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German Pages 176 Year 2008
Schriften zur Rechtstheorie Heft 238
Regeln der Jurisprudenz Die Grundsätze und Methoden der Rechtswissenschaft als professionelle Standards
Von Christof Bernhart
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Christof Bernhart · Regeln der Jurisprudenz
Schriften zur Rechtstheorie Heft 238
Regeln der Jurisprudenz Die Grundsätze und Methoden der Rechtswissenschaft als professionelle Standards
Von Christof Bernhart
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-12805-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Ich widme dieses Buch dem Andenken an Martin Bernhardt, der im Jahre 1705 unter seinem Lehrer Christian Thomasius in der Dissertation „De tortura ex foris Christianorum proscribenda“ (Über die notwendige Verbannung der Folter aus den Gerichten der Christen) die Forderung nach der vollständigen Abschaffung der Folter erhob und in einer wissenschaftlich gültigen Weise begründete (vgl. Lieberwirth, S. 116).
Recht ist etwas, was man behalten kann, ohne es zu haben. (E. G. Tangl) Make everything as simple as possible, but not simpler. (Albert Einstein)
Vorwort Die vorliegende Arbeit geht von einem simplen Befund aus, der gleichwohl nicht gebührend beachtet wird: Die Rechtswissenschaft beschränkt sich zunehmend auf eine Gesetzestechnik. Für den Juristen soll die Kenntnis der Gesetze und der Gerichtspraxis ausreichen. Es handelt sich um einen allmählichen Abbau, der aber bereits konkrete Auswirkungen zeitigt. Sie reichen bis auf das Selbstverständnis der Rechtsanwälte, denen die Vorstellung, einen wissenschaftlichen Beruf auszuüben, zunehmend abhanden kommt. Das wirkt wieder zurück auf die Universitäten, die im Zeitalter der Ranglisten und aufgrund der Bologna-Reform ein Optimum des Erfolges im Vergleich zu den aufzuwendenden Mitteln zeigen müssen. Die Betonung der Praxis wird durch den starken Einfluss des angelsächsischen Rechts im Zuge der internationalen Vereinheitlichung des Rechts noch verstärkt. Die ganze Rechtssprache wird heute von der Gesetzessprache beherrscht. Das Verhältnis zum Normtext wird zum reinen Anwendungsproblem und Hermeneutik zur Störfallbeseitigung.1 Der Juristerei wohnt zudem eine gewisse Tendenz inne, nur eine Legitimation für etabliertes Tun zu suchen und zu geben.2 Mutige Postulate gehen selten von Juristen aus, was sich an den Bestrebungen zur Abschaffung der Folter oder der Todesstrafe zeigen lässt. Eine ganze Juristengeneration nahm in Deutschland das Unrecht des NS-Regimes widerstandslos hin, stellte sich geflissentlich in dessen Dienst und arbeitete danach in der Bundesrepublik unter anderen Paradigmen ungerührt weiter. Gegen einen Zerfall der Rechtskultur ist niemand gefeit. Es wird hier keinesfalls die Meinung vertreten, dass früher alles besser gewesen sei und der Untergang des Abendlandes unmittelbar bevorstehe. Allerdings muss der Kampf für das Recht jeden Tag neu geführt werden. Das Berufsethos verlangt einen aktiven Einsatz. Die verbreitete methodische Ratlosigkeit und berufsethische Beliebigkeit machen die Klärung des Selbstverständnisses des Juristen sowie seiner Grundsätze und Methoden notwendig. Dieses Buch will dazu in einer knappen Darstellung eine in sich schlüssige Konzeption präsentieren. Dafür ist es erforderlich, Aspekte zu behandeln, die in der Literatur keine gebührende Berücksichtigung finden. Hier sollen nicht abermals die gängigen Positionen der Rechtsphilosophie und der Methodenlehre aufgezeigt werden. Auf die entsprechenden An1 2
Vgl. Schott, S. 155. Vgl. Nussbaumer, S. 8.
8
Vorwort
sichten wird nur insoweit Bezug genommen werden, als es für die eigene Positionsdarlegung erforderlich ist. Die Arbeit erhebt somit den Anspruch eines Manifestes, das über die Behandlungsweise des positiven Rechts hinaus führt, mit dem Ziel, im Recht mehr als eine blosse Spielregel der Gesellschaft zu sehen. Lehre und Rechtsprechung sollen ferner veranlasst werden, sich den aktuellen Erkenntnissen anderer Wissenschaften, insbesondere jener der Linguistik, zu öffnen. Dafür ist die traditionelle Rechtskultur keineswegs aufzugeben, sondern muss eher neu belebt werden. Nur unter Rückgriff auf die ganze Methodengeschichte und Rechtsquellenlehre besteht die Möglichkeit, der gegenwärtigen Versteinerung der Methodik entgegenzuwirken. Ich danke allen, welche die Publikation ermöglicht haben. Kritik ist zu richten an [email protected]. Christof Bernhart
Inhaltsverzeichnis Die Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
1. Teil Das Objekt der Rechtswissenschaft
14
Das Recht als Überzeugung (Ethos) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
II. Das Recht als Institution (Usanz und Kodex) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20
III. Der moderne Rechts- und Gesetzesbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
I.
2. Teil Die Begründung der Rechtswissenschaft
25
Die allgemeinen Kriterien der Wissenschaftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
II. Die besonderen Kriterien der Rechtswissenschaftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
I.
3. Teil Die Grundsätze der Rechtswissenschaft
33
Der Ansatz: Das Recht als System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
II. Die formalen Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Recht als rationales System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Recht als normatives System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Recht als kategoriales System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Recht als textuelles System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Recht als selbstreferentielles System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Das Recht als duales System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die axiomatisch-konstante Systemkomponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die teleologisch-variable Systemkomponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35 35 35 37 39 44 45 45 46
III. Die materialen Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Recht als Wertesystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Recht als Ordnungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Recht als Friedenssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Recht als Sicherheitssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47 47 47 49 51
I.
10
Inhaltsverzeichnis 4. Teil Die Methoden der Rechtswissenschaft
57
Die Rechtsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Rechtsmethodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rechtsmethodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rechtstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57 57 63 65
II. Die Normmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Normbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Normfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Normhandhabung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Theorie der Normhandhabung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Normauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Normverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Norminterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Normfestlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Normanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das allgemeine Normanwendungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das spezifische Normanwendungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67 67 71 74 74 77 77 82 84 89 89 93
III. Die Sachverhaltsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Sachverhaltsdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Sachverhaltsfestlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Sachverhaltssubsumtion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95 95 95 96
I.
IV. Die Urteilsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 1. Die Urteilsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Die Urteilsdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3. Die Urteilsanfechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
5. Teil Die Aufgaben der Rechtswissenschaft I.
110
Die Erkenntnisaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
II. Die Erklärungsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 III. Die Darstellungsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 IV. Die Prognoseaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 V. Die Lenkungsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
Inhaltsverzeichnis
11
6. Teil Die Auswirkungen der Rechtswissenschaft I.
121
Der wissenschaftliche Erkenntnisstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
II. Die wissenschaftliche Sorgfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 III. Das wissenschaftliche Ethos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 IV. Die wissenschaftliche Indikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 V. Die wissenschaftliche Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
7. Teil Die Ergebnisse der Rechtswissenschaft I.
151
Die ratio legis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
II. Die Rechtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Theorie des Rechtsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das universale Rechtsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die spezifischen Rechtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153 153 155 156
III. Das Rechtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Résumé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Abkürzungsverzeichnis Abs. a. M. Art. Bd. BGB BGE BGer BGFA BV bzw. d.h. EMRK et al. f. ff. Hrsg. Kol 3,10 lit. m. E. N. OR Rn S. SJZ SR StGB SVZ u. a. usw. vgl. VwVG z. B. ZGB Ziff. z. T.
Absatz anderer Meinung Artikel Band (dt.) Bürgerliches Gesetzbuch vom 1. 1. 1900 Bundesgerichtsentscheid, Lausanne 1875 ff. Schweizerisches Bundesgericht Bundesgesetz vom 23. 6. 2000 über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte (Anwaltsgesetz) Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. 4. 1999 beziehungsweise das heisst Konvention vom 4. 11. 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und andere folgende fortfolgende Herausgeber Brief des Paulus an die Kolosser, Kapitel 3, Vers 10 litera meines Erachtens Note BG vom 30. 3. 1911 betreffend Ergänzung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Fünfter Teil: Obligationenrecht) Randnote Seite Schweizerische Juristen-Zeitung (Zürich) Systematische Sammlung des Bundesrechts Schweizerisches Strafgeseztbuch vom 21. 12 1937 Schweizerische Versicherungs-Zeitschrift, Bern – und andere – unter anderem und so weiter vergleiche Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren vom 20. 12. 1968 zum Beispiel Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. 12. 1907 Ziffer zum Teil
Die Fragestellung Beim Juristen handelt es sich um einen Akademiker. Im Allgemeinen muss die Ausübung eines wissenschaftlichen Berufs den Grundsätzen und Methoden der Wissenschaft entsprechen und sich zudem am anerkannten Erkenntnisstand der Wissenschaft ausrichten und so die Regeln der Kunst beachten. Der Begriff der „Kunstregel“ findet primär in der Medizin Verwendung, die früher als blosses Handwerk aufgefasst wurde. Obwohl die Rechtswissenschaft aus dem Trivium der Artes liberales, insbesondere der Rhetorik, hervorgegangen ist,1 wird für die professionellen Standards des Juristen die Bezeichnung „Regeln der Jurisprudenz“ gewählt, um sie von einer blossen Gesetzestechnik abzugrenzen. Diese Regeln sind Grundlage und Massstab der beruflichen Sorgfalt. Sie definieren als Indikation insbesondere auch, wann eine berufliche Massnahme unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten erforderlich und sinnvoll ist. Die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz wird allerdings noch heute verschiedentlich in Zweifel gezogen.2 Jedenfalls ist nicht ohne weiteres klar, was unter den „anerkannten Grundsätzen und Methoden“ sowie dem „Erkenntnisstand der Rechtswissenschaft“ zu verstehen ist und wie sie sich in der Berufsausübung auswirken.
1 2
Vgl. Wieacker, S. 52. Vgl. Kaufmann, S. 128.
1. Teil
Das Objekt der Rechtswissenschaft I. Das Recht als Überzeugung (Ethos) Bei der Entwicklung zum Menschen wurde die unwillkürliche Regung zurückgedrängt und der Mensch ging der reflexartigen Übereinstimmung mit dem Sein verlustig. Die Einheit zerbrach in ein Innen (Ich) und Aussen (Welt). Das entstandene Bewusstsein hinderte seine vorbehaltlose Hingabe sowohl an das Ich als auch an die Aussenwelt. Indem das Ich seines Selbst inne wurde, trat es auseinander. Der Mensch erlangte so Einsicht in seine eigenen Unzulänglichkeiten und Begrenzungen. Zudem hatte er zwar die Möglichkeit, das Aussen zu bedenken, vermochte es jedoch niemals ganz zu begreifen: Er ist in seinem Handeln vor Zweifel gestellt. In dieser Situation entsteht das Bedürfnis nach Wiedererlangung einer Frieden und Sicherheit schaffenden Integrität. Die Integration kann durch eine mystische Erfahrung des Grenzenlosen erfolgen, was einer Auflösung des Bewusstseins gleichkommt. Der Mensch kann seine Integrität aber auch durch Konformität mit der äusseren Tradition finden. Es ist die Lebensordnung einer naturgesetzlichen Gewohnheit, welche letztlich auf der mythischen Vorstellung einer kosmischen Notwendigkeit basiert und die Einhaltung von unveränderbaren rituellen Formen und Gepflogenheiten verlangt.1 Das Christentum stellt unter Bezugnahme auf die griechische Philosophie dem Mythos den Logos entgegen, verstanden als Wahrheit, Überprüfbarkeit, Vernünftigkeit und Richtigkeit. Der Logos verheisst das sich selbst verstehende Selber sein,2 als eine auf Rationalität beruhende Übereinstimmung mit sich und der Aussenwelt. Für das Christentum ist die Welt eine Schöpfung aus der Liebe und Vernunft der Person des gnädigen Gottes. Der Mensch ist sein Ebenbild.3 Das eröffnet die Aussicht, dadurch eine Ganzheitlichkeit zu erlangen, indem man versucht, sich und die Welt zu verstehen, um sie gestalterisch mit den eigenen Richtigkeitsvorstellungen in Übereinstimmung zu bringen. Die als Kultur verstandene Gestaltung erfolgt zunächst in der Gewissheit des Nachvollzugs einer göttlichen Idee. Mit wachsendem Selbstbewusstsein und dem daraus resultierenden Verlust eines Gottes- oder Autoritätsbezuges entspringt die Gestal1 2 3
Ratzinger, S. 42. Ratzinger, S. 145 f. Kol 3,10; Ratzinger, S. 21.
I. Das Recht als Überzeugung (Ethos)
15
tungskraft profaner Ideen der eigenen Vernunft. Der moderne rationale Mensch möchte nach seinen eigenen Vorstellungen leben, um mit sich und der Welt in Übereinstimmung zu gelangen. Das menschliche Zusammenleben ist Teil dieses kulturellen Wandels. Es durchläuft die Stadien von der Unabänderbarkeit einer naturgesetzlichen mythischen Ordnung über Phasen der rationalen und zunehmend autonomen Ausgestaltung autoritativ vorgegebener Strukturen bis hin zum Versuch der gesellschaftlichen Übereinstimmung der individuellen Vorstellungen. Durch den Logos liegt die Orientierung und Rechtfertigung für das menschliche Handeln im Ethos, den eigenen, für wahr gehaltenen Wertvorstellungen. Diese Vorstellung ist somit nicht beliebig. Sie beruht auf einer subjektiven Wahrheitsanerkennung und ist das Ergebnis einer Bewertung, der auf Vergleich beruhenden Bevorzugung eines Gutes. Als „das Gute“ ist der Wert verabsolutiert und vom Nützlichen kategorisch getrennt. Unter Bestimmung eines höchsten Gutes können die Werte in eine hierarchische Ordnungsbeziehung gebracht werden. Solche Wertvorstellungen sind mit einem Geltungsanspruch versehen. Sie verlangen als regulative Kraft ihre gestalterische Umsetzung in einer Handlung und können als Ideal auf eine Verwirklichung in den gesellschaftlichen Verhältnissen abzielen. Falls eine Wertvorstellung anerkannt ist, gelten für den rationalen Menschen auch alle logischen Folgerungen und situativen Ausprägungen davon als richtig. Das Handlungsergebnis lässt sich anhand der Wertüberzeugung beurteilen. Die richtige Vorstellung bedarf allerdings auch der richtigen Umsetzung. Das setzt innere Besonnenheit und äussere Angemessenheit voraus, wodurch die Wirklichkeit zum Massstab der Wertüberzeugung wird. Ein höchstes Gut muss voraussetzungslos verwirklicht werden. Bei anderen Werten steht die Befolgungspflicht unter den Bedingungen und Möglichkeiten der Realität. Anhand der Erfüllungsbedingungen ergeben sich unterschiedliche Geltungsebenen, eine absolute Geltung besteht etwa bei Unbedingtheit des Handlungsgebots. Bei absoluten, universalen Handlungsgeboten handelt es sich um eigentliche Handlungsnormen. In ihnen manifestieren sich somit handlungstaugliche, erfüllbare, auf Wertüberzeugungen beruhende, allgemeine Aufforderungen. Sinn einer Handlungsnorm ist die Verwirklichung der ihr zugrunde liegenden Wertvorstellung, was die Bewertung der Handlung nach dem Ausmass ihrer Erfüllung zulässt. Besteht keine ausschliessliche Selbstbezogenheit, wirkt sich die Norm auch auf andere Personen oder die Öffentlichkeit aus. Beruht eine solche soziale Norm auf einer gemeinsamen Wertüberzeugung, tritt ihre gegenseitige innere Verbindlichkeit ein. Daraus entsteht ein Wechselverhältnis aus Anspruch und Pflicht, womit eine Sachlage bestimmt wird. Eine solche definierte Situation lässt personale Verfügungen zu, die Geltung transportieren, indem sie inhaltlich festlegen, was neu gilt.4 Die daraus entstandenen Verbind4
Vgl. Calliess, S. 64.
16
1. Teil: Das Objekt der Rechtswissenschaft
lichkeiten können verletzt werden, was unter Umständen zur Durchsetzung oder Sanktionierung führt. Die Durchsetzbarkeit der Norm ist jedenfalls gegeben, sie steht in einem Äquivalenzverhältnis zur Erfüllbarkeit. Das Handlungsgebot nimmt mit den zusätzlichen Merkmalen der Absolutheit und Verbindlichkeit die besondere Qualität von Rechtlichkeit als eigenständigen menschlichen Regulativtyp an. Durch diese charakteristischen Eigenschaften grenzt es sich in der Vorstellung von der Moral ab. Man kann hier von opinio iuris sprechen oder der Überzeugung, etwas sei rechtlich und nicht ausschliesslich individual-moralisch geboten. Der Gehalt der Rechtlichkeit einer Norm liegt nicht bloss in einem Anspruch. Die aus der Verbindlichkeit erwachsenden Pflichten sind integraler Bestandteil des Rechts. Die Unterscheidung des Rechts zu anderen Regulativtypen erfolgt insbesondere aufgrund seiner Sozialverbindlichkeit als RechtPflicht-Beziehung. Recht ist deshalb etwas Überstaatliches und muss nicht identisch sein mit dem, was vom Staat als verbindlich anerkannt ist. Rechtlichkeit ist somit Ausdruck für die auf dem Ethos (Wertüberzeugung) beruhende, verbindliche und damit auch soziale Norm (universales, absolutes Handlungsgebot), die erfüllbar und damit grundsätzlich auch durchsetzbar ist. Recht ist eine Richtigkeitsvorstellung über soziales Verhalten, die als gegenseitig verpflichtend aufgefasst wird und somit Folgen auslöst. Im Gesetzesmodus, als institutionell definierte Vorschrift, wird sie mit staatlichen Sanktionen belegt. Rechtlichkeit ist nicht primär das Ergebnis einer Vereinbarung. Vielmehr ist das Recht Resultat einer Übereinstimmung des Ethos jedes Einzelnen, was ihre Universalisierung erlaubt. Das Dogma des Rechts ist zunächst ein individuelles Credo.5 Die Gewissheit betrifft keine Aussage („Ich glaube, die Erde ist eine Scheibe“), die sich als unwahr herausstellen kann. Vielmehr bezieht sie sich auf ein Gut („Ich glaube an einen höchsten Wert“). Dabei handelt sich also nicht um eine Hypothese, sondern um eine erkenntnisunabhängige Bewertung. Diese Letztbegründung liegt für den europäischen Menschen in seinem Personsein, das jedem Menschen gemeinsam ist. („Ich bin überzeugt, dass die Person in jedem Menschen der höchste Wert ist und richte danach mein Handeln aus.“) Am Anfang steht ein deskriptives Werturteil über den Menschen als Grundlage und Massstab des Handelns. Personhaftigkeit ist eine apriorische Voraussetzung des selbst-bewussten Denkens und der Erfahrung und damit eine theoretische Unreduzierbarkeit eines Ganzen, das um sich und seine Gedanken weiss.6 Neben dieser Komponente der Zurechnungsfähigkeit kommt jene der Handlungsfähigkeit als schöpferischer, so genannt freier Wille hinzu. Personhaftigkeit schliesst sodann Personbezogenheit (Sozietät) als die Bezogenheit aufeinander ein, die sich ganzheit-
5 6
Vgl. für die Theologie Ratzinger, S. 79 f. Ratzinger, S. 145.
I. Das Recht als Überzeugung (Ethos)
17
lich als Liebe äussert.7 Konstituierend für die Person sind somit Vernunft, Freiheit und Liebe, womit es als Ganzes und Einmaliges besteht. Daraus folgt die Vorstellung seines Wertes,8 denn wertvoll ist für uns das Einmalige. Personsein ist allen Menschen gemeinsam und macht das Menschsein aus. Der Wert des Menschen ergibt sich somit allein aus dem Personsein und nicht aufgrund des kontingenten (akzidentellen/zufälligen) Habens bestimmter anderer Eigenschaften wie Schönheit, Gesundheit, Reichtum oder Macht, die der Mensch mit dem Verlust der betreffenden Eigenschaften auch verlieren kann.9 Darin unterscheidet sich die christliche Vorstellung fundamental von anderen Weltanschauungen, der Islam kennt z. B. Wertkategorien von Menschen, etwa Gläubige und Ungläubige. Unser Begriff der Menschenwürde bezieht sich hingegen auf das, was von vornherein das Menschsein ausmacht und allen Menschen gemeinsam ist, womit die Bezeichnung als Wert der Person zutreffend ist. Auch bei fehlendem Gottesbezug behält der europäische Mensch die Überzeugung des Wertes der Person als Teil des Wertes allen Lebens bei. Die Vorstellung ist unbezweifelbar. Sie ergibt sich nämlich nicht nur autoritativ aus der göttlichen Offenbarung, sondern beruht auch auf einer erkenntnistheoretischen apriorischen Voraussetzung. Ferner besteht die Möglichkeit ihrer Erfahrung und damit einer axiomatischen Begründung. Die Würde des Menschen ist insbesondere im Anblick des leidenden Menschen sinnlich wahrnehmbar und evident. Indem jeder christliche Mensch das Credo teilt (um nicht zu sagen, aus theoretischen Gründen teilen muss), kommt ihm als Grundlage des richtigen Handelns ultimative Gültigkeit zu. Etwas Grundlegenderes gibt es nicht. Es ist der richtungweisende Grundsatz auch für das Zusammenleben. Personsein darf keinem Menschen abgesprochen werden. Im Zusammenleben ist „der andere Mensch von vornherein als Person anzusprechen und anzusehen und ihm ist entsprechend zu begegnen“,10 was Achtung der Person verlangt. Der Wert der Person definiert somit den materialen (in der scholastischen Terminologie) objektiven Begriff „Recht“ als Kategorie und liefert insbesondere Kriterien für Rechtmässigkeit als Abgrenzung von Recht und Unrecht. Wird die Würde des Menschen missachtet, handelt es sich um Unrecht. Die gemeinsame Überzeugung der Person in jedem Menschen als höchstes Gut und deren Achtung ist die mens des Rechts. Aus dem Wert der Person als Prämisse sind in sich zusammenhängende und widerspruchsfreie Aussagen ableitbar, in deren System sich verschiedene Prinzipien erfassen lassen. Bei der Deduktion kann auch von den Inhalten der Personalität, nämlich der Vernunft-, Freiheits- und Liebesbegabung ausgegangen werden.
7
Ratzinger, S. 167. Ratzinger, S. 21. 9 Mittelstrass, Stichwort „Würde“, Bd. 4, S. 784 ff. 10 Sociolexikon, www.sociologicus.de/lexikon (besucht am 1. 1. 2008), Stichwort „Person“. 8
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1. Teil: Das Objekt der Rechtswissenschaft
Die ersten Folgerungen sind aus der Begriffslogik zu ziehen: Personalität ist gleichbedeutend mit Identität und erfordert Integrität. Sie umfasst einen autonomen Bereich des eigenen Denkens, Erlebens und Verhaltens, der in jeder Hinsicht unantastbar ist. Dieser erstreckt sich auch auf das Leben selbst, als notwendige Voraussetzung der Personalität. Im personalen Bereich ist der Mensch nur seinen eigenen individual-moralischen Maximen verpflichtet, wodurch seiner Freiheitsbegabung entsprochen wird. Hier verläuft auch die Grenze zwischen Moral und Recht. Recht setzt zwar eine gemeinsame, schon bestehende Überzeugung voraus, darf dagegen keine solche vorschreiben oder erzwingen. Nicht das Recht definiert die Überzeugung, sondern die Person selbst. Damit ist gesagt, dass sich das Recht auf allgemeine Handlungsanweisungen beschränken muss. Das bereits vorhandene Ethos darf indessen in einem deskriptiven Werturteil konstatierend festgestellt und mit Rechtsfolgen belegt werden, was etwa für das Strafrecht von Bedeutung ist. („Der Angeklagte handelte mit einer verwerflichen Gesinnung.“) Das Recht schafft den autonomen Bereich nicht, sondern setzt ihn voraus und muss ihn als unverletzlich gewährleisten. Konsequenz ist das Grundrecht der persönlichen Freiheit (einschliesslich eines zivilrechtlichen Schutzes der Person). Das Grundrecht darf deshalb nicht mit umfassender Handlungsfreiheit gleichgesetzt werden, sondern betrifft nur den Identitätsbereich. Die weiteren Grundrechte entstehen als problemspezifische Ausprägungen der persönlichen Freiheit. Integrität steht ausser für Unantastbarkeit durch Dritte auch für Unveräusserlichkeit. Bei der Verletzung der Integrität durch die Person selbst, muss die Handlung rechtlich unverbindlich bleiben. Dem Schutz der persönlichen Integrität kommt somit eine für das Recht legitimierende, limitierende und normierende Funktion zu, womit insbesondere auch ein zulässiges öffentliches Interesse für eine rechtsstaatliche Massnahme definiert wird. Da Personalität jedem Menschen zukommt und umfassend zu schützen ist, besteht im personalen Bereich die identische Gleichheit der Menschen. Diese personale oder materiale Gleichheit ist ein allgemeiner Minimalanspruch zur Sicherung der menschlichen Integrität und Identität. Sie lässt im Gegensatz zur proportionalen Gleichheit keine Differenzierung zu. Im Identitätsbereich stellt eine Ungleichbehandlung eine unrechtmässige Diskriminierung dar. Der Vernunftgehalt der Person drückt sich in Rationalität aus. Sie verlangt für jede Rechtsnorm eine Rechtfertigung und für ein daraus folgendes Urteil einen Beweis. Gefordert ist eine logische Folgerung, die in einen Argumentationsverfahren (Prozess) konstruktiv (schrittweise und ohne Lücken) gewonnen und angegeben, also öffentlich gemacht wird. Das Verfahren muss auf Unvoreingenommenheit und Zwanglosigkeit beruhen und darf nicht persuasiv sein.11 Damit wird Willkür ausgeschlossen.
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Vgl. Mittelstrass, Stichwort „Begründung“, Bd. 1, S. 272 ff.
I. Das Recht als Überzeugung (Ethos)
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Gerechtigkeit hat ebenfalls mit dem Vernunftgehalt zu tun. Als Sachgerechtigkeit geht sie davon aus, dass jede Idee auch der Wirklichkeit angepasst sein sowie der menschlichen Erfahrung entsprechen muss. Durch das Messen an der Wirklichkeit passt sich eine abstrakte Vorstellung an, das Ergebnis ist ihre Angemessenheit. Die Überzeugung wird sachgerecht und erhält dadurch erst die Tauglichkeit als Handlungsgrundlage. Sachgerechtigkeit bedeutet somit auch Handlungstauglichkeit. Das „Mass nehmen“ und „Mass halten“ verselbständigt sich sodann zur eigenständigen Überzeugung und wird als abstrakte Besonnenheit und Angemessenheit zum selbständigen Handlungsgrundsatz. Ferner muss aufgrund der Sachgerechtigkeit die Handlungsanweisung als Mittel zur Erreichung eines Handlungszweckes gesehen werden. Diese Zweck-Mittel-Relation verdeutlichen Kriterien wie Erkennbarkeit, Erfüllbarkeit und Durchsetzbarkeit sowie Notwendigkeit und Erforderlichkeit als Gehalt der Verhältnismässigkeit. Solche Zweckmässigkeitsgesichtspunkte können ebenfalls als Teil der Gerechtigkeit aufgefasst werden. Zudem muss die auf einer Handlungsregel beruhende konkrete Entscheidung unter so genannten Billigkeitsaspekten daran gemessen werden, inwieweit sie dem Handlungszweck noch entspricht. Die proportionale Gleichheit ist auch Bestandteil der Gerechtigkeit. Im Unterschied zur materialen Gleichheit knüpft sie an die persönlichen Eigenschaften des Menschen an. Sie verlangt, dass das einer Person Zukommende nach den äusseren Eigenschaften abzustufen, ungleiches also ungleich zu behandeln ist. Gerechtigkeit beinhaltet somit die Gehalte Sachgerechtigkeit, Verhältnismässigkeit, Zweckmässigkeit, proportionale Gleichheit und Billigkeit. In allen Aspekten bleibt sie dem Feststellbaren und damit auch der menschlichen Beschränktheit verhaftet. Gerechtigkeit kann deshalb nicht generell mit der Vorstellung von richtigem sozialem Handeln gleichgesetzt und als allein bestimmend für das Recht angesehen werden. Damit würde nur der Vernunftgehalt beachtet, hingegen der personale Freiheitsgehalt sowie die Mitmenschlichkeit ignoriert. Das Recht geht mit dem Schutz der Person über Gerechtigkeitsdenken hinaus. Die Todesstrafe für einen Ladendiebstahl ist ungerecht, jedoch einem Mord angemessen und damit gerecht. Sie ist trotzdem Unrecht, weil sie in das Leben als Voraussetzung des Personseins eingreift und damit das Recht auf persönliche Freiheit verletzt. Die persönliche Freiheit und materiale Gleichheit gehen der Gerechtigkeit vor. Das Recht umfasst ferner auch die Gnade. Sie ist die Überwindung der mit der Wirklichkeit verbundenen Beschränkungen durch die Mitmenschlichkeit, womit alle Gerechtigkeitsvorstellungen übertrumpft werden. Nach ursprünglicher Bedeutung verpflichtet die Abhängigkeit von der Gnade Gottes den Menschen, selbst Gnade zu üben, indem er gegenüber dem Mitmenschen Milde walten lässt. Es bezeichnet heute das Recht, Strafen aus humanitären Gründen zu mildern, womit das Liebesgebot zur Rechtsfigur erhoben wird. Das gleiche gilt für das aus der nachlassenden Billigkeit folgende Gebot der schonenden, milden und rücksichtsvollen Rechtsausübung.12 Gerechtigkeit und
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1. Teil: Das Objekt der Rechtswissenschaft
Gnade sind allerdings keine Gegensätze, sondern Teilgehalt einer (von der göttlichen Gnade) selbst abhängigen personalen Menschlichkeit.13 Deren Entelechie ist „pax et gratia,“ nämlich das Glück des in sich selbst ruhenden, ausgewogenen Menschen im Lichte des inneren und im Schutze des äusseren Friedens.14
II. Das Recht als Institution (Usanz und Kodex) Dem Logos Recht als einer rational und ethisch gerechtfertigten Handlungsanweisung mit ihrer Richtigkeits- und insbesondere Freiheitsvorstellung, steht das auf einem Mythos beruhende Gesetz gegenüber. Heute ist Gesetz die Bezeichnung für die durch institutionelle Machtausübung wirkungsfähige Norm. Ursprünglich wurde es verstanden als die tradierte naturgesetzliche göttliche Sittenordnung. Eine Abweichung davon galt als Störung des Friedens der Götter oder Naturgewalten und musste als Missetat mit einem Opfer gesühnt werden.15 Die Gewohnheit manifestiert sich in den Institutionen, die als Gesamtheit das Wesen einer Gesellschaft ausmachen. Sie sind Teil der überlieferten Ordnung und stellen regulativ wirkende gesellschaftliche Einrichtungen dar. Diese basieren wiederum auf menschlichen Verhaltensmustern. Die Personenbezogenheit des Menschen führt zu einer Gruppenbildung, die eine Aufteilung der anfallenden Arbeiten und eine soziale Organisation mit sich bringt. Dadurch sind Machtverhältnisse verbunden. Menschliche Motive bestimmen deshalb mit, wie die Gesellschaft in Teilbereichen und als Ganzes organisiert wird (beispielsweise werden Existenzbedürfnisse durch Besitz an Nahrung, Wohnung und Kleidung befriedigt und im Eigentum gesellschaftlich instituiert). Damit beginnt das Eigentum als Institution eine prägende Wirkung zu entfalten. Zwischen der sozialen Wirklichkeit und der regulativen Wirkung einer Institution besteht eine Wechselwirkung. Die Orientierungsfunktion kann nur solange ausgeübt werden, wie die Menschen die Institution am Leben erhalten. Das göttliche und damit unabänderliche Gesetz bildet die ursprüngliche mythische Legitimation der Institutionen. Im Zuge der menschlichen Emanzipation zerfällt die traditionelle Legitimationsbasis indes zusehends. Zur Aufrechterhaltung der Institutionen muss die mythische durch eine rationale Rechtfertigung abgelöst werden. Das gilt insbesondere für die Institution Staat. Dieser entwickelt sich anhand der Bedürfnisse und Notwendigkeiten einer Gemeinschaft. Staat ist zunächst buchstäblich eine statische Angelegenheit, da man sich darauf beschränkt, die tradierten unveränderbaren Gesetze zu gewährleisten. Die Machthaber werden als 12 13 14 15
Vgl. Pernice, S. 180 ff. Haas, S. 60. Haas, S. 57. Vgl. Carlen, S. 39.
II. Das Recht als Institution (Usanz und Kodex)
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Personifikation der göttlichen Ordnung gesehen, paradigmatisch im Gottkönigtum. Eine Dynamik tritt ein, sobald der Staat eine selbständige Gesetzgebung für sich in Anspruch nimmt. Ein weiterer Entwicklungsschritt liegt darin, dass dem Staat ein von der momentan herrschenden Person eigenes Wesen zugebilligt wird. Damit sind die Schaffung von personenunabhängigen Organisationsund Gesetzgebungsstrukturen verbunden. Jedenfalls muss sich der Staat im Zuge dieser Entwicklungen in wachsendem Masse an den Richtigkeitsvorstellungen der Staatsangehörigen messen lassen. Recht umfasst nicht mehr nur das Verhältnis unter den Menschen und zur Gerichtsbarkeit, sondern zu allen staatlichen Institutionen, die Macht ausüben. Es entsteht ein öffentliches Recht. Ausgehend von der Vorstellung der politischen Gleichheit bilden sich mit einiger Zwangsläufigkeit demokratischer Staatsstrukturen. Am Ende der Entwicklung steht ein Staatsverständnis, dass als „demokratischer Rechtsstaat“ eine zutreffende Bezeichnung gefunden hat. Der Ausdruck impliziert, dass der Staat das Recht verwirklichen will und nur Rechtsnormen schaffen darf. Das moderne Staatsverständnis hat Auswirkungen auf das Verhältnis von Recht und Gesetz. Die überholten klassischen Abgrenzungen hatten andere Ausgangsgrössen zu berücksichtigen, beispielsweise einen absolutistischen Fürst, der nach eigenem Belieben Gesetze erlassen konnte. Jedes regulative institutionelle Wirken bemisst sich heute am Recht. Allerdings sollte der moderne Staat nicht auf eine durch das Recht disziplinierte Obrigkeit reduziert werden. Die Konzeption des demokratischen Rechtsstaates muss, wie es bei der Schweizerischen Eidgenossenschaft bereits im Namen zum Ausdruck kommt, aus der Vorstellung der Genossenschaft entwickelt werden. Autonome Menschen übertragen in selbstbewusster und gleichberechtigter Entscheidung diejenigen als richtig erkannten Aufgaben oder Vorstellungen an das aus ihnen bestehende, rechtspersönliche Gemeinwesen, welche sie alleine nicht gewährleisten können. Die gemeinsamen Aufgaben sollen unter Verwirklichung der gemeinsamen Rechtsüberzeugung rational gelöst werden, wodurch Recht geschaffen und praktiziert wird. Die Umsetzung einer Überzeugung in eine universale Handlungsanweisung und ihre situative Konkretisierung lässt bei aller Logik immer Gestaltungsspielräume des Ermessens offen.16 Eine Überzeugung weist notwendigerweise eine Unbestimmtheit auf. Dies hängt bereits damit zusammen, dass eine Vorstellung an die Sprache gebunden ist, die sich selbst durch eine semantische Offenheit auszeichnet. Der aus dem Ethos abgeleitete Gehalt ist die Grundlage und legt insbesondere die Grenzen für eine konkrete Verhaltensanweisung fest. Dieser Grundgehalt muss gestalterisch ausgefüllt werden. Dafür kommt nur eine auf Rationalität beruhende Vereinbarung in Frage, die im kleinen Kreis durch Kon-
16 Ob auf der Strasse links oder rechts gefahren wird, lässt sich aufgrund des Wertes der Person nicht sagen, hingegen schon, dass der Strassenverkehr so zu gestalten ist, dass die Opferzahl möglichst gering bleibt.
