicht nur mit dem Colonel zu besprechen, sondern auch mit Rogers, eigentlich seinem Gegner in der Unterhaltung zu Beginn der Geschichte. Rogers machte sich über zwei Überzeugungen, eigentlich Attitüden, lustig, die Parkins zu dieser Zeit vor sich her trug: unbedingt bei der Wahrheit zu bleiben und jeglichen Geisterglauben abzulehnen. Die zweite Überzeugung hat sich erledigt. Die erste offenbar auch. Parkins ist nun bereit, sich von Rogers beraten zu lassen. Und tatsächlich scheint er dessen Rat auch anzunehmen. Parkins täuscht das Hotelpersonal. Damit tut er das Richtige: James betont, dass dem Hotel die (wegen der Natur des Spukes ungerechtfertigte) Reputation eines »troubled house« erspart bleibt.64 Beide, May und Parkins, akzeptieren nicht nur die Existenz von Geistern: Sie haben pubertäre Attitüden verloren, sie sind in der Lage, sich verantwortungsvoller zu verhalten. Eine solche Wandlung und Reifung erlebt z. B. der Dekan in »Episode of Cathedral History« nicht: Seine ungebro63 64
Duffy, Penny (s. Anm. 3), 67. James, »Oh, Whistle« (s. Anm. 1), 76–79; 92 f.
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chene Arroganz und Unbelehrbarkeit machen aus ihm eine der negativsten Figuren von James, die kein Mörder, Magier oder Geist ist.65 Neu gewonnene Reife drückt sich auch und gerade im Schweigen aus. May verschweigt Red Manor die Wahrheit. Er posaunt nicht aus, dass er nun an Geister glaubt, auch nicht, dass die Seebrücke von einem Geisterwesen heimgesucht wird. Er ergreift, nun wieder ganz ökonomisch denkender Geschäftsmann, die einfachste und sparsamste Maßnahme, mit der er, soweit es ihm möglich ist, sicherstellen kann, dass niemand mehr das Funhouse betritt. May erkennt das, was er zuerst Williamsons »let well enough alone«-Haltung nannte, als richtig. Teil des Reifungsprozesses, den May durchmacht, ist diszipliniertes Schweigen, sogar eine gewisse Passivität. Freilich erzählt May seinen vier besten Freunden die Wahrheit über die Seebrücke von Hemsely: Das verlangt die Rahmenhandlung. Ohne diesen Bruch des Schweigens könnte es keine Geschichte für das Lesepublikum geben. Aber die Rahmenhandlung betont, dass May sein Schweigen erst nach Jahren und auch dann nur einem sehr kleinen Personenkreis gegenüber bricht. May hat offenbar sofort, noch in Hemsley, verstanden, dass er über seine Erfahrung mit dem Spuk nicht sprechen kann, ohne seine soziale Existenz in Frage zu stellen. Gewissermaßen passiv ist May insofern, als er nicht versucht, den Spuk in irgendeiner Form direkter Konfrontation zu beenden, etwa indem er Feuer im Funhouse legt. May ist und wird kein Held. Er ist kein Professor van Helsing, dessen geplantes Vorgehen gegen Graf Dracula diesen soweit irritiert, dass er daran erinnern muss, Kriegszüge organisiert zu haben, Jahrhunderte bevor van Helsing geboren wurde.66 Beides, die mangelnde Bereitschaft sich dem Geist bewusst und offen zu stellen, sowie das Verschweigen der Geistererscheinung hat May mit James’ Protagonisten gemeinsam. Keiner von ihnen ist ein Geisterjäger. Obwohl James Joseph Sheridan Le Fanu bewunderte, findet sich in seinen Geschichten keine Entsprechung zu dessen Dr. Martin Hesselius oder Baron Vordenburg.67 Anders als bei James’ Zeitgenossen gibt es bei ihm nicht einmal im Ansatz einen Psychic Detective wie Flaxman Low, Dr. John Silence oder Thomas Carnacki.68 Die
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Ders., Episode (s. Anm. 17), 264–266. Stoker, Dracula (s. Anm. 29), https://en.wikisource.org/wiki/Dracula/Chapter_21 (Stand: 25. 07.2019). Joseph Sheridan Le Fanu, Green Tea, in: Robert Tracy (Hrsg.), Sheridan Le Fanu: In a Glass Darkly, London 1872, Neudruck Oxford 1993, 5–40, 5 f.; Joseph Sheridan Le Fanu, Carmilla, in: Tracy, a. a. O., 243–319, 313–318. Vgl. James, Remarks (s. Anm. 62), 413. Hesketh Pritchard/Kate Pritchard, Ghosts. Being the Experiences of Flaxman Low, London 1899, vgl. http://gutenberg.net.au/ebooks06/0605811.txt (Stand: 25. 07.2019); Algernon Blackwood, John Silence, Physician Extraordinary, London 1908, Nachdruck Thirsk 2002; William Hope Hodgson, Carnacki the Ghost Finder, London 1913,
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Neugier von James’ Protagonisten bezieht sich nie auf den Spuk. »Uncle« Oldys lässt die Kommode in der »Residence at Whitminster« schlicht zu.69 In »Number 13« nötigt nur die massive Manifestation des Geistes die Protagonisten dazu, aktiv zu werden.70 Thomson in »Rats« betritt das Spukzimmer nur ein zweites Mal, um sich zu überzeugen, dass es dort eben doch kein Gespenst gibt. Die Resultate selbst dieser minimal konfrontativen Haltung sind dramatisch negativ: Der Protagonist macht sich lächerlich, er leidet für den Rest seines Lebens an einer Zwangsneurose, er zerstört die gute Beziehung zu den Wirtsleuten und vermutlich auch die Reputation des Gasthauses – in der Rahmenhandlung ist es geschlossen.71 Die Warnung, die Fanshawe im Traum erhält – »On no account move this stone« – ist angesichts seines keineswegs provokanten Verhaltens so restlos überzogen, dass sie unverständlich ist.72 Bei James bemühen sich bloß die Schuljungen in »Wailing Well«, und »Episode of Cathedral History«, mit Abstrichen auch die in »School Story« aktiv, das Unheimliche zu sehen.73 Gerade auch vor diesem Hintergrund von James’ Schuljungengeschichten erscheint May, der das »Hautend House« dringend sehen will, kindlich oder kindisch. Der einzige Held in einer Ghost Story von James, der, wenigstens in einer sehr kurzen Passage, mit der Axt in der Hand dem Spuk ein für alle Mal ein Ende bereiten will, ist Mr Hope Jones in »Wailing Well«.74 Auch wenn Hope Jones scheitert: Es ist bezeichnend für James und seine enge Beziehung zu seinen Schutzbefohlenen, dass er, wenn auch nur in einer für Jugendliche gedachten Horrorparodie, einen Lehrer einen Spuk direkt konfrontieren lässt, um einen Schüler zu rächen. James’ Helden setzen sich sonst aktiv mit dem historischen Hintergrund des Spukes auseinander, aber nie mit dem Spuk selbst.75 Mit der »Phasmatological Society« wollen sie nichts zu tun haben.76
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Nachdruck Ware 2006. Vgl. auch James, Remarks (s. Anm. 62), 415, wo er Carnacki mit Schweigen übergeht. James, Residence (s. Anm. 17), 241. Ders., Number (s. Anm. 27), 60. Ders., Rats (s. Anm. 27), 371; 375. Ders., View (s. Anm. 19), 332. Ders., Wailing Well, in: Jones (Hrsg.), M.R. James. Collected Ghost Stories (s. Anm. 1), 381–390, 383–390; James, Episode (s. Anm. 17), 262–265; ders., School Story (s. Anm. 17), 115 f. Ders., Wailing (s. Anm. 73), 390. Zu diesem Problem, leider irreführend, Michael Mason, On Not Letting Them Lie: Moral Significance in the Ghost Stories of M.R. James, in: Sunand T. Joshi/Rosemary Pardoe (Hrsg.), Warning to the Curious. A Sheaf of Criticism on M.R. James, New York 2007, 117– 123. James, Mezzotint (s. Anm. 23), 31.
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Am Ende von »Oh, Whistle« spricht Parkins zwar lange mit dem Colonel und mit seinem Kollegen Rogers, aber mit niemand anderem. Dass er sein Schweigen später einmal gebrochen hätte, deutet die Geschichte, geschrieben aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers, nicht an. Parkins lebt einfach damit, dass ihm bestimmte, eigentlich harmlose Dinge Angst einflößen, ohne sich jemandem gegenüber zu erklären.77 Auch der Protagonist von »Rats« scheint das über Jahrzehnte getan zu haben.78 Dass über Begegnungen mit Spuk oder Magie einfach geschwiegen wird, erwähnt James mehrfach.79 Er präsentiert dieses Schweigen, »the reticence which commonly falls on people who have had strange experiences, and believe in them«, sogar ausdrücklich als den Normalfall.80 Ganz eindeutig: James’ Helden lernen über Erlebnisse zu schweigen und sie entwickeln im Verlauf der Handlung eine »Let well enough alone«-Haltung. Die Entwicklung des Helden zu genau dieser Einstellung ist das eigentliche Thema von »Rats«. Der kurze Bericht der Wirtsleute, wie sie bisher jede Konfrontation mit dem Gespenst in ihrem Haus vermieden haben, stellt bei James geradezu den idealen Umgang mit Spuk dar. Striktestes Schweigen Dritten gegenüber gehört dazu.81 Vielleicht war das auch die Einstellung von James selbst: Man könnte seine kryptischen Äußerungen zum Gespensterglauben so interpretieren. Gerade auch der Schluss von »A Vignette«, buchstäblich die letzten Worte, die James in einer Ghost Story schrieb, scheint das nahezulegen.82
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Ders., »Oh, Whistle« (s. Anm. 1), 93. Ders., Rats (s. Anm. 27), 375 f. Ders., Mezzotint (s. Anm. 23), 24; ders., Uncommon (s. Anm. 38), 314; ders., School Story (s. Anm. 17), 116. Es ist bezeichnend, dass selbst im »Sequel« am Ende von »School Story« offen bleibt, ob die Person, die den Schlüssel zum Verständnis der mysteriösen Vorgänge in Händen hält, diese tatsächlich für ihre Zuhörer aufklären wird, a. a. O., 117. Von besonderer Bedeutung sind die sicherlich autobiografisch gemeinten Bemerkungen in ders., A Vignette, in: Jones (Hrsg.), M.R. James. Collected Ghost Stories (s. Anm. 1), 401–405, 405. James, Rats (s. Anm. 27), 374; vgl. auch ders., Neighbour’s Landmark (s. Anm. 43), 320. James betont diesen Punkt indirekt, indem er sofort danach Mitchell auftreten lässt, der erst seine Spukgeschichte erzählt, als Reginald Philipson sein historisches Wissen anzweifelt. Damit bestätigt James wieder, wie eng historische Kenntnisse und Geistererscheinungen für ihn zusammenhängen, a. a. O., 320 f. Ders., Rats (s. Anm. 27), 375. Ders., Preface to »The Collected Ghost Stories of M.R. James (1931)«, in: Jones (Hrsg.), M.R. James. Collected Ghost Stories (s. Anm. 1), 418–420, 419; James, Vignette (s. Anm. 79), 405.
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Johannes Dillinger
4. Resultate Versuchen wir, die Ergebnisse der Untersuchung zusammenzufassen. Duffy imitiert James in »The Penny Drops« nicht. Er verfremdet einige Elemente der Ghost Stories von James. Diese sind bei James so prominent, dass Duffy damit rechnen kann, dass ein großer Teil des Publikums, das sich für Geistergeschichten interessiert, mit ihnen vertraut ist. So kann Duffy mit den Lesern spielen; so können die Leser mit seiner Geschichte spielen. Der von James bekannte Schauplatz, der Urlaubsort an der Küste von East Anglia, wird präsentiert – und erweist sich als völlig anders als erwartet. Alle Verbindungen zur gehobenen Kultur, die für James so wichtig und nur einer Minderheit von Gebildeten zugänglich ist, werden vermieden. Stattdessen geht es dezidiert um Kommerz und einfaches Entertainment für ein Massenpublikum. Dazu passt die Hauptperson, der Makler May, der weniger mit dem Klischeebild eines JamesHelden zu tun hat als seine Gegenfigur, der gesetzte Williamson. Duffy scheint sich als Anti-James, der bewusst immer das Gegenteil von dem schreibt, was jener geschrieben hätte, profilieren zu wollen. Näher an James rückt die Handlung erst durch den Spuk selbst. Duffys Unhold verfolgt sein Opfer wie einige Geister bei James. Das Spukobjekt spielt auf »Mezzotint« und »Haunted Dolls’ House« deutlich an. Dass der Automat aber überhaupt ein Spukobjekt ist – dass er sich verändert, ist anders als bei James’ Mezzotint und dem Puppenhaus ja Teil seiner normalen Funktion – wird erst ganz klar als der Geist May direkt konfrontiert. Hier verbindet Duffy Elemente von »Oh, Whistle« mit »Mezzotint« und »Haunted Dolls’ House«. Der distanzierte Blick, mit dem die Helden von »Mezzotint« und »Haunted Dolls’ House« die magischen Objekte betrachten, fehlt May von Anfang an. May will sich auf das kindische, billige Vergnügen, das der Automat zu bieten scheint, einlassen. Ähnlich ergeht es bei James Parkins, der den Geist mit der Pfeife herbeigeholt hat. Als Retter erscheinen in »The Penny Drops« und in »Oh, Whistle« Personen, die sehr verschieden voneinander sind: Duffy setzt einmal mehr auf Verfremdung. Gemeinsam ist dem Colonel und Mr Anthony aber das Wesentliche: Beide helfen sofort, selbstlos und offenbar ohne Angst. Sie tun das, obwohl sie gerade erst dabei sind, sich mit den Protagonisten anzufreunden, weil sie ihren christlichen Überzeugungen folgen. May durchlebt einen Reifungsprozess, vergleichbar mit dem, den Parkins mitmachen muss. Er legt Fixierungen und Attitüden ab, die ein verantwortlicher Erwachsener nicht haben sollte. Um den Preis der Angst entwickelt er ein höheres Maß von persönlicher Souveränität und Verantwortungsbewusstsein. Insofern wird der Makler einem Helden am Ende einer James-Geschichte ähnlich. Duffy stimmt mit James also darin überein, was der Schock der Begegnung mit dem Geist bei den Protagonisten auslösen kann und sollte. Weder bei Duffy noch bei einer der Geschichten von James führt die Begegnung mit dem Spuk jedoch
Steve Duffys »The Penny Drops« und die Ghost Stories von M.R. James
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dazu, dass der Protagonist sein »normales«, von Alltagsrationalität geprägtes Leben aufgeben und als Missionar des Geisterglaubens auftreten würde. Die Leistung der Helden besteht auch im Schweigen. Es geht bei der Konfrontation mit dem Geist um eine innere Reifung, nicht um einen äußeren Bruch mit ihrem bisherigen Leben. Duffy verfremdet in »The Penny Drops« Elemente einiger Geschichten von M.R. James. Die Verfremdungen selbst spielen dabei reizvoller auf die ›Originale‹ an als jede einfache Imitation das könnte. Es geht dabei keineswegs um eine banale Modernisierung. Das ›aggiornamento‹ ergibt sich zwanglos und doch beinahe zwangsläufig aus Duffys Entscheidung, seine Geschichte – James radikal verfremdend – auf den Kernthemen von Kommerz und kindischem Vergnügen aufzubauen. Das spukhafte Spiel mit Abbild und Abgebildetem, ohnehin ein zentrales Thema der Fantastik, deutet Duffy mit seinem »Haunted House«-Automaten ironisch um, denunziert aber nicht die offensichtlichen Vorbilder bei James als obsolet. Die Leser können ihre an James orientierten Erwartungen mit Duffys Text abgleichen. Aus dem Kontrast gewinnt die Geschichte weiter an Interesse. Abschließend beschreibt Duffy bei May einen Reifungsprozess, der ähnlich dem von Parkins ist und die scharfen Unterschiede zwischen dem Makler und James’ Protagonisten relativiert. Die Lehre, die die Protagonisten wie das Lesepublikum aus der Begegnung mit dem Geist ziehen sollten, ist bei beiden Autoren dieselbe. Duffy weicht in Vielem von James ab, um ihn im Wesentlichen zu bestätigen. Der Handschlag zwischen May und Williamson, der Gestalt, die am ehesten einem James Klischee entspricht, am Ende der Geschichte mag auch für diese Übereinstimmung zwischen Duffy und James stehen. Ähnlich wie seine Vorgänger in den Geschichten von James wird May über sein ungewöhnliches Erlebnis schweigen. Er versteht wie diese, dass er das ganz Ungewöhnliche, das den Routinen widerspricht, stillschweigend in seine Weltsicht einbauen kann. Die Leistung der Protagonisten besteht darin, das zu tun, ohne diese Routinen und den rationalistisch geprägten Alltag zu gefährden. May versteht die Lehre von Hemsley, die auch die Lehre von James ist: The penny drops.
III. Magie
Klerus und Magie Zur Verurteilung magietreibender Kleriker in der Spa¨tantike Christian Hornung
I Die Auseinandersetzung der Kirche mit Magie, Zauberei und Wahrsagerei reicht bis in die Zeit des Frühchristentums zurück. Bereits in der Didache findet sich zu Beginn des 2. Jahrhunderts das Verbot: »Du sollst nicht töten […], nicht Zauberei treiben, nicht Gift mischen […].«1 Und wenig später formuliert dieselbe Kirchenordnung: »Mein Kind, werde kein Vogelschauer, da das zum Götzendienst führt, und auch kein Beschwörer, kein Sterndeuter, kein Zauberer, und wünsche dergleichen weder zu sehen noch zu hören; denn aus all dem entsteht Götzendienst.«2
Die Didache eröffnet gleichsam die kirchendisziplinäre Auseinandersetzung mit der Magie und listet ganz unterschiedliche magische Praktiken auf: Zauberei, Giftmischerei, Vogelschau, Beschwörung und Sterndeutung. Sie alle bedeuten dem Verfasser der Kirchenordnung Götzendienst und Apostasie, d. h. Glaubensabfall.3 Zeitlich wenig später rechnet auch der Barnabasbrief Giftmischerei und Zauberei zu den christlichen Haupt- und Todsünden4 und bezeugt damit kirchlicherseits eine einsetzende Traditionsbildung, die zu einer steten Verurteilung magischer Praktiken in der Antike führt. In einer rezenten Studie zur
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Did. 2,2 (SUC 2, 68); dt. Übers.: Georg Schöllgen. Did. 3,4 (SUC 2, 70); dt. Übers.: Georg Schöllgen. Vgl. Christian Hornung, Apostasie im antiken Christentum. Studien zum Glaubensabfall in altkirchlicher Theologie, Disziplin und Pastoral (4.–7. Jahrhundert n. Chr.), SVigChr 138, Leiden 2016, 167 f. Vgl. Barn. 20,1 sowie Reinhart Staats, Art. Hauptsünden, in: RAC Bd. 13, 1986, 734– 770.
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Christian Hornung
Magie in der Spätantike hat u. a. Marco Frenschkowski versucht, diesen Prozess nachzuzeichnen.5 Mit der stärkeren Institutionalisierung des Klerus als Stand und seiner Professionalisierung6 treten ab dem 3. Jahrhundert Kleriker an die Spitze der kirchlichen Auseinandersetzung mit der Magie. Kirchendisziplinäre Bestimmungen untersagen magische Praktiken und verurteilen diejenigen, die trotz kirchlicher Verbote weiterhin an ihnen festhalten.7 Die kirchlichen Amtsträger sind dabei in besonderer Weise für die Überwindung der Magie verantwortlich. So bestimmt das Konzil von Arles vJ. 506: »Wenn im Zuständigkeitsbereich eines Bischofs Ungläubige Fackeln oder Bäume anzünden, wenn sie Quellen oder Felsen verehren, soll [scil. der Bischof] wissen, dass er zu einem Zeugen dieses Frevels wird, wenn er es vernachlässigt, diesen auszurotten. Der Herr und Lenker der Schöpfung selbst soll ihn der Kommunion berauben, wenn er sich nicht bessern will, obwohl er ermahnt worden ist.«8
Die Auseinandersetzung der Kirche mit der Magie ist allgemein bekannt und Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Vor diesem Hintergrund will der nachfolgende Beitrag auf ein bislang oft übersehenes Phänomen aufmerksam machen: die Verstrickungen kirchlicher Amtsträger (Kleriker) in die Magie und magische Praktiken.9 Welche Indizien lassen sich für die Beteiligung von Klerikern an Magie, Zauberei und Wunderglaube finden, und wie versucht die kirchliche Disziplin dagegen vorzugehen? Der Fokus der Untersuchung wird vor allem auf kir5
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Vgl. Marco Frenschkowski, Magie im antiken Christentum. Eine Studie zur Alten Kirche und ihrem Umfeld, StAC 7, Stuttgart 2016, 223–273, sowie u. a. Spyros N. Troianos, Zauberei und Giftmischerei in mittelbyzantinischer Zeit, in: Günter Prinzing/ Dieter Simon (Hrsg.), Fest und Alltag in Byzanz, München 1990, 37–51; 184–188; Valerie Flint, The demonisation of magic and sorcery in Late Antiquity. Christian redefinitions of pagan religions, in: dies. (Hrsg.), Witchcraft and magic in Europe. Ancient Greece and Rome, The Athlone History of Witchcraft and Magic in Europe 2, London 1999, 279–348, sowie Almuth Lotz, Der Magiekonflikt in der Spätantike, Bonn 2005. Vgl. Georg Schöllgen, Die Anfänge der Professionalisierung des Klerus und das kirchliche Amt in der syrischen Didaskalie, JbAC.E 26, Münster 1998. Einen Überblick über die einzelnen Bestimmungen bietet Marco Frenschkowski, Art. Magie, in: RAC Bd. 23, 2010, 857–957, 947–954. Conc. Arelat. vJ. 506 cn. 23 (CCL 148, 119): Si in alicuius episcopi territorio infideles aut faculas accendunt aut arbores, fontes vel saxa venerantur, si hoc eruere neglexerit, sacrilegii reum se esse cognoscat. Dominus aut ordinator rei ipsius, si admonitus emendare noluerit, communione privetur. Vgl. Hanno Dockter, Klerikerkritik im antiken Christentum, Göttingen 2013, 233 f.
Klerus und Magie
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chendisziplinären Bestimmungen der Spätantike liegen. Besonders gallische und hispanische Kanones des 6. und 7. Jahrhunderts sind für die Fragestellung einschlägig. Ergänzend berücksichtigt werden einzelne Predigten des Caesarius von Arles und spätere Bußbücher. Abschließend soll versucht werden, die Auseinandersetzung mit magietreibenden Klerikern in den Kontext einer habituellen Abgrenzung des Klerus als Stand einzuordnen.
II Das Konzil von Laodizäa steht am Anfang der kirchendisziplinären Auseinandersetzung mit Amtsträgern, die Magie betreiben. Unter den Bestimmungen der in seiner Authentizität umstrittenen Bischofsversammlung10 untersagt Kanon 36 Klerikern die Magie.11 Der kurze Kanon kann als östlicher Vergleichspunkt für spätere westliche Regelungen gelten: Ὅτι οὐ δεῖ ἱερατικοὺς ἢ κληρικοὺς μάγους ἢ ἐπαοιδοὺς εἶναι ἢ μαθηματικοὺς ἢ ἀστρολόγους, ἢ ποιεῖν τὰ λεγόμενα φυλακτήρια, ἅτινά ἐστι δεσμωτήρια τῶν ψυχῶν αὐτῶν. Τοὺς δὲ φοροῦντας ῥίπτεσθαι ἐκ τῆς ἁγίας ἐκκλησίας ἐκελεύσαμεν.12
»Dass es nicht erlaubt ist, dass Priester oder Kleriker Magier, Zauberer, Mathematiker oder Sterndeuter sind, oder sie sog. Amulette herstellen, die Fesseln für ihre Seelen sind. Wir ordnen an, diejenigen, die solche Dinge tragen, aus der heiligen Kirche zu werfen.«
Die Bestimmung richtet sich im ersten Teil an den Klerus. Die Formulierung ἱερατικός καὶ κληρικός umfasst höhere und niedere Kleriker.13 Ihnen wird sowohl jegliche Praxis als Magier, Zauberer, Mathematiker oder Sterndeuter als auch die Amulettherstellung untersagt. Eine Begründung schimmert im Relativsatz durch: Die Amulette erscheinen als gefährliche »Fesseln für die Seelen«, die die daran Beteiligten in Unfreiheit und möglicherweise in die Nähe des Teufels bringen. Der zweite Teil der Bestimmung (τοὺς δὲ φοροῦντας […] ἐκελεύσαμεν) setzt einen größeren Adressatenkreis voraus: Jetzt sind auch Laien adressiert, die Amulette zwar nicht herstellen, aber doch anlegen. Sie bedroht das Konzil mit der Exkommunikation (ῥίπτεσθαι ἐκ τῆς ἁγίας ἐκκλησίας). Kanon 36 des Konzils von Laodizäa ist eine Sammelbestimmung, die unter Klerikern wie Laien jegliche magische Praxis und Konsultation untersagt. Die 10
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Vgl. Émile Amann, Art. Laodicée (concile de), in: DThC Bd. 8/2, 1925, 2611–2615, 2611; Heinz Ohme, Art. Kirchenrecht, in: RAC Bd. 20, 2004, 1099–1139, 1121. Vgl. Nicole Zeddies, Religio et sacrilegium. Studien zur Inkriminierung von Magie, Häresie und Heidentum (4.–7. Jahrhundert), EHS.G 964, Frankfurt a. M. 2003, 81. Conc. Laod. (4. Jh.) cn. 36 (121 Beneševič, Synagoga L titulorum). Vgl. Hornung, Apostasie (s. Anm. 3), 194.
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Christian Hornung
Reihe μάγος, ἐπαοιδός, μαθηματικός und ἀστρολόγος hat summarische Funktion; eine inhaltliche Differenzierung ist nicht angestrebt. In der Intention der Konzilsväter liegt das Verbot jeder Form der Magie, die von Klerikern und Laien ausgeübt wird. Gerade Amulette sind in der Antike auch unter Christen populär und gelten als apotropäisches Zeichen.14 Ob die Bestimmung auch jüdischen Einfluss zurückzudrängen sucht, wie Francina Boddens Hosang vermutet, ist undeutlich.15 Westliche Konzilskanones lassen ebenfalls eine grundsätzliche Inkriminierung der Magie erkennen. Besonders dem Klerus wird jede Form magischer Praxis untersagt. Unter den gallischen Konzilien bestimmt etwa in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts eine Bischofsversammlung von Vannes im Jahr 461/ 491 Folgendes: Ac ne id fortasse videatur omissum, quod maxime fidem catholicae religionis infestat, quod aliquanti clerici student auguriis et sub nomine confictae religionis, quas sanctorum sortes vocant, divinationis scientiam profitentur, aut quarumcumque scripturarum inspectione futura promittunt, hoc quicumque clericus detectus fuerit vel consulere vel docere, ab ecclesia habeatur extraneus. 16
»Und damit vielleicht auch das nicht ausgelassen zu sein scheint, was am meisten die Treue zur katholischen Religion gefährdet, nämlich dass einige Kleriker sich um die Beobachtung von Vorzeichen bemühen und unter dem Deckmantel einer erdachten Religion, den sog. sortes sanctorum, die Kenntnis der Weissagungskunst vorgeben oder aus der Untersuchung irgendwelcher Schriften die Zukunft vorhersagen [scil. bestimmen wir Folgendes]: Welcher Kleriker auch immer überführt worden ist, solches zu konsultieren oder zu lehren, soll von der Kirche ausgeschlossen sein.«
Klerikern werden die Konsultation und Ausübung bzw. Verbreitung (vel consulere vel docere) der Magie und Divination untersagt. Die, die trotz des Verbots nicht davon ablassen, sollen exkommuniziert17 werden, eine spätere Rekonzi14
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Vgl. Franz Eckstein/Jan Hendrik Waszink, Art. Amulett, in: RAC Bd. 1, 1950, 397–411, bes. 407–410: »Aus den Kirchenvätern […] u. den Konzilienbeschlüssen ersieht man die scharfe Ablehnung der Amulette, zugleich ihre starke Verbreitung in christlichen Kreisen.« Vgl. F.J. Elizabeth Boddens Hosang, Establishing boundaries. Christian-Jewish relations in early council texts and the writings of church fathers, JCPS 19, Leiden 2010, 106. Conc. Venet. vJ. 461/491 cn. 16 (CCL 148, 156). Zu extraneus als Terminus der Exkommunikation vgl. Conc. Turon. vJ. 461 cn. 8 (CCL 148, 146): Si quis vero post acceptam paenitentiam sicut canis ad vomitum suum, ita ad saeculares illecebras derelicta quam professus est paenitentia, fuerit reversus, a commu-
Klerus und Magie
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liation ist nicht vorgesehen. Auf die besondere Schwere des Vergehens weist der eingeschobene Relativsatz hin (quod maxime fidem catholicae religionis infestat).18 Unter den divinatorischen Praktiken nennt Vannes zunächst Augurien. Daran anschließend werden zwei weitere Formen der Weissagungskunst angeführt: 1) die scientia divinationis in Verbindung mit den sortes sanctorum und 2) die »Untersuchung von Schriften« (inspectio scripturarum), ebenfalls mit dem Ziel, Kenntnis über die Zukunft zu erlangen. Kleriker sind professionelle Wahrsager; darauf weist scientia (divinationis) hin, ein Wort, das technisch die Kunst oder das berufsmäßige Wissen von etwas bezeichnet.19 Die professionelle Wahrsagerei versuchen sie unter dem Deckmantel einer Religion durchzuführen, und bezeichnen sie als sortes sanctorum, die erstmals auf dem Konzil von Vannes und nachfolgend auch auf weiteren Bischofsversammlungen erwähnt werden.20 Aus einer späteren Synode von Auxerre ergibt sich, dass die »Lose der Heiligen« neben anderen aus Brot und Holz verwendet werden;21 möglicherweise liegt hier eine Verbindung zweier zunächst unabhängiger Divinationsformen vor. Am Ausführlichsten ist Isidor von Sevilla:
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nione ecclesiae vel a convivio fidelium extraneus habeatur, quo facilius et ipse compunctionem per hanc confusionem accipiat et alii eius terreantur exemplo; Albert Blaise, s. v. extraneus, in: Dictionnaire latin-français des auteurs chrétiens, Strasbourg 1954, 339 f. Vgl. Leo M., ep. 61,2 (PL 54, 875): […], in qua universalis ecclesiae salus infestatur; Coll. Arelat. cn. 39 (CCL 148, 122): Inergumini baptizati, si de purgatione sua curant et se sollicitudine ecclesiasticae tradunt motisque obtemperant, omnimodis communicent, sacramentis ipsius virtute ab incurso daemonii quo infestantur purgandi, quorum ostenditur vita purgatior; Maximilian Lambertz, s. v. infesto, in: ThLL Bd. 7, 1934–1964, 1405. Vgl. Blaise, s. v. scientia, in: Dictionnaire (s. Anm. 17), 743. Vgl. Conc. Aurelian. vJ. 511 cn. 30 (CCL 148 A, 12): Si quis clericus, monachus, saecularis divinationem vel auguria credederit observanda vel sortes, quas mentiuntur esse sanctorum, quibuscumque potaverint intimandas, cum his, qui iis credederint, ab ecclesiae conmunione pellantur; Ernst von Dobschütz, Art. Sortes Apostolorum oder Sanctorum, in: RE Bd. 18, 1906, 537–539; William E. Klingshirn, Defining the Sortes Sanctorum. Gibbon, Du Cange, and the Early Christian lot divination, in: JECS 10 (2002), 77–130, 84. Vgl. Conc. Autissiod. vJ. 561/605 cn. 4 (CCL 148 A, 265): Non licet ad sortiligos vel auguria respicere nec ad caragius nec ad sortes, quas sanctorum vocant, vel quas de lignum aut de pane faciunt, aspicere, nisi, quaecumque homo facere vult, omnia in nomine domini faciat.
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Sortilegi sunt qui sub nomine fictae religionis per quasdam, quas sanctorum sortes vocant, divinationis scientiam profitentur, aut quarumcumque scripturarum inspectione futura promittunt. 22
»Sortilegi sind diejenigen, die unter dem Deckmantel einer erdachten Religion durch gewisse Lose, die sie als sortes sanctorum bezeichnen, die Kenntnis der Weissagungskunst vorgeben oder durch die Untersuchung irgendwelcher Schriften die Zukunft verheißen.«
Der Name sortes sanctorum ist wahrscheinlich biblisch beeinflusst. Col 1,12 Vulg. fungiert als Referenzstelle: »Dankt dem Vater mit Freude! Er hat euch fähig gemacht, Anteil zu haben am Los der Heiligen (in partem sortis sanctorum), die im Licht sind.« Was die sortes sanctorum technisch meinen, wurde und wird in der Forschung intensiv diskutiert.23 Mit Charles du Fresne, sieur du Cange, ging man lange davon aus, dass sie entweder die Befragung des Evangeliums oder überhaupt eines heiligen Buchs bezeichnen;24 Dieter Harmening wollte sie hingegen gerade von Formen des Buch- bzw. Bibelorakels unterscheiden und als »kultische Praktiken manischen Losens aus heidnischer Zeit« verstehen.25 William Klingshirn hat in einer längeren Studie dargelegt, dass die sortes sanctorum ein Buchorakel sind, von dem verschiedene Formen bzw. Versionen im Umlauf waren. Eine Version identifiziert er mit einem konkreten divinatorischen Text, einem Losbuch, dem nach seinen Anfangsworten benannten Post solem surgunt stellae. 26 Es dient als Grundlage der divinatorischen Religion und enthält magische Antworten, verbunden mit heidnischen Orakelsprüchen.27 Ob allerdings das 22 23
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Isidor, orig. VIII 9,28 Lindsay. Vgl. zur Weissagung mit Losen jetzt auch Annemarie Luijendijk/William E. Klingshirn (Hrsg.), My Lots are in Thy Hands. Sortilege and its Practitioners in Late Antiquity, RGRW 188, Leiden 2019. Vgl. Charles du Fresne Du Cange, s. v. sors, in: Glossarium mediae et infimae latinitatis, Bd. 7, Paris 1883–1887, 532 f. Vgl. Dieter Harmening, Superstitio. Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Untersuchungen zur kirchlich-theologischen Aberglaubensliteratur des Mittelalters, Berlin 1979, 204. Vgl. Klingshirn, Sortes (s. Anm. 20), 77–130. Zur Junktur nomen religionis vgl. Tertullian, spect. 5,2 (CCL 1, 232): Igitur in Etruria inter ceteros ritus superstitionum suarum spectacula quoque religionis nomine instituunt; Ambrosiaster, comm. in Col. 2,23 (CSEL 81, 3, 191): Hinc se sapientiae rationem habere putant, quia traditioni humanae nomen religionis adplicant, ut religio appelletur, cum sit sacrilegium, quia quod contra auctorem est, sacrilega mente inventum est; Augustinus, conf. IV 1,1 (CCL 27, 40): Per idem tempus annorum novem, ab undevicensimo anno aetatis meae usque ad duodetricensimum, seducebamur et seducebamus falsi atque fallentes in
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Losbuch im Kanon gemeint ist oder andere Formen in Gallien verbreiteter sortes, ist schwer zu entscheiden. Eine Bestimmung der, neben den Augurien und sortes sanctorum, dritten vom Konzil genannten divinatorischen Praxis, der »Untersuchung irgendwelcher Schriften« (inspectio quarumcumque scripturarum), ist unproblematischer. Der Begriff scripturae impliziert biblische, aber auch nichtbiblische Schriften;28 es ist möglich, dass Florilegiensammlungen mit knappen Weissagungstexten oder heidnischen Sprüchen gemeint sind, eine Interpretation, die der etwas pejorativ klingende Wortlaut des Kanons (»irgendwelche Schriften«) zusätzlich bestärkt. Den Gebrauch der Bibel zu Weissagungszwecken29 lässt u. a. Augustinus erkennen:30 Hi vero, qui de paginis evangelicis sortes legunt, etsi optandum est, ut hoc potius faciant, quam ad daemonia consulenda concurrant, tamen etiam ista mihi displicet consuetudo, ad negotia saecularia et ad vitae huius vanitatem propter aliam vitam loquentia oracula divina velle convertere. 31
»Über diejenigen aber, die aus den Seiten der Evangelien Lose lesen (auch wenn zu wünschen ist, dass sie dies eher tun, als Rat bei den Dämonen zu suchen): Es gefällt mir auch diese Gewohnheit nicht, die göttlichen Orakel, die wegen eines anderen Lebens reden, zu irdischen Dingen und der Eitelkeit dieses Lebens umkehren zu wollen.«
Einen vergleichbaren Vorgang der Konsultation von Texten, um Kenntnis über die Zukunft zu erlangen, haben auch die Konzilsväter vor Augen, wenn sie die Befragung von Schriften untersagen und damit der Weissagungskunst Einhalt zu gebieten suchen. Dass derlei Bestimmungen offenbar ohne durchschlagenden Erfolg geblieben sind, zeigen die Rezeption des Kanons gleich auf zwei späteren Konzilien32 und auch einzelne zeitgenössische Predigten des Caesarius von Arles.
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variis cupiditatibus et palam per doctrinas, quas liberales vocant, occulte autem falso nomine religionis, hic superbi, ibi superstitiosi, ubique vani, hac popularis gloriae sectantes inanitatem usque ad theatricos plausus et contentiosa carmina et agonem coronarum faenearum et spectaculorum nugas et intemperantiam libidinum, illac autem purgari nos ab istis sordibus expetentes, cum eis, qui appellarentur electi et sancti, afferremus escas, de quibus nobis in officina aqualiculi sui fabricarent angelos et deos, per quos liberaremur. Vgl. Blaise, s. v. scriptura, in: Dictionnaire (s. Anm. 17), 745, sowie Klingshirn, Sortes (s. Anm. 20), 86. Vgl. Siegfried Morenz/Johannes Leipoldt, Art. Buch II (heilig, kultisch), in: RAC Bd. 2, 1954, 688–717, 716. Zur sog. Mailänder Gartenszene vgl. Augustinus, conf. VIII 12,29 f. (CCL 27, 131 f.). Augustinus, ep. LV 20,37 (CSEL 34, 212). Vgl. Conc. Agath. vJ. 506 cn. 42 (CCL 148, 210 f.): Ac ne id fortasse videatur omissum, quod maxime fidem catholicae religionis infestat, quod aliquanti clerici sive laici student auguriis
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Der 50. Sermo des Bischofs illustriert beispielsweise die Involvierung von Klerikern in magische Praktiken im Zusammenhang antiker Heilverfahren.33 Gläubige, die sich bei Krankheit hilfesuchend an Geistliche wenden, erhalten von diesen Amulette (ligaturae), für Caesarius ein Zeichen, dass die Kleriker in Wahrheit keine Geistlichen, sondern Helfershelfer des Teufels sind (adiutores diaboli).34 Die Deposition und (dauerhafte?) Inhaftierung in einem Kloster sieht ein toletanisches Konzil vJ. 633 für Kleriker vor, die sich an Magier wenden. Die Bischofsversammlung lässt die Fortdauer der kirchendisziplinären Auseinandersetzung bis in das 7. Jahrhundert und auch über Gallien hinaus bis auf die hispanische Halbinsel erkennen:35 Si episcopus quis aut presbyter sive diaconus vel quilibet ex ordine clericorum magos aut haruspices aut hariolos, aut certe augures vel sortilegos vel eos qui profitentur artem aliquam, aut aliquos eorum similia exercentes, consulere fuerit deprehensus, ab honore dignitatis suae depositus monasterii poenam excipiat ibique perpetua paenitentia deditus scelus admissum sacrilegii luat. 36
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»Wenn ein Bischof, Presbyter, Diakon oder sonst einer aus dem Klerikerstand dabei ertappt worden ist, Magier, Eingeweideschauer, Wahrsager, Auguren, Sortilegi, solche, die irgendeine (dunkle) Kunst oder irgendetwas Ähnliches zu beherrschen vorgeben, zu befragen, soll er, von seinem Amt abgesetzt, eine Klosterstrafe erhalten und in beständiger Buße das begangene Verbrechen seines Frevels abbüßen.«
et sub nomine fictae religionis, quas sanctorum sortes vocant, divinationis scientiam profitentur, aut quarumcumque scripturarum inspectione futura promittunt, hoc quicumque clericus vel laicus detectus fuerit vel consulere vel docere, ab ecclesia habeatur extraneus (die Bestimmung richtet sich jetzt auch gegen Laien), sowie Conc. Aurelian. vJ. 511 cn. 30 (CCL 148 A, 12). Vgl. Monika Ożóg, Magic practices against human life and health in Late Antiquity as reflected in the church legislation, in: Vox patrum 35 (2015), 243–252. Vgl. Caesarius von Arles, serm. 50,1 (CCL 103, 225): […] sed, quod dolendum est, sunt aliqui, qui in qualibet infirmitate sortilegos quaerunt, aruspices et divinos interrogant, praecantatores adhibent, fylacteria sibi diabolica et caracteres adpendunt. Et aliquotiens ligaturas ipsas a clericis ac religiosis accipiunt; sed illi non sunt religiosi vel clerici, sed adiutores diaboli, sowie serm. 1,12 (CCL 103, 8–10). Vgl. auch Isabel Velázquez Soriano, Between Orthodox Belief and »Superstition« in Visigothic Hispania, in: Richard L. Gordon/Francisco Marco Simón (Hrsg.), Magical practice in the Latin West. Papers from the international conference held at the University of Zaragoza, 30. 9.–1. 10.2005, RGRW 168, Leiden 2010, 601–627. Conc. Tolet. vJ. 633 cn. 29 (CCH 5, 218).