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1. Teil: Das Objekt der Rechtswissenschaft
sens der Beteiligten gefunden wird. Ein solcher Konsens ist meistens institutionell geprägt. Für die gesamte Gesellschaft muss dessen Erzielung nicht zuletzt aus Praktikabilitätsgründen an einen demokratisch gewählten Gesetzgeber delegiert werden. Neben dem ethischen und damit unverfügbaren Teilgehalt weist eine Rechtsnorm einen institutionell-konventionalen Teilgehalt auf, welcher der individuellen und gesellschaftlichen Verfügbarkeit unterliegt. Nicht zuletzt daraus ergibt sich seine soziokulturelle und geschichtliche Varianz. Im Zivilrecht wird diesbezüglich zwischen zwingendem und dispositivem Recht unterschieden. Die subjektive, innere Existenz des Rechts als Rechtsüberzeugung manifestiert sich in Handlungen und weist somit als praktiziertes Recht eine soziale Existenz auf. Normbefolgung ist an die Intersubjektivität einer gesellschaftlichen Praxis gebunden. Es gibt praktiziertes Recht als unmittelbare Manifestation der Rechtsüberzeugung, was als Gewohnheitsrecht bezeichnet wird. Daneben tritt das Recht in seiner verbrieften Existenz als Kodex auf. Beide Arten sind eigenständige Modi des Rechts. Dieses manifeste Recht führt sodann zu einer eigenen Existenz in der Gerichtspraxis. Die Rechtsprechung ist nur im beschränkten Mass eine direkte Manifestation des Rechts, da sie vielfach nicht unmittelbar ausgehend vom Gesetzestext stattfindet, sondern auf typisierende Fallbeschreibungen Bezug nimmt, die dann auf einen konkreten Lebenssachverhalt angewendet werden.17 Auch bei der Praxis der Gerichte muss deshalb der eigenständiger Gehalt und die unabhängige soziale Präsenz betont werden. Es gibt Recht also in mehreren sich unterscheidenden Modi. Diese Manifestationen sind gestalterische Modifikationen einer Essenz. Somit basiert der demokratische Rechtsstaat sowohl auf der Materie Recht als auch auf dem Modus eines Gesetzeskodexes. Man will die sich verändernde Richtigkeit mit der vertrauensbildenden Beständigkeit verbinden. Dies verlangt eine hinreichende Bestimmtheit des Gesetzestextes. Gesetzliche Grundlage bedeutet die Manifestation einer Regel in einem Text. Das erfolgt in der Maximalforderung der Kodifikationsidee tendenziell mit einem Vollständigkeitsanspruch. Selbst bei umfassender Gesetzgebung bleibt jedoch eine begriffsnotwendige Unbestimmtheit der abstrakt formulierten Norm als Regel und Typ. Sie ist deshalb im Hinblick auf eine Situation immer offen (in der traditionellen Formulierung lückenhaft). Die Bewertung einer konkreten Situation anhand der Regel in die Rechtsprechung kann demnach nicht blosses Nachsprechen des Vorgeschriebenen sein,18 sondern bedarf der Auf- und Austeilung des Rechts auf eine bestimmte Person. Ein solches Urteil beruht somit immer auf einer Entscheidung, da keine Determinierung vorliegt. Die Wahl darf jedoch nicht beliebig sein, die Willkür muss der Überlegung weichen. Rationalität verbietet eine 17 18
Busse (1993), S. 149. Kirchhof (2002), S. 119.
III. Der moderne Rechts- und Gesetzesbegriff
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ausschliesslich innere Entscheidung durch eigene Vernunft und setzt die Einsicht in einen äusseren, besseren Grund voraus. Das Urteil muss einer objektiven ratio folgen, die im Rechtsstaat ein Ethos ist. Jedenfalls muss die Offenheit zwischen abstrakter Regel und konkretem Fall in methodisch kontrollierter Weise und durch konstruktive Begründung überwunden werden. Letztlich darf eine verbleibende Unbestimmtheit durch Gebote vervollständigt werden, die jedermann für diese Situation billigen würde. Die allgemeine Billigung (als Billigkeit bezeichnet) ist ebenfalls ein Prinzip der Urteilsfindung.
III. Der moderne Rechts- und Gesetzesbegriff Grundlage der europäischen Zivilisation ist das Ethos der Person. Das Wesen des Menschen, seine Person, ist einmalig, wertvoll und schutzbedürftig. Die Achtung der Person ist die Umsetzung dieser Überzeugung in eine universale moralische Handlungsregel. Daraus erwächst die Vorstellung ihrer Absolutheit und gegenseitigen Verbindlichkeit als opinio iuris. Essenz der Rechtsüberzeugung ist ein Anspruch auf Achtung der eigenen und Pflicht zur Achtung der anderen Person. Dieser Gehalt macht das Recht aus. Person ist der bestimmende Begriff (Definiens) für Recht und als Axiom und Prämisse struktur- und grenzbestimmend. Recht ist durch den Inhalt charakterisiert. Die von der Person erzeugte Vorstellung ihres Wertes ist das Sinnkriterium. Daraus folgen logisch verschiedene Prinzipien, zuerst personale Freiheit, materielle Gleichheit, Gerechtigkeit, Rationalität und Gnade, wodurch sich das Zusammenleben bestimmen lässt. Diese Essenz „Recht“ tritt in verschiedenen Modi als Manifestation und gestalterische Modifikation auf. Was Recht ist, lässt sich deshalb nominal oder real definieren und unter formalen oder materiellen Kriterien bestimmen. Recht kann konventionell (was als verbindlich gilt) oder originär (was zur Verbindlichkeit führt) ausgedrückt werden. Sowohl die axiomatische als auch die manifeste Betrachtungsweise des Rechts, als den zwei Hauptströmungen in der Rechtsphilosophie, führen heute zu den gleichen Ergebnissen. Dies ist eine Folge der Verankerung der Menschenwürde in der Verfassung. Die hier vertretene axiomatische Begründung stellt allerdings die Nichtverfügbarkeit der Person in den Vordergrund. Die Konzeption des Rechts bestimmt ferner seine Methodologie entscheidend. Das gilt besonders für das Verhältnis zwischen Rechtslogik und Gesetzeshermeneutik als einer ihrer Grundprobleme. Bei der Bestimmung des Sinnes eines Gesetzes macht es einen wesentlichen Unterschied aus, ob darin ausschliesslich der Wille (einer Mehrheit) oder primär die Verwirklichung eines Ethos gesehen wird. Das Gesetz ist eine Rechtsnorm und als Modus und demokratisch gestaltete Modifikation des Rechts zu erfassen. Das Axiom weist dem Gesetzestext nur im Bezug auf den verfügbaren Teilgehalt eine selbständige Bedeutung zu. Recht ist die verbindliche Umsetzung eines Ethos, Gesetz ein Modus des Rechts und Text ein Modus des Gesetzes, wo-
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1. Teil: Das Objekt der Rechtswissenschaft
mit der Gesetzestext aus dem Ethos heraus zu verstehen ist. Für den im Gesetz deklarierten unverfügbaren Gehalt des Rechts stellt sich aufgrund seiner Zeitlosigkeit nicht die Frage, ob die Auslegung authentisch oder usual erfolgen soll. In seiner Zeitlichkeit zu erfassen, um ihm zeitgemäss Handhaben zu können, ist lediglich der verfügbare Gehalt einer Norm.
2. Teil
Die Begründung der Rechtswissenschaft I. Die allgemeinen Kriterien der Wissenschaftlichkeit Der heutige Wissenschaftsbegriff ist von einem naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsverständnis geprägt. Angesetzt wird bei den Phänomenen, die einen messenden menschlichen Zugriff erlauben und erforscht deren Ursachen. Demgegenüber steht das (scholastische) Nachdenken des Seins selbst, das als von Gott vorgedacht verstanden wird. Hier steht statt der Entität das Wesen (Essenz), als den charakteristischen inneren Merkmalen und Kategorien des Seins im Vordergrund. Es geht wie bei apriorischer Kategorie oder Axiom um eine Letztbegründung von Sätzen, die für ihre Geltung keinen Beweis bedürfen. Sie führen zum Absoluten hin, das im Gegensatz zum Relativen nicht durch die Beziehung auf etwas anderes bestimmt ist, sondern aus sich heraus Geltung erlangt. Geltung meint die Wahrheit von Seinsätzen, oder die Gültigkeit von Sollensätzen. Wahrheit ist die Übereinstimmung von etwas mit einem anderen, womit ein Zusammenhang zugrunde gelegt wird. Eine Aussage ist wahr, wenn der behauptete Sachverhalt mit der Realität übereinstimmt. Wissen ist der Bestand wahrer Aussagen. Es kann durch Erfahrung erlangt oder als Erkenntnis unter Herstellung eines Denkzusammenhangs als notwendige Folge von etwas Wahrem gewonnen werden. Eine Aussage ist notwendig wahr, wenn sie durch Deduktion aus einer bereits als wahr anerkannten Aussage logisch folgt. Sie ist analytisch wahr, wenn sie in bereits als wahr anerkannte Einzelaussagen (kategorische Urteile) aufgeteilt werden kann. Eine empirische Erkenntnis oder kausale Wahrheit liegt vor, wenn dem Phänomen eine wahre Ursache und somit letztlich ein Naturgesetz zugrunde gelegt werden kann. Die Erkenntnis ist somit Ergebnis eines strukturierten Denkprozesses und weist eine argumentative Struktur auf. Es ist ein begründetes und den Grund darlegendes Wissen und keine blosse Beschreibung eines Sachverhaltes. Indem das Zustandekommen verständlich gemacht wird, liefert man eine Erklärung der Zusammenhänge und vermittelt dadurch Einsichten in die Bedeutung eines Sachverhaltes. Von einem Ansatz (als wahr anerkannter Grundsatz) ausgehend, verbindet der Denkzusammenhang zwei Aussagen zu einem Ganzen und legt den Weg dar, wie man notwendigerweise von der ersten zur zweiten Aussage gelangt. Durch
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2. Teil: Die Begründung der Rechtswissenschaft
einen solchen Beweis wird die Basis für eine weitere damit zusammenhängende Aussage gelegt, die auf die gleiche Art und Weise gewonnen wird und deshalb den gleichen Wahrheitswert aufweist. Daraus erfolgt ein Wissenszuwachs, die Vorgehensweise wird universalisiert und dadurch zur Methode. Sukzessive lässt sich so eine Vielzahl in sich zusammenhängender Erkenntnisse gewinnen. Diese bilden dadurch ein System methodisch gewonnener und gleich wahrer Aussagen, was ihre Wissenschaftlichkeit ausmacht. Unter dem gewählten Ansatz wird das Denken zu einem Konzept zusammengefasst und bildet als in sich geschlossene Theorie ein Modell der Realität und ein methodisches Programm. Eine solche Theorie, verstanden als Menge von Aussagen, die ein System bilden, formuliert Aussagen mit Allgemeingültigkeitsanspruch, aus denen sich weitere Folgerungen ableiten lassen. Auf dieser Grundlage können neue Aussagen gemacht und insbesondere auch Prognosen getroffen werden. Somit werden Folgerungen aus der Theorie gezogen, die verifiziert werden können. Der Wahrheitswert und die Überprüfbarkeit dieser Folgerungen erlauben einen Rückschluss auf die Erklärungskraft der Theorie und damit auf das Mass ihrer Gültigkeit. Das lässt die Annahme von Gesetzmässigkeiten und ein gesichertes Wissen über den erfassten Phänomenbereich zu. Dieser Bereich ist das Objekt der Wissenschaft. Es ist also dasjenige, worüber etwas ausgesagt wird, damit die Voraussetzung einer Aussage und keine Aussage selbst. Die Wissenschaft wird durch seinen Gegenstand definiert, aus ihm ergeben sich die Fragen sowie die Art ihrer Bearbeitung.1 (Das schliesst eine Einteilung der Wissenschaften nach ihren Methoden nicht aus.) Wissenschaft verlangt somit, Wissen methodisch zu gewinnen und systematisch zu ganzen Theorien mit Allgemeingültigkeitsanspruch zu verbinden.2 Diese Kriterien der Wissenschaftlichkeit dienen der Sicherung des Erkenntnisfortschritts. Charakteristisch für eine wissenschaftliche Aussage ist, dass man bei ihrer Aufstellung und Prüfung eine Theorie verwendet und ihren methodischen Regeln folgt.3 Die auf einem bestehenden System von Aussagen beruhende Theorie bildet die Grundlage für neue Erkenntnisse. Deren Dokumentation und Publikation stellt deshalb eine Notwendigkeit dar.4 Die an die Wissenschaft gestellten Probleme werden unter Verwendung der Theorie gelöst und bewirken einen weiteren Wissenszuwachs.5 Dies führt zu einer kontinuierlichen Entwicklung neuer Problemfelder.6 Das stetig weiterführende Problematisieren ist Teil der Wissenschaft. Reicht die bisherige Theorie, die sich zu einer allgemein akzeptierten Weltsicht verfestigen kann, nicht mehr aus, um die sich neu stellen1 2 3 4 5 6
Poser, S. 189. Vgl. Poser, S. 195. Parthey, S. 381. Parthey, S. 383. Parthey, S. 385. Parthey, S. 381 ff.
II. Die besonderen Kriterien der Rechtswissenschaftlichkeit
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den Fragen zu bewältigen, erfordert dies einen neuen Ansatz, was einen Paradigmenwechsel zur Folge hat.7 Die der bisherigen Theorie zugrunde liegende Ansicht muss aufgegeben werden. Wissenschaft zielt auf Wahrheit. Daran müssen sich die Theorien stets messen lassen und dürfen deshalb keinen Totalitätsanspruch erheben.8
II. Die besonderen Kriterien der Rechtswissenschaftlichkeit Die Wissenschaft vom Recht macht Aussagen über das geltende Recht. Geltung meint sowohl Wirksamkeit als auch Richtigkeit im Sinne von wissenschaftlicher Gültigkeit. Zur Rechtswissenschaft gehört als Rechtsphänomenologie die Darstellung der Rechtswirklichkeit. Man verarbeitet dazu die Tätigkeit der Gesetzgeber sowie der Gerichte und beschreibt das geltende Recht. Ferner sucht man nach ihren soziologischen und historischen Ursachen und legt die philosophischen und ethischen Bezüge sowie die strukturellen, internationalen oder linguistischen Bedingungen dar. Die Normen werden dadurch in ihren verschiedenen Dimensionen wahrnehmbar. Solche Erklärungen vermitteln Einsichten in die Normbedeutung. Damit sind Verstehensangebote und eigentliche Verstehensvorschläge verbunden. Die Einordnung in die empirischen und historischen Zusammenhänge mündet in die Herstellung eines rationalen Begründungszusammenhangs. Die Rechtsphänomenologie ist insofern normativ, als sie eine Normbeschreibung beinhaltet. Eine solche deskriptive Aussage über Normen kann objektiv wahr oder falsch sein. Gleichzeitig ist damit allerdings die Frage verbunden, ob die Institutionen den von ihnen erhobenen Anspruch der Rechtsverwirklichung tatsächlich einlösen. Gemeint ist insbesondere, ob ein Urteil oder ein Gesetz rechtswidrig oder im engeren Sinn verfassungswidrig ist und die Verfassung im durchgeführten Verfahren eingehalten wird. Die Rechtswissenschaft befindet sich damit in produktiver Konkurrenz zu den Gerichten. Beiden kommt die Aufgabe zu, die Fehler in der Rechtsverwirklichung zu diagnostizieren. Die Ergebnisse der kritischen Rechtsphänomenologie werden schliesslich für eine wissenschaftliche Rechtsfindung nutzbar gemacht. Die Rechtswissenschaft führt über das Beschreiben von Normen hinaus. Sie beinhaltet ein Recht entdeckendes (forschendes) Handeln. Man darf sich nicht darauf beschränken, das bereits vorhandene, tradierte Recht durch Schaffung von Anwendungsregeln bloss besser zu vollziehen. Ziel ist die Erkenntnis eines gültigen, wissenschaftlich haltbaren Rechts. Die Erkenntnisbemühung um das
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Z. B. durch Kopernikus, Galilei, Kepler, Newton, Einstein. Vgl. Poser, S. 292.
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2. Teil: Die Begründung der Rechtswissenschaft
richtige Recht darf nicht auf die Subjektivität der eigenen Rechtsüberzeugung abstellen. Wissenschaftliche Geltung von Erkenntnissen qualifiziert sich gemeinhin durch Transsubjektivität und Universalisierung und beinhaltet damit normative Aussagen.9 Man stellt ausgehend von wissenschaftlichen Kriterien Regeln für das Vorgehen und zur Bewertung von Ergebnissen auf und unterzieht sie einer kritischen Diskussion.10 Wissenschaft wirkt also regulativ.11 Für die Rechtswissenschaft folgt daraus, dass sie ausser normenbeschreibend auch selbst normierend ist. Bei der wissenschaftlichen Rechtserkenntnis betrifft dies auch den Ergebnisinhalt. Man kann sich nicht nur auf formale Kriterien (Vorgehensregeln) beschränken, sondern benötigt auch materiale Kriterien, die etwas darüber aussagen, wann es inhaltlich gerechtfertigt ist, ein Ergebnis für Recht zu halten.12 Ein solches, für eine gültige Erkenntnis relevantes Merkmal meint eine notwendige Bedingung, die erfüllt sein muss, damit etwas als wissenschaftlich haltbares Recht ausgegeben und mit entsprechenden Geltungsansprüchen behauptet werden kann. Es ist nichts anderes als ein Prüfstein der Richtigkeit. Da nicht nur die Methoden (als Normierung der Vorgehensweisen), sondern darüber hinaus direkt auch die Begriffs-, Prinzipien- und Systembildung betroffen sind, wirkt sich die Ergebnisnormierung unmittelbar auf die Gegenstandskonstitution aus.13 Die Rechtswissenschaft vertritt eine eigenständige Konzeption des Rechts. Es hat neben der subjektiven Existenz als Rechtsüberzeugung und dessen sozialen und institutionellen Manifestationen auch eine eigene wissenschaftliche Existenz. Zum Rechtsbegriff als Summe von rechtlichen Normen (Recht als besonderer Regulativtyp) oder als Summe von rechtmässigen Normen (Recht als idealer Regulativtyp) gesellt sich das Recht als Summe rechtswissenschaftlicher Normen (Recht als wissenschaftlich haltbarer Regulativtyp). Immerhin war die Wissenschaft nach Zerfall der Staufer für lange Zeit alleiniger Träger des Rechts.14 Der Umstand der Partizipation am eigenen Gegenstand stellt im Vergleich zu anderen Wissenschaften eine Besonderheit dar. Die Rechtswissenschaft schafft sich heute den Gegenstand zwar nicht mehr autonom, bildet aber weiterhin einen Bestandteil des eigenen Wissenschaftsobjekts. Sie stellt damit weiterhin einen wesentlichen Faktor der Rechtswirklichkeit dar.15 Sie bestimmt also mit, was als Recht gilt. Damit stellt sich auch die komplexe Frage nach den Zusammenhängen zwischen den verschiedenen Exis-
9
Vgl. Janich, S. 162. Gadenne, S. 34. 11 Janich, S. 147. 12 Gadenne, S. 33. 13 Vgl. Janich, S. 163. 14 Engelmann, S. 24. 15 Nach Art. 1 Abs. 3 ZGB wird Wissenschaft („bewährte Lehre“) als „Hilfsmittel der Rechtsfindung“ definiert. Vgl. Hausheer/Jaun, Art. 1 N. 270 ff. 10
II. Die besonderen Kriterien der Rechtswissenschaftlichkeit
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tenzformen des Rechts16 und wie diese in Übereinstimmung gebracht werden können. Da sich die Rechtswissenschaft nicht auf eine Phänomenologie beschränkt, können die von einem naturwissenschaftlichen Denken geprägten allgemeinwissenschaftlichen Kriterien nicht unbesehen auf die Rechtswissenschaft übertragen werden. Sie umfasst (in scholastischer Art) auch die nicht empirische Innenseite, das Wesen des Rechts als deren charakteristischen Eigenschaften. Dafür muss die Wissenschaft eine Idee vom Recht vertreten. Sie muss an eine bestimmte Vorstellung des Menschen und des Staates anknüpfen, die für wahr gehalten wird und somit apriorische Gültigkeit besitzt. Man muss sich also auf einen obersten Grundsatz berufen. Rekurriert man dabei auf einen Wertbegriff, ist dies eine apriorische Voraussetzung und das Recht wird zwangsläufig als axiomatisches System von Prinzipien definiert. Die Wahrhaftigkeit über das oberste Prinzip ermöglicht Objektivität, weil man die Vorstellung als gegeben und vom Willen unabhängig auffasst. Leitprinzip für die Rechtswissenschaft und gleichzeitig ihr Denk- und Wertbegriff (ethisches und rationales Kriterium) ist die denkende Person als Essenz des Rechts. Daraus ergeben sich als formale Kriterien die logischen Regeln des richtigen Denkens wie Widerspruchsfreiheit und Lückenlosigkeit. Der Wert der Person gibt das materiale Kriterium ab, an dem sich eine Erkenntnis zu bewähren hat und zu verifizieren ist. Durch eine solche fundamentale Festlegung der Rechtswissenschaft besteht keine Diskrepanz zwischen einer auf dem Ethos der Person gründenden allgemeinen Rechtsüberzeugung und dem Ergebnis wissenschaftlicher Rechtsfindung. Die Kriterien sind aufgrund des gemeinsamen rationalen und apriorischen Ursprungs identisch. Die wissenschaftliche Rechtsfindung anhand formeller und materieller Kriterien ist eine Explizierung, welche die rational und ethisch motivierte Essenz des Rechts beinhaltet und anhand eines Bezugsgegenstandes zur sprachlichen Präsenz bringt. Die Erfassung des Rechts ist seine begriffliche Erkenntnis, verstanden als Aufteilung in mehrere zusammenhängende Bedeutungsgehalte. Gemeint ist eine Kategorienbildung: In den Begriffen werden die relevanten Merkmale deutlich, welche das Recht ausmachen. Die Kategorie „Person“ bedeutet Einheit (Identität und Integrität) und lässt Mehrheit zu. Ihr steht die Kategorie „Sache“ gegenüber. Das ermöglicht ein Wirken (Handlung). Daraus gehen die Kategorien Kausalität, Wille und Zweck hervor. Explizierung führt zu einer Objektivierung der Ergebnisse, indem sowohl die subjektive Bestimmung eines blossen Rechtsgefühls als auch die ausschliesslich phänomenale Bestimmung aufgrund der momentan herrschenden Normen überwunden werden. Anders als im Rechtsgefühl werden die Kriterien nicht nur in konkreter (fallspezifischer) und unreflektierter Weise, d.h. implizit angewendet. Rechtswissenschaftlichkeit 16
Nussbaumer, S. 6.
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2. Teil: Die Begründung der Rechtswissenschaft
meint explizite, begriffliche Verwendung der Rechtskriterien.17 In den geschaffenen Begriffen bringt die Wissenschaft die transzendenten, nicht objektiv erlebbaren Faktoren des Rechts (sein Wesen) in der Rechtswirklichkeit zur Geltung. Die Person als wissenschaftliche Apriorie besagt nicht, dass die wissenschaftliche Kategorienbildung nur deduktiv erfolgen kann. Grundlage der Rechtswissenschaft war das römische Recht in der Gestalt, wie es im corpus iuris civilis überliefert und gleichsam als Offenbarung (ratio scripta) wiederentdeckt wurde.18 Das lässt dieser Tradition folgend auch eine empirisch-induktive Konstruktion zu. Für die Wissenschaft ist das apodiktische Entgegensetzen in eine idealistisch-aprioristische (Naturrecht) und empiristisch-historisch-formalistische Rechtsauffassung (Rechtspositivsmus/Historismus) deshalb unfruchtbar. Die rechtswissenschaftlichen Kategorien ergeben sich aus dem Zusammenwirken von Denken und äusserer Erfahrung und entspringen insbesondere auch der denkenden Verarbeitung der Normwirklichkeit. Die gefundenen Rechtsprinzipien müssen sich sodann in der Praxis bewähren, so dass auch von daher eine empirische Fundierung gegeben sein muss. Die empirisch begründeten Begriffe sind indessen keine blosse Abstraktion der Rechtswirklichkeit, sondern entstehen aus einer Synthese mit dem Leitprinzip. Erst nach dessen Analogie, also als Denkformen und Denksetzungen, nimmt man die herrschenden Normen wahr. Die Lebenswirklichkeit einer rationalen und ethischen Person beansprucht als transzendente Bestimmung und Vorausetzung im Erkenntnisimmanenten deshalb bereits notwendige Gültigkeit auch für eine induktive Konstruktion aufgrund einer analytisch-deskriptiven Betrachtung der geltenden Normen. Das ethische Grundprinzip prägt nämlich das Selbstverständnis des Juristen und über ein Vorverständnis auch seine Wahrnehmung der Normen. Die fachliche Sicht der Rechtswissenschaft auf die Lebenswirklichkeit bewirkt eine eigene Konstitution der Rechtswirklichkeit.19 Ist der Bezugsgegenstand ein Lebensverhältnis, wird dieser Sachzusammenhang durch Begründung eines Normzusammenhangs zur begrifflichen Gesamtheit einer Rechtsfigur (Rechtsinstitut) zusammengefasst. Zu deren Essenzeigenschaften lassen sich allgemeingültige Aussagen formulieren. Der Vergleich mehrerer Handlungsnormen führt unter Abstrahierung vom Bezugsgegenstand ebenfalls zu normübergreifenden Rechtsaussagen. Ihr materieller Gehalt und ihre überpositive Qualität lassen sich in einem Prinzip feststellen. Über ihre Zusammenhänge können die Rechtsprinzipien in ein Prinzipiensystem (inneres Rechtssystem)20 gebracht werden. Dadurch wird das Rechtssystem definiert. Es 17 18 19 20
Vgl. Gadenne, S. 42. Vgl. Voppel, S. 8. Felder, S. 164. Bydlinski, S. 4 und S. 9.
II. Die besonderen Kriterien der Rechtswissenschaftlichkeit
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lässt sich in einem Modell darstellen. Die erkannten fundamentalen Festlegungen münden schliesslich in einer Theorie. Rechtsprinzipien sind demnach Begriffe von allgemeinen (normübergreifenden) Zuständen und drücken eine fundamentale Festlegung aus. Das Rechtssystem als objektiver Aussagezusammenhang betrifft somit nicht nur den Begründungszusammenhang, der sich auf die Eigenschaften der Normen und ihre Ursachen bezieht, sondern beruht auch auf Forschung zur Herstellung eines Kategorienzusammenhangs (Prinzipien- und Systembildung). Die Verbindung der Normen und Prinzipien zu einem Gesamtsystem bedeutet ihre Anordnung innerhalb einer Ganzheit. In der Folge ergeben sich die Normeigenschaften nicht nur durch das, was im Normtext explizit ausgedrückt ist, sondern auch direkt aus dem System selbst. Das System weist Eigenschaften auf, die den einzelnen Normen selbst nicht zukommt. Die Funktion des Rechtssystems ist also die Herstellung von Zusammenhang, Ordnung und Einheit und letztlich Emergenz. Das erhöht die Objektivität in den Ergebnissen und erlaubt zugleich neue Einsichten und Aussagen.21 Dadurch erreicht die Rechtswissenschaft das wissenschaftliche Ziel, konstante, vom kontingenten Normtext unabhängige Aussagen, also Regelmässigkeiten oder eigentliche Gesetzmässigkeiten zu formulieren. Das zum Ausdruck gebrachte Rechtssystem ist Vorstellung des richtigen Rechts und damit Anspruch an jede menschliche Ordnung. Mit der Bezugnahme auf die Lebensverhältnisse muss die Wissenschaft einerseits mit den sich wandelnden gesellschaftlichen Anforderungen und Vorstellungen Schritt halten und anderseits über die momentanen Konventionen hinaus Forderungen an die Gesellschaft stellen. Rechtswissenschaft ist die normative Wissenschaft des Normativen. Bei ihren Aussagen müssen deshalb deskriptive und normative Feststellungen unterschieden werden. Neben der theoretischen Aufgabe der Rechtsnormfindung liegt das praktische Ziel der Rechtswissenschaft darin, ein Verfahren zu schaffen, wie aus einer Norm ein Individualurteil gewonnen werden kann. Dies erfordert eine Rechtstechnik, also die praktische Fähigkeit, einen gültigen Rechtsentscheid hervorzubringen. Der Jurist muss dazu die erforderlichen Fertigkeiten im Umgang mit dem Rechtssystem sowie den einzelnen Normtexten entwickeln. Diese Fertigkeit verbindet einen handwerklichen mit einem schöpferischen Teil. Die Kunst des Juristen liegt darin, Gesetzeshermeneutik und Rechtslogik in Übereinstimmung zu bringen, ohne dabei in eine Künstlichkeit zu verfallen. Das setzt insbesondere voraus, dass man die in der Praxis angewandten Verfahren auch theoretisch-begrifflich beherrscht. Man wählt einen heuristischen Ansatz, indem vom jeweiligen Problem (der Fragestellung) ausgehend, ein bestimmte Lösungsweg festlegt wird (in Problemsituation S wähle die Vorgehensweise M). Eine solche Heuristik ist themenspezifisch. 21 Vgl. Schröder (2001), S. 91, etwa Donellus’ Entdeckung der beschränkten dinglichen Rechte.
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2. Teil: Die Begründung der Rechtswissenschaft
Es geht in der Rechtswissenschaft also darum, auf der Basis des begrifflichen Forschens Erkenntnisfragen zu beantworten und Anwendungsprobleme zu lösen. Dazu müssen Verfahren gefunden und durch Regeln festgelegt, also Methoden definiert werden. Wissenschaft setzt Rationalitätsprinzipien voraus,22 die sich hauptsächlich in Methodenprinzipien äussern. Diese Methoden sind themenabhängig. Das Thema kann die Rechtsbeschreibung, -findung oder -anwendung sein. Die Rechtsmethoden umfassen somit Sachverhalts-, Norm- sowie Urteilsmethoden. Mit jeder Thematik sind verschiedene Handlungen oder Verfahrensschritte verbunden, wie beispielsweise die Normbildung, -findung oder -auslegung. Dazu muss das jeweilige Instrumentarium zur Verfügung gestellt werden. Allen Handlungen gemeinsam ist eine Explizierung des Rechts. Ziel dieser themenspezifischen Explizierung ist einerseits die Rationalisierung der Rechtsüberzeugung. Ihre Anwendung soll nicht willkürlich, sondern logisch motiviert sein. Anderseits ist eine Hypostasierung bezweckt, verstanden als Setzung des transzendenten Rechtsethos ins Erkenntnisimmanente, nämlich als mens in eine geltende Rechtsnorm. Das Gesetz wird damit zu einer an einen Bezugsgegenstand (Grund und Zweck) sowie an das Medium Sprache gebundene Exemplifikation des Rechts. Der Geist (mens) darf also nicht mit Ursache, Zweck oder Vernunft (ratio legis) des Gesetzes (d.h. die Erklärung dafür, warum es gegeben worden ist) gleichgesetzt werden, sondern verkörpert die Essenz des Rechts im Gesetz. Theoretische Rechtswissenschaft beinhaltet das Beschreiben und die Darstellung des geltenden Rechts und ihrer Ursachen (Rechtsphänomenologie) sowie das Forschen nach wissenschaftlich haltbarem Recht (Rechtsfindung). Basis ist eine Prinzipien- und Systembildung. Die rechtswissenschaftlichen Prinzipien ergeben sich in formaler und materialer Hinsicht aus dem Axiom der Person unter Orientierung an einer Lebenswirklichkeit und Implementierung in diese. Ihre Verwirklichung ist gleichzeitig Gültigkeitskriterium. Praktische Rechtswissenschaft ist die Lehre der richtigen Entscheidungsfindung. Der Rechtswissenschaft kommt dadurch Praxischarakter zu. Die Methodik umfasst Verfahren, normiert also die Vorgehensweise, für die Rechtsbeschreibung, -findung und -anwendung und liefert differenzierte Kriterien zur Bewertung der Ergebnisse. Die Rechtswissenschaft ist normativ, sowohl im Sinne von normbeschreibend als auch normsetzend. Sie kann damit als methodisch und systematisch geleitete Suche nach dem Recht bezeichnet werden.
22
Gadenne, S. 40.
3. Teil
Die Grundsätze der Rechtswissenschaft I. Der Ansatz: Das Recht als System Für den Juristen stellt das Rechtssystem nicht bloss ein Lehrgebäude dar, sondern das Wissenschaftsobjekt selbst wird als System wahrgenommen. Dabei wird indes nicht ein soziologisches Verständnis vertreten, wonach die Gesellschaft die Einheit mehrer funktional differenzierter Sozialsysteme bildet,1 die jeweils zur Erledigung einer gesellschaftlichen Funktion zuständig sind und dabei autonom handeln.2 Als Objekt der Rechtswissenschaft wird das Recht primär als ein System von Normen aufgefasst, allgemeiner als ein Symbolsystem3 und mit der Akzentuierung auf das manifeste Recht als System von Texten und nichttextlichen Wissensrahmen.4 Man nimmt das Recht in erster Linie als ein kognitives Gebilde und erst in einer spezifisch rechtssoziologischen Sicht als ein Funktions- oder Kommunikationssystem wahr.5 „System“ ist die Bezeichnung für ein gegliedertes, geordnetes Ganzes, das aus Teilen zusammengesetzt ist, eine Menge interdependenter Elemente also. Die Rechtsnormen und nicht die Rechtsinstitute sind diese, das äussere Rechtssystem konstituierenden Elemente. Sie sind durch Zusammenführung in Teilsystemen miteinander verbunden, ausser zu Rechtsinstituten beispielsweise auch in Erlassen oder Kodifikationen, womit ein äusserer Vernetzungsgrad gegeben ist. Bezüglich des manifesten Rechts liegt eine normgeberische Anordnungsleistung vor, womit es eine intensionale Struktur aufweist. Die Systemstruktur ergibt sich ferner aus der Pluralität sowie der Hierarchie der Normgebungsorgane, indem zwischen Verfassung-, Gesetz- und Verordnungsgeber unterschieden wird. Bereits das äussere Rechtsnormsystem ist deshalb kein blosses Ordnungsprinzip (Systematik), sondern begründet einen Verweisungszusammenhang und drückt funktionale Grenzen der Zusammengehörigkeit aus. Die Rechtswissenschaft führt die ganzheitliche Zusammenfassung der Rechtsnormen unter Explizierung ihrer teleologischen und fundamentalen Gehalte weiter mit dem Ziel der Widerspruchsfreiheit, Vollständigkeit und Unabhängigkeit der Aussagen. Die 1 2 3 4 5
Beispiele hierfür sind Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Recht. Vgl. Krauth, S. 208. Vgl. Teubner, S. 27. Busse (1993), S. 288. Vgl. Calliess, S. 57 ff.
34
3. Teil: Die Grundsätze der Rechtswissenschaft
Rechtsnormen sollen sich widerspruchslos in das System einfügen. Der wissenschaftliche Ansatz betrachtet das Recht in seiner Ganzheit und begreift seine Bedeutung nicht bloss als die Summe von Einzelnormen. Das wissenschaftliche Rechtssystem ist ein nach bestimmten Kategorien geordnete imaginäre Ganzheit. Es stellt ein immaterielles Feld dar, das Träger aller als Rechtsprinzipien bezeichneten Grundeigenschaften des Rechts ist.6 Dem immateriellen inneren System kommt dabei eine aktive Wirkung zu. Das Rechtssystem weist damit Emergenz auf. Es entwickelt Eigenschaften, die aus den Merkmalen einer einzelnen Norm nicht ableitbar sind. Dieses Verständnis schafft die Voraussetzung der kohärenten Interpretierbarkeit aller Normen. Die Einzelfallentscheidung ist Ergebnis der Anwendung des Rechts als in sich zusammenhängendes Ganzes.7 Das Verständnis, wonach das Recht ein lückenloses inneres System von Prinzipien bildet und die Rechtsnormen damit einen sinnvollen Zusammenhang aufweisen, ermöglicht es auch, über das praktizierte Recht hinaus neues Recht zu finden.8 Die Reduktion des Rechts auf ihre formellen und materiellen Prinzipien ermöglicht zudem die Erklärung von Phänomenen. System ist weder als soziologisches Modell noch als blosse Systematik, sondern als wissenschaftliches Grundprinzip der Einheit des Rechts zu verstehen,9 nämlich als holistisches Axiom der in sich geschlossenen und zusammenhängenden Ganzheit. Diese Einheit stellt zwar zunächst bloss eine spezifisch wissenschaftliche Wahrnehmung und keine von vornherein gegebene Eigenschaft des Rechts dar.10 Allerdings setzt bereits die Annahme einer möglichen Lücke gemäss Art. 1 ZGB eine derartige Ganzheit voraus. Die Besonderheit liegt im Gegensatz zu anderen Wissenschaften ferner darin, dass dem von der Jurisprudenz entwickelten System eine praktische Geltung zukommt. Den Rechtsprinzipien wird nach herrschender Auffassung neben ihrer systematischen Funktion eine integrierende bei Lücken, eine interpretierende bei der Normauslegung sowie eine programmatische, richtungsweisende de lege ferenda zugeschrieben.11 Die Rechtsprinzipien kommen bei der Falllösung neben den relevanten Normen zur unmittelbaren Anwendung.12
6
Vgl. Bracker, S. 203 f. Günther, S. 74. 8 Schröder (2), S. 270. 9 Vgl. Bracker, S. 79 ff.; Büllesbach, S. 428 ff. 10 Behrends, S. 97. 11 Vgl. Ramos Pascua, S. 10. 12 Günther, S. 47. 7
II. Die formalen Grundsätze
35
II. Die formalen Grundsätze 1. Das Recht als rationales System Das System als Begründungszusammenhang ist schon definitionsgemäss rational. Die Rationalität betrifft indes ausser der Ganzheit auch jede einzelne Rechtsnorm. Sie unterscheidet sich von anderen Verhaltenssteuerungen des Menschen durch ihre Begründbarkeit. Dies betrifft sowohl den Inhalt als auch die Geltung der Norm, also die abstrakte Frage, weshalb sich die Menschen danach richten sollen. Für Rechtsnormen müssen spezielle Rechtfertigungsansprüche diskursiv (logisch folgernd) eingelöst werden. Die faktische Geltung der Norm, insbesondere durch blosse Machtausübung, genügt nicht. Das Faktische allein hat keine normative Kraft und reicht zur Begründung nicht aus. Eine rechtswissenschaftliche Sicht setzt ferner Rationalität in der Rechtsanwendung voraus und damit insbesondere die Überwindung des Formelhaften als Relikt magischer Formeln mit einem Urteil als erteiltem Schicksalsspruch.13 2. Das Recht als normatives System Ein Satz kann im Fragemodus, in der Art und Weise einer Aussage (Urteil/ Behauptung/Feststellung) oder als Aufforderung auftreten. Eine Aussage ist eine deskriptive Äusserung (Zuerkennen von Merkmalen mit Anspruch auf Wahrheit), während eine Aufforderung eine präskriptive Äusserung ist (Handlungsleitung mit Anspruch auf Richtigkeit). Die vom situativen Kontext unabhängigen Präskriptionen heissen Normen. Sie sind im Gegensatz zu Imperativen universal. Normative Sätze beinhalten eine allgemeine Aufforderung im Sinne einer allgemeinen Handlungsleitung. Neben den als theoretische Erkenntnisprinzipien bezeichneten Regeln des Denkens und Wissens bestehen somit praktische Willensprinzipien, welche die obersten Regeln des Handelns angeben. Die moralischen Prinzipien sagen, was man tun sollte. Tugenden wie die Gerechtigkeit bringen dagegen das Ethos als einer Zustands- oder Lebensform (Grundhaltung) zum Ausdruck, die insbesondere auch Gedanken umfassen. Es müssen deshalb präskriptive und deskriptive Werturteile unterschieden werden. Letztere haben einem ästhetischen Bezug oder einen solchen auf das Ethos und weisen einen konstatierend-analytischen Charakter auf. Wiederholt sich ein Ereignis oder eine Handlung so, dass sie verlässlich immer wieder eintritt, wird die Gleichförmigkeit einer Regel ausgedrückt. Handlungsregeln sind somit allgemeine Handlungsanweisungen und werden Normen genannt. Dabei handelt es sich um bedingte Allsätze, mit gültiger logischer Im13
Haas, S. 47.
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3. Teil: Die Grundsätze der Rechtswissenschaft
plikation (wenn-dann), d.h. dem Schluss von der Bedingung auf die Konsequenz. In Situationen einer bestimmten Art sollen Handlungen einer bestimmten Art ausgeführt werden. Die Rechtsnormen sind typischerweise als für jedermann geltende Gebote, Verbote und Erlaubnisse gestaltet oder darauf zurückzuführen. Sie sind mit einer Rechtsfolge (Sanktion) belegt, die als Implikation eines Tatbestandes formuliert ist. Ausser in solchen, bestimmte Handlungen vorschreibenden Normen kann die Handlungsaufforderung auch in einer Zielsetzung als herbeizuführender, aufrechtzuerhaltender oder zu vermeidender Sachverhalt (Handlungsergebnis) liegen. Ferner bestehen als Rechtsnormen organisatorische, die Institutionen (Staat und seine Organe) konstituierende Bestimmungen mit den dazugehörenden Verfahrensvorschriften. Die rechtlichen müssen von den logischen, moralischen und ästhetischen Normen unterschieden werden. Die Konventionen (Sitten) sind darüber hinaus die auf Tradition und Gewohnheit beruhenden, in einer bestimmten sozialen Gruppe oder Gemeinschaft üblichen menschlichen Verhaltensformen und Gepflogenheiten. Sie haben einen Kulturbezug, d.h. sie gelten in der Regel in Bezug auf einen bestimmten geographisch-zeitlichen Raum. Das Recht normiert nicht das Denken, Wissen oder Fühlen, sondern das Handeln. Die Rechtsnorm setzt zwar eine Werthaltung voraus und ist damit ethisch (und dadurch letztlich im Gewissen) begründet, darf jedoch keine solche vorschreiben. Von der Moral grenzt sich das Recht nicht erst durch die staatliche Sanktionierung ab. Massgebend ist das Bewusstsein der Verbindlichkeit, die Merkmale der Absolutheit, Erfüllbarkeit und Sozietät der Verhaltensanweisung beinhaltet. Der soziale Aspekt besagt, dass Recht keine ausschliesslich individuale Handlungsnorm umfasst. Die Rechtsnorm wirkt durch diesen Verpflichtungsgehalt situationsbestimmend. Eine darauf gestützte Handlung löst Folgen aus und konstituiert Verhältnisse. Dem Rechtssystem liegt ein personales Verständnis des Rechts zugrunde. Damit wird nicht nur auf das materiale Kriterium eines Ethos verwiesen, das man umgangssprachlich Humanität nennt, sondern auch auf ein Element des Denkens und der Begriffsbildung, das als formales Kriterium bezeichnet werden kann. Darin sind allerdings wiederum Bewertungen enthalten, mit denen die Wirklichkeit wahrgenommen wird. In der einzelnen Rechtsnorm erfolgt die konkrete rechtliche Relevanz ethischer Normen beispielsweise durch direkten Verweis (Art. 5 Abs. 2 ZGB) oder in Form einer sozialnormhaltigen Generalklausel (Art. 2 Abs. 1 ZGB).14 Abgesehen von der Verwirklichung der Rechtsidee erhöht man mit der direkten ethischen Fundierung einer Rechtsnorm die Akzeptanz und in der Folge die Einhaltungswahrscheinlichkeit. 14
Vgl. Rehbinder, S. 11 f.
II. Die formalen Grundsätze
37
3. Das Recht als kategoriales System Systembildung basiert auf Prinzipienbildung, die bereits eine allgemeine, normübergreifende Rechtsaussage enthält und damit einen Zusammenhang ausdrückt. Ein Prinzip (principium) ist der Anfang oder die Voraussetzung von etwas, was auch als Grund (nicht im Sinne einer Ursache, sondern von Bedingung oder Prämisse) bezeichnet wird. Ein Prinzip ist des Beweises durch Verweis auf andere Sätze nicht fähig, vielmehr dient es als Grundlage für deren Beweis. Aus der Prämisse wird der Schluss (Konklusion) als logische Folgerung gewonnen. Dieses Urteil ist hypothetisch, falls die Prämisse eine Annahme (Hypothese) ist, d.h. deren Geltung bloss vermutet wird. Besteht darüber ein Übereinkommen, wird der erste Satz konventionell oder definitorisch festgesetzt. Beruht das Prinzip auf Anschauung und ist dadurch aus sich selbst heraus unmittelbar einleuchtend, wird es als Axiom bezeichnet, womit letztlich auf eine intuitive Erfassung verwiesen wird. Nicht in der unmittelbaren Wahrnehmung oder durch Beweisführung zu findende Gründe, die jedoch als immer schon gegeben unterstellt werden müssen, weil sie die Möglichkeiten des Denkens und der Erfahrung erst schaffen, werden als apriorische Voraussetzungen bezeichnet. Dazu gehört die Ichheit (Person), in deren Unterscheidung von Innen (Denken) und Aussen (Erfahrungen) die Welt als eine Subjekt-Objektbeziehung aus dem Chaos entsteht. Die Erfassung der Welt erfolgt durch Kategorienbildung. Ein Prinzip ist immer ein Allsatz mit normativem oder faktischem Inhalt. Das Allgemeine ist dasjenige, was verschiedenen Gegenständen gemeinsam ist. Darunter fallen Einzeldinge, Ereignisse oder Personen. Mehrere Gegenstände werden in bestimmter Hinsicht als gleich behandelt, indem das Individuelle abstrahiert wird. Die Rechtsprinzipien drücken die Grundeigenschaften des Rechts und die obersten Bedingungen der Normen aus. Art. 38 Abs. 1 Ziff. 3 des Statuts des Internationalen Gerichtshofes spricht „von den Kulturstaaten anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen.“ Sie unterscheiden sich von Normen zwangsläufig in der grösseren Allgemeinheit der Aussage. Ferner weisen Prinzipien keine direkte Rechtsfolge auf. Das Rechtsprinzip ist allerdings insofern normativ, als die deskriptive Aussage Normen betrifft. Den Rechtsprinzipien kommt damit unabhängig von einer manifesten Anerkennung faktische Geltung zu. Sie sind automatisch Teil des anwendbaren Rechts. Zwischen einer allgemeinen Rechtsnorm (z. B. einem Grundrecht) und einem Rechtsprinzip besteht, obwohl eine qualitative Geltungsdifferenz besteht, hinsichtlich der Wirkung deshalb nur ein gradueller Unterschied.15 Von der allgemeinen Rechtsaussage eines Rechtsinstituts unterscheidet sich das Rechtsprinzip als Begründungszusammenhang durch
15
Vgl. Ramos Pascua, S. 7 f.
38
3. Teil: Die Grundsätze der Rechtswissenschaft
seine Kausalität zu einer Rechtsnorm und den damit verbundenen Erkenntnisfaktoren. Die Gewinnung der Prinzipien und damit die Systembildung verweist auf die rechtswissenschaftliche Kategorienbildung überhaupt, die sich nicht auf empirische Induktion (Schluss von Einzelereignissen auf Allgemeinaussagen) oder überpositive Deduktion (logische Ableitung der Einzelaussagen aus der Allgemeinaussage) reduzieren lässt, wie sie in einer naturrechtlichen (Rechtsprinzip ist Teil der ethischen Grundlage des Rechts) bzw. rechtspositivistischen Sicht (Rechtsprinzip ist ausdrücklich oder implizit durch den Gesetzgeber eingeführt) vertreten werden.16 Rechtsprinzipen sind weder aus der Natur der Sache überpositiv ableitbar wie bei Winscheid, noch wie für Savigny hauptsächlich durch das Rechtsinstitut oder das Rechtsverhältnis getragen.17 Prinzipienbildung ist eine Synthese eines apriorischen, inneren und eines empirischen, äusseren Anteils. Sie beruht deshalb auf einer systematischen Begriffserweiterung. Die Prinzipien, dass niemand zum Schaden eines anderen einen Vermögensvorteil erhalten darf (D. 50.17.206), dass niemand mehr Rechte auf einen anderen übertragen kann, als er selbst hat (D. 50.17.54), dass jemand, der nur von seinem eigenen Recht Gebrauch macht, nicht arglistig handelt (D. 50.17.55), dass jemand, der durch eigenes Verschulden einen Schaden erleidet, so angesehen wird, als hätte er keinen Schaden erlitten (D. 50.17.203) lassen sich aus den Digesten ableiten. Gleichzeitig haben sie den Charakter von Axiomen und bedürfen keines Beweises, sie entsprechen der Vernunft.18 Das Rechtsprinzip kann sich auf die verschiedenen Dimensionen und Erscheinungsformen des Rechts beziehen. Anhand der Essenz einerseits sowie den verschiedenen Manifestationen des Rechts andererseits ist zwischen mehreren Prinzipienkategorien zu unterschieden. Rechtsprinzipien als Grundeigenschaften können sich nämlich auch aus den einer Normierung zugrunde liegenden Ordnungsinteressen ergeben wie Erwartungssicherheit, Verhaltenssteuerung und Konfliktlösung.19 So entwickelt sich beispielsweise aus dem Prinzip der Erwartungssicherheit das Vertrauensprinzip, das in zahlreichen Variationen (ne bis in idem, Rückwirkungsverbot, Kriterium der Vertragsauslegung, Haftungsprinzip, gutgläubiger Erwerb)20 seinen Ausdruck gefunden hat. So sind die sich aus der Essenz ableitbaren Wertprinzipien in sich zwar kohärent, jedoch mit Ordnungsprinzipien nicht in jedem Fall vollkommen vereinbar. Die Pluralität der Rechtsprinzipien ist für die Rechtsanwendung von zentraler Bedeutung. Zwischen den Rechtsprinzipien besteht kein abstrakter Vorrang, sondern eine 16 17 18 19 20
Vgl. Ramos Pascua, S. 7 f. Vgl. Jacoby, S. 286. Stein, S. 158 f. Vgl. Calliess, S. 60. Vgl. Tschentscher, S. 160 ff.
II. Die formalen Grundsätze
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abstrakte Gleichrangigkeit. Dies kann zur Folge haben, dass die Prinzipien in der konkreten Anwendungssituation kollidieren: Ihre gleichzeitige volle Verwirklichung kann sich als unmöglich erweisen. Kollidierende Prinzipien machen eine fallspezifische Abwägung erforderlich, die auf einen Ausgleich zielt. Die Notwendigkeit der Abwägung der Rechtsprinzipien bestimmt ganz wesentlich die Methodik. Der Abwägungsvorgang ist für das Recht fundamental und bereits in der Doppelfunktion der Rechtsnorm als Ordnungs- und Werteprinzip angelegt, die letztlich im Antagonismus von Interessen und Wert begründet ist. Damit wird die grundsätzliche Aporie im Recht deutlich. Übergreifendes Rechtsprinzip ist das Legalitätsprinzip in seiner Doppelfunktion als Grundlage (Legitimation) und Schranke (Limitation) der staatlichen Tätigkeit. 4. Das Recht als textuelles System Rechtsvorgänge sind verbale (orale oder literale) Kommunikation.21 Die Verhaltensanweisungen beruhen auf einer textgebundenen Verständigung, die Pflichten aus den Rechtsnormen entstehen erst mit ihrer Veröffentlichung.22 Im kontinental-europäischem Recht ist das Recht an textlich gefasste Normen gebunden. Es liegt eine Information in Form eines Textes vor. Das Verständnis eines Textes ist entscheidend durch die kommunikative Absicht des Produzenten bestimmt.23 Der Text ist das Ergebnis von inneren menschlichen Prozessen und veranlasst uns, diese Bewusstseinsinhalte zu rekonstruieren. Dabei müssen neben dem Grundgedanken24 die Bedingungen, unter denen der Text zustande kam,25 sowie seine Adressierung berücksichtigt werden.26 Der Text existiert zunächst allerdings nur als lineare Zeichenkette (Laute, Buchstaben). Zur Bedeutung gelangen diese Zeichen erst durch ihre Rezeption.27 Diese liegt in einer produktiven, teils intuitiven und teils bewussten Wissensaktualisierung des Rezipienten. Es handelt sich also um einen subjektiven Vorgang.28 Für den Textrezipienten ist die Zeichenkette als Wissenauslöser29 ein Anlass, einen eigenen Bewusstseinsinhalt zu schaffen.30 Der Text bildet dabei eine spezifische Argumentationseinheit31 und keine konstante Vor21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
Nussbaumer, S. 1. Vgl. Art. 8 Abs. 1 Publikationsgesetz (SR 170.512). Busse (1992), S. 23. Lerch, S. 179. Lerch, S. 178, Vgl. Busse (2004), S. 11. Busse (1992), S. 179. Busse (2004), S. 13. Busse (1992), S. 140. Lerch, S. 178. Broekman, S. 146.
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3. Teil: Die Grundsätze der Rechtswissenschaft
gabe.32 Der Umstand, dass bei der Textdeutung im Unterschied zum Sprechakt überdies keine Hilfestellung durch unmittelbare menschliche Interaktion zwischen Produzent und Rezipient vorliegt, spricht ebenfalls gegen ein rigoroses Textverständnis.33 Von einer Eindeutigkeit der Textdeutung darf somit nicht ausgegangen werden.34 Es ist nur das Finden einer befriedigenden Lesart möglich.35 Hier muss zwischen Lesartkonstruktion (als kognitivem Prozess des Auffassens) und Lesartvalidierung (als sozialem Interaktionsprozess zur Etablierung einer Leseart) unterschieden werden.36 Dabei ist die momentane Lesart immer nur Ausschnitt aus einer nicht abschliessbaren Interpretantenreihe. Jede Interpretation ist ein zusätzlicher Text in einer Reihe mit dem Ursprungstext. So hat jedes Textverständnis zwangsläufig approximativen Charakter. Normtexte unterscheiden sich prinzipiell von anderen Texten, was Auswirkungen auf ihre Handhabung hat.37 Es fehlt sowohl an einem personal identifizierbaren Textproduzenten als auch an einem bestimmten Empfänger. Als Ausdruck von Sollenssätzen handelt es sich ferner um situationslose Texte.38 Der Rechtstext trägt den Wirklichkeitsbezug (die Referenz) also nicht schon in sich.39 Eine als geschlossen identifizierbare Information liegt damit nicht vor.40 Die Referenzbeziehung zu einem Sachverhalt muss erst noch geschaffen werden,41 was eine Extension der Normtextbegriffe voraussetzt.42 Der Normtext ist sodann geprägt durch eine fachlichen Terminologie und ein institutionelles Denken, womit eine spezifische fachliche Sicht der Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht wird.43 Der Normtext dient schliesslich nicht primär der zwischenmenschlichen Verständigung, sondern dazu, eine institutionell geprägte Rechtsentscheidung herbeizuführen.44 Zwischen Textformulierung und Gebrauch kann ein grosser Zeitabstand bestehen. Eine sprachliche Formulierung soll deshalb die Einheitlichkeit der Rechtsentscheidungen in einer Vielzahl von zeitlich zum Teil weit auseinanderliegenden Fällen garantieren.45 Die Funktionalität des Normtextes in Hinblick auf unterschiedliche Entscheidungssituationen wird 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45
Lerch, S. 179. Broekman, S. 147. Busse (2004), S. 13. Lerch, S. 180. Lerch, S. 180. Busse (1993), S. 263. Busse (1993), S. 287. Busse (2002), S. 159. Busse (2005), S. 52. Vgl. Busse (2002), S. Vgl. Busse (2002), S. Vgl. Busse (1993), S. Busse (1993), S. 293. Vgl. Busse (2004), S.
149; Rüthers, S. 501. 159. 263. 10.
II. Die formalen Grundsätze
41
durch eine grosse semantische Offenheit46 gewährleistet, die entsprechende Interpretationsspielräume eröffnet.47 Normtexte sind schon im Hinblick auf eine solche bewusste Interpretation formuliert worden. Man erhält dadurch zwangsläufig eine Auslegungsgeschichte, die eine Mehrzahl an möglichen Textdeutungen bietet.48 Bei der juristischen Textarbeit muss die institutionelle Bindung, die wesensmässige Unvollständigkeit und erhöhte Interpretationsbedürftigkeit der Texte berücksichtigt werden. Es kann nicht bloss um ein subjektives Verstehen gehen, sondern vielmehr darum, die Normtexte in ihrer Funktionsweise wahrzunehmen.49 Ihre Bedeutung erschliesst sich erst in Relation zu anderen Texten, welche die Auslegungspraxis darstellen.50 Bei dieser notwendigen intertextuellen Bezugnahme (Textreferenz)51 wird der Normtext nicht bloss erläutert, sondern weitgehend festlegt.52 Erst weitere Informationen, die ihn in den Kontext einordnen, machen einen Normtext also überhaupt anwendbar.53 Die Arbeit mit Rechtstexten ist deshalb nicht bloss eine semantische Tätigkeit oder philologische Interpretation,54 sondern vielmehr ein Prozess der Schaffung einer durch institutionelle Vordeutungen (z. B. herrschende Lehre) gesicherten Inferenzbasis (epistemische Basis respektive Wissensbasis). Dieser Vorgang wird durch den Normtext ermöglicht, nämlich begründbar gemacht, aber nicht determiniert.55 Nur durch ein solches Verständnis können die Normtexte diejenigen Leistungen erbringen, welche in unserem Rechtssystem verlangt werden.56 Die Erfordernisse sind nicht primär sprachlich begründet, sondern auf institutionelle Notwendigkeiten zurückzuführen. Aus dem Legalitätsprinzip folgt nicht nur die Bindung der Rechtspflicht, sondern auch des Urteils an den veröffentlichten Normtext.57 Nach einer Idealvorstellung ist ein Urteil antizipatorisch festgelegt und unbeeinflusst vom richterlichen Willen.58 Die Bindung besteht entweder an die (subjektive) Intention des Normgebers oder an eine bestimmte (objektive) Bedeutung des Normtextes, insbesondere an die Wortbedeutung selber (Bindung
46
Busse (2002), S. 150. Busse (2004), S. 11. 48 Busse (2004), S. 11. 49 Busse (1992), S. 193. 50 Busse (2004), S. 11. 51 Busse (2002), S. 143. 52 Busse (1992), S. 193. 53 Busse (2005), S. 40. 54 Busse (1992), S. 192. 55 Busse (2005), S. 52. 56 Vgl. Busse (2004), S. 10. 57 Vgl. Klatt (2004), S. 36; Hausheer/Jaun, Art. 1 ZGB N. 67 ff.; Koch (2003), S. 126 f. 58 Busse (2002), S. 137. 47
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3. Teil: Die Grundsätze der Rechtswissenschaft
durch respektive an das Gesetz).59 Die Textbindung ist wegen der Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative normativ geboten. Der Normtext soll eine Steuerungsfunktion haben. Hier bestehen allerdings spezifische Besonderheiten, die in den Struktureigenschaften des einzelnen Rechtsgebiets begründet sind. Im Privatrecht bauen die Rechtsnormen auf dem Prinzip des Rechtsverhältnisses auf. Basis sind typische Handlungsschemata,60 welche eine lange Tradition aufweisen. Daraus folgte eine Verfestigung zu stabilen Privatrechtsinstituten.61 Manche von ihnen, wie beispielsweise das Eigentum, erhalten sogar Verfassungsrang.62 Ihr Kernbereich hat sich verselbständigt und wird durch Rechtsprinzipien beherrscht. Dem Normtext kommt deshalb im Privatrecht eine vergleichsweise untergeordnete Bedeutung zu. Er drückt bloss die Aufnahme des vorgesetzlichen, historisch bestimmten Rechtsinstituts in das Rechtssystem aus, allenfalls mit einer bewussten Abweichung in Einzelfragen. Beispielsweise gehen die Rechtsnormen des Auftrages gemäss Art. 394 ff. OR zurück auf das römische mandatum, mit dem einzigen vom Gesetzgeber gewollten Unterschied, dass der Auftrag gemäss Art. 394 Abs. 3 OR auch entgeltlich sein kann.63 Ferner handelt es sich bei der Privatrechtskodifikation selbst um ein Teilrechtssystem. Art. 1 ZGB weist hier auf die Notwendigkeit der systematischen Konkretisierung hin. Eine eigene Normbildung (Rechtsfortbildung) des Gesetzesanwenders, in welchem das Ergebnis keinen Textbezug mehr aufweist, ist im Privatrecht zulässig. Eine weit gewichtigere Bedeutung hat der Normtext dagegen im Strafrecht. Nach dem Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“ gemäss Art. 1 StGB muss sich die Strafbarkeitsvorschrift aus dem Gesetzestext selbst ergeben und darf nicht durch Auslegung geschaffen oder über dessen Sinn hinaus erweitert werden. Damit wird auf die besondere Textimmanenz des Interpretationssatzes verwiesen. Eine hohe Textbindung verlangt auch das Legalitätsprinzip im öffentlichen Recht, insbesondere als Erfordernis einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage für eine Freiheitsbeschränkung. Die primäre Funktion des Normtextes ist hier, als Grundlage und Schranke der Staatstätigkeit zu dienen. Die kontinental-europäische Rechtsidee setzt zumindest im öffentlichen Recht voraus, dass die Bedeutung der Gesetzesformulierungen als abgeschlossen und eindeutig gilt, womit eine bestimmte Sprachauffassung vertreten wird.64 Eindeutigkeit oder Wohlbestimmtheit (Abgeschlossenheit) von Wortbedeutungen steht im Gegensatz zu Vagheit und Unbestimmtheit.65 Die Beseitigung von Unbestimmtheit setzt Information voraus. Notwendig ist jeden59 60 61 62 63 64 65
Vgl. Busse (2002), S. 138 f. Kempsky, S. 110 f. Vgl. Alexy (2003), S. 218. Vgl. Art. 26 BV. Vgl. Honsell, S. 306. Busse (2002), S. 137. Vgl. Busse (1993), S. 273.
II. Die formalen Grundsätze
43
falls ein ausreichender Informationsgehalt der Norm, also eine hinreichende Bestimmtheit. Die Vorstellungen des Normgebers müssen aus dem Text erkennbar sein. In jeder Sprache ist aber eine informatorische Defizienz angelegt, die vor allem auf die Polysemie (Mehrdeutigkeit) einzelner Wörter zurückzuführen ist.66 Ein Wort ist mehrdeutig, wenn es auf mehrere Arten gedeutet werden kann und ist eindeutig, wenn alle beteiligten Sprachteilnehmer es in diesem Kontext nur auf eine gemeinsame Weise deuten. Vieldeutigkeit ist daher eine Frage gegebener interpretatorischer Praxis und nicht von vorgegebenen Eigenschaften eines Zeichens.67 Explizit nennen wir eine Formulierung dann, wenn sie im Rezipientenkreis nur solches Wissen voraussetzt, über das alle Angehörigen mit Sicherheit verfügen.68 Angesichts der Komplexität darf bei Gesetzestexten nicht generell davon ausgegangen werden, dass ein Zeichen für eine einheitliche und vorgegebene Grösse steht.69 Die Normtextarbeit als Teil des juristischen Umgehens mit Sprache erweist sich als eine institutionalisierte Praxis, deren Regeln nicht blosse Sprachregeln, sondern solche einer sozialen Interaktion sind.70 Textverstehen misst sich an einer intersubjektiven Übereinstimmung und Praxis.71 Der spezifische sprachliche Gehalt von Normtexten expliziert bestimmte Merkmale, welche die Grenzen der Normhandhabung darstellen.72 Aus der Textbindung folgt immer, dass ein konkreter Auslegungssatz durch den Normtext belegt werden muss. Die Textimmanenz muss gewahrt werden, ausser bei Vorliegen von Divergenzen aufgrund der drei Amtssprachen und bei Redaktionsversehen.73 Rechtshandlungen führen über Textarbeit hinaus. Die sprachliche Eigenart der Normtexte prägt aber die ganze Rechtssprache, d.h. auch die institutionenspezifische Mündlichkeit.74 Der Kommunikationsverlauf nimmt dabei Züge des Rituellen an (wie etwa ein Gottesdienst).75 Mündliche oder schriftliche juristische Kommunikation muss somit als ein Prozess sozialer Interaktion gesehen werden, der durch Konventionen geprägt ist. Die Kommunikation darf nicht auf das Zusammenspiel der unmittelbar Beteiligten (Autor und Rezipient) reduziert werden,76 sie ist an Institutionen gebunden.77 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77
Haas, S. 43. Busse (1993), S. 273. Busse (1993), S. 278. Busse (2005), S. 52. Busse (1993), S. 259. Busse (1992), S. 182. Vgl. Busse (1993), S. 286. Vgl. Hausheer/Jaun, Art. 1 ZGB N. 19 ff. Vgl. Nussbaumer, S. 5. Nussbaumer, S. 2. Vgl. Busse (1993), S. 252. Vgl. Broekman, S. 152.
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3. Teil: Die Grundsätze der Rechtswissenschaft
5. Das Recht als selbstreferentielles System Die Selbstreferenz wird einsehbar, wenn man vom Recht als Handlungssystem ausgeht.78 Die primäre Steuerung des Rechtshandlungssystems geschieht durch demokratisch autorisierte Normgebungsorgane, dem Verfassungs-, Gesetz- sowie Verordnungsgeber. Die Normgebung erfolgt zielgerichtet nach verschiedenen Phasen eines Prozesses und auf den Zweck hin, dass man den gesellschaftlichen Erfordernissen besser gerecht wird.79 Die Rechtsprechung bleibt ebenfalls an Institutionen gebunden. Normbedeutungen werden also autoritativ festgelegt. Das bedeutet allerdings keine Monopolisierung, sondern bloss eine Delegation der an und für sich öffentlichen Interpretationsaufgabe an demokratisch autorisierte Gerichte. Eine Folge davon ist die grundsätzliche Öffentlichkeit des Verfahrens. Das Gerichtsurteil als Einzelfallentscheidung kann sich vom konkreten Fall verselbständigen und zur Norm verallgemeinert werden. Wer mit Anspruch auf Richtigkeit einen Rechtsfall entscheidet, behauptet nämlich, dass jeder damit übereinstimmende Fall in gleicher Weise zu entscheiden sei.80 Den Gerichten kommt gesamthaft gesehen also eine sekundäre gesellschaftliche Steuerungsfunktion zu. Billigt man der Rechtswissenschaft eine Rechtsfindungsfunktion zu, erfüllt sie ebenfalls eine solche Steuerungsfunktion. Die Normbedeutung wirkt sodann über die Gesellschaft auf die Steuerungsorgane zurück. Das Recht prägt die gesellschaftlichen Wertvorstellungen, die wiederum die Steuerungsorgane beeinflussen. Das Rechtssystem erhält so eine gewisse Teilautonomie gegenüber den Normgebern und der Gesellschaft aufrecht. Obwohl Systemeigenschaften aufzeigbar sind, lässt sich das Recht allerdings nicht im Sinne der Systemtheorie auf ein Input-Output-Schema reduzieren und in die Nähe von Prozessen kybernetischer oder mechanischer Art rücken. Ebenso wenig kann von Selbststeuerung oder gar Autopoiese (Selbstproduktion) die Rede sein. Eine Norm kann die Bedingungen ihres Entstehens und Funktionierens nicht selber erzeugen.81 Aufgrund der Hierarchie der Normgebungsorgane sind die Gesetzesnormen als Konkretisierung der Verfassungsnormen und jene des Verordnungsgebers als Gesetzeskonkretisierung anzusehen. Die niedrigeren müssen sich somit aus dem jeweils nächst höheren Normen ableiten lassen. Die Eigenschaften der höherstufigen Rechtsnormen lassen sich bis zu einem gewissen Grad aber auch auf die Merkmale der niederstufigen Rechtsnormen zurückführen. Sie sind qualitativ in der höherrangigen Rechtsnorm enthalten. Die untergeordneten Normen sind somit nicht nur von den übergeordneten her bestimmt. Da die Beeinflussung nicht nur in einer Richtung erfolgt, darf das Rechtssystem deshalb nicht bloss in ei78 79 80 81
Teubner, S. 27. Vgl. Rehbinder, S. 241 ff. Neumann (1993), S. 167. Teubner, S. 27.
II. Die formalen Grundsätze
45
nem hierarchischen oder linear-logischen Aufbau gesehen werden. Eine ausschliesslich dogmatische Ableitung aufgrund einer solchen Strukturfestlegung stellt deshalb eine unzulässige Vereinfachung dar. Indes ist es ebenso wenig möglich, die jeweils komplexere Ganzheit (z. B. eine Verfassungsnorm) aus der einfacheren (Gesetzesnorm) abzuleiten. Die Rechtsnormen sind aber auf vielfältige Weise in einer Wechselbeziehung miteinander verbunden. Das Mass der Interaktion hängt von der Position oder Funktion der Rechtsnorm im System ab. Durch das Errichten von Teilsystemgrenzen (z. B. Rechtsinstitute) und durch das sinnvolle Anordnen der Normen innerhalb dieser Systemgrenzen entstehen neue Strukturen, die eigene Merkmale im Vergleich zu dem vom Normgeber geschaffenen Teilsystemen (z. B. Erlasse) aufweisen. Da die Anordnung der Normen, also ihre sinnvolle Struktur, zu neuen Eigenschaften Anlass geben kann, ist es nicht sinnvoll, durch Analyse einer einzelnen Norm deren Bedeutung verstehen zu wollen. Ihre Kontextabhängigkeit ist in Rechnung zu stellen. Dabei sind die wissenschaftlich-funktionalen und nicht die dinglichen, also vom Normgeber gesetzten Grenzen ausschlaggebend. Die Rechtsnormen stehen somit unter einem wechselseitigen Verweisungszusammenhang, das Recht ist ein selbstreferentielles System.82 Dessen Merkmale ergeben sich aus dem Inhalt der einzelnen Rechtsnormen, ihren Funktionen und Beziehungen sowie aus einer hierarchischen Systemgrundstruktur. System und Operation, d.h. die Gesamtheit der Rechtsnormen und ein darauf basierendes Urteil stehen ebenfalls in einem Verweisungszusammenhang.83 Trotz dieser operativen Geschlossenheit ist das Rechtssystem aber informationell offen.84 6. Das Recht als duales System a) Die axiomatisch-konstante Systemkomponente Aufgrund der Person als ethische und rationale Grundlage des Rechts lässt sich ein axiomatisches System von Prinzipien feststellen, das durch diese Konstante determiniert ist. Aus dem obersten Prinzip nach Achtung der Person als Anspruch und Pflicht sind Sätze ableitbar, welche die grundlegenden Werteigenschaften des Rechts ausmachen und so das Wesen des Rechts ausdrücken. Obwohl das Recht eine axiomatische Grundstruktur aufweist, das von einer Konstanten determiniert ist, handelt es sich wegen seiner Komplexität nicht um ein deterministisches System. Der Zusammenhang darf insbesondere nicht als blosse Implikationsbeziehung im Sinne eines quasi aus einer Supernorm semantisch ableitbaren Systems aufgefasst werden. Es handelt sich vielmehr um unter82 83 84
Teubner, S. 27. Calliess, S. 61. Vgl. Calliess, S. 59.
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3. Teil: Die Grundsätze der Rechtswissenschaft
schiedliche Ausprägungen des Grundprinzips aufgrund von paradigmatischen Anwendungssituationen. b) Die teleologisch-variable Systemkomponente Neben den axiomatischen Wesensprinzipien, die durch ihre direkte Anwendbarkeit zu Realprinzipien werden, lassen sich weitere Realprinzipien formulieren, denen jedoch nur eine beschränkte sachliche und zeitliche Dimension zukommt. Es ist eine Rechtsaussage, die nicht auf alle Rechtsgebiete und immer Anwendung findet.85 Sie verweist auf die variable Ordnungsfunktion. Recht besteht aus etwas, will aber auch etwas. Neben dem Recht in seiner Bedeutung als Wertesystem zeigt sich in den Realprinzipien der zweite eigenständige Ursprung des Rechts als Ordnungssystem und Instrument zur demokratischen Gestaltung der sozialen Wirklichkeit.86 Jede Norm besitzt im Rechtssystem eine konkrete Aufgabe. Die Verhaltensanweisung leitet sich aus einem Verhaltensziel ab. Es geht um die Bewahrung vorhandener oder um das Erreichen gewünschter sozialer Zustände. Eine Rechtsnorm wird als Mittel zu einem demokratisch festgelegten Ordnungszweck eingesetzt. Die Normen instrumentalisieren somit eine weitere, diesmal variable Zweck-Mittel-Relation, was in der Gesamtheit ein teleologisches System ergibt.87 Der Normzweck lässt sich ausser auf die Umsetzung einer Wert- und Denkvorstellungen also auch auf bestimmte Interessen zurückführen, die letztlich in einem Wohlergehen begründet sind. Diese Prinzipien werden aus dem geltenden Recht hergeleitet.88 Nach herrschender Auffassung gibt es im öffentlichen Recht einen gesicherten Bestand allgemeiner Rechtsgrundsätze, die allerdings nur zur Ergänzung lückenhafter Verwaltungserlasse herangezogen werden dürfen.89 Genannt werden beispielsweise Verjährung, Anspruch auf Rückerstattung oder Verzinsung.90 Offensichtlich ist hier, dass sie auf Analogien zum Privatrecht beruhen. Auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts wurden von der Grundlage des Zivilrechts abstrahiert.91 Die Realprinzipien sind damit dem Wesen nach historisch definiert.92 Das teleologische Grundprinzip lautet dahingehend, dass die Rechtsnorm geeignet sein muss, ihre Zwecke wirksam zu erreichen.93
85 86 87 88 89 90 91 92 93
Jacoby, S. 289. Vgl. Schröer, S. 420. Berkemann, S. 16. Vgl. Ramos Pascua, S. 12. Ryter Sauvant, S. 2. Ryter Sauvant, S. 7 ff. Jacoby, S. 169. Vgl. Jacoby, S. 168. Mastronardi, S. 292.