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Das Konzil von Toledo formuliert – wie zuvor bereits die Synode von Laodizäa – eine Sammelbestimmung: Jede Befragung eines Magiers oder Wahrsagers wird künftighin unter Strafe gestellt; ihre einzelnen Bezeichnungen (magus, haruspex, hariolus, augur, sortilegus, is qui profitetur artem aliquam und aliquis eorum similia exercens) sind dabei inhaltlich nicht strikt zu differenzieren, sondern dienen dazu, die Anwendbarkeit und das Subsumptionspotential der Norm zu erhöhen. Diese Intention lässt besonders die letzte Bezeichnung erkennen, die summarische Funktion hat (aliquis eorum similia exercens). Adressat ist der gesamte Klerus:37 Zunächst werden höhere Kleriker genannt (episcopus, presbyter und diaconus); die Junktur quilibet ex ordine clericorum umfasst dann auch den niederen Klerus. Das Konzil verbietet die Befragung von Magiern. Gegen eine selbstständig ausgeübte magische Praxis von Klerikern muss es nicht (mehr) vorgehen. Die Strafbestimmung sieht die Absetzung38 und Inhaftierung in einem Kloster vor39 und soll der Besserung und Läuterung des Frevlers dienen. Das zeitlich etwas früher zu datierende Paenitentiale Columbans sieht demgegenüber für Kleriker, die Zauberei betrieben haben, nur eine kurze, einjährige Buße bei Brot und Wasser vor (cum pane et aqua).40
III Die sukzessive Abgrenzung und Distanzierung des Klerus von der Magie und magischen Praktiken, die voranstehend in den kirchendisziplinären Bestimmungen zu beobachten war, steht im Kontext einer grundsätzlichen Auseinandersetzung der Kirche mit der Magie. Mit der Didache und dem Barnabasbrief wurden eingangs des Beitrags hierfür frühe Zeugnisse angeführt. Wie in der Spätantike grundsätzlich eine 37 38
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Vgl. Zeddies, Religio (s. Anm. 11), 181. Zur Deposition vgl. Leopold Wenger/Karl Hofmann, Art. Absetzung, in: RAC Bd. 1, 1950, 35–41. Vgl. Franz Q. v. Kober, Die Gefängnisstrafe gegen Cleriker und Mönche, in: ThQS 59 (1877), 5–74; 551–635; Julia Hillner, Prison, punishment and penance in Late Antiquity, Cambridge 2015, 281–313. Columbanus, poenit. B6 (172 Walker): Si quis maleficio suo aliquem perdiderit, III annis paeniteat cum pane et aqua per mensuram, et III aliis annis abstineat se a vino et carnibus, et tunc demum in septimo anno recipiatur in communionem. Si autem pro amore quis maleficus sit, et neminem perdiderit, annum integrum cum pane et aqua clericus ille paeniteat, laicus dimidium, diaconus duos, sacerdos tres: Maxime si per hoc mulieris partum quisque deceperit, ideo VI quadragesimas unusquisque insuper augeat, ne homicidii reus sit, sowie Ożóg, Practices (s. Anm. 33), 248.
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Intensivierung der zivilen Gesetzgebung gegen Magie und Zauberei zu beobachten ist,41 so unternimmt auch die Kirche den Versuch einer strikten Abgrenzung. Kleriker stehen hierbei mehr und mehr im Zentrum der disziplinären Maßnahmen. Sie sind zunächst in besonderer Weise für ihre Gemeinden und die Überwindung dortiger magischer Praktiken verantwortlich.42 Der 23. Kanon des Konzils von Agde vJ. 506 machte dies exemplarisch deutlich;43 ebenso verpflichtet ein Konzil von Tours vJ. 567 Bischöfe und Presbyter darauf, diejenigen aus der Kirche auszuschließen, die Felsen, Bäume oder Quellen verehren. Derlei Praktiken gelten den Synodenteilnehmern als magisches und vor allem paganes Brauchtum (gentilium observationes custodire).44 Die christliche Distanzierung von der Magie wird so zum Bestandteil einer grundsätzlichen Absonderung von nichtchristlichen Traditionen und der Konstruktion einer spezifisch christlichen Identität angesichts einer weiterhin bestehenden »continuity of the magical world«.45 Sodann müssen nicht nur die Gläubigen von magischen Praktiken distanziert werden, sondern auch der Klerus selbst. Die kirchliche Disziplin lässt über zahlreiche Bestimmungen erkennen, dass Kleriker Magier und Wahrsager konsultieren und auch selbst solche Funktionen ausüben. Die oben diskutierten Zeugnisse der kirchlichen Disziplin können um weitere ergänzt werden:46 Zacharias von Mytilene bezeugt magiegläubige Kleriker in Beirut, die auf herumziehende Gauner hereinfallen,47 Sophronius von Pella wird von der sog. Räubersynode iJ. 449 mit dem Anathem belegt, weil er im Bischofshaus Magie
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Vgl. Marie Theres Fögen, Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike, Frankfurt a. M. 1997, 249–253, sowie Flint, Demonisation (s. Anm. 5), 321. Vgl. Engbert Jan Jonkers, Die Konzile und einige Formen alten Volksglaubens im fünften und sechsten Jahrhundert, in: VigChr 22 (1968), 49–53. Vgl. o. 304. Vgl. Conc. Turon. vJ. 567 cn. 23 (CCL 148 A, 191): Contestamur illam sollicitudinem tam pastores quam presbiteros gerere, ut, quoscumque in hac fatuitate persistere viderint vel ad nescio quas petras aut arbores aut ad fontes, designata loca gentilium, perpetrare, quae ad ecclesiae rationem non pertinent, eos ab ecclesia sancta auctoritate reppellant nec participare sancto altario permittant, qui gentilium observationes custodiunt. Vgl. Georg Luck, The survival of ancient magic in the early church, in: MHNH 3 (2003), 29–54, 48. Vgl. Lotz, Magiekonflikt (s. Anm. 5), 244. Vgl. Zacharias von Mytilene, vit. Sev. Ant. (PO 2, 71–73).
Klerus und Magie
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betrieben haben soll,48 und Gregor der Große will Kleriker bestrafen, die sich der Zauberei (canterma 49) schuldig gemacht haben.50 Offenbar halten nicht nur Gläubige, sondern auch Kleriker an der Magie und magischen Praktiken fest. Ihre Distanzierung stellt die kirchliche Disziplin dabei vor besondere Herausforderungen. Denn nach einer sich mehr und mehr etablierenden Zweistufenethik gelten für Kleriker striktere ethische Anforderungen als für Laien. Entsprechend leitet das Konzil von Vannes vJ. 461/91 seine Norm gegen magietreibende Kleriker mit einem begründenden Relativsatz ein: quod maxime fidem catholicae religionis infestat,51 »was am meisten die Treue zur katholischen Religion gefährdet«, und Caesarius von Arles listet in seinen Predigten, dem Gesetz der Steigerung folgend, nach magischen Praktiken von Laien solche von Klerikern auf, um die besondere Schwere ihrer Vergehen anzudeuten.52 Die Distanzierung von der Magie ist daher nicht nur ein Mittel der christlichen Identitätsbildung durch Inkriminierung eines als pagan gedeuteten Glaubens an Zauber und Wahrsagerei (dessen inhaltliche Seite zudem wechselnden Deutungen und Definitionen unterliegt), sondern auch Mittel der innerchristlichen Standesabgrenzung zwischen Klerikern und Laien. Denn die Intensivierung des klerikalen Magieverbots geht einher mit einer immer stärkeren Konstruktion des Klerus als Stand, der sich ab dem 4. Jahrhundert auch habituell von anderen christlichen Lebensformen unterscheiden muss. Bei Caesarius wird deutlich, dass die Kritik an magietreibenden Klerikern nur ein Teilaspekt einer grundsätzlichen Kritik an ihrer »Weltlichkeit«, ihrer Verhaftung im Diesseits und ihrem »laienartigen« Lebensstil ist.53 Insofern scheint auch das hier untersuchte Thema »Klerus und Magie« notwendig im Kontext einer 48
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Vgl. Conc. Ephesin. vJ. 449: 81–83 Flemming, sowie Erik Peterson, Die geheimen Praktiken eines syrischen Bischofs, in: ders., Frühkirche, Judentum und Gnosis. Studien und Untersuchungen, Rom 1959, 333–345. Vgl. Berthold Maurenbrecher, s. v. canterma, in: ThLL Bd. 3, 1906–1912, 280. Vgl. Gregor der Große, ep. 5,32 (CCL 140, 299 f.). Conc. Venet. vJ. 461/491 cn. 16 (CCL 148, 156). Vgl. Caesarius von Arles, serm. 50,1 (CCL 103, 225). Vgl. etwa a. a. O., 55,5 (CCL 103, 243 f.): Forsitan, quando ista praedicamus, aliqui contra nos irascuntur, et dicunt: Ipsi, qui hoc praedicant, inplere dissimulant; ipsi sacerdotes et presbyteri vel diaconi talia plurima conmittunt. Et quidem, fratres, aliquotiens verum est: Sunt, quod peius est, etiam et clerici, qui se inebriare solent, et causas iustas subvertere, et in festivitatibus causas dicere, et litigare, et negotia exercere non erubescunt. Sed numquid toti condemnandi sunt, quia aliqui mali inveniuntur?; a. a. O., 74,3 (CCL 103, 311): Quanti enim nunc in plateis vel in atriis basilicarum aut litibus aut negotiis vacant! Quanti in porticibus basilicarum vel in secretariis detractionibus aut ociosis sermonibus occupantur, inter quos non parvus solet etiam esse numerus clericorum!
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umfassenden Konstituierung des Klerus als Stand verortet werden zu müssen, ein Prozess, der sich in der Spätantike an die Professionalisierung des Klerus in vorkonstantinischer Zeit anschließt und zu einer grundsätzlichen Differenzierung christlicher Lebensformen führt.54
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Zur Asketisierung des Klerus im antiken Christentum hat der Verfasser jetzt eine Studie publiziert: ders., Monachus et sacerdos. Asketische Konzeptualisierungen des Klerus im antiken Christentum, SVigChr 157, Leiden 2020.
Das Grimorium verum Ein Faden im Gewebe handschriftlicher und gedruckter magischer Texte Michael Siefener
Marco Frenschkowski und mich verbindet eine jahrzehntelange Freundschaft, der ich durch diesen kleinen Artikel freudig Ausdruck verleihen möchte. Wir arbeiten gemeinsam an einem Projekt zu Erforschung der Zauberbücher, bei denen häufig Elemente der Religion durch die Imagination umgeformt werden – ein faszinierender Prozess. Im Folgenden soll besonders das Grimorium verum Gegenstand der Untersuchung sein. Dieses Zauberbuch – ein typisches Grimoire, wie es sie vom späten 18. bis zum mittleren 19. Jahrhundert zuhauf gab – trägt zwar einen langen lateinischen Titel, doch der Text ist ausschließlich in französischer Sprache verfasst: »Grimorium verum, Vel probatissimè Salomonis Claviculae Rabini Hebraï ci in quibus tum naturalia tum super naturalia secreta licet abditissima in promptu apparent, modò operator per nessaria et contenta faciat scia tamen oportet Demonum potentia dum taxat per agantur; Traduit de l’He´breu par Plaingie`re, Jésuite Dominicain, avec ´gyptien, 1517.« un Recueil de Secrets curieux. A Memphis, Chez Alibeck, l’E
Ein dominikanischer Jesuit ist wirklich etwas ganz Besonderes … Und auch das Latein ist nicht dazu angetan, seinem Urheber zu Ehren zu gereichen. Das Druckjahr ist selbstverständlich fingiert; Emil Weller gibt »1817« an,1 was durchaus zu Art und Erscheinungsbild des Büchleins passt, aber nicht verifizierbar ist.2 Eine andere Textausgabe des Grimorium verum erschien unter dem Titel »Les Véritables Clavicules de Salomon, Trésor des Sciences Occultes, Suivies D’un 1
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Emil Weller, Die falschen und fingirten Druckorte. Repertorium der seit Erfindung der Buchdruckerkunst unter falscher Firma erschienenen deutschen, lateinischen und französischen Schriften. Zweiter Band, enthaltend die französischen Schriften, Leipzig 1864, 266. In der Bibliographie de la France für 1817 findet sich jedenfalls kein Grimorium verum; die Bibliographie verzeichnet auch Zauberbücher.
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grand nombre de Secrets, et notamment de la grande Cabale Dite Du Papillon Vert. Approuvé par Agaliarept. [Sigill] A Memphis, Chez Alibeck, l’Egyptien. 1827.« Diese Datierung ist aufgrund der Papierqualität und Anmutung des Bandes nachvollziehbar. Das Buch wurde in Lille bei dem berühmt-berüchtigten Verleger von Kolportageliteratur, Simon-François Blocquel (1780–1863), gedruckt, der etliche – heute höchst wertvolle, da zumeist wohl zerlesene und untergegangene – Zauberbücher wie den »Dragon Rouge«, das Enchiridion Leonis Papae oder das »Grimoire du Pape Honorius« (wieder) auf den Markt warf. Etwas später wurde eine weitere Ausgabe mit identischem Titel, aber ohne Jahresangabe veröffentlicht; sie trägt leicht abweichende Zierstücke und ist und auf schlechterem Papier gedruckt. Zitiert wird im Folgenden nach der Ausgabe des Grimorium verum von »1517«. Auf der Rückseite des Titelblattes findet sich die Angabe: »Les Véritables Clavicules de Salomon. À Memphis, Chez Alibeck, l’Egyptien. 1517.« Und auch bereits im ersten Satz des Textes wird auf die Claviculae Salomonis angespielt, mit denen sich dieses Werk offenbar eng verbunden fühlt: »Il3 commence le Sanctum Regum, dit le Roi des Esprits, ou les Clavicules de Salomon, très-savant Négromantien, ou Rabin, Hébreux.«4 Die Erwähnung des Sanctum Regum [sic] erinnert hingegen an das vermutlich erstmals um 1775 gedruckte Grand Grimoire (es schmückt sich mit der Jahreszahl »1411«), dessen zweiter Teil diesen Titel trägt, in dem allerdings auch wieder allgemein auf eine »Clavicule« Bezug genommen wird.5
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In Les Véritables Clavicules de Salomon, Trésor des Sciences Occultes, Suivies D’un grand nombre de Secrets, et notamment de la grande Cabale Dite Du Papillon Vert. Approuvé par Agaliarept. [Sigill] A Memphis, Chez Alibeck, l’Egyptien, 1827, [5], heißt es nachvollziehbarer: »Ici«. Grimorium verum, Vel probatissimè Salomonis Claviculae Rabini Hebraï ci in quibus tum naturalia tum super naturalia secreta licet abditissima in promptu apparent, modò operator per nessaria et contenta faciat scia tamen oportet Demonum potentia dum taxat per agantur; Traduit de l’He´breu par Plaingie`re, Jésuite Dominicain, avec un Recueil de ´gyptien, 1517, [3]. Secrets curieux. A Memphis, Chez Alibeck, l’E »Second Livre Contenant le véritable Sanctum Regum de la Clavicule. Ou la veritable manière de faire les Pacts«, Le Grand Grimoire avec la Grande Clavicule de Salomon, Et la Magie Noire, où les Forces Infernales, Du Grand Agrippa, pour découvrir les Trèsors [sic] cachés, & se faire obéir à tous les Esprits; & le fameux Secret de parler aux Morts. Suivi de tous les Arts Magiques. [O. O.] [o. Dr.] 1411 [um 1750], [46]. In der vermutlich etwas später erschienenen Ausgabe des Grand Grimoire mit der fingierten Jahreszahl »1202« (Le Grand Grimoire avec la Grande Clavicule de Salomon, et la Magie Noire, où les Forces Infernales Du Grand Agrippa, pour découvrir les Trésors cachés, & se faire obéir à tous les Esprits; Suivi de tous les Arts Magiques. [O. O.] [o. Dr.] M. C. C. II.), [46], heißt es korrekt »Sanctum Regnum«.
Das Grimorium verum
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Nach einer kurzen Einleitung, in welcher die Dreiteilung des ersten, ausschließlich ritualmagischen Teils des Grimorium verum angezeigt wird (Rufung der Geister, Erörterung der Fähigkeiten der einzelnen Dämonen, »Schlüssel« des gesamten Werkes), wird die zahlreiche höllische Geisterschar abgehandelt. Zuerst werden die drei obersten »Mächte« des Geisterreiches vorgestellt: »Lucifer, Béelzébuth, Astaroth«.6 Dies sind »Lucifer«, »Belzebuth« und »Astarot« aus dem zweiten Teil des »Grand Grimoire«, dem Sanctum Regum. 7 Doch Lucifer und Béelzébuth (als »Belzebuth«) finden sich schon früher in der Handschrift Clavicula Salomonis de Secretis (ca. 1630, herausgegeben von Joseph Peterson unter dem Titel »Secrets of Solomon«)8 und – in gleicher Schreibweise – in deren französischer Teilübersetzung von ca. 1709 mit dem Titel »L’Art magique: (1) Pseudo-Solomon. Grimoire. Ou livre 1 des Clavicules de Salomon ou Rabin hébreu contenant les secrets surnaturels qu’y s’opèrent par la puissance des demons«, einer bislang unedierten Handschrift, die in der Wellcome Library in London aufbewahrt wird,9 sowie im etwa 1796 verfassten »Traité Universel des Clavicules de Salomon« (hier heißt Béelzébuth »Belzebut«).10 Astaroth hingegen findet sich nur im Grimorium verum und in »L’Art magique« (Wellcome MS 983); in der Clavicula Salomonis de Secretis und im »Traité Universel« heißt dieser Dämon »Elestor«.11 Zunächst soll der Magier ein Sigill, das wohl die vereinigten Zeichen aller drei Wesenheiten darstellt, anfertigen. Eine bildliche Darstel-
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Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 4. Grand Grimoire (»1411«, s. Anm. 5), 50. Joseph H. Peterson (Hrsg.), Secrets of Solomon or The Art Rabidmadar (Clavicula Salomonis de Secretis). A Witch’s Handbook from the trial records of the Venetian Inquisition. Critical edition of the Latin text, with translation by Joseph H. Peterson, Kasson MN 2018, 5–10. Die Sammelhandschrift L’Art magique befindet sich in der Wellcome Library, London (Wellcome MS 983), https://wellcomelibrary.org/item/b19370647#?c=0&m=0&s= 0&cv=0&z=-0.6865%2C-0.0745%2C2.373%2C1.4906 (Stand: 19. 11.2019). Angebunden sind weiterhin eine Handschrift des Heptameron (unter dem Titel Les Ellements Magiques de Pierre de Abano phillosophe Magicien MCCCIX, Fol. 26r–58v) und ein Werk namens L’Onimancie, ou traité de l’invocation de l’ange Uriel (Fol. 59r–68r). Steven Skinner/David Rankine (Hrsg.), The Veritable Key of Solomon. Three different texts from those translated by S.L. MacGregor Mathers being a translation of Wellcome MS 4669 and Wellcome MS 4670 by Paul Harry Barron from the French version of the Hebrew text translated originally by Professor Morissoneau supplemented from six other manuscripts, Woodbury MN 2008, 373–375. Peterson (Hrsg.), Secrets of Solomon (s. Anm. 8), 5–10; L’Art magique (Welcome MS 983, s. Anm. 9), Fol. 3r; Skinner/Rankine (Hrsg.), The Veritable Key of Solomon (s. Anm. 10), 373.
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lung dieses Sigills12 findet sich sowohl in der frühesten Ausgabe des Grimorium verum 13 als auch in der Edition der »Véritables Clavicules de Salomon«.14 Man muss es bei sich tragen (in der rechten Tasche, wenn man ein Mann ist, in der linken, wenn man eine Frau ist), und scribendus est proprio tuo sanguine oder mit dem Blut einer Meeresschildkröte.15 Solche lateinischen Einsprengsel, die für den Magier wichtige Informationen enthalten, finden sich immer wieder im Grimorium verum. Dabei handelt es sich gleichsam um ein Alleinstellungsmerkmal dieses Zauberbuches; vielleicht soll es Ungebildete abschrecken.16 Das Sigill erinnert an das Lamen aus der Hygromanteia, dem Vorläufer der Claviculae Salomonis. 17 In einer späteren Edition der Claviculae finden wir Sigille auf Jungfernpergament oder -papier, die am Zeremonialgewand getragen werden.18 In einer anderen Clavicula-Version soll das Pentakel nicht angenäht, sondern während der gesamten Zeremonie in der rechten Hand gehalten werden.19 Die vorgenannten Hauptdämonen dienen freiwillig nur ihren besonderen Freunden oder sie gehorchen, wenn man einen Pakt mit ihnen eingegangen ist – es gebe einen ausdrücklichen und einen stillschweigenden Pakt (auch dies ist eine Übernahme aus dem Grand Grimoire),20 und man könne den einen vom anderen unterscheiden, wenn man das Büchlein aufmerksam lese (was aber nicht stimmt, denn der Pakt wird nicht mehr explizit erwähnt) –,21 oder wenn ein Geist namens Singambuth sich zum Dienen herablässt, nachdem der Magier gewisse Zeichen niedergeschrieben hat.22 Dieser Geist, dem kein weiterer Auftritt im Grimorium verum vergönnt ist, scheint seinen Ursprung ebenfalls in der Clavicula Salomonis de Secretis zu haben, wo er Sigambach heißt, und von dort ist er wohl zur leicht veränderten Version des Singanbuth in »L’Art magique« (Wellcome
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Dies steht im Gegensatz zur Behauptung Petersons in seiner kritischen Ausgabe des Grimorium verum, es sei nicht abgedruckt; Joseph H. Peterson (Hrsg.), Grimorium Verum. A Handbook of Black Magic, Scotts Valley CA 2007, 26. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), Tafel hinter 12. Les Véritables Clavicules de Salomon (1827, s. Anm. 3), 8. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 5. Diese lateinischen Passagen finden sich auch nicht in L’Art magique (Wellcome MS 983, s. Anm. 9), sind also wohl eine genuine Hinzufügung des Autors bzw. Kompilators vom Grimorium verum. Ioannis Marathakis (Hrsg.), The Magical Treatise of Solomon or Hygromanteia, Singapur 2011, 164–166. Skinner/Rankine (Hrsg.), The Veritable Key of Solomon (s. Anm. 10), 288. A. a. O., 393. Le Grand Grimoire avec la Grande Clavicule de Salomon (»1411«, s. Anm. 5), 32; 48 f. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 7. A. a. O., 6.
Das Grimorium verum
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MS 983) mutiert.23 Kurz darauf wird ein Geist namens Rabidanadas erwähnt, von dem genauere Kunde versprochen wird (im nächsten Absatz heißt er plötzlich Rabidinadap – wohl auch übernommen aus der Clavicula Salomonis de Secretis; dort heißt er Rabidamar und ist der Sekretär des Geistes Sigambach,24 während er in »L’Art magique« [Wellcome MS 983] Rabidanadar heißt),25 doch dieses Versprechen wird in der Folge nicht eingelöst; beide Geister wirken wie ein nachträglicher, schlecht motivierter Einschub. Stattdessen werden die untergebenen Geister des Lucifer, des »Imperators«, und seiner beiden Gefolgsleute Béelzébuth und Astaroth26 abgehandelt. Diese drei Geister vermögen angeblich alles Erdenkliche zu bewirken.27 Die dem Lucifer unterstehenden Geister sunt incolae Europae et Asiae, Béelzébuth und den seinen wird Afrika zugeordnet, Astaroth hingegen Amerika. Dies erinnert gleichfalls an die Clavicula Salomonis de Secretis, wo Lucifer und die Seinen über Europa und Asien herrschen, Belzebuth und Konsorten über Afrika und Elestor über Amerika,28 und an den »Traité Universel«, auch wenn hier Astaroth fehlt und Lucifer Europa und Asien zugeordnet wird, Belzebut hingegen Amerika.29 In »L’Art magique« (Wellcome MS 983) herrschen Lucifers Untergebene über Europa und Asien, die von Belzebuth über Afrika und die von Astaroth über Amerika, genau wie später im Grimorium verum. 30 Lucifer erscheint in Gestalt eines schönen Jungen, der rot anläuft, wenn er wütend ist, aber nie erscheint er wahrhaft monströs; Béelzébuth hingegen wirkt durchaus ungeheuerlich, manchmal wie ein monströses Kalb, manchmal wie ein Ziegenbock mit langem
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Peterson (Hrsg.), Secrets of Solomon (s. Anm. 8), 3 f.; L’Art magique (Wellcome MS 983, s. Anm. 9), Fol. 2r. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 6; Peterson (Hrsg.), Secrets of Solomon (s. Anm. 8), 3 f. L’Art magique (Wellcome MS 983, s. Anm. 9), Fol. 2r. Dem »Elestor« in der Clavicula Salomonis de Secretis und im Traité Universel, s. Peterson (Hrsg.), Secrets of Solomon (s. Anm. 8), 5 f., und Skinner/Rankine (Hrsg.), The Veritable Key of Solomon (s. Anm. 10), 373. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 8. Peterson (Hrsg.), Secrets of Solomon (s. Anm. 8), 5 f. Skinner/Rankine (Hrsg.), The Veritable Key of Solomon (s. Anm. 10), 373. Die gleiche Zuordnung wie im Grimorium verum findet sich aber schon in der Clavicula Salomonis de Secretis; nur heißt Astaroth hier Elestor, Peterson (Hrsg.), Secrets of Solomon (s. Anm. 8), 5 f. L’Art magique (Wellcome MS 983, s. Anm. 9), Fol. 3r.
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Schwanz oder auch wie eine gewaltige Fliege; und Astaroth ist schwarz und weiß, in Gestalt eines Menschen, bisweilen auch eines Esels.31 Lucifer unmittelbar untergeben sind Put Satanakia und Agalierap, die Vasallen des Béelzébuth heißen Tarchimache und Fleruty und die des Astaroth Sagatana und Nesbiros. Im »Grand Grimoire« sind den obersten drei Geistern/ Dämonen – ohne individuelle Zuschreibung – untergeordnet: Lucifuge, Satanachia, Agaliarept, Fleurety, Sargatanas und Nebiros.32 Die Parallelen zu den beiden vorgenannten Grimoires sind unverkennbar, wie auch – schwächere – zum »Traité Universel«, denn hier finden wir: Sirachi und Satanachi, Agaterop und Hymatheh sowie Stephanuta und Resbiroth.33 Das Grimorium verum zählt dann unter dem bisher nicht erwähnten Geist Syrach weitere nachgeordnete Geister auf. Es sind wiederum achtzehn, die aber nichts mit den gleichfalls achtzehn im »Grand Grimoire« erwähnten zu tun haben:34 Clauneck, Musisin, Bechaud, Frimost, Klepoth, Khil, Merfilde, Clisthert, Sirchade, Segal, Hicpacth, Humots, Frucissière, Guland, Surgat, Morail, Frutimière und Huictiigaras.35 Im »Traité Universel« finden sich: Syrach, Elanthil oder Chaunta, Rosochim oder Roschim, Beschard, Frimolh, Mertiel oder Jeurtiel, Syrumel oder Slittareth, Syreachael, Stepoth, Fegol, Stumet, Frastiel oder Feultiel, Galoneti, Surgatha, Menail und Glitia,36 in der älteren Clavicula Salomonis de Secretis wiederum Claunth, Reschin, Beschard, Frimodth, Klepoth, Klio, Merfiel, Glithrel, Sirkael, Hepath, Segol, Humeth, Frulthiel, Galand, Surgath, Menail, Fruthmerl und Hurchetmigarot,37 und in »L’Art magique« (Wellcome MS 983) Claunech, Nusisin, Bechard, Frimods, Klepoth, Khil, Frucisieres, Surgat, Fructemieres, Merfide, Sisteret, Hiepacth, Segal, Humots, Galand, Morail, Huictimigaros.38 Die Übereinstimmungen des 31
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Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 8 f. Die Beschreibungen von Lucifer und Beelzebuth stammen aus der Clavicula Salomonis de Secretis, vgl. Peterson (Hrsg.), Secrets of Solomon (s. Anm. 8), 7 f., nur die des Astaroth (Elestor) weicht ab. Grand Grimoire (»1411«, s. Anm. 5), 51–57. Skinner/Rankine (Hrsg.), The Veritable Key of Solomon (s. Anm. 10), 373. Dort finden sich die folgenden achtzehn: Baël, Agares, Marbas, Pruslas, Aamon, Barbatos, Buer, Gusoyn, Botis, Bathim, Pursan, Eligor, Loray, Valefar, Faraii, Ayperos, Naberus, Glassyalabolas, Grand Grimoire (»1411«, s. Anm. 5), 52. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 10. Hier findet sich eine kleine Differenz zu der etwas späteren Edition mit dem Titel Les Véritables Clavicules de Salomon (1827, s. Anm. 3), deren Liste lautet: »Bechard, Frimost, Klepth, Khil, Merfilde, Clistheret, Silcharde, Segal, Hicpacth, Humots, Frucissière, Guland, Surgat, Morail, Frutimière, Claunech, Musisin, Huctugaras« (a. a. O., 15–18). Die Eigenschaften der Geister entsprechen aber wörtlich denen im Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4). Skinner/Rankine (Hrsg.), The Veritable Key of Solomon (s. Anm. 10), 374 f. Peterson (Hrsg.), Secrets of Solomon (s. Anm. 8), 12–22. L’Art magique (Wellcome MS 983, s. Anm. 9), Fol. 5v.
Das Grimorium verum
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Grimorium verum vor allem mit dem letzteren, in Teilen auf der Clavicula Salomonis de Secretis basierenden Werk sind wieder einmal augenfällig. Nun folgt – nach einer etwas willkürlich gesetzten Überschrift »Seconde Partie des […] S. S. J.«39 – die Fortsetzung der Ausführungen zu den vorgenannten Geistern/Dämonen. Auch hinsichtlich der Eigenschaften und Fähigkeiten der einzelnen Wesenheiten gibt es Parallelen zu den schon erwähnten Werken, zunächst zu dem nur etwa zwanzig Jahre jüngeren »Traité Universel«: Clauneck und Elanthil oder Chauntha gewähren Reichtümer; Musisin und Rosochim oder Roschim entdecken Staatsgeheimnisse; Bechaud und Beschard herrschen über Wind und Wetter; Frimost und Frimolh haben Macht über Frauen und Liebe; Merfilde und Mertiel oder Jeurtiel tragen den Zauberer durch die Luft; Segal und Fégol zeigen Ungeheuer und Chimären; Hicpath und Stepoth lassen einen bis an die Enden der Welt blicken; Guland und Galoneti bringen alle Arten von Krankheiten; Surgat und Surgatha öffnen alle Schlösser; Morail und Menail machen unsichtbar. Die übrigen Dämonen beider Grimoires verhelfen zu je unterschiedlichen Wohltaten.40 Die Übereinstimmungen mit dem »Traité Universel« sind wiederum unübersehbar, wenn auch nicht vollständig.41 Eine weitere Clavicula SalomonisHandschrift mit dem Titel »Les vraies Clavicules du Roi Salomon«, die Peterson zitiert und die in der British Library liegt (Lansdowne 1202), weist hinsichtlich der Dämonen und ihrer Fähigkeiten große Ähnlichkeit mit dem »Traité Universel« auf;42 noch deutlicher jedoch sind die Parallelen zu der Clavicula Salomonis de Secretis 43 und der teilweise auf ihr basierenden »Art magique« (Wellcome MS 983).44 Vor allem aus dieser französischen Teilübersetzung der früheren Clavicula Salomonis de Secretis muss der Verfasser des Grimorium verum geschöpft haben; die Übereinstimmungen sind größtenteils wortwörtlich. Nach dieser Liste werden vier weitere Dämonen aufgeführt, die im »Grand Grimoire« keine Vorbilder haben, wohl aber in der Clavicula Salomonis de Secretis vorkommen. Es sind dies Sergutthy (Serguth in der Clavicula Salomonis de Secretis), Heramael (genauso in der Clavicula Salomonis de Secretis), Trimasael (Irmasliel in der Clavicula Salomonis de Secretis) und Sustugriel (Suffugruel in der Clavicula Salomonis de Secretis). Auch Sergutthy ist für die willfährigen Damen und Mädchen zuständig (wie vorhin Frimost), Heramael ist der Medizin kun39 40
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Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 10. A. a. O., 11 f.; Skinner/Rankine (Hrsg.), The Veritable Key of Solomon (s. Anm. 10), 374 f. (Mir persönlich gefällt der Dämon Humots am besten, der alle gewünschten Bücher sofort herbeibringt …). So auch schon a. a. O., 370; 373. S. Peterson (Hrsg.), Grimorium Verum (s. Anm. 12), 79–87. Peterson (Hrsg.), Secrets of Solomon (s. Anm. 8), 13–22. L’Art magique (Wellcome MS 983, s. Anm. 9), Fol. 5r–9v.
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dig und kennt die dazu nötigen Pflanzen, Trimasel (vorhin noch Trimasael) ist Chemiker und Alchemist, und Sustugriel ist ein Magier; er verhilft zu Familiargeistern und Alraunen.45 Zwar wird in der Clavicula Salomonis de Secrets versprochen, auf diese vier Geister an einer späteren Stelle näher einzugehen,46 doch dies geschieht nicht; insbesondere werden in diesem Werk ihre Eigenschaften nicht erläutert. Im »Traité Universel« finden sich Surgunt, Kramael, Suffugidel und Irmasdal, allerdings ebenfalls ohne die Erörterung ihrer Eigenschaften.47 Eine mit dem Grimorium verum übereinstimmende Beschreibung, einschließlich der Eigenschaften, findet sich hingegen wiederum in »L’Art magique« (Wellcome MS 983).48 Doch damit sind noch immer nicht genug der Geister, von denen das Grimorium verum geradezu wimmelt. Es gibt weitere Hauptgeister (oder eher Hauptdämonen): Elelogap (herrscht über das Wasser, wie auch in der Clavicula Salomonis de Secretis, hier heißt er Elelogaphatel,49 Elelogaphatel wiederum in »L’Art magique« [Wellcome MS 983], Eliogaphatel im »Traité Universel«, der für Schätze und alles Unterirdische zuständig ist),50 Hael (schreibt alles Gewünschte und spricht alle Sprachen; Hael heißt er auch in der Clavicula Salomonis de Secretis sowie in »L’Art magique« [Wellcome MS 983]51 und Hacel im »Traitè Universel«52) und Sergulath (der Kriegskunst und der Vernichtung aller Feinde mächtig; als Sergulas ist er im »Traitè Universel« für die Maschinenkunde zuständig,53 so auch in der Claviculae Salomonis de Secretis, wo er Sergulaf heißt,54 in »L’Art magique« [Wellcome MS 983] lautet sein Name wiederum Sergulath55). Hael und Sergulath unterstehen die folgenden Geister: Proculo (schenkt vierundzwanzigstündigen Schlaf und lehrt alles den Schlaf Betreffende), Haristum (macht unempfindlich gegen das Feuer), Brulefer (verhilft zu Gunst bei den Frauen), Pentagnony (macht unsichtbar und bei den Oberen beliebt), Aglasis (trägt den Zauberer durch die ganze Welt), Sidragosum (zeigt die Frauen beim Nackttanz), Minoson (verhilft zum Gewinn beim Spiel) und Bucon (erzeugt Hass 45 46 47
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Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 14. Peterson (Hrsg.), Secrets of Solomon (s. Anm. 8), 21 f. Skinner/Rankine (Hrsg.), The Veritable Key of Solomon (s. Anm. 10), 375 f. In Lansdowne 1202 heißen sie: Sugunth, Eramael, Irmasial und Suffugiel, Peterson (Hrsg.), Grimorium Verum (s. Anm. 42), 84. L’Art magique (Wellcome 983, s. Anm. 9), Fol. 7v–9v. Peterson (Hrsg.), Secrets of Solomon (s. Anm. 8), 23 f. Skinner/Rankine (Hrsg.), The Veritable Key of Solomon (s. Anm. 10), 376. L’Art magique (Wellcome MS 983, s. Anm. 9), Fol. 8v. Skinner/Rankine (Hrsg.), The Veritable Key of Solomon (s. Anm. 10), 376. Ebd. Peterson (Hrsg.), Secrets of Solomon (s. Anm. 8), 23 f. L’Art magique (Wellcome MS 983, s. Anm. 9), Fol. 8v.
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und Eifersucht beim anderen Geschlecht).56 Diese Dämonen stammen nicht aus dem »Traitè Universel« und sind auch nicht in Lansdowne 1202 zu finden, genauso wenig in der Clavicula Salomonis de Secretis, wohl aber in der Handschrift »L’Art magique« (Wellcome MS 983), von der Peterson einen einzigen, ins Englische übertragenen Auszug hinsichtlich der vorstehenden acht Geister abdruckt.57 Das ist ein erneuter Hinweis darauf, dass der Verfasser des Grimorium verum diese Handschrift als Grundlage für den ersten Teil seines Werkes benutzt hat. Von hier an befinden wir uns im dritten Teil des Ritualtextes; die langen Listen der Geister liegen endlich hinter uns, und es folgen deren Beschwörungen. Dieser Teil beginnt mit einer allgemeinen Beschwörungsformel, die auf Jungfernpergament geschrieben und mit dem Sigill für den Dämon Scyrlin versehen werden muss (Scirlin heißt er in »L’art magique« [Wellcome MS 983], in den anderen Claviculae taucht er nicht auf);58 ein Gebet an den Gott des Alten Testaments schließt sich an.59 Der Text fährt mit den unerlässlichen Gerätschaften und Vorbereitungshandlungen zu den magischen Operationen fort. Das Zeremonialmesser muss groß genug sein, um einer jungen Ziege den Hals durchzuschneiden, und es muss am Tag und in der Stunde des Mars bei zunehmendem Mond geschmiedet werden.60 Eine solche Anweisung steht nicht in den oben genannten Claviculae, und auch die daran anschließenden Räucherungen finden sich so nicht in den gedruckten Claviculae, genauso wenig wie die Anleitung zur Herstellung des Jungfernpergamentes; allerdings begegnet uns all dies – teils in anderer Reihenfolge – schon in der nicht edierten Handschrift »L’art magique« (Wellcome 983).61 Um den Geist zu rufen, mit dem man in Kontakt treten will, muss man eine Ziege opfern, indem man ihr mit einem einzigen Schnitt den Kopf vom Halse trennt, das Fell abzieht und in ein Gefäß legt, das mit exorzisiertem und ge56 57 58
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Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 14–16. Peterson (Hrsg.), Secrets of Solomon (s. Anm. 8), 195–197. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 16; L’Art magique (Wellcome MS 983, s. Anm. 9), Fol. 10r. Peterson nimmt an, hierbei handle es sich um den dämonischen Herrscher des Nordens, Peterson (Hrsg.), Grimorium Verum (s. Anm. 42), 33. In Les Véritables Clavicules de Salomon (1827, s. Anm. 3), 38; 59, wird der Dämon Claunech genannt. Claunech ist der 16. Dämon in der Hierarchie, s. a. a. O., 15; 17. Das deutet eher daraufhin, dass Scyrlin (Scirlin)/Claunech ein untergeordneter Dämon ist, vor allem da er auch als Bote bezeichnet wird, der von Lucifer sehr geliebt wird, Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 17, und Les Véritables Clavicules de Salomon (1827, s. Anm. 3), 38. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 16 f. A. a. O., 19. L’Art magique (Wellcome MS 983, s. Anm. 9), Fol. 13v–15r.
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weihtem Salz sowie mit ungelöschtem Kalk angefüllt ist. Geweihtes Wasser wird dazugegeben. Wenn die Haare abfallen, wird die Haut herausgenommen, aufgespannt und an der Sonne getrocknet. Über sie und die anderen magischen Gegenstände muss eine Messe gelesen werden (es wird nicht verlangt, dass der Zelebrant der Magier ist; also muss der Magier kein Priester sein – wie oben schon gesehen, kann es sich sogar um eine Frau handeln).62 Auch die Zusammenstellung des Räucherwerks ist nicht mit jener im »Traité Universel« identisch,63 genauso wenig die Zusammensetzung der Tinte. Im Grimorium verum reicht es aus, wenn die Tinte gekauft wird (allerdings präzise in der Stunde und am Tag des Merkurs) und ein Exorzismus über sie gesprochen wird.64 Offensichtlich nimmt der Autor des Grimorium verum an, dass diese Exorzismen auch dann gültig sind, wenn sie nicht von einem Priester durchgeführt werden. Der Magier muss nun an sich selbst arbeiten; er muss – wie stets in der Ritualmagie gefordert – enthaltsam leben (hier aber nur drei Tage) und dabei das vorliegende Büchlein eifrig studieren. Zu den monastischen Horen soll er zur Gedächtnisstärkung eine besondere Anrufung rezitieren, die teils Gebet, teils Beschwörung mittels nomina barbara ist. Schließlich müssen auf das vorbereitete Jungfernpergament die (auf Tafeln beigegebenen) Sigille jener Geister gezeichnet werden, mit denen der Magier in Kontakt zu treten wünscht, und es muss eine Anrufung Scirlins erfolgen.65 Darauf schließen sich je eine Beschwörung Lucifers, Béelzébuths und Astaroths an, die mit Ausnahme des stets abschließenden Venite … [Name des Dämons] … Amen ausschließlich aus magischen (sprich: unverständlichen) Wörtern bestehen.66 Der Geist wird mit Worten entlassen, die aus dem »Grand Grimoire« stammen und deren Ursprung im Heptameron liegt: Ite in pace ad loca vestra et pax sit inter vos redituri ad mecum vos invocavero, in Nomine Patris, + et Filii + et Spiritûs sancti. + Amen. 67
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Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 19–36. Vgl. a. a. O., 28, und Skinner/Rankine (Hrsg.), The Veritable Key of Solomon (s. Anm. 10), 390. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 30 f. A. a. O., 33–37. Zu Scyrlin/Scirlin s. o. Anm. 58. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 37 f. Vgl. L’Art magique (Wellcome MS 983, s. Anm. 9), Fol. 10vf. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 38. Vgl. im Grand Grimoire (»1411«, s. Anm. 5), 41: »Ite in pace à loco vestro & pax fit [sic] inter vos redituri ad me quum vos invocavero in Nomine Patris, & Filii & Spiritus Sancti. Amen.« Und im Heptameron, in Henrici Cornelii Agrippae Liber Qvartvs de Occvlta Philosophia, seu de Cerimonijs Magicis. Cui acces-
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Danach folgen eine »Conjuration aux Esprits inférieurs« (die nicht namentlich genannt werden, aber diese Beschwörung bezieht sich wohl auf die oben beschriebenen niederen Geister) und eine französische Abdankungsformel (als ob das Lateinische den höheren Geistern vorbehalten wäre).68 Nach einer weiteren »Conjuration« in klarer französischer Sprache, in der um die Hilfe Gottes gebeten wird, schließen sich eine »Oraison des Salamandres«, die bereits im »Petit Albert« vorkommt und dort wohl aus dem »Comte de Gabalis« von Nicolas Pierre Henri Montfaucon de Villars übernommen wurde,69 und eine angebliche Anweisung an, die drei Ringe des Salomon zu verfertigen. Bei genauerer Betrachtung aber handelt es sich um die Herstellung des in allen magischen Operationen so wichtigen magischen Kreises, der bisher mit keinem Wort erwähnt wurde; in ihm sollen der Magier und seine Gefährten den Geist rufen, nachdem sie geräuchert, Weihwasser verspritzt und nicht näher ausgeführte magische Embleme in die Ecken (eines Kreises? Es handelt sich wohl eher um die vier Himmelsrichtungen) gezeichnet haben. Der Geist erscheint auf die Beschwörung hin; »tu lui feras signer le caractère que tu tiendras en ta main, avec promesses de venir toutes les fois que tu l’appelleras […].«70 Was mit diesem »caractère« gemeint ist, ist nicht ganz klar. Peterson will in ihm den vorhin benannten Ring sehen,71 doch eigentlich sollen es ja drei sein, und die Herstellung des Rings – eigentlich der drei Ringe – erfordert sicherlich bestimmte magische Handlungen, die allerdings nirgendwo beschrieben sind. Wahrscheinlicher ist daher, dass es sich um ein Blatt (Jungfern‐)Papier handelt und das Ganze das Eingehen eines Paktes darstellt, der ja viel weiter oben nur einmal kurz ausdrücklich erwähnt wurde. Die lateinische Entlassungsformel ist identisch mit der oben schon zitierten.72 Diese letzten Kapitel wirken wie aus dem Zusammenhang gerissene Einschübe aus anderen Quellen (für die »Oraison des Salamandres« haben wir dies ja
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serunt, Elementa Magica Petri de Abano, Philosophi. Impressum Anno M.D.LXV, 126: »[…] ite in pace ad loca vestra, & pax sit inter nos & vos, parati sitis venire vocati […]«. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 39; vgl. L’Art magique (Wellcome MS 983, s. Anm. 9), Fol. 15v. Le Solide Tresor Des Merveilleux Secrets de la Magie Naturelle & Cabalistique du petit Albert. Traduit Exactement sur l’Original Latin qui a pour titre. Alberti parvi lucii libellus de mirabilibus naturae arcanis. Enrichi De Plusierurs Figures mystérieuses pour former des Talismans, avec la maniere de les faire. A Bellegrade [sic] o. J. [um 1700], 74–76; [Abbé Nicolas Pierre Henri de Montfaucon de Villars], Le Comte de Gabalis, ov Entretiens svr les Sciences Secretes, Paris 1671, 177–179. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 44. Peterson (Hrsg.), Grimorium Verum (s. Anm. 42), 38. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 44.