III. Die materialen Grundsätze
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III. Die materialen Grundsätze 1. Das Recht als Wertesystem Indem er etwas für bedeutungsvoll hält, legt der Mensch Massstäbe an die Wirklichkeit und schafft so kulturelle Werte. Der Wert geht über den Nutzen hinaus, also die Bedeutung, dem etwas für die Bedürfnisbefriedigung beigemessen wird. Es handelt sich um eine ideale Wesenheit, die sich erst sekundär in einem Gut konkretisiert. Neben dem empirisch aufgefassten Sein besteht ein Sollen als transzendente Bestimmung. Kultur fordert ein Verhalten im Wissen um Werte. So bezeichnet Menschenwürde einen inneren transzendenten Wert der Person. Gleichzeitig bestimmt man Würde als eine Wesenseigenschaft des Menschen. Im demokratischen Rechtsstaat ist das Recht mit der Ethik verbunden. Unser Recht bezweckt, dass „einem jeden das ihm als Person zustehende gewährt“94 und so die Menschenwürde geschützt wird. Deren Prinzip ist die Anerkennung jedes Menschen als Rechtssubjekt sowie seine Gleichheit und Freiheit. Aus diesem Wert leiten die einzelnen Rechtsnormen ihren Gehalt ab. Was Recht ist, darf nicht ausschliesslich formal als blosse Vorschrift definiert werden. Das Rechtsverständnis beinhaltet immer ein materiales Kriterium. Damit wird auf eine Wertung Bezug genommen und ein ethischer Rechtfertigungsanspruch erhoben. Es ist eine Begründung in einem humanen Zweck erforderlich. 2. Das Recht als Ordnungssystem Recht will Ordnung erzeugen, gestalten und aufrechterhalten. Es steht einer Anomie entgegen, wo jemand seine Absichten ohne jeden Rechtsbezug verwirklichen kann. Es soll nicht die Macht des Stärkeren herrschen, der seinen Willen mit Gewalt durchsetzt. Die Frage nach der Geltung der Rechtsnorm ist auch ein Problem der Legitimation und Organisation des Staates, der als Völkerrechtssubjekt die Staatsgewalt über eine Bevölkerung auf einem abgegrenzten Staatsgebiet auszuüben in der Lage sein muss.95 Der Staat ist alleiniger Inhaber hoheitlicher Macht.96 Diese Staatsgewalt beinhaltet ein staatliches Rechts- und Gewaltmonopol.97 Gemeint ist mit dem Rechtsmonopol die Souveränität innerhalb eines bestimmten Gebietes, Regeln zu erlassen. Es verlangt, dass der Souverän keine andere Regelgewalt neben sich duldet.98 Jede Beeinträchtigung ist
94 95 96 97 98
Kaufmann, S. 145. Kälin/Epiney, S. 125 f. Scholz, S. 12. Scholz, S. 12. Merten, S. 36.
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3. Teil: Die Grundsätze der Rechtswissenschaft
mit einer Gefährdung der Staatlichkeit verbunden.99 Das staatliche Recht ist aber auch ein Subsystem des Völkerrechts. Geltung können deshalb nur diejenigen Rechtsnormen für sich in Anspruch nehmen, die dem Völkerrecht entsprechen und in dem dafür vorgesehenen demokratischen Verfahren zustande gekommen sind. Völkerrechtskonformität sowie demokratischer Entscheid begründen die Geltung der Rechtsnorm. Eng verbunden mit dem Rechtsmonopol ist das Gewaltmonopol. Indem der Staat für sich das Rechtsmonopol in Anspruch nimmt, muss er auch in der Lage sein, die Befolgung der Rechtsnormen letztlich unter Anwendung von Zwang zu erreichen und so dem Recht auch im Konflikt mit anderen Normsystemen zum Durchbruch zu verhelfen.100 Dieses Gewaltmonopol meint also zunächst die primäre Staatsaufgabe der rechtsstaatlichen Ordnungspflicht.101 Notwendig ist die Fähigkeit des Staates, die Rechtspflichten mit eigenen Mitteln, notfalls mit physischer Gewalt, durchzusetzen.102 Das Gewaltmonopol gilt jedoch nicht unbeschränkt, sondern nur bei einer ausreichenden rechtlichen Grundlage, bei einem öffentlichen Interesse und im Rahmen der Verhältnismässigkeit sowie nach Treu und Glauben. Darüber hinaus lässt der moderne Staat bei Normverletzungen nur in Ausnahmefällen private Gewalt zur Durchsetzung einer Rechtsposition zu. Der unmittelbare Zwang ist den staatlichen Vollzugsorganen vorbehalten. Nichtstaatliche Gewaltanwendung und Selbsthilfe darf nur auf Grund einer staatlichen Gewalterlaubnis erfolgen.103 Die eigenmächtige Rechtswahrung wird auf eng umschriebene Tatbestände beschränkt.104 Ausgenommen vom generellen Gewaltverbot sind beispielsweise Situationen der Selbstverteidigung. Ansonsten soll ein Konflikt nicht unkontrolliert, sondern mit friedlichen Mitteln in einem dafür vorgesehenen rechtsstaatlichen Verfahren ausgetragen werden. Diese Monopolisierung der Gewalt ist ein essentielles Merkmal des souveränen Staates.105 Die Staatsgewalt bedarf dazu der Legitimation.106 Das Rechts- und Gewaltmonopol ist nicht nur aufgrund von Zwang zu erreichen, sondern setzt einen Grundkonsens in der Bevölkerung voraus, eine rechtsstaatliche Ordnung zu bilden und zu erhalten. Dazu sind ein entwickeltes Rechtsbewusstsein sowie ein Demokratieverständnis erforderlich.107
99
Merten, S. 37. Vgl. Rüthers, S. 45. 101 Müller (2002), S. 19 ff.; vgl. Rehbinder, S. 127 ff. 102 Merten, S. 37. 103 Merten, S. 42. 104 Kornicker, S. 5. 105 Merten, S. 36. 106 Müller (2002), S. 88, 110; vgl. Rehbinder, S. 154 f.; Rüthers, S. 237. 107 Scholz, S. 17. 100
III. Die materialen Grundsätze
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3. Das Recht als Friedenssystem Voraussetzung und Ziel des Staates ist die Sicherung des Friedens unter seiner Bevölkerung. Der Friede muss jedoch ein Rechtsfrieden, ein solcher auf der Basis des Rechts, sein. Sozialer Frieden kann nicht unter Duldung von Rechtsverletzungen bestehen.108 Ein Ursprung des Rechts ist das Lösen von Konflikten.109 Der Modus des Richtens kann als Grundfunktion des Rechts angesehen werden, aus dem die anderen Funktionen abgeleitet werden können.110 Recht als Vorschrift für die Rechtsprechung besteht neben seiner gesellschaftlichen Funktion.111 Aus dieser Perspektive erhält die Rechtsnorm die primäre Funktion, für eine verlässliche Entscheidung zu sorgen.112 Die Konfliktlösungsfunktion zeigt sich im Prozess. Ziel eines jeden Prozesses ist die Wiederherstellung des Rechtsfriedens.113 Ihre Ermöglichung ist neben der Verwirklichung des materiellen Rechts ein selbständiger Prozesszweck.114 Danach ist ein Prozess nicht bloss Teil der Durchsetzung subjektiver Rechte, sondern hat als selbständige Einrichtung einen eigenen Gehalt. Prozessrecht ist deshalb öffentliches Recht.115 Indes darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass in Zentrum des Prozesses nicht die Schlichtung, sondern die Sachverhaltskonstruktion steht. Hauptaugenmerk nimmt die Frage in Anspruch, welche der unterschiedlichen Sichtweisen der Parteien zur Urteilsgrundlage erhoben wird.116 In einem Konflikt stehen sich divergierende Interessen gegenüber. Die Austragung dieser Auseinandersetzung erfolgt mit Hilfe Dritter. Durch professionelle Delegation an den Richter sollen emotionale und sachliche Komponenten des Konflikts voneinander getrennt werden. Angeboten werden heute verschiedenen Konfliktlösungsstrategien, nämlich Beratung, Mediation (Vermittlung, Schlichtung) und Richten. Im Idealfall des Konsenses wird ein Konflikt von den Beteiligten besprochen und durch eine sachbezogene Einigung beigelegt. Richten meint dagegen das Herbeiführen eines autoritativen Entscheides. Heute besteht eine dauerhafte Einrichtung (Institutionalisierung) der Konfliktaustragung. Die Rechtssprechung findet in einem Verfahren nach bestimmten Regeln statt. Die Entwicklung des Prozessverfahrens verlief von der Überwindung der Selbsthilfe (Faustrecht) über ein starres Prozessritual mit starken sakralen Bezü108 109 110 111 112 113 114 115 116
Scholz, S. 13. Schröer, S. 419 f. Vgl. Busse (2004), S. 8 f. Vgl. Schröer, S. 420. Vgl. Busse (2004), S. 9. Kornicker, S. 6. Kornicker, S. 7. Vgl. Schoibl, S. 289 f. Vgl. Nussbaumer, S. 3.
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3. Teil: Die Grundsätze der Rechtswissenschaft
gen hin zu einem zwar noch formgebundenen, aber rationalen Verfahren.117 Unterschieden werden muss hier insbesondere nach dem Mass der Parteiherrschaft (freies Spiel der Kräfte) und der Richtermacht.118 Aus der Rechtspersönlichkeit der Beteiligten leiten sich ihre prozeduralen Mitwirkungsrechte ab. Der Einzelne darf nicht zum Objekt des Verfahrens gemacht werden. Ein faires Verfahren soll auch zur materiellen Richtigkeit und Akzeptanz beitragen. Die Überzeugungskraft des Urteils erwächst auch aus der Autorität des Richters als unparteiischer Dritter, der die Ansprüche der Parteien gegeneinander abwägt und ausgleichend wirkt.119 Bei der Rechtsentscheidung handelt es sich vorwiegend um Gruppenentscheidungen, womit grösstmögliche Sachlichkeit hergestellt wird und subjektive Verzerrungen möglichst ausgeschalten werden sollen. Angestrebt wird Gewissenhaftigkeit, Gründlichkeit, Umsicht und Unvoreingenommenheit des Urteils. Der Rechtsfrieden wird nur bei Endgültigkeit und Verbindlichkeit des richterlichen Urteils hergestellt. Das wird durch das Institut der Rechtskraft erreicht.120 Kann gegen ein Urteil kein ordentliches Rechtsmittel (mehr) eingelegt werden, besteht formelle (äussere) Rechtskraft. Formelle Rechtskraft ist somit gleichbedeutend mit Unanfechtbarkeit und Vollstreckbarkeit. Die materielle Rechtskraft setzt den Eintritt der formellen Rechtskraft voraus und besagt, dass das Urteil seinem Inhalt nach Bestand hat. Insbesondere ist es für ein anderes Verfahren zwischen den gleichen Parteien oder ihren Rechtsnachfolgern verbindlich und präjudiziell für dessen Vorfragen. Die Präklusionswirkung hat zur Folge, dass auf eine identische Klage nicht eingetreten wird. Identität des Streitgegenstandes ist ein Prozesshindernis. Die Qualität des Rechtssystems misst sich im hohen Mass an ihrer Konfliktlösungseffizienz. Der Rechtsfrieden soll mit den richtigen Mitteln sowie einem möglichst geringen Aufwand erreicht werden. Ein Verfahren muss wirksam und geeignet sein, dieses Ziel zu erreichen. Bei einem unrichtigen Urteil kommt es zu einem Zielkonflikt zwischen Rechtsfrieden und Rechtsverwirklichung, bei dem auf beiden Seiten sowohl private als auch öffentliche Interessen beteiligt sind.121 Es besteht weder ein Vorrang des Rechtsfriedens, wonach rechtskräftige Urteile als absolut verbindlich betrachtet würden, noch der Rechtsverwirklichung, wonach man Urteile jederzeit und mit beliebigen Argumenten in Frage stellen könnte.122 Die Diskrepanz muss mit einer Interessenabwägung zwischen Verbindlichkeit und Richtigkeit des Urteils gelöst werden. Dabei gilt die 117 118 119 120 121 122
Schoibl, S. 288. Schoibl, S. 288. Schröer, S. 419 f. Kornicker, S. 10. Kornicker, S. 8. Kornicker, S. 9.
III. Die materialen Grundsätze
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Rechtskraft als Grundsatz und die Revision oder Abänderungsklage als Ausnahme.123 Das Urteil ist das Ergebnis eines rechtsstaatlichen Verfahrens, so dass es geboten erscheint, seine Rechtmässigkeit zu vermuten.124 Bei Vorliegen bestimmter Gründe, falls die Verbindlichkeit des Urteils untragbar ist, wird die Rechtskraft eines Urteils durchbrochen und die Streitsache einer erneuten verbesserten Prüfung unterzogen. Bis zur erfolgreichen Aufhebung bleibt die Rechtskraft aber bestehen. Einredeweise können die Revisionsgründe nicht geltend gemacht werden.125 Über das Vorliegen von Aufhebungsgründen kann nur in einem dafür speziell vorgesehenen Verfahren entschieden werden.126 4. Das Recht als Sicherheitssystem Der Mensch will Sicherheit als Schutz und als Gewissheit.127 Sicherheit kann als das Freisein von Gefährdung oder aber als Gewissheit über die Zukunft umschreiben werden.128 Die Rechtssicherheit erwächst direkt aus der Ordnungsfunktion des Rechts. Es handelt sich um die Sicherheit der gesellschaftlichen und öffentlichen Ordnung, die Frieden unter den Rechtsangehörigen gewährleistet.129 Sie beruht auf der Sicherheit der sozialen Beziehungen, welche herzustellen eine Aufgabe des Rechts ist.130 Rechtsnormen bilden sich, wenn Unsicherheit bezüglich des Verhaltens anderer besteht. Man will Willkür verhindern.131 Es soll zu einem vorhersehbaren Zusammenleben auf der Basis von Vertrauen und Verlässlichkeit kommen. Dabei werden Verhaltensmuster unterstützt, die ein geregeltes Zusammenleben ermöglichen. Das verbindliche Versprechen macht den Menschen berechenbar. Solche Rechtsversprechen werden durch Formerfordernisse oder die Hingabe von Sicherheiten (z. B. Pfand) nochmals gesichert. Es entstehen sodann staatliche Institutionen der Rechtsdurchsetzung, was wiederum der besseren Sicherung des Rechts dient.132 Das Bedürfnis nach Sicherheit bringt das Recht als Mittel der Erwartungssicherung hervor. Das Vertrauen aus der Sicht eines vernünftig und redlich urteilenden Menschen in das Bestehen und in die zukünftige erwartungsgemässe Verwirklichung des Rechts ist konstitutive Bedingung der Rechtsordnung.133 Dieses Bauen auf die 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133
Kornicker, S. 10 f. Kornicker, S. 14. Kornicker, S. 12. Kornicker, S. 13. Schweizer (1974), S. 15. Arnauld, S. 97 und S. 104; Schweizer (1974), S. 15. Schweizer (1974), S. 12. Schweizer (1974), S. 5. Opp, S. 129 und S. 204. Arnauld, S. 98. Schweizer (1974), S. 5.
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3. Teil: Die Grundsätze der Rechtswissenschaft
rechtlich geschaffene Ordnung, insbesondere den staatlichen Rechtsschutz, bedeutet eine Ordnungsgewissheit, die als Sicherheit durch das Recht (dank dem Recht)134 oder als Sicherheit des Einzelnen durch den Staat135 bezeichnet werden kann. Rechtssicherheit meint ausser der Sicherheit durch das Recht auch die Sicherheit des geltenden Rechts selbst.136 Dieser Begriff der Rechtssicherheit nimmt als Ausdruck des liberalen Rechtsstaates im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf Berechenbarkeit und Verlässlichkeit von staatlichem Handeln Bezug. Dabei geht es um die Sicherheit der Autonomie des Einzelnen vor den Staat und dessen unvorhersehbaren Eingriff in die eigene Rechtssphäre,137 also um die Sicherheit der eigenen Rechtsposition. Eine eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens setzt eine rechtlich gefasste Autonomie in einem stablien Rahmen voraus, so dass in der liberalen Gesellschaft ein Bedürfnis nach Stabilitat und damit einer Beachtung der Postulate der Rechtssicherheit entsteht.138 Es wird als Aufgabe des Staates angesehen, für ein sicheres Recht (ius certum) zu sorgen.139 Das Recht hat seinerseits sicher zu sein.140 Diese Auffassung erwartet, dass Existenz und Inhalt des Rechts nicht in Zweifel gezogen werden und dass der Berechtigte einen gesicherten Rechtsbestand hat.141 Man verlangt eine Garantie des rechtlichen status quo142 als Schutz des Vertrauens in das Bestehen des Rechts und in seine sachgerechte Handhabung.143 Dieses Sich-auf-dasRecht-verlassen-können ist Kerngehalt der Sicherheit des Rechts.144 Rechtssicherheit als Sicherheit des Rechts verlangt Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts.145 Erkennbarkeit setzt Positivität und Publizität der Rechtsnormen, d.h. eine schriftliche Bekanntgabe, voraus.146 Angestrebt wird Überschaubarkeit, was beispielsweise bei Kodifikationen erreicht wird.147 Ferner muss sich das Recht durch sprachliche Klarheit und leichte Ver-
134
Schweizer (1974), S. 5. Arnauld, S. 60. 136 Schweizer (1974), S. 12 und S. 15. 137 Arnauld, S. 60. 138 Arnauld, S. 625 f. 139 Schweizer (1974), S. 14. 140 Arnauld, S. 98. 141 Schweizer (1974), S. 13. 142 Schweizer (1974), S. 12. 143 Schweizer (1974), S. 14. 144 Schweizer (1974), S. 15. 145 Vgl. zu den verschiedenen Topoi der Rechtssicherheit und zu den folgenden Ausführungen Arnauld, S. 167 ff. 146 Vgl. Schweizer (1974), S. 32. 147 Arnauld, S. 218. 135
III. Die materialen Grundsätze
53
ständlichkeit auszeichnen.148 Klarheit ergibt sich auch daraus, dass das Recht auf den erkennbaren äusseren Rechtsschein Bezug nimmt. Unter dem Aspekt der Verkehrssicherheit werden Rechtswirkungen deshalb an äusseren Tatbeständen angeknüpft oder für Rechtsänderungen Publizitätserfordernisse aufgestellt. Rechtsscheintatbestände finden also Anerkennung,149 womit der gute Glauben geschützt wird.150 Des Weiteren sollte das Recht inhaltlich hinreichend bestimmt sein und sich durch Widerspruchsfreiheit und Konsistenz auszeichnen. Damit werden auch die Postulate der Systemgerechtigkeit und der Einheit des Rechts gewahrt. Das führt zu einer grösseren Orientierungssicherheit, nämlich zu wissen, was gilt.151 Zur Erkennbarkeit gehört auch Zugänglichkeit der Information als Möglichkeit, rechtlichen Rat einzuholen, ohne durch hohe Hürden, beispielsweise finanzieller Art, abgeschreckt zu werden. Verlässlichkeit meint Beständigkeit und Effektivität des Rechts. Beständiges Recht ist solches, das unwandelbar bzw. im Wandel berechenbar ist.152 Dauerhafte Normen führen zu einer erhöhten Berechenbarkeit.153 In der Normgebung liegt Beständigkeit schon in der grundsätzlichen Nichtbefristung von Normen oder der ausdrücklichen gesetzliche Bestimmung der zeitlichen Geltung. Ferner wird sie durch das Erfordernis von qualifizierten Mehrheiten beispielsweise bei Verfassungsänderungen gewährleistet. Massgebliche Aspekte der Bindungswirkung werden bei der Regelung des intertemporalen Rechts verwirklicht. Hier ist im materiellem Recht vom Grundsatz der Nichtrückwirkung belastender Normen und einem Schutz wohlerworbener Rechte auszugehen. Eine Norm darf keine Auswirkungen auf die Vergangenheit haben. Für die Regelung laufender Rechtsbeziehungen sind geeignete Übergangsbestimmungen mit Ausnahme- und Härtefallklauseln vorzusehen.154 Grundsätzlich soll das jeweils geltende Recht massgebend sein. Beständige Rechtspraxis weist sich durch eine einheitliche und kontinuierliche Rechtsprechung ohne häufigen und sprunghaften Wandel aus.155 Die Statuierung und Einhaltung geordneter Verfahrensvorschriften gehört zu einem wichtigen Mittel, diese Berechenbarkeit der Rechtsanwendung zu erreichen. Bei Urteilen wird Beständigkeit durch das Endgültigwerden als formelle Rechtskraft garantiert. Das Gleiche geschieht durch die übergreifende Bindungswirkung der materiellen Rechtskraft als Bestandskraft getroffener Entscheide und ihre Massgeblichkeit für andere Instanzen und Verfahren. Rechtsentscheidungen wird
148 149 150 151 152 153 154 155
Schweizer (1974), Schweizer (1974), Schweizer (1974), Schweizer (1974), Arnauld, S. 105. Schweizer (1974), Schweizer (1974), Schweizer (1974),
S. S. S. S.
10. 9. 10. 6 f.
S. 7. S. 23 und S. 103. S. 19 ff.
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3. Teil: Die Grundsätze der Rechtswissenschaft
Endgültigkeit zuerkannt.156 Von einem gewissen Zeitpunkt an müssen sie, von einer möglichen Revision abgesehen, unumstösslich sein.157 Das Postulat der Rechtserhaltung, einmal getroffene Rechtsakte möglichst zu erhalten, gehört ebenfalls zur Rechtsbeständigkeit. Das drückt sich beispielsweise darin aus, fehlerhafte Rechtsakte nicht als nichtig, sondern bloss als anfechtbar zu erklären. Die Effektivität des Rechts verlangt seine Durchsetzbarkeit und konsequente Durchsetzung. Die Realisierungssicherheit, nämlich zu wissen, dass Normen und Entscheidungen verwirklicht und notfalls auch durchgesetzt werden,158 erhöht die Orientierungssicherheit.159 Die Rechtsbeachtung gründet am besten nicht im Zwang, sondern in einer Rechtsakzeptanz.160 Das Recht muss aufgrund seines Entstehungsverfahrens (demokratischer Mehrheitsentscheid) oder seines Inhaltes wegen auf Anerkennung stossen. Letzteres tritt ein, wenn die Norm nahe am allgemeinen Rechtsgefühl liegt. Ganz generell sollte das Recht in die ausserrechtliche Wertordnung eingebettet sein, was durch die prägende Wirkung hilft, Erwartungen zu sichern und Überraschungsentscheide zu reduzieren. Ein wichtiger Wirksamkeitsfaktor ist ferner die effektive Kenntnis des geltenden Rechts. Die Berechenbarkeit des Rechts betrifft die Frage, inwieweit künftige Rechtsakte prognostizierbar sind. Eine noch nicht getroffene Entscheidung muss möglichst vorhersehbar sein. Das setzt ihre Anbindung an etwas voraus. Eine Bindungswirkung besteht durch die Verbindlichkeit von höherrangigen Normen, also dem Stufenbau der Rechtsordnung. Auch dem Gleichheitsgrundsatz kommt diese Wirkung zu. Kontinuität in der Rechtsanwendung ergibt sich ferner aus ihrer engen Anbindung an die Wortbedeutung der Norm. Eine Selbstbindung tritt durch die Verbindlichkeit eigener Erklärungen und Zusicherungen ein. Die faktische Bindung der Gerichte an Präjudizien verlangt somit, dass sich künftige Entscheidungen an bereits getroffenen ausrichten müssen. Die Vorhersehbarkeit durch Präjudizien besagt indessen nicht, dass sich die Funktion des Urteils in seiner Vorhersehbarkeit erschöpft.161 Die Bezugnahme auf bestehende Gerichtsentscheidungen ist trotzdem von grosser Bedeutung. Das Präjudiz besitzt die Vermutung der Richtigkeit, für eine Änderung der Rechtsprechung müssen deshalb triftige Gründe vorliegen. Die Berechenbarkeit kann sodann durch prozedurale Methoden gefördert werden. Dazu ist die Transparenz des Verfahrens durch Einhaltung der Informations- und Auskunftspflichten zu zählen. „Rechtssicherheit ermöglicht die Entwicklung rechtskonformer Erwartungen (durch Erkennbarkeit des Rechts); sie fordert den Fortbestand der Bedingungen, auf die das Rechtssubjekt sich eingestellt hat (Beständigkeit), sowie die 156 157 158 159 160 161
Schweizer (1974), Rafi, S. 57. Schweizer (1974), Schweizer (1974), Schweizer (1974), Rafi, S. 56.
S. 10. S. 7. S. 8. S. 8.
III. Die materialen Grundsätze
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reale Geltung des Rechts (Effektivität); sie will erreichen, dass man sich auf das Künftige im Recht einstellen kann (Berechenbarkeit).“162 Rechtssicherheit meint Gewissheit durch Erkennbarkeit des gegenwärtigen und Berechenbarkeit des zukünftigen Rechts.163 Die Erkennbarkeit der zukünftigen Anwendung bedeutet letztlich die Voraussehbarkeit der rechtlichen Folgen des eigenen Handelns. Das Rechtssicherheitsgebot weist einige Bezüge zum Grundsatz von Treu und Glauben auf. Art. 9 BV gewährleistet einen verfassungsmässigen Anspruch auf Behandlung nach Treu und Glauben durch den Staat. Nach Art. 5 Abs. 3 BV gehört ihre Einhaltung zu den Grundsätzen rechtsstaatlichen Handelns. Treu und Glauben meint vertrauenswürdige Berechenbarkeit und beinhaltet Vertrauensschutz und ein Rechtsmissbrauchsverbot einschliesslich des Verbots des widersprüchlichen Verhaltens. Insbesondere gewährleistet der Grundsatz den Schutz des berechtigten Vertrauens in die durch den Staat begründeten Erwartungen oder abgegebenen Zusicherungen und Auskünfte.164 Nicht offensichtlich falsche, jedoch unrichtige, eine Person betreffende, konkrete behördliche Auskünfte können nach einer Interessenabwägung entgegen der konstanten Rechtslage bindend sein, falls die Zuständigkeit gegeben war und aufgrund der Auskunft ohne Nachteile nicht mehr rückgangig zu machende Dispositionen getätigt wurden.165 Ebenso wenig darf den Parteien aus einer fehlenden oder falschen Rechtsmittelbelehrung ein Nachteil erwachsen. Rechtssicherheit stellt direkte Anforderungen an die Gestaltung des Rechts, während der Vertrauenschutz vom bestehenden Recht ausgeht, das festlegt, welches Vertrauen als schutzwürdig oder berechtigt anzusehen ist.166 Die Unterschiede zwischen der Rechtssicherheit und dem Grundssatz von Treu und Glauben sind offensichtlich. Die Rechtssicherheit stellt ein objektives Prinzip dar, das für alle gleichermassen garantiert sein muss.167 Anders als Treu und Glauben setzt sie kein besonderes Vertrauensverhältnis voraus. Die Rechtssicherheit schützt bereits das allgemeine Vertrauen in die Beständigkeit des Rechts. Durch die mögliche Abweichung von Gesetz bei unrichtigen Auskünften steht der Grundsatz von Treu und Glauben in einem möglichen Gegensatz zum Legalitätsprinzip, das ein zentraler Gehalt der Rechtssicherheit darstellt. Das Rechtssicherheitsgebot ist zwar ein Hauptziel des Rechtsstaates,168 jedoch nicht als solches, sondern nur in Teilaspekten, verfassungsrechtlich ge162 163 164 165 166 167 168
Arnauld, S. 659. Schweizer (1974), S. 5. BGE 127 I 31, 36. BGE 121 V 65, 66 f.; BGE 125 I 267, 273 f. Arnauld, S. 163. Arnauld, S. 163. Schweizer (1974), S. 185.
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3. Teil: Die Grundsätze der Rechtswissenschaft
schützt. Das Prinzip der Rechtssicherheit liegt wie jenes der Gerechtigkeit und Zweckmässigkeit dem Recht als Idee zu Grunde; ihre rechtliche Geltung setzt indes eine positiv-rechtliche Umsetzung voraus.169 Das Legalitätsprinzip verwirklicht verschiedene Rechtssicherheitspostualte wie das Rückwirkungsverbot oder das Verbot sich widersprechender Gesetze.170 Im Willkürverbot gemäss Art. 9 BV, dem Rechtsgleichheitsgebot gemäss Art. 8 BV sowie den allgemeinen Verfahrensgarantien, insbesondere dem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 BV, finden fundamentale Rechtsanschauungen eine Verankerung, die ebenfalls Postulate der Rechtssicherheit sind.171 Willkürlich sind beispielsweise rückwirkend belastende Gesetze.172 Der Eigentumsgarantie gemäss Art. 26 BV kommt bei der Rechtsbeständigkeit von Bewilligungen und Plänen ebenfalls eine Bedeutung zu.173 Unbestimmte und unklare polizeiliche Normen können einen Verstoss gegen die derogatorische Kraft des Bundesrechts darstellen.174 Rechtssicherheit stellt somit ein Prinzip mit Verfassungsrang dar, dessen abgeleitete Grundsätze ihrerseits verfassungsrechtlich geschützt sind.175 Ausser den zahlreichen Verfassungsgeboten, welche in ihrer Summe die Rechtssicherheit verwirklichen, findet dieses Prinzip auch Ausdruck in einzelnen Rechtsinstituten, wie dem Schutz wohlerworbener Rechte,176 oder der Ersitzung und Verjährung. Als Verfassungsprinzip kann die Rechtssicherheit sodann zur Integration und Lückenschliessung des Rechtssystems herangezogen werden.177 Die objektive, formale und abstrakte Rechtssicherheit steht nicht in einem antinomischen Verhältnis zur subjektiven, materialen und konkreten Gerechtigkeit. Zwar steht die Rechtssicherheit der Einfallgerechtigkeit dienenden Abwägung entgegen, Gleichheit stellt jedoch ein grundlegendes Postulat der Gerechtigkeit dar und ist indes auch die Voraussetzung der Regelbildung. Die Regelhaftigkeit ist die zentrale Forderung der Rechtssicherheit. Das Willkürverbot präsentiert sich somit als Erfüllung sowohl von Gerechtigkeits- als auch von Rechtssicherheitsforderungen. In der Gleichheit fallen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit zusammen.178
169 170 171 172 173 174 175 176 177 178
Arnauld, S. 691. Schweizer (1974), S. 104. Schweizer (1974), S. 143. Schweizer (1974), S. 143. Schweizer (1974), S. 144. Schweizer (1974), S. 145. Vgl. Arnauld, S. 691. Arnauld, S. 626. Arnauld, S. 692. Arnauld, S. 659.
4. Teil
Die Methoden der Rechtswissenschaft I. Die Rechtsmethoden 1. Die Rechtsmethodologie „Methode“ bedeutet eine normierte Vorgehensweise, um eine Aufgabe zu lösen. Die Gesamtheit der Methoden wird in der Methodik zusammengefasst. Daraus ergeben sich als Technik Handlungsanleitungen zur Beherrschung der Methoden in der praktischen Anwendung. Die juristische Aufgabe besteht darin, anhand des Gehalts der geltenden Normen und nach einer Kategorienbildung (ratio legis, Rechtsprinzipien) das Rechtssystem umfassend zu definieren, sodann die Normen sowohl system- als auch fallgerecht zu konkretisieren und schliesslich nach Massgabe dieser Erkenntnisse einen Fall methodisch zu lösen. Die zur Falllösung hergestellten Bezüge können als Herstellen eines Entscheidungstextes bezeichnet werden.1 Das Recht ist somit thematisch zu explizieren und die Rechtsnormen durch Implementierung des Axioms der Person zu hypostasieren, so dass ein ganzheitliches und zugleich differenziertes Rechtssystem auf den Fall angewendet werden kann. Dabei sollen rechtsethische sowie rechtsphänomenologische Kriterien transparent gemacht und miteinander in Kongruenz gebracht werden. Die Kunst liegt darin, die in einer Rechtsnorm wirkenden Kräfte zu erkennen und systemkonform und fallgerecht zur Geltung zu bringen. Bei der Explizierung wird intuitives Wissen und Können oder was in Praktiken bereits implizit vorliegt, transparent gemacht.2 Es erfolgt eine systematische Begriffsbildung. Ein Begriff ist eine gedankliche Zusammenfassung von verschiedenartigen Objekten, die sich durch bedeutungsvolle gleiche Merkmale auszeichnen, zu einer abstrakten Einheit. Darin werden dessen übergeordnete (wesensmässigen) Eigenschaften dargestellt und die Objekte dadurch in einen Bedeutungszusammenhang gebracht. Verschiedene Einzelvorstellungen werden somit durch eine Denkbeziehung (abstrakter Zusammenhang) in Verbindung gesetzt, welche die Form ihrer Zusammengehörigkeit zum Ausdruck bringt. Dieser Begriff wird mit einer Bezeichnung (Wort) belegt („Milch“, „Fleisch“, „Brot“ bilden eine Kategorie, die als „Nahrungsmittel“ bezeichnet wird). Die 1 2
Busse (1993), S. 284. Vgl. Felder, S. 146 f.
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4. Teil: Die Methoden der Rechtswissenschaft
Bezeichnung ist indes nicht der Begriff selbst. Begriffe sind mehr als Wörter, nämlich grundlegende Elemente des Denkens, in denen Funktionen und Bewertungen schon enthalten sind. Sie haben in der Vorstellung bereits eine Klassifikation durchlaufen.3 Synthese ist die Verbindung, welche die Mannigfaltigkeit der einzelnen Merkmale zur Einheit des Begriffs verbindet. Analyse dagegen heisst die Auflösung eines Ganzen in seine Teile, insbesondere eines Begriffes in seine Merkmale oder Grundbegriffe.4 Der Begriff ist das Produkt einer Analyse der Einzeldinge und Synthese ihrer gemeinsamen Merkmale. Die Bildung von Begriffen setzt Urteilen voraus. Inhalt eines Begriffes (Begriffsinhalt, Intension, intensionale Bedeutung) ist der Komplex des von ihm zu einer Einheit zusammengefassten, die von ihm ausgedrückten Merkmale der Objekte. Umfang eines Begriffes (Begriffsumfang, Extension, extensionale Bedeutung) ist der Anwendungsbereich, die Menge der Objekte, die benannt sind, oder auf die er Anwendung findet. Begriffsumfang ist umgekehrt proportional zum Begriffsinhalt. Zunehmender Begriffsinhalt führt zu einem abnehmenden Begriffsumfang. Der juristischen Explizierung liegt über die reine Begriffsbildung hinaus typischerweise ein Verfahren der Varianz-, und der Invarianzbildung zugrunde. Gemeint ist das Auffinden des Allgemeinen (Universalisierung), des Besonderen (Partikularisierung) sowie des Einzelnen (Singularisierung). Dies geschieht durch Erforschung der charakteristischen Eigenschaften einer Situation und ermöglicht, das Reguläre (dem Normgehalt entsprechende) vom Singulären eines Falles zu unterscheiden. Die Wirkung ist Spezifizierung, also die Einteilung in Arten, womit ein Ordnungsfaktor geschaffen wird.5 Je nachdem, ob das Einzelne, das Besondere oder aber das Allgemeine als Ausgangspunkt der Erkenntnis dient, ist der Weg der Ableitung regressiv (analytisch) oder progressiv (synthetisch). Die Hypostasierung wird verstanden als Setzung des transzendenten Rechtsethos ins Erkenntnisimmanente, als Geist (mens) in eine geltende Norm. Das Gesetz wird damit zu einer an einen Bezugsgegenstand (Grund und Zweck) sowie an das Medium Sprache gebundene Exemplifikation des Rechts und steht damit stellvertretend für dieses. Die mens darf also nicht mit Ursache, Zweck oder Vernunft (ratio legis) des Gesetzes (die Erklärung dafür, warum es gegeben worden ist) gleichgesetzt werden, sondern verkörpert die Essenz des Rechts im Gesetz. Eine Norm ist unter Voraussetzung der Wahrung der Menschenwürde zu verstehen. Zur Lösung einer Aufgabe ist die Einhaltung und nachvollziehbare Darlegung der gewählten Vorgehensweise erforderlich. Die Methodenwahrung ist mit Willkürfreiheit identisch und stellt ein fundamentales Kriterium der Richtigkeit dar. 3 4 5
Vgl. Esfeld, S. 206. Eine Definition ist demnach eine analytische Erklärung. Jacoby, S. 286.
I. Die Rechtsmethoden
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Methodenwahrheit und -klarheit sind die Grundlagen. Die Vorgehensweise muss zum Voraus definiert werden. Die auszuschliessende dezisionistische Rechtsanwendung würde insbesondere bedeuten, dass man zuerst das gewünschte Ergebnis festlegt und erst dann nach einer passenden Durchführung oder Begründung sucht.6 Nicht ausreichend ist wegen der Unmöglichkeit ihrer Nachvollziehbarkeit auch ein rein intuitives oder assoziatives Handeln. Wissenschaftliche Methode bezeichnet immer ein planmässiges und folgerichtiges Vorgehen.7 Die verständliche Gedankenführung besitzt in Verbindung mit dem Erklärungswert eine Überzeugungskraft. Falls die so gewonnene Erkenntnis von einer überwiegenden Mehrheit der Beteiligten geteilt wird, begründet sie die herrschende Meinung.8 Die auf Diskurs beruhende intersubjektive Überzeugung ersetzt in der Rechtswissenschaft Objektivität9 oder empirische Überprüfbarkeit. Sie setzt eine Begründung voraus, insbesondere auch in der Wahl der Methode und in der Darstellung ihrer folgerichtigen Anwendung. Das ermöglicht das Erfassen der Vorgehensweise und führt zur Nachvollziehbarkeit der Erkenntnis. Plausibilität im Sinne einer methodischen Nachvollziehbarkeit des Ergebnisses ist allerdings bloss eine notwendige, keinesfalls aber hinreichende Voraussetzung für die Vertretbarkeit einer rechtswissenschaftlichen Auffassung.10 Auch bei Einhaltung der Klarheit des gedanklichen Ablaufs bleibt festzuhalten, welche Erwägungen unter Zugrundelegung der Normbedeutung überhaupt herangezogen werden sollen. Richtigkeit einer Aussage verlangt eine sachgerechte und umfassende Abwägung aller relevanten Umstände im Hinblick auf die Einheit der Rechtsordnung. Da sich diese Kriterien nicht immer eindeutig erfüllen lassen, es gibt mehrere vertretbare Antworten. Es besteht ein vertretbarer Entscheidungsspielraum, welcher überschritten wird, wenn von den anerkannten Grundsätzen abgewichen wird, wenn man Umstände beachtet oder überbewertet, die für den Entscheid keine oder bloss eine untergeordnete Rolle hätten spielen dürfen oder wenn umgekehrt entscheidrelevante Umstände nicht oder nur ungenügend beachtet werden.11 Die Abwägung muss zielgerichtet erfolgen. Fallgebundene (praktische) Fragen sind also von den fallungebundenen (theoretischen) zu unterscheiden. Ziel der theoretischen, systemgerechten Abwägung im Rahmen der Normfestlegung 6
Vgl. Mastronardi, S. 177 f. Mastronardi, S. 177. 8 Mastronardi, S. 182 f. 9 Übereinstimmung mit der Sache oder dem Ereignis ohne eine Wertung oder subjektive Verzerrung. 10 „Als vertretbar sollen diese gelten, wenn jede der Lösungen mit rationalen Argumenten nachvollziehbar (wenn auch nicht zwingend) begründet werden kann und nicht durch allgemein überzeugende Argumente erweisbar ist, dass der konkurrierende Lösungsmöglichkeiten den Vorzug verdient.“ (Zippelius, S. 101). 11 BGE 123 III 485, 490. 7
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4. Teil: Die Methoden der Rechtswissenschaft
ist eine hohe Kohäsion im Sinne einer wohldefinierten Einheit des Rechts. Dieser Vorgang geht über die Aufgabe hinaus, Normkollisionen zu vermeiden, bei der die Befolgung der einen Norm eine Verletzung der anderen bedeutet. Die durch Auslegung erfassten Bedeutungsgehalte sind so zu gewichten und ein Konkretisierungssatz ist derart zu formulieren, dass sich eine Norm kohärent in das Normsystem einfügt. Den geschriebenen Normen gleichgestellt sind ausser im Strafrecht die gewohnheitsrechtlichen Normsätze sowie die durch Wissenschaft und Rechtsprechung bereits geschaffenen und allgemein anerkannten Interpretationssätze. Sie stellen gesamthaft das Vorverständnis für eine weitere Konkretisierung dar. Eine Kohärenz entsteht bei logischer Widerspruchsfreiheit (Konsistenz) und Lückenlosigkeit (Umfassenheit) des Ergebnisses. Die Rechtsnormen müssen dazu in Beziehung zueinander gebracht und verglichen werden. Dadurch lässt sich ein innerer Zusammenhang herstellen, es ergeben sich die notwendigen Einsichten. Der Erklärungswert der Norm erschliesst sich aus dem inneren Zusammenhang des Rechts. Ein substantieller Zusammenhang ist gegeben, wenn die Normen in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen oder identische Merkmale aufweisen.12 Dieses Verhältnis wird mit Implikation beschrieben. Sie meint die Einbeziehung einer Norm in eine andere. Aussagenlogisch liegt die Schlussfolgerung aus einer Prämisse, also die Verknüpfung zweier Aussagen, vor.13 Erfüllt man die Kriterien der Kohärenz, liegt ein in sich geschlossenes Ergebnis vor, das stimmig ist und Sinn ergibt. Der vergleichende, logische und wertende Prozess der Konkretisierung kann zum Ergebnis führen, dass nichtlinguistische Belange überwiegend zur Bedeutungsbestimmung einer Norm beitragen. Normen gelten unter der Voraussetzung ihrer Vereinbarkeit. Der Konkretisierungsvorgang stellt sich somit nicht als nachträgliche oder gar willkürliche Korrektur eines bereits feststehenden Sinns der Norm dar, wie die eher aufgesetzt wirkende Lückendogmatik postuliert.14 Die praktische, fallgerechte Abwägung ist Teil der konkreten Normanwendung. Sie erfolgt unter Einbezug der Umstände eines Falles. Der Sachverhalt ist ebenso abhängig von der jeweiligen Situationsdeutung und der individuellen selektiven Gewichtung der Sachverhaltsumstände. Es stellt sich die Aufgabe, eine situationsübergreifende Regel mit dem Einzelfall in Einklang zu bringen.15 Der Konkretisierungssatz muss situationsangemessen sein. Allgemein gilt für das Verhältnis von Normrichtigkeit und Einzelfallgerechtigkeit, dass jede Norm wegen ihrer notwendigen Typisierung ein Billigkeitsdefizit aufweist. Eine Regel kann der Situation niemals ganz gerecht werden. Die Billigkeit steht jedoch 12
Bracker, S. 170. „Wenn A, dann B“ oder „Aus A folgt B“ oder „A impliziert B“. Dabei wird A auch als Prämisse und B als Konklusion bezeichnet. Ferner nennt man A hinreichende Bedingung für B und B notwendige Bedingung für A. 14 Vgl. Hausheer/Jaun, Art. 1 N. 9. 15 Günther, S. 38. 13
I. Die Rechtsmethoden
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nicht ausserhalb des Rechts, sondern ist selbst ein Prinzip der Rechtsanwendung.16 Sie umfasst nach der Auffassung von Pernice neben dem Aspekt der Einzelfallgerechtigkeit als „nachlassende Billigkeit“ das Gebot der schonenden, milden und rücksichtsvollen Rechtsausübung. Ferner gehöre die ausgleichende Billigkeit dazu, welche die tatsächliche Gleichheit anstrebe und insbesondere Sonderopfer oder unverdiente Vorteile zu verhindern suche. Diese Dimensionen der Billigkeit wirkten im Bereich der unbestimmten Gesetzesbegriffe sowie der Ermessensausübung. Der Einzelfallgerechtigkeit komme hingegen eine normtextkorrigierende Funktion zu.17 Als Rechtsprinzip kennzeichnet die Einzelfallgerechtigkeit die Eigenverantwortung jedes Rechtsanwenders für ein sachgerechtes Ergebnis.18 Die situationsgerechte Anwendung als das Ziel der praktischen Konkretisierung darf indessen nicht auf einer willkürlichen Entscheidung beruhen.19 Indiz für ein methodisches Vorgehen bildet die Verallgemeinerbarkeit des Resultats für vergleichbare Fälle.20 Bestimmte Anwendungssituationen können eine neue Rechtskonstellation begründen. Die gültigen Normen und Rechtsprinzipien treten in eine veränderte Beziehung zueinander und stellen neue Anforderungen an die Kohärenzbeziehungen.21 Dies erfordert eine neue Abwägung der relevanten Prinzipien respektive der Normgehalte und kann zu einem unterschiedlichen Abwägungsergebnis und damit zu einer anderen Sinngebung führen. Spezifische Fallkonstellationen verändern somit die Bedeutung der Norm.22 Das Prinzip der Einzelfallgerechtigkeit verweist also auf die Notwendigkeit der fallspezifischen Abwägung der Normgehalte. Sie beinhaltet darüber hinaus die Frage, ob das Einzelfallurteil gerechtfertigt ist.23 Ebenso wie das Rechtsmissbrauchsverbot, verwehrt sie einen formal gegebenen Anspruch, der materiell nicht zu billigen ist.24 Dies verdeutlicht den Ausnahmecharakter, womit nicht auf Umstände Bezug genommen werden darf, die in jeder von der Norm geregelten Situation vorkommen. Gefordert ist die Nichtanwendung der typisierenden Norm im atypischen Einzelfall. Die Einmaligkeit des Einzelfalles durchbricht den Schematismus, der in der abstrakten Regel enthalten ist.25 Es handelt sich um eine direkte Folgerung aus dem Grundsatz, dass die Falllösung immer Anwendung des Rechtssystems und nicht einer einzelnen Norm ist. Dazu muss man sich an den Wertungen und Wirkungsabsichten der Norm selbst orientie16 17 18 19 20 21 22 23 24 25
Pernice, S. 185; Mastronardi, S. 220. Vgl. Pernice, S. 180 ff. Pernice, S. 182. Günther, S. 39. Günther, S. 37. Günther, S. 57. Schmidt, S. 212. Günther, S. 51 f. Pernice, S. 183. Mastronardi, S. 220.
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4. Teil: Die Methoden der Rechtswissenschaft
ren, aber auch direkten Bezug auf die Rechtsprinzipien sowie die Verfassung nehmen. Die praktische Konkretisierung will die Einzelfallgerechtigkeit verwirklichen. Der Normgehalt soll durch fallspezifische Abwägung optimal umgesetzt werden. Die verfassungsgerechte Verwirklichung des Rechts als Ganzes kann im Ausnahmefall zur Nichtanwendung der Norm führen. Dies gilt auch, wenn die Zielvorstellung der Norm aufgrund besonderer Umstände nicht verwirklicht werden kann und ihre Anwendung eine krass ungleiche Belastung zur Folge hätte.26 Die einzelnen Rechtsprinzipien begründen durch ihre direkte, mitunter normverdrängende Anwendung die geforderte Einheit des Rechts.27 Argumentations- und diskurstheoretische Belange reichen somit nicht aus. Es ist eine Prüfung des Ergebnisses anhand rechtsaxiologischer Kriterien notwendig.28 Die Kategorien ergeben sich in formaler und materialer Hinsicht aus dem Axiom der Person. Ihre Verwirklichung ist ein Richtigkeitskriterium. Die Ergebniskontrolle anhand der Essenz des Rechts darf allerdings nicht willkürlich, sondern muss logisch motiviert sein. Die Kategorisierung und Aufteilung in Teilergebnisse stellen sicher, dass differenzierte Kriterien zur Verfügung stehen. Erforderlich ist ferner eine Bewertung der Anwendungsaspekte bezüglich ihrer Praktikabilität sowie den Wirkungen des gefundenen Konkretisierungssatzes. Die Abwägung der verschiedenen Belange erfolgt durch eine Prüfung der Verhältnismässigkeit nach Eignung, Erforderlichkeit und vernünftiger Zweck-Mittel-Relation zur Erreichung des mit der Norm angestrebten Zustandes. Da sich das Verhaltensziel einer Norm letztlich auf die Grundprinzipien des Rechts zurückführen lässt, muss bei der Abwägung darauf ebenfalls Bezug genommen werden (beispielsweise sind Kohärenzmaxime und das Gebot der Textimmanenz bereits zur Sinnbestimmung gegeneinander abzuwägen). Konkretisierung ist somit Sinngebung durch Abwägung der Normgehalte im Rahmen der Grundprinzipien des Rechts im Hinblick auf das Verhaltensziel der Norm. Die Universalisierung ist ein weiterer Überprüfungsfaktor und ersetzt die (naturwissenschaftliche) Methode der (experimentellen) Verifizierung/Falsifizierung. Letzteres lässt sich nur in beschränktem Mass erreichen, indem die Rechtsprechung Rückschlüsse zulässt, ob sich eine Auffassung durchgesetzt hat. Die individuelle Handlungsanweisung ist richtig, wenn sie mit einem (zumindest situativen) Universalitätsanspruch versehen werden kann,29 der Entscheid aufgrund seiner Verallgemeinerungsfähigkeit also zu einer Handlungsnorm gemacht werden könnte. Der Anspruch auf Richtigkeit eines Rechtsentscheides impliziert, eine bestimmte Fallkonstellation in gleicher Weise zu entscheiden.30
26 27 28 29 30
Pernice, S. 663. Vgl. Pernice, S. 180 ff. Vgl. Neumann (1986), S. 118. Vgl. Jacoby, S. 282 f. Neumann (1993), S. 167.
I. Die Rechtsmethoden
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2. Die Rechtsmethodik Die Methodik erstreckt sich auf die Gesamtheit aller partiellen Operationen zur Rechtsbeschreibung, -findung und -anwendung. Sie umfasst somit die Norm- und Sachverhaltsbearbeitung sowie die Urteilsfindung. Das Wesen des jeweiligen Objekts sowie das Stadium des Prozesses machen eine angepasste Vorgehensweise erforderlich. Daraus folgt eine themenspezifische Methode. Die verschiedenen Vorgänge, insbesondere auch jene der Abwägung, lassen sich indessen auf die Grundoperationen der Berücksichtigung, des Vergleichs, der Schlussfolgerung, der Bewertung sowie der Entscheidung zurückführen. Ein Zusammenhang lässt sich aus der Gegenüberstellung erkennen. Der Vergleich von Sachverhalt und Normen schafft beispielsweise die Möglichkeit, gemeinsame Merkmale festzustellen und damit die relevante Norm zu finden. Generell bezeichnet der Vergleich eine Gedankenfigur, welche durch kontrastive Gegenüberstellung zweier Sprachinformationen erzeugt wird, um deren Anschaulichkeit zu erhöhen. Auch das Erkennen des Gehalts einer Norm beginnt damit, sie von anderen zu unterscheiden oder allfällige Ähnlichkeit festzustellen. Im Prozess der Erkenntnis bilden Unterscheidung und Ähnlichkeit eine untrennbare Einheit. Daraus lassen sich nach den Regeln der Logik Folgerungen ziehen. Die als Logik bezeichneten Gesetzen und Formen des Denkens kommen auch in der Rechtswissenschaft zur Anwendung. Als Schluss bezeichnet man die logische Form, die es gestattet, aus vorhandenen Gedanken neues Wissen zu erhalten. Ein (deduktiv) logisch gültiger Schluss ist wahrheitserhaltend. Je nach Art des Zusammenhangs zwischen den Gedanken unterscheidet man verschiedene Kombinationsformen der Schlüsse. Deduktion ist die Schlussfolgerung vom Allgemeinen auf das Besondere, mithin ein analytischer Vorgang. Induktion ist ein synthetischer Vorgang der Verallgemeinerung. Der Analogieschluss ist wesentliche Grundlage der Verallgemeinerung und Schlussfolgerung aufgrund der Ähnlichkeit von zwei Objekten auf deren identische Eigenschaften.31 Analogie wird heute als ein Synonym für jeden Ähnlichkeitsschluss verwendet, und meint insbesondere eine den Wortsinn überschreitende Anwendung einer Regel auf einen ähnlichen Fall, während früher darunter nur die Proportion32 verstanden wurde.33 Allerdings ist die Unterscheidung zwischen Auslegung und Analogie sprachtheoretisch kaum haltbar, da Analogieschlüsse bereits zum Verstehen eines Sprachzeichens gehören und nicht nur für besondere Fälle angenommen werden dürfen.34 Traduktion bezeichnet einen mittelbaren Schluss, in dem die Prämisse und der Schlusssatz Urteile mit gleicher Allge31 Etwa: A hat Ähnlichkeit mit B; B hat die Eigenschaft C; somit hat auch A die Eigenschaft C. 32 Z. B.: 2 verhält sich zu 4 wie 3 zu 6. 33 Schröder (2001), S. 44. 34 Busse (1993), S. 280.
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4. Teil: Die Methoden der Rechtswissenschaft
meingültigkeit bedeuten.35 Die Falllösung führt jedoch über eine rein logische Operation hinaus. Die Logik sagt nichts über die Richtigkeit der Prämissen aus.36 Angestrebt wird ferner nicht nur ein deduktiv mögliches, sondern ein richtiges (gerechtes) Ergebnis.37 Eine deduktive Beziehung ist lediglich eine notwendige Bedingung für die Richtigkeit.38 Die Setzung der Prämisse sowie das Ergebnis erfordern eine Bewertung. Ausgedrückt wird dabei die Beziehung eines Objekts auf ein Bedürfnis hin. Etwas ist wertvoll zur Erreichung eines bestimmten Ziels. Die Bewertung setzt somit die Definition der Bewertungsgrundlagen voraus. Die Rechtsanwendung ist Rechtsentscheidung, falls mindestens zwei Handlungsalternativen übrig bleiben. Der Unterschied zwischen einer Entscheidung und einer Berechnung liegt darin, dass für eine Entscheidung nicht alle Fakten, die zu einer Berechnung erforderlich wären, erhoben werden können. Die Rechtsanwendung beruht immer auf Unsicherheit. Daher sind Entscheidungen oft umstritten, da jeder die verbleibende Unsicherheit mit anderen Annahmen belegt. Die wichtigste Regel zum Fällen von Entscheidungen ist, dass sie umso leichter fällt, je mehr Informationen vorliegen. Die Entscheidung ist als Ausdruck des bewussten Handelns des Menschen von Interessen und Motivationen abhängig und wird von Emotionen begleitet. Hier wirken also auch subjektive Faktoren. Kollidierende Belange machen einen Entscheid hinsichtlich des Vorranges erforderlich. Das auf Gewichtung und rangmässige Ordnung von Werten, Gütern oder Interessen abstellende Konzept ist die Abwägung. Die Waage in der Hand der Justitia gehört zur allegorischen Darstellung der Gerechtigkeit. Besteht kein absoluter oder abstrakter Vorrang, ist unter Würdigung der Umstände des Falles zu entscheiden, welchem Belang konkret der Vorrang einzuräumen ist. Meistens wird ein Ausgleich angestrebt, indem teilweise dem einen und teilweise dem anderen der Vorrang gegeben wird, um die geschützten Zustände maximal zu verwirklichen.39 Da im Recht eine abstrakte Gleichrangigkeit der Prinzipien besteht, ist ein solcher Ausgleich im Einzelfall im Hinblick auf die Rechtsverwirklichung notwendig. Allenfalls lassen sich fallgruppenspezifische Vorrangregeln formulieren, die von den konkreten Umständen eines Falles wieder abstrahieren. Zum Beispiel bestehen für Normkollisionen und -konkurrenzen verschiedene Regeln nach Abstufung (lex superior derogat legi inferiori), Genauigkeit (lex specialis derogat legi generali) und Zeitpunkt (lex posterior derogat legi priori),40 die Teil des allgemeinen Vorgehens zur Erzielung von Ko35 A ist der Bruder von B; B ist der Bruder von C; folglich ist A ebenfalls der Bruder von C. 36 Alexy (1996), S. 273 ff. 37 Günther, S. 40. 38 Günther, S. 40. 39 Koch (1996), S. 20. 40 Vgl. Tschentscher, S. 122.
I. Die Rechtsmethoden
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härenz sind. Durch den Vorgang der Optimierung kann den einzelnen Belangen soweit als möglich Rechnung getragen werden. Konflikte sind somit absolut durch Einräumung eines abstrakten Vorranges oder relativ durch Abwägung zu lösen. Die Auflösung erfolgt hier von Fall zu Fall nach dem relativen Gewicht der beteiligten Belange im Hinblick auf die Sachverhaltsumstände. Die verhältnismässige Gewichtung beinhaltet immer einen Vergleich der Belange und ihre Wertung. Abwägung ist somit ein Vorgang, der Vergleich, Wertung und Entscheidung umfasst. Zwischen verbleibenden Möglichkeiten wird nach dem Gewicht der relevanten Gesichtspunkte eine Wahl getroffen. 3. Die Rechtstechnik Die richtig verstandenen Normen sind methodisch auf den in Rede stehenden Einzelfall anzuwenden. Die Rechtswissenschaft beinhaltet deshalb neben den hermeneutischen Methoden, die dazu dienen, einen Sinn klarzustellen, auch eine Problemlösungstechnik. Die allgemeine und fachgebietsübergreifende Methode ist der Syllogismus. Der Jurist muss die praktische Fähigkeit besitzen, ein sachgerechtes Individualurteil zu erlangen, ohne in einen vielleicht wohlmeinenden, aber unüberprüfbarem Dezisionismus zu verfallen. Dazu müssen ausserrechtliche Situationen unter Beizug des gesamten Rechtssystems zunächst in rechtliche (institutionell definierte und konstituierte) Sachverhalte umgewandelt werden.41 Eine Situation wird als eine juristisch definierte, schon bearbeitete Bezugsgrösse zum Referenzobjekt von Gesetzestexten.42 Das konkret singuläre Sein (der Sachverhalt) wird mit einer generell-abstrakten Kategorie, dem Tatbestand und über diesen Tatbestand mit einem Sollen, einer Rechtsfolge, zusammengebracht.43 Die Subsumtion findet dabei gewöhnlich nicht unmittelbar ausgehend vom Gesetzestext statt, sondern erst von einer Konkretisierung (Explikationsausdruck höherer Stufe), in dem auf eine typisierende Fallbeschreibung Bezug genommen wird.44 Im Rahmen einer gesetzestextbasierten Normkonkretisierung wird aus dem Normtext ein die Entscheidung tragender Leitsatz entwickelt und zur Entscheidungsnorm individualisiert.45 Anwendung meint somit immer Sachverhaltskonstitution und Normkonkretisierung sowie deren Bezugnahme in der Subsumtion. Diese ist keine blosse Konfrontation von Normtext und Sachverhalt als feststehende Grössen, sondern ein Prozess der Argumentation und Prüfung einzelner Elemente davon.46 41 42 43 44 45 46
Vgl. Busse (1993), S. 299. Busse (2002), S. 138. Nussbaumer, S. 3. Busse (2002), S. 149. Felder, S. 162. Busse (1993), S. 291 f.
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4. Teil: Die Methoden der Rechtswissenschaft
Die Sachverhaltskonstitution ist eine normspezifische Beschreibung einer Situation. Sie setzt die Berücksichtigung der relevanten Normen voraus. Der Vergleich der Sachverhaltsmerkmale mit den Tatbestandselementen der Normen führt über das Feststellen gemeinsamer Merkmale zur Identifikation der relevanten Norm. Ausgehend vom Erfassen bestehender Interpretationssätze erfordert die zunächst notwendige rechtstheoretische Konkretisierung die Feststellung ethischer, systematischer, historischer und internationaler Zusammenhänge. Dies geschieht hauptsächlich durch die Darlegung der gegenseitigen Beeinflussung der Normen und ihren Abhängigkeiten sowie durch das Aufzeigen ähnlicher oder identischer Elemente. Dadurch wird die Integration der Norm in das Rechtssystem erreicht und dem Systemdenken Rechnung getragen. Die Auslegung erfasst überdies den gesamten Gehalt der Norm mit seinen linguistischen, philosophischen, soziologischen, historischen und rechtstheoretischen Aspekten. Ansatz für das Erfassen dieser Informationen bildet der Normtext. Er ist Ausdruck von spezifischen Entscheidungen, angestrebten Verhaltenszielen und Wirkungsabsichten des Normgebers. Die Ergebnisse dieser Analyse sind noch nicht mit dem praktischen Sinn der Norm gleichzusetzen. Die praktische, situationsbezogene Normbedeutung beruht vielmehr auf einer wertenden Berücksichtigung der durch die Auslegung und systematischen Darlegung erfassten verschiedenen Gehalte der Norm. Die Wertung erfolgt im Hinblick auf eine hohe Kohäsion des Rechts. Darauf aufbauend erfolgt die Begründung eines Entscheidungssatzes. Zur Rechtfertigung bedarf es der nachvollziehbaren Darlegung seiner Kohärenz. Die Bedeutung der Norm wird somit nicht durch Auslegung quasi automatisch gefunden, sondern im Rahmen einer Konkretisierung durch Abwägung erst festgelegt. In diesem zweiten Schritt muss der fallspezifische Leitsatz insbesondere mit den Rechtsprinzipien sowie den übergeordneten Normen in Einklang gebracht werden. Beispielsweise verlangt das Kriterium der Textimmanenz eine Bewertung des Ergebnisses anhand der fachspezifischen Anforderungen an seine linguistische Verankerung. Wichtig ist, dass aus den Rechtsprinzipien direkte Folgerungen gezogen werden können. Die Abwägung abstrakt gleichrangiger Prinzipien kann nur im Einzelfall erfolgen.47 Es geht darum, die Geltung der Prinzipien zu optimieren und einen angemessenen Ausgleich zwischen ihnen herzustellen. Die Norm als Verhaltensanweisung ist ferner als Mittel zum Zweck auf ein konkretes Verhaltensziel ausgerichtet, das ebenso einen Massstab bildet. Zu prüfen ist immer, ob das Individualurteil noch zur Erreichung des Verhaltensziels beiträgt. Zweckmässigkeitsüberlegungen spielen ebenfalls eine Rolle. Insbesondere sind die praktischen Konsequenzen eines Konkretisierungssatzes zu berücksichtigen. Der rechtspraktischen Konkretisierung liegt also ein Problemdenken zugrunde. Massgebliches Kriterium für deren Fehlerfreiheit ist 47
Mastronardi, S. 293.
II. Die Normmethoden
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ihre Verallgemeinerungsfähigkeit im Sinne einer Gültigkeit für alle vergleichbaren Fälle.
II. Die Normmethoden 1. Die Normbildung Wir haben zwischen logischen, das Denken betreffenden, ästhetischen, d.h. die Sinne umfassenden, sowie ethischen, das Verhalten bestimmenden Normen unterschieden. Eine ehtische Norm ist eine Verhaltenserwartung, die eine Wertvorstellung (Ethos) voraussetzt und sich der Einsicht als richtig und dem Willen als verbindlich auferlegt. Auf ethischen Normen basieren sowohl die individualhumanen, d.h. moralischen, als auch die sozialen, insbesondere rechtlichen Normen. Rechtliche Normen sind Regeln, welche für bestimmtes soziales Verhalten Allgemeingültigkeit beanspruchen, ohne dass sie immer eingehalten werden. Normen sind aus sich selbst heraus nicht fähig, ihre Akzeptanz oder Einhaltung zu garantieren. Sie appellieren zunächst ans Gewissen und die Vernunft der Beteiligten.48 Der Anspruch einer allgemeinen Verbindlichkeit bleibt allerdings bestehen. Ethische und damit auch rechtliche Normen machen sich in Überzeugungen bemerkbar, noch bevor sie statuiert werden. Rechtsnormen gründen deshalb auf einer individuellen Rechtsüberzeugung als Inbegriff des richtigen Rechts. Der für das Recht zusätzlich erforderliche soziale Aspekt der Normbildung (Rechtsnormen sind immer Gruppennormen) beruht auf einer Institutionalisierung der Verhaltenserwartung. Denkbar ist eine autoritative Normsetzung, eine allgemeine Übereinkunft oder die evolutionäre Normentstehung einer ungeplanten Entwicklung. Das Recht setzt jedenfalls die Homogenität der individuellen Rechtsüberzeugungen voraus. Dies ist insbesondere für die evolutionäre Entstehung entscheidend. Die sich ergebenden Verhaltensregelmässigkeiten werden durch kohärente soziale Strukturen, Imitationsprozesse oder aber durch direkte Belohungen gefördert. Die Präferenz für ein Verhalten führt über die Äusserung einer entsprechenden Erwartung (direkte Proklamation der Norm) zu ihrer Internalisierung (Akzeptanz der Norm durch Schuld- und Schamgefühl) und schliesslich zur Entstehung von Vorkehrungen zur Durchsetzung. Alles zusammen bewirkt die Befolgung und Erwartung dieses Verhaltens.49 Je mehr ein Mensch eine Norm verinnerlicht hat und ihre Vernünftigkeit einsieht, umso weniger empfindet er ihre Einhaltung als Zwang. Bei der eigentlichen Normsetzung handelt es sich deshalb primär um eine nachträgliche Legitimierung einer evolutionären Norm. Die gesetzte Norm beruht vielfach auf einer bereits be48 49
Schreiner, S. 308. Vgl. Opp, S. 11.
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4. Teil: Die Methoden der Rechtswissenschaft
stehenden Praxis. Indes kann es sich bei der Normsetzung auch um eine bewusste Neuschaffung aufgrund eines Argumentationsprozesses handeln. Neben der Anpassung an geänderte gesellschaftliche Verhältnisse und Erwartungen können auch Einzelpersonen Auslöser von Normveränderungen sein. Eine solche Inanspruchnahme der Normsetzung bedingt jedoch die evolutionäre Einsicht, dass soziale Normen nicht wie in früheren Zivilisationsstufen die Unabänderbarkeit eines Naturgesetzes aufweisen. Normen, die von den Betroffenen als unzumutbar empfunden werden, sollen durch eine neue Normsetzung mit den aktuellen Bedürfnissen in Einklang gebracht werden. So bekannten sich die Benediktiner-Äbte der Provinz Main-Bamberg 1485 zum Grundsatz: „Wir sind der Auffassung, dass die Satzungen nach der Verschiedenheit der Zeit zu ändern sind (pro temporum varietate duximus varianda statuta).“ 50 Schon früher hatte sich Bernhard von Clairvaux (1090–1158) Gedanken zum Normwandel gemacht.51 Er beschränkte sich allerdings noch darauf, durch Auslegungsgrundsätze die Regeln Benedikts abzuwandeln und in veränderter Form anzuwenden.52 Diese Beispiele zeigen, dass sich in Europa schon früh die Einsicht durchsetzte, selbst Normen mit einem hohen Autoritätsgrad seien abänderbar.53 Da jede Rechtsnorm sowohl eine Werthaltung als auch den Sozialaspekt der Gruppennorm aufweist, kann ihre Entstehung entweder durch den individuellen Wertewandel oder durch soziale Phänomene erklärt werden. Insbesondere die Soziologie verfolgt eine utilitaristische Konzeption, die Bildung von Normen sei relevant zur Lösung von Systemproblemen.54 Zwischen Wert und Norm besteht eine Implikation. Ein bestimmter Wert impliziert eine konkrete Norm.55 Wertvorstellungen sind deshalb nicht ausschliesslich Folge und blosse Rechtfertigung schon bestehender Normen, sondern vielfach ihre Ursache.56 Wenn man einen bestimmten Wert akzeptiert, äussert man auch die damit verbundene werterhaltende Verhaltenserwartung.57 Neue Werte führen zu einem Normwandel.58 Damit stellt sich die Frage, was die den Normwandel auslösende Veränderung der Werte bewirkt. Für die Konstanz der Werte ist sicher der Zeitpunkt des Erwerbs von Bedeutung. In der Kindheit erworbene Werte bleiben prägend.59 Generell kann gesagt werden, dass die Knappheit eines Gutes zur Änderung der Präferenzen und damit der Wertehierachie führt. 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59
Schreiner, S. 305. Schreiner, S. 297. Schreiner, S. 299. Schreiner, S. 308. Vgl. Opp, S. 30. Opp, S. 120. Vgl. Opp, S. 120. Opp, S. 123 f. Vgl. Opp, S. 128. Opp, S. 136.
II. Die Normmethoden
69
Wenn in einer Geselllschaft die Grundbedürfnisse gedeckt sind, entstehen andere Bedürfnisse, und immaterielle Werte treten in den Vordergrund.60 Ein Faktor für den Wertewandel ist ferner der historische Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung.61 Die zunehmende Arbeits- und Funktionsteilung führt zu einer weitgehenden Rollendifferenzierung. Damit steigt das Ausmass der Interdependenz, so dass das Verhalten von immer mehr Menschen miteinander abgestimmt werden muss.62 Im Rahmen dieses Zivilisationsprozesses wird die früher erlaubte Affekt- und Triebäusserung eingeschränkt.63 Bei gesellschaftlicher Differenzierung ist insbesondere eine staatliche Monopolisierung und Tabuisierung der körperlichen Gewalt zu beobachten.64 Dies führt zu einer Normentstehung in diesem Bereich.65 Die Entstehung von Normen kann auch mit den damit zusammenhängenden Nutzen und Kosten erklärt werden.66 Handlungen verursachen für andere Personen Kosten (negative Externalitäten) oder Nutzen (positive Externalitäten)67 Je grösser die negativen Exernalitäten für eine Gruppe sind, desto mehr wird ein Verhalten missbilligt.68 Durch Setzung von Normen können solche Externalitäten internalisiert oder eliminiert werden,69 so erfolgt etwa die Internalisierung negativer Effekte durch Statuierung einer Schadenersatzpflicht. Die Eliminierung externer Effekte führt zu einem Verbot. Der Nutzen der Normsetzung muss höher sein als die Kosten.70 Bei der Normsetzung können nämlich auch unerwünschte Konsequenzen und weitere, so genannte Transaktionskosten auftreten.71 Die Normbildung ist also darauf zurückzuführen, dass sich die Personen bei der Realisierung ihrer Ziele gegenseitig stören.72 Neben der Störung bildet bereits Unsicherheit einen auslösenden Faktor. Wenn Unsicherheit bezüglich des Verhaltens anderer besteht, bilden sich Normen, die diese Unsicherheit vermindern. Soziale Normen haben eine entlastende Funktion.73 Die soziologische Betrachtungsweise zeigt, dass eine Norm entsteht, falls einzelne Erfordernisse eines Sozialsystems nicht erfüllt sind und eine Norm zu ihrer Erfüllung 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73
Opp, S. 137. Opp, S. 159. Opp, S. 160. Vgl. Opp, S. 152 ff. Vgl. Opp, S. 162. Opp, S. 165. Vgl. Opp, S. 58. Opp, S. 110. Opp, S. 117. Opp, S. 72. Opp, S. 79. Opp, S. 80 und S. 106. Opp, S. 59. Opp, S. 129.