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bereits belegt). Sie finden sich auch nicht in der Handschrift »L’art magique« (Wellcome 983). Damit endet der ritualmagische Teil des Grimorium verum. Hier lässt sich zunächst festhalten, dass der erste Teil des Grimorium verum vor allem aus »L’art magique« (Wellcome 983) stammt, die wiederum aus früheren Clavicula-Quellen schöpft (vor allem der Clavicula de Secretis), sodass der zweite Titel der Ausgabe des Grimorium verum von »1517« (»Les véritables Clavicules de Salomon«) und der Titel »Les Véritables Clavicules de Salomon« der Blocquel-Ausgabe von 1827 durchaus berechtigt sind. Im Gegensatz zum »Grand Grimoire«, das nur ferne Anklänge an die Claviculae besitzt, haben wir im Grimorium verum – zumindest in dessen erstem Teil – beinahe so etwas wie eine (partielle) Redaktion eines Clavicula Salomonis-Textes vor uns. Im zweiten Teil des Gesamtwerks folgen nun, wie es vor allem in den französischen Grimoires (»Grimoire du Pape Honorius«, »Grand Grimoire«, »Dragon Rouge« etc.) stets der Fall ist, etliche »Secrets magiques, rares et surprenants«.73 Das erste dieser magischen Geheimnisse ist die Verfertigung des Spiegels des Salomon, geeignet für alle Arten der Weissagung. Diese Anweisung gehört noch zum Formenkreis der rituellen Magie. Der Zelebrant muss eine bestimmte Zeit lang enthaltsam leben (im Gegensatz zur obenstehenden Anweisung wird hier kein konkreter Zeitraum genannt) und Werke der Barmherzigkeit tun. Alsdann nehme er eine leicht konkave Tafel aus poliertem Stahl und schreibe mit dem Blut einer weißen Taube in die vier Ecken (also wohl oben, unten, rechts und links) die Namen Jehovah, Eloym, Metatron (sic) und Adonay und wickle die Tafel in reines, weißes Leinen. Sobald man den neuen Mond während der ersten Stunde nach Sonnenuntergang wahrnimmt, trete man ans Fenster und spreche ein langes Gebet. Dann werfe man Räucherwerk auf glühende Kohlen und bete wiederum zu Gott, er möge den Wunsch des Magiers erfüllen. Nun aber wird der Geist Anael angerufen, er möge erscheinen und seinen Untertanen befehlen, dem Magier alles zu zeigen, was dieser sehen will. Die Anrufung endet mit einem Dankgebet an Gott. Sie muss 45 Tage lang wiederholt werden,74 dann erscheint Anael. Im ganzen vorangegangenen Werk taucht dieser Geist (Engel?) nicht auf, aber wir kennen ihn bereits aus dem Conciliator des Petrus de Abano75 und dem Heptameron; dort ist er der Geist des Freitags.76 Auch in einigen Faustschriften kommt er vor.77 Manchmal erscheint er 73 74 75
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Ebd. 48 Tage nach Les Véritables Clavicules de Salomon (1827, s. Anm. 3), 72. Peter de Abano, Conciliator controversiarvm, qvae inter philosophos et medicos versantvr, Venedig 1565 (abgeschlossen um 1303, Erstdruck Mantua 1472), Diff. 9, Fol. 15. B. Heptameron (s. Anm. 67), 152–157. Z. B. Tabellae Rabellinae Geister-Commando, in: Johann Scheible (Hrsg.), Die Sage vom Faust bis zum Erscheinen des ersten Volksbuches. Mit Literatur und Vergleichung aller
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schon am vierzehnten Tag.78 Die Herkunft dieser magischen Anweisung ist rätselhaft und weist erneut auf den kompilatorischen Charakter des Grimorium verum hin (so wie es ja auch bei vielen anderen Grimoires der Fall ist). Die nächste magische Operation (»Divination par la parole d’Uriel«) stammt vollständig aus der Handschrift »Les Clavicules de R. Salomon«, abgedruckt bei Skinner und Rankine.79 Zu dieser Divination sind eine Glasphiole mit Quellwasser, Kerzen, in deren Wachs menschliches Fett gemischt ist, ein reiner Junge von neun oder zehn Jahren, Jungfernpergament und ein Tisch in einem abgeschiedenen Zimmer nötig. Der Junge ist dazu da, nach der Beschwörung der Geister in dem Wasser einen Geist zu sehen; er stellt also eine Art Medium dar. Falls er etwas wahrnimmt, soll der Magier den erblickten Geist bitten, die von ihm erwünschten Informationen zwischen dem gegenwärtigen Zeitpunkt und dem nächsten Morgen auf das Pergament zu schreiben, worauf der Magier und der Junge den Raum verlassen müssen. Am nächsten Tag wird das Gewünschte auf dem Pergament stehen.80 Eine weitere Divinationsmethode erfordert das Ei einer schwarzen Henne. Man entnehme ein wenig Eigelb, gieße es in klares Wasser, das sich in einem Glas befindet, stelle dies zur Mittagszeit im Sommer nach draußen und spreche Beschwörungen aus den Claviculae Salomonis. Welche dies sind, wird nicht angegeben. Man rühre das Wasser mit dem Zeigefinger um, schaue durch das Glas, und man sieht, was man zu sehen wünscht. Wenn man wissen will, ob ein Mädchen noch Jungfrau ist, erkennt man es daran, dass das Eigelb schwimmt; wenn sie es nicht mehr ist, sinkt es herab.81 Die nächste Anweisung verspricht, die Geister in der Luft erkennen zu können. Sie stammt aus dem »Grimoire du Pape Honorius«, erstmals mit der Jahreszahl »1670«, tatsächlich aber wohl um 1775 gedruckt (in dieser ersten Ausgabe noch unter dem Titel »Gremoire du Pape Honorius«),82 ist schon in der ersten Ausgabe zu finden und daher wohl die Quelle für das vorliegende Rezept, bei dem das Hirn eines Hahns, Staub von einem Grab, Jungfernwachs und Walnussöl eine Rolle spielen. Diese Ingredienzen werden in ein Stück Jung-
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folgenden. Das Kloster, Bd. 5, Stuttgart 1847, 1135; Doktor Johannes Faust’s Magia naturalis et innaturalis, oder Dreifacher Höllenzwang, letztes Testament und Siegelkunst, Stuttgart 1849, 40. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 45–48. Skinner/Rankine (Hrsg.), The Veritable Key of Solomon (s. Anm. 10), [69]–272, magische Operation der Weissagung durch Uriel a. a. O., 252 f. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 49–52. A. a. O., 52 f. S. Jean-Pierre Coumont, Demonology and Witchcraft. An annotated Bibliography, ’t GoyHouten 2004, 238, Nr. G 81.1.
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fernpergament eingewickelt, auf dem die Worte »Gomert, Kailoeth« stehen. Man verbrenne alles und man wird Außergewöhnliches sehen.83 Auch der folgende Abschnitt, in dem erklärt wird, wie man es anstellen kann, dass drei Herren oder drei Damen nach dem Abendessen in das eigene Zimmer kommen, stammt aus dem Grimoire des Papstes Honorius.84 Genauso verhält es sich mit allen folgenden Rezepten des Grimorium verum, in denen dargelegt wird, wie man die Liebe einer Frau erregt,85 das Feuer in einem Kamin auf magische Weise löscht,86 sich unsichtbar macht,87 sich Gold und Silber verschafft und die »Main de Gloire« herstellt (dieses Rezept hat keine Ähnlichkeit mit dem berühmten aus dem »Petit Albert«),88 ein Strumpfband für den Marsch verfertigt, mit dem man schneller unterwegs sein kann,89 eine Frau zum Nackttanz anregt,90 in einer Vision Vergangenes oder Zukünftiges sieht91 und durch Nägel aus einem alten Sarg anderen Personen Schaden zufügt.92 Damit endet das Grimorium verum in der Ausgabe von »1517«. Insgesamt kann also festgehalten werden, dass das Grimorium verum in dieser Gestalt vornehmlich aus Claviculae Salomonis-Texten, vor allem aus »L’art magique« (Wellcome 983) und der dieser Handschrift teilweise zugrundeliegenden Clavicula Salomonis de Secretis, sowie dem »Grand Grimoire« und den »Rezepten« des »Grimoire du Pape Honorius« zusammengesetzt ist. Somit haben wir hier einen der wenigen Fälle vor uns, in denen eine konkrete Handschrift als (partielle) Vorlage für ein gedrucktes Zauberbuch ausgemacht werden kann.
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Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 53 f.; Gremoire du Pape Honorius avec un recueil des plus rares secrets, A Rome MDCLXX [um 1800], 50 f. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 53 f.; Gremoire du Pape Honorius (»1670«, s. Anm. 83), 50 f. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 57–60; Gremoire du Pape Honorius (»1670«, s. Anm. 83), 54–57. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 60; Gremoire du Pape Honorius (»1670«, s. Anm. 83), 57. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 60–62; Gremoire du Pape Honorius (»1670«, s. Anm. 83), 58 f. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 62–64; Gremoire du Pape Honorius (»1670«, s. Anm. 83), 60–62; vgl. Petit Albert, Bellegrade (s. Anm. 69), 105–107. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 64–66; Gremoire du Pape Honorius (»1670«, s. Anm. 83), 62–64. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 66 f.; Gremoire du Pape Honorius (»1670«, s. Anm. 83), 67. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 67 f.; Gremoire du Pape Honorius (»1670«, s. Anm. 83), 68 f. Grimorium verum (»1517«, s. Anm. 4), 68 f.; Gremoire du Pape Honorius (»1670«, s. Anm. 83), 69 f.
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In den »Véritables Clavicules de Salomon«, jener unter einem anderen Titel veröffentlichten Edition des Grimorium verum, die im Jahre 1827 in Lille bei Blocquel erschien, folgt nach dem letzten Rezept noch eine Methode zum Erkennen derjenigen Person, die man heiraten wird. Diese, die große »Cabale du Papillon Vert«, könne grundsätzlich zu allem verhelfen, was man wissen will, aber nur für drei Monate im Jahr. Zu anderen Zeiten »rendez-vous à l’heure précise du renouvellement de la lune, à la principale entrée du cimitière de votre endroit, couchez-vou, la face contre terre, les pieds tournés vers la cimitière, récitez l’oraison du jour de la semaine où l’on sera (vous la trouverez dans l’Enchiridion Léonis papae), puis recueillez-vous comme si vous étiez en extase, les yeux fermés, et vous verrez dans votre imagination, la personne avec qui vous serez marié.« Wenn man niemanden sieht, wird man nicht heiraten.93 Dann folgen die Anweisungen der »Grande Cabale du Papillon Vert«. Hierbei geht es darum, sich den Dämon Astaroth, dem wir schon begegnet sind, auf bizarre Weise gefügig zu machen. Dazu muss man im Mai, Juni oder Juli gegen Mittag in den Wald gehen, der dem eigenen Haus am nächsten liegt, und dabei das Gebet der Salamander sprechen. Dann klettert man auf den höchsten Baum, schlägt dreißigmal auf eine Kupferpfanne, und ein Schwarm von Schmetterlingen mit grünen Flügeln wird herbeifliegen. Man fange den größten und stecke ihn in eine Schnupftabaksdose. Dann kehrt man nach Hause zurück, entfacht ein Feuer, besprengt es mit Branntwein, und wenn es ausgegangen ist, stellt man die Tabatière achtunddreißig Stunden lang hinein. Darauf trägt man sie zur Kirche und legt sie unter die größte der Altarkerzen. Am nächsten Tag hört man die Messe und beichtet. Am Festtag des persönlichen Heiligen schließt man sich gegen Mitternacht in seinem Zimmer ein und liest die große Beschwörung, die hier nicht abgedruckt, aber im »Dragon Rouge« zu finden ist (auch bei Blocquel erschienen; so sichert man sich den Absatz der eigenen Produkte …). Alsbald wird Astaroth erscheinen. Er zeigt alle verborgenen Schätze und auch die zukünftige Ehefrau sowie deren Alter an, führt jede gewünschte Person dem Magier zu, enthüllt die Geheimnisse der Natur, bringt dem Magier genug Geld für den Rest seiner Tage, zeigt wirksame Heilmittel gegen alle Krankheiten, wehrt jeglichen Schaden wie Stürme und böse Tiere ab, zeigt Freund und Feind an, bringt den Magier an jeden gewünschten Ort, zeigt die Zahlen, die in der Lotterie gezogen werden, macht unsichtbar, lässt Richter gewogen sein und den Magier bei allen Spielen gewinnen und stets glücklich sein. Als Präambel zu dieser magischen Handlung wird behauptet, das Geheimnis des grünen Schmetterlings habe der ägyptische König Sésac94 von einem Freund erhalten und es in einem Kästchen eingeschlossen, das aus einem einzigen Diamanten geschnitten war. In 93 94
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der Folgezeit ging der Schlüssel dazu verloren; das Kästchen kam auf Umwegen zum Kaiser von China und schließlich durch einen Juden, der es stahl, nach Europa.95 Entfernt erinnert diese Passage an die »Königin der Fliegen« aus einer Ausgabe der »Œuvres magiques« des Pseudo-Agrippa. Dort wird eine Fliege eingefangen, die den Weg zu versteckten Schätzen zeigt;96 der Schmetterling ist ihr offenbar nicht nur in seiner Schönheit, sondern auch in seiner Wirkungskraft überlegen. Das Grimorium verum wurde erstmals 1868 ins Italienische übertragen (unter dem Titel »La Vera Clavicola del Re Salomone, tesoro delle scienze occulte, con molti altri segreti e principalmente la Cabala della Farfalla verde. Tradotte dalla lingua straniera alla lingua italiana da Bestetti«; im 19. Jahrhundert folgten noch zwei weitere und im 20. Jahrhundert gleich fünf Ausgaben); die erste englische Übertragung fertigte Idries Shah an und veröffentlichte sie in seinem Kompendium der magischen Literatur »The Secret Lore of Magic« (London 1957);97 zeitgenössische Ausgaben wurden von Joseph Peterson in seiner Edition des Grimorium verum (Scotts Valley 2007) übersetzt, gegenübergestellt und verglichen. Eine erste englische Einzelausgabe erschien ohne die Angabe einer Jahreszahl in Hamilton, Ontario, Kanada unter dem Titel Grimoreum Verum in einer offensichtlich winzigen Auflage, denn das Buch ist höchst selten. Diese Edition wurde von dem Neumagier Jon Symon veranstaltet und enthält im ersten Buch die in künstlich altertümlichem Englisch verfasste dämonische Hierarchie des Grimorium verum,98 im zweiten Buch – ein wenig durcheinandergemischt – die magischen Utensilien und ihre Weiheformeln99 und im dritten Buch die Vorschriften für die Vorbereitungshandlungen des Magiers sowie die eigentlichen Beschwörungsformeln.100 Die »magischen Geheimnisse« wurden weggelassen. Weitere englische Ausgaben erschienen bei Trident in Seattle (1997) und in Dover bei Scarlet Imprint (2009, herausgegeben von Jake StrattonKent). In jüngster Zeit wurden darüber hinaus zwei deutsche Übersetzungen veröffentlicht (siehe Bibliographie). Beinahe hat es den Anschein, dass das Grimorium verum heute eine weitere Verbreitung erfährt als im 19. Jahrhundert, aus
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Les Véritables Clavicules de Salomon (1827, s. Anm. 3), [99]–105. Les Œuvres Magiques de Henri-Corneille Agrippa, Mises en Français par Pierre D’Aban, Avec des Secrets occultes, notamment celui de la Reine des Mouches velues, A Rome 1744 (Lille, um 1840), [103]–106. Idries Shah, The Secret Lore of Magic, London 1957, 80–112. Jon Symon, Grand Magus O.B.R. 1861 (Hrsg.), The Grimoreum Verum, Hamilton ca. 1970, 1–20. A. a. O., 21–32. A. a. O., 33–42.
Das Grimorium verum
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dem nur fünf Einzelausgaben (zwei in französischer und drei in italienischer Sprache) nachweisbar sind.
Bibliographie101 1. Einzelausgaben [Grimorium Verum] – Grimorium verum, Vel probatissimè Salomonis Claviculae Rabini Hebraï ci in quibus tum naturalia tum super naturalia secreta licet abditissima in promptu apparent, modò operator per nessaria et contenta faciat scia tamen oportet Demonum potentia dum taxat per agantur; Traduit de l’He´breu par Plaingie`re, Jésuite ´gyptien, Dominicain, avec un Recueil de Secrets curieux. A Memphis, Chez Alibeck, l’E 1517 [um 1817]. 69 S., [10] Tafeln außerhalb der Paginierung, davon [1] Falttafel. [ ] [Grimorium Verum] – dasselbe. Paris (12 rue du Grand prieuré, 75011), Éd. du Prieuré, 1992. 54 S. [Coumont, BnF] * Impressum: »Montpellier, Impr. Somopresse«. [Grimorium Verum] – Les ve´ritables clavicules de Salomon, tre´sor des sciences occultes, suivies d’un grand nombre de secrets, et notamment de la grande cabale dite du ´gyptien papillon vert. Approuve´ par Agaliarept. Memphis [Lille] Chez Alibeck, l’E [Blocquel], 1827. Titelvignette, 111, [1] S. 12 Tafeln, davon 10 Tafeln innerhalb der Paginierung und nummeriert 1–10, dazu ein Frontispiz und eine Falttafel hinter S. 84 hors texte. Das Frontispiz ist aber in die Seitenzählung eingeschlossen. [ ] * Tatsächlich ein Grimorium verum, die wohl zweite Ausgabe. [Grimorium verum] – La Vera Clavicola del Re Salomone, tesoro delle scienze occulte, con molti altri segreti e principalmente la Cabala della Farfalla verde. Tradotte dalla lingua straniera alla lingua italiana da Bestetti. Milano, a spese dell’ed., 1868. 125 S. [OPAC SBN] * Tatsächlich eine italienische Edition des Grimorium Verum. [Grimorium verum] – dasselbe. Milano 1868. 69 S. [Peterson, Grimorium Verum, Bibliography] * Tatsächlich eine italienische Edition des Grimorium Verum. [Grimorium verum] – La Clavicola del Re Salomone: tesoro delle Scienze occulte con molti altri segreti e principalmente la Cabala della Farfalla Verde. Firenze: Amato Muzzi editore, 1880 (Firenze: Stamperia Salani, 1880) 128 S. [OPAC SNB] * Tatsächlich eine italienische Edition des Grimorium Verum. [Grimorium Verum] – Grimorium verum: il libro del diavolo. Roma, Fanucci Editore, 1983. 120 S. [New York Public Library] [Grimorium Verum] – Il segreto dei segreti: il vero grimoire con la gran cabala della farfalla verde: Grimorium verum, vel Probatissime Salomonis claviculae rabini Hebraici in 101
Bei der folgenden Bibliographie handelt es sich um eine Zusammenstellung der Editionen des Grimorium verum einschließlich der entsprechenden Standortangaben. Die eckige Klammer [ ] signalisiert die Autopsie.
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Michael Siefener
quibus tum naturalia tum super naturalia secreta licet abditissima in promptu apparent, modo operator per necessaria et contenta faciat scia tamen oportet demonum potentia dum taxat per agantur / tradotto dall’ebraico da Plaingiere, con una raccolta di segreti magici, a Memphis, presso Alibeck, l’egiziano. Viareggio, Rebis [o. J.] [1978?], 116 S. [Opac SBN, BNC Firenze/Roma] [Grimorium verum] – Il vero libro delle ombre. Liber Umbrarum del Liber Spirituum »Verum Divinum Grimorium«. Clavis Secretorum 1573. Viareggio, Ediz.Rebis, Viareggio [o. J.] [1976?]. [34] S. [Hathi Trust Digital Library, swissbib] * »1a edizione italiana / a cura di Pier Luca Pierini R«. [Grimorium verum] – dasselbe. Viareggio, Rebis 1985. [36] S. [Biblioteca pubblica comunale di Lavis] [Grimorium verum] – dasselbe. Viareggio, Rebis 2005. 75 S. [Harvard] [Grimorium verum] – Frater Zarathustra: Index to the grimoirium verium [sic] El Sobrante CA, Technology Group 1994. [III], [32] Bl. [Library of Congress, Washington] [Grimorium Verum] – Grimorium Verum 1517. Palm Springs CA, International Guild of Occult Sciences 1996. 115 S. [ ] [Grimorium Verum] – Grimoirium [sic] Verum containing the most approved keys of Solomon wherein the most hidden secrets both natural and supernatural are both exhibited: Translated from the Hebrew by Plangierè Jesuite Domincaine [sic]. Seattle WA, Trident 1994. 96 S. [ ] * Auflage 500 nummerierte Exemplare. Die meisten wurden in Leinen gebunden, mit Schutzumschlag, einige besitzen einen Ledereinband, manche davon wurde in einem Schuber ausgeliefert (dessen Bestellung optional war). [Grimorium Verum] – dasselbe. Seattle WA, Trident 1997. 2. Aufl. XIV, 86 S. [Weiser, Catalogue 195, www.weiserantiquarian.com, Stand: 14. 05.2018] * Auch die zweite Auflage besteht aus 500 nummerierten Exemplaren. Die einfachste Ausgabe wurde als Paperback ausgeliefert, einige Exemplare wurden aber auch in dieser Auflage in Leder gebunden und – optional – in einem Schuber ausgeliefert. [Grimorium verum] – Peterson, Joseph H. (Hrsg.): Grimorium Verum: A handbook of Black Magic / Edited and Translated by Joseph H. Peterson / With complete French and Italian texts. Scotts Valley CA, CreateSpace Publishing 2007.[1] Bl, XIV, 240 S., [2] weiße Bl. [ ] * Die beste moderne Ausgabe. [Grimorium verum] – Stratton-Kent, Jake: The Trve Grimoire: Encyclopedia Goetica Volume 1 [o. O.] [Dover], Scarlet Imprint 2009. [4] Bl., 267., [1] weißes Bl. [ ] * Auflage 1000 nummerierte Exemplare, leinengebunden. [Grimorium verum] – Stratton-Kent, Jake: The Trve Grimoire: Encyclopedia Goetica Volume 1 [o. O.] [Dover], Scarlet Imprint 2010. [4] Bl., 246 S., [1] weißes Bl. [ ] * »Bibliothèque Rouge«, Paperback-Nachdruck der ein Jahr zuvor erschienen gebundenen Ausgabe. [Grimorium Verum] – Symon, John: the Grimoreum [sic] Verum: Deliver’d here be 3 works from different authors, all combin’d to form thys work giv’n here by the Magus. Imprinted by the Magus Jon Symon for ACORN Grimoire Makers & etc. [o. O.] [Hamilton, Ontario, Canada] [o. J.] [um 1970] [2] Bl, [1] S., S. 1–42, [1] S., [2] Bl. [2] weiße Bl. [ ]
Das Grimorium verum
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* Erschienen in einer nummerierten Ausgabe in nicht bezifferter Auflagenhöhe [das Referenzexemplar trägt die Nr. 75 und ist von Jon Symon signiert, das von Weiser’s in Katalog 188 vom 15. 02.2018 angebotene Exemplar trägt die Nr. 178; angeblich wurden 200 Exemplare hergestellt]. Stark korrumpierter Text des Grimorium Verum. [Grimorium Verum] – Grimoirium [sic] Verum und Der Schlüssel der Weisheit: Erstes und zweites Buch: Drei Zauberbücher. Übersetzt von Christian Eibenstein. Berlin, ebubli 2010. 155 S. [VÖBB, Swissbib] * Enthält neben dem Grimorium Verum auch einen Clavicula Salomonis-Text (MS Add 36674 der BL). [Grimorium Verum] – Grimoirium [sic] Verum und Der Schlüssel der Weisheit erstes und zweites Buch von König Solomon: Zwei Bücher der praktischen Magie übersetzt von Christian Eibenstein. Zweite Auflage. Norderstedt, BoD 2012. 138 S., [1] Bl. [ ] * Enthält neben dem Grimorium Verum auch einen Claviculae Salomonis-Text (MS Add 36674 der BL). [Grimorium Verum] – Grimoirium [sic] Verum oder das wahre Grimoire: Zauberbuch mit einer kuriosen Sammlung von seltenen und erstaunlichen magischen Geheimnissen / Erstmals veröffentlicht 1517: [o. O.] Lucifira »1973 Jahre nach der Kreuzigung des Nazareners« [i. e. 2006]. 141 S. [ ]
2. Sammelausgaben Das Grimorium verum findet sich weiterhin in den folgenden Anthologien magischer Texte: Shah, Idries: The Secret Lore of Magic. Books of the Sorcerers. London, Frederick Muller LTD 1957. 314 S., [1] weißes Bl. [ ] * Enthält auf S. 80–112: Grimorium verum. Magia Segreta. Grimoires e Rituali Magici. I Libri del Comando. Vol. 1. Il Drago Nero o le Forze Infernali Soggette dll’Uomo. Il Quarto Libro Delle Cerimonie Magiche di Cornelio Agrippa. Il Rituale delle Evocazioni di Pietro d’Abano. Herausgegen von Pier Luca Pierini. Viareggio, Rebis 2000. 176 S. [Opac SBN] * Weitere Auflagen erschienen 2003, 2005, 2007, 2009, 2011 und 2012. Sabellicus, Jorg: Magia Pratica. Bd. 2. Rom, Edizioni Mediterranee 2001. 191 S. [www. abebooks.de, Stand: 05. 03.2015, WorldCat] * Enthält: »Grand Grimoire – Grimorium Verum – Grimorio di papa Onorio – Il libro della Potenza – Esorcismi – Evocazioni diaboliche – Patti – Segreti Magici«.
Superstitionenkritik in exemplarischen Wundergeschichten und Alltagsberichten Christa Agnes Tuczay
1. Einleitung Drei der Schwerpunkte des verehrten Jubilars und Freundes Marco Frenschkowski möchte ich in meinem Aufsatz in Zusammenhang mit der Exempelliteratur in den Blick nehmen: Unheimliches, Magisches und Imaginäres, wobei Letzteres immer auch das verbindende Element der beiden anderen darstellt. Dass über Unheimliches, Magisches, aber auch Alltägliches in der weltlichen Erzählliteratur des Mittelalters berichtet wird und diese auch unter Vorbehalt als Quelle für die Volks- und Laienkultur herangezogen werden kann, ist nicht neu. In den Fokus der Volkskulturforschung sind seit dem Vorstoß der französischen Mediävisten und dem Entwurf eines dichotomischen, später dynamischen Modells1 der Volks- bzw. Gelehrtenkultur in den letzten Jahrzehnten aber auch die Wunderberichte und in diesen vor allem die exemplarischen Geschichten gerückt. Alltags- und Wundergeschichten2 wurden sowohl in der kirchlich-klösterlichen Exempelliteratur, in den miracula, als auch in Wissenstexten, den mirabilia erzählerisch gestaltet. Beim Begriff des miraculum handelt es sich sowohl um ein Ereignis als auch um die Erzählung, die eine Erfahrung bzw. ein Erlebnis beschreibt. Die Mirakel sind per definitionem eine »literarisch fixierte Form einer
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S. dazu ausführlich Hans-Jörg Gilomen, Volkskultur und Exempla-Forschung, in: Joachim Heinzle (Hrsg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt a. M./Leipzig 1994, 165–208. »Unbestritten sind allerdings einige deskriptiv gewonnene Merkmale dessen, was als homiletisches Exemplum gilt: Es bezieht sich nicht notwendig auf eine berühmte Gestalt der Geschichte, sondern überwiegend auf den ›kleinen Mann‹, den die ganze Menschheit repräsentierenden anonymen quidam, den Alltagsmenschen« (Peter von Moos, Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im »Policraticus« Johanns von Salisbury, Hildesheim 1988, 115).
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Christa Agnes Tuczay
Gebetserhörung«.3 Im Unterschied zur Heiligenlegende sind die Protagonisten des Mirakels nicht außerordentliche, sondern ganz gewöhnliche Menschen, welchen etwas Wunderbares widerfährt. Während die Legende von einem außerordentlichen Menschen, einem Heiligen erzählt, erklärt das Mirakel, dass es sinnvoll und vor allem erfolgreich sein kann, einen Heiligen zu verehren. Im Zentrum der Erzählung steht meist ein guter und frommer Mensch, der aber durch bestimmte Umstände vom rechten Weg abkommt. Dabei steht ihm dann ein Heiliger, bzw. ab dem Aufkommen des Marianismus, die hl. Maria bei, die ihn aus seiner hoffnungslosen Lage und seines leichtfertig eingegangenen Bündnisses mit dem Teufel befreit. Die zentrale Erfahrung mit Verweischarakter bildet die Geschichte der Umkehr und Läuterung eines durchschnittlichen Laien. Das gilt nicht nur für die volkssprachlichen Mirakel, sondern auch die lateinischen Exempla. Während die Themen und Motive der sog. weltlichen Literatur von Le Goff4 als eindeutig der Volksläufigkeit, also der Folklore zugewiesen wurden, weshalb er auch die Katalogisierung durch den Motiv-Index des Stith Thompson5 nahelegte, waren die Motive der Exempla im Index exemplorum Tubachs keineswegs vollständig erfasst, zumal z. B. Caesarius’ Werk nur in Auszügen herangezogen werden konnte, da die historisch-kritische Ausgabe erst 2009 erschienen ist.
2. Exempla in der Mirakel- und Mirabilienliteratur Textuell eingebettet wird das außerordentliche Ereignis als beispielhaftes Geschehen vor allem in Predigten und bezeichnet nicht nur eine Textsorte bzw. eine Gattung im engeren Sinn, sondern stellt ein funktionales Element dar.6 Das Exemplum ist als variables Element des christlichen Diskurses zu verstehen, eine 3 4 5
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Ingo Schneider, Art. Mirakel, in: Enzyklopädie des Märchens Bd. 9, 1999, 682–691, 684. Jacques Le Goff, Phantasie und Realität des Mittelalters, Stuttgart 1990, 121–124. Stith Thompson (Hrsg.), Motif-Index of Folk-Literature. A Classification of Narrative Elements in Folk-Tales, Ballads, Myths, Fables, Mediaeval Romances, Exempla, Fabliaux, Jest-Books, and Local Legends. 6 Bde., Kopenhagen 1955–1958. Nach dem Beispiel Stith Thompsons entstanden zahlreiche Nachfolgeindizes, u. a. unsere Katalogisierung der weltlichen mittelhochdeutschen Erzählliteratur: Christa Agnes Tuczay u. a. (Hrsg.), Motif-Index of German Secular Narratives from the Beginning to 1400. 7 Bde., Berlin/ New York 2006. Rudolf Schenda, Stand und Aufgaben der Exempelforschung, in: Fabula 10 (1969), 69– 85; Gerd Dicke, Art. Exemplum, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft Bd. 1, 2007, 534–537; Markus Schürer, Das Exemplum oder die erzählte Institution. Studien zum Beispielgebrauch bei den Dominikanern und Franziskanern des 13. Jahrhunderts, Berlin 2005, 51–66.
Superstitionenkritik in exemplarischen Wundergeschichten
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»narrative Minimalform, die einen abstrakten, theoretischen oder thesenhaften Textsinn konkret beleuchtet (illustrare), die in diesem enthaltene Aussage induktiv beweist (demonstrare) und damit sowohl eine dogmatische oder didaktische Interpretationshilfe schafft als auch – je nach dem das Exemplum bestimmenden Kontext – mit moralisierender Implikation zur Belehrung, Erbauung oder Unterhaltung des Rezipienten […] beiträgt (delectare). Ziel des Exempelgebrauchs ist die auf seiner Überzeugungskraft (persuasio) beruhende Aufforderung, sich am beispielhaften Vorbild zu orientieren (imitatio).«7 Vor allem sind die Exempelsammlungen von und Wundergeschichten des Petrus Venerabilis (gest. 1156) und der Dialogus miraculorum des Caeasarius von Heisterbach (gest. 1240) zu nennen, die über das übliche hagiographische Erzählen hinausgehen.8 Wichtig bei der Analyse ist, zu welcher Zeit und in welcher Ausformung ein Exemplum in den Predigten verwendet wurde.9 Rezente Untersuchungen haben ergeben, dass im 13. Jahrhundert die neuen theologischen Konzepte, ebenso wie antihäretische Propaganda und Superstitionenkritik den Laien in Form von exemplarischen Geschichten vermittelt wurden. Die Analyse der Dynamik der Verarbeitung volkstümlicher Vorstellungen in den Exempla haben Jean Claude Schmitt und Lecouteux mit einer Fülle von Publikationen unternommen. Die umgekehrte Frage, wie die gelehrten Propositionen vom Volk rezipiert und umgedeutet wurden, kann wohl hauptsächlich ab der Frühen Neuzeit und hier in den Hexen- Werwolf-, und Schatzgräberprozessprotokollen greifbar werden. Schwierigkeiten bereitet bei den Exempla die klare Trennung volkstümlicher und elitärer Vorstellungen. Zwar ist belegt, dass Exempla in der Predigt als besonders geeignetes Mittel der Verbreitung für ungebildete Laien erachtet wurden, dennoch war vor allem das persuasorische Exemplum nicht bzw. nicht ausschließlich an Laien gerichtet. Die innermonastische Tradition der Mirakelliteratur, die nicht der Belehrung des Volkes diente, ging aber in der Folge direkt in die Exemplasammlungen über. Neben dem klösterlichen kommt auch das adelige Publikum als Adressat der Exempla in Frage. Aber hier stand nicht die Belehrung im Vordergrund, sondern die Unterhaltung. Amüsement des englischen Königshofes war die Intention des
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Christoph Daxelmüller, Art. Exemplum, in: Enzyklopädie des Märchens Bd. 4, 1984, 627–659, 627. Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum – Dialog über die Wunder. Lateinisch-Deutsch. 5 Bde. Hrsg. v. Nikolaus Nösges u. Horst Schneider. FC 86, Turnhout 2009, und Petrus Venerabilis, Les Merveilles de dieu. Übers. v. Jean-Pierre Torrell u. Denise Bouthillier, Fribourg 1992. Vgl. hierzu die ausführliche Diskussion bei Gilomen, Volkskultur und Exempla-Forschung (s. Anm. 1).
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Walter Map, die er mit seinen Hofgeschichten (1140–1209)10 bediente, ebenso begegnen Einstreuungen von Exempla in den gelehrten Fachschriften, wie im Policraticus des Johannes von Salisbury (vor 1170)11 und den Reiseschriften des Giraldus Cambrensis,12 die für den Unterricht von Klerikern geschaffen wurden. Die sog. Hofkleriker Wilhelm von Newburgh,13 Kanoniker im Augustinerstift von Newburgh, Walter Map und Gervasius von Tilbury,14 im Dienst Heinrichs und Ottos IV., waren zwar Geistliche, aber sowohl in der höfischen als auch der kirchlichen Welt zuhause. Im Unterschied zu den klösterlichen Wunderberichten stehen die Exempla der Mirabilien in einem anderen Kommunikationszusammenhang, da sie keinerlei didaktische oder belehrende Intention inhärent haben, sondern sich als Unterhaltung, Geschichtsschreibung oder Reisebericht verstehen. Die protoethnographischen Berichte der Hofkleriker machen uns volkstümliche und volksläufige Erzählungen zugänglich und ermöglichen auch einen kontrastiven Blick auf pagane vorchristliche Vorstellungen. Zwar gehören die Wundergeschichten dieser Autoren zu den »Randbezirken des christlichen Wunderbaren«,15 bleiben aber dennoch im christlichen kollektiven Kontext, gerade weil sie, in Ermangelung anderer Erklärungsmöglichkeiten merkwürdige Ereignisse, staunenswerte Phänomene der Sphäre des Göttlichen oder des Magisch-Teuflischen zuweisen. 10
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Walter Map, De nugis curialium. Courtiers’ Trifles. Übers. v. M.R. James, Oxford 1983; Walter Map, Die unterhaltsamen Gespräche am englischen Königshof. De nugis curialium. Eingel., übers. u. komm. v. Elmar Wilhelm, Bibliothek der Mittellateinischen Literatur 12, Stuttgart 2015. Johannes von Salisbury, Policraticus. Eine Textauswahl. Lateinisch-Deutsch. Ausgewählt, übers. u. eingel. v. Stefan Seit, Freiburg i. Br. 2008. Dazu: Peter von Moos, Geschichte als Topik (s. Anm. 2), 144–502. Giraldus Cambrensis, Beschreibung von Wales. Eine völkerkundliche Beschreibung aus dem Mittelalter von Giraldus Cambrensis. Hrsg. u. übers. v. Philipp M. Schneider, Berlin 2008; Giraldus Cambrensis, The History and Topography of Ireland (= Topographia Hibernica). Hrsg. u. übers. v. John J. O’Meara, Harmondsworth 1982. Wilhelm von Newburgh, Historia rerum anglicarum. Hrsg. u. übers. v. Claude Hamilton. 2 Bde., London 1856; William of Newburgh, The History of English Affairs. Hrsg. u. mit einer neuen Übers. v. Patrick G. Walsh/Michael J. Kennedy, Warminster 1988. Nur der erste Band ist erschienen. Gervasius von Tilbury, Kaiserliche Mußestunden. Otia imperialia. Übers. v. Heinz Erich Stiene. 2 Bde., Stuttgart 2009; Gervase of Tilbury, Otia imperialia. Recreation for an Emperor. Hrsg. v. Sheila E. Banks u. J.W. Binns, Oxford 2002. Aaron Gurjewitsch, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, Dresden 1978, und ders., Mittelalterliche Volkskultur. Probleme zur Forschung, Dresden 1986; Jacques Le Goff, Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbilds im Mittelalter, München 1990, und ders., Phantasie und Realität des Mittelalters, Stuttgart 1990.
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Die kulturanthropologische Perspektive der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, die sowohl von der Volkskunde als auch der Sozial- und Mentalitätsgeschichte eingenommen wurde, verstand den Wunderglauben bzw. Aberglauben und Magie als Domäne einer Gelehrtenkultur, die dichotomisch von der archaisch-vernakulären Volkskultur geschieden war, die aber die herrschende christliche Hochkultur »unterwandert« habe. Diese lange verbreitete Gleichsetzung von wunderbar und volkstümlich findet sich gleichermaßen in der französischen Mentalitätsgeschichte, also bei Jacques Le Goff16 und Aaron Gurjewitsch, als auch in der deutschen Volkskunde, etwa bei Dieter Harmening.17 Die Definition von Wunder und Wundergläubigkeit als Ausdruck einer primitiven Geisteshaltung eines bäuerlichen Milieus, wie anfänglich definiert, ist längst obsolet. Auch die romantisch-naive positive Bewertung von Mirakeln, Mirabilien und Exempeln als Zeugnisse einer zu Unrecht verschwiegenen bzw. gar verbotenen Kultur greift zu kurz. Wesentlich nuancierter kategorisieren Jean-Claude Schmitt und Hans-Jörg Gilomen,18 aber auch hier gibt es Ansätze zu Kritik. Die Untersuchung der klerikalen Folklore, also des Gebrauchs der Exempla in der mittelalterlichen wissenschaftlichen Literatur, bleibt immer noch weitgehend ein Desiderat der Forschung, obwohl in rezenter Zeit einige Einzelmonographien erschienen sind,19 die die Dynamik des Austausches zwischen Volk
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Le Goff, Phantasie und Realität des Mittelalters (s. Anm. 4), 125–142. Gurjewitsch, Weltbild (s. Anm. 15); Dieter Harmening, Superstitio. Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Untersuchungen zur kirchlich-theologischen Aberglaubensliteratur des Mittelalters, Berlin 1979, und ders., Art. Prodigium, in: Wörterbuch des Aberglaubens Bd. 7, 2009, 348. Jean-Claude Schmitt, Heidenspaß und Höllenangst. Aberglaube im Mittelalter, Frankfurt a. M. 1993, 53; ders., Die Wiederkehr der Toten. Geistergeschichten im Mittelalter, Stuttgart 1995; ders., Der Mediävist und die Volkskultur, in: Peter Dinzelbacher/ Dieter R. Bauer (Hrsg.), Volksreligion im hohen und späten Mittelalter, Paderborn 1990, 29–40, 31; Jean-Claude Schmitt, Menschen, Tiere und Dämonen. Volkskunde und Geschichte, in: Saeculum 32 (1981), 334–348, 334; Hans-Jörg Gilomen, Volkskultur und Exempla-Forschung (s. Anm. 1), 165–208; Wolfgang Brückner, Popular Culture. Konstrukt, Interpretament, Realität. Anfragen zur historischen Methodologie und Theoriebildung aus der Sicht der mitteleuropäischen Forschung, in: Ethnologia Europaea 14 (1984), 14–24. Zur Kritik am Ansatz von Le Goff und Schmitt vgl. John Van Engen, The Christian Middle Ages as an Historiographical Problem, in: American Historical Review 91 (1986), 519–552; František Graus, Hagiographie und Dämonenglauben – zu ihren Funktionen in der Merowingerzeit, in: Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 36 (1989), 93–120, 96; Peter Burke, Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1981. Axel Rüth, Imaginationen der Angst. Das christliche Wunderbare und das Phantastische, Berlin/Boston MA 2018.
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und Elite, Klerikern und Laien, und auch die damit einhergehenden Transformationsprozesse berücksichtigen. Die philologische Perspektive betrachtet Wunder und Aberglauben als ein Konglomerat literarischer Motive, als Produkte von an Lektüre geschulten Autoren, die durch Reproduktion gängiger Motive und Diskurse Vorbilder erzeugen. Wichtiger Impulsgeber für die neuere textkritische Forschung war vor allem die Funktion der eingebetteten Motive, Intertextualität und Selbstreferentialität.20 Hagiographie kann also als eine sich selbst generierende und repetierende Gattung mit unbestimmtem Realitätsgehalt betrachtet werden, da für uns lediglich jene Sinnebenen, die die Gelehrten den ihnen vom Volk zugetragenen Geschichten gaben, fassbar sind. Vor der Analyse ausgewählter abergläubischer Themen muss aber noch grundsätzlich auf die Wahrnehmungsweisen der Sinngebungsverfahren, aus hermeneutischem Interesse am Transformationsprozess vom (realen) Ereignis zur Erzählung, eingegangen werden. In mittelalterlicher Wahrnehmung waren die erzählten Geschichten nicht bloße erfundene Phantasiegebilde im modernen, oft abwertenden Sinn, sondern historia,21 wahrheitsgetreue Berichte über vergangene Ereignisse. An erster Stelle der historia standen die Augenzeugen, in der Regel die Autoren selbst oder besondere, hochstehende Gewährsleute, meist männlich, im fortgeschrittenen Alter, mit hohem sozialen Status und der Geistlichkeit angehörig. Diese bürgten für die auctoritas der Zeugen und damit für die Wahrheit der Berichte. Mit der mittellateinischen Bibelexegese stand den Autoren ein anerkanntes Deutungsinstrument zur Verfügung, das auch für die Interpretation weltlicher Erzählungen als geeignet erachtet wurde. In Bezug auf die Faktizität bzw. Fiktionalität der erzählten Geschichtchen hat die Forschung aufgrund gedächtnisanthropologischer und schriftpragmatischer Arbeiten22 ihre Perspektiven ausgeweitet und damit ältere, radikal re20
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Vgl. Uta Kleine, Gesta, Fama, Scripta. Rheinische Mirakel des Hochmittelalters zwischen Geschichtsdeutung, Erzählung und sozialer Praxis, Beiträge zur Hagiographie 7, Stuttgart 2007, 47–54. Zur Begriffsgeschichte s. Joachim Knape, »Historie« in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext, Saecula Spiritualis 10, Baden-Baden 1984. Zur Gedächtnisforschung vgl. Guy P. Marchal, Memoria Fama, Mos Maiorum. Vergangenheit in mündlicher Überlieferung im Mittelalter, unter besonderer Berücksichtigung der Zeugenaussagen von Arezzo von 1170/80, in: Jürgen von Ungern-Sternberg/ Hansjörg Reinau (Hrsg.), Vergangenheit in mündlicher Überlieferung, Colloquium Rauricum 1, Stuttgart 1988, 289–320; vgl. dazu Karin Fuchs, Guibert de Nogent – ein Wundererzähler zwischen Theorie und Praxis, in: Martin Heinzelmann u. a. (Hrsg.), Mirakel im Mittelalter. Konzeptionen, Erscheinungsformen, Deutungen, Beiträge zur Hagiographie 3, Stuttgart 2002, 311–333.
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duktionistische Positionen, wie sie etwa Ernst Robert Curtius23 oder auch, speziell in Bezug auf mystische Autoren, Ursula Peters24 beanspruchten, revidiert. Denn sowohl Affirmationen und Verifikationsstrategien als auch mystische Erfahrungsberichte per se können nicht ausschließlich dem Bereich der Topik zugeordnet und ihnen damit jede Glaubwürdigkeit abgesprochen werden.25 Diesen Zuweisungen, die mit Recht als überholt gelten dürfen, stehen allerdings die naiven populären Vorstellungen vom vermeintlich unverfälschten dokumentarischen Wert der Wunderberichte gegenüber.26
3. Untote als Mirakel und Mirabilium Aus der Fülle der in beiden Textsorten behandelten Sujets greife ich die Motive des Superstitiösen, Unheimlichen und Magischen heraus. Der Vergleich zwischen den spezifischen Charakteristika der volkstümlichen Vorstellung von den umgehenden Toten einerseits und den Varianten dieses Themas in der Exempelliteratur andererseits erlaubt eine literarhistorische Würdigung des christlichen Wunderbaren jenseits der üblichen Bewertungen christlicher Texte als propagandistische Verfremdung volkstümlicher bzw. volksläufiger Motive. Quellen für das Auftreten von Wiedergängern, Träumen von Toten und Gespenstererscheinungen waren sowohl die in der Mirakel- als auch Mirabilienliteratur enthaltenen Exempla. Erst gegen Ausgang des Mittelalters und in der frühen Neuzeit setzte die theoretisch-theologische Fachliteratur über Teufelsspuk und Gespenster ein, die zu Geistererscheinungen vom kirchlichen oder allgemein christlichen Standpunkt aus Stellung nimmt. Aus dem Frühmittelalter sind nur wenige Beschreibungen von Geistererscheinungen überliefert. Für diese lässt das dualistische Weltbild, das nur Erscheinungen Jesu, der Heiligen und Engel, des Teufels und der Dämonen gelten ließ, keinerlei Raum. Eine wichtige Funktion der merowingischen und karolingischen Heiligen bestand darin, die unheilbringenden Geister der Toten auszutreiben,27 die mehr oder weniger mit den bösen Geistern identifiziert wurden. 23
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Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 11. Aufl., Bern/München 1993. Ursula Peters, Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts, Hermaea NF 56, Tübingen 1988. Vgl. dazu ausführlich Uta Kleine, Gesta, Fama, Scripta (s. Anm. 20), 47–54. A. a. O., 50. Vgl. Martin Ott, Art. Exorzismus I. Religionsgeschichtlich, in: 3LThK Bd. 3, 1995, 1125– 1127. Das Eindringen der bösen Geister durch Mund, Auge, After oder Genitalien zur Besitznahme des Leibes von innen her wird auch bestätigt in: Otto Böcher, Art. Dä-
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Als Protagonisten des neuen Glaubens schlugen sie die dem Heidentum und dem Aberglauben zugeschrieben Toten in die Flucht und verdammten sie. So soll der hl. Bischof Germanus von Auxerre ein Haus von unheilvollen Schatten befreit haben, die an diesem Ort umgingen, weil sich dort Leichname befanden, die nicht würdig bestattet worden waren. Damit entwickelte die Kirche ein sehr prägnantes Modell, das von der Hagiographie aufgegriffen wurde. Es mehrten sich die Berichte über Geister austreibende Heilige, wie beispielsweise den hl. Patrick, den Missionar Irlands.28 Bereits die Kirchenväter setzten häufig unheilbringende Tote und Dämonen gleich, um die Ursache von Unglück und Elend in christlichen Gemeinden zu erklären. Die von den Klerikern des Frühmittelalters verwendeten Exorzismusformeln belegen, dass die Furcht vor böswilligen Toten und vor Dämonen kaum voneinander zu trennen ist: Das Besprengen mit Weihwasser und Salz bei gleichzeitigem Hersagen einer Beschwörungsformel soll jeden geisterhaften Schatten, jeden Dämon, alle teuflischen Umtriebe der unreinen Geister der Selbstmörder vertreiben. Heiligenerscheinungen wurden hingegen als erwünscht und segensreich betrachtet. Zwischen den Erscheinungen unheilbringender Totengeister, die vielfach als Rückfälle ins Heidentum betrachtet wurden, und den Heiligenerscheinungen blieb lange Zeit nur wenig Raum für die Erscheinungen gewöhnlicher Verstorbener. Dennoch liegt uns eine kleine Anzahl von Berichten vor: so die Darstellungen von Papst Gregor dem Großen29 (540– 604), die während des gesamten Mittelalters einen großen Bekanntheitsgrad beanspruchen konnten. Gregor, der 590 zum Papst geweiht worden war, schrieb um 593 in seinen »Dialogen« mit dem Diakon Petrus eine Reihe von hagiographischen Überlieferungen aus Italien nieder.30 Er wollte damit ein gebildetes Publikum von Mönchen und Klerikern überzeugen, dass es auch zeitgenössische
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monen (»böse Geister«) I. Religionsgeschichtlich, in: TRE Bd. 8, 1981, 270–274, 271; Peter Dinzelbacher, Art. Besessenheit, in: Enzyklopädie Medizingeschichte, 2005, 171 f. Die Heiligen hatten die Aufgabe, unheilvolle Totengeister zu verscheuchen, vgl. Claude Lecouteux, Geschichte der Gespenster und Wiedergänger im Mittelalter, Wien 1987, 48– 65. Gregor der Große, dial. (PL 77, 127–431). Kritische Ausgabe von Umberto Moricca, FSI 57, Rom 1924. Zit. nach der deutschen Übersetzung: Joseph Funk, Des heiligen Papstes und Kirchenlehrers Gregor des Grossen vier Bücher Dialoge, in: Des heiligen Papstes und Kirchenlehrers Gregor des Grossen ausgewählte Schriften, Bd. 2, BKV 2/3, Kempten/München 1933. In vier Büchern der Dialoge schrieb Gregor über die eher unspektakulären neueren Wunder der oberitalienischen Väter (Dialogorum libri IV de vita et miraculis patrum Italicorum), die aber von hohem Wert für eine Rekonstruktion der historischen Alltagsgeschichte sind. S. eben Anm. 29.
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Heilige gebe, die moralische Vorbilder sein könnten. Im vierten Buch, das sich inhaltlich von den anderen abhebt, bespricht er das Schicksal der Seele im Jenseits und folglich auch den Tod gewöhnlicher Menschen. Am Ende des Buches reflektiert Gregor über den Nutzen der Bestattung ad sanctos, also bei den Heiligengräbern, die bei seinen Zeitgenossen begehrt war: Er schließt sich der Auffassung des Augustinus, die dieser in seiner Abhandlung De cura pro mortuis gerenda (Von der Totenfürsorge; 421–424)31 vertritt, an und empfiehlt Messen für die Verstorbenen.32 Kurz vor seinem Tod hatte der Mönch Justus seinem Ordensbruder Coposus erzählt, dass er drei Goldmünzen versteckt und damit gegen sein Armutsgelübde verstoßen habe. Als Gregor diese Verfehlung erfuhr, reagierte er mit außerordentlicher Strenge: Er ordnete an, dass dem Sterbenden kein seelischer Beistand geleistet werden dürfe. Nach dem Tod verweigerte er außerdem die Beisetzung des Leichnams auf dem Klosterfriedhof. Nach dreißig Tagen jedoch erachtete Gregor den Toten für ausreichend bestraft und verfügte, dass an den darauffolgenden dreißig Tagen täglich das eucharistische Opfer für Justus dargebracht werden solle. Bald darauf erschien Justus seinem Ordensbruder, um ihm zu melden, dass er die Kommunion empfangen habe. Man rechnete nach und es stellte sich heraus, dass genau nach diesen 30 Tagen seine Erlösung erfolgt war. Die Praxis, an den ersten dreißig Tagen nach dem Verscheiden eines Menschen die Totenmesse zu lesen, war also Ende des 5. Jahrhunderts schon etabliert. Das in der Messe zelebrierte symbolische Teilen der Speisen mit den Verstorbenen förderte zudem die Verbreitung dieses Ritus, weil dadurch die Christen von Bestattungsbräuchen mit allzu heidnischem Charakter wie Trankopfer, Bankette, Opfergaben auf dem Grab abgehalten wurden. Die Hauptursache für die wachsende Zahl von Geistererscheinungen ab dem 9. Jahrhundert war die Entstehung des liturgischen Totengedenkens. Seit der Karolingerzeit hatte sich ein System spezieller Totenmessen, die am 3., 7. und am 30. Tag nach dem Verscheiden einer Person gelesen wurden, fest etabliert.33 Caesarius von Heisterbach (1180–1240) trat 1199 in das Zisterzienserkloster von Heisterbach ein und begann bei seinen Visitationsreisen Wundergeschichten zu sammeln. Der Abt forderte ihn auf, diese Geschichten so aufzubereiten, dass 31
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Augustinus, Die Sorge für die Toten. Übertr. v. Gabriel Schlachter, eingel. u. erläut. v. Rudolph Arbesmann = Sankt Augustinus – Der Seelsorger, Würzburg 1975. Zur Haltung des Augustinus vgl. Lecouteux, Geschichte der Gespenster und Wiedergänger im Mittelalter (s. Anm. 28), 52–55; neuerdings vgl. Matthias Wagner, Eine kritische Untersuchung von Augustins De cura pro mortuis gerenda: Theologische Geradlinigkeit oder Inkonsistenz? M.A.-Thesis Universität Wien 2016. Lecouteux, Geschichte der Gespenster und Wiedergänger im Mittelalter (s. Anm. 28), 55 f. A. a. O., 56–62.
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sie auch für andere Klöster zur Belehrung eingesetzt werden konnten. Seine erste Sammlung mit dem Titel Dialogus miraculorum stellte er zwischen 1219–1223 zusammen. Von der zweiten Sammlung ähnlichen Inhalts, Libri VIII miraculorm, 1225 begonnen, sind nur zwei Bücher erhalten. In seinen Exempla stützte er sich hauptsächlich auf orale Überlieferung, als Zuträger fungierten seine Ordensbrüder und Nonnen. In Bezug auf wiederkehrende Tote vertrat er die strikte Ansicht der Kirche: Laien hatten im Unterschied zu wiederkehrenden Ordensleuten keine Hilfe zu erwarten. Von eigenen Wiedergängerbegegnungen berichtete er zwar nicht, versuchte aber, durch Affirmationsstrategien, Zeugen- und Autoritätsnennungen dem Geschehen Authentizität und Objektivität zu verleihen. Auch Gott wird als Zeuge bemüht und damit vermittelt, dass es sich um Fakten und keine erfundenen Geschichten handle. Sollte dennoch Unwahres berichtet worden sein, so sei das auf die Gewährsleute zurückzuführen, die sich getäuscht hätten. In anschaulicher Weise beschrieb er den Brauch der Fesselung eines Toten, der gerade im Begriff war, sich zu erheben.34 Verdächtigen Toten, das waren solche, die sich zum bösartigen Wiedergänger hätten entwickeln können, drückte man die Augen zu und verstopfte deren Mund und Nasenlöcher, setzte sie unter aufgeschichtete Steine oder versenkte sie in Gewässern. Blieben die Maßnahmen wirkungslos, dann griff man zur Radikalmethode, der Verstümmelung, wie Köpfen oder Verbrennen. Deutlich wird, dass es sich um durchwegs vorchristliche Methoden, also um pagane Abwehrstrategien gehandelt hat, die durch die Interpretatio Christiana zu christlichen »umgeschrieben« wurden. Die Vorstellung von einer körperlichen Rückkehr der Toten erklärt sich teilweise aus der archaischen Seelenvorstellung, der Annahme, dass der Mensch mehrere Seelen besitze, darunter auch ein Alter Ego, das im Körper, im Blut, in den Knochen weiterlebt, so dass dieses Haus der Seele völlig zerstört werden muss. Was umgeht, ist das Alter Ego, das imstande ist, in der Erde zu versinken, ohne Spuren zu hinterlassen. Auch dieses Motiv wurde in das spätere Vampirkonzept integriert. Wiedergänger belegen also zwei Jenseitsvorstellungen: Die heidnische Auffassung vom Grab als Wohnsitz des Toten und die der anderen Welt bzw. der christlichen Hölle.35
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Zu den Wiedergängern, d. h. Untoten mit einem Körper vgl. Anm. 39; Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum 12,4 (s. Anm. 8), Bd. 5, 2183–2185. Weitere Beispiele bei Paul Barber, Vampires, Burial and Death. Folklore and Reality, New York 1988, 144–146; Nancy Caciola, Afterlives. The Return of the Dead in the Middle Ages, Ithaca NY 2016, 113–156; Winston Black, Animated Corpses and Bodies with Power in the Scholastic Age, in: Joëlle Rollo-Koster (Hrsg.), Death in Medieval Europe. Death Scripted and Death Choreographed, London/New York 2017, 71–91. Lecouteux, Geschichte der Gespenster und Wiedergänger im Mittelalter (s. Anm. 28), 81–98.
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Gervasius von Tilbury (1150–1235) schrieb die Otia imerialia oder »die kaiserlichen Mußestunden«, eine Sammlung von Mirabilia, die ihm im Laufe seiner Reisen im anglo-normannischen Königreich und in der Provence erzählt wurden. Eine eigentümliche Geschichte handelt von einem Toten, der seine Witwe umbringt, weil sie das ihm gegebene Versprechen, nach seinem Ableben keinesfalls seinen Todfeind zu heiraten, bricht. Als sie nach der Trauung mit ihrem zweiten Mann aus der Kirche zurückkehrt, soll sie ihren verstorbenen Mann auf sich zukommen gesehen haben. Das Gespenst wäre nur für sie sichtbar gewesen. Der Tote habe sie, wie angekündigt, mit einem Salzmörser, den er ihr auf den Kopf schmetterte, getötet. Für Gervasius liegt das Wunderbare und Erstaunliche, also das Mirabilium dieser Geschichte vor allem darin, dass sich hier ein Gegenstand von selbst durch die Luft bewegt und nur die Frau den Toten sieht und damit seine Anwesenheit bestätigt.36 Spricht man in der Forschung vom mittelalterlichen Glauben an Untote, vermeidet man im Allgemeinen, von einem echten Vampirglauben zu sprechen, eingrenzend bestenfalls von Protovampiren. Romedio Schmitz-Esser37 diskutiert die vier bei Wilhelm von Newburgh dargestellten Fälle als Ausnahmen, da die archäologischen Belege für die Furcht vor den Toten bei genauerem Blick nicht zahlreich seien und sich oft für die verstörenden Totenköpfungen beispielsweise andere plausiblere Begründungen fänden. Am mittelalterlichen Nachzehrerglauben könne man überhaupt zweifeln, wären da eben nicht die vier Berichte des Wilhelm, die offenbar ein neuartiges Phänomen darstellen. Das geht aus der Bemerkung des traditionsbewussten Wilhelm hervor, der keinerlei ältere Berichte über Nachzehrer- und Blutsaugerfälle habe finden können. Diese Erzählungen von Nachzehrern von Yorkshire könnten genauso gut aus dem wesentlich späteren Bericht der kaiserlichen Hofkanzlei aus dem Balkan stammen, vergleicht man z. B. die präzise und detailfreudige Schilderung der aufgedunsenen, bluterfüllten Leiche.38 Ungeklärt sind allerdings die Traditionswege, die dieses 36
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Gervasius von Tilbury, Kaiserliche Mußestunden Bd. 2 (s. Anm. 14), 414 f. Über einen walisischen Nachzehrer, den man nur endgültig vernichten kann, indem man ihm den Schädel spaltet, s. Walter Map, Die unterhaltsamen Gespräche (s. Anm. 10), II 27,132 f. Romedio Schmitz-Esser, Der Leichnam im Mittelalter. Einbalsamierung, Verbrennung und die kulturelle Konstruktion des toten Körpers, Mittelalter-Forschungen 489, Ostfildern 2014, 444–459. Zu Wilhelm von Newburgs Berichten s. a. a. O., 454–459; Stephen Gordon, Social Monsters and the Walking Dead in William of Newburgh’s Historia rerum Anglicarum, in: JMedHist 41 (2015), 446–465. William of Newburgh, Historia rerum Anglorum, London 1884, Bd. I, IV. Kap. 12–14, 477. Auf Williams Geschichte hat bereits Ernst Havekost in seiner Dissertation: Die Vampirsage in England, Halle a. d. Saale 1914, hingewiesen und die Geschichte wurde auch immer wieder als Beispiel angeführt. Zuletzt von Harald Haferland, Säkularisierung als Literarisierung von Glaubenselementen der Volkskultur. Wiedergänger und
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kontinentale Konzept nach England »importieren« hätten können, auch bleibt die Erwähnung einer von einem Wiedergänger ausgelösten Pestepidemie ein Einzelbeleg. Ein Jahrhundert nach Gervasius von Tilbury (1150–1235) und William von Newburgh (ca. 1136–1198) legt Johannes Gobi, der Prior der Dominikaner von Alès 1324 in Avignon einen Bericht über die Totenerscheinungen des Gui von Corvo vor, den er zwischen dem 27. Dezember, also dem Namenstag Johannes des Täufers, befragt hatte und der am 16. Dezember gestorben war.39 Seit diesem Tag soll der als unsichtbar geschilderte Geist im ehelichen Schlafgemach umgegangen sein. Die Darstellung fand großes Echo, wurde aus dem Lateinischen in mehrere europäische Volkssprachen, auch ins Deutsche, übersetzt und illustriert. Johannes Gobi habe den Geist dreimal befragt und der Ablauf wurde auch ganz genau dokumentiert. Dreißig Fragen habe der Geist beantwortet, beim zweiten Treffen nur acht, da Johannes Gobi vergessen hatte, den Geist zum Gehorsam aufzufordern. Das letzte Treffen fand am darauffolgenden Tag statt und plötzlich waren die Rollen vertauscht, der Geist soll die schlechten Prediger, die Zerrüttung der Ehen angeprangert und am Schluss um 300 Messen für sich und seine Frau gebeten haben. Da er sich danach nicht mehr bemerkbar gemacht hätte, nahm Johannes Gobi an, dass er das Fegefeuer verlassen und zu Ostern ins Paradies eingegangen sei. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang erscheint, dass Johannes Gobi am Ort des Gespensterauftretens ein Expertenteam um sich versammelte, das aus einem Magister der Theologie, einem Lektor der Philosophie aus seinem Kloster und einem Notar fürs Protokoll bestand. Eine vom Bürgermeister der Stadt beigegebene Eskorte von 200 Bewaffneten hatte zudem die Aufgabe, die Hauseingänge zu sichern. Alle mussten die Beichte ablegen, der Prior las eine Totenmesse und alle Winkel des Hauses besprengte man mit Weihwasser. Um Mitternacht war das Geräusch eines kehrenden Besens hörbar, daran erkannte die Witwe, dass der Geist ihres Ehemannes komme. Sie bat ihn, sich zu erkennen zu geben, dann übernahm Johannes Gobi das Wort, um den Geist seinem Willen zu unterwerfen. Manche Fragen zielten darauf ab zu erfahren, ob man einen Geist oder Dämon vor sich habe: Der erscheinende Geist musste z. B. erkennen, dass der Prior die eucharistischen Elemente verborgen am Leib trug. Gobis Fragen zum Jenseits ergaben, dass das Fegefeuer aus zwei Teilen bestehe: Am Tage müsse er das gemeinsame Fegefeuer, das sich im Zentrum der Erde befinde und in der Nacht das individuelle Fegefeuer, am Ort seiner Sünde, also im Schlafzimmer, erleiden. Die zu dieser Zeit noch nicht etablierte Dreiteilung der jen-
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Vampire in der Krone Heinrichs von dem Türlin und im Märe von der Rittertreue bzw. im Märchen vom dankbaren Toten, in: Susanne Köbele/Bruno Quast (Hrsg.), Literarische Säkularisierung im Mittelalter, Berlin 2014, 105–138. Schmitt, Wiederkehr der Toten (s. Anm. 18), 167–171.
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seitigen Aufenthaltsorte Hölle, Fegefeuer und Paradies wurden nun unstreitig anerkannt.
4. Magie in Mirakel und Mirabilium Vor allem in Bußschriften, Papstbullen und den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Traktaten spielt die Frage der Möglichkeit einer magischen Luftfahrt eine entscheidende Rolle. Bei Caesarius’ Exempel von der erstaunlichen Schnelligkeit, mit der ein langer Weg in kurzem Zeitraum zurückgelegt werden kann, stellt sich die Frage, ob der Zauberritt dem Mirakel oder den Mirabilien zugeordnet werden soll. Wendet man das Kriterium der intendierten Belehrung bzw. des Staunens an, wird offenbar, dass die Geschichte dieses Wunders, bei der es um einen frommen Pilger namens Winand geht, der als einziger auf dem Rückweg von Jerusalem den Ostertag durch alle Gottesdienste besucht und daher zu spät zum Pilgerschiff kommt, didaktisch-belehrend gemeint ist: Die außerordentliche Frömmigkeit belohnt Gott, indem er dem Pilger einen Engel schickt, der ihn schnell nach Hause bringt.40 Unterschiedlich gehen die Exempla mit der seit Regino von Prüm (9. Jahrhundert) und Burchard von Worms (10. Jahrhundert)41 kolportierten Luftfahrt der Holden und Unholden um. Die Vorstellung von einer Luftfahrt im Gefolge der Göttin Diana wird von den vorgenannten als Traum von alten Frauen abgetan und mit einer Buße bestraft. Johann von Salisbury hat beide Vorstellungen, die Holden und die Unholden, generell als Träume von Ungebildeten bezeichnet, 42 während Walter Map43 beweisen will, dass die Nachtfahrerinnen nicht mit den Frauen identisch seien, die schlafend im Bett liegen und dennoch behaupten, auszufahren. Es handle sich dabei vielmehr um Dämonen, die in Gestalt jener Frauen Böses tun. Er führt ein Beispiel an, wo ein Dämon in der Gestalt einer alten Frau bereits drei Kinder erwürgt habe. Als er ein viertes bedrohte, habe man ihn mit seinem Ebenbild konfrontiert. Der Dämon sei durch ein offenstehendes Fenster geflüchtet.44 40 41
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Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum 10,2 (s. Anm. 8), Bd. 4, 1897–1900. Dazu ausführlich Patrick Hersperger, Kirche, Magie und ›Aberglaube‹. Superstitio in der Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts, Köln 2010, und Werner Tschacher, Der Flug durch die Luft zwischen Illusionstheorie und Realitätsbeweis. Studien zum sog. Kanon Episcopi und zum Hexenflug, in: Zeitschrift der Savigny–Stiftung für Rechtsgeschichte 16 (1999), 225–276. Johann von Salisbury, Policraticus 93 (s. Anm. 11), 408–411. Walter Map, Die unterhaltsamen Gespräche (s. Anm. 10), II 14,107 f. Joseph Hansen, Zauberwahn, Inquisition und Hexenprozeß im Mittelalter und die Entstehung der großen Hexenverfolgung, München 1964 (Neudruck der Ausgabe von 1900), 137.
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In Gervasius’ von Tilburys Otia Imperialia (1209–1214)45 hat die Vorstellung bereits ambivalenten Charakter: Einerseits nimmt er an, dass die dominae nocturnae und die mit diesen bei ihm vermischten Lamien, nicht-menschliche, also dämonische Wesen wären, die den Menschen durchaus gefährlich werden könnten. An anderer Stelle wiederholt er die später vielfach erzählte Geschichte von der missglückten Luftfahrt einer ihm bekannten Frau, welche dabei den Namen Christi ausgesprochen habe und deshalb in die Rhône gestürzt sei.46 Man muss also davon ausgehen, dass es zwei Gruppen von Nachtfahrern gibt, dämonische und menschliche. Der Vergleich der Exempelinhalte ergibt also, dass die verwendeten Motive des Zauberrittes bzw. der Luftfahrt und des Tabubruches einerseits belehrend, andererseits bei den Hofklerikern als staunenswertes Ereignis abgehandelt werden. Die zunehmende Tendenz, die Luftfahrt für dämonisch bzw. von Dämonen gesteuert zu erklären, kontextualisiert die Geschichte neu. Während bei Caesarius’ Luftfahrtbeispielen auch intertextuelle Belege in den Dialog mit dem Novizen eingeflochten werden, diskutieren die Hofkleriker bereits die Möglichkeiten und Kompetenzen der dämonischen Einflussnahme. Gervasius von Tilbury belegt bereits für seine Zeit das Vorhandensein der Tierverwandlung für die unholden Nachtfahrerinnen, ein Sujet, dem vor allem im späteren Hexennarrativ hohe Bedeutung zukommt: Scimus quasdam (feminas) in forma cattarum a furtiva vigilantibus de nocte visas ac vulneratas in crastino vulnera truncationesque membrorum ostendisse.47
Einem komplett anderen Bereich wird die Verwendung der konsekrierten Hostie als Zaubermittel zugeordnet. Die Eucharistie ist erst nach Mitte des 11. Jahrhunderts für zauberische Zwecke verwendet worden. Anfang des 12. Jahrhunderts finden sich zahlreiche Hinweise für die missbräuchliche Verwendung in Frankreich, Deutschland und Italien. Das Sakrament kam sowohl im Schadenzauber, Schadenabwehrzauber und Liebeszauber zum Einsatz. Eindeutig um Liebeszauber handelt das Exempel einer Frau, die die bei der Kommunion empfangene Hostie im Mund behält, ihren Mann küsst, und ihn auf diese Weise völlig an sich fesselt. Belege
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Gervase of Tilbury, Otia imperialia (s. Anm. 14), 408–411. A. a. O., 139 f.; Gottfried Wilhelm Leibniz, Scriptores rerum Brunsvicensium illustrationi inservientes, antiqui omnes et religionis reformatione priores, Bd. 1, Hannover 1701, Buch III, 93, 408–411. Diese König Otto IV. gewidmete Schrift vermischte antike Lamienvorstellungen mit dem Alp, der Männer und Frauen drücken, aber auch die Gebeine der Menschen zerstückeln und wieder zusammensetzen kann. Johann von Salisbury, Policraticus 93 (s. Anm. 11), 408–411. Lateinisches Zitat nach Hansen, Zauberwahn (s. Anm. 44), 140 Anm. 4.
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dafür finden sich sowohl bei Petrus Damianus als auch bei Caesarius von Heisterbach.48 Den politischen und auch sehr gefürchteten volksverhetzenden Einfluss beobachtete Gregor von Tours an einem selbsternannten Heiligen, welcher über ein großes Kreuz und Reliquien49 verfügte, die er Gregor für die Kirche des Hl. Martin anbot. Als dieser ablehnte, begab er sich zornig nach Paris, wo er das niedere Volk, Dirnen und Frauen der niederen Stände um sich scharte,50 und so den Bischof von Paris in ziemliche Bedrängnis brachte. Dieser forderte ihn auf, an der Messe teilzunehmen, was er unter Verwünschungen von sich wies. Darauf ließ ihn der Bischof einsperren. In seinem Reisesack entdeckte man allerlei offenbar für die magische Verwendung bestimmte Wurzeln, Mäusezähne und Tierklauen. Auch sein Kreuz nahm man ihm ab, worauf er sich ein neues machte und seine Umtriebe fortsetzte, bis man ihn in den Turm warf. Auch von dort konnte er entschlüpfen und fiel just dem Bischof Gregor betrunken in die Hände. Man ließ ihn ohne Bestrafung laufen und schickte ihn, den man mittlerweile als entlaufenen Sklaven erkannte hatte, zu seinem Herrn zurück.51 Gregor erwähnt einen erstaunlichen Fall aus der Merowingerzeit, bei dem die Königin Fredegunda, Gemahlin König Chilperichs, eine tragende Rolle spielte. Letztere geriet in den Ruf einer Zauberin und Giftmischerin, da man ihr vorwarf, ihre Schwester vergiftet zu haben. Als ihre eigenen Söhne starben, verdächtigte sie ihren Stiefsohn Chlodwig, seine Stiefbrüder mit Hilfe von gedungenen Zauberinnen umgebracht zu haben. Unter Folter gestanden die Frauen, widerriefen aber vor ihrem Feuertod. Als noch einer ihrer Söhne verschied, verdächtigte Fredegunda den Präfekten. Dieser gestand unter Folter, sich die Zuneigung des Königs und der Königin durch Zauberspeisen52 erschlichen zu haben. Er wurde verbannt.53
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Bei Caesarius’ Beispiel geht es allerdings um einen unkeuschen Priester, der die Hostie zum Liebeszauber missbraucht und dann die Kirche nicht mehr verlassen kann, Caesarius von Heisternach, Dialogus miraculorum 9,6 (s. Anm. 8), Bd. 4, 1759–1761. Vgl. die maßgebliche Studie zu Reliquien: Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994. Dass Frauen sich von diesen Wundertätern anscheinend leichter in den Bann haben schlagen lassen, wird immer wieder betont. Gregor von Tours, Zehn Bücher Geschichten. 2 Bde. Aufgr. d. Übers. Wilhelm Giesebrechts neu bearb. v. Rudolf Buchner, Darmstadt 1955/1956, 9,6 (Bd. 2, 232–237). Es scheint sich hier um eine Abart der Liebesspeisen gehandelt zu haben, wie sie die Bußbücher in Zusammenhang mit den Speiseverboten überliefern. Vgl. Hansen, Zauberwahn (s. Anm. 44), 113. Gregor von Tours, Zehn Bücher Geschichten 6, 35 (s. Anm. 51), Bd. 2, 60–63.
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Lange vor den diesbzgl. berüchtigten Ausführungen des Malleus Maleficarum zur impotentia ex malefico54 berichtet Guibert von Nogent (ca. 1120) nicht nur, dass sein Vater durch Zauberei am Vollzug der Ehe gehindert, sondern auch, dass seine Mutter in Gestalt eines Incubus vom Teufel besucht worden wäre. Dieser konnte jedoch von einem Engel vertrieben werden.55 Wilhelm von Auvergne witterte hier allerdings von Dämonen hervorgerufene Träume, in welchen ein erzwungener Verkehr stattfände. Er bestreitet auch, dass Dämonen Nachkommen zeugen können.56 Um ein Vorurteil handle es sich bei dem Bericht des Goten Jordanis, der überzeugt war, dass die Hunnen der Verbindung von Dämonen und Zauberinnen entstammen: Magae mulieres, Halirunnae […] quas spiritis immundi per heremum vagantes dum vidissent et eorum complexibus in coitu miscuissent, genus hoc ferocissimum ediderunt. 57
Caesarius’ Bericht über die Ketzer von Besançon galt im Mittelalter als authentisch. Die in Besançon ansässigen Ketzer sollen zahlreiche Wundertaten vollbracht haben, um ihren Glauben als den einzig wahren zu bezeugen. So seien sie z. B. im Stande gewesen, auf bemehltem Boden keine Fußspuren zu hinterlassen und auf Wasser zu gehen, auch Feuer konnte ihnen angeblich nichts anhaben – beeindruckend für die Bürger der Stadt, die in Scharen zum ketzerischen Glauben überliefen. Der verzweifelte Bischof soll daher zum Gegenzauber gegriffen haben, indem er einen mit den magischen Künsten vertrauten Priester beauftragte, das Geheimnis der Häretiker zu entdecken. Anfänglich soll sich der Priester geweigert haben, da er den magischen Künsten abgeschworen hatte, doch der Bischof fürchtete, gesteinigt zu werden und befahl ihm in Anbetracht seiner vergangenen Verfehlungen, ihm in dieser Sache zu Willen zu sein. Der Priester habe laut Bericht den Teufel beschworen und ihm versprochen, ihm wieder zu dienen und ihn zu rufen, wenn er das Geheimnis offenbare. Der Teufel habe eingewilligt und mit seiner Hilfe soll man ermittelt haben, dass die Ketzer einen unter der Achsel eingenähten Teufelspakt besaßen. Deshalb wäre es ihnen möglich gewesen, all diese Wunder zu wirken. Als man die Verträge bei ihnen fand, schnitt man diese heraus und ihre Wunderkräfte verließen sie. Die enttäuschten Bürger ließen sie bei lebendigem Leibe verbrennen.58 54
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Heinrich Kramer (Institoris), Der Hexenhammer. Malleus maleficarum. Komm. Neuübers. v. Günter Jerouschek u. Wolfgang Behringer, München 32003, 175. A. a. O., 142. Vgl. dazu Astrid Lembke, Dämonische Allianzen. Jüdische Mahrtenehenerzählungen der europäischen Vormoderne, Tübingen 2013, 49 f. Jordanes, Die Gotengeschichte. Übers., eingel. u. erläutert v. Lenelotte Möller, Wiesbaden 2012, c. 24, zit. nach Hansen, Zauberwahn (s. Anm. 44), 20. Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum 5,18 (s. Anm. 8), Bd. 3, 1009–1015.
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Wiewohl breit über den Pakt der Häretiker berichtet wird, bleibt ausgespart, was mit dem Teufelspakt des Aufdeckers geschah. Als Fazit konklusiv: »So wurde durch die Gottes Gnade und den Eifer des Bischofs die sich verbreitende Irrlehre ausgelöscht und das verführte und betörte Volk durch Buße gereinigt.«59 Historisch belegt ist sicherlich, dass falsche Heilige, meist auch falsche Propheten, besonders in Zeiten des wirtschaftlichen Tiefstands auftraten, wie Gregor von Tours auch in seinem Bericht über einen falschen Christus, mit dem Hinweis auf eine Missernte und Hungersnot, betont. Dieser war beim Holzhacken von einem Fliegenschwarm überfallen worden,60 was er sogleich als Einwirkungen des Bösen deutete und, in Tierfelle gekleidet, zu predigen begann. Er habe außerdem die Gabe der Weissagung besessen, was Gregor als teuflische Einflussnahme vermerkte. Im Gebiet von Poitiers, in Begleitung einer Frau, begann er sich Christus und die Frau Maria zu nennen. Das Volk nahm ihn bereitwillig an, mehr als 3000 Leute folgten ihm, der seine Güter an die Armen verteilte, nach. Da er anscheinend nach kurzer Zeit nichts mehr zur Verteilung zur Verfügung hatte, beging er Diebstähle, um das so Erbeutete den Armen zuzuführen. Todesdrohungen warf er jenen an den Kopf, die ihn nicht anbeten wollten. Der Bischof von Puy en Velay ließ ihn verhaften und töten und die falsche Maria foltern, welche die Zaubertricks zugab.61 Ging es bei Gregor um Häresie, handeln mehrere persuasive Exempel des Caesarius von Heisterbach62 von Teufelsbeschwörungen und dem Beweis der dämonischen Einflussnahme.63 In drei zusammenhängenden Erzählungen entwirft Caesarius das Profil eines in Magie geschulten Priesters namens Philipp, der anhand von drastischen Beispielen die Gefahren der rituellen Magie, magischen Kunst allgemein und der dämonischen Einflussnahme schildert. Ein Ritter, der nicht an Dämonen geglaubt haben soll, wurde von einem Priester namens Philipp auf drastische Weise eines Besseren belehrt. Um die Mittagsstunde, in der die Kraft der Dämonen ebenso stark ist wie in der Nacht, habe der Priester mit einem Schwert einen Kreis gezogen und vom Ritter verlangt, sich hineinzustellen und darauf zu achten, kein Körperteil aus dem Kreis hinauszustrecken. Bald darauf sollen dem Ritter viele Dämonen erschienen sein, am Schluss der größte und gräulichste von allen, der Teufel selbst. Als Gunstbeweis soll er zuerst den Mantel des Ritters gefordert haben. Als dieser ablehnte, seinen Gürtel, dann ein Schaf aus seiner Herde und schließlich den Haushahn. Der Ritter habe sich standhaft geweigert, worauf ihn
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Ebd. Satan = »Herr der Fliegen« nach Baal Sebub laut Luthers Bibelübersetzung. Gregor von Tours, Zehn Bücher Geschichten 10,25 (s. Anm. 51), Bd. 2, 388 f. Maryvonne Hagby, man hat uns fur die warheit … geseit. Die Strickersche Kurzerzählung im Kontext mittellateinischer ›narrationes‹ des 12. und 13. Jahrhunderts, Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 2, Münster u. a. 2001, 274–280. Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum 5,2 (s. Anm. 8), Bd. 3, 953–959.
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der Teufel aus dem Kreis zu ziehen versucht habe, doch soll ihm Philipp zu Hilfe geeilt sein, und der Teufel hätte fliehen müssen. In einer anderen Geschichte64 soll derselbe Philipp einen Priester in den Bannkreis gelassen haben, alsbald sei der Teufel erschienen und habe den Priester dermaßen erschreckt, dass er ihn aus dem Kreis ziehen konnte, bevor Philipp zur Stelle war. Der Priester soll dann an den Folgen der Misshandlungen, die ihm der Teufel hatte angedeihen lassen, gestorben sein. In einer dritten Geschichte erzählt Caesarius die Jugendzeit des Philipp,65 die dieser in Toledo zusammen mit anderen Studenten der Zauberei verbracht haben soll. Die Studenten hätten, laut Erzählung des Philipp, ihren Lehrer aufgefordert, eine praktische Demonstration einer Beschwörung zu vollziehen, die dieser auch gewährte. Auf freiem Feld habe er mit dem Schwert einen Kreis gezogen und sie ermahnt, den Kreis unter keinen Umständen zu verlassen, weder Geschenke zu versprechen noch welche anzunehmen. Er selbst habe die Dämonen gerufen, die in Rittergestalt erschienen und auch Ritterspiele vorführten, mit der Absicht, die Studenten aus dem Kreis zu ziehen. Als das nicht gelang, hätten sie es in Gestalt schöner junger Mädchen versucht, wobei eines der Mädchen einem Studenten einen Ring angesteckte66 und ihn aus dem Kreis zog. Dieser sei zusammen mit den triumphierenden Dämonen verschwunden. Der auf ihr Geschrei herbeieilende Lehrer sagte den Studenten, dass sie ihren Kollegen, der die Warnung in den Wind geschlagen hatte, nie wiedersehen würden. Erbost forderten die Studenten den Lehrer auf, den Verschwundenen herbeizuschaffen, sonst würden sie ihn auf der Stelle töten. Abermals beschwor der Lehrer den Teufel, bei dem er all seine Überredungskünste und auch Aufzählungen seiner Verdienste einsetzte. Der Teufel ließ das Dämonentribunal entscheiden, worauf dieses den Jüngling herausgegeben hätte. »Der Gerettete bewies noch mehr durch sein Beispiel als durch seine Erzählung, wie gottlos und verdammenswürdig jene Wissenschaft sei. Er verließ Toledo und wurde in einem der Klöster […] Mönch.«67
64 65 66
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A. a. O., 5,3 (s. Anm. 8), Bd. 3, 959–961. A. a. O., 5,4 (s. Anm. 8), Bd. 3, 961–967. Diese Stelle erinnert an eine von William von Malmesbury mitgeteilte Geschichte vom römischen Magierpriester Palumbus, der einen Jüngling, der leichtsinnigerweise einer Venusstatue seinen Trauring angesteckt hatte, aus den Besitzansprüchen der Göttin befreien konnte, William of Malmesbury, Gesta Regum Anglorum, Bd. 1. Hrsg. u. übers. v. Roger A.B. Mynors, Rodney M. Thomson u. Michael Winterbottom, Oxford Medieval Texts, Oxford 1998, 256–258. Vgl. dazu ausführlich Walter Pabst, Venus und die missverstandene Dido. Literarische Ursprünge des Sibyllen- und des Venusberges, Berlin 1955, 117–131. Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum 5,4 (s. Anm. 8), Bd. 3, 961–967, 965.