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4. Teil: Die Methoden der Rechtswissenschaft
beiträgt.74 Es geht um das Erreichen des Gleichgewichts und das Überleben eines sozialen Systems. Ziel ist insbesondere die Ermöglichung eines gewaltfreien Zusammenlebens. Eine politische Sicht zeigt zudem, dass Normen zur Verringerung einer willkürlichen Machtausübung oder des persönlichem Einflusses Einzelner auf gesellschaftliche Entscheidungen gefordert werden.75 Bei der Erklärung der Normbildung dürfen politische Strukturen, insbesondere die Machtverteilung, jedenfalls nicht ausser Acht gelassen werden.76 Eine Norm bildet sich, wenn sich die Äusserung einer Verhaltenserwartung ändert.77 Rechtsnormen sind ethische Gruppennormen, die einen zweifachen Identifikationsprozess bedingen, einerseits mit einem Wert und anderseits mit der Gruppe. Diese beiden Variabeln bestimmen die Normbildung. Sowohl die von der Ethik als auch die von der Gruppe gestellten Forderungen müssen erfüllt werden. Grundlegend dafür ist das Prinzip, dass die Verhaltensvorschrift für alle Gruppenmitglieder in gleichem Mass gelten soll. Rechtsnormen sind ferner Teil des Zivilisationsprozesses, der in Richtung einer zunehmenden Trieb- und Gewaltkontrolle verläuft.78 In welchem Ausmass ein Verhalten missbilligt wird, ist jedenfalls kontingent. Sowohl die Verhaltens- als auch die Erwartungshaltung varieren nach Zeit und Ort.79 Generell ist mit einer autoritativen Normsetzung zu rechnen, wenn die soziale Verhaltenserwartung durch Sanktionierung und institutionelle Legitimierung gestützt werden soll, um ein hochrangiges, aber prekäres Kollektivgut zu sichern. Während die Einhaltung moralischer Normen der Verantwortung des Einzelnen obliegt, wird die Einhaltung der Rechtsnormen durch staatliche Einrichtungen kontrolliert. Rechtsentscheidung ist deshalb eine institutionalisierte Praxis.80 Erst im Gerichtsurteil entscheidet sich, welche konkrete Wirkung die Rechtsnorm für den Einzelnen und die Gruppe hat.81 Recht wird somit letztlich immer zu einer von einer Institution geäusserten Verhaltenserwartung.82 Zu den Faktoren Wert und Gruppe kommt also die Institution als Entstehungsfaktor hinzu. Gültige Rechtsnormen bilden sodann einen Bewertungsmassstab für Handlungen. Sie prägen dadurch die Wertvorstellungen, die zu neuen kollektiven Verhaltenserwartungen führen können.
74 75 76 77 78 79 80 81 82
Opp, S. 30. Vgl. Opp, S. 204 f. Opp, S. 98. Opp, S. 11. Vgl. Opp, S. 152. Opp, S. 113. Busse (1993), S. 251. Schreiner, S. 309. Vgl. Opp, S. 118.
II. Die Normmethoden
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Die Normsetzung des Rechts auf persönliche Freiheit in der Bundesverfassung vom 1. Januar 2000 war eine Legitimierung einer evolutionär entstandenen Norm. Die persönliche Freiheit und insbesondere die körperliche und geistige Unversehrtheit sowie Bewegungsfreiheit stellen in unserem Kulturkreis einen grundlegenden Wert dar, der im Rahmen des Zivilisationsprozesses eine zunehmende Bedeutung in der Werthierarchie erhielt. Bei allen besteht die Erwartung ihres Schutzes, so dass sich automatisch eine entsprechende Norm bildete. Das Bundesgericht konnte deshalb zutreffend ausführen, dass die persönliche Freiheit den materiellen Rechtsstaat mitkonstruiere und zu seiner Wertordnung gehöre. Durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtes wurden weitere mit dem Grundrecht zusammenhängende und auf den gleichen Grundwerten basierende Erwartungen institutionalisiert. Sie weiteten den ursprünglichen Schutz der Bewegungsfreiheit zum Persönlichkeitsschutz aus. Damit sollte der durch neue Technologien (Blutprobe, Vaterschaftstest, Gen-Technologie) prekär gewordene Schutz dieses hochrangigen Kollektivgutes gestärkt werden. Damit wurden im Ergebnis zusätzliche Normen geschaffen, die als solche wieder auf die Wertvorstellungen der Gesellschaft zurückwirkten.83 2. Die Normfindung Bevor eine Rechtsnorm auf einen bestehenden Fall angewendet werden kann, muss sie zuerst gefunden werden. Die Findung von ethischen Normen, wozu auch Rechtsnormen gehören, unterscheidet sich von der Findung logischer, technischer oder ästhetischer Normen.84 Zwischen der Rechtsnormfindung in der juristischen Fallbearbeitung und jener im Alltag bestehen ebenfalls Unterschiede. Ist jemand beispielsweise mit der Frage konfrontiert, ob er einem Ertrinkenden zu Hilfe eilen soll, entnimmt er die Norm für sein Handeln nicht dem Gesetzbuch. Es erfolgt vielmehr ein Rückgriff auf einen typischen Fall der Ethik. Alltägliche Rechtsfindung stellt sich als Messen an einem ethischen Prinzip dar.85 Die situativ erfahrene rechtliche Notwendigkeit beruht somit nicht auf einer Normfindung, sondern auf einer aus dem Gewissen gewonnenen Normerfindung.86 Für die praktische juristische Tätigkeit besteht kein Algorithmus der Normfindung. Für die Auswahl der relevanten Norm aus der Gesamtheit der Vorhandenen muss die Rolle des Rechtsgefühls, der wissenschaftlichen Intuition und des auf Erfahrung basierenden Vorverständnisses betont werden. Für das Gericht stellt sich diese Aufgabe insofern etwas leichter dar, als sie für die Norm83 84 85 86
Vgl. 4. Teil II. 3. c). Krings, Stichwort „Norm“, S. 1014 ff. Krings, Stichwort „Norm“, S. 1016. Vgl. Krings, Stichwort „Norm“, S. 1016.
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4. Teil: Die Methoden der Rechtswissenschaft
findung auf die Anträge und Vorbringen der Parteien abstellen kann, selbst wenn diese durch Eigeninteressen geleitet werden.87 Aus der schrittweisen Prüfung der Parteidarstellungen gelangt der Richter einfacher zu den einschlägigen Rechtsnormen.88 Das Aufsuchen passender Rechtsnormen wird durch die massgebliche Fallfrage begrenzt (Wer verlangt was von wem woraus). Die Norm ist relevant, wenn sie für die konkrete Forderung eine Anspruchsgrundlage bietet. Passend sind solche Normen, welche die geforderten Rechtsfolgen liefern. Sie lassen sich demnach als Antwortnormen bezeichnen.89 In Betracht kommen also all jene Normen, deren Rechtsfolgen dem Begehren der Partei möglichst vollständig Rechnung trägt. Die Suche nach der relevanten Norm muss methodisch nach den Vorgaben des Rechtssystems erfolgen und darf nicht wahllos sein. Übergeordnete Zusammenhänge müssen erschlossen werden. Systematisch geht man vor, indem man das zwischen den Parteien bestehende, sich aus Vertrag oder Gesetz ergebende Rechtsverhältnis sucht. Ist geklärt, welches Rechtsverhältnis zwischen den Parteien besteht, lässt sich leichter feststellen, ob sich in ihm eine passende Norm findet.90 Der sachliche Zusammenhang ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil sich die vollständige Anspruchsgrundlage selten aus einem Rechtssatz allein ergibt. In der Regel sind mehrere einander ergänzende Rechtsnormen relevant.91 Um die relevanten Normen zu finden, müssen Sachverhalt und Tatbestand immer vor Augen gehalten und einander angenähert werden.92 Welche Rechtsnormen von rechtlicher Bedeutung sind, ergibt sich erst aufgrund von Tatsachen. Diese sind bereits das Ergebnis einer normspezifischen Erfassung.93 Das Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Rechtsnorm und Sachverhalt sondert relevante von irrelevanten Tatsachen und Normen. Dieser Vorgang ermöglicht, mit dem Sachverhalt identische Normtatbestände und damit die rechtlich relevante Norm zu finden.94 Erforderlich ist eine vergleichende und identifizierende Tätigkeit. Rechtsnormfindung muss als ein Prozess fortlaufender Identifizierung erfolgen, indem sich Tatsachenfeststellung und rechtliche Würdigung annähern.95 Sie sind einander zugeordnet.96 Das Aufsuchen relevanter Normen muss umfassend sein. In die engere Wahl zu ziehen und zu den erheblichen Rechtsnormen zu zählen sind nicht nur diejenigen, die am Ende die Lösung des Rechtsfalls bestimmen, sondern all jene, die denk87 88 89 90 91 92 93 94 95 96
Guldener, S. 156; Schuschke, S. 86. Schuschke, S. 86. Bringewat, S. 35. Schuschke, S. 88. Schuschke, S. 86. Guldener, S. 156. Weimar, S. 71; Guldener, S. 156. Weimar, S. 69. Weimar, S. 69. Weimar, S. 64.
II. Die Normmethoden
73
bare Lösungsmöglichkeiten bieten.97 Wichtig ist die umfassende Erörterung der Rechtslage durch Überprüfung aller möglichen Lösungswege. Zu berücksichtigen sind dabei auch die so genannten Gegennormen, die Einwendungen oder Rechtfertigungsgründe enthalten.98 Man muss sämtliche Normen finden, die in irgendeiner Weise die Beantwortung der konkreten Fragen tangieren könnten. Erst in einem zweiten Schritt sind sie auf ihre Lösungstauglichkeit zu überprüfen. Ein normselektierender Vorgriff muss deshalb unterbleiben.99 Die sich aus den verschiedenen Normen ergebenden Anspruchsgrundlagen sind anschliessend methodisch, d.h. insbesondere nach einer bestimmten Reihenfolge, zu prüfen. Massgebend ist der Haupttatbestand. Danach ergibt sich im Obligationenrecht folgende Reihenfolge: Ansprüche aus Vertrag, Ansprüche aus culpa in contrahendo, Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag, Ansprüche aus Delikt sowie Ansprüche aus unerlaubter Handlung.100 Ist eine erste Norm passend, sind die übrigen trotzdem noch einzubeziehen. Damit werden alle denkbaren Anspruchsgrundlagen zu Gunsten einer Partei ermittelt.101 Das Methodenproblem bei der Normfindung ist nicht einfach zu lösen, da es mit zahlreichen Detailfragen verbunden ist. Allerdings ist der Anfang von entscheidender Bedeutung: Zu Beginn jeder Normfindung steht ein bestimmtes Problembewusstsein, das schliesslich in eine Fragestellung mündet. Damit ist ein Rahmen für mögliche Normen abgesteckt, denn mit der Aufgabenstellung ist die Suche schon auf bestimmte Normen eingeschränkt. Jede Frage impliziert mögliche Antworten. Durch die Wahl des Ausgangspunktes wird die Richtung der Suche präjudiziert. Die erfolgreiche Normfindung verlangt zunächst die Beschränkung auf eine bestimmte Fragestellung. Zu prüfen sind nur Normen, die innerhalb der konkreten Fallfrage für die Lösung des Rechtsfalls entscheidungserheblich sind. Nachdem der Sachverhalt erfasst wurde, muss man abklären, worüber im Fall gestritten wird. Daraus ergibt sich die Frage, welche Rechtsnorm den geltend gemachten Anspruch stützen könnte. Innerhalb der Fragestellung geht es darum, alle denkbaren Normen auf ihre Schlüssigkeit zu überprüfen. Es sind alle Rechtssätze zu ermitteln, die möglicherweise zur Beantwortung der Fallfrage beitragen können. Das Aufsuchen passender Rechtssätze hat methodisch zu erfolgen. Die Methode folgt aus dem System. Die Fragestellung ist dafür in einen übergeordneten Sachzusammenhang zu stellen. Dieser findet seine Grundlage im materiellen Recht, das einzelne Normen zu Rechtsverhältnissen zusammenfasst. System ist gleichzeitig das Wissen über eine Klasse von Verwendungsfällen und die Funktion, welche die einzelne Norm darin hat. Da-
97
Bringewat, S. 35 und S. 37. Bringewat, S. 36. 99 Bringewat, S. 36. 100 Schuschke, S. 89 f. 101 Schuschke, S. 90. 98
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4. Teil: Die Methoden der Rechtswissenschaft
durch wird das einschlägige Gebiet entscheidend eingegrenzt. Solchermassen ausgewählte Rechtsnormen lassen sich nun mit dem Sachverhalt vergleichen. Dadurch erlangt der ursprünglich erfasste Sachverhalt mitunter eine neue Bedeutung.102 Gleichzeitig lassen sich die zu Beginn in Betracht gezogenen Rechtsgrundlagen vervollständigen. Sachverhalt und Norm müssen zur Deckung gebracht werden. Die abstrakte muss der konkreten, vom Fall erfragten Rechtsfolge entsprechen. Für die Gleichsetzung ist auch das sich aus dem Vorverständnis ergebende Rechtsbewusstsein von Bedeutung. Ausschlaggebend für eine Subsumtion sind jedoch logische Regeln. Die Suche nach Entsprechung macht die Zerlegung von Sachverhalt und Norm sowie ihre Erläuterung notwendig. Aufgrund dieser Vorgehensweise lassen sich die zunächst als plausibel eingeschätzten Lösungsvarianten bestätigen oder verwerfen. 3. Die Normhandhabung a) Die Theorie der Normhandhabung Bei der Normhandhabung, die nach traditioneller Auffassung in Auslegung und Anwendung differenziert wird, sind drei Stufen zu unterscheiden. Bei der Normauslegung geht es lediglich um die Frage, was die Norm unter allen möglichen Ansichten anzeigt. Es erfasst bloss die verschiedenen Bedeutungsgehalte einer Norm und noch nicht ihre Sinnvollmachung. Die Erkenntnisse der Auslegung fliessen sodann in eine Normfestlegung103 ein, auf deren Basis schliesslich die Normanwendung als problembezogene Konkretisierung erfolgt. Am Ende der Normfestlegung steht der theoretische und nach der Normanwendung der praktische Sinn der Norm fest. Die Normauslegung zerfällt in das Normverständnis als dem intuitiven unmittelbaren Realisieren der Wortbedeutung, sowie der Norminterpretation als dem Verständlichmachen eines Normtextes.104 Die Interpretation liefert über die Wortbedeutung hinaus weitere Informationen über eine Normformulierung. Sie ist als Erweiterung des zum Verstehen eines Textes erforderlichen Wissens105 und damit als eine bewusste Form von Kontextualisierung (Vernetzungen von Text und Wissen) aufzufassen. Ein Gesetzesbegriff wird in seinen Bedeutungen expliziert.106 Interpretation ist deshalb immer ein rekonstruktiver Akt. Als solcher beinhaltet sie eine umfassende Analyse der historischen, systematischen und internationalen Aspekte zusammen mit den rechtsphilosophischen und
102 103 104 105 106
Weimar, S. 69. Vgl. zur Kritik am Begriff „Bedeutungsfestsetzung“ Neumann (1986), S. 48. Vgl. Busse (2002), S. 142. Busse (1992), S. 191. Busse (2002), S. 141.
II. Die Normmethoden
75
-soziologischen Dimensionen eines Normtextes. Dazu gehören sowohl eine kommunikationsspezifische Sichtweise (was hat der Produzent damit beabsichtigt?), als auch eine zeichenspezifische (was bedeutet der Text als solches?).107 Bei der historischen Interpretation geht es im Wesentlichen um das Heranziehen der Gesetzgebungsmaterialien. Die systematische Interpretation bezieht sich auf den Zusammenhang einer Gesetzesformulierung mit seinen inner- und intertextlichen Bezügen.108 Es werden also Kotextbeziehungen und intertextuelle Relationen aufgezeigt.109 Gesamthaft wird in der Interpretation der Gehalt der Norm mit seinen Tiefenschichten sowie den in ihr wirkenden Kräften erfasst. Diese Kräfte müssen in weiteren Prozessen gebündelt werden. Die Auslegung dient hier als Argumentationsbasis. Ein Normtext bedarf zur Erlangung eines Individualurteils der Konkretisierung. Die Notwendigkeit dieses Vorganges ergibt sich bereits aus dem Umstand, dass eine Norm eine generell-abstrakte Aussage beinhaltet. Konkretisierung darf jedoch nicht direkt und ausschliesslich in Hinblick auf einen bestimmten Sachverhalt erfolgen. Man muss nämlich neben dem Problem- auch dem Systemdenken angemessen Rechnung tragen.110 Beides sind Grundsätze des Rechts und finden in Art. 4 ZGB als auslegendes Verfahren der Einzelfallgerechtigkeit und in Art. 1 Abs. 2 ZGB als quasi gesetzgeberisches Verfahren der Systemgerechtigkeit ihren Niederschlag. Der Konkretisierungsvorgang erschöpft sich deshalb nicht in einer singulären Aussage, die von den Umständen des Falles bestimmt wird. Vielmehr muss man im Rahmen einer eigentlichen Normfestlegung zunächst eine Kohäsion des Rechts anstreben. Dabei handelt es sich um eine theoretische Prozedur, die den inneren Zusammenhang herstellen will. Die Auslegungsergebnisse müssen zur Erzielung dieser Normkohärenz gegeneinander abgewogen und zu einem sinnvollen Ganzen verbunden werden. Die Bedeutungsgehalte der Norm müssen somit kombiniert und als Normsinn festgelegt werden.111 Ein bestimmter Aspekt kann dafür nicht den Ausschlag geben. Ebenso wenig ist es möglich, eine abstrakte Rangfolge zwischen den Bedeutungsgehalten festzulegen. Zwar stellt die Wortbedeutung die primäre Argumentationseinheit dar,112 massgebend bleibt jedoch die optimale Kohärenz des Ergebnisses. Es ist die Kunst oder Rechtsweisheit des Juristen, die Gehalte der Norm richtig zu kombinieren. Erforderlich ist insbesondere eine Abwägung der Bedeutungsgehalte nach Massgabe der fachspezifischen Erfordernisse.113 Das Recht als textliches System verlangt zwar immer die Wahrung einer Text107 108 109 110 111 112 113
Vgl. Busse (2005), S. 27. Busse (2002), S. 140. Busse (2002), S. 140. Vgl. Mastronardi, S. 242 ff. Günther, S. 59. Vgl. Klatt (2005), S. 367. Vgl. Höhn, S. 354 f.
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4. Teil: Die Methoden der Rechtswissenschaft
immanenz. Die Anpassung an den jeweiligen Untersuchungsgegenstand erfordert jedoch eine nach Privatrecht, öffentlichem Recht und Strafrecht differenzierte Gewichtung des linguistischen Gehalts. Die Normanwendung ist Teil des Lösens eines Rechtsfalles. Die Norm bezieht sich auf eine bestimmte Situation (Normkonkretisierung) und eine bestimmte Person (Normindividualisierung) unter Herausarbeitung der jewiligen charakterischen Merkmale dieses Falles (Normspezifizierung), die von typischen Fallkonstellationen abweicht. Die Anwendung impliziert eine weitere Interpretationsentscheidung, da sie Aussagen über den zulässigen Referenzbereich eines Normtextes trifft.114 Es handelt sich jedoch weniger um eine sprachbezogene Entscheidung, als vielmehr um einen Argumentationsvorgang über die Funktion des betreffenden Normtextes,115 der auch durch Zweckerwägungen einer ergebnisorientierten Fallentscheidung getragen wird.116 Es stellt sich insbesondere die Frage, ob die Norm das singuläre, normative Urteil rechtfertigt.117 Die äussere Bezugnahme auf einen spezifisch konstituierten Sachverhalt setzt die innere Bezugnahme zwischen Normtexten und damit das Herstellen eines Entscheidungstextes voraus,118 nach der Massgabe, welche Normtexte einen Fall richtig zu entscheiden helfen.119 Die Normhandhabung kann nicht als Vorgang des blossen Textverstehens aufgefasst werden. Es handelt sich vielmehr um eine spezifische Textarbeit.120 Sie hat insgesamt Diskurscharakter und beinhaltet Behauptungen über die Bedeutung eines vom Gesetz verwendeten Begriffes. Diese Behauptungen werden vom Rechtsanwender mit dem Anspruch auf Richtigkeit und unter Angabe von Gründen geäussert. Die Handhabung einer Norm umfasst also den juristischen Konkretisierungssatz selbst, das Auffinden eines solchen Satzes sowie seine Rechtfertigung.121 Interpretation ist zunächst immer Behauptung, die einer Begründung bedarf.122 Dem höchsten Gericht kommt die Macht zu, die eigene Lesart eines Textes verbindlich zu machen und damit sozial durchzusetzen.123 Rechtsfindung ist deshalb nicht als Findung feststehender Textbedeutungen, sondern steter Prozess des Aushandelns von Bedeutung124 und als diskursive
114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124
Busse (1993), S. 295. Busse (1993), S. 296. Busse (2002), S. 158. Günther, S. 51. Vgl. Busse (1993), S. 257. Busse (2002), S. 158. Vgl. Busse (2002), S. 144; Busse (1992), S. 11. Bracker, S. 198. Vgl. Alexy (1996), S. 273; Rüthers, S. 392 ff. Lerch, S. 180. Nussbaumer, S. 4.
II. Die Normmethoden
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Hervorbringung eines konkreten, anwendungsbezogenen Normsinns zu begreifen.125 b) Die Normauslegung aa) Das Normverständnis Das Normverständnis erfasst die Wortbedeutung des Normtextes als dem unmittelbaren Erstverstehen eines sprachlichen Ausdrucks und seines Kotextes. Der Wortbedeutung kommt in der juristischen Argumentation eine eigenständige und grundlegende Funktion zu:126 Nach der Praxis des Bundesgerichts ist die rechtsanwendende Behörde in der Regel an den klaren und unzweideutigen Wortlaut einer Bestimmung gebunden, doch sind Abweichungen von einem klaren Wortlaut zulässig oder sogar geboten, wenn triftige Gründe zur Annahme bestehen, dass dieser nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Sinn und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit anderen Vorschriften ergeben. Vom Wortlaut kann ferner abgewichen werden, wenn die wörtliche Auslegung zu einem Ergebnis führt, das der Gesetzgeber nicht gewollt haben kann. Im Übrigen sind bei der Auslegung alle herkömmlichen Auslegungselemente zu berücksichtigen (systematische, teleologische und historische, auch rechtsvergleichende, wobei das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus befolgt und es ablehnt, die einzelnen Auslegungselemente einer Prioritätsordnung zu unterstellen.127 Nach der traditionellen Auffassung verfügen sprachliche Zeichen über verbindliche Bedeutungen und deren Konstitution wird lediglich als Problem der Formulierung betrachtet.128 Damit ist die Vorstellung verbunden, es gebe einen richtigen Inhalt für einen bestimmten sprachlichen Ausdruck.129 Texte werden als blosse Träger eines ausserhalb von ihnen liegenden Sinns aufgefasst, den sie in einem Prozess der En- und Decodierung ohne zu beeinflussen lediglich transponieren.130 Der Inhalt bleibe dabei also identisch und von der codierten Form unabhängig.131 Man sucht dieser Konzeption folgend nach der Feststellung einer
125
Busse (1992), S. 15. Klatt (2005), S. 367; vgl. Art. 1 Abs. 1 ZGB: „Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält.“ 127 BGE 124 III 266, 268. 128 Vgl. Busse (2004), S. 12. 129 Vgl. Lerch, S. 176. 130 Vgl. Busse (1993), S. 258. 131 Vgl. Busse (2005), S. 25. 126
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4. Teil: Die Methoden der Rechtswissenschaft
einzigen und richtigen Bedeutung eines Textes.132 Das gilt sowohl für die objektive Auslegung, die beim Text, als auch für die subjektive, welche bei der Autorenintention ansetzt, da beide Auffassungen von einer empirisch gesicherten Bedeutung und deren objektiven Feststellbarkeit ausgehen.133 Danach ist das Recht ein Objekt, das im Text liegt und durch richtige Auslegung hervorgebracht wird, indem bei der richtigen, z. B. wörtlichen, Bedeutung angesetzt wird.134 Diese Ontologisierung als verdinglichter Bedeutungsbegriff (Bedeutung als in der Wirklichkeit vorfindliche Entität)135 ist der gemeinsame Nenner beider herrschenden Auslegungstheorien.136 Damit wird Sprache aber auf ein rein instrumentales, dem Menschen und seinem Denken externes Verständigungsmittel reduziert und der subjektive Einfluss auf die menschliche Sinndeutung negiert.137 Diese instrumentalistische Sprachauffassung138 lässt beispielsweise eine wechselseitige Beeinflussung von sprachlichen Ausdrucksmitteln und Inhalten unberücksichtigt:139 Eine sprachliche Codierung eines Denkinhaltes führt nicht notwendigerweise zu einer inhaltlich identischen Decodierung beim Empfänger der Nachricht.140 Der Verstehensprozess darf nicht auf ein Identifizieren und Decodieren vorgefundener sprachlicher Zeichen reduziert werden.141 Verstehen ist als Teil kommunikativer Interaktion ein konstruktiver psychischer Prozess. Im Vordergrund steht eine aktive Sinnkonstitution.142 Diese Sinnrealisierung meint, dass die Anpassungsleistung des Rezipienten im Vordergrund steht.143 Ein durch das Zeichen ausgedrückter Gehalt wird von ihm als Bedeutung aktiv realisiert.144 Auszugehen ist von den Sinnintentionen des Produzenten.145 Das Äussern eines Zeichens in einer bestimmten Bedeutung geht von der Erwartung aus, dass es beim Rezipienten das gewünschte Verhalten, nämlich die Konstitution dieser Bedeutung, hervorruft. Dazu wird für die konkrete Kommunikationssituation auf ähnliche und erfolgreiche Präzedenzfälle Bezug genommen.146 Es werden 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146
Vgl. Busse (1992), S. 7. Busse (1993), S. 226. Vgl. Nussbaumer, S. 4. Busse (1993), S. 257. Busse (1993), S. 227. Busse (1993), S. 251. Vgl. Broekman, S. 146. Busse (2005), S. 25. Busse (2005), S. 25. Vgl. Lerch, S. 178. Busse (1993), S. 259. Busse (1993), S. 255. Busse (1993), S. 260. Busse (1993), S. 260. Busse (1992), S. 174.
II. Die Normmethoden
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Ähnlichkeitsrelationen hergestellt und Analogieschlüsse gezogen.147 „Das Sinnverstehen ist nicht rein rezeptiv im Sinne des Empfangs von etwas fertig Vorgegebenem, sondern hat den Charakter einer Sinnunterstellung, die auf den bisherigen Kommunikationserfahrungen (Zeichenverwendungserfahrungen) des verstehenden Individuums beruht.“148 Diese Ausrichtung auf Sinn, die einem Grundbedürfnis nach Sinnvollmachen der Welt entspricht, funktioniert konkret, indem jedes wahrzunehmende Ereignis in einen Kontext gebracht wird, der als Vororientierung (Vorwissen, Vorverständnis) des verstehenden Subjekts vorhanden ist. Verstehen geschieht immer aus einem Kontext heraus.149 Bei einem Zeichen (als Vorkommnis innerhalb einer konkreten und in eine kommunikative Interaktion eingebundenen Zeichenfolge) besteht es aus Aktualisierung einer bestimmten Variante (Fall) aus den Bedeutungsmöglichkeiten eines bestimmten Musters (Verwendungsregel).150 Jedes Verstehen ist somit nicht einfach nur passives Wahrnehmen, sondern aktives Ziehen von Schlussfolgerungen (Inferenzen), von bestimmten Zeichen auf bestimmtes Wissen und davon auf sprachlich unausgedrückte, aber mitgemeinte Bezugstellen,151 also eine Wissensaktivierung und Kontextualisierung.152 Das Verständlichmachen verlangt, dass man sich an die den Worten üblicherweise beizulegende Bedeutung hält,153 womit auf eine konventionelle Praxis potentieller Verwendungsmöglichkeiten verwiesen wird,154 die sich über das Wissen der Sprachteilnehmer erschliessen.155 Jede sprachliche Äusserung kann somit als ein Handeln nach Regeln beschrieben werden.156 Verstehen ist wie das Äussern Teil einer Regelbefolgungspraxis.157 Sprachliche Regeln sind Konventionen von sozialen Gruppen über die Verwendung von sprachlichen Zeichen.158 Die Konvention wird durch eine neue erfolgreiche Kommunikationshandlung bestätigt.159 Durch die Erweiterung der Präzedenzfälle kann die Regel aber auch verändert werden.160 In einer Sprachgemeinschaft besteht eine faktische Übereinstimmung in der Praxis der Zeichenverwendung.161 Das Ereignis des unmittelbaren Verstehens, der Über147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161
Busse (1992), S. 174. Busse (1993), S. 260. Busse (1992), S. 168. Busse (1992), S. 172. Busse (1993), S. 279. Busse (2004), S. 13. Christensen, S. 98. Busse (1992), S. 57. Busse (1992), S. 58. Busse (1992), S. 49. Vgl. Busse (1993), S. 260. Busse (1992), S. 55. Busse (1992), S. 55. Busse (1992), S. 55. Busse (1993), S. 261.
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4. Teil: Die Methoden der Rechtswissenschaft
gang vom Zeichen zur Bedeutung, vollzieht sich intuitiv und von selbst.162 Verstehensrelevantes Wissen wird aktiviert und stellt sich spontan ein, andernfalls wir etwas (in einem ersten Versuch) nicht verstehen und deshalb aktiv deuten müssen.163 Sprachverstehen ist an Sprachwissen gebunden und deshalb von der individuellen Ausgangssituation des verstehenden Subjekte bestimmt.164 Das Gelingen sprachlicher Kommunikation setzt die weitgehende Entsprechung der Wissenhorizonte voraus165 und hängt von der konkreten Verständigungs- oder Deutungssituation ab.166 Ein sprachlicher Ausdruck sind Laute oder Buchstaben (Sprachzeichen respektive Symbole), die als materiale Zeichenfolge (Textformular) das Substrat eines Textes ausmachen.167 Die Bedeutung eines solchen Zeichens ist der Begriff (Vorstellungsinhalt), den er vermittelt.168 Das sprachliche Zeichen darf dabei nicht als blosses Gefäss eines Inhaltes aufgefasst werden, denn Zeichenausdruck und Zeichenbedeutung beeinflussen sich gegenseitig.169 Die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens zu kennen heisst, um dessen korrekte Verwendung zu wissen.170 Bedeutung muss also auf konkrete Verwendungspraktiken einer Sprachgemeinschaft zurückgeführt werden können.171 Es darf dabei nicht von einer verdinglichten Substanz172 und damit ebenso wenig von einer einheitlichen Bedeutung eines Zeichens in einer Sprache ausgegangen werden.173 Wörter haben keine Bedeutung, sondern mit ihnen wird Bedeutung erzeugt.174 Es besteht somit eine prinzipielle Unbestimmtheit natürlicher Sprache.175 Die Wortbedeutung ist eine bestimmte Verwendungsmöglichkeit eines Ausdrucks.176 Der Text ist zunächst bloss eine Zeichenfolge, dem eine spezifische Bedeutung erst verliehen werden muss.177 Bei der Wortbedeutung liegt sie in der Entscheidung über die Grenzen des Normalen im Sprachgebrauch.178 Statt 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178
Busse (1992), S. 173. Busse (1992), S. 168. Busse (1992), S. 173. Busse (2004), S. 13 f. Busse (1993), S. 262. Vgl. Busse (1992), S. 179. Busse (1992), S. 29. Busse (2005), S. 24. Busse (1992), S. 49. Klatt (2005), S. 344. Busse (1993), S. 258. Busse (1992), S. 50. Felder, S. 146 f. Busse (1992), S. 45. Busse (1993), S. 272. Christensen, S. 101. Christensen, S. 97.
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von Wortlautgrenze ist hier besser von semantischer Grenze zu sprechen,179 da es nicht um die Phonetik, sondern um die Semantik geht.180 Nach herkömmlicher Auffassung handelt es sich bei der Wortbedeutung um einen Kern aus stereotypen Merkmalen, die kennzeichnend sein sollen.181 Es ist allerdings nicht möglich, eine feste Grenze zwischen wörtlicher und nichtwörtlicher Bedeutung zu ziehen.182 Ein Stereotypenmodell muss insbesondere für die in der Rechtssprache häufigen Abstrakta versagen.183 Wörtlichkeit sollte wie jede Bedeutung als Praxis aufgefasst werden.184 Die wörtliche ist gleichbedeutend mit der konventionellen Verwendung eines Ausdrucks.185 Sie ist als allgemeiner Sprachgebrauch die Befolgung der in der Sprachgemeinschaft tatsächlich geltenden Wortgebrauchsregel.186 In jeder Sprachgemeinschaft gibt es solche konventionalisierte Zuordnungen von Zeichen und Bedeutungen. Der Textproduzent bedient sich dieser Konventionen, und der Rezipient kann sie vorerst voraussetzen.187 Die Wortbedeutung verweist meist auf die lexikalische Bedeutung eines Wortes. Diese Bedeutungsdefinition, bei der Objekte der Bedeutung zugeordnet werden, stellt jedoch lediglich ein interessensabhängiges Paradigma seiner Verwendung dar.188 Beschreibung kann deshalb nicht mit der Bedeutung gleichgesetzt werden.189 Die Zugehörigkeit zur gleichen Sprachgruppe schafft die Basis eines allgemeinen Sprachgebrauchs. Innerhalb einer Sprache sind allerdings neben der Umgangssprache, auf welche die Wortbedeutung Bezug nimmt, verschiedene Gruppen- und Fachsprachen zu unterscheiden. Die Gesetzessprache kann dabei trotz der Benutzung einzelner Fachbegriffe und einer spezifischen institutionellen Prägung (z. B. charakteristische Wendungen eines Kanzleistils) noch nicht als eigentliche Fachsprache bezeichnet werden.190 Die Gesetzessprache braucht insbesondere nicht mit der juristischen Fachsprache übereinzustimmen und darf daher nicht mit ihr gleichgesetzt werden. Es gibt im Übrigen mehrere Rechtssprachen, jedes Fachgebiet hat seine eigene.191 Juristische Fachsprache war seit
179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191
Klatt (2005), S. 345. Vgl. Klatt (2005), S. 344 f. Vgl. Busse (1993), S. 269. Busse (2002), S. 140. Busse (1993), S. 270. Christensen, S. 97. Vgl. Christensen, S. 93. Klatt (2005), S. 359. Lerch, S. 179. Busse (1992), S. 43 und S. 51. Busse (1992), S. 56. Vgl. Busse (2002), S. 149. Hattenhauer, S. 4.
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der Rezeption des römischen Rechts das Latein.192 Erst 1690 wurden durch Thomasius erste Vorlesungen in deutscher Sprache gehalten193 und Christian Wolff begründete Deutsch als Wissenschaftssprache,194 auch wenn sich noch heute lateinische termini technici erhalten haben.195 Verstanden werden sprachliche Einheiten (Wörter) nicht isoliert, sondern immer aus dem vollständigen (ausgedrückten sprachlichen) Kotext und sonstigen (implizierten) Verwendungskontexte einer kommunikativen Äusserung.196 Die Bedeutung eines Gesamttextes ist sowohl von der einzelnen Bedeutung der in ihm enthaltenen Ausdrücke als auch von deren Zusammensetzung abhängig. Entsprechend unterscheidet man Semantik (Sinn und Bedeutung eines Wortes) und Syntax (Satzstruktur).197 In einem Satz wird auf etwas Bezug genommen (Referieren) und darüber etwas ausgesagt (Prädikation, Satzaussage). bb) Die Norminterpretation Interpretation ist Arbeit mit Texten zur Erschliessung der Textbedeutungen. Es ist wichtig, sich das im Text Ausgedrückte verständlich zu machen.198 Textund Wissenselemente sollen miteinander verbunden werden.199 Man sucht nach einer Erweiterung der Inferenzbasis und deren Explizierung. Interpretation bedeutet Explikation von Bedeutungen sprachlicher Zeichenfolgen.200 Sie geht als bewusste Kontextualisierungsleistung über das intuitive Erstverstehen als unhinterfragte Aktivierung einer Wissensbasis hinaus.201 Als metakommunikative Akte unterscheiden sich Interpretationshandlungen prinzipiell vom Verstehen, welches noch selbst ein Bestandteil des Kommunikationsvorganges ist.202 Die Norminterpretation als Erkenntnisakt und Teil der Normauslegung muss ferner vom Gestaltungakt der Normfestlegung unterschieden werden. Letztere ist eine Form der intersubjektiven Vergewisserung über die Gewichtung der in der Interpretation erschlossenen Textbedeutungen und daher ein diskursiver Vorgang.203 Das Ergebnis dieser institutionell gebundenen Praxis der Normfestlegung ent-
192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203
Hattenhauer, S. 5 ff. Hattenhauer, S. 28. Hattenhauer, S. 29. Vgl. Hattenhauer, S. 38. Busse (1993), S. 274. Bracker, S. 211. Busse (1992), S. 190. Busse (2002), S. 145. Busse (1992), S. 8. Busse (2002), S. 141; Busse (1993), S. 281. Busse (1992), S. 188. Vgl. Busse (1992), S. 183.