Superstitionenkritik in exemplarischen Wundergeschichten
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Nicht nur diese abschließende Bemerkung klassifiziert die Geschichte eindeutig als didaktisches Exempel. Geschickt entwirft Caesarius den Werdegang eines gelehrten Magiers, berichtet über die vielzitierte Hochschule der Zauberei in Toledo, den »Beweis« der Realexistenz und Gefährlichkeit der Dämonen, aber auch die Möglichkeit einer Verhandlung mit diesen. Über den Schutzkreis allgemein formuliert Sophie Page: »The iconic image of the medieval magician depicted a learned man standing in a magic circle outside of with demons were standing or swarming, sometimes seeming to be submissive, at other physically menacing. Magic circles had become a significant instrument in Christian ritual magic by the late thirteenth century and were quickly disseminated into popular consciousness as a powerful image of the boundary between the human and spirit world […] and human hubris or daring. This emblematic motif of medieval ritual magic was influenced by four traditions: clerics in astral magic texts, the seals and pentacles of Solomonic magic, protective circular amulets and the thirteenth century scholastic understanding of the cosmos.«68
5. Fazit Die homiletische und Exempelliteratur handelt Glaubensfragen und Alltagsgeschichten unterschiedlich ab. Beispiele, die ähnliche Inhalte transportieren, besitzen in der Mirakel- und Mirabilienliteratur lehrhaft-moralischen oder aber unterhaltenden bzw. auch informativen Charakter. Die dargestellten Themen wie Gespenster- und Hexenglaube, Vampirismus und Liebeszauber nehmen in ihrer Brisanz viele spätere Forschungsdiskussionen des 19. und 20. Jahrhunderts vorweg und eine entsprechende Revision Tubachs bzw. ähnlicher Exempelkataloge könnte dieser Literatur den Stellenwert als Quelle verschaffen, den sie tatsächlich verdiente.
68
Sophie Page, Medieval Magical Figures. Between Image and Text, in: dies./Catherine Rider (Hrsg.), The Routledge History of Medieval Magic, London 2019, 432–457, 445.
IV. Phantastik
Schaufenster der deutschen Phantastik Eine kommentierte Chronik unheimlicher Phantastik von 1787 bis heute Robert N. Bloch
»Das Grauen« ist ein Begriff, der in keiner anderen Sprache als dem Deutschen zu finden ist. Er umreißt einen Gemütszustand der inneren Leere, der Depression und der Furcht. Die deutsche unheimliche Phantastik hat dementsprechend einen eigenwilligen Charakter, der sie von allen anderen Sprachen unterscheidet. Neben den bekannten Vertretern deutscher Phantastik wie E.T.A. Hoffmann und Hanns Heinz Ewers gibt es unzählige andere, viele davon in Vergessenheit geraten, doch für die Entwicklung des Genres von Bedeutung. Dieser zugegebenermaßen subjektive Überblick nennt die wesentlichen einflussreichen Werke unheimlicher deutschsprachiger Phantastik, jedoch auch die literarisch innovativen Werke, die kaum Beachtung fanden und heute vergessen sind. Die Jahreszahlen beziehen sich auf die Erstveröffentlichung der Buchausgabe. Bibliographische Angaben zu den genannten Werken findet der geneigte Leser in der von mir verfassten »Bibliographie der Utopie und Phantastik«.1
1787–1798 Veit Weber (d. i. Leonhard Wächter 1762–1837) Sagen der Vorzeit Siebenbändige Sammlung von Ritter- und Schauernovellen; Wegbereiter des Ritterromans; »Die Teufelsbeschwörung« um den Faustischen Verbrecher Francesco inspirierte Matthew Gregory Lewis’ »The Monk«.
1
Robert N. Bloch, Bibliographie der Utopie und Phantastik im deutschen Sprachraum 1650–1950, Butjadingen 2002.
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1788 Christiane Benedikte Eugenie Naubert (1752–1819) Herrmann von Unna Erster deutscher Schauerroman über Inquisition, Hussitenverfolgung und Hexerei; von großem Einfluss auf die folgende Welle gotischer Schreckensromane in Deutschland (Ludwig Tieck) wie auch in England (Walter Scott). Friedrich von Schiller (1759–1805) Der Geisterseher Dieser unvollendete mystische Geheimbundroman war Ausgangspunkt für eine Unzahl von Fortsetzungen (bis 1922; Hanns Heinz Ewers, »Der Geisterseher«) und neue Geheimbundromane (siehe: Carl Grosse, »Der Genius«).
1790–1793 Cajetan Tschink (1763–1813) Geschichte eines Geistersehers Auch in England erfolgreicher nekromantischer Schauer- und Geheimbundroman in der Nachfolge Schillers, in dem ein junger Mann durch scheinbar übernatürliche Zauberei unter den Einfluss seines Mentors gebracht und für eine Verschwörung missbraucht wird.
1791–1792 Christian Heinrich Spieß (1755–1799) Das Petermännchen Der erste Roman des erfolgreichsten Vertreters des deutschen Schauerromans, in welchem ein böser Geist in Zwergengestalt einen Ritter dazu verführt, sechs Jungfrauen zu schänden, mit der eigenen Tochter in blutschänderischer Ehe zu leben und mehr als siebzig Menschen zu ermorden, bis ihn der Teufel holt und in der Luft zerreißt. Das Schauerstück um Lüsternheit und Perversion hatte direkten Einfluss auf Matthew Gregory Lewis’ »The Monk«.
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1791–1794 Carl Grosse (1768–1847) Der Genius Außerordentlich erfolgreicher Geheimbundroman, von Ludwig Tieck und E.T.A. Hoffmann geschätzt, führt in ein Labyrinth von Lüge, Mord, Entführung und Spukerscheinungen. Unerklärliche Geheimnisse werden getreu den Forderungen des Rationalismus als Blendwerk einer im Verborgenen wirkenden Macht natürlich aufgeklärt.
1792 Lorenz Flammenberg (d. i. Karl Friedrich Kahlert 1765–1813) Der Geisterbanner Roman um den Geisterbeschwörer und Anführer einer Räuberbande Volkert, in welchem alle übersinnlichen Erscheinungen zum Schluss wegerklärt werden. In Deutschland wenig beachtet, dagegen in England als »The Necromancer« ein Erfolg.
1792–1793 Christian Heinrich Spieß (1755–1799) Der Alte überall und nirgends Zweiter Geisterroman des Verfassers um den Geist eines Ritters, der nicht eher zur Ruhe findet, bis er in einem Jahrhundert fünf wahrhaft große, reine und gute Taten ausgeführt hat. Der Geist scheitert immer wieder an den eigenen Leidenschaften.
1795 Ludwig Tieck (1773–1853) Abdallah oder das furchtbare Opfer Schauriger »Schocker« um Verschwörung, Liebe und Verrat vor orientalischem Hintergrund und Tiecks einzig drastischer Beitrag zum Genre des Schauerromans.
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1800 Ignaz Ferdinand Arnold (1774–1812) Das Bildniß mit dem Blutflecken Arnold, ausschweifendster und krankhaftester Vertreter der Schauerromantik, präsentiert hier einen Magier, welcher eine Selbstmörderin dem ungetreuen Liebhaber erscheinen lässt. Diese gibt Voraussagen ab, die tatsächlich eintreffen. Das Kind der Selbstmörderin stirbt, und bei ihm findet man ein Bild, das Blut schwitzt.
1801 Ignaz Ferdinand Arnold (1774–1812) Der Vampyr Eine der frühesten Bearbeitungen des Vampirmotivs; das Werk gilt als verschollen.
1810 Friedrich de la Motte Fouqué (1777–1843) Eine Geschichte vom Galgenmännlein Die unheimliche Kurzgeschichte greift das Motiv der glückbringenden Alraunwurzel auf, die die Seele des Besitzers in die Arme des Teufels treibt; bekannter wurde die Bearbeitung von Robert Louis Stevenson »The Bottle Imp« (1893).
1811 Johann August Apel (1771–1816) und Friedrich Laun (d. i. Friedrich August Schulze) (1770–1849) Gespensterbuch Populäre Gespenstergeschichtensammlung, 1812 unter dem Titel »Fantasmagoriana« ins Französische übertragen; diese Geschichten lasen sich Lord Byron, William Polidori, Percy Shelley und Mary Shelley 1816 am Genfer See vor; es war die Geburtsstunde von »Frankenstein«; der erste Band enthält die Sage »Der Freischütz«, nach der Carl Maria von Webers gleichnamige Oper (1821) entstand.
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Friedrich de la Motte Fouqué (1777–1843) Undine Novelle um die tragische Liebe eines Wassergeists zu einem Ritter, der sie verstößt, um eine andere zu heiraten. In seiner Hochzeitsnacht tötet sie ihn durch ihren Kuss.
1812–1816 Ludwig Tieck (1773–1853) Phantasus Sammlung märchenhafter Erzählungen und Theaterstücke, umgeben von einer Rahmenhandlung; Tieck verband als Erster die Welt der Wunder mit dem Alltag; von großem Einfluss auf die Romantiker des 19. und 20. Jahrhunderts.
1813 Friedrich de la Motte Fouqué (1777–1843) Der Zauberring Ritterroman um einen magischen Ring; Fouqué erfindet hier ein idealisiertes Mittelalter voller edler Recken und finsterer Zauberei; Vorläufer der »Sword & Sorcery« eines Robert Howard oder Michael Moorcock.
1814 Adalbert von Chamisso (1781–1838) Peter Schlemihls wundersame Geschichte Klassische symbolische Geschichte vom Mann, der seinen Schatten für unendlichen Reichtum verkauft und wegen seines fehlenden Schattens aus der Gesellschaft verstoßen wird. E.T.A. Hoffmann (1776–1822) Fantasiestücke in Callot’s Manier Erster Erzählungsband des einflussreichsten deutschen Phantasten; enthält u. a. die Erzählungen »Die Abenteuer der Silvesternacht«, die auf Chamissos »Peter Schlemihl« zurückgeht, und »Der goldne Topf«, in welcher der Student Anselmus in eine Welt der Magie und Elementargeister verschlagen wird.
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1815 E.T.A. Hoffmann (1776–1822) Die Elixiere des Teufels Doppelgängergeschichte in der Tradition des gotischen Schauerromans. Der Mönch Medardus trinkt von einem Elixier, das vom Antichrist herrührt. Das Elixier lässt ihn seine Gelübde vergessen und stürzt ihn in einen sexuellen Sinnesrausch.
1817 E.T.A. Hoffmann (1776–1822) Nachtstücke Enthält mit »Der Sandmann« Hoffmanns bedeutendste unheimliche Erzählung, einen bizarrer Alptraum um Kindheitsängste, in welcher der Student Nathanael der Automatenpuppe Olimpia zum Opfer fällt.
1817–1820 Gottfried Peter Rauschnick (1778–1835) Gespenstersagen Sammlung von auf Chroniken oder Volksüberlieferungen fußenden Gespenstergeschichten, darunter »Die Saat des Verderbens«, eine frühe satirische Bearbeitung der Geistergeschichte; ein Ungläubiger wird gegen seinen Willen durch spukige Neckereien von der Existenz der Geister überzeugt.
1819–1821 E.T.A. Hoffmann (1776–1822) Die Serapionsbrüder Ludwig Tiecks »Phantasus« inspirierte Hoffmann zu dieser Rahmenerzählung, in der die Serapionsbrüder, die Freunde Hoffmanns (Adalbert von Chamisso, C.W.S. Contessa, Friedrich de la Motte Fouqué u. a.), sich Geschichten erzählen; enthalten sind u. a. »Die Bergwerke zu Falun«, »Nußknacker und Mausekönig« (von Alexandre Dumas 1844 als »Histoire d’un casse noisette bearbeitet«) und »Der unheimliche Gast«. Das serapiontische Prinzip wurde von französischen und russischen Romantikern vielfach nachgeahmt.
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1824–1829 Carl Weisflog (1770–1828) Phantasiestücke und Historien Populäre zwölfbändige Sammlung von Märchen, Humoresken und Schauergeschichten eines Freundes von E.T.A. Hoffmann, darunter »Die Quellnymphe« und »Die Adepten. Ein Nachtstück«.
1826 Christian August Vulpius (1762–1827) Gallerie der unterhaltendsten Geister- und Zaubergeschichten Sammlung naiver Spuk- und Teufelsgeschichten, alten Überlieferungen nacherzählt, vom Verfasser des einstigen Bestsellers »Rinaldo Rinaldini«.
1842 Jeremias Gotthelf (d. i. Albert Bitzius 1797–1854) Die schwarze Spinne Unheimliche Parabel über eine dämonische Spinne, die ein Dorf heimsucht; die Spinne als Projektion zerstörerischer psychischer Kräfte. Ladislaus Tarnowski (1811–1847) Waldteufel Dreibändige Sammlung von Gespenstergeschichten, die man zu den wenigen gelungenen Beispielen dieses Genres im Deutschland des 19. Jahrhunderts zählen darf. Neben kürzeren Bearbeitungen unheimlicher Sagen aus seiner schlesischen Heimat enthält die Sammlung einige umfangreiche, komplex konstruierte Novellen um Spuk und Teufelswerk, die ganz der Phantasie des Verfassers entstammen und eine Aura von morbider und sinistrer Eigenwilligkeit versprühen.
1847–1848 Wilhelm Meinhold (1797–1851) Sidonia von Bork, die Klosterhexe Im Gegensatz zu Meinholds »Bernsteinhexe« (1843) ist Sidonia von Bork eine echte Hexe, grundverdorben und skrupellos. Durch Zauberei und Intrigen wird sie Äbtissin eines Klosters.
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1853–1855 Alexander von Ungern-Sternberg (1806–1868) Die Nachtlampe Vierbändige Sammlung von historischen, romantischen und unheimlichen Geschichten, herausragend »Der Balsam von Mecca« über ein Elixier, das eine Geschlechtsumwandlung herbeiführt. Sternberg war berüchtigt für seine freizügigen erotischen Phantasien, z. B. »Braune Märchen« (1850).
1854 Alexander von Ungern-Sternberg (1806–1868) Das stille Haus Veritabler Schauerroman um zwei Magier einer dämonischen Wissenschaft, nämlich der Belebung von Automatenmenschen. Die Geschichte ist ineinander verschachtelt, ein Rätsel über das nächste gestülpt, und man meint zeitweise den Phantasien eines Fiebernden zu folgen. Ludwig Bechstein (1801–1860) Hexengeschichten Bechsteins Hexengeschichten nach alten Chroniken gehören zum Formvollendetsten und gleichzeitig Grausigsten, was auf diesem Sektor je hervorgebracht wurde. Gleichzeitig prangert Bechstein die Verbrechen an, die unter einem christlichen Mantel an Unschuldigen verübt wurden.
1862 Friedrich Gerstäcker (1816–1872) Heimliche und unheimliche Geschichten Gerstäcker schrieb neben Abenteuerromanen eine Anzahl romantischer Spukgeschichten, deren berühmteste »Germelshausen« sich in diesem Band befindet. Es geht um eine versunkene Stadt; aus tagheller Stimmung versinkt die Geschichte nach und nach in Düsternis und Verzweiflung.
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1863–1864 Carl Stugau (d. i. Karl August Schmidt auf Altenstadt 1816–1890) Unbegreifliche Geschichten Mit Ironie und Humor erzählt Stugau seine Geistergeschichten, die in eine Rahmenhandlung eingebettet sind, in der sich alle Erzähler als Insassen einer Irrenanstalt erweisen. Stugau markiert die Umbruchphase zur modernen Horrorgeschichte, wie sie Maupassant schreiben sollte.
1885 Karl von Schlözer (1854–1916) Aus Dur und Moll Sammlung amüsanter Märchen, Grotesken, Utopien und Schauergeschichten; der Autor behandelt versiert und augenzwinkernd die Versatzstücke des Grauens. Hervorzuheben sind »Einst und Jetzt«, eine Zeitreisegeschichte mit Zauberei, sowie »Studiosus Keck von Keckenstein«, ein »verbummelter« Student, der zur Hölle fährt und dort den Teufel das Fürchten lehrt.
1890 Oskar Panizza (1853–1921) Dämmrungsstücke Der Irrenarzt Panizza, ab 1904 selbst Patient einer Nervenheilanstalt, schrieb bizarre, das Alltägliche verfremdende Grotesken. In »Eine Mondgeschichte« lebt eine vielköpfige Familie im Mond, einem runden Holzhaus; sie ernähren sich nur von Käse; die gelbe Farbe hat der Mond, weil er mit dem Urin der Kinder begossen wird.
1894 Paul Heyse (1830–1914) In der Geisterstunde und andere Spukgeschichten Sentimental-melancholische Spukgeschichten sowie die ironische Humoreske um Hexenwahn und Spiritisten »Das Haus ›Zum unglaubigen Thomas‹ oder Des Spirits Rache« von Nobelpreisträger Heyse. Dort werden die Geister eines Weinreisenden und eines Hausknechts aus dem Zwischenreich auf die Erde zitiert, um als Vertreter berühmter Toter bei spiritistischen Séancen Rede und Antwort zu stehen.
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Bodo Wildberg (d. i. Heino von Dickinson-Wildberg 1862–1942) Tödliche Triebe Erster Erzählungsband, der zur Neoromantik gezählt werden kann, die in Ewers, Strobl und Meyrink ihre bedeutendsten Vertreter haben sollte. Schwärmerischversponnen schildert Wildberg unter Einfluss der klassischen deutschen Romantik Seelenzustände an der Grenze des Bewussten und Unbewussten. In »Der unfreie Wille« erlebt man eine Hexe, die nachts die Gestalt einer Spinne annimmt und denen, die sie zu sich lockt, das Blut aussaugt.
1900 Paul Ernst (1866–1933) Sechs Geschichten Subtile Alpdruckphantasien des Vereinzelten in einer bedrohlich entfremdeten Welt. In »Die sonderbare Stadt« besteigen zwei britische Ingenieure in China ein Bergplateau und entdecken dort eine uralte Totenstadt. In einem Palast auf einem Thron stoßen sie auf ein Mädchen mit europäischen Gesichtszügen. Als sie ein Ingenieur berührt, beginnen seine Finger schwarz zu werden. Er zerfällt zu Asche. Hans Wohlbold (1877–1949) Unheimliche Geschichten Schwärmerische Elegien, romantische Spukgeschichten und Schilderungen des Wahnsinns enthält dieser wenig beachtete Band eines Anthropologen und Naturwissenschaftlers, von der französischen Dekadenz kaum beeinflusst, dagegen Paul Heyse und Friedrich Gerstäcker verpflichtet.
1901 Charlotte Nisle-Klein (Geburtsjahr unbekannt †1902) Der Mann mit dem Pferdekopf Die acht psychologisch detailliert geschilderten Skizzen, Parabeln, Allegorien, Horror- und Kriminalgeschichten entführen in eine beklemmende Welt des Wahns, des Irrsinns und des Grauens. Karl Hans Strobl (1877–1946) Aus Gründen und Abgründen. Skizzen aus dem Alltag und von drüben Sein erster Erzählungsband enthält einige Stücke, deren krasse und abstoßende Perfidie bisher einzigartig war. Auffallend ist die degoutante Darstellung weiblicher Sexualität und der Frau als Hure. Von Böcklin und Bosch beeinflusst sind
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die grausig-grotesken Geschichten »Das Meerweib« und »Am Kreuzweg«. »Don Juan« geht auf die gleichnamige Novelle E.T.A. Hoffmanns zurück, bei Strobl jedoch ins Sexuell-Triebhafte verzerrt.
1902 Oscar A.H. Schmitz (1873–1931) Haschisch Von der französischen Dekadenz, insbesondere Rimbaud und Villiers de’IsleAdam, beeinflusster Erzählband, der die abseitigen Wege der Genusssucht einer überlebten, in sich selbst zerfallenen Oberschicht darstellt. Das Buch spiegelt eine mystische, rauschhafte Sinnlichkeit.
1903 Gustav Meyrink (1868–1932) Der heiße Soldat und andere Geschichten Erster Band mit kongenialen, giftgetränkten Satiren und Grotesken, die ab 1901 im »Simplicissimus« erschienen, darunter auch mystisch-makabre Erzählungen, deren alptraumhaftes Erleben sich jeder rationalen Erklärung entzieht – wie in »Der violette Tod« über einen tibetischen Stamm, deren schwarzmagische Künste die Hälfte der Weltbevölkerung in violette Schleimkegel verwandelt.
1904 Georg von der Gabelentz (1868–1940) Das weiße Tier Erster Erzählband des schaffensfreudigen konservativen Autors der Nachtseiten der physischen Erscheinungen, der überall gespenstische Schatten sah; die Titelgeschichte erzählt von einem Russen, der unter den Einfluss eines Magnetiseurs gerät, der ihn nur mit seiner knochigen Hand zu berühren braucht, um ihn willenlos zu machen. Karl Hans Strobl (1877–1946) Die Eingebungen des Arphaxat. Merkwürdige Geschichten In seinem zweiten Erzählband gelingt Strobl die Integrierung des Grotesken und Komischen in die unheimliche Geschichte; herausragend »Der Automat von Horneck« über einen Automatenmenschen, der von seinem Herrn so lange gequält wird, bis er die Rollen tauscht.
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1907 Hermann Wolfgang Zahn (1879–1965) Gestalten hinter mir Fünf grell-bizarre Schauergeschichten, die sich wie komprimierte Romane lesen. Jeder Satz ist mit Handlung beladen und treibt die Geschichte vorwärts. Es gibt keinen Augenblick der Besinnung, des Innehaltens, der Auslotung der ungeheuerlichen Vorgänge.
1908 Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem (1854–1941) Die Dame in Gelb. Eine sonderbare Geschichte Antiquarischer Gespensterroman, ganz im Stile von M.R. James, um das Geheimnis eines dämonischen Reliquienschreins, der einem reichen Antiquitätensammler zur unliebsamen Begegnung mit der »Dame in Gelb« verhilft, einer Gestalt, die ihn ein Gefühl des Abstoßenden, des ungeheuren Ekels empfinden lässt. Hanns Heinz Ewers (1871–1943) Das Grauen. Seltsame Geschichten Erfolgreichster Band mit unheimlichen Geschichten eines deutschen Autors im 20. Jahrhundert. Seine anstößigen, blutigen Geschichten brachten Ewers den Ruf des »dämonischen Dichters« ein und verbreiten eine dumpfe Angst; hervorzuheben sind die Voodoogeschichte »Die Mamaloi« und die Mumiengeschichte »Die Topharbraut«. Kurt Münzer (1879–1944) Abenteuer der Seele Geschichten um Vision, Ekstase und Wahn; enthalten ist der Kurzroman »Das Geheimnis des Kleiderspinds«, ein Kleinod der deutschen Phantastik, in der einem jungen Mann Nacht für Nacht aus einem Kleiderschrank eine Frau entgegentritt, Liebe und Tod verkörpernd.
1909 Hanns Heinz Ewers (1871–1943) Die Besessenen. Seltsame Geschichten Dieser Band enthält Ewers’ beste Geschichten »Der Tod des Barons Jesus Maria von Friedel« über eine Persönlichkeitsspaltung in einen männlichen und einen
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weiblichen Teil und »Die Spinne« um eine Frau, die Männer in den Selbstmord treibt; in der Gleichsetzung der Frau mit einer Spinne, die das Männchen nach dem Liebesakt verspeist, zeigt sich Ewers’ Frauenphobie. Alfred Kubin (1877–1959) Die andere Seite In einem Traumreich, das im Innern Asiens liegt, sieht man europäische Häuser, in denen einst Verbrechen verübt wurden. Die Zeit steht still. Es gibt keine Entwicklung. In dieses Land reist der Ich-Erzähler, ein Münchner Zeichner. Vor dieser Untergangskulisse, einem symbolisierten, surrealen Europa, erscheint der reiche Amerikaner Hercules Bell und mit ihm der rationale, materialistische Fortschritt. Es folgt eine Kakophonie von Vernichtung und Tod.
1910 Leopold Günther-Schwerin (1865–1945) Wahr oder Wahn? Seltsame Geschichten Spiritistische Phänomene in verstörend plastischer Darstellung präsentiert dieser wenig bekannte Band eines Malers; in »Dr. Balthasar« trennt ein Arzt die Nabelschnur, die ein Medium mit einem aus Ektoplasma gebildeten Homunkulus verbindet; das Medium stirbt, und der Homunkulus verkümmert zu einem hässlichen Zwerg mit vampirischen Neigungen. Karl Hans Strobl (1877–1946) Eleagabal Kuperus Überladener, umfangreicher Weltuntergangsroman um den Kampf zwischen dem »guten« Magier Kuperus und dem »bösen« Materialisten Bezug. Unzählige Episoden sind eingestreut, die manchmal im Einzelnen überzeugend sind, insgesamt die Verwirrung aber nur vergrößern. Bodo Wildberg (d. i. Heino von Dickinson-Wildberg 1862–1942) Dunkle Geschichten Sammlung phantastisch-skurriler Geschichten; am gelungensten der Rollentausch von Herr und Haustier in »Vitzliputzli«, wo ein Baron in die Irrenanstalt eingewiesen wird, da er glaubt, ein Kater zu sein, während der Kater im Morgenmantel am Schreibtisch des Barons sitzt.
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1911 Hanns Heinz Ewers (1871–1943) Alraune. Die Geschichte eines lebenden Wesens Konglomerat aus Phantastik, Realismus, Kolportage und Lyrik um einen weiblichen Dämon, künstlich gezeugt aus dem Samen eines gehenkten Verbrechers, der einer Dirne eingepflanzt wurde; das Buch erreichte eine Millionenauflage und wurde mehrfach verfilmt. Georg von der Gabelentz (1868–1940) Tage des Teufels. Phantasien Der Band enthält die unheimliche Novelle »Der gelbe Schädel« um einen Maler, der den Schädel Cagliostros stiehlt, seinem Einfluss verfällt und zum Giftmischer wird. Der behutsame Aufbau der Spannung bis zum verstörenden Finale ist unübertroffen. Karl Rosner (1873–1951) Es spricht die Nacht. Spukgeschichten Traditionelle Gespenstergeschichten um Hellsehen, Wahnsinn und östliche Magie. Ein Gespräch über Aberglaube und unerklärliche Dinge in geselliger Runde oder ein Eintrag in einem alten Taschenbuch – so werden Karl Rosners Geistergeschichten für gewöhnlich eingeleitet.
1912 Hermann Eßwein (1877–1934) Megander der Mann mit den zween Köpfen und andere Geschichten In köstlichen Tragikomödien und hoffmannesken Kapriolen der Phantasie nimmt der Verfasser das Spießer- und Philistertum ins Visier; am beeindruckendsten »Tom Neerwindt«, der Bericht vom Untergang eines Menschen, dessen Leben sich in ansteckenden Halluzinationen abspielt, die schließlich tödliche Realität werden.
1913 Max Bruns (1876–1945) Feuer. Die Geschichte eines Verbrechens Dekadenter Roman von unterschwelliger Leidenschaft und Erotik. Ein Bibliothekar, dem Leben und seiner sinnlichen Frau entfremdet, wird von einem ehemaligen Studienfreund durch psychischen Rapport in den Wahn einer Feu-
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ersbrunst getrieben, sodass er Selbstmord begeht und dem Freund die begehrte Frau in die Hände fällt. Das Buch atmet erstickende Dumpfheit und moribunde Endgültigkeit, durch die ein Hauch von Laster weht. Alexander Moritz Frey (1881–1957) Dunkle Gänge. Zwölf Geschichten aus Nacht und Schatten Erstes Buch Freys, in dem seine stilistischen Eigenheiten, die introspektive Grübelei und absurde Schicksalsverkettungen, bereits erkennbar sind, im Vordergrund steht hier aber die schaurige Stimmung; hervorzuheben die gelungene Spukhausgeschichte »Das unbewohnte Haus«. Georg Heym (1887–1912) Der Dieb. Ein Novellenbuch Geschichten einer Gegenwelt voller Irrer, Kranker, Sterbender und Mörder; in »Das Schiff« personifiziert eine unscheinbare Frau die Pest, und das Geschehen weitet sich zur Vision eines kosmischen Untergangs. August Hoffmann von Vestenhof (1848–1922) Der Mann mit den drei Augen. Eine sonderbare Geschichte Roman um einen Mann, in dessen Kopf ein zweites Gehirn, nämlich das seiner Zwillingsschwester, mit einem dritten Auge sitzt, das ihn zu abartigen sexuellen Handlungen veranlasst.
1914 Alexander Moritz Frey (1881–1957) Solneman der Unsichtbare Den radikalen Bruch zwischen dem Individuum und der Gesellschaft beschreibt sinnbildlich dieser skurrile Roman um den Millionär Solneman (Anagramm für »Namenlos«), der eine riesige Mauer bauen lässt, um von der Bevölkerung isoliert zu sein. Paul Leppin (1878–1945) Severins Gang in die Finsternis. Ein Prager Gespensterroman Bei Leppin gibt es keine Gespenster, die aus einem jenseitigen Reich die Menschen verfolgen. Leppins Gespenst ist die Stadt Prag selbst, ein Ort der Düsternis, des Verfalls und des Lasters, bevölkert von den Schimären einer wesenlosen Angst, durch dessen Gassen Severin, ein Bürosklave ohne jeden Bezug zu seinen Mitmenschen, schleicht.
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1915 Gustav Meyrink (1868–1932) Der Golem Vieldeutiger symbolischer Roman um die Golem-Legende, die jüdischen Sage von dem aus Lehm geformten künstlichen Menschen; Athanasius Pernath gerät in eine Traumwelt, das Reich des Unbewussten, macht eine Persönlichkeitswandlung durch und muss sich mit dem eigenen Doppelgänger auseinandersetzen. Leo Perutz (1884–1957) Die dritte Kugel Das Erstlingswerk »Die dritte Kugel« ist ein historischer Roman, aber auch eine wilde, grausame Geschichte, in der man Landsknechten, Rittern, Dirnen, Königen und Nekromanten begegnet. Es geht um die Zerstörung des Aztekenreichs durch Cortez und drei verzauberte Kugeln. Wie ein gespenstischer Traum entfaltet sich die Erinnerung des Wildgrafen am Rhein von den drei Kugeln; die erste trifft Montezuma, die zweite tötet die schöne Aztekin Dalila und die dritte den Wildgrafen selbst. Oscar A.H. Schmitz (1873–1931) Herr von Pepinster und sein Popanz. Geschichten vom Doppelleben Die Titelgeschichte ist eine geistreiche Groteske über die Energieversorgung von Gespenstern; das Gespenst, ein Seelenrest, saugt die Lebenskraft aus den abgelegten Kleidern eines reichen Lebemanns und übernimmt dessen Existenz.
1916 Max Brod (1884–1968) Die erste Stunde nach dem Tode. Eine Gespenstergeschichte Nach einem Gespräch mit einem Gespenst über die Verdammnis für begangene Sünden kommt ein Politiker zur Selbsterkenntnis, um anschließend wieder in die Routine seiner Banalitäten zurückzukehren. Franz Kafka (1883–1924) Die Verwandlung Eines Morgens erwacht der Handlungsreisende Gregor Samsa als Käfer. Die Verwandlung dokumentiert seine Untauglichkeit als Mensch in einer Gesellschaft, für die er nichts als ein lästiges Ungeziefer ist.
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Paul Frank (1885–1976) und Leo Perutz (1882–1957) Das Mangobaumwunder. Eine unglaubwürdige Geschichte Die seltsame Geschichte eines Barons, der in seine Wiener Villa einen indischen Gärtner gebracht hat, der über die Fähigkeit verfügt, auf die Organismen fremder Wesen Herrschaft auszuüben. Er kann Pflanzen, aber auch Tiere über Nacht altern lassen. So lässt er unversehens in einem Treibhaus einen Tropenwald mit Flora und Fauna erstehen. Der Baron will nun diese Metamorphose an sich und seiner Tochter vollziehen lassen, um einen Blick in die Zukunft zu tun. Er glaubt, der Inder werde sie später zurückverwandeln. Das ist ein Irrtum. Kurt Münzer (1879–1944) Zwischen zwei Welten. Seltsame Geschichten Im melancholischen Dämmer der Dekadenz gehaltene Spukgeschichten um lebensuntaugliche, weltfremde Typen; auffallend Münzers Vorliebe für die erotische Besetzung toter Gegenstände wie einer Puppe in »Der Mann mit der Puppe«.
1917 Karl Hans Strobl (1877–1946) Lemuria. Seltsame Geschichten Sammlung mit Strobls besten unheimlichen Geschichten, darunter die Vampirgeschichte »Das Grabmahl auf dem Père Lachaise«, in der ein armer Gelehrter sich bereit erklärt, ein Jahr im Grabmal einer reichen Russin zu leben, wofür ihm ein Vermögen versprochen wird. Er erkennt nicht den teuflischen Plan, dass er nur dazu dient, eine vampirische Untote zu mästen.
1918 Friedrich Otto (1877–1924) Ultra. Sieben Erzählungen Otto bemüht sich um die Übersteigerung des Schrecklichen, des Unvorstellbaren und Unbegreiflichen. In seinen Erzählungen, die die Begrenztheit und Relativität menschlicher Wahrnehmung ausloten, ist das Sichtbare nur eine täuschende Maske, hinter der sich eine Höllenfratze verbirgt. Leonhard Stein (Lebensdaten unbekannt) Das Ballett des Todes Neun grausige, erotische und mystische Erzählungen eines eleganten Stilisten, angesiedelt in einer sterilen Kleinbürgeratmosphäre mit zwanghaften oder abstoßenden Antihelden; kaum bekannte hochrangige Sammlung.
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1919 Paul Busson (1873–1924) Seltsame Geschichten Phantastische Geschichten ohne grelle Effekte im heimatlichen Milieu angesiedelt; Bussons Frauenphobie war extrem; in »Die Kleinodien des Tormento« werden Traumfrauen zur Wirklichkeit; doch die Liebesgöttinnen werden für den Besitzer der Kleinodien zu Erinnyen, die ihn in den Tod treiben. Otto Soyka (1882–1955) Der entfesselte Mensch Die Idee des genialen Übermenschen wurde von Soyka in mehreren Romanen behandelt. Hier verwandelt die Verzweiflung eines zum Selbstmord bereiten Menschen denselben in einen Diktator mit unwiderstehlicher suggestiver Kraft.
1920 Michael Birkenbihl (1877–1944?) Dämonische Novellen Psychologisch feinfühlige Erzählungen in phantastischer Doppeldeutigkeit um Wahnsinn und unkontrollierte Leidenschaft; »Blutzauber« greift das tabuisierte Thema der Menstruationsphantasie auf. Paul Frank (1885–1976) Der tönerne Gott Roman um einen wundertätigen Götzen, der einem reichen Müßiggänger jede Frau gefügig macht, die er begehrt; erotische Variante von Fouqués »Galgenmännlein«. Friedrich Freksa (d. i. Kurt Friedrich-Freksa 1882–1955) Praschnas Geheimnis Ironisch verschachtelter Roman um Mädchen, die zu Schaufensterpuppen werden und umgekehrt. Erklärt wird dies mit der damals allseits beliebten indischen Geheimwissenschaft. Alexander Moritz Frey (1881–1957) Spuk des Alltags. Elf Geschichten aus Traum und Trubel In Freys eigenwilligen Geschichten werden Menschen durch lächerliche Zufälligkeiten in die absurdesten Situationen gebracht; Sinn- und Zwecklosigkeit bestimmt ihr Handeln. Es geht dem Autor darum, verborgene Sprungfedern unter
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der Oberfläche platter Alltäglichkeit auszuprobieren und die aberwitzigen Resultate dem Leser kommentarlos zu überlassen. Arno Hach (d. i. Arno Hengsbach 1877–1945) Der Kopf des Maori. Geschichten zwischen Trug und Traum Hachs Neigung zum Drastischen und Morbiden, zu schauderhaften Verstümmelungen gipfelt in »Die Menschenhaut«; ein Marquis lässt sich aus der Haut einer hingerichteten Mörderin eine Hose schneidern, woraufhin das Wesen der Mörderin auf ihn übergeht. Mynona (d. i. Salomo Friedländer 1871–1946) Unterm Leichentuch. Ein Nachtstück Fulminante Spukgeschichte und gleichzeitig eine Satire auf das Kleinbürgertum. Die unheimlichen Nachbarn des Erzählers erweisen sich als veritable Leichen.
1921 Paul Busson (1873–1924) Die Wiedergeburt des Melchior Dronte In präziser naturalistischer Manier wird der Werdegang eines Edelmanns im Österreich des 18. Jahrhunderts geschildert, seine Hinrichtung während der Französischen Revolution und seine Wiedergeburt als Bürgersohn. Franz Kreidemann (1871–1953) Pans Marionettenspiel. Seltsame Liebesgeschichten Ein Band mit abseitig-bizarren Nachtstücken, deren groteske Phantastik verblüffende Kapriolen schlägt. »Der Fluch« ist eine Variation des Vampirmotivs in Kopplung mit Schizophrenie und Spinnenphobie; ungewöhnlich dabei ist, dass ein Mann die Spinne verkörpert. Robert Müller (1887–1924) Camera Obscura Hintersinniger okkulter Detektivroman, in exzentrischer Sprache und gedankenakrobatischer Dialektik verfasst, um Jack Slim, Professor der Magie, der in die Rolle des genialen Verbrechers der Zukunft schlüpft und den Gesandten San Remo durch die Kraft der Suggestion zum Selbstmord treibt. Hermann Rössler (1895–1976) Expresszug des Teufels Eine überbordende, pathologisch krankhafte Kakophonie des Schreckens, eine in gehetzte, expressionistische Sprache gekleidete Höllenfahrt eines Satanisten.
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Man erlebt eine verzerrte, pervertierte Welt, die im »D-Zug-Tempo« vorbeirast. Ein Roman, getränkt von Abscheu und tiefer Verachtung für die menschliche Gesellschaft, die als abstoßende, vertierte Horde dargestellt wird.
1922 Paul Frank (1885–1976) Mitternachtsbuch Elegant erzählte seltsame Geschichten über Persönlichkeitstausch, Suggestion, Spiritismus und Wahnsinn. Andreas Igel Richter (*1890, Sterbejahr unbekannt) Das Totenlodern Düster-geheimnisvolles Pandämonium um einen Dr. Sekretus, der auf den Friedhöfen die Toten zum Leben erweckt, die durch eine Welt irren, die sie nicht verstehen. Wilhelm von Scholz (1874–1969) Zwischenreich Scholz, ein Erforscher menschlicher Seelentiefe, vermittelt in seinen Geschichten einen höheren Sinn des Daseins jenseits von Raum und Zeit, eine metaphysische Seelenverbindung über den Tod hinaus. Jules Siber (1871–1943) Incubus. Ein okkulter Roman aus der Würzburger Hexenzeit Historischer Roman in pathetischer Sprache um die Suche nach einem berüchtigten Zauberbuch; die Hexenmeister und Teufelsanbeter werden als ebenso verwerflich dargestellt wie die »Pfaffen« und »Bibelgläubigen«.
1923 Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem (1854–1941) Im Zwielicht. Unheimliche Geschichten Ursache für die Geistererscheinungen in diesen romantischen Novellen sind Eifersuchts- und Morddramen aus der italienischen Renaissance, die ausführlich und in farbigem Detailreichtum wiedergegeben sind.
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Werner Bergengruen (1892–1964) Das Gesetz des Atum Reinkarnationsroman und Eifersuchtsdrama; ein Student, der seinen Professor getötet hat, muss das Gesetz des Atum, des ägyptischen Todesgottes, erfüllen, er muss den Platz des Getöteten einnehmen, seine Identität annehmen. Leo Perutz (1884–1957) Der Meister des Jüngsten Tages Okkult-phantastischer Detektivroman um eine Selbstmordserie, hervorgerufen durch eine Droge, die eine Vorwegnahme des Jüngsten Gerichts im Geist des Vergifteten hervorruft. Jakob Elias Poritzky (1876–1935) Mysterien Dekadente Schauergeschichten eines Erzählers voller Idiosynkrasien und Widersprüchlichkeiten. In »Spuk« und »Geister« verhöhnt der Autor den Spiritismus. In »Incubus« schildert er unverhohlen sexualpathologische Abartigkeit. Hans Possendorf (d. i. Hans Mahner-Mons 1883–1956) Die Kröte. Okkultistischer Roman Durch den Anblick einer südamerikanischen Krötenart wird ein Mädchen in einen somnambulen Zustand versetzt, in dem sie unschuldig Verbrechen begeht; erster von vier originellen, exotischen Okkult-Kriminalromanen des Autors. Willy Seidel (1887–1934) Das älteste Ding der Welt Beklemmend visionäre Novelle um die Ausgrabung eines blutrünstigen Dämons, der einst vom Saturn kam; die Ausgrabung weckt die destruktiven Kräfte des Wesens und führt zur Katastrophe.
1924 Paul Madsack (1881–1949) Der schwarze Magier. Ein Roman in Schwarz und Weiß Aus dem verkommenen »Negermischling« Kukuma wird der begnadete und gefeierte Maler und Bildhauer Avantino, der durch die Verkehrung der Wahrheit (aus Schwarz wird Weiß) das gesunde Urteilsvermögen der Menschen unterhöhlt und über den Umweg der Kunst die Moralbegriffe aufzulösen beginnt; am Ende vernichtet die offenbar gewordene Magie ihren Meister; ins Maßlose übersteigerte Persiflage der Gesellschaft.
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Gustav Renker (1889–1967) Irrlichter. Seltsame Geschichten Neben Dämonisierungen der Natur und Bergwelt enthält der Band auch zwei einfühlsame, altertümliche Spukgeschichten »Die Musik des Mönches« und »Die Liebe des Junkers Cyrill« um Reinkarnation und eine Liebe, die Jahrhunderte überdauert. Ernst von Wolzogen (1855–1934) Lauensteiner Hexameron oder Die Geschichten der sechs Knasterbärte von hüben und drüben Das Treffen sechs alter Herren, die dem alten Brauch frönen, sich Spukgeschichten zu erzählen; nicht ohne Ironie vom Verfasser dargestellt; in »Ein unerhörter Fall«, der vertrackten Geschichte eines Körpers mit zwei Seelen, werden erstmals präzise die juristischen und moralischen Probleme des Phänomens erörtert.
1925 Roland Betsch (1888–1945) Der blinde Tod Symbolträchtiger, morbider Roman um den personifizierten Tod, der wie ein Maulwurf aus der Erde kriecht, angetan mit einer blauen Brille, und die Menschen beschleicht. Heinrich Stadelmann (1865–1948) Die Magie des Dr. Morinon Expressionistischer, psychologisch-phantastischer Roman mit gesellschaftsverachtender Tendenz, der mehr das Wesen der Menschen und Vorgänge als sie selbst schildert. Ein zu Unrecht verurteiltes Mädchen wird von Dr. Morinon entmaterialisiert und zu seiner Idealgefährtin umgeformt.
1926 Wilhelm Matthiessen (1891–1966) Das Totenbuch. Geheimnisvolle Geschichten Versponnene, esoterische, feinsinnige Geschichten um den Tod. Menschen kehren vom Tod unter den sonderbarsten Verwandlungen zu den Lebenden zurück oder treten auf andere Weise mit ihnen in Verbindung.