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scheidet darüber, was letztlich als Normsinn gilt.204 Die Norminterpetation beschränkt sich dagegen darauf, durch eine systematische, historische und philologische Betrachtung der Norm205 die verschiedenen Textbedeutungen zu erschliessen und die innertextlichen sowie intertextlichen Bezüge darzulegen. Die Interpretation von Normtexten zielt immer auf eine möglichst breite Verbindung zwischen Text- und Wissenselementen.206 Die Wortbedeutung ist der notwendige Ansatz für die Erfassung der weiteren Normgehalte. Damit ist der Auffassung nicht zuzustimmen, bei einer (vermeintlich) eindeutigen Wortbedeutung erübrige sich eine weitere Auslegung.207 Eine wissenschaftliche Interpretation will den Normtext in allen seinen (rechtsphilosophischen, -soziologischen sowie -theoretischen) Dimensionen erkennen. Eine rechtstheoretische (dogmatische) Auslegung darf sich nicht auf eine sprachliche Analyse beschränken, sondern muss darüber hinaus das gesamte Wissen einbeziehen, um die historischen, systematischen und internationalen Bezüge des Normtextes aufzuschlüsseln. Alle Aspekte der Norm müssen im Auslegungsvorgang zunächst vollständig erfasst werden, um sie anschliessend in den weiteren Prozessen der Normfestlegung und -anwendung überhaupt erst in eine Gewichtung einbeziehen zu können. In den meisten Fällen besteht ausser dem wissenschaftlichen Anspruch auf Vollständigkeit auch eine praktische Notwendigkeit, die Vagheit der linguistischen Bedeutung durch weitere Informationen zu reduzieren. Die traditionellen philologischen, historischen, systematischen und teleologischen Auslegungskriterien benennen, wie oben festgehalten, bloss Teilaspekte eines umfassenden Interpretationsvorgangs. Eine philologische Interpretation darf sich zudem nicht auf die Wortsemantik beschränken, sondern muss die Satz- und Textsemantik miteinbeziehen.208 Hinzu kommt die Struktur des Textes mit den Überschriften und Marginalien.209 Zur Erforschung der satzübergreifenden sprachlichen Äusserungseinheiten (Textlinguistik) zählt neben der Textkohärenz (interne Verweisungsstrukturen) auch die Rolle des Ko- und Kontextes. Es geht um die Frage, ob man innerhalb der Gesamtheit des Textes einen Textfokus mit einer zentralen Aussage ausmachen kann.210 Die historische Auslegung trägt dem Umstand Rechnung, dass das Recht ein System mit kontingenten Einfluss- und Steuerungsfaktoren ist. Der historische Aspekt beinhaltet die gesamte Entstehungs- und weitere Entwicklungsgeschichte der Norm, allenfalls zusammen mit jener der Vorgängerregelung. Die Wirkungsgeschichte als 204 205 206 207 208 209
Vgl. Busse (1992), S. 57; Busse (2004), S. 17. Vgl. Mazzacane, S. 78. Busse (1992), S. 134 f. Vgl. Wank, S. 75. Vgl. Busse (1993), S. 255. Sie wird traditionell durch die systematische Auslegung erfasst. Vgl. Wank,
S. 79. 210
Busse (1993), S. 256.
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historischer Teilgehalt legt sowohl die Wirkungsabsichten des Normgebers als auch die (eventuell unbeabsichtigten) späteren Wirkungen der Norm dar. Dies wird gemeinhin als teleologische Auslegung bezeichnet. Die systematische Auslegung verlangt die Integration der vom Normgeber häufig bezugslos erlassenen Norm in das Rechtssystem211 und die Festlegung ihrer spezifischen Position in der Rechtsstruktur. Damit wird der Zusammenhang zu anderen Rechtsnormen erschlossen. Festzulegen ist die Beziehung zu anderen Normen und Rechtsprinzipien sowie Art und Ausmass einer gegenseitigen Beeinflussung. Ziel ist es, „den grossen inneren Zusammenhang, welcher alle Rechtsinstitute und Rechtsregeln zu einer grossen Einheit verknüpft“212, in seiner konkreten Bedeutung für die auszulegende Norm zu erkennen. Voraussetzung dafür ist der Blick auf das Recht als System und die Erkenntnis des wechselseitigen Wirksamwerdens der Normen. Die rechtsvergleichende Auslegung zeigt die Bedeutung fremder Rechtssysteme für die Norm auf. Auf gemeinsamen Rechtstraditionen beruhend, sind fremde Rechtsnormen Variationen der gleichen Rechtsprinzipien. Jedenfalls sind die konkreten Fragestellungen oder die von den Normgebern verfolgten Konzeptionen oft identisch, so dass die fremde Norm wenigstens als Anschauungsbeispiel dienen kann. c) Die Normfestlegung Die Normfestlegung ist identisch mit einer rechtstheoretischen Konkretisierung. Theorie betreiben heisst, zu beobachten, wie sich etwas im Zusammenhang darstellt.213 Eine solche Sicht muss der fallspezifischen Konkretisierung der Norm im Rahmen der Rechtsanwendung vorausgehen. Der Übergang ist jedoch fliessend. In der Normfestlegung erfolgt indes die eigentliche Normsinngebung. Diese Vorgehensweise beinhaltet Hermeneutik unter Kohärenz- und Ergebnisbedingungen, anders als etwa in der Literaturwissenschaft somit unter apriorischen Gesichtspunkten. Die in der Normauslegung festgestellten Bedeutungsgehalte sind im Wissen um die Funktion der Norm im System sowie ihrer Zusammenhänge und Bezüge so gegeneinander abzuwägen, dass sich die Norm kohärent in das Rechtssystem integriert. Die Abwägung erfolgt folglich im Hinblick auf eine wohldefinierte Einheit des Rechts. Diese setzt eine Vorgegebenheit und letztlich einen Grund voraus.214 Die Kohäsion ist deshalb abhängig vom Rechtsverständnis. Dieses verweist wiederum auf die Essenz des Rechts.215 Das Ergebnis muss textgestützt sein und darf keine rechtssystematischen Inkohärenzen aufweisen. Die Rechtsprinzipien werden als Kohärenzkrite211 212 213 214 215
Göldner, S. 53 f. Savigny, zitiert nach Kaufmann, S. 114. Vgl. Dieckmann, S. 171. Broekman, S. 161. Vgl. Schröder (2001), S. 61.
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rien eingesetzt. Das führt zu einer Veränderung der in den Normen verwendeten Wörter durch Ausdehnung oder Einschränkung ihrer lexikalischen Bedeutung. Diese erhalten in der wissenschaftlichen Gesetzestextauslegung eine eigene Bedeutung. Der Grundsatz der Einheit des Rechts erfordert eine ganzheitliche Betrachtungsweise der komplex interagierenden Einzelnormen. Im Gegensatz zum Laien wendet der Jurist die Rechtsnorm nicht isoliert, sondern im inneren Zusammenhang des Rechtssystems an. Eine Norm darf nicht phänomenologisch als Selbstgegebenheit betrachtet werden. Darauf ist die systemgerechte Konkretisierung ausgerichtet. Die Normfestlegung lässt sich indes nicht generell vornehmen, da die Abwägung zur Erlangung einer Kohäsion themenspezifisch ist und nicht im Detail festgelegt werden kann. Das macht die exakte Prognose eines Individualurteils schwierig. Der entsprechende Vorgang lässt sich beispielhaft anhand der Entwicklung des Grundrechts der persönlichen Freiheit darstellen: Die Bundesverfassungen von 1848 und 1874 kannten keinen allgemeinen Schutz der persönlichen Freiheit. Nur einzelne Aspekte (Postgeheimnis, Verbot des Schuldverhafts, Verbot der Todesstrafe für politische Vergehen sowie Verbot der Körperstrafe) fanden Eingang in den Verfassungstext.216 Manche Grundrechte hatte man als Selbstverständlichkeit betrachtet. Wegen ihres Zusammenhangs mit den kantonalen Aufgaben, insbesondere dem Strafprozessrecht, wurde der Schutz der persönlichen Freiheit den Kantonen überlassen.217 Fast alle Kantone garantierten in ihren Verfassungen die persönliche Freiheit. In den Kantonen Basel-Stadt und Tessin wurde lediglich eine gesetzliche Grundlage für Verhaftungen gefordert. In der Rechtsprechung des Bundesgerichts leitete man den Gehalt zunächst aus dem Wortlaut der Bestimmungen der jeweiligen Kantonsverfassung her. Über die kantonale Einzelprinzipien hinaus anerkannte man als allgemeinen Gehalt die Verfügungsmacht über den eigenen Körper, zunächst mit Betonung der Bewegungsfreiheit und schliesslich aufgrund von Streitfällen wegen neuen Beweismethoden (z. B. Blutprobe, Vaterschaftstest) auch als Schutz der körperlichen Integrität.218 Noch im Jahre 1956 hielt das Bundesgericht fest, die persönliche Freiheit, die in fast allen Kantonen umfassend gewährleistet sei, beinhalte als körperliche Freiheit die Bewegungsfreiheit sowie die Freiheit auf körperliche Unversehrtheit.219 Die Literatur vertrat die Auffassung, die Freiheitsrechte bildeten ein lückenloses System und die Aufzählung in der Verfassung könne nur als beispielhaft angesehen werden. Die Bundesverfassung garantiere unter Vorbehalt einer ausdrücklichen gegenteiligen Regelung 216 217 218 219
Schweizer (2001), S. 693. Huber (1955), S. 103. Huber (1973), S. 113. BGE 82 I 234, 238.
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alle rechtlich relevanten individuellen Freiheitsrechte. Eine Diskrepanz zwischen der Bundes- und den Kantonsverfassungen sei nicht zu begründen.220 Das Verfassungsrecht werde durch die Positivierung nicht geschaffen, sondern bloss anerkannt. Die Gewährleistung bedeute, dass vorgefundene Grundrechte verbrieft würden. Es würden auch all jene Grundrechte gelten, die den materiellen Rechtsstaat mitkonstruierten und zu seiner Wertordnung gehörten.221 Im Jahre 1963 anerkannte das Bundesgericht bei einem Fall aus Basel-Stadt die persönliche Freiheit als ungeschriebenes Grundrecht der Bundesverfassung. Die persönliche Freiheit sei die Grundvoraussetzung für die Ausübung aller anderen Freiheitsrechte und bilde einen unentbehrlichen Bestandteil der rechtsstaatlichen Ordnung des Bundes.222 Es verwies zur weiteren Begründung auf die Literatur sowie auf das Beispiel der Eigentumsgarantie, der das Bundesgericht bereits 1909 den Charakter eines ungeschriebenen Grundrechtes zugebilligt hatte.223 Der Gehalt als körperliche Freiheit wurde indes nicht verändert. In der im Jahre 1964 veröffentlichten Dissertation verglich Jörg Paul Müller die Grundrechte der Verfassung mit dem zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutz gemäss Art. 27 ff. ZGB. Er nahm die Forderung auf, das öffentliche und private Recht müssten in Einklang stehen. Art. 27 ff. ZGB sei die Konkretisierung der Wertordnung der Grundrechte und deren Ausstattung mit Drittwirkung. Ferner stelle sich das Bedürfnis nach einer umfassenden verfassungsrechtlichen Garantie der Integrität des persönlichen Lebensbereichs des Menschen. Für seine These nahm Müller ausdrücklich Impulse des deutschen Verfassungsrechtes auf.224 1964 führte das Bundesgericht aus, der Grund weshalb es die persönliche Freiheit als eine körperliche Freiheit definiert habe, hänge auch damit zusammen, dass es hauptsächlich mit solchen Fällen befasst gewesen sei. Trotzdem habe es dem Recht in einigen Fällen immer schon eine grössere Bedeutung gegeben, auch im Hinblick auf die Persönlichkeitsrechte, ohne allerdings seine Position definitiv festzulegen.225 Diese Tendenz müsse bestätigt werden. Die persönliche Freiheit sei darauf gerichtet, die unerlässlichen Voraussetzungen dafür sicherzustellen, dass man die anderen Freiheitsrechte wirklich ausüben könne. Das Grundrecht schützte nicht nur den menschlichen Körper, sondern auch ideale Interessen. Es müsse den Bürger auch gegen Eingriffe schützen, die auf irgendeine Art die ihm eigene Fähigkeit, eine bestimmte Situation zu würdigen und danach zu handeln, einschränken würde.226 Professor Hans Huber kritisierte 1973 die völlige Verwandlung des Inhaltes der persönlichen 220 221 222 223 224 225 226
Giacometti, S. 169 f.; vgl. Giacometti/Fleiner, S. 242 f. Huber (1955), S. 104. BGE 89 I 92, 98. BGE 35 I 559. Müller (1964), S. 151 ff. BGE 90 I 29, 35 mit Verweis auf BGE 45 I 132 und BGE 50 I 163. BGE 90 I 29, 36.
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Freiheit und monierte die Konturlosigkeit.227 Er wandte sich unter Bezug auf die angelsächsische Tradition ausdrücklich gegen die deutsche Auffassung eines Hauptfreiheitsrechts, verstanden als allgemeine Handlungsfreiheit. Die persönliche Freiheit schütze den Körper um den ganzen Menschen willen. Die neuen Herausforderungen könnten durch die bisherige Konzeption bewältigt werden.228 Im Jahre 1975 hielt das Bundesgericht unter Bezugnahme auf die Kritik Hubers fest, dass die vorgenommene Erweiterung des Schutzbereichs des Grundrechts nur elementare Möglichkeiten umfasse, die für die Persönlichkeitsentfaltung wesentlich seien und jedem Menschen zustehen sollten.229 Daran hielt das Bundesgericht in ständiger Rechtsprechung fest. Allerdings fand im Bereich der Fortpflanzungs- und Transplantationsmedizin eine Öffnung statt.230 1974 erfolgte die Ratifikation der EMRK, welche in mehreren Artikeln verschiedene Aspekte des Persönlichkeitsschutzes gewährleistet, so in Art. 2 (Recht auf Leben), Art. 3 (Schutz vor Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung), Art. 4 (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit), Art. 5 (Recht auf Freiheit und Sicherheit), Art. 8 (Schutz des Privat- und Familienlebens sowie des Briefverkehrs) und in Art. 12 (Schutz, eine Familie zu gründen). Daneben garantieren auch andere völkerrechtliche Konventionen Aspekte der Persönlichkeitsschutzes.231 Die Bundesverfassung, in Kraft seit 1. Januar 2000, sieht in Art. 10 Abs. 2 BV vor, dass jeder Mensch das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit, hat. Das Recht integriert auch den Normgehalt der Menschenwürde gemäss Art. 3 BV. Die persönliche Freiheit ist Teil eines umfassenden verfassungsrechtlichen Persönlichkeitsschutzes, das in den Artikeln 10 Abs. 1 BV (Recht auf Leben), Art. 13 Abs. 1 (Schutz der Privatsphäre) und Abs. 2 BV (Schutz der persönlichen Daten) normiert ist, und sich damit mit dem bisherigen ungeschriebenen Grundrecht der persönlichen Freiheit deckt.232 Die persönliche Freiheit hat gegenüber spezifischen Grundrechtsgarantien eine subsidiäre Funktion.233 Hinzu kommen weitere Normen mit persönlichkeitsrechtlichem Gehalt, wie Art. 11 BV (Schutz von Kindern und Jugendlichen), Art. 12 BV (Hilfe in Notlagen), Art. 25 Abs. 3 BV (Schutz vor unmenschlichen Folgen 227
Huber (1973), S. 113 ff. Huber (1973), S. 117 ff. 229 BGE 101 Ia 336, 346 f. 230 Vgl. Schweizer (2001), S. 694. 231 Internationaler Pakt vom 16. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte (SR 0.103.2); Übereinkommen vom 10. Dezember 1984 gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (SR 0.105); Europäisches Übereinkommen vom 26. November 1987 zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (SR 0.106); Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (SR 0.107). 232 Müller (1999), S. 10; vgl. Schweizer (2001), S. 695. 233 Müller (1999), S. 8. 228
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einer Auslieferung), Art. 31 BV (Freiheitsentzug) sowie Art. 119 BV (Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie).234 Anhand dieses Beispiels lassen sich die Kriterien der Normfestlegung darlegen. Ansatz bildet das Systemprinzip. Die positivierten Freiheitsrechte werden zunächst als Teil einer grundrechtlich geschützten, umfassenden körperlichen Freiheit aufgefasst. Der neue Festlegungssatz postuliert die Erweiterung zu einem verfassungsrechtlichen Persönlichkeitsschutz. Gefunden wurde er durch internationale Rechtsvergleichung sowie durch Vergleich mit dem Privatrecht. Man stellt durch Reduktion einen Zusammenhang zwischen Privatrechts- und Verfassungsnorm her. Das steigert die Kohärenz der Rechtsnormen, was auch zur Rechtfertigung des Festlegungssatzes geltend gemacht wird. Das Abwägen der praktischen Konsequenzen führt sodann zur Einschränkung auf elementare Formen der Persönlichkeitsentfaltung. Durch Integration einzelner externer Systeme (z. B. EMRK) sowie infolge veränderter Einflüsse in Form neuer gesellschaftlicher Problemstellungen (z. B. Gentechnologie) werden zusätzliche Wirkungen der persönlichen Freiheit anerkannt. Diese unterscheiden sich deutlich von den Wirkungsabsichten des historischen Verfassungsgebers. Die neue kohärente Konzeption findet schliesslich Eingang in eine detaillierte Neufassung. Die postulierte Erlangung von Systemgerechtigkeit im Rahmen einer Lesartkonstruktion und Lesartvalidierung findet sich auch in früheren Theorien zur Normauslegung. Das Ergebnis ist vergleichbar mit der traditionellen Dreiteilung in eine deklarative, restriktive und extensive Handhabung der Wortbedeutung des Normtextes.235 Zur Sinnerschliessung bei zweifelhaftem Wortlaut wurde schon früh vom normalen Sprachgebrauch ausgehend auf den Kontext und andere Bezugsgrössen abgestellt, wie beispielsweise die übrigen Teile des Gesetzes, andere Gesetze sowie aequitas und ratio.236 Absurditäten sollten vermieden und eine Harmonisierung widersprüchlicher Gesetze angestrebt werden.237 Das Konzept verweist auf eine Argumentationstheorie des „topischen Problemdenkens“, das auf Plausibilität und grösstmöglichen Konsens und weniger auf deduktive Stringenz abzielt.238 Im Rahmen der Normfestlegung muss auch entschieden werden, ob auf die objektive Wortbedeutung (Sprachgebrauch) oder die subjektive Autorenintention (Sinnintentionen) abgestellt werden soll.239 Stellt man auf den Sprachgebrauch ab, ist die Frage zu beantworten, ob ein Text eher nach der Wortbedeutung aus der Entstehungszeit oder nach zeitgenössischem Verständnis gehandhabt werden 234 235 236 237 238 239
Schweizer (2001), S. 695 ff. Vgl. Schröder (2001), S. 61. Vgl. Schröder (2001), S. 61. Vgl. Schröder (2001) S. 61 und S. 93. Nussbaumer, S. 4 f. mit Verweis auf Viehweg. Busse (1993), S. 255.
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soll.240 Diese Frage lässt sich nicht für alle Normen und Normkonstellationen identisch entscheiden. Ausschlaggebend sind auch hier letztlich die normspezifischen Kohärenzkriterien. Grundsätzlich ist allerdings davon auszugehen, dass die Sinnintention des Autors keine Realität, sondern eine blosse Unterstellung des Interpreten darstellt.241 Das gilt insbesondere für Normtexte, da eine bestimmte Person als Textproduzent normalerweise fehlt. Die subjektive Theorie geht fälschlicherweise von einem im Absolutismus verhafteten voluntaristischen Rechtsbegriffs aus, wo der Sinn der Norm kategorisch mit der Vorstellung eines personalen, historischen Gesetzgebers identifiziert werden konnte. Die bei menschlicher Kommunikation sonst praktizierte intentionsbasierte Betrachtungsweise kann bei Normtexten deshalb nicht im Vordergrund stehen.242 Eine Festlegung der Normtexte auf den historischen Sprachgebrauch sowie die Wirkungs- und Wertungsabsichten des Normgebers reduzierte das Recht auf ein statisches System. Das Schwergewicht muss jedoch nicht zuletzt wegen der aktuellen Verwendungsweise auf einer gegenwärtigen Perspektive liegen. Die hier ausgehend von Busse vertretene Konzeption geht bei der Normtextarbeit generell davon aus, dass nicht die Fiktion eines realen Autors die sinnverbürgende Instanz ist, sondern das generalisierte Andere, die auf Diskurs beruhende intersubjektive Überzeugung.243 d) Die Normanwendung aa) Das allgemeine Normanwendungsverfahren Bei der Rechtsanwendung als Vorbereitung einer rechtlichen Entscheidung geht es um das praktische Umgehen sowohl mit Rechtstexten als auch mit Sachverhalten.244 Die Bezugnahme zwischen einer Situation und einer Norm erfolgt nicht als Konfrontation von feststehenden Grössen, da der Sachverhalt sich als rechtlich konstituierte Situation darstellt, die bereits eine rechtliche Formung durchlief.245 Bei der Norm handelt es sich zunächst nicht um einen einzelnen Normtext, sondern um ein Normgefüge. Daraus wird ein die Entscheidung tragender Leitsatz entwickelt und darauf aufbauend eine Entscheidungsnorm individualisiert. Das setzt die einzelfallbezogene Vernetzung der relevanten Normen voraus. Dieser Vorgang basiert auf der Herstellung intertextueller Bezüge,246 u. a. auch zwischen Textelementen und dem eigenen Fach240 241 242 243 244 245 246
Busse Busse Busse Busse Busse Busse Busse
(1992), (1993), (2005), (1993), (1993), (1993), (2002),
S. S. S. S. S. S. S.
16. 258. 28. 259; Busse (2005), S. 28. 251. 291 f. 159.
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wissen.247 Notwendig ist eine Referenzherstellung durch die textgestützte Integration des Sachverhaltes in das Instruktionspotential des relevanten Normgefüges.248 Jede Art von Beziehung zwischen einem Text- und einem Sachverhaltselement kann als solche Referenzherstellung betrachtet werden.249 Ausgehend von fallspezifischen Fragestellungen geht die Arbeitsrichtung vom Fall zum Normtext.250 Die Subsumtionsentscheidung stellt sich zunächst als eine Interpretationsentscheidung dar, da Aussagen über den zulässigen Referenzbereich eines Normtextes getroffen werden.251 Sie geht jedoch darüber hinaus.252 Im Vordergrund steht keine sprachbezogene Entscheidung (Handlungen der Bedeutungsdefinition und -abgrenzung, Paraphrasierung sowie Referenzfestsetzung), sondern ein Argumentationsvorgang über die Funktion und institutionelle Bedeutung des betreffenden Normtextes.253 Die Gesetzesanwendung vollzieht sich insbesondere als eine Art Spezifizierung. Es werden die charakterischen, atypischen Merkmale des Sachverhaltes herausgearbeitet, die von bekannten, typischen Fallkonstellationen abweichen. Es geht letztlich um die Frage, ob es sich um einen von bisherigen Supsumtionsentscheiden abweichenden Sachverhalt handelt254 (typische Fälle gelten als feste Konstellationen intertextueller Vernetzungen und bilden damit bekannte Basisgrössen einer Subsumtion).255 Gesamthaft ist also eine individuelle selektive Gewichtung der Sachverhaltsumstände sowie Bedeutungsgehalte der relevanten Normen erforderlich. Sie ist als ergebnisorientierte Abwägung unter direktem Einbezug der Wertungen und Wirkungsabsichten der relevanten Norm sowie der einschlägigen Rechtsprinzipien vorzunehmen. Auch Zweckerwägungen und rechtspolitische Überlegungen müssen mitberücksichtigt werden.256 Der notwendige Abwägungsspielraum wird im Rahmen von unbestimmten Gesetzesbegriffen sowie der Ermessensausübung eröffnet. Es darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass es sich bei einer Subsumtionsentscheidung letztlich immer um die Basis für eine institutionelle Handlung handelt, nämlich eine Rechtsentscheidung mit bestimmten Rechtsfolgen zu schaffen.257 Deren Ziel muss die Erlangung eines sachgerechten Ergebnisses unter Wahrung der Einheit des Rechts sein. Eine solche verfassungsgerechte Verwirklichung des Rechts als Ganzes verlangt eine optimale Umsetzung 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257
Vgl. Busse (2002), S. 143 und S. 160. Vgl. Busse (1993), S. 290. Busse (1993), S. 289. Lerch, S. 172. Busse (1993), S. 295. Busse (2002), S. 157 und S. 160. Busse (1993), S. 296; Busse (2002), S. 158. Vgl. Busse (2002), S. 142. Busse (2002), S. 159. Busse (2002), S. 152. Busse (1992), S. 193.
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der Normgehalte unter Kohärenzbedingungen. Die Kohärenzbeziehungen müssen somit nach der Einmaligkeit des Falles festgelegt werden. Daraus ergibt sich, ob die Fallentscheidung gerechtfertigt und nach allgemeiner Überzeugung in Übereinstimmung mit den geltenden Normtexten ist.258 Im Jahre 1975 hatte das Bundesgericht (BGE 101 II 177) die zivilrechtliche Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit und Zahlung von Fr. 10.000,– von den Eltern eines tödlich verunfallten Mannes zu beurteilen, bei dem Mitarbeiter eines öffentlichen Spitals das Herz zu Transplantationszwecken entnommen hatten, ohne die Angehörigen überhaupt anzufragen. Das Unfallopfer war verheiratet, hatte jedoch in Scheidung gelebt. Selbst hatte es keine Verfügung getroffen. Die Eltern hätten bei Anfrage der Organentnahme zugestimmt. Die Klage richtete sich u. a. gegen den Kanton als Spitalträger und einige an der Operation beteiligten Ärzte. Der Vorgang wurde vom Gericht als ein Fall der postmortalen Organentnahme zu Transplantationszwecken ohne Einwilligung definiert. Als entscheidrelevantes Normsystem wurden zunächst das privat- sowie öffentlichrechtliche Haftungsrecht angesehen und mit dem geltend gemachten Anspruch konfrontiert. Es galt zu prüfen, ob sich die Haftpflicht nach Bundeszivilrecht oder nach kantonalem Recht beurteile, so dass eine gegenseitige Abgrenzung erfolgen musste. Wegen einer damals fehlenden kantonalen Haftungsregelung für die an öffentlichen Spitälern tätigen Ärzte wurde für deren Haftpflicht das Bundeszivilrecht als massgeblich angesehen, für die Ansprüche gegen den Kanton selbst wurde dies nicht abschliessend entschieden. Daraus wurde der Leitsatz entwickelt, inwieweit die postmortale Organentnahme zu Transplantationszwecken ohne die Einholung der Einwilligung der Angehörigen deren Persönlichkeitsrechte beeinträchtigt. Dafür wurde als Entscheidungsnorm der geltend gemachte Art. 28 ZGB individualisiert. Das Gericht verneinte zunächst wegen Fehlens der Fortdauer der Störung oder einer akuter Gefährdung das Feststellungsinteresse an der Klage, dass die am 14. April 1969 an ihrem Sohn vorgenommene Herzentnahme zwecks Transplantation rechtswidrig gewesen sei und gegen die guten Sitten verstossen habe. Bezüglich der Forderungsklage in Höhe von Fr. 10.000,– wurde Art. 28 ZGB so festgelegt, dass die Eltern als nächste, mit dem Unfallopfer tatsächlich am engsten verbundenen Angehörige durch die ohne ihr Einverständnis durchgeführte Herzentnahme in ihrem Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt seien. Nach Art. 28 ZGB stehe den Angehörigen eines Verstorbenen in den Schranken der öffentlichen Ordnung und der guten Sitten ein Bestimmungsrecht über dessen Leichnam zu, soweit der Verstorbene nicht selbst von dieser Verfügungsbefugnis Gebrauch gemacht habe, mit dem Recht, unbefugte Eingriffe abzuwehren. Der Eingriff in ihre Persönlichkeitssphäre sei darin zu erblicken, dass sie nicht um ihr Einverständnis ersucht und somit gar nicht in die Lage versetzt worden seien, von ihrem Bestimmungsrecht Gebrauch 258
Busse (1992), S. 192.
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zu machen. Dies werde auch dadurch nicht geheilt, dass sie der Herzentnahme zugestimmt hätten, wenn sie angefragt worden wären. Nach dieser Normfestlegung von Art. 28 ZGB erfolgte die fallgerechte Konkretisierung. Die Spezifizierung mit Interessenabwägung erfolgte im Rahmen der Prüfung der Widerrechtlichkeit der festgestellten Persönlichkeitsverletzung, womit die Subsumtion als Abwägungsvorgang erkennbar wird: „Eine Persönlichkeitsverletzung ist nur dann als widerrechtlich zu betrachten, wenn nicht ein Grund vorliegt, der die Widerrechtlichkeit ausschliesst. Das Einverständnis der Kläger mit der Herzentnahme hätte einen solchen Rechtfertigungsgrund gebildet. Ausser der Einwilligung des Verletzten gibt es noch eine Reihe anderer Gründe, welche die Widerrechtlichkeit eines persönlichkeitsverletzenden Verhaltens auszuschliessen vermögen (z. B. die pflichtgemässe Ausübung eines Amtes, Notwehr und Notstand). Ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht ist indessen über den Bereich der traditionellen Rechtfertigungsgründe hinaus immer dann als rechtmässig zu betrachten, wenn er in angemessener Wahrung höherer Interessen erfolgt. Der Entscheid über die Widerrechtlichkeit hängt somit weitgehend von einer Abwägung der einander gegenüberstehenden Güter oder Interessen ab (. . .). Der Grundsatz der Güter- oder Interessenabwägung findet auch im vorliegenden Fall Anwendung. Das Bestimmungsrecht über den toten Körper kann entgegen der Auffassung der Kläger nicht zu jenem Kernbereich der Persönlichkeit gerechnet werden, der – wie im Falle des Rechts auf das Leben – eine Güterabwägung mit Rücksicht auf den hohen Wert des betroffenen Gutes schlechterdings nicht zulässt (. . .). Zur Rechtfertigung des Verhaltens der Beklagten ist somit nicht erforderlich, dass geradezu eine Notstandssituation vorlag. (. . .) Das Interesse der Kläger, das demjenigen der Beklagten gegenüberzustellen ist, bestand im vorliegenden Fall darin, durch Eingriffe in den Leichnam ihres Sohnes in ihren Gefühlen nicht verletzt zu werden. Damit eng verknüpft war ihr Anspruch, über das Schicksal des Leichnams bestimmen zu können. Dieses Entscheidungsrecht wurde durch die Herzentnahme, die ohne Einholung der Zustimmung der Kläger erfolgte, missachtet. Dabei ist aber von erheblicher Bedeutung, dass die Kläger der Herzentnahme zugestimmt hätten, falls sie angefragt worden wären. Daraus darf zwar nach dem in Erw. 5c Gesagten nicht geschlossen werden, es fehle überhaupt an einer Verletzung in den persönlichen Verhältnissen. Die Verletzung war aber doch eine wesentlich weniger intensive, als wenn die Herzentnahme als solche den Gefühlen der Kläger widersprochen hätte. Auf der andern Seite stand das Interesse des Herzempfängers, durch die Transplantation möglicherweise seinen schlechten Gesundheitszustand verbessern und sein gefährdetes Leben verlängern zu können. Dieses Interesse verband sich mit dem Bestreben der beteiligten Ärzte, eine neue Heilmethode zu erproben. Das zuletzt erwähnte Interesse kann allerdings nicht vorbehaltlos als schutzwürdig anerkannt werden, denn Experimenten mit Menschen müssen ganz unabhängig vom Einverständnis des Betroffenen enge Grenzen gesetzt sein. Die Transplantation lebenswichtiger Organe darf nur als letztes Mittel zur Rettung eines Patienten in Betracht gezogen werden und soll neben hohen Risiken eine noch als vernünftig zu bewertende Erfolgschance aufweisen. Andernfalls könnte sie nicht mehr als Heileingriff anerkannt werden (. . .). Daran vermag der Umstand nichts zu ändern, dass Herztransplantationen seither beinahe ausser Gebrauch geraten zu sein scheinen und heute jedenfalls nur noch äusserst selten vorgenommen werden. (. . .) Ob das Inte-
II. Die Normmethoden
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resse des Herzempfängers und seiner Ärzte an der Durchführung der Transplantation unter den gegebenen Umständen schwerer wiege als dasjenige der Kläger an der Wahrung ihres Rechtes, über Eingriffe in den Leichnam ihres Sohnes bestimmen zu können, was nach dem Gesagten zur Rechtfertigung des Verhaltens der beklagten Ärzte ausreichen würde, braucht indessen nicht abschliessend entschieden zu werden. Eine Genugtuung könnte nämlich nach Art. 49 Abs. 1 OR auch bei Vorliegen einer unbefugten Persönlichkeitsverletzung nur zugesprochen werden, wenn die Verletzung und das Verschulden der Beklagten besonders schwer wären. Aus der Gegenüberstellung der in Frage stehenden Interessen ergibt sich aber, dass davon nicht die Rede sein kann. Auch wenn man also annehmen wollte, die Beklagten 2– 4 hätten die Herztransplantation nicht vornehmen dürfen, ohne die Kläger um ihr Einverständnis zu fragen, so könnte in der Unterlassung dieser Anfrage auf jeden Fall keine besonders schwerwiegende Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Kläger und noch viel weniger ein besonders schweres Verschulden der beklagten Ärzte erblickt werden. Die Genugtuungsklage ist daher abzuweisen.“259
bb) Das spezifische Normanwendungsverfahren Jedem Sachverhalt liegen eigene Fragestellungen zugrunde. Allerdings lassen sich fachspezifische Typisierungen ausmachen. Im Zivilrecht geht es um Ansprüche von Privatpersonen gegeneinander, während das öffentliche Recht Ansprüche zwischen Privatperson und dem hoheitlich handelnden Staat benennt. Ein Anspruch ist auf die Frage zu reduzieren, „wer will was von wem woraus?“260 Für das öffentliches Recht bedeutet dies aus staatlicher Perspektive, „wer richtet sich womit an welche Behörde?“261 Das Strafrecht beantwortet die Frage (nachdem eine Handlung bewiesen ist), ob sich jemand strafbar gemacht hat und was die passende Sanktion sei. Diese fachspezifischen Grundfragen stellen jeweils eigene methodische Anforderungen. Die strafrechtliche Methode zur Bestimmung der Rechtsfolge entspricht der Subsumtion. Hinzu kommen Regeln zur Sachverhaltsfestlegung, die auf dem Gebot der objektiven Wahrheit beruhen, sowie zur Ausübung des Ermessens bei der Bestimmung der individuellen Sanktion ausgehend vom Verschulden. Die fachspezifischen Methoden verlangen sowohl für das private als auch das öffentliche Recht eine Prüfung der Anspruchsgrundlage. Auszugehen ist von der Frage, ob sich für einen öffentlich-rechtlichen Anspruch eine ausreichende gesetzliche Grundlage findet bzw. ob sich der gültig manifestierte privat-rechtliche Anspruch im Rahmen der institutionellen Ermächtigung bewegt.262 Der wesentliche Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Recht liegt dabei in der Entstehung des Anspruchs. Ein privatrechtlicher Anspruch ergibt sich erst aufgrund der Manifestation eines 259 260 261 262
BGE 101 II 177, 197. Vgl. Tschentscher, S. 82 f. Vgl. Tschentscher, S. 84. Vgl. Schmidt, S. 214.