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Erwin Stranik (1898–1945) Koko Irregang Psychotischer Roman um eine Revolution des Eros in Österreich, in pulsierend knapper Sprache verfasst. Es wird geschildert, wie eine Samenzelle sich schon ihrer Sendung bewusst ist und seinen Gastgeber zum Geschlechtsakt treibt. So entsteht Koko, der im Folgenden eine Revolution des Eros in Österreich einleitet und auch als Finanzmagnat, Dichter und Komponist Gigantisches leistet. Heinz Stratz (1897–1941) Schemen und Schatten. Merkwürdige Geschichten Bizarrerien, Schrulligkeiten und Verzerrungen der Wirklichkeit in Geschichten von Familienflüchen, rachsüchtigen Geistern und rabiaten Selbstmördern.
1928 L. Andro (d. i. Therese Rie 1878–1934) Das Tier im Walde Raffiniert konzipierte Werwolf-Novelle, in der Aberglaube, Aufklärung und christliche Religion im Mittelpunkt stehen. Ein Forstinspektor, der einige Morde im Salzkammergut untersucht und nicht an das uralte heidnische Tier in den Wäldern glaubt, liegt falsch, die heidnischen Vertreter des Aberglaubens, für die der Werwolf eine Realität ist, werden bestätigt. Ludwig Huna (1872–1945) Hexenfahrt In altertümlichem Deutsch geschriebener Entwicklungsroman aus dem 16. Jahrhundert über die Läuterung eines jungen Mannes, der alle Anfechtungen des Teufels übersteht und lüsternen Hexen, Vampiren, Werwölfen und dem Teufel begegnet. Rudolf Schneider-Schelde (1890–1956) Der Frauenzüchter Düster-melancholischer und philosophischer Roman, der das Thema der Perfektionierung weiblicher Schönheit aufgreift, der Idealisierung der Weiblichkeit in grenzenloser, übermenschlicher Ästhetik, zuwege gebracht durch hypnotische Behandlung. Peregrinus Tyss (ungelöstes Pseudonym) Gorgyra Novellenband eines der verschrobensten Sonderlinge der deutschen Phantastik. Durch Hinweise auf Rosenkreuzer, Freimaurer und andere Geheimgesellschaften
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werden die Geschichten in einen esoterischen Nebel gehüllt. Herausragend in seiner Gelehrtheit und raffinierten Konstruktion ist der Kurzroman »Succubus«, ein krasses Pamphlet der Frauenfeindlichkeit. Hans Watzlik (1879–1948) Dämmervolk. Spukhafte Erzählungen In metaphernreicher, wuchtiger Sprache geschriebene Spukgeschichten, die auf das Sagengut des Böhmerwalds zurückgehen. Grausig, gewalttätig und blutig geht es zu unter dem Bauerngeschlecht, wo Zauberer, Alraunen und Wiedergänger ihr Unwesen treiben.
1929 Ludwig Tügel (1889–1972) Der Wiedergänger Quälend eindringlicher Roman um Tommy Schabeu, den Wiedergänger, der vom Licht der Totenwache angezogen wird, die Seele des Toten in sich aufnimmt und dessen Rolle übernimmt, bis auch die Frau des Toten unter der Erde liegt.
1930 Alfons Diener von Schönberg (1879–1936) Meister Magirus. Seltsame Geschichten Ein Band mit beachtlichen traditionellen Gespenstergeschichten, worunter »Renata« die eigenwillige Kombination von Gespensterhaftigkeit, Zeitreise und Reinkarnation in sich vereinigt. Hermann Wolfgang Zahn (1879–1965) Das Wallmüllerhaus Gespenstergeschichte und okkulter Mysterienroman, gleichzeitig psychologische Fallstudie eines materialistisch denkenden Gemütskranken, der seine inneren Ängste vor dem Jenseitigen überwindet.
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1933 Else Ernst (1874–1946) Das Spukhaus in Litauen. Seltsame Begebenheiten 26 wehmütig romantische Spukgeschichten aus vergangener Zeit, eingebettet in eine Rahmenerzählung. Else Ernst gibt keine Erklärung für das Übersinnliche. Sie begnügt sich mit Andeutungen und Symbolen.
1935 Julius Pupp (1886–1974) Freinacht. Roman des Zwischenreiches Umfangreicher philosophisch-phantastischer Roman um eine Reise ins Seelenreich, ein groteskes, kenntnisreiches Spiel mit den Paraphernalien der Philosophie, des Okkultismus, der Mythologie, der Geschichte und Literatur.
1936 Alexander Lernet-Holenia (1897–1976) Der Baron Bagge Der in einem Gefecht schwer verwundete Baron erlebt in einem Traumleben eine friedliche Idylle, während die Wirklichkeit mit ihrem tödlichen Grauen als phantastische Szenerie empfunden wird.
1939 Erich Kramer (1885–1968) Der Wolfsfreier und die Magd Ilsa Märchenhafte Erzählung aus dem Bauernmilieu um den Werwolf als teuflischen Versucher, in welcher die Verwandlung vom Mensch zum Wolf keine Rolle spielt; ebenso wenig findet man den Vollmond erwähnt, und es dienen auch keine Silberkugeln zur Abwehr des Wolfs. Conrad Lee (d. i. Friedrich Döhmel, Lebensdaten unbekannt) Zum Indischen Schiff Bizarrer phantastischer Kriminalroman um eine Geheimgesellschaft, deren Meister, der aus einer Irrenanstalt ausgebrochen war, weil er einem Mädchen die Augen aus dem Kopf geschnitten hatte, sich für Gott selbst hält.
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Rudolf Slawitschek (1880–1945) Hans Adam Löwenmacht Der phantastische Roman aus der Barockzeit beschwört ein Pandämonium von Geistern, Hexen, Sylphen und Gespenstern. Ein Gefühl der Verunsicherung und Ambiguität durchzieht den komplexen Roman durch die sinnverwirrende Verzahnung der Alltagswelt mit einer Spiegelwelt.
1948 Bruno Goetz (1885–1954) Der Punkt zwischen den Augen Vier anspruchsvolle Novellen um die metaphysischen Tiefen des Unerklärlichen mit einer Präferenz für die östliche Weisheit. Der Autor vermeidet es, eindeutig Stellung zu beziehen oder Erklärungsversuche zu offerieren. Heinrich Schirmbeck (1915–2005) Das Spiegellabyrinth Doppelbödige Novellen und schicksalhafte Metaphern aus den Grenzbereichen des menschlichen Daseins. Es geht vornehmlich um Realitäts- und Identitätsverlust, so bestimmt das Doppelgängermotiv die Titelgeschichte um zwei Zwillingsschwestern.
1949 Alexander von Bernus (1880–1965) Schloßlegende. Eine ungewöhnliche Begebenheit Romantische Geistergeschichte um das Zerbrechen einer Ehe. Der Nebenbuhler um die Gunst der Gattin ist der Geist eines Urahnen. Bei Bernus verbindet sich konservative Romantik mit der Skepsis des modernen Menschen zu einer schemenhaften, transzendentalen Atmosphäre des Unheimlichen, dargeboten in feinsinniger Sprache.
1951 Otto von Taube (1879–1973) Doktor Alltags phantastische Aufzeichnungen Kaum verschleierte persönliche Erfahrungen mit dem Übersinnlichen eines mystisch-esoterischen Erzählers, teils in einer Atmosphäre bizarrer Verfrem-
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dung. Kafkaeske Züge finden sich in »Die verworrene Stadt« und »Die Blumenausstellung«.
1953 Paul Anton Keller (1907–1976) Der Mann im Moor. Erzählungen aus Geheimnisland Atmosphärisch dichte traditionelle Spukgeschichten aus dem Adelsmilieu. Geschichten von Todeswarnungen, dem Tod als Arzt am Krankenbett, der Nachricht aus dem Jenseits etc. In manchen Erzählungen findet man eine Verbindung zwischen christlicher Doktrin und dem Walten des Übersinnlichen im täglichen Leben.
1968 Helmuth M. Backhaus (1920–1989) Das Stundenglas und andere unheimliche Geschichten Unterhaltsam ironische Gespenstergeschichten mit historischem Hintergrund. In »Messer Zaran« fährt ein Kunsthändler nach Venedig, um ein wertvolles Gemälde aus dem 18. Jahrhundert zu kaufen und gerät dabei an einen finsteren, untoten Alchimisten, der zur Herstellung der »prima materia« einigen Jungfrauen die Köpfe abschnitt.
1969 Herbert Rosendorfer (1934–2012) Der Ruinenbaumeister Verschachtelter Roman, der aus Geschichten in Geschichten besteht, die absurd und grotesk anmuten. Man begegnet Don Juan, Faust, Ahasver und zwei siamesischen Robotern.
1985 Patrick Süskind (*1949) Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders Roman aus dem Frankreich des 18. Jahrhunderts um einen Mann mit überfeinertem Geruchssinn, der Parfüme entwickelt, mit denen er die Menschen manipuliert. Doch dazu muss er töten.
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1995 Walter Brandorff (1943–1996) Quinters letzter Winter Makabrer Roman, dessen grausige Ingredienzen kaum zu überbieten sind, um ein Altersheim, in dem die Bewohner gequält und getötet werden. In den Kellern finden Schwarze Messen statt, bei denen die Toten wiederbelebt werden.
1997 Michael Siefener (*1961) Nonnen Komplex ambitionierte Novelle um einen Restaurator, ein Grabmal und das Geheimnis des Todes von vier Nonnen. Mehrere Erzählebenen sind hier ineinander verschachtelt und korrespondieren miteinander, wodurch eine Atmosphäre verstörenden Schreckens und der Unsicherheit entsteht.
2005 Andreas Gruber (*1968) Der Judas-Schrein Eine klaustrophobische Kriminalgeschichte aus einem abgelegenen, grauen Bergdorf, in dem es permanent zu regnen scheint. Im Fortschreiten nimmt die Geschichte monströse, apokalyptische Dimensionen an.
2012 Malte S. Sembten (1965–2016) Dhormenghruul Sembtens Leitgedanke in seinen Geschichten ist das Sterben und der Tod und die meist grausigen Wege, die dorthin führen. Seine Figuren haben selten einnehmende Züge und nehmen ein krasses, oft ekelerregendes Ende. Faktische Details sind stets gut recherchiert, während der Autor auf Charakterisierung seiner Figuren kaum Wert legt.
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Autorenindex Adlersfeld-Ballestrem, E.v. 1908, 1923 Andro, L. 1928 Apel, J.A. u. Laun, F. 1811 Arnold, I.F. 1800, 1801 Backhaus, H.M. 1968 Bechstein, L. 1854 Bergengruen, W. 1923 Bernus, A.v. 1949 Betsch, R. 1925 Birkenbihl, M. 1920 Brandorff, W. 1995 Brod, M. 1916 Bruns, M. 1913 Busson, P. 1919, 1921 Chamisso, A.v. 1814 Diener von Schönberg, A. 1930 Ernst, E. 1933 Ernst, P. 1900 Eßwein, H. 1912 Ewers, H.H. 1908, 1909, 1911 Flammenberg, L. 1792 Fouque, F.d.l.M. 1810, 1811, 1813 Frank, P. 1916, 1920, 1922 Freksa, F. 1920 Frey, A.M. 1913, 1914, 1920 Gabelentz, G.v.d. 1904, 1911 Gerstäcker, F. 1862 Goetz, B. 1948 Gotthelf, J. 1842 Grosse, C. 1791 Gruber, A. 2005 Günther-Schwerin, L. 1910 Hach, A. 1920 Heym, G. 1913 Heyse, P. 1894 Hoffmann, E.T.A. 1814, 1815, 1817, 1819 Huna, L. 1928 Kafka, F. 1916 Keller, P.A. 1953 Kramer, E. 1939 Kreidemann, F. 1921 Kubin, A. 1909 Lee, C. 1939
Leppin, P. 1914 Lernet-Holenia, A. 1936 Madsack, P. 1924 Matthiessen, W. 1926 Meinhold, W. 1847 Meyrink, G. 1903, 1915 Müller, R. 1921 Münzer, K. 1908, 1916 Mynona 1920 Naubert, C.B.E. 1788 Nisle-Klein, C. 1901 Otto, F. 1918 Panizza, O. 1890 Perutz, L. 1915, 1916, 1923 Poritzky, J.E. 1923 Possendorf, H. 1923 Pupp, J. 1935 Rauschnick, G.P. 1817 Renker, G. 1924 Richter, A.I. 1922 Rössler, H. 1921 Rosendorfer, H. 1969 Rosner, K. 1911 Schiller, F.v. 1788 Schirmbeck, H. 1948 Schlözer, K.v. 1885 Schmitz, O.A.H. 1902, 1915 Schneider-Schelde, R. 1928 Scholz, W.v. 1922 Seidel, H. 1900 Seidel, W. 1923 Sembten, M.S. 2012 Siber, J. 1922 Siefener, M. 1997 Slawitschek, R. 1939 Soyka, O. 1919 Spieß, C.H. 1791, 1792 Stadelmann, H. 1925 Stein, L. 1918 Stranik, E. 1926 Stratz, H. 1926 Strobl, K.H. 1901, 1904, 1910, 1917 Stugau, C. 1863
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Süskind, P. 1985 Tarnowski, L. 1842 Taube, O.v. 1951 Tieck, L. 1795, 1812 Tschink, C. 1790 Tügel, L. 1929 Tyss, P. 1928 Ungern-Sternberg, A.v. 1853, 1854 Vestenhof, A.H.v. 1913
Vulpius, C.A. 1826 Watzlik, H. 1928 Weber, V. 1787 Weisflog, C. 1824 Wildberg, B. 1894, 1910 Wohlbold, H. 1900 Wolzogen, E.v. 1924 Zahn, H.W. 1907, 1930
Wicked Games Affektive Potenziale phantastischer (Spiel-)Ra¨ume Markus May »Das Phantastische ist jene Dekonstruktion von Wirklichkeit im Medium von Kunst, in der sich das Religiöse in der einen oder anderen seiner Facetten konstituierend in die dekonstruierte säkulare Normalität einmischt, ohne sich als Religiöses zu offenbaren.« Marco Frenschkowski, Ist Phantastik postreligiös? Religionswissenschaftliche Beiträge zu einer Theorie des Phantastischen1 »Die Metaphysiker auf Tlön suchen nicht die Wahrheit, nicht einmal die Wahrscheinlichkeit: Sie suchen das Erstaunen. Sie halten die Metaphysik für einen Zweig der phantastischen Literatur.« Jorge Luis Borges, Tlön, Uqbar, Orbis Tertius2
»During the whole of a dull, dark, and soundless day in the autumn of the year, when the clouds hung oppressively low in the heavens, I had been passing alone, on horseback, through a singularly dreary tract of country; and at length found myself, as the shades of the evening drew on, within view of the melancholy House of Usher. I know not how it was – but, with the first glimpse of the building, a sense of insufferable gloom pervaded my spirit. I say insufferable; for the feeling was unrelieved by any of that half-pleasurable, because poetic, sentiment, with which the mind usually receives even the sternest natural images of the desolate or the terrible. I looked upon the scene before me – upon the mere house, and the simple landscape features of the domain – upon the bleak walls – upon the vacant eye-like windows – upon a few rank sedges – and upon a few white trunks of decayed trees – with an utter depression of soul which I can compare to no earthly sensation more properly than to the after-dream of the reveller upon opium – the 1
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Marco Frenschkowski, Ist Phantastik postreligiös? Religionswissenschaftliche Beiträge zu einer Theorie des Phantastischen, in: Clemens Ruthner/Ursula Reber/Markus May (Hrsg.), Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, Tübingen 2006, 31–51, 51. Jorge Luis Borges, Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, in: ders., Werke in 20 Bänden, Bd. 5. Fiktionen (Ficciones). Erzählungen 1939–1944. Hrsg. v. Gisbert Haefs u. Fritz Arnold. Übers. v. Karl August Horst, Wolfgang Luchting u. Gisbert Haefs, Frankfurt a. M. 1998, 15–34, 23.
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bitter lapse into every-day life – the hideous dropping off of the veil. There was an iciness, a sinking, a sickening of the heart – a unredeemed dreariness of thought which no goading of the imagination could torture into aught of the sublime. What was it – I paused to think – what was it that so unnerved me in the contemplation of the House of Usher? It was a mystery all insoluble; nor could I grapple with the shadowy fancies that crowded upon me as I pondered. I was forced to fall back upon the unsatisfactory conclusion, that while, beyond doubt, there are combinations of very simple natural objects which have the power of thus affecting us, still the analysis of this power lies among considerations beyond our depth. It was possible, I reflected, that a mere different arrangement of the particulars of the scene, of the details of the picture, would be sufficient to modify, or perhaps to annihilate its capacity for sorrowful impression; and, acting upon this idea, I reined my horse to the precipitous brink of a black and lurid tarn that lay in unruffled lustre by the dwelling, and gazed down – but with a shudder even more thrilling than before – upon the remodelled and inverted images of the grey sedge, and the ghastly tree-stems, and the vacant and eye-like windows.«3 Der erste Absatz von Edgar Allan Poes Erzählung »The Fall of the House of Usher« enthält in nuce eine ganze Reihe von Grundelementen, anhand derer sich zentrale Theoreme der Phantastik erschließen ließen, so z. B. die wirkungsästhetische Begründung des Phantastischen, die wahrnehmungspsychologische Komponente, der autoreflexive Gestus und die immanente Poetik, die Einbettung in historische Diskursparadigmen der Ästhetik, wie etwa der Aufstieg des Erhabenen als ästhetischer Kategorie, der an vielen unterschiedlichen Disziplinen partizipierende Melancholie-Diskurs und natürlich das für die Phantastik in gattungsgenetischer Perspektive wesentliche Moment des Schauers und der Schauerliteratur.4 Denn das Haus Usher – zumindest das aus Stein gebaute – partizipiert am Chronotopos5 der Schauerliteratur par excellence, dem Gothic Castle,6 wenngleich der Begriff »House« jedoch die im Zuge der Romantik und der Post-Romantik einsetzende Verbürgerlichung dieses Chronotopos indiziert. Die Entwicklung vom »Gothic Castle« zum »Haunted House« ist somit nicht zuletzt ein Indikator für so3
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Edgar Allan Poe, The Fall of the House of Usher, in: ders., Selected Tales. Hrsg. v. Julian Symons, Oxford 1980, 62–78, 62 f. Vgl. dazu die Beiträge in dem Band von Mario Grizelj (Hrsg.), Der Schauer(roman). Diskurszusammenhänge – Funktionen – Formen, Würzburg 2010. Zur Chronotopos-Theorie s. Michail M. Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hrsg. v. Edward Kowalski u. Michael Wegner. Aus dem Russischen v. Michael Dewey, Frankfurt a. M. 1989. Vgl. Markus May, Die Zeit aus den Fugen. Chronotopen der phantastischen Literatur, in: Clemens Ruthner/Ursula Reber/Markus May (Hrsg.), Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, Tübingen 2006, 173–187.
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zialhistorische Prozesse und diese begleitenden sozialpsychologischen Dispositionen, welche die phantastische Literatur in intensiver Weise ver- und bearbeitet. Was jedoch im Folgenden genauer untersucht werden soll – und hierfür gibt Poes Text ebenso ein mustergültiges Beispiel ab – ist der Zusammenhang von Raumkonstitution und den damit verbundenen affektiven Potenzialen, woran sich die dominant wirkungsästhetische Ausrichtung des Phantastischen in allen seinen medialen Ausprägungen – ob in der Literatur, der Malerei, dem Film, dem (Computer‐)Spiel etc. – in besonderem Maße erweist.7 Dabei zeigt sich, dass die aktive emotionale Partizipation des Rezipienten bzw. Spielers in der Phantastik stärker gefordert wird als in den meisten anderen ästhetischen Modi, wenn es denn zu gelingenden Rezeptionsakten bzw. Spielprozessen kommen soll. Wesentlichen Anteil an der affektiven Modellierung ästhetischer und ludischer Akte haben dabei die jeweiligen Raumentwürfe.8 Poes Text liefert auch in dieser Hinsicht ein besonders signifikantes Exempel, da schon am eben zitierten Beginn der Erzählung die Thematik von Raum und Wahrnehmung exponiert wird und in eine philosophisch wie psychologisch grundierte ästhetische Diskussion hinsichtlich der Wirkweise bestimmter Raumarrangements mündet. Diese selbstreflexive Geste, mit der sich der Autor durch den Erzähler der Geschichte als Kenner derjenigen Aspekte philosophischer Ästhetik zu erkennen gibt, die in besonderem Maße für die Konstitution des Schauer-Phantastischen maßgeblich sind, schreibt dem Text selbst eine doppelte Optik ein, die den Leser immer wieder auf den Erzähler als das wahrnehmende Medium rückverweist: Die textuelle Wahrnehmung des Rezipienten wird durch den Erzähler als homodiegetische und fixiert intern fokalisierende Narrationsinstanz gesteuert,9 weshalb der Rezipient keine strikte Trennung zwischen der dargestellten Welt im Sinne einer quasi ›objektiven Realität‹ und der durch den Erzähler gelenkten und mit spezifischen affektiven Parametern versehenen Darstellungs- und Deutungsweise dieser Welt vornehmen kann (denn mediale Zeichen sind, wie seit de Saussure, allerspätestens seit Derrida bekannt sein dürfte, weder reduzibel noch konvertierbar im Hinblick auf die materielle Welt).10 7
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Vgl. dazu Hans Richard Brittnacher, Art. Affekte, in: ders./Markus May (Hrsg.), Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2013, 514–521. Zum Raum als wesentlichem Strukturmoment phantastischer Gestaltung von Texten s. Stephan Berg, Schlimme Zeiten, böse Räume. Zeit- und Raumstrukturen in der phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1991. Zur narratologischen Terminologie s. Matías Martínez/Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, 63–67; 81 f. Vgl. Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Hrsg. v. Charles Bally u. Albert Sechehaye unter Mitwirkung v. Albert Riedlinger. Übers. v. Herman Lommel, Berlin/New York 2001, und Jacques Derrida, Grammatologie. Aus dem Französischen v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler, Frankfurt a. M. 1983.
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Letztlich stellt dies ein, wenn nicht gar das Kriterium fiktionaler Welten und Räume überhaupt dar, auf das die Phantastik in ihrer Spezifik als ästhetischer Modus nur in besonders ausgeprägter Form hinweist. Anders ausgedrückt: Es gibt im Text keine andere Wirklichkeit – und damit auch keinen anderen Raum bzw. keine anderen Räume – als die, die uns der Erzähler präsentiert.11 Daraus lässt sich keine ›quasi objektive Welt‹ bzw. kein ›quasi objektiver Raum‹ extrapolieren.12 Damit soll keineswegs geleugnet werden, dass deiktische, positionelle oder andere strukturelle und qualitative Eigenschaften des textuellen Raumentwurfs bestimmt werden können13 – nur eben die Möglichkeit einer absoluten Scheidung von ›objektiven‹ und ›subjektiven‹ Elementen in der Konstruktion des textuell konstituierten Raumes erweist sich als illusorisch. Raum in der Literatur ist immer ein komplexes dynamisches, auch Elemente der Zeit mit einschließendes Konstrukt, keine reine Nachahmung existenter, euklidisch beschreibbarer Wirklichkeitsräume im Sinne einer naiven mimetischen Transposition. So hat J. Hillis Miller die sprachperformative, evokative Funktion literarischer »Topographien« – so der Titel seines 1995 erschienenen Buches14 – hervorgehoben: 11
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Darauf gründen auch die »Realitätssysteme« bei Uwe Durst, Theorie der phantastischen Literatur. Aktual., korr. u. erw. Neuausgabe, Münster 2007, 92–103. Darauf verweisen letztlich alle Konzeptionen, den funktionalen Status von Raum in der Literatur zu beschreiben, von Lessing bis Lotman. S. dazu Sylvia Sasse, Literaturwissenschaft, in: Stephan Günzel, Raumwissenschaften, Frankfurt a. M. 2009, 225–241. In Lessings für die philosophische Reflexion über das Thema grundlegender Schrift »Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie« von 1766 wird gerade die Unbestimmtheit bzw. Unschärfe räumlicher Darstellung in der Literatur auf ihre mediale Verfasstheit als Präsentation einer Abfolge einzelner Zeichen zurückgeführt und als deren eigentliche Charakteristik als eine der Zeit verpflichtete Kunst im Gegensatz zur Raum-Kunst der Malerei gesehen, wie in dem berühmten Diktum zum Ausdruck kommt: »Es bleibt dabei: die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters, so wie der Raum das Gebiete des Malers« (Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: ders., Werke in drei Bänden, Bd. 3. Geschichte der Kunst. Theologie. Philosophie. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert, Jörg Schönert u. Karl S. Guthke, München/Wien 2003, 9–188, 117). Bei Lotman wird die Bindung des Raumes an das Sujet vor allem durch semantische Grenzüberschreitungen markiert, die ihrerseits sich als Ereignisse manifestieren und zumindest z. T. an Figuren rückgebunden sind. Vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte. Übers. v. Rolf-Dietrich Keil, München 1993, 311–347. So lässt sich z. B. innerhalb der Theorie der fiktionalen Welten im Anschluss an Leibniz’ Theorie der »möglichen Welten« der Status der dargestellten Welt anhand ihrer Eigenschaften bestimmen, d. h. ob es sich um eine stabile oder instabile, uniregionale oder pluriregionale, stabile oder instabile, mögliche oder unmögliche (d. h. logisch in sich widersprüchliche) Welt handelt. Vgl. Martínez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie (s. Anm. 9), 123–134. J. Hillis Miller, Topographies, Stanford CA 1995.
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»Die Topographie eines Ortes ist nicht etwas, das es schon gäbe und darauf wartete, in einem konstativen Sprechakt beschrieben zu werden. Sie wird, in einem performativen Sprechakt, gemacht, mit Wörtern und mit anderen Zeichen, beispielsweise mit einem Lied oder einem Gedicht.«15
Die affektive Wirkung, die beim Rezipienten hervorgerufen werden soll, ergibt sich aus den emotionslenkenden Elementen und Effekten, die in histoire und discours gestaltet sind, denn sie sind Teil des textuellen Spiels, bei dem der Leser eine aktivierende Rolle hinsichtlich der Wirkungspotentiale und ihrer Dynamik einnehmen muss. So ist es in Poes Erzählung eine ins Depressive gesteigerter Melancholie, welche die Landschaft und das Haus Usher regelrecht ausstrahlen, da der Erzähler hier die Wirkung der Landschaft und des Hauses auf sein Gemüt keineswegs seiner eigenen psychischen Disposition zuschreibt, sondern sie vielmehr als Eigenschaften des Raums reklamiert, was ja der kleine Exkurs in philosophischer Ästhetik andeutet. Gleichwohl lässt sich eine strikte Unterscheidung zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und seinen Wahrnehmungsobjekten auf der Ebene der Textvorgänge nicht vornehmen, womit Poe schon spätere Entwicklungen des Empiriokritizismus und der Phänomenologie antizipiert, in denen der Wahrnehmungsakt mit seinen Interrelationen, das Verhältnis von Noesis zu Noema betreffend, an die Stelle des alten Subjekt-Objekt-Schemas der klassischen idealistischen Philosophie tritt. Letztlich bedingen diese Ununterscheidbarkeiten hinsichtlich des ontologischen Status der Elemente der Diegesis den ja von Tzvetan Todorov und seinen Adepten, von Marianne Wünsch bis Uwe Durst, postulierten Effekt der »hésitation«, der »Unschlüssigkeit«, welcher für diese Vertreter der minimalistischen Variante des Phantastik-Begriffs entscheidend ist.16 Bevor die phänomenologische Linie weiter vertieft werden soll, muss noch kurz auf die weiteren Aspekte der Konstitution von Räumlichkeit und Zeichen in Poes Erzählung hingewiesen werden, die sich auf jene expositorischen Bemerkungen zu Beginn des Texts rückbeziehen lassen. Hierbei ist evident, dass in der Mehrdeutigkeit des Begriffs »House Usher« eine Verräumlichung des Zeichens selbst steht, indem der Signifikant auf mehrere Signifikate beziehbar ist, nämlich sowohl auf das Gebäude als auch auf die
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Ders., Die Ethik der Topographie. Übers. v. Robert Stockhammer, in: ders. (Hrsg.), TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München 2005, 161–196, 183. Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur. Übers. v. Karin Kersten, Senta Metz u. Caroline Neubaur, Berlin 2013, 41 f.; Marianne Wünsch, Die fantastische Literatur der frühen Moderne (1890–1930). Definition – Denkgeschichtlicher Kontext – Strukturen, Paderborn 1991, 55–57; Durst, Theorie (s. Anm. 11), 116.
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Familie Usher.17 So wird das Haus selbst mit seinen augengleichen Fenstern (»eye-like windows«) anthropomorphisiert. Der Körper der Frau, Madeline Usher, die Zwillingsschwester Rodericks, wird nach ihrem vermeintlichen Ableben, der eine Phase der zunehmenden »Deanimation« vorausging,18 in einen »vault«19 in den tiefsten Tiefen des Hauses von den beiden Männern, ihrem Bruder und dem Erzähler, verbracht. Die Hypostasierung und vermeintliche Bändigung weiblicher Bedrohung erfolgt damit symbolisch in einer Form der vagina dentata – in psychologisch signifikanter Umkehrung des männlichen Angstphantasmas – als dezidiert gynophagem Raum. Hieran lassen sich die subversiven Machinationen des Imaginären, typisch für den Modus des Phantastischen,20 besonders markant nachvollziehen. Entsprechend der zweiten, genealogischen Bedeutung von »House Usher« wird dadurch der Körper der Frau zu einem (schein‐)toten Raum, der in Analogie zum leblosen, bedrückenden und dem Verfall anheimgegebenen Raum des Gebäudes steht. Ort des Beginns des »Spuks«, d. h. der sich ankündigenden Wiedergängerin Madeline Usher, ist die Bibliothek; d. h. derjenige Raum im Gebäude des Hauses Usher, der für die mortifizierende Wirkung einer übermächtig angehäuften Vergangenheit einsteht – man denkt hier unwillkürlich an Nietzsches pessimistische kulturkritische Diagnose in »Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«, der zweiten seiner »Unzeitgemäßen Betrachtungen«.21 Die Bibliothek repräsentiert die Dominanz der arbiträren, unorganischen Ordnung der toten Zeichen.22 Sie ist der Ort der von Michel Foucault konstatierten 17
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Zur symbolischen Bedeutung der Räume und Interieurs bei Poe s. Karl-Heinz Reßmeyer, Interieur und Symbol. Zum Phantastischen im Werk E.A. Poes, in: Christian W. Thomsen/Jens Malte Fischer (Hrsg.), Phantastik in Literatur und Kunst, Darmstadt 1980, 150–169. Vgl. Elisabeth Bronfen, Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. Übers. v. Thomas Lindquist, München 1994, 170. Für Bronfen, deren Überlegungen zu Poe einen Kernpunkt ihrer Argumentation bilden, ist die »Deanimation der Frau« durch die Darstellung der weiblichen Leiche der Angelpunkt einer männlichen Bemächtigungsphantasie des Weiblichen mit den Mitteln der Kunst. Poe, Fall of the House of Usher (s. Anm. 3), 72. Für eine solche das subversive Potenzial akzentuierende Konzeptualisierung des Phantastischen im Gefolge der psychoanalytischen Modellierungen Jacques Lacans s. Rosemary Jackson, Fantasy: The Literature of Subversion, London/New York 2000. Vgl. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 1. Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I ‒ IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Neuausgabe, München 1999, 243–334. Zur Phantasmatik der Schrift und der Zeichen in der phantastischen Literatur s. Renate Lachmann, Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, Frankfurt a. M. 2002, 195–237.
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Obsession des 19. Jahrhunderts für die Vergangenheit, die im damals dominanten epistemologischen Modus des Historismus seine prägende wissenschaftliche und künstlerische Ausformung erhalten hat.23 Foucaults These, die Phantastik sei seit dem 19. Jahrhundert ein »Bibliotheksphänomen« geworden, das sich in der Wiederholung der toten Zeichen und in ihren Zwischenräumen manifestiere, bestätigt Poes Erzählung aufs Eindringlichste.24 Die Wirkung des Revenant-Spuks25 geschieht bezeichnenderweise auf die Gemeinschaft zweier einen alten Text mit dem sprechenden Titel »Mad Trist« lesender Männer hin – ein Emblem der Unfruchtbarkeit, Sterilität schlechthin (denn, um es mit William Harvey zu sagen: ex ovo omnia). Roderick Usher, als der letzte seines kinderlosen Geschlechts, manifestiert durch den Raum seines Körpers den Endpunkt der Genealogie; als der Körper seiner Zwillingsschwester auf den seinen stürzt, stirbt er, »a victim of the terrors he had anticipated«26 – was eine der Sinnzuweisungen des Titels »The Fall of the House of Usher« indiziert. Darauf stürzt auch das Gebäude über den beiden zusammen. Genealogischer und architektonischer Raum des Hauses Usher fallen ineinander, gemäß der Insinuation des sprechenden Namens Usher (engl. »to usher out«, »hinausbegleiten«, »hinauskomplimentieren«). Doch damit ist den Dynamiken der Zeichen-Räume, dem Beziehungsreichtum ihrer inneren Dialogizität (im Sinne Bachtins und Kristevas)27 noch nicht genüge getan, wie ein weiterer Blick auf den Titel »Fall of the House of Usher« indiziert: »fall« meint im Englischen – wie jeder Leser John Miltons oder Laurence Sternes weiß – unter einer Vielzahl anderer Bedeutungen auch den Sündenfall in der Genesis, wodurch auf die eingebildete oder doch ausagierte inzestuöse Beziehung Rodericks zu seiner 23
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So heißt es, mit deutlichen sarkastischen Anklängen an Nietzsche, bei Foucault: »Die große Obsession des 19. Jahrhunderts ist bekanntlich die Geschichte gewesen: die Entwicklung und der Stillstand, die Krise und der Kreislauf, die Akkumulation der Vergangenheit, die Überlast der Toten, die drohende Erkaltung der Welt. Im Zweiten Grundsatz der Thermodynamik hat das 19. Jahrhundert das Wesentliche seiner mythologischen Ressourcen gefunden« (Michel Foucault, Andere Räume, in: Jan Engelmann [Hrsg.], Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader. Diskurs und Medien, Stuttgart 1999, 145–157, 145). Michel Foucault, Une »fantastique« de bibliothèque, in: ders., Schriften zur Literatur. Übers. v. Karin von Hofer u. Anneliese Botond, Frankfurt a. M. 1993,157–177. Zur Figur des Revenants s. Hans Richard Brittnacher/Markus May, Art. Revenant/ Doppelgänger, in: dies. (Hrsg.), Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2013, 466–472. Poe, Fall of the House of Usher (s. Anm. 3), 78. Vgl. Michail M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs. Übers. v. Adelheid Schramm, München 1971, und Julia Kristeva, Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, in: Jens Ihwe (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 3. Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II, Frankfurt a. M. 1972, 345–375.
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Schwester angespielt ist. Damit eröffnet der Text auch einen theologisch-mythologischen Raum, d. h. er öffnet sich in intertextueller und kulturdiskursiver Hinsicht hin auf den sakral-mythischen Raum (sowie die eschatologische Zeitordnung) des primordialen jüdisch-christlichen Grundmythos zur Erklärung der conditio humana – Eva stammte bekanntlich aus Adams Rippe (Gen 2,22), d. h. sie war mit ihm verwandt, was auf eine letztlich endogame Beziehung hindeutet, die das Verhältnis der Zwillinge Roderick und Madeline Usher in einer Art »Postfiguration« zum eigentlich inzestuösen Akt steigert. »Usher« bezeichnet neben einer allgemeinen »Aufsichtsperson« auch einen »Türhüter« oder »Gerichtsdiener«,28 wodurch hier der biblische Grundmythos zum eschatologischen Endzeitmythos umgeformt wird, allerdings unter Eliminierung des messianischen Heilsversprechens – Sündenfall und Jüngstes Gericht erscheinen so in eins gesetzt. Was bleibt, ist der mit theologischem Furor inszenierte Schrecken – »terror«.29 Man fühlt sich an Lars Gustafssons Diktum erinnert, wonach die Phantastik »die kälteste aller ästhetischen Klimazonen«30 darstelle, da sie eine gänzlich pessimistische, dem Menschen gegenüber feindlich-befremdliche Weltsicht repräsentiere. Mit derartigen, durch narrative Dynamiken bewirkten Öffnungen des Raums hinsichtlich seiner intertextuellen und kultursemiotischen Tiefendimensionen gerät der Text als variables, bewusst auf Ambiguitäten und Vieldeutigkeiten angelegtes Zeichensystem (auch dies eine Signatur des Phantastischen)31 selbst zum Spielraum, der die aktive Partizipation des Rezipienten fordert, wenn denn möglichst viele, um nicht zu sagen alle Bedeutungs- und Bezugshorizonte – analog zu den Zimmern des Hauses – ›betreten‹, gesichtet und erschlossen werden sollen.32 Wenngleich hier nicht die Kriterien erfüllt werden, die Espen J. Aarseth 28
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S. Langenscheidts Handwörterbuch Englisch. Neubearb. v. Heinz Messinger, Berlin u. a. 1988, 703. Dies entspricht ganz der wirkungsästhetischen Poetik Poes, die auf das Erzielen einer durchgängigen und einheitlichen affektiven Reaktion beim Leser ausgerichtet ist, der sich auch das Setting unterzuordnen hat, wie Poe selbst dies an seinem Gedicht »The Raven« illustrierte. Vgl. Edgar Allan Poe, The Philosophy of Composition, in: Nina Baym u. a. (Hrsg.), The Norton Anthology of American Literature, New York/London 21986, 593–602. Lars Gustafsson, Über das Phantastische in der Literatur. Ein Orientierungsversuch, in: ders., Utopien. Essays. Übers. v. Hanns Grössel u. Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt a. M. u. a. 1985, 9–25, 24. Vgl. Jürgen Lehmann, Phantastik als Schwellen- und Ambivalenzphänomen, in: ders./ Christine Ivanović/Markus May (Hrsg.), Phantastik – Kult oder Kultur? Aspekte eines Phänomens in Kunst, Literatur und Film, Stuttgart/Weimar 2003, 25–40. Bei der durch solche Bedeutungspluralisierung hervorgerufenen Mehrdimensionalität der Räume können auch theologische, philosophische oder anderweitig kulturell präformierte symbolische Raumkonzepte textuell aufgerufen werden. So hat Eva Markvartová
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für sein Konzept einer »ergodic literature« als Ausdruck einer interaktiven Ästhetik formuliert hat,33 so entspricht der Text doch in hohem Maße einer Literatur, bei der der Leser vor die Wahl von alternativen, sich ausschließenden oder auch ergänzenden Sinnzuweisungen gestellt wird, was eine aktive Rezeptionshaltung bedingt. In diesem Sinne bestätigt sich hier auch Roland Barthes berühmte These, der Leser, und nicht der Autor, sei der Garant für die Konzentration der intertextuellen Stimmenvielfalt, der Raum, in dem sich alle Spuren sammeln: »Der Leser ist der Raum, in den sich sämtliche Zitate, aus denen das Schreiben besteht, einschreiben, ohne daß nur ein einziges verlorenginge; die Einheitlichkeit eines Textes liegt nicht an seinem Ursprung, sondern an seinem Bestimmungsort […].«34
Nach dieser kurzen Skizze hinsichtlich der komplexen Verschachtelung der diversen Konzeptualisierungen von Raum in der Erzählung »The Fall of the House of Usher« sollen nun wie angekündigt wieder einige Aspekte der phänomenologischen Linie bei der Diskussion der Raumproblematik und ihrer affektiven Momente verfolgt werden. Gerade die phänomenologischen Ansätze räumen der affektiven Komponente bei der Wahrnehmung einen höheren Stellenwert als andere philosophische Denkschulen ein. Neben Gaston Bachelards Projekt einer »Topophilie«, die er in seiner »Poetik des Raumes« verfolgt,35 wären hinsichtlich einer die affektiven Besetzungen des Raums im Wahrnehmungszusammenhang exponierenden Theorie die Schriften des deutschen Philosophen Hermann Schmitz zu nennen. Wie Bachelard interessieren Schmitz eher die Mikro- als die Makroräume. Zu einem durch die Kultur und ihre symbolischen Formen geprägten »Orientierungsraum« tritt Schmitz zufolge ein »Gefühlsraum« hinzu, den Hartmut Böhme wie folgt umreißt: »So weisen Angst, Schwermut, Heiterkeit oder Zorn völlig verschiedene räumliche Atmosphären und Formen auf. Das Missverständnis, dass Gefühle seelisch seien, widerspricht dem Befund, wonach Gefühle räumliche, in sich gegliederte und analysierbare Atmosphären sind, die freilich in Abhängigkeit zu kulturellen Deutungsmustern
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anhand der Romane Gustav Meyrinks aufgezeigt, wie die konkreten Handlungsräume der Texte durch alchemistisch geprägte Topographien und Topologien überlagert werden. S. Eva Markvartová, Der alchemistische Innenraum oder: Die mehrdimensionale Topographie in Gustav Meyrinks Romanen, in: Christine Lötscher u. a. (Hrsg.), Übergänge und Entgrenzungen in der Phantastik, Wien/Zürich/Berlin 2014, 85–104. Vgl. Espen J. Aarseth, Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature, Baltimore MD 1997. Roland Barthes, Der Tod des Autors, in: ders., Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV. Übers. v. Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 2006, 57–63, 63. Vgl. Gaston Bachelard, Poetik des Raumes. Übers. v. Kurt Leonhard, Frankfurt a. M. 1987.
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historisch verschiedene Auslegungen erfahren: als Götter, auratische Strahlungen, mächtige, nicht lokalisierbare Einflüsse, Stimmungen von Dingen, Landschaften, Tonfolgen oder Bildern. Gefühle sind, wiewohl subjektiv gespürt, durchaus objektiv: Das erst macht sie kommunizierbar und damit kulturell modellierbar. Das Alphabet der Gefühle wird an den räumlichen Dynamiken der leiblichen Regungen und an den raumatmosphärischen Affektmächten erworben und kulturell ausdifferenziert. Hier ist der mikroskopische Raum des Leibes die ›Urzelle‹, aus der in der longue durée – über Prozesse der Distanzierung oder Aneignung, der Interiorisierung oder Exteriorisierung, der Verkörperung (embodiment wie auch incorporation) oder der Abstraktion – die Modelle des Räumlichen gewonnen werden mit denen Kulturen ihre Ordnungen organisieren: vom Eros über die personale Kommunikation bis zum Rechtsraum oder dem göttlichen Raum (Schmitz 1967ff.).«36
Auch für dieses theoretische Konzept stellt Poes Erzählung ein dankbares Exempel dar, da, wie gezeigt worden ist, deren Beginn ja eine untrennbare Verbindung von Raumatmosphäre und affektiver Gestimmtheit des wahrnehmenden Subjekts erzählerisch vorführt. Der Schmitz’sche »Gefühlsraum« ist wieder in kultureller Hinsicht strukturbildend, d. h. er bildet sich in den unterschiedlichen räumlichen Ordnungsstrukturen ab. Im Umkehrschluss können in der medialen Gestaltung von Räumen diese affektiven Potenziale jeweils wieder aufgerufen und für unterschiedliche Wirkungs- oder Motivationsintentionen benutzt werden. Dies gilt für Werke der Literatur oder der bildenden Kunst ebenso wie für Film oder Spiel – und in besonderem Maße für das Computerspiel, da dort der Handlungsraum völlig in medialer Gestaltung vorliegt –, anders als etwa beim Life-Role-Play oder beim Brettspiel, bei denen die Imagination des Spielers die nötigen Ergänzungen hinsichtlich der fiktionalen ›Wirklichkeiten‹ vornehmen muss, um die für das Eintauchen in diese Welten nötige Illusion zu vervollständigen.37 Denn letztlich ist das Ziel der ästhetischen Gestaltung und bestimmend für Wirkungseffekte und -faktoren, die beim Rezipienten bzw. Spieler erreicht werden sollen, ein hoher Grad von emotiver Affiziertheit und eine weitgehende Immersion. Auch im Computerspiel ist die Modellierung des Raums von größter Relevanz für den Grad und die spezifischen Qualitäten der Immersion:38 So benötigt die reine Tätigkeit des Bewegens des Joysticks und des Drückens des Abzugsknopfes auch in einem spielerischen Kontext (der nicht immer, aber bei den meisten Spielen narrativ – und sei es auch nur die sequenzielle Verknüpfung ver36
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Hartmut Böhme, Kulturwissenschaft, in: Stephan Günzel (Hrsg.), Raumwissenschaften, Frankfurt a. M. 2009, 191–207, 194. S. dazu Tim Rittmann, MMORPGs als virtuelle Welten. Immersion und Repräsentation, Boizenburg 2008. Zu Raumkonzeptionen im Computerspiel s. umfassend Stephan Günzel, Egoshooter. Das Raumbild des Computerspiels, Frankfurt a. M. 2012.
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gleichbarer »Aufgaben« auf einem zweidimensional angelegten Weg, wie etwa bei den frühen Versionen von »Super Mario« – angelegt sein muss) gewisse ästhetisch gestaltete Motivationselemente, die durch das spezifische Setting bereitgestellt werden. Die zunächst vorhandenen technischen Gegebenheiten der Hardware, die im Verbund mit der jeweiligen Programmstruktur des Spiels, der Spielmechanik, zu einem äußerst beschränkten Repertoire an manuellen Tätigkeiten animieren, die der User ausführen muss, um zu reüssieren, brauchen in der ästhetischen Tiefenstruktur des Games eine komplementäre Form visuell apperzipierbarer Gestaltung – kurz: einen Wahrnehmungs- und Handlungsraum. Die Orientierung des Menschen verläuft dominant in räumlichen Strukturen; Raum ist eine elementare perzeptive und kognitive Kategorie, sei es in der Wirklichkeit, sei es in Fiktionen oder in Computerspielen, weshalb der dänische Spielforscher und -theoretiker Jesper Juul in seinen Überlegungen zu Möglichkeiten der Abstraktion in der Darstellung bei Computerspielen »Space« als »The Unabstractable« bezeichnet hat.39 Die Immersionspotenziale eines Computerspiels hängen nicht zuletzt von den Qualitäten des virtuellen Raums ab, in dem sich der Gamer bewegt, wobei ein wesentlicher Aspekt im Faszinationsmoment des Eintauchens in eine andere, aber in sich ästhetisch überzeugende Welt liegt. Die affektiven Besetzungen können dabei von heimisch-vertraut (wie in der AlltagsSpielwelt der »Sims«) bis zu schockierend-verstörend (etwa in der post-apokalyptischen Welt von »Metro«) reichen, tragen aber in jedem Fall nicht wenig zum Erfolg dieser Spiele beim Publikum bei. Dies ist ein Grund, weshalb dem »World Building« im Bereich der Entwicklung von Computerspielen ein zunehmend wichtigerer Stellenwert eingeräumt wird. Ein eindrucksvolles jüngeres Beispiel ist das am 9. September 2014 veröffentlichte Open-World-Spiel »Destiny«, das mit ca. 500 Millionen Dollar geschätzten Produktionskosten bislang teuerste Computerspiel,40 bei dem ein Großteil der Entwicklungsgelder in die Realisierung der interplanetarischen Welten geflossen sein dürfte. Daher würde es sich für eine weitere wissenschaftliche Erforschung des Mediums Computerspiel lohnen, die Zusammenhänge zwischen Raumgestaltung und Affektmodellierung genauer in den Blick zu nehmen. Und dies sollte sinnvollerweise in interdisziplinären Modellbildungen erfolgen, die Ansätze der Game Studies, der Literaturwissenschaft, der Philosophie, der Psychologie und auch der Theologie miteinander verbinden, da in einzelnen Disziplinen, wie paradigmatisch zu zeigen versucht wurde, bereits nützliche Tools und anschlussfähige Konzepte vorhanden sind. 39
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Jesper Juul, On Absent Carrot Sticks. The Level of Abstraction in Video Games, in: MarieLaure Ryan/Jan-Noël Thon (Hrsg.), Storyworlds across Media. Toward a Media-Conscious Narratology, Lincoln/London 2014, 173–192, 188. S. Matthias Huber, Das teuerste Computerspiel der Welt, in: Süddeutsche Zeitung, 05. 09.2014, https://www.sueddeutsche.de/digital/destiny-das-teuerste-computerspielder-welt-1.2117606 (Stand: 25. 09.2019).
Konative Funktion und realita¨tssystemische Strukturen in der TV-Warenwerbung Claudia Bath/Uwe Durst
Die Dominanz der konativen Funktion zeitigt in der TV-Warenwerbung eine Reihe realitätssystemischer Konsequenzen, die in Texten, in denen das Wunderbare eine Rolle spielt, besonders auffällig sind. Der Fiktionsaspekt des Spots wird zugunsten der Konativität durch Verfahren künstlicher Konnotationsbildung, die die Ware mit dem Wunderbaren verbinden, bagatellisiert. Die Aktivierung der evozierten Welt durch das Wunderbare demonstriert die realitätsverändernde Macht der Ware, die zur Omnipotenz tendiert. Der angestrebten geistigen Inaktivität des Rezipienten entsprechen Verfahren der schwachen oder fehlenden intratextuellen Markierung des Wunderbaren und die Bevorzugung bestimmter realitätssystemischer Formeln.
I. Werbung ist keine Kunst, denn die dominante Sprachfunktion des Werbetexts ist nicht poetisch (oder ästhetisch), sondern konativ. Im Zentrum steht nicht die Botschaft um ihrer selbst willen (etwa in der Alliteration, durch die der Slogan »Milch macht müde Männer munter«1 die paradigmatische auf die syntagmatische Achse projiziert),2 sondern schlicht die Aufforderung, das beworbene Produkt zu kaufen. Werbung gebraucht zwar künstlerische Verfahren, die aber nur dienende Aufgaben wahrnehmen; die poetische ist der konativen Funktion subordiniert.3 1 2
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Werbeslogan der deutschen Milchwirtschaft, 1950er Jahre. Vgl. Roman Jakobson, Linguistik und Poetik, in: ders., Poetik: Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hrsg. v. Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert, Frankfurt a. M. 21989, 83– 121, 94. Jakobson, Linguistik und Poetik (s. Anm. 2), 93. Die Versicherungen des Werbefachmanns Michael Schirner sind demgegenüber eher geeignet, den Minderwertigkeitskomplex der Werbebranche zu entblößen. Schirner erklärt u. a. in einem Interview der
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Unter dieser Voraussetzung greift Werbung häufig auf den Gegensatz zwischen realistischen und wunderbaren Realitätssystemen4 zurück, der in der Literatur Anfang des 18. Jahrhunderts entstanden ist.5 Aktualisiert Werbung die Dichotomie, wird das beworbene Produkt für gewöhnlich dem Paradigma des Wunderbaren zugeordnet. Bei den im Folgenden untersuchten TV-Werbefilmen des bundesdeutschen6 Fernsehens handelt es sich um geschehensdarstellende Texte, sodass sich, wie in der Erzählliteratur, prinzipiell alle Möglichkeiten realitätssystemischer Mobilität zwischen einer Normrealität (reguläres System R) und einer Abweichungsrealität (wunderbares System W) eröffnen.
Abb. 1: Das realitätssystemische Spektrum
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FAZ 1987, dass Werbung sehr wohl Kunst sei, und begründet dies damit, dass sie »heute die Funktion übernommen« habe, »die früher die Kunst hatte: die Vermittlung ästhetischer Inhalte ins alltägliche Leben«. Die moderne Kunst sei hierzu nicht mehr in der Lage, sie finde »unter Ausschluss der Öffentlichkeit« statt, Tilman Schirner, Werbung ist Kunst, in: Tilman Baumgärtel, Texte zur Theorie der Werbung, Stuttgart 2018, 267–271, 268. Man könnte mancherlei zur Zugänglichkeit und ›Alltäglichkeit‹ von Kunst in vergangenen Zeiten und der Gegenwart einwenden, und selbst wenn Werbung Verfahren, die in der Kunst entwickelt worden sind, aufgreift und automatisiert, ja sogar, wenn man der These zustimmen sollte, dass Werbung eigene künstlerische Verfahren entwickelt habe, wird hierdurch die strukturelle Dominanz der konativen Funktion nicht widerlegt. Schirners Loblied auf die Werbung ist ebenso unsinnig wie atemberaubend: »[… U]ns ist einiges gelungen, was den Werken der Kunst-Künstler überlegen ist«, prahlt er. »[… D]ie kreative Kraft der Werbefilme [ist] größer […] als die normaler Spielfilme. Hundert Werbefilme haben hundert Ideen. Ein Spielfilm nur ein paar« (ebd.). Als Realitätssystem wird im Folgenden das System der Gesetze bezeichnet, die in einer Diegese gelten. Vgl. hierzu: Uwe Durst, Theorie der phantastischen Literatur. Aktualis., korr. u. erw. Neuausgabe, Berlin 22010, 79–116. Dies bedeutet übrigens nicht, dass es keine Vorläufer gegeben hat, etwa im Werk Shakespeares zu Beginn des 17. Jahrhunderts: »There are more things in heaven and earth, Horatio,/Than are dreamt of in your philosophy« (William Shakespeare, Hamlet, Akt I,5, V. 167 f., in: Ann Thompson/Neil Taylor [Hrsg.], The Arden Shakespeare, London 2006, 225). Die Beschränkung auf das bundesdeutsche Fernsehen ist im Wesentlichen durch Fragen der Zugänglichkeit und Textkenntnis bedingt.
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Die Normrealität ist, sowohl in der künstlerischen Literatur als auch in der Werbung, zumeist7 realistischen Typs, die Abweichungsrealität hingegen wunderbar. Im Phantastischen ist der implizierte Rezipient (aufgrund einer Destabilisierung der Erzähl-8 bzw. Präsentationsinstanz) nicht in der Lage festzustellen, ob ein R- oder ein W-System vorliegt.9 Das Phantastische stellt ein reguläres Realitätssystem durch ein zweites, wunderbares Realitätssystem in Frage, ohne es zu überwinden. So lässt es sich exakt in der Spektrumsmitte lokalisieren, wo im gegenseitigen Ausschluss von R und W ein gültiges Realitätssystem nicht formuliert werden kann (Nichtsystem N). In der Auseinandersetzung von R und W ist die realistische Konvention zur Differenzerzeugung entweder nur intertextuell aktiv oder wird auch intratextuell mit der Markierung der realitätssystemischen Grenzüberschreitung aktiviert. Den ersten Fall manifestiert die Literatur beispielsweise im Volkszaubermärchen. Das sprechende Tier wird innerhalb des Texts nicht als Verstoß gegen eine realitätssystemische Ordnung ausgewiesen, sondern ist lediglich durch seine implizite Differenz zur realistischen Konvention in seiner Wunderbarkeit erkennbar: »Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. […] ›Guten Tag, Rotkäppchen‹, sprach er. ›Schönen Dank, Wolf.‹ ›Wo hinaus so früh, Rotkäppchen?‹ – ›Zur Großmutter.‹«10
Der zweite Fall liegt in Stokers Roman »Dracula«11 (1897) vor, der zunächst eine realistische Realität evoziert, um sodann mit der Entdeckung, dass es Vampire gibt, die Ungültigkeit des R explizit festzustellen und die realitätssystemische Position des Texts auf die W-Seite des Spektrums zu verlagern. Mithin können zwei Arten von Texten unterschieden werden, nämlich realitätssystemisch immobile Texte, die ihre spektrale Position über das gesamte 7 8 9
10
11
Zu wunderbaren Normrealitäten s. Abschnitt IV. S. Durst, Theorie (s. Anm. 4), 185–201. In Hawthornes Kurzgeschichte »Young Goodman Brown« (1835) beispielsweise bleibt der implizierte Leser unschlüssig, ob der Held dem Teufel tatsächlich begegnet ist oder nur von ihm geträumt hat, Nathaniel Hawthorne, Young Goodman Brown, in: ders., The Centenary Edition of the Works of Nathaniel Hawthorne, Bd. 10. Hrsg. v. William Charvat/Roy Harvey Pearce/Claude M. Simpson, Columbus OH 1974, 74–90. Nähere Erläuterungen hierzu s. Durst, Theorie (s. Anm. 4), 44 f.; 118; 260. »Rotkäppchen« (1812), in: Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage (1837). Hrsg. v. Heinz Rölleke, Frankfurt a. M. 1999, 133–137, 134. Bram Stoker, The Annotated Dracula. Einführung, Anmerkungen und Bibliographie v. Leonard Wolf. Mit Karten, Zeichnungen und Photographien, New York 1975.
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Syntagma beibehalten (z. B. der realistische Roman, das Volkszaubermärchen), und realitätssystemisch mobile Texte, die ihre Position ändern. Ein Text kann in jeder der drei spektralen Positionen beginnen und die eigene Verortung beliebig oft wechseln. Als Beispiel sei ein Werbefilm der Firma Henkel angeführt: 00:08–00:12 Zwei Frauen unterhalten sich beim Aufhängen der Wäsche. Frau A: »Du, ich krieg’ dieses schmutzige Grau einfach nicht raus.« Frau B: »Wetten, dass?« Frau A: (Zweifelnd.) »Na …«
00:13–00:15 Frau B: (Ruft.) »Weißer Riese!«
00:16–00:19 Der Weiße Riese eilt herbei.
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00:20–00:22 Er greift den Schmutz aus der Wäsche. Off: »Der Weiße Riese holt mit Riesenwaschkraft …«
00:23–00:24 Der Schmutz wird zu einem Klumpen geformt und zu Boden geworfen. Off: »… den letzten Schmutz aus jeder Faser.«
00:25–00:29 Der Weiße Riese zertritt den Schmutz. Off: »Sogar ohne Kochen.«
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Claudia Bath/Uwe Durst 00:30–00:37 Frau A bewundert anschließend ihre weiße Wäsche. Frau A: »Das ist ja wirklich weiß. Du, die Wette hast du gewonnen.« Frau B: »Und womit?« Off: »Mit Riesenwaschkraft.«
Abb. 2–8: TV-Werbung für Weißer Riese (um 1968)12
Der Text evoziert zunächst eine Realismus-kompatible Alltagssituation (R), ein Gespräch zwischen zwei Hausfrauen über Fragen der Wäschepflege, das aber umgehend zur erfolgreichen Beschwörung eines Wunderwesens führt (W). Die spektrale Bewegung lässt sich durch die Formel W = R + W ausdrücken.13
II. Gewiss sind rein faktuale Werbefilme realisierbar, die lediglich das Produkt zeigen und dessen faktische Eigenschaften beschreiben: Die Turnschuhe der Marke X sind die leichtesten auf dem Markt, das Joghurt der Marke Y schmeckt süß und enthält viele Fruchtstücke. Sobald aber eine Handlungseinbindung erfolgt, wird Fiktion generiert: Die Werbung für den Weißen Riesen dokumentiert keine tatsächliche Beschwörung, das Geschehen ist lediglich gespielt. Auch wenn es möglich ist, dass ein Werbespot sowohl faktuale als auch fiktionale Perioden realisiert, ist, wie sich versteht, das Merkmal der Fiktionalität vom wunderbaren thematischen Material unabhängig und im vorliegenden Beispiel keineswegs auf dessen Auftritt beschränkt. Dass es sich beim Wunderwesen um eine zweidi12
13
https://www.youtube.com/watch?v=_SWykpDUA-k (Stand: 23. 08. 2019). Alle Angaben zur Publikationszeit der angeführten Werbespots in diesem Artikel sind mit Vorsicht zu betrachten. Selbst die Warenproduzenten zeigten sich bei unseren Anfragen außer Stande, sichere Angaben zu machen. Der linke Term gibt den finalen realitätssystemischen Zustand des Texts an, während der rechte die Verkettung der einzelnen realitätssystemischen Zustände gemäß ihrer syntagmatischen Abfolge sichtbar macht. Der linke Term gilt dabei für das Gesamtsystem des Textes, unabhängig von der momentanen Systemkenntnis des implizierten Rezipienten (die Diegese in Stokers Roman ist bereits eine Welt des Wunderbaren, bevor der Leser über die Existenz von Vampiren unterrichtet und R als Irrtum klassifiziert wird).
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mensionale Zeichentrickfigur handelt, ändert nichts an dieser Feststellung. Was sich ändert, ist nur die spektrale Position des Texts. Das Darstellungsverfahren ist geeignet, die realitätssystemische Mobilisierung hervorzuheben. Die Ware wird dabei als Wirklichkeitsmaterial ebenso in die fiktionale Welt integriert wie beispielsweise das Wirklichkeitsmaterial Napoleon Bonaparte in einen historischen Roman, wobei es eine Deformation durchläuft, die es in die Lage versetzt, die strukturellen Bedürfnisse des weiteren Texts zu erfüllen. Der literarische Napoleon teilt nur bestimmte Eigenschaften mit der historischen Person, andere unterscheiden ihn, beispielsweise um verschiedene Nebenhandlungen zu motivieren. Das Waschmittel des Spots entspricht insoweit dem integrierten Wirklichkeitsmaterial, als es sich um ein Produkt zur Reinigung von Wäsche handelt; es unterscheidet sich aber hinsichtlich seiner Verbindung zum Wunderbaren bzw. ›Übernatürlichen‹.14 Voraussetzung jeder Fiktion ist, dass sowohl beim Sender als auch beim Empfänger ein Fiktionsbewusstsein existiert.15 Man könnte daher glauben, dass Fiktionalität der konativen Funktion entgegensteht: Die Ware ist Element einer insgesamt fiktionalen Handlung, und die ihr darin über den realen Gebrauchswert hinaus zugeschriebenen Eigenschaften sind außerhalb der Diegese inexistent. Wie sollten bekanntermaßen erfundene Behauptungen, die außerhalb der fiktionalen Welt keinen Wahrheitsanspruch erheben, die Verkaufsabsicht befördern?
14
15
Soweit es sich um einen Auftritt des Phänomens in fiktionalen Bezügen handelt, wird konsequent der Begriff des Wunderbaren verwendet, bei dem es sich, ebenso wie beim Realistischen, um eine literaturwissenschaftliche Kategorie bzw. Konvention handelt. Das Übernatürliche hingegen ist eine außerliterarische, an naturwissenschaftlichen Vorstellungen vage orientierte Begrifflichkeit. Wie entscheidend die modale Ausrichtung eines Werbespots ist, zeigt das Beispiel einer 1970 gestarteten, faktual angelegten Kampagne für das Waschmittel Omo (Unilever; Agentur Lintas). Behauptet wird, dass das Produkt dank seiner »Durchdringungskraft« in der Lage sei, Verschmutzungen sogar in verknoteten Wäschestücken zu beseitigen. Als »Beweis« wird die vermeintliche Dokumentation eines Experiments gezeigt, vgl. https://www.youtube.com/watch?v=T-2PK-8S9bU (Stand: 23. 08. 2019). Eine tatsächliche wissenschaftliche Überprüfung im Auftrag des WDR-Magazins Monitor belegt jedoch 1973 das Gegenteil, was die faktuale Werbebehauptung korrekterweise als Lüge einstuft: »[…] Der Omo-Knotentest ist eine Werbelüge. Ein stark verschmutztes, fest verknotetes Küchenhandtuch wird nicht sauber. Die besondere Waschkraft, mit der der Käufer geködert werden soll, ist nicht vorhanden« (Ulrich Wickert, »Der übertölpelte Käufer: Methoden der Werbung«, in: Monitor, Sendung vom 20. August 1973). Die journalistische Arbeit führt u. a. zu einer Anfrage der SPD im Deutschen Bundestag. Sie will wissen, was die Regierung »gegen Werbelügen zu unternehmen« gedenkt, vgl. http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/07/010/0701013.pdf, 13 (Stand: 23. 08. 2019).
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Die konative Wirkung des Wunderbaren entfaltet sich indes auf Basis einer künstlich erschaffenen konnotativen Polysemie, wie sie Jürgen Link am Beispiel einer Printwerbung für Goldschmuck beschreibt (Abb. 9): »Der visuelle Text soll dazu dienen, die sprachliche Denotation (›Gold ist Liebe‹) konnotativ aufzubauen. Das geschieht durch die folgende Kombination eines denotierten Paradigmas mit einem konnotierten Syntagma: farbliches Paradigma: ›golden‹ goldener Schmuck goldenes Haar Syntagma: goldene – nackte – Haut – ›bereit zur Liebe‹ Durch den Mechanismus der Konnotation wird in diesem Fall also der Eindruck erweckt, ›Liebe‹ gehöre zum Paradigma von ›Gold‹.«16
Abb. 9: Printwerbung für Goldschmuck17
16
17
Jürgen Link, Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine programmierte Einführung auf strukturalistischer Basis, München 41990, 355. Abb. entnommen a. a. O., 357.
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In analoger Weise ordnet Werbung Produkte diversen attraktiven Paradigmen zu: Angeblich gehören die Zigaretten der Marke Peter Stuyvesant zum Paradigma ›Weltläufigkeit‹, während Coca Cola ein Element im Paradigma ›Lebensfreude‹ darstellt. Kroeber-Riel und Esch bemerken insbesondere bei der Werbung für Waren, die hinsichtlich Qualität und Design nur »geringe Unterschiede« zu Konkurrenzprodukten aufweisen, dass zunehmend das »Erlebnisprofil« über das »Sachprofil« gesetzt werde und die Waren zu »Medien emotionalen Erlebens« gerieten.18 Attraktiv seien »die Fähigkeiten der Produkte, sinnliche und emotionale Erlebnisse zu vermitteln und einen Beitrag zum Lebensgefühl und zur emotionalen Lebensqualität zu leisten«. Die »emotionalen Anregungen und Erlebnisse« seien dabei weder eine unbedeutende Nebensächlichkeit noch »bloße Kosmetik des Angebots. Sie haben grundsätzlich die gleiche (konstitutive) Bedeutung für die Attraktivität des Angebots wie die objektive Qualität.«19 Dabei kommt der bildlichen Darstellung eine besondere Bedeutung zu, wie die Autoren anhand einer Philipp-Morris-Werbung erläutern (Abb. 10): »Durch die räumliche Nähe von Zigarette und Weltraum entstehen Gedankenverknüpfungen, wie ›fortschrittlich, progressiv, Zigarette unserer Zeit‹ […], ohne daß diese Verknüpfungen gedanklich kontrolliert und nach den analytischen Gesetzen der Sprachlogik überprüft würden. […] Die geringere gedanklich logische Kontrolle bei der Bildverarbeitung unterstützt die Überzeugungswirkung der Bilder.«20
18
19 20
Werner Kroeber-Riel/Franz-Rudolf Esch, Strategien und Technik der Werbung. Verhaltenswissenschaftliche Ansätze, Stuttgart/Berlin/Köln 52000, 70. A. a. O., 72. A. a. O., 145. »Die wichtigsten Bedingungen für eine wirksame emotionale Konditionierung lauten […]: - gleichzeitige Darbietung von emotionalem Reiz und Marke, - starke Reize, - zahlreiche Wiederholungen, - gedankliche Passivität der Konsumenten und - Konsistenz der Reizdarbietung« (a. a. O., 213).
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Abb. 10: Printwerbung für Philipp Morris21
Das Wunderbare ist in der Werbung ebenso Material einer künstlich erzeugten konnotativen Polysemie. Allerdings eröffnen sich mit W spezifische Möglichkeiten, nämlich die Aktivierung der Diegese und die Invertierung der realistischen Realitätsordnung.
III. Lotman erklärt, dass jede Ebene der künstlerischen Konstruktion einer doppelten Beschreibung nach dem System Regel vs. Regelverletzung unterliege:22 »[…] künstlerisch [kann] nur eine Organisationsweise aktiv sein, die aus zwei in 21 22
Abb. entnommen a. a. O., 146. Jurij M. Lotman, Bemerkungen zur Struktur des künstlerischen Textes, in: ders., Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur. Hrsg. v. Karl Eimermacher, Kronberg Ts. 1974, 9–20, 9.
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ihrer Richtung gegenläufigen Strukturen besteht und die folglich als Minimum zwei Beschreibungen für jede Ebene impliziert.«23 »So ist der Sujetkonflikt beispielsweise aus zwei nicht nur selbständigen, sondern auch der Struktur nach gegenläufigen Konstruktionen aufgebaut. Eine dieser Regelhaftigkeiten gibt die (soziale, räumliche, moralische usw.) Situation an und macht deren Festigkeit aus. So ergibt sich eine bestimmte Ordnung, und ihre Verletzung, die ein Ereignis bedeuten würde, ist ausgeschlossen. Aber trotzdem gibt es ein Ereignis. Es wird unter der Bedingung möglich, dass sich die Regelhaftigkeit der Situation mit der ihr gegenläufigen Regelhaftigkeit des Charakters eines Helden kreuzt. […] Der Charakter, in ›Gestalt‹ des Helden, lässt sich ebenfalls in mindestens zwei Regelhaftigkeiten zerlegen, deren eine die andere deautomatisiert. […] So bewegen sich beispielsweise die Helden L. Tolstojs in einem semantischen Feld, das durch die Norm des ›natürlichen‹ (kindlichen, volkstümlichen, wahren) Verhaltens und durch das aufgesetzte (dem natürlichen widersprechende, das comme il faut) Verhalten bestimmt ist.«24
Offenkundig etabliert die realitätssystemische Mobilität von R nach W gleichfalls und stets ein System von Regel (R) vs. Regelverletzung (W), wodurch die evozierte Realität in zwei gegenläufige Strukturen zerlegt und selbst zu einer künstlerisch aktiven Struktur wird. Dies und der Sieg des Wunderbaren, das die ursprüngliche realitätssystemische Ordnung der Diegese überwindet, entspricht der vorgeblichen und weitreichenden Veränderungsmacht der Ware, die Lebensqualität des Konsumenten zu steigern. W beruht auf einer entblößten sequentiellen Neuordnung R-kompatibler Sequenzstrukturen.25 Die Fähigkeit, eine Neuordnung durchzusetzen, tendiert 23 24 25
A. a. O., 10. A. a. O., 12 f. Sequenzen bestehen in Barthes’ narratologischem Modell aus einer »logische[n] Folge« von Kardinalfunktionen (konsequentielle Elemente der Geschehensentwicklung), »die miteinander durch eine Relation der Solidarität verknüpft sind« (Roland Barthes, Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, in: ders., Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M. 1988, 102–143, 118). So besteht z. B. die Sequenz Rauchen aus den Elementen ›Zigarette aus der Schachtel nehmen‹, ›anzünden‹, ›rauchen‹, ›ausdrücken‹ und ›wegwerfen‹. Während die Abfolge einer ganzen Sequenz als realistisch gelte, sei das Wunderbare, wie Zimmermann schreibt, als »eine nicht vollständige Sequenz« zu definieren, Hans Dieter Zimmermann, Trivialliteratur? Schema-Literatur! Entstehung, Formen, Bewertung, Stuttgart u. a. 21982, 108 (1979 unter dem Titel: Schema-Literatur: Ästhetische Normen und literarisches System). Um dies mit einem Beispiel zu illustrieren: Fällt in der Sequenz Rauchen die Funktion ›anzünden‹ aus, wird ein wunderbares thematisches Material generiert: In Miguel Angel Asturias’ Roman »Die Maismänner« (1949) tritt eine Figur namens Benito Ramos auf, deren Zigaretten von
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zur Allmacht. So ist etwa der Samtscheh Mitschebat in Meyrinks Novelle »Das Grillenspiel« (1915) »ein Wesen, das man nicht mehr mit dem Namen Mensch bezeichnen dürfe, das ›binden und lösen‹ könne, dem, kurz und gut, infolge seiner Fähigkeit, Raum und Zeit als Wahnvorstellungen zu durchschauen, nichts unmöglich sei auf Erden zu vollbringen«.26 Der Teufelspriester ›löst‹ Elemente aus R-sequentiellen Strukturen und ›verbindet‹ sie zu pan-deterministischen W-Sequenzen, was ihn in die Lage versetzt, durch Grillen, die er über eine europäische Landkarte krabbeln und sich gegenseitig zerfleischen lässt, den Ersten Weltkrieg auszulösen. Es handelt sich hier um eine Sequenzlücke syntagmatisch-additiven Typs: Zwei Sequenzen werden zu einer neuen solidarischen Einheit kombiniert. Während der Samtscheh Mitschebat die Handlungen von Insekten mit der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts in eine kausale Beziehung setzt, werden in der Werbung W-systemische Strukturen generiert, durch die das Ausrufen des Produktnamens die Wäsche säubert oder das Rauchen einer Zigarette dafür sorgt, dass ein zerrissenes Bild sich von selbst repariert und an die Wand hängt: 00:01–00:15 Der Held will es sich mit einem Kopfkissen auf einer Klappcouch bequem machen.
26
selbst zu brennen beginnen, sobald er sie zwischen die Lippen steckt, Miguel Angel Asturias, Die Maismänner. Roman, Berlin (Ost) 21985, 134 (in anderer Übersetzung: Die Maismenschen). In Erweiterung des Zimmermannschen Ansatzes lassen sich diverse Varianten sequentieller Lücken unterscheiden. Während syntagmatische Sequenzlücken auf dem Ausfall kardinalfunktioneller Elemente innerhalb einer Sequenz beruhen, stellen paradigmatische Sequenzlücken die Tilgung ganzer Sequenzen aus dem sequentiellen Paradigma dar (so etwa in Diegesen, in denen Verbrechen oder Kriege unbekannt sind). Paradigmatische Lücken sind stets subtraktiv (eine Sequenz verschwindet aus der Auswahlachse), syntagmatische Sequenzlücken existieren jedoch sowohl in subtraktiver als auch additiver Form. Eine Subtraktion ist der Ausfall einer Kardinalfunktion, eine Addition stellt demgegenüber die Verbindung zweier Sequenzen zu einer einzigen logischen Einheit dar. Eine ausführliche Darstellung der skizzierten Theorie findet sich bei Durst, Theorie (s. Anm. 4), 239–270. Gustav Meyrink, Das Grillenspiel, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 6, Leipzig 1917, 66– 86, 69.
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00:16–00:23 Sobald er sich setzt, kippt die Couch nach vorn, er fällt herunter, flucht und bringt sie wieder in Position. Als er sich hinlegen will, wird er in die Couch eingeklemmt. Er flucht abermals und klappt die Couch wütend auseinander.
00:24–00:28 Erneut möchte er sich hinlegen, und erneut kippt die Couch. Er fällt herunter, wobei er diesmal noch ein Bild von der Wand reißt und zerstört. Er bekommt einen Wutanfall und geht buchstäblich wie eine Rakete in die Luft.
00:29–00:37 Ein W-Wesen erscheint und beruhigt den rasenden Helden, indem es ihm eine HBZigarette anbietet. W-Wesen: »Halt! Mein Freund, wer wird denn gleich an die Decke gehen? Greife lieber zur HB, dann geht alles wie von selbst.«
00:38–00:39 Der Held nimmt die angebotene Zigarette und raucht. W-Wesen: »HB ist eine Filterzigarette, die schmeckt. HB rauchen, heißt …«
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Claudia Bath/Uwe Durst 00:39–00:44 Nachdem der Held einen Zug genommen hat, repariert sich das Bild von selbst und hängt sich wieder an die Wand. Der Held lächelt zufrieden. W-Wesen: »… frohen Herzens …«
00:45–00:46 Die Couch klappt selbständig zu einem Bett auseinander. W-Wesen: »… genießen.«
00:47–00:51 Der Held legt sich auf die Couch und zwinkert dem Rezipienten zu.
Abb. 11–18: TV-Werbung für HB-Zigaretten (1959)27
Durch die Dominanz der konativen Funktion zentriert sich die Diegese in jedem TV-Spot um die Ware, die eine entscheidende Bedeutung im Leben der Menschen erhält: Der Kaffee der Firma Jacobs ist eine Bedingung für eheliches Glück,28 eine
27 28
https://www.youtube.com/watch?v=_6QRg8e_voI (Stand: 23. 08. 2019). So etwa in dieser Werbung von 1972: https://www.youtube.com/watch?v=RyZyfV82 CDQ (Stand: 23. 08. 2019).
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Frau erobert man durch die Drogerieartikel der Marke Axe.29 Da die realitätssystemische Ordnung somit in erheblichem Maße durch die Ware definiert wird, ist das Wunderbare eine konsequente Fortführung ihrer Gestaltungsmacht. In einer Werbung der Firma Maggi werden z. B. die Vorzüge einer Pilzbouillon »mit feinen Klößchen« angepriesen. Die Handlung spielt in der fiktionalen Welt Robin Hoods, dessen Mannen sich im Sherwood Forest beim Verzehr der »unvergeßlich gut[en]« Mahlzeit plötzlich von den Häschern des Sheriffs von Nottingham umzingelt sehen. Man überwindet die bedrohliche Situation, indem man dem Befehlshaber eine Schüssel Suppe anbietet. Sofort ändert sich die Lage, die Soldaten funktionieren ihre Helme zu Suppenschüsseln um. Die weltverändernde Wunderbarkeit wird durch einen sich selbst bildenden Knoten im Löffelstiel markiert. 00:19–00:20
00:21–00:23
29
Zum Beispiel in dieser Werbung von 1997: https://www.youtube.com/watch?v=yi__ tc23plg (Stand: 23. 08. 2019).
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Abb. 19–21: TV-Werbung für Maggi Pilzbouillon (1995)30
IV. Eine von uns durchgeführte, unvollständige Sichtung bundesdeutscher TVWerbespots seit den fünfziger Jahren ergibt, dass das Wunderbare nur in zweierlei Weisen auftritt, nämlich als W = R + W oder W = W, d. h. entweder als Überwindung des R-Systems (Weißer Riese, HB) oder als immobiles wunderbares System (Bärenmarke, Toyota; s. u.). Andere spektrale Bewegungsmöglichkeiten werden seltener oder gar nicht realisiert, so beispielsweise alle Möglichkeiten der Typen R = X + R und N = X + N. Es ist anzunehmen, dass R = X + R, die Widerlegung des W, eine nicht erwünschte Ernüchterung impliziert, von der befürchtet wird, dass sie der Konativität des Spots zuwiderläuft.31 Der Typ N = X + N hingegen scheint unattraktiv zu sein, weil er die Frage nach der Gültigkeit des W erhebt und so die »gedankliche Passivität des Konsumenten«32 gefährdet. Dem dürfte auch geschuldet sein, dass selbst bei realitätssystemisch mobilen Werbespots die R-Inkompatibilität des W in aller Regel – wenn überhaupt – intratextuell nur schwach markiert und oft durch Komisierung oder Allegorisierung entwertet wird. Ein Beispiel hierfür liefert ein Werbefilm der Firma Frosta:
30 31
32
https://www.youtube.com/watch?v=qHG-coKR4JU (Stand: 23. 08. 2019). Ein Beispiel für die Manifestation der Formel R = X + R ist ein Spot für HornbachBaumärkte aus dem Jahr 2016, worin das Einschlagen eines Nagels u. a. durch den Auftritt von Kinderengeln begleitet wird, was sich anschließend als Tagtraum des Handwerkers herausstellt. Die Komisierung hebt die Ernüchterung auf, https://www. youtube.com/watch?v=AKdc6xdNu_0 (Stand: 06. 08. 2019). Kroeber-Riel/Esch, Strategien (s. Anm. 18), 213.
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Split Screen: links Peter (deutscher Koch), rechts Karim (indischer Koch) 00:07–00:10 Peter ruft Karim an. Karim: »Hello?« Peter: »Hallo, Karim. Hier ist Peter von Frosta.« Karim: »Ah, Peter.« Peter: »Ich koche gerade dein wunderbares Indian Chicken.« Karim: »Really?« 00:10–00:14 Peter: »Aber irgendetwas fehlt noch.« Karim fasst über die Bildgrenze des Split Screens, nimmt mit Peters Schöpfkelle eine Probe des Gerichts und riecht daran. Peter, der dies nicht bemerkt hat, will nach seiner Kelle fassen und greift ins Leere. Karim legt sie neben seine eigene Pfanne.
00:14–00:18 Karim: »Hm, delicious Peter. But a little more curcuma.« Karim nimmt etwas Gewürz, fasst ein zweites Mal über die Bildgrenze und streut es über Peters Gericht. Peter bekommt auch das nicht mit und wundert sich, wohin seine Kelle verschwunden ist.
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Claudia Bath/Uwe Durst 00:19–00:25 Peter schaut verdutzt an die Küchendecke, ob dort die Lösung des Rätsels zu finden sei. Die Ware wird eingeblendet, sowohl verpackt als auch zubereitet. Off: »Indian Chicken isst man am besten bei Karim. Oder bei Frosta Feine Mahlzeiten.« Off-Gesang: »Frosta ist für alle da!«
Abb. 22–25: TV-Werbung für Frosta Feine Mahlzeiten (1992)33
Mit größter Selbstverständlichkeit greift Karim nach dem Tausende von Kilometer entfernten Schöpflöffel und würzt von Indien aus ein Gericht in Deutschland. Für ihn stellen wunderbare Handlungsoptionen offenbar keine Besonderheit dar. Peter hingegen schaut sich verblüfft um, was zwar die R-Inkompatibilität intratextuell markiert, aber nur in der allermildesten Form, denn die Komisierung (im mechanischen Nicht-Bemerken des Wunderbaren, im automatenhaften Griff ins Leere) bedingt tendenziell eine Entwertung des Wunderbaren. Sie fordert den Rezipienten auf, den realitätssystemischen Konflikt nicht ernstzunehmen. Der komisierende Diskurs bagatellisiert hierdurch den realitätssystemischen Bruch, das Wunderbare wird niedlich, steht aber der konnotativen Strategie weiterhin zur Verfügung. Sehr häufig indes fehlt eine intratextuelle Markierung der R-Inkompatibilität. Der Befehlshaber in der Maggi-Werbung zeigt sich über das Verhalten des Löffels ebenso wenig überrascht wie Robin Hood und lobt stattdessen die geschmackliche Qualität der Suppe. Frau A ist im Weißer Riese-Spot keineswegs erstaunt, dass Frau B mit einem Wunderwesen im Bunde steht, und freut sich stattdessen darüber, dass ihre Wäsche nun ›wirklich weiß‹ ist. In einer Werbung des Automobilherstellers Toyota erzählt ein Hund von seiner ersten Begegnung mit der Ware. Das Tier verlässt ohne Besitzer das Haus, um sich »etwas die Füße [zu] vertreten«, und entdeckt das neue Toyota-Automobil, das neben dem Bürgersteig parkt. Über die Vorzüge des Vehikels ist der Hund bestens informiert: »Schöne klare Linien und ABS. Nicht schlecht. Innen – mhm! – Airbag! Und dann – Magermixmotor. Ganz klar, der neue Carina. Den nehm’ ich.« Hierauf uriniert der Hund an eines der Räder, und eine Kommentatorenstimme verkündet aus dem Off: »Der neue Carina. Nichts ist unmöglich. Toyota.«34 ›Nichts ist unmöglich‹ könnte der Wahlspruch des Wunderbaren sein, das sich im Spot in 33 34
https://www.youtube.com/watch?v=8RHXlu0GKYo (Stand: 23. 08. 2019). https://www.youtube.com/watch?v=tQvdSJCtqiI (Stand: 23. 08. 2019).
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der Figur des mit menschlichem Denk- und Sprachvermögen ausgestatteten Tieres manifestiert. In der Aufhebung der Differenz zwischen Mensch und Tier zeigt sich wiederum die weltverändernde Macht der Ware. Der fehlende intratextuelle Hinweis auf die R-Inkompatibilität impliziert keine Geringschätzung des Wunderbaren (etwa in dem Sinne, dass es sich bei ihm lediglich um eine beiläufige, im Grunde überflüssige Struktur handle), sondern eine Betonung seiner Selbstverständlichkeit, was dem Text durch die hinreichende Verwendung realistischer Spolien eine magisch-realistische Struktur verleiht. Eine solche ist auch im folgenden Werbefilm eines Dosenmilchherstellers aus den fünfziger Jahren zu finden. Gezeigt wird, wie die Werbefigur sich auf die Reise macht, um den Menschen »die gute Bärenmarke«35 zu bringen: 00:01–00:29 Der Bärenmarke-Bär verlässt sein Haus in den Alpen und begibt sich auf die Reise.
00:30–00:45 Unterwegs trifft er auf die Bewohner der Umgebung, die ihn alle freundlich grüßen. Dabei ist ein »schöne[r] Bauernhof […] die erste Station unseres wandernden kleinen Bären«.
35
https://www.youtube.com/watch?v=sEiGEZSyZIc&t=17s, 00:25–00:27 (Stand: 23. 08. 2019).
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Claudia Bath/Uwe Durst 00:46–01:04 Der Bär begutachtet die Milchkannen, ist zufrieden und begibt sich weiter auf seiner »Dienstreise«.
01:05–01:48 Auf der Straße hält er einen Lastwagen der Firma Bärenmarke an, mit dem er in die Stadt fährt. Beifahrer: »Griaß de. Du wuillst wohl mitfahrn?« Der Bär nickt. Beifahrer: »Na dann steig ein.« Off: »So einen lieben kleinen Anhalter kann man doch nicht zu Fuß gehen lassen.« Während der Fahrt verabschiedet sich der Bär von seiner Heimat. 01:49–02:02 Off: »Viele Städte und Dörfer besucht unser Bär, denn überall hat er treue Freunde. Überall wird er begeistert empfangen. So wie hier, mit offenen Armen.«
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02:03–02:09 Die Stadtbewohner begrüßen den Bären vor einem Lebensmittelgeschäft.
02:10 Der Bär grüßt mit einem Nicken einen Bären-Pappaufsteller, der im Schaufenster des Geschäfts steht. Off (Bär): »Guten Tag.«
02:11–02:13 Off (Aufsteller): »Grüß dich, Kollege.« Der Papp-Bär winkt dem Bären zu, der den Kopf schüttelt und mit einem Blumenstrauß in seiner Hand zurückwinkt. Off: (Verwundert.) »Sowas.«
02:14–02:52 Der Bär betritt das Geschäft und legt jedem Kunden eine Dose Bärenmarke-Milch in den Korb, da diese »in jeden Haushalt« gehöre.
420
Claudia Bath/Uwe Durst 02:53–03:03 Die Kunden verabschieden sich vom Bären als dieser das Geschäft wieder verlässt, um zur nächsten Stadt zu fahren.
03:04–03:11 Weiterfahrt. Off-Gesang: »Nichts geht über Bärenmarke, Bärenmarke zum Kaffee.«
Abb. 26–36: TV-Werbung für Bärenmarke (1957)36
Niemand wundert sich über den menschenähnlich agierenden Bären, der Milch begutachtet, Konserven verteilt und per Anhalter durchs Land fährt. Im Gegenteil: Er hat ›überall treue Freunde‹, die ihn ›mit offenen Armen‹ ›begeistert empfangen‹. Die magisch-realistische Struktur demonstriert die Mühelosigkeit, mit der die Ware das Gesicht der Realität bestimmt. Der Spot weist allerdings noch eine darüber hinausgehende realitätssystemische Komplexität auf. Als der Bär beim Lebensmittelgeschäft eintrifft, grüßt er einen Pappaufsteller im Schaufenster, wobei der Off-Kommentator sowohl dem nicht sprachfähigen Bär als auch dem Aufsteller Worte in den Mund legt. Der Aufsteller wird lebendig, er winkt dem Bären zu und grüßt zurück. Der Bär schüttelt hierauf den Kopf, winkt aber im nächsten Augenblick ins Schaufenster, während das Off die Szene mit einem ›Sowas.‹ kommentiert. Die realitätssystemische Situation ist unklar: Ist der Bär über die Lebendigkeit des Pappaufstellers überrascht, ist diese also kein Element des W? Wozu grüßt er ihn dann? Oder ist es der Kommentator, der verwundert ist? Wieso schüttelt der Bär dann zuerst den Kopf? Dessen ungeachtet liegt hier eine realitätssystemische Bewegung vor, wie 36
https://www.youtube.com/watch?v=sEiGEZSyZIc&t=17s (Stand: 23. 08. 2019).
Konative Funktion und realita¨tssystemische Strukturen
421
sie sich in der Erzählliteratur beispielsweise in Tiecks »Blondem Eckbert«37 (1797) oder Bradburys »The Veldt«38 (1950) vollzieht:39 W fungiert als Normrealität (der menschenhafte Bär; W1 bzw. R2), die mit einem inkompatiblen Wunderbaren höherer Ordnung (dem Lebendigwerden des Pappaufstellers; W2) konfrontiert wird, was das Realitätssystem des Texts mobilisiert.
Abb. 37: Erweitertes realitätssystemisches Spektrum
Die Markierung der Inkompatibilität ist knapp, W2 wird umgehend als neue Norm akzeptiert (W2 = W1 + W2). Das Wunderbare zweiter Ordnung bekräftigt, wie vollkommen die Ware die sequentielle Ordnung beherrscht, indem sie löst und bindet und sogar die von ihm etablierte W1-Ordnung wieder zugunsten eines Wunderbaren höherer Ordnung überwinden kann. Nichts ist unmöglich.
V. Unabhängig von der realitätssystemischen Klassifikation ist festzustellen, dass, zumindest in den von uns gesichteten Werbefilmen, das Wunderbare in aller Regel keinen Bedrohungscharakter aufweist. Der Weiße Riese ist ein devoter Diener, und ein Bär nicht gefährlich, sondern naiv und niedlich. Das Wunderbare erscheint selbst dann als liebenswert, wenn es tatsächlich ein Problem darstellt und der Sinn der Ware in seiner Abwehr besteht. Ein Beispiel: 37
38
39
Ludwig Tieck, Der blonde Eckbert, in: ders., Schriften, Bd. 6. Hrsg. v. Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1985, 126–146. Ray Bradbury, The Veldt, in: ders., The Stories of Ray Bradbury, New York 21980, 196– 207 (1950 unter dem Titel: The World the Children Made). Vgl. Durst, Theorie (s. Anm. 4), 280–289.
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Claudia Bath/Uwe Durst
Abb. 38: TV-Werbung für Wrigleys Extra (2013)
Ein Kaugummi der Marke Wrigleys dient der Zahnpflege und soll »anhängliche[s] Essen« beseitigen, das nach der Mahlzeit in den Zahnzwischenräumen verbleibt. Die sprechenden, empfindungsfähigen Lebensmittel wollen dem Helden aber nicht von der Seite weichen. Die Unterhaltung von Held und Lebensmittel ähnelt komisierend einem Trennungsgespräch zwischen Liebesleuten, wobei die Einnahme des Kaugummis das Ende der Beziehung herbeiführt: Held: »Hör zu, ich bin fertig mit dem Mittagessen. Also bin ich auch fertig mit dir.« Donut: »Woh! Woh, woh, woh! Machst du Schluss? Machst du Schluss mit mir?« Held: »Was habe ich gerade gesagt?« Donut: »Keine feste Beziehung, nur Mittagessen.« (Der Held nimmt den Kaugummi in den Mund.) »Aber ich dachte, ich dachte, vielleicht können wir –« Held: »Pst. Mach’s nicht noch komplizierter.« Donut: (Trotzig.) »Ich werd’ nicht gehn!« Ein Paket Wrigleys Extra fegt die Lebensmittel vom Tisch.40
Etwas bedrohlicher erscheint eine Blendax-Werbung aus dem Jahr 1950. In ihr tritt ein Teufel namens Karies auf, dem ein Bohrer als Nase dient (Abb. 38). Der Teufel wendet sich an den Zuschauer:
40
https://www.youtube.com/watch?v=PO7lLbOXjPA (Stand: 23. 08. 2019).
Konative Funktion und realita¨tssystemische Strukturen
423
Karies: »Bitte machen Sie mal den Mund auf und lassen Sie mich hineinsehen. Ah, günstig, haha, sehr günstig. Hehehe. Da kann ich jetzt sehr schnell mal ein paar Zähne zerstören, vorausgesetzt, dass Sie Ihre Zähne niemals putzen mit –« Off: »Blendax!«41
Die satanische Freude am Zahnverfall führt unmittelbar zur Nennung des Gegenmittels, und zwar im Grunde durch den Teufel selbst, der hierdurch komisierend die Verhinderung seiner eigenen Absichten in die Wege leitet. Das Blendax-Produkt ist gleichfalls ein W-Wesen, eine Art ›Weißer Ritter‹ aus Zahnpasta, mit einer Bürste als Lanze.
Abb. 39: TV-Werbung für Blendax
Mit weitaus drastischeren Mitteln arbeitet eine Werbung für Herbaria Calming Tea aus dem Jahr 2013,42 die allerdings, unseres Wissens nach, nicht im deutschen Werbefernsehen präsentiert worden ist. Gezeigt wird in Unterwasseraufnahme, wie drei Wesen ins Meer stürzen. Sie sind stark an bekannten Figuren des Horrorfilms orientiert, u. a. am dämonischen Clown Pennywise aus der Verfil-
41 42
https://www.youtube.com/watch?v=0FSWldDRl9s (Stand: 23. 08. 2019). https://www.youtube.com/watch?v=biS1CTnlVp8 (Stand: 23. 08. 2019).
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Claudia Bath/Uwe Durst
mung von Stephen Kings Roman »It«43 (1986). Alle drei kommen unter Wasser zu sich und beginnen, gegen das Ertrinken zu kämpfen, was ihnen misslingt, weil an ihnen ein riesiger Teebeutel befestigt ist, der sie in die Tiefe zieht. Sie sterben, und der eingeblendete Slogan fordert den Rezipienten auf: »Drown your fears.«
Abb. 40: Kino-Werbung für Herbaria Calming Tea (2013)
Das Wunderbare wird hier zweifelsohne drastisch dargestellt. Der Spot verwendet das Verfahren der Irritation, um eine Aktivierung der Aufmerksamkeit seitens des Rezipienten zu erreichen, die wiederum eine »gedankliche und emotionale Verarbeitung und Speicherung der Werbebotschaft« bedingt. »Deswegen«, stellen Kroeber-Riel und Esch fest, »konnten in bisherigen Irritationsuntersuchungen auch höhere Recallwerte für irritierende Werbung festgestellt werden […].« Sie warnen allerdings vor Risiken: »Die mit Irritation verbundene Abwehrhaltung der Umworbenen beeinträchtigt […] die Akzeptanz- und Überzeugungswirkungen der Werbung […]. […] Untersuchungen weisen durchgängig nach, daß Irritation die Kaufabsicht verschlechtert […], wenn die Irritation eine bestimmte Schwelle überschreitet […].«44
Dementsprechend wird der Bedrohungscharakter in Komisierung und Allegorisierung ertränkt: Die Monster, an denen ein Teebeutel hängt, sind, wie das Epimythion des Slogans erklärt, gar nicht als reale W-Wesen anzusehen, sondern als allegorische Darstellungen der Furcht schlechthin. Die Monster sind nicht wörtlich zu verstehen, was das evozierte Realitätssystem entwertet.
43 44
Stephen King, It. A Novel, New York 1986. Kroeber-Riel/Esch, Strategien (s. Anm. 18), 174.
Konative Funktion und realita¨tssystemische Strukturen
425
VI. Obgleich die TV-Warenwerbung auf künstlerische Verfahren zurückgreift, besitzt sie aufgrund der dominanten konativen Funktion keinen Kunstcharakter und basiert auf einer Bagatellisierung des Fiktionsaspekts. Die Einbringung thematischer Materialien des Wunderbaren zur realitätssystemischen Mobilisierung verwandelt zwar die evozierte Realität in eine künstlerisch aktive Struktur, doch nur, um die angeblich weltverändernde Macht der Ware zu demonstrieren, die hierdurch als tendenziell omnipotenter Gegenstand erscheint. Die aus Gründen der Konativität erwünschte geistige Inaktivität des Rezipienten bedingt schwache oder fehlende intratextuelle Markierungen der R-Inkompatibilität. Falls der Text Markierungen setzt, wird deren Bedeutung gern durch Komisierung oder Allegorisierung reduziert. Die Konativität zeitigt unmittelbare Auswirkungen auf die realitätssystemische Mobilität.
Die Autorinnen und Autoren
Claudia Bath, Gymnasiallehrerin und Doktorandin an der Universität Stuttgart. Forschungsschwerpunkt: Neuere deutsche Literatur. Angelika Berlejung, Professorin für Alttestamentliche Wissenschaft mit Schwerpunkt Geschichte und Religionsgeschichte Israels und seiner Umwelt an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Religionsgeschichte Palästinas und seiner Nachbarn; Biblische Archäologie; Ikonographie Syrien-Palästinas; Alltagskultur in Palästina; Kulturanthropologie; Semitische Sprachen. Robert N. Bloch, Autor, Mitarbeiter und Herausgeber verschiedenster Publikationen, Anthologien und Lexika im Bereich der phantastischen Literatur. Hans Richard Brittnacher, bis 2018 Professor am Institut für Deutsche Philologie der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Intermedialität des Phantastischen; die Imago des Zigeuners in der Literatur und den Künsten; Literatur- und Kulturgeschichte des Goethezeitalters und des Fin de siècle; Literatur und Religion. Alexander Deeg, Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig und Leiter des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der VELKD. Forschungsschwerpunkte: Homiletik; Liturgik; Jüdisch-christlicher Dialog. Johannes Dillinger, Universitätsprofessor für die Geschichte der Frühen Neuzeit, Oxford Brookes. Forschungsschwerpunkte: Frühe Neuzeit; Terrorismus in der Frühen Neuzeit; Reliquienkult. Uwe Durst, Privatdozent für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart, Dozent für Literaturvermittlung an der
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Die Autorinnen und Autoren
Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst Stuttgart sowie Schriftsteller. Forschungsschwerpunkt: Neuere Deutsche Literatur. Paulus Enke, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neutestamentliche Wissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Christliche Apokryphen; Tiefenpsychologie und Exegese. Klaus Fitschen, Professor für Neuere und Neueste Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Verhältnis von christlicher Religion und gesellschaftlichem Wandel; Verhältnis von Kirche und Politik. Jens Herzer, Professor am Institut für Neutestamentliche Wissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Paulus und paulinische Briefliteratur; Geschichte und Literatur des frühen Judentums. Christian Hornung, Professor für Alte Kirchengeschichte und Patrologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn und Direktor des F. J. Dölger-Instituts. Forschungsschwerpunkte: Rechts- und Sozialgeschichte des antiken Christentums; Buße und Bußpastoral; Geschichte des römischen Primats; Askese und asketische Ideale im antiken Christentum. Naghmeh Jahan, Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Religionswissenschaft an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Schriftverständnis; Heilige Schriften des Judentums, Christentums und Islams sowie deren kanonische und außerkanonische Schriften. Michael Labahn, apl. Professor für Neues Testament an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Extraordinary Associate Professor an der Unit for Reformed Theology and Development of the South-African Society, Faculty of Theology, North-West-University, South Africa, Potchefstroom Campus. Forschungsschwerpunkte: Wundererzählungen; Q; Johannesevangelium; Johannesapokalypse; religions- und kulturgeschichtliche Welt des frühen Christentums; frühchristliche Ethik. Markus May, apl. Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Phantastik als literarisches und kulturelles Phänomen; deutsch-jüdische Literatur (besonders Paul Celan); Theorie und Geschichte der Lyrik; Literatur- und Kulturtheorie; literarische Übersetzung.
Die Autorinnen und Autoren
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Martin Meiser, apl. Professor für Neues Testament am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte: Septuaginta; Altkirchliche Schriftauslegung. Tobias Nicklas, Professor für Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg; Leiter des Centre for Advanced Studies »Beyond Canon« an der gleichen Universität und Adjunct Ordinary Professor an der Catholic University of America, Washington, D.C. Forschungsschwerpunkte: Christliche Apokryphen; Johanneische Literatur; Jüdisch-christlicher Dialog. Lena Seehausen, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Neutestamentliche Wissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Rezeptionsgeschichte des Neuen Testaments; Christliche Apokryphen; irisches Christentum; Inkulturation des Evangeliums. Michael Siefener, freier Autor und Übersetzer, arbeitet zusammen mit Marco Frenschkowski an einem Projekt zur Erforschung der Zauberbuch-Literatur. Christa Agnes Tuczay, Universitätsdozentin für ältere deutsche Sprache und Literatur am Institut für Germanistik an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Erzählforschung; Kulturgeschichte; Magiegeschichte; Hexenforschung; Psychohistorie des Mittelalters. Manuel Vogel, Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Flavius Josephus; hellenistisches Judentum. Peter Wick, Professor für Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum; Präsident der von Cansteinschen Bibelanstalt in Westfalen. Forschungsschwerpunkte: Theologie des Neuen Testaments; Hermeneutik und Textwahrnehmung; Paulus; frühes Christentum zwischen Judentum und Hellenismus. Peter Zimmerling, apl. Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Poimenik; Homiletik; Gemeindeaufbau; Leben und Werk Dietrich Bonhoeffers; Pietismusforschung; theologische Frauenforschung; Spiritualität und evangelische Mystik; Luther als Praktischer Theologe.
Register Stellenregister Altes Testament Genesis 1,29 1,31 2 f. 2,8 2,10 2,10–14 2,15 2,22 3,7–11 3,11 3,16 3,16–19 3,23 f. 3,24 4,1–10 6,1–4 6,19 9,3 12,1–3 13,10 18
83 84 25, 26, 27, 28, 29 25 26 26 25 394 30 245 29 26 25 27, 28 216 154 84 83 72 25 219
Exodus 7 7,11 7,11 f. 7,17–21 9,11 11,4 12,29 14,22 17,16 31,21 33,18–23 33,20 34,29–35
138, 139 130, 134 136 61 130 96 96 131 131 131 221 72 131
Leviticus 11,45 16 19,2 20,24 25,20–42
151 164 157 25 24
Numeri 6,1–21 6,5 6,19 13,27 14,8 16,13 22
152 90 90 25 25 25 258
Deuteronomium 6,3 11,9 15,7–11 18,15 26,9 26,15 27,3 31,20
25 25 24 67 25 25 25 25
Josua 5,6
25
Richter 13,7 LXX 16,17 LXX
152 152, 153
1. Samuel 4 f. 7,5
97 164
1. Könige 8,28–53 17,1 17,18 LXX
164 61 152, 153
432
Stellenregister
19 19,10
65 65
2. Könige 1,10–12 4,9 LXX
124 152
2. Chronik 30,18–20
164
Nehemia 2,8
25
Psalmen 37,3 52,3 58,16 103,11 104,24 105,16 LXX 109,1 110,1 118,22 125,1 LXX
255 190 83 79 257 152 78 77 75 133
Sprüche 2,7 8,22 10,12 16,18 24,10–12
254 78 256 254 216
Prediger 2,5 8,10–14 8,17
25 216 216
Hoheslied 1,13 f. 1,17 2,1 2,7 2,8 f. 3,5 4,1–3 4,1–7
29 31 28 31 29 31 30 30
4,2 4,8 4,8–12 4,9–11 4,13 5,1 5,6 f. 5,10–16 6,7 7,2–8 7,11 8,4 8,6
82 29 30 30 25 30 30 30 30 30 29 31 31
Jesaja 2,2–4 11,6 f. 11,6–9 17,12–14 18,7 25,6 f. 29,5–8 31,9 LXX 33 45,13 LXX 65,5
25 83 24 25 25 25 25 179 25 133 253
Jeremia 11,5 32,22 42
25 25 164
Ezechiel 1,1 f. LXX 3,11 LXX 3,15 LXX 20,6 20,15 28,13 31,9 31,16 31,18 36,35 47,1–12
133 133 133 25 25 26 26 26 26 26 26
Stellenregister
Daniel 7 7 f. 7,3 7,7
63 75 120 120
Hosea 2,19
83
Joël 2,3
26
Habakuk 3,14
83
Maleachi 3,23 f.
50, 53 f., 56, 59
Neues Testament
Matthäusevangelium 1,8 150 1,20 81 5,8 73 5,12 66 6,1–4 216 6,25–32 257 10,1–4 259 10,5 f. 81 10,26–31 216 13,47 f. 82 15,11 83 f., 85 16,18 f. 164 17,11 60 17,24–27 76 18,21 f. 253 22,31 48 24,17 80 24,23–27 216 24,31 82 25,31–40 216 26,14–16 262 26,15 260 26,24 260 26,48 260
27,3–10 28,19
260 84
Markusevangelium 1 68, 165 1,1 68 1,7 153 f. 1,10 154 1,11 153 1,15 154 1,21 f. 155 1,21–28 160 1,23 154, 162 1,23–26 155 1,23 ff. 153 1,24 151–153, 157 1,24 f. 154 1,25 154 1,26 154, 162 1,27 154, 156, 162 1,34 153 2,1–12 155 3,1–6 155 3,11 f. 153 3,13–19 259 3,15 162 4,41 156 5 218 5,5 154 5,7 153, 154 5,8 154 5,9 154 5,12 f. 154 5,13 154 6 68 6,7 162 6,13 162 6,14 68 6,14–16 45, 68 6,14–29 46, 70 6,16 68 6,20 150 7,1–13 155 8,1–9 219 8,12 f. 59
433
434
Stellenregister
8,28 8,29 8,38 9,4 9,7 9,9–13 9,10 9,10–12 9,10–13 9,11–13 9,12 9,13 9,18 14,13 14,21 14,32–42 14,37 14,38 14,45 14,62 14,66–72 15,39
45, 68 68 150 61 68 47 49 63 46, 49 67 47 46 f., 62, 65 162 180 47, 263 149 149 149 260 77 216 68
Lukasevangelium 1 f. 1,11 1,13 ff. 1,17 1,35 1,70 4,29 4,34 6,26 6,27–38 8,1–3 8,16 9,30 f. 9,31 10,1 10,17 11,1 12,13–21 13 13,32 f. 16,19–31
64 76 64 60, 64 151 150 98 151 66 220 219 219 61 61 180 162, 180 64 219 219 63 196
17,31 22 22,3 22,10 22,21 22,22 22,31–34 22,48 23,38
80 218 262 180 260 263 216 260 77
Johannesevangelium 1 64 1,18 72 1,21 64 1,33 51 2,1–11 221 2,4 267 4,1 f. 64 5,1–9 180 6 165 6,69 151, 156 7,27 51 8,32 254 10,29 78 10,30 156 10,35 151 10,36 156 12,6 259 13,27 262 13,28 260 13,29 259 14,6 254 14,9 73 14,10 f. 156 14,26 150 16,10 78 17,5 78 17,11 150, 157 17,17 156 17,18 156 17,19 156 17,20 156 20,17 78 180 20,24–29 21,25 187
Stellenregister
Apostelgeschichte 1 97 1,8 89, 99 1,12–14 180 1,14 f. 89 1,15 180 1,15–24 89 1,16–19 261 1,35 98 2,1–13 180 2,14–36 89 2,47 59 3,14 150, 151 3,15 98 3,21 150 4,27 151 4,30 151 4,36 169, 180 4,37 170, 180 5 95 5,16 162 5,39 95 6,9 98 7 89 7,52 66 7,55 78, 79 7,55 f. 71, 74, 76, 78 7,56 77 7,56 f. 77 8 89, 143 8,7 162 8,10 157 8,40 181 9 74, 89, 92 9,1 95 9,4 93 9,13 150 9,15 87, 185 9,26 f. 179 9,27 170 9,32 150 9,41 150 10 75 10,1–11,18 89 10,9 80
10,9–17 10,9–23 10,10 10,10–15 10,11 10,12 10,13 10,14 10,15 10,17 10,22 10,28 10,34 11,17 11,19–26 11,24 11,25 f. 11,26 11,27–30 11,30 12 12,25 13,1 13,1–3 13,4 13,4 f. 13,4–10 13,4–13 13,5 13,6 13,6–12 13,7 13,8 13,9 13,10 f. 13,12 13,13 13,48 14,1–6 14,8–18 14,14 f. 14,18 14,21 15,1–29 15,21
71, 79 91 80 f. 83 81 f. 82 82 f. 84 79, 84 f. 81 150 79 79 79 170 170, 183 170 170 170 170 95 170 170 170 182 185 182 170, 187 170 170, 175, 182 170 92, 170 170 92, 170 170 92, 170 171, 173, 182 183 98 90 159 159 182 91 83
435
436
Stellenregister
15,29 15,36 15,36–41 15,39 16 16,7 f. 16,16–22 16,18 16,24 16,25 16,26 16,27 16,38 f. 17,17 17,22–34 18,4 18,9 18,9 f. 18,18 18,24–19,7 18,28 19,1–7 19,12 20,17–34 21,27–38 22 22,3 22,7 22,17 22,17–21 22,21 22,22–25 23,23 f. 24,17 25,13–26,3 26 26,14 26,24 28 28,25–28 28,31
90 171 171, 173, 182 171, 174, 183 96 86 90 162 96 96 96 96 90 183 92 183 86 71, 85–87 90 64 183 63, 64 162 184 92 92 179 93 87 71, 86 f., 93 86 98 98 89 93 92 93 93 89 90 183
Römerbrief 1,7 1,13
150 86
1,20 3,25 5,1–5 7,22 f. 7,23 8,32 10,12 11,17–24 12,19 15,25 f.
257 253 223 244 133 259 84 220 253 150
1. Korintherbrief 1,2 2,1–10 4 5,11 6,2 6,18 6,19 9,1 10,1–13 10,12 13,5 13,7 14,33 15,3b–5 15,8 15,12 f. 15,21 15,42 16,1
150 221 64 256 85 246 150 86 131 131 256 256 150 47 78 48 48 48 150
2. Korintherbrief 1,1 3,7–16 3,14 3,16 5,1–10 5,19 8,7–9 10,5 10,10 10,13 11,1–6 11,12–15
150 131 131 131 66 253 216 133 209 85 134 134
Stellenregister
Galaterbrief 1,15 f. 2,5 2,14 2,20 3,1 4,16 5,1 5,7 6,7
86 133 133 260 132 133 79 133 255
Epheserbrief 1,9 f. 4,25–32 5,3
203 216 151
Philipperbrief 1,1 3,20 Kolosserbrief 1,2 1,12 1,22 3,12 4,10
150 80
150 308 151 151 180
1. Thessalonicherbrief 2,15 66 3,13 150 4,16 f. 61 2. Thessalonicherbrief 1,10 150 1. Timotheusbrief 1,15 246 2,11 f. 208 6,8 255 2. Timotheusbrief 1,8–12 2 2,8–10 2,15 2,16
140 139 140 140 140
2,17 2,17 f. 2,18 2,25 f. 3,1–10 3,2 3,6 3,8
437
3,9 3,10–13 3,13 3,16
139 135 140 140 132 139 133, 135 129, 130 f., 134–136, 138–141 135, 140 140 139 f. 134
Philemonbrief 5 7
150 150
Hebräerbrief 1,3 11,1 11,36–38 13,1–3 13,24
78 251 66 219 150
1. Petrusbrief 1,15 f. 2,5 2,9 3,5 4,8 5,8 f.
151 151 151 150 256 216
2. Petrusbrief 3,2
150
1. Johannesbrief 1,9 2,9–11 3,3
246 216 157
Judasbrief 14
150
Johannesapokalypse 1,1–3 103, 119
438
Stellenregister
1,5 f. 1,9–20 3,7 3,14–22 4,8 5,6 5,8 5,9 f. 6,9–11 6,10 8,3 f. 11 11,3–13 11,3–14 11,6 11,18 12 f. 12–14 12,1–17 12,4–6 12,7–9 12,8 f. 12,10–12 12,12 12,12–18 12,12–13,18 12,13 f. 12,13–16 12,15 f. 12,18 12,18–13,3 12,18–13,10 12,18–13,17 12,18–13,18 13 13,1 13,1–3 13,1–10 13,1–18 13,2 13,3 13,3 f. 13,4 13,5
123 118 77, 151 125 150 121, 124 150, 151 123 151 151 150, 151, 164 63 62, 67 45, 61 61 150 104 f., 107, 115 118 119 106 106 109 106, 123 106, 115 107 126 107 107 107 112 119 122 109 112 101 f., 110, 111, 114–118, 127 120 121 107 107, 109, 119 119, 120 111, 113, 121 122 107, 111, 112 f., 122 107, 115, 123
13,5–7 13,7 13,8 13,9 13,9 f. 13,10 13,11 13,11–17 13,11–18 13,12–16 13,12–17 13,13 13,14 13,15 13,16 13,17 13,18 14,1–5 14,1–20 14,6–20 14,10 14,14–20 14,15 16,6 18,4 18,24 19,8 20 20,1–3 20,8 20,9 20,10 20,14 f. 21,1 21,1–22,5 22 22,11
122 107, 115, 123 111, 112 f, 122 122, 123 126 122 124 111 105, 107, 124 117 124 112 111, 113, 123 107, 111 f., 114 f. 109 109 106, 112, 115, 125 103, 123 107 123 150 118 123 151 126 151 151 114–116, 126 114 114 114, 151 114 112 82 103 27 151
Fru¨hju¨dische und rabbinische Texte Damaskusschrift CD V 17–19 138
Stellenregister
1. (äthiopischer) Henoch 32,2 f. 28 70,4 28 77,3 28 2. (slavischer) Henoch 8 28 8,5 26 9 28 72,1 28 72,5 28 72,9 28 Jubiläen 7,21
154
2. Makkabäer 7,14 7,36. 15,12–16
49 49 164
Philo De vita Mosis 2, 258
73
Qumran 1QM 12,13 19,5
25 25
Sirach 40,27 45,6
26 152
Talmud Bavli bEr 43
50, 56 f.
Testament Levi 18,10 f.
27
Koran Suren 2,185 2,41 2,89
234 236 236
2,91 2,97 2,101 3,3 3,7 3,39 3,179 4,47 4,58 4,130 5,48 6,38 6,59 6,92 8,61 10,37 11,6 12,111 13,39 20 22,70 26,195 27,65 35,29 35,31 43,2 43,4 44,2–4 46,12 46,30 56,77 f. 56,77–79 60,7 68,1 80,11 f. 85,21 f. 96,1 96,4 97,1
236 236 236 236 230, 237 236 237 236 237 237 236 237 237 236 237 236 237 236 230, 237 f. 135 237 228 237 230 236 237 230, 237 234 236 236 230 231 237 229, 230 230 230, 237, 238 228 228–230 234
439
440
Stellenregister
Antike Schriftsteller (christliche und pagane, alphabetische Reihenfolge) Aelius Aristides Orationes 26,103 120 Aischylos Agamemnon 1624 93 Prometheus 322 f. 93 Ambrosiaster Quaestiones 9 Commentarius in 2 Cor. Commentarius in Col. 2,23 Commentarius in Rom. I 13,3 Commentarius in Eph. 3,1
84 85 308 86 86
Ambrosius von Mailand In Ps. 118 11,8 75 45,13 79 61,18 79 Hexaemeron 5, 6/36 76 In Lucam expositio 4, 75 76 8, 42 80, 85 10, 137 85 10,164–166 78 10,168 78 De fide 3, 17/137 f. 77, 79 De Spiritu Sancto 2, 10/106 79 Arnobius der Jüngere Conflictus 1,11 f. 78 Augustinus Confessiones 4, 1,1
308
8, 12,29 309 De cura pro mortuis gerenda 343 Ennarationes in Ps. 3,7 13,4 82 73,16 82 in Ps. 103 3,2 75 Epistulae 55, 20,37 309 De unitate ecclesiae 11/30 75, 79, 82 In Johannem tractatus 95,3 78 Sermones 4,19 83 12,4 75 314,1 77, 79 314–320 76 315,5 74 317,5 76 Quaestio ad Simplicianum 2, 1,1 75 c. Faust. 30,6 208 Basilius von Caesaraea Regulae fusius tractatae 37,4 80 Cassianus Institutio 3,3
80
Clemens von Alexandria Paedagogus 1, 67, 2 72 2, 16,2 83 2, 16, 3 82, 85 Stromateis 2, 6, 1 72 2, 116, 3 180 4, 97, 3 83 5, 82, 3 72 7, 41, 7 72
Stellenregister
Cyprian von Karthago Epistulae 58, 3,1 78 Caesarius von Arles Sermones 1,12 310 50,1 310, 313 55,5 313 74,3 313 136 81 136,1–3 79, 82 136,2 83 136,4 82 219 76 f. Chromatius von Aquileia Sermones 3,5 f. 80 3,6 82 3,7 83 3,8 84 Cicero Ad Quintum Fratrem 1, 11,34 120 Didache 2,2 3,4
303 303
Didymus Fragmenta Act.
82, 84
Ennodius von Pavia Carmina 1, 14 76 Epiphanius v. Salamis Liber de haeresibus 30,25,6–9 179 De incarnatione 4,3 f. 180 Euripides Bacchae 226 f. 447
96 96
510 518–575 587 f. 589 f. 611 625–632 627 f. 659
96 96 96 96 96 96 96 97
Eusebius von Caesarea Historia ecclesiastica 1, 12,2 180 3, 25,4 208 Faustus von Riez De Spiritu Sancto 2, 11 79 Gregor von Nyssa Stephanus 1 f. 74 f., 78 Hieronymus In Gal. commentarius 78 f. In Hes. commentarius 1,21–26 77 In Hos. commentarius 1, 2,18 83 In Mt. commen84 tarius De viris illustribus 7 207 Hilarius von Poitiers In Mt. commentarius 17,13 76 De trinitate 3, 16 78 Hippolyt In Dan. commentarius 3,29 208 Irenaeus Adversus haereses 1, 23,1 161
441
442
Stellenregister
3, 12,13 3, 12,15 4, 20,1 4, 20,5 4, 20,6
76 81 72 72 72
Maximus Confessor Questiones ad Thalassium 27 82 Questiones et dubia 116 82
Jannes und Jambres P.Lips.Inv. 2299 136 f.
Methodius De cibis 6,4
Johannes Chrysostomus Panegyrikos mart. 1, 22,1 74 Homiliae 18,1 77 22,1 74 22,2 81, 84 22,3 81 39,1 86 48,1 87 In Gen. homiliae 44,3 87
Origines Contra Celsum 1,67 73 2,2 82, 84 4,19 73 5,49 82 f. 5,57 72 7,3 73 7,41–44 73 8,63 73 De principiis 1, 1,7 73 1, 1,9 73 1, 2,3 208 3, 6,3 73 4, 4,3 73 In Ex. Commentarius 11,7 85 In Gen. Homiliae 2,5 82 In Joh. Commentarius 20,12 208 In Lev. Homiliae 5,12 84 7,4 80, 82 7,5 82 In Mt. Fragmenta 137, 2 81 De oratione 12,2 80 27,12 82
Justin der Märtyrer Dialogus cum Tryphone Judaeo 8,4 50, 52, 54 f. 48,4 52–54 48,8 53 49,1 53–55 49,1–3 53, 60 Makarios Magnes Apokritikos 4, 4,1 4, 4,3 4, 14,2 4, 14,5 4, 14,8 4, 14,7
85 85 86 86 86 86
Maximus von Turin Sermones 2,2 f. 79–81 40,3 77 52,3 f. 79
85
Papyrus Chester Beatty XVI 138
Stellenregister
Petrusakten 22
143
Petrus Chrysologus Sermones 163,3 83 Pindar Pythien 2, 174
93
Platon Timaios 28C
73
Plutarch De fortuna Romanorum 316e–317c 120 Prosper von Aquitanien In Ps. 103 79, 82 Ps.-Johannes Chrysostomos in Steph. 76 Pseudo-Makarios/ Symeon von Mesopotamien Sermones B 5, 3,2 74 7, 1,1 74
Pseudo-Oecomenius
75, 77, 81 f., 86 f.
Tertullianus Adversus Praxean 30,5 77 De anima 18,7–13 72 De praescriptione haereticorum 37,1–5 210 Adversus Marcionem 3, 5,4 205 De spectaculis 5,2 308 De ieiunio 10,2 80 Quodvultdeus von Karthago De promissionibus 3, 17 79 Zacharias von Mytilene Vita Severi 312
443
444
Personenregister
Personenregister Allison, D. 56 f., 59 Alster, B. 33, 35 Assmann, J. 168 Aune, D. 117 Backhaus, K. 54, 63 Bangert, K. 228, 230 f. Barth, K. 259 f. Barthes, R. 395 Bauckham, R. 63 Bauernfeind, O. 95 Becker, J. 69 Benjamin, W. 225 Benthien, C. 20, 27 Berger, K. 59 f., 63, 66, 68, 118 Berlejung, A. 25, 30 Billerbeck, P. 50, 136, 138 Bobzin, H. 231 Bollók, J. 209 Bolyki, J. 144 Bousset, W. 49 f., 62 Bovon, F. 76 Böcher, O. 113, 117, 154 Boddens Hosang, F.J.E. 306 Böhm, M. 71 Böttrich, C. 28 Bremmer, J. 143, 145 Brittnacher, H. 264 Brown, P. 167 Brox, N. 135 Bührer, W. 25 Clabeaux, J. 204 Collins, A. 47, 125, 152–155 Conzelmann, H. 133 Cornelius, I. 24 Cosby, M. 176, 179, 181, 185 Coumont, J.-P. 327 Crawford, H. 36 Cuss, D. 120 Czachesz, I. 177, 186 Dautzenberg, G. 69 Dassmann, E. 205, 209
Davies, S. 206 Deeg, A. 213–215, 222 De Jonge, H. 125 De Jonge, M. 52 Delius, W. 198 Derrida, J. 389 De Santos Otero, A. 176 De Saussure, F. 389 Dibelius, M. 133 Dietrich, M. 26 Dillinger, J. 283, 292 von Dobbeler, C. 67 Dockter, H. 304 Dormeyer, D. 94 Dschulnigg, P. 65, 153–155 Dunn, J. 91 Durst, U. 400 f., 421 Eastman, D. 181 Ebach, J. 221 Edzard, D. 32 Enke, P. 144 f., 147, 149, 159, 163 Evans, R. 21 Faierstein, M. 55 f. Ferguson, J. 21 Ficker, G. 146 Fischer, S. 29 Foers, H. 98 Fögen, M. 312 Förster, N. 170 Foucault, M. 393 Frenschkowski, M. 22 f., 43, 45 f., 71, 76, 87, 101, 121, 124, 129 f., 134, 146, 148, 189, 198, 227, 231, 304, 387 Friesen, C. 93 Friesen, S. 107 von Gebhardt, O. 207 George, A. 38–41 Gerhards, M. 30 Gerlof, M. 20, 27 Gertz, J. 27 Giesen, H. 118
Personenregister
Gilomen, H.-J. 335, 339 Gnilka, J. 59 Grabbe, L. 136 Graham, W. 228 Grünstäudl, W. 144 Gustafsson, L. 394 Haacker, K. 76, 92 Habermehl, P. 147 Hackett, J. 94 Häfner, G. 63 f., 134, 136 Hahn, F. 152 f. Harmening, D. 308 von Harnack, A. 204 Hartmann, M. 66 Harvey, S. 186 Hatina, T. 168 Haugg, D. 261 Haußig, H.-M. 232 Herczeg, P. 143, 159, 208 Hersperger, P. 347 Herzer, J. 132 f. Heyer, A. 21 Hilhorst, A. 206 f. Hillner, J. 311 Hoffmann, M. 146 Holtz, G. 139 Holtz, T. 112, 117, 122, 125, 151 Holtzmann, H. 135 Hornung, C. 303, 305 Horowitz, W. 40 Huber, K. 118 Hughes, K. 198 Jaerisch, P. 49 Jakobson, R. 399 Janowski, B. 24 f. Jensen, A. 207 Jeremias, J. 61 Johnson, L. 133 Jonkers, E.J. 312 Karpp, H. 210 Karrer, M. 104, 109, 151 Keel, O. 29 f., 97
445
Kellner, H. 67 Kermani, N. 231 Kertelge, K. 155 Klauck, H.-J. 118, 122, 144 f. Knipping, B. 25 Koester, C. 111, 117 Kollmann, B. 169, 174–176, 178–180, 183 Körtner, U. 223 Kowalski, B. 110, 118 Kraft, H. 150 f. Kramer, S. 35 Krawulski, D. 231 Krieg, M. 259 Kristeva, J. 393 Krueger, F. 136, 137 Kytzler, B. 21 Labahn, M. 103, 108, 113–115, 118, 122 f., 125–127 Lalleman, P. 145 Le Goff, J. 336, 339 Lehmann, J. 394 Lehnert, C. 224 Lenzin, R. 233 Leppin, H. 167 Lichtenberger, H. 125, 130, 134, 138 f., 151 Liebers, R. 47, 59, 65 Lipsius, R. 176 Lohmeyer, E. 47, 62 Luck, G. 312 Lührmann, D. 153–156, 162 Luther, M. 214 Luther, S. 144 f. MacDonald, D. 209 MacDonald, M. 25 Madigan, D. 230 Maier, C. 30 Majidzadeh, Y. 38 Majoros-Danowski, J. 66 Marcus, C. 47–50, 54, 59, 63–65 Markschies, C. 73, 120 Marstrander, C. 191, 194
446
Personenregister
Marx, M. 228, 231 Maul, S. 42 f. May, M. 388 Mayordomo, M. 103 McEleney, N. 140 McNamara, M. 136 Meiser, M. 71, 183 Melzi, T. 213 Meyer-Blanck, M. 222 Misset-van de Weg, M. 146 Mittermayer, C. 33 f., 37 f. Mol, A. 234 Molin, G. 70 Müller, A. 19, 125 Müller-Fieberg, R. 123 Nagel, T. 238 Nestle, W. 93 Neudorfer, H.-W. 135 Neuwirth, A. 229 Nicklas, T. 168 f., 172, 181, 183 Nicol, M. 222 Nietzsche, F. 392 Nongbri, B. 188 Norelli, E. 174, 176 Nowak, K. 248 Nützel, J. 68 Oberlinner, L. 130, 139 Olgiatti, D. 113, 119 Öhler, M. 56 f., 61, 64, 169, 171 O’Malley, T. 202–204 Ozóg, M. 310 Paret, R. 229 Peerbolte, J. 119 Pellegrini, S. 46, 65 Pesch, R. 67 f., 154 Pesthy, M. 165, 207 Pickel, G. 214 Pietersma, A. 130, 134, 136, 138 f. Pilhofer, P. 90, 174 Plümacher, E. 146 Pohl-Patalong, U. 222
Pongratz-Leisten, B. Prenner, K. 229
33
Radscheit, M. 233 Ratzmann, W. 214 Resseguie, J. 121 Riede, P. 24 Ritari, K. 189–194, 196–199 Robinson, J. 64 Rohde, J. 208 Roloff, J. 125 Rordorf, W. 209 Rüth, A. 339 Sänger, D. 124 Sasson, J. 35 Satake, A. 111, 120 Schäfer, J. 94 Schäfer, P. 57 Schenda, R. 336 Schipper, B. 28 Schlatter, A. 59 Schleiermacher, F. 220 Schmitt, J.-C. 339, 346 Schmitz, B. 228, 230 Schneider, J. 96 Schneemelcher, W. 145–147, 208 f. Schnelle, U. 57, 157 Schoeps, H. 66 Schöllgen, G. 304 Schüle, A. 214 Schweitzer, S. 24 Seaford, R. 94, 96 Seker, N. 235 Selmani, L. 232 Seymour, J. 191–193, 198 Siitonen, K. 125 Sjöberg, E. 51 f. Skarsaune, O. 53 Slenczka, N. 214 Snyder, G. 176 Söding, T. 121 Spiekermann, H. 97 Steck, O. 66 Stokes, R. 108
Personenregister
Stordalen, T. 25 f. Stowasser, M. 53–55, 57 Strack, H. 136, 138 Suter, C. 32 Takim, A. 228 Theißen, G. 153 f. Thyen, H. 157 Tilly, M. 65 Towner, P. 138 Trauner, K.-R. 70 Trible, P. 29 Uhlig, S. 28 Ulland, H. 118 Uttendörfer, O. 248 Van De Kamp, H. 107, 120 f. Van Der Horst, P. 177 Van Deun, P. 176, 178, 185 Van Ess, J. 233 Vanstiphout, H. 33, 37 Velázquez Soriano, I. 310 Verheyden, J. 181 Vogel, M. 49, 55, 62, 64, 66 Vögeli, A. 94 Vogler, W. 259
Wächter, L. 236 Watt, W.M. 232 Weinfeld, M. 24 Weinrich, O. 94 Weiser, A. 134 Wengst, K. 120, 124, 153, 157 Wetz, C. 153 f. Whitmarsh, T. 188 Wikenhauser, A. 97 Wilckens, U. 68, 223 Wild, S. 233 Willard, R. 194 Winiarczyk, M. 19, 21, 23 Wisnovsky, R. 232, 237 Witherington, B. 92 Wolfson, H. 233 Wolter, M. 64 Wright, C. 192, 194 Zeddies, N. 305, 311 Ziegler, D. 93 Zwierlein, O. 143 Zyber, E. 20, 24 f., 4
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