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4. Teil: Die Methoden der Rechtswissenschaft
Privatrechtssubjekts. Die entsprechende Willensbestätigung muss sich auf eine Ermächtigung durch eine institutionelle Norm zurückführen lassen. Die institutionellen Normen selbst ordnen nichts an, sondern umschrieben die Bedingungen für das individuelle Handeln und ermächtigen das Privatrechtssubjekt, verbindliche Verhaltensanordnungen zu treffen (beispielsweise bestimmt das Institut des Rechtsgeschäfts, ob ein bestimmtes Reden ein Vertragsschluss darstellt).263 Das Privatrecht definiert somit also einen autonomen Bereich und legt die zwingenden Grenzen dieser Autonomie fest. Dagegen muss sich ein Anspruch im öffentlichen Recht direkt aus einem Normtext ergeben. Das Gebot der formellen und materiellen Rechtmässigkeit bestimmt unmittelbar die Anwendung des öffentlichen Rechts. Die Rechtsgrundlage eines Anspruchs und ihre Übereinstimmung mit den übergeordneten Rechtsätzen soll geprüft werden.264 Bei der Rechtsanwendung muss untersucht werden, ob die fachspezifische Normtextimmanenz und Angemessenheit eines Anspruchs gewahrt ist. Daraus ergeben sich die jeweiligen Schlussfolgerungen: Im Strafrecht erfolgt ein Freispruch, wenn sich der im Verfahren festgelegte Sachverhalt nicht unter einen gesetzlichen Straftatbestand subsumieren lässt. Verwaltungsrechtliche Ansprüche können bei fehlender gesetzlicher Grundlage abgewehrt werden. Gleiches gilt, wenn ein erhobener Privatrechtsanspruch nicht institutskonform ist. Indes darf linguistische Vagheit nicht mit fehlender Anspruchsgrundlage gleichgesetzt werden. Die Verwendung unbestimmter Begriffe kann ein Indiz für eine umfassende Normierungsabsicht sein, die einen Anspruch zu begründen vermag. Zur Diagnose der Normtextimmanenz eines Anspruchs ist ein Vergleich mit den fachspezifischen Anforderungen an die linguistische Bestimmtheit einer Gesetzesnorm erforderlich. Zu berücksichtigen ist ferner die direkte Begründung eines Anspruchs in den allgemeinen Rechtsprinzipien und ethische Kriterien. Das ethisch geprägte Angemessenheitskriterium ist im Privatrecht bereits durch seine generelle Ausrichtung auf die guten Sitten, Treu und Glauben sowie das Rechtsmissbrauchsverbot offenkundig. Aber auch im öffentlichen Recht ist die Gesetzesnorm auf die Grundrechte und damit letztlich auf die Menschenwürde ausgerichtet. Das Strafrecht definiert sich ebenfalls als Rechtsgüterschutz. Die Relevanz des linguistischen Kriteriums darf daher nicht zu einer rein begrifflich-logischen Rechtsidee verleiten. Die Notwendigkeit der Abwägung eines Anspruchs anhand der Rechtsprinzipien muss stets berücksichtigt werden.
263 264
Schmidt, S. 214. Höhn, S. 64 f.
III. Die Sachverhaltsmethoden
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III. Die Sachverhaltsmethoden 1. Die Sachverhaltsdarstellung Der Sachverhalt kann sich für die beteiligten Personen als Problem darstellen, das meistens auf einem Konflikt beruht. Dieser besteht aus unterschiedlichen Auffassungen und Bewertungen einer Situation oder in abweichenden individuellen Zielen. Subjektive Faktoren spielen deshalb eine bedeutende Rolle, worauf bei der Rechtsanwendung Rücksicht genommen werden muss. Sie setzt eine Analyse der Problemsituation in Form eines Vergleichs der sich bietenden Möglichkeiten voraus. Eine erfolgreiche Konfliktbewältigung und Problemlösung kann eine Abweichung von einer gültigen Rechtsanwendung erforderlich machen. Allerdings bildet richtige Sachverhalts- und Rechtsfindung stets die Grundlage der Problemlösung (beispielsweise darf die Optimierungsperspektive, welche der Anwalt im Interesse seines Mandanten einzunehmen hat, eine vertretbare Sicht der Dinge nicht verlassen). Die gültige Konfliktlösung beinhaltet somit letztlich immer eine Rechtsaufgabe, für die das Rechtssystem Regeln zur Verfügung stellt. Sie müssen im Rahmen des Lösungsprozesses deshalb nicht mehr entwickelt, sondern nur noch angewendet werden. Dies geschieht in einer Abfolge verschiedener Einzeloperationen. 2. Die Sachverhaltsfestlegung Die Rechtsanwendung als situative Rechtsnormkonkretisierung setzt eine Sachverhaltsbearbeitung durch Exploration und Diagnose voraus. Situationen müssen in rechtlich konstituierte Sachverhalte umgewandelt und als solche diagnostiziert werden.265 Im beurteilten Sachverhalt wird, wie bei jeder Erkenntnis, nur ein Teil des Wahrgenommenen ausgewählt.266 Dabei handelt es sich um eine Kategorisierung von Tatsachen, ausgehend von der zweckgerichteten Fragestellung, ob rechtlich relevante Informationen vorliegen. Es wird eine Vorauswahl getroffen, die durch bestimmte Vorstellungen geleitet ist. Diese Vorstellungen entstehen im Hinblick auf dem Zweck der Beurteilung.267 Die Sachverhaltserfassung stellt sich demnach als Ergebnis eines auswählenden und wertenden Vorgangs dar und ist selbst ein Werturteil. Sie ist durch eine Vorauswahl gekennzeichnet, die auf Erwartungen beruht.268 Am Anfang steht ein Ereignis in Ort und Zeit, das beobachtet werden kann. Die Situation begegnet dem Juristen vorwiegend in sprachlicher Form als Behauptung. Die Aussagekraft und der Informationsgehalt dieser Behauptung so265 266 267 268
Vgl. Felder, S. 164. Weimar, S. 31. Löffelmann, S. 22. Löffelmann, S. 158.
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4. Teil: Die Methoden der Rechtswissenschaft
wie ihre Bedeutsamkeit muss zuerst gewertet werden. Im Rechtsanwendungsprozess ist festzulegen, welche Sachverhaltsdarstellung zugrunde gelegt werden darf. Die Regeln für eine gültige Sachverhaltsrekonstruktion liefert das Beweisrecht.269 Neben der Rechts- erfordert meistens auch die Tatfrage eine Entscheidung, da oft nicht über alle Sachverhaltsumstände endgültiges Wissen erlangt werden kann. Die Sachverhaltsbeschreibung muss wahr und umfassend sein. Objektiv wahr ist eine Behauptung, wenn deren Inhalt der Wirklichkeit entspricht und nicht vom Wollen des erkennenden Subjekts abhängt. Für die in die Disposition des Einzelnen gestellten Fälle begnügt sich die Rechtsanwendung jedoch mit der übereinstimmenden subjektiven Wahrheit der Beteiligten. Die Vollständigkeit des Sachverhaltes ist gewahrt, wenn die relevanten Merkmale der Situation berücksichtigt und insbesondere alle Signifikanten enthalten sind. Die Situationsdeutung muss erwägen, dass eine Bedeutungsgleichheit zwischen dem Sachverhalt und dem Normtatbestand herzustellen ist. Dadurch wird die relevante Norm gefunden und die passende Rechtsfolge ermittelt. Die Relevanz ist somit relativ definiert. Sie entsteht durch eine Relation zwischen Sachverhalt und Norm. Die Bedeutung einzelner Umstände zeigt sich erst im Lichte der Norm. Die Sachverhaltsbeschreibung ist deshalb ohne die gleichzeitige Feststellung derjenigen Rechtsnormen, die in Frage kommen können, nicht möglich. Die Signifikanz ergibt sich aus dem Vergleich mit dem normtypischen Sachverhalt. Der Vorgang der Gleichsetzung ist zudem selektiv. Er erfordert daher sowohl fachliches Wissen als auch Sachlichkeit. Die Sachverhaltsfestlegung beinhaltet daher ebenfalls das Auffinden der fallrelevanten Norm und darüber hinaus das Entdecken der für eine sachgerechte Falllösung relevanten Rechtsprinzipien. 3. Die Sachverhaltssubsumtion Die Grundkonzeption der Rechtsanwendung ist die Subsumtion. Es handelt sich um die Unterordnung des Sachverhalts unter den Tatbestand der Norm. Daraus wird die Schlussfolgerung gezogen, dass für den subsumierten Sachverhalt die Rechtsfolge gilt. Beim Schluss handelt es sich um einen dreigliedrigen Syllogismus. Die Norm, bestehend aus Tatbestand und Rechtsfolge, ist die erste Prämisse, der Sachverhalt die zweite. Beide Prämissen haben den Charakter eines kategorischen Urteils. Die Subsumtion stellt eine Gemeinsamkeit zwischen dem Tatbestand als dem Allgemeinen und dem Sachverhalt als dem Besonderen her. Daraus leitet sich als Konklusion das Individualurteil ab. Prämisse 1 (oder Obersatz): Art. 139 Ziff. 1 StGB: Wer jemandem eine fremde bewegliche Sache zur Aneignung wegnimmt, um sich oder einen andern damit unrechtmässig zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft. 269
Rüssmann, S. 369.
IV. Die Urteilsmethoden
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Prämisse 2 (oder Untersatz): A hat aus der Handtasche von B dessen Portemonnaie behändigt, daraus Fr. 500.– entnommen und dieses Geld zum Kauf von Lebensmitteln verwendet, welche er anschliessend konsumierte. Konklusion (oder Schlusssatz): Also wird A mit mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
Die Ermittlung der Rechtsfolge eines Sachverhalts weist indes über die Herstellung einer deduktiven Beziehung hinaus.270 Bereits der Sachverhalt stellt eine normgerechte Beschreibung der Situation dar. Voraussetzung dafür ist eine zutreffende Normauswahl, womit die Prämissen richtig gesetzt werden. Die Gleichsetzung zwischen Tatbestand und Sachverhalt macht einen Konkretisierungsvorgang notwendig. Der Syllogismus zeigt lediglich ein logisch mögliches Ergebnis auf. Die Konklusion ist eine notwendige Bedingung für die Richtigkeit des Ergebnisses.271 Erforderlich ist zudem eine hinreichende Bewertung der Konklusion anhand der Rechtsprinzipien und den Verfassungsnormen.272 Dazu gehört auch das Aufzeigen der weiteren Konsequenzen. Solche praktischen Zweckmässigkeitsüberlegungen sind nicht mit dem Zweck der Norm zu verwechseln. Das Abwägen der Konsequenzen verweist vielmehr auf das Prinzip der Generalisierbarkeit des Ergebnisses als Massstab für seine Richtigkeit.273 Zu fragen ist immer, ob das Ergebnis der Schlussfolgerung eine verallgemeinerbare Abwägung verkörpert und überhaupt gerechtfertigt ist. Die Rechtsanwendung beinhaltet folglich mit der Auswahl potentiell relevanter Normen, der normgerechten Aufbereitung des Sachverhaltes, der Konkretisierung der Norm, dem Syllogismus sowie der Bewertung des Ergebnisses mehrere Abwägungsprozesse. Sie ist meistens Entscheidung und nur im Ausnahmefall blosse begriffliche Ableitung. Die Lösung einer Rechtsaufgabe ist ein homogenes Gemisch zwischen dem Recht als Lösungsmittel und der Situation als Stoff. Daraus kristallisiert sich ein Individualurteil heraus. Das Hauptproblem der Rechtsanwendung ist, welche tatsächlichen und rechtlichen Aspekte berücksichtigt werden sollen und welches Gewicht ihnen beizumessen ist.
IV. Die Urteilsmethoden 1. Die Urteilsbildung Urteil im logischen Sinn ist eine sich im Denken vollziehende Schlussfolgerung, in der zwei Vorstellungen oder Begriffe miteinander verbunden werden, wobei der eine Begriff durch den anderen bestimmt wird. Ein Urteil basiert 270 271 272 273
Vgl. Günther, S. 40 f. Günther, S. 40. Vgl. Günther, S. 47. Günther, S. 42.
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4. Teil: Die Methoden der Rechtswissenschaft
also auf Begriffen.274 Einfache Urteile sind Subjekt-Prädikat-Aussagen im Modus der Behauptung (A ist ein Mörder).275 Ein Urteil ist deshalb nicht erst das Ergebnis der Beurteilung einer Behauptung, sondern schon die Behauptung selbst.276 Mit der Aussage soll ein Sachverhalt mitgeteilt werden, der auf Feststellungen beruht.277 Ein solcher liegt vor, wenn einem Ding eine Eigenschaft zuerkannt oder zwischen mehreren Dingen eine Beziehung hergestellt wird.278 Dabei bezeichnet man als Urteil sowohl den sprachlichen Ausdruck (Proposition/Aussage), als auch den Aussageinhalt selbst. Das Urteil ist somit eine formal-logische Funktion, die eine Aussage zum Inhalt hat. Daher sind Urteile entweder wahr oder falsch. „Wahr oder unwahr“ ist ein einheitliches, allen Urteilen gemeinsames Kriterium.279 Aufforderung und Frage sind demnach kein Urteil, da sie weder eine Bejahung noch eine Verneinung zum Ausdruck bringen, die als wahr oder falsch eingestuft werden kann.280 Die Begriffe Urteil und Entscheidung werden häufig synonym verwendet. (z. B. richterliche Entscheidung oder richterliches Urteil.) Das Urteil als Vorstellungsverbindung ist zwar immer auch eine Entscheidung darüber, wie zwei Begriffe zueinander passen. Entscheidungen sind jedoch wesensmässig von Urteilen verschieden. Freilich impliziert Entscheiden im Gegensatz zur spontanen Auswahl und wie das Beurteilen auch einen Vorgang des Abwägens.281 Entscheidungen setzten indessen eine Entscheidungsfreiheit voraus, so dass mehrere Möglichkeiten, also Entscheidungsalternativen, bestehen müssen.282 Die Wahlsituation erzeugt Vorstellungen der gegebenen Möglichkeiten und ihrer eventuellen Folgen, als deren Konsequenz sich die stärkste Tendenz durchsetzt283 und zur Bestimmung des Entschlusses führt. Die Entscheidung ist als intensionaler Akt für die Ausführung (oder Unterlassung) einer Handlung ausschlaggebend. Entscheidungen sind deshalb weder wahr noch unwahr, sondern richtig oder falsch im Sinne von zweckmässig oder angemessen.284 Sie sind rational, wenn sie den Entscheidungsspielraum ausschöpfen und explizit begründet werden können. Aufgrund von logischen Urteilen können Entscheidungen getroffen werden, die Entscheidungen sind nämlich deren Konsequenzen.285 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285
Mühlner, S. 59. Mittelstrass, Stichwort „Urteil“, Bd. 4, S. 445 ff. A. M. Mittelstrass, Stichwort „Urteil“, Bd. 4, S. 446. Mühlner, S. 60 f. Mühlner, S. 58 Mittelstrass, Stichwort „Urteil“, Bd. 4, S. 446. Mühlner, S. 62. Löffelmann, S. 165. Löffelmann, S. 172; Weimar, S. 113. Weimar, S. 114. Löffelmann, S. 165. Löffelmann, S. 164.
IV. Die Urteilsmethoden
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(Auf die Feststellung „A ist ein Mörder“ folgt die Verurteilung zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe.) Allerdings kann Entscheiden neben der Bedeutung von „sich für oder gegen etwas entscheiden“ auch im Sinne von „über etwas entscheiden“ verwendet werden. Hier besteht eine Nähe zum Urteil. Über etwas entscheiden kann ich, indem ich ein Urteil fälle, d.h. eine Feststellung treffe.286 Der Richter entscheidet indes nicht, dass A ein Mörder ist, sondern er urteilt darüber. A ist nicht Mörder, weil der Richter so entscheidet, sondern weil er gemordet hat. Eine wirkliche Entscheidungsgewalt besitzt der Richter nur hinsichtlich einiger Nebenfragen, bei denen ihm ein Ermessen eingeräumt wird, zum Beispiel bei der Festsetzung des Strafmasses.287 Das Urteil entscheidet lediglich darüber, ob der Angeklagte in der Öffentlichkeit als Mörder oder weiterhin als unschuldig gilt.288 Am Ende des Entscheidungsprozesses steht ein Entschluss.289 Es gibt zahlreiche Situationen, in der sich keine eindeutige Lösung ergibt, sondern eine Vielzahl sich anbietender Lösungsmöglichkeiten besteht.290 Eine forensische Entscheidung spielt sich in einer solchen multivalenten Situation ab.291 Die heutige Auffassung sieht die Rechtsprechung als richterlich-kreative Rechtsfindung und qualifizierte Wahl an. Das Gesetz reduziert die Menge der möglichen Lösungen zwar, jedoch nicht auf eine einzige Lösung.292 Dem mit einer Entscheidung verbundener Wahlakt ist eine gewisse Willkür eigen. Eine Rechtsentscheidung kann deshalb nicht gefunden, sondern immer nur getroffen werden, denn nur ein bereits vorgegebenes Ergebnis könnte gefunden werden.293 Das macht die zuverlässige Prognose von Gerichtsurteilen schwierig. Das juristische Urteil ist das Ergebnis einer Beurteilung aufgrund eines öffentlichen und fairen Verfahrens, das als solches verfassungsrechtlich in Art. 29 ff. BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleistet ist. Behandelt wird die Frage, ob bzw. in welchen Mass ein Anspruch erfüllt wurde.294 Dabei ist Rechtsprechung immer sowohl Rechtserkenntnis (Feststellung des Rechts) als auch Konfliktbewältigung (Streitentscheidung). Das Gericht entscheidet die zwischen den Parteien hängige Rechtsstreitigkeit. Das Urteil ist die mit Rechtskraft ausgestattete Entscheidung des Richters über ein Begehren.295 Streitfragen müssen zu einer Entscheidung geführt werden.296 Beim Kollegialgericht wird das Urteil 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296
Löffelmann, S. 165. Löffelmann, S. 170. Löffelmann, S. 171. Weimar, S. 117. Weimar, S. 160. Weimar, S. 116. Weimar, S. 151. Rafi, S. 43 f. Mittelstrass, Stichwort „Urteil“, Bd. 4, S. 445. Kummer, S. 144. Weitzel, S. 13.
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durch Abstimmung gefällt, der eine Beratung vorausgeht. Das juristische Urteil ist, wie ein moralisches Urteil im Übrigen auch, das Ergebnis eines Prozesses der inneren Beratung, das sowohl Feststellungen als auch rationale Handlungsentscheidungen und damit gleichzeitig deren Begründung umfasst.297 Bei der Entscheidung geht es um die Bewältigung einer juristischen Problemsituation, dessen problemlösender Output zu begründen ist.298 Während der Aussage eines logischen Urteils nur die Eigenschaft „wahr“ oder „falsch“ zukommt, ist das juristische Urteil ein Willensakt, der eine Stellungnahme gegenüber einer Aussage ausdrückt.299 Es ist eine bejahende oder verneinende Behauptung innerhalb eines Argumentationsprozesses300 und impliziert ein bewusstes Abwägen und Bewerten als Ergebnis einer Evaluationsphase.301 Unterscheiden, Zusammenfassen, Unterordnen, Zuordnen und Gleichsetzen sind deren wesentliche Bestandteile. Aus dem Prozess als kontradiktorisches Verfahren302 ergibt sich, dass die Urteilsfindung einen Argumentationsprozess und eine Willensbildung erfordert,303 ausgehend von der Frage, welche der klägerischen oder beklagtischen Vorbringen erheblich und schlüssig sind und wer demnach welche Behauptung beweisen muss.304 Am Anfang steht also die Sachverhaltserkenntnis. Ein juristisches Urteil ist zunächst immer eine Erfassung und rechtliche Würdigung von Feststellungen.305 Diese zielen auf Wahrheit und sind aufgrund ihres Wahrheitswertes als richtig oder falsch beurteilbar.306 Bei der Wahrnehmung rechtserheblicher Fakten handelt es sich um Urteile im logischen Sinne.307 Die Feststellungen äussern sich somit als (Vor)Urteile.308 Die Tatsachenerkenntnis geschieht mit Hilfe des Vorverständnisses.309 Ein Sachverhalt wird dem Seienden entnommen, also ausgewählt und in einer bestimmten Eigenart erfasst. Dieser Sachverhalt ist bereits auf besondere, beurteilungsrelevante Aspekte beschränkt,310 d.h. in einer bestimmten Art und Weise vorgezeichnet.311 Die Urteilsbildung verläuft sodann von der Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung hin zur Normanwendung. Dabei müssen Sachverhalt und Rechtsnorm einander angenähert wer297 298 299 300 301 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311
Vgl. Heinrichs, S. 275. Heinrichs, S. 276. Mühlner, S. 58. Mittelstrass, Stichwort „Urteil“, Bd. 4, S. 447. Heinrichs, S. 275. Vgl. Nussbaumer, S. 2 f. Weitzel, S. 13. Cordes, S. 2. Löffelmann, S. 98. Vgl. Löffelmann, S. 178. Weimar, S. 32. Löffelmann, S. 97. Löffelmann, S. 94. Löffelmann, S. 22. Löffelmann, S. 121.
IV. Die Urteilsmethoden
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den, bis sich die Entscheidung ergibt. Genauso wie man die relevanten Tatsachen aufgrund der Rechtsnormen findet, muss man bei der Suche der einschlägigen Rechtsnormen von der Tatsachenbehauptung ausgehen. Durch Argumentation sucht man nach den passenden Zuordnungen.312 Die Beurteilung von strittigen Ansprüchen rechtlicher Natur enthält stets eine Reflexion, die Norm und Wirklichkeit thematisiert und das Eine auf das Andere bezieht. Bei der weiteren rechtlichen Beurteilung steht der Akt des normativen Bewertens im Vordergrund.313 Er umfasst als Vorstellungsverbindung im Wesentlichen eine Zuordnung314 von normativen Begriffszusammenhängen zur Realität.315 Dabei wird die Zugehörigkeit des Sachverhaltes zu einer bestimmten Norm bestimmt.316 Dies geht über einen schlichten Syllogismus hinaus: Wenn man urteilt, „das ist ein Mörder,“ bestimmt man die Zugehörigkeit dieses Menschen aufgrund bekannter normativer Kriterien.317 Man ist dazu in der Lage, weil man aufgrund gesetzlicher Vorgaben weiss, welche Eigenschaften ein Mörder erfüllen muss.318 Urteilen bedeutet somit die Bestimmung der Zugehörigkeit von Beurteiltem (Sachverhalt) zu anderem Beurteilten (Norm),319 die im Urteilsspruch festgesetzt wird.320 Das gefällte Urteil ist also das darstellbare Resultat eines Prozesses des Beurteilens und Entscheidens, das nach bestimmten Regeln erfolgen muss. Diese Regeln garantieren die Qualität des Urteils.321 Die Richtigkeit eines Urteils beruht darauf, wie sorgfältig vorgegangen wurde.322 Viel hängt von den Fähigkeiten und Erfahrungen des Richters ab, insbesondere auch von der Fähigkeit, sich seiner vorgängigen Urteile bewusst zu sein. Massgeblich ist auch die Güte der Informationen, die zur Verfügung stehen.323 Das Urteil beinhaltet den Anspruch, dass das Urteil das Beurteilte richtig bestimmt hat.324 Das Urteil ist richtig, wenn die Zugehörigkeit des Beurteilten zutreffend bestimmt wurde.325 Am Ende des Beurteilens steht ein Akt der Zustimmung, der sich in einer entsprechenden richterlichen Überzeugung manifestiert. Die Beurteilung selbst hat bereits den Charakter einer Begründung, die nachträglich in sprach-
312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325
Weitzel, S. 14. Löffelmann, S. 97. Löffelmann, S. 179. Mühlner, S. 59. Vgl. Löffelmann, S. 98. Löffelmann, S. 121. Löffelmann, S. 99. Löffelmann, S. 121. Löffelmann, S. 112. Löffelmann, S. 27. Löffelmann, S. 127. Löffelmann, S. 127. Löffelmann, S. 179. Löffelmann, S. 8.
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liche Gestalt gebracht und damit objektiviert als Rechtfertigung dem Urteil folgt.326 Die Art des Urteils ergibt sich aus dem Inhalt des Rechtsbegehrens. Entsprechend der Leistungs-, Feststellungs- oder Gestaltungsklage werden aufgrund ihres unterschiedlichen sachlichen Inhaltes Leistungs-, Feststellungs- und Gestaltungsurteile unterschieden. Sie ergehen als Teil- oder Endurteil. Endurteile sind prozess- und instanzbeendend und werden erlassen, sobald der Rechtsstreit spruchreif ist. Nach ihrem prozessualen Inhalt wird zwischen Sachurteil (materieller Entscheid in der Sache), Prozessurteil (bei Fehlen einer Prozessvoraussetzung) oder Erledigungsbeschluss (bei Gegenstandslosigkeit) unterschieden. Solche prozesserledigende Entscheide stehen prozessleitenden Entscheiden gegenüber. Entscheidungen während des Prozesses (z. B. Beweisbeschluss usw.) ergehen als Beschlüsse oder Verfügungen. Über die im Rechtsstreit entstandenen Kosten wird in der gerichtlichen Kostenentscheidung beschlossen. 2. Die Urteilsdarstellung Nachdem das Gericht das Urteil gefällt hat, muss es den Parteien und der Öffentlichkeit verkündet werden. Das erfolgt durch Verlesen des Urteilsspruchs, was gemäss Art. 30 Abs. 2 BV sowie Art 6 Abs. 1 EMRK öffentlich erfolgen muss.327 Das Urteil ist erst mit seiner Verkündung existent und für das urteilende Gericht bindend. Seine weiteren Wirkungen entfaltet es nach der Zustellung an die Parteien, es beginnen auch die Rechtsmittelfristen zu laufen. Nach unbenütztem Ablauf der Rechtsmittelfrist wird das Urteil rechtskräftig. In Rechtskraft erwächst bloss der Urteilsspruch (Dispositiv), so dass dieser aus sich heraus verständlich sein muss. Nebem dem Dispositiv besteht ein Urteil aus dem Rubrum (Bezeichnung des Gerichtes, der mitwirkenden Richter und der Parteien), den Rechtsbegehren, den Entscheidungsgründen (Erwägungen, Motive) sowie einer Rechtsmittelbelehrung. Wie der Richter zu seiner Entscheidung kommt, sollte sich aus der Urteilsbegründung ergeben.328 Nur daraus kann nachvollzogen werden, wie die Urteilsbildung erfolgte.329 Die Erwägungen begründen die im Dispositiv niedergelegte Entscheidung. Von der Begründung muss eine Schlussfolgerung auf den Prozess der Entscheidungsfindung möglich sein.330 Es sollten alle Gründe offen gelegt werden, die den Richter zu seiner Entscheidung führten.331 In der Urteilsbe326 327 328 329 330 331
Mittelstrass, Stichwort „Urteil“, Bd. 4, S. 445. Rhinow, S. 487. Cordes, S. 2. Weitzel, S. 19. Vgl. Cordes, S. 4. Cordes, S. 2.
IV. Die Urteilsmethoden
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gründung wird allerdings das Ergebnis an den Anfang gestellt und anschliessend in einem vom Ergebnis ausgehenden Vorgehen erläutert.332 Es besteht also eine Diskrepanz zwischen der Urteilsfindung und ihrer Darstellung.333 Es ist deshalb mitunter fraglich, ob die Erwägungen die wahren Gründe und das tatsächliche Verfahren der Entscheidungsfindung wiedergeben.334 Damit stellt sich die Frage, ob die tatsächliche Entscheidungsfindung in der schriftlichen Begründung nicht vielfach sogar kaschiert wird.335 Dabei gilt es im Auge zu behalten, dass die Beurteilung selbst den Charakter einer Begründung hat,336 so dass sich in den Erwägungen ohne weiteres tatsächliche Aussagen zu den Gründen machen lassen. Indes muss die Urteilsberatung nach der verfassungsrechtlichen Minimalgarantie nicht öffentlich sein, einzelne Prozessgesetze sehen dies allerdings vor.337 Urteile kommen jedenfalls nur dann im vollen Umfang zur Geltung, wenn sie ausreichend und wahrheitsgemäss begründet sind. Dadurch werden sie jedermann zugänglich338 und über ihre Richtigkeit kann entschieden werden.339 Intersubjektivität ist eine wichtige Möglichkeit zur Urteilsbewertung.340 Jedes Urteil hat seine Gründe, auf denen es beruht und daraus hervorgegangen ist.341 In der Begründung werden die ausschlaggebenden Gründe zur Sprache gebracht, damit sie verstehbar und ihrerseits beurteilbar werden.342 Die Begründung bildet die notwendige Grundlage der Beurteilung des Urteils.343 Aus ihr wird ersichtlich, ob der Richter richtig handelte. Er begründet das Urteil, um die Richtigkeit seiner Entscheidung darzulegen und um die Parteien und die Öffentlichkeit zu überzeugen.344 Das moderne Verständnis, in welcher Weise und für wen Urteile begründet werden, weist noch nicht allzu lange zurück. Im Zuge der dem Zeitalter der Aufklärung folgenden Reform der Rechtspflege (Mündlichkeit, Öffentlichkeit, Anklageprinzip, Einführung der Geschworenengerichte) mit der Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit345 wandelte sich auch das Selbstverständnis der
332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344 345
Weitzel, S. 12. Cordes, S. 2. Cordes, S. 4; vgl. Weitzel, S. 11. Vgl. Weitzel, S. 12; Cordes, S. 2. Mittelstrass, Stichwort „Urteil“, Bd. 4, S. 445. Rhinow, S. 487. Vgl. Löffelmann, S. 178. Löffelmann, S. 178. Löffelmann, S. 127. Löffelmann, S. 82. Löffelmann, S. 91. Löffelmann, S. 127. Weitzel, S. 14. Vgl. Kroeschell, S. 154 ff.
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4. Teil: Die Methoden der Rechtswissenschaft
Richter.346 Die Rechtsprechung trat der Rechtswissenschaft als gleichwertiger Partner gegenüber. Das zeigt sich etwa darin, dass sie sich bisweilen auch von einer herrschenden Lehrmeinung nicht beeindrucken lässt.347 Während in den früheren Urteilssammlungen die Rechtsprobleme wissenschaftlich erörtert wurden und erst zum Schluss einzig der Urteilsspruch Erwähnung fand,348 setzte sich ab ca. 1820 ein neuer Typus der Rechtsprechungsliteratur durch, in der den Urteilen die Voten der Berichterstatter beigegeben wurden. Hier sprach nicht mehr die Wissenschaft, sondern das Gericht selbst gab seine Rechtsansicht zu erkennen.349 Erst im 19. Jahrhundert wurde es auch selbstverständlich, dass die Gerichte ihre Entscheidungen mit einer Begründung versahen. Noch im 18. Jahrhundert waren sie dazu nicht durchwegs verpflichtet,350 selbst wenn die Forderung nach einer Urteilsbegründung seit Langem erhoben wurde.351 Die neuen Prozessordnungen des 19. Jahrhundert sahen eine Bekanntgabe der Urteilsgründe durchwegs vor, so dass seit der zweiten Jahrhunderthälfte die Urteile das heutige Erscheinungsbild aufwiesen.352 Heute ist die Pflicht zur Urteilsbegründung verfassungsmässig garantiert und fliesst aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK.353 Aus dem rechtlichen Gehör als persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht ergibt sich für den Richter die Pflicht, seinen Entscheid zu begründen. Er muss die wesentlichen Überlegungen aufzeigen, von denen er sich leiten liess. Der Betroffene soll wissen, warum seinem Antrag nicht stattgegeben wurde.354 Die Begründung eines Entscheides muss so abgefasst sein, dass der Betroffene ihn sachgerecht anfechten kann.355 Dies ist nur dann möglich, wenn er sich über die Tragweite des Entscheides ein Bild machen kann. Es müssen die Überlegungen genannt werden, auf welche sich der Entscheid stützt. Dazu ist eine Darstellung des relevanten Sachverhaltes aufgrund einer Wertung des Parteivorbringens erforderlich. Ferner muss ersichtlich sein, aufgrund welcher Normen entschieden wurde.356 Die Begründungsdichte ist abhängig von der Entscheidungsfreiheit und der Eingriffsintensität. Je grösser der Spielraum infolge Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriffe ist und je stärker ein Entscheid in die individuellen Rechte eingreift, desto höhere Anfor346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356
Kroeschell, S. 163. Kroeschell, S. 164. Kroeschell, S. 163. Kroeschell, S. 163. Kroeschell, S. 164. Kroeschell, S. 164. Kroeschell, S. 164. Rhinow, S. 482. BGE 126 I 97, 102 f.; BGE 123 I 31, 34; BGE 121 I 54, 57. BGE 123 I 31, 34 f. Bernhard, S. 106 ff.
IV. Die Urteilsmethoden
105
derungen sind an die Begründung zu stellen.357 Auch bei Unklarheiten besteht eine erhöhte Begründungspflicht.358 Dabei muss man sich nicht mit allen tatsächlichen Behauptungen und rechtlichen Einwänden der Parteien auseinandersetzen. Man kann sich vielmehr auf die für seinen Entscheid erheblichen Gesichtspunkte beschränken. Der Richter hat demnach in der Begründung seines Entscheids diejenigen Argumente auszuführen, die tatsächlich dem Entscheid zugrunde liegen. Stützt man sich auf eine Lehrmeinung, so muss diese mit demjenigen Inhalt wiedergeben werden, der zum Entscheid der Behörde geführt hat.359 Durch die Verpflichtung zur Offenlegung der Entscheidgründe kann verhindert werden, dass sich der Urteilende von unsachlichen Motiven leiten lässt. Die Begründungspflicht erscheint so nicht nur als ein bedeutsames Element transparenter Entscheidungsfindung, sondern dient zugleich auch der wirksamen Selbstkontrolle.360 Besonders die Strafzumessung ist so zu erörtern, dass festgestellt werden kann, ob alle rechtlich massgebenden Gesichtspunkte berücksichtigt und wie sie gewichtet wurden. Der Sachrichter muss die Überlegungen, die er dabei anstellte, in seinem Urteil in den Grundzügen darstellen und so nachvollziehbar und überprüfbar machen. Die Anforderungen hängen von der Höhe des Strafmasses ab. Die gefundene Strafe muss insgesamt im Ergebnis bundesrechtlich vertretbar ist. Dies bedeutet insbesondere auch, dass die Erwägungen zur Strafzumessung die ausgefällte Strafe rechtfertigen müssen. Das Strafmass muss also plausibel erscheinen. Zwischen der Strafe und ihrer Begründung dürfen keine offensichtlichen Diskrepanzen bestehen. Liegt eine solche Diskrepanz vor, ist entweder die Strafe nicht vertretbar oder aber ihre Begründung im Urteil mangelhaft.361 Aufgrund des verfassungsrechtlichen Anspruchs lassen sich allerdings keine generellen Regeln aufstellen, denen eine Begründung genügen muss. Es wäre deshalb auch verfehlt, das von der Verfassungsnorm geforderte Mass, die Begründungsdichte, im Sinne eines Minimalstandards einheitlich festzulegen. Die Anforderungen sind vielmehr unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles sowie der Interessen des Betroffenen abzustimmen.362 Ferner sind Vorkehrungen zu treffen, dass die Begründungspflicht richtig erfüllt werden kann, z. B. durch Anfertigung schriftlicher Belege und Protokolle.363 Ein Urteil muss eine befriedigende Begründung für ein vertretbares Ergebnis aufweisen. Was sich hinreichend begründen lässt, ist ein vertretbares Ergebnis. Was nicht vertretbar ist, lässt sich auch nicht hinreichend begründen.364 Urteile, 357 358 359 360 361 362 363 364
BGE 126 I 97, 102 f.; BGE 112 Ia 107, 110. Vgl. BGE 131 II 271, 301. BGE 126 I 97, 102 f. BGE 112 Ia 107, 109. BGE 121 IV 49, 56 f. BGE 112 Ia 107, 110. Vgl. BGE 131 II 670, 679. Weitzel, S. 15.
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4. Teil: Die Methoden der Rechtswissenschaft
deren Gründe nicht nachvollziehbar sind, sind willkürlich.365 Ein Urteil, das gut begründet werden kann, ist also ein gutes Urteil. Davon zu unterscheiden ist die Frage, wann die Begründung des Urteils gut ist.366 Eine ausreichende Begründung liegt vor, wenn die Kriterien vernünftiger Argumentation erfüllt sind. Ein solcher rationaler Dialog muss unvoreingenommen und zwanglos erfolgen und darf nicht persuasiv sein.367 Er muss konstruktiv, insbesondere schrittweise und ohne Argumentationslücken aufgebaut sein.368 Die Ableitung wird hier ganz allgemein verstanden als die Rückführung der Geltung eines Satzes auf die Geltung anderer, keiner Begründung mehr bedürftigen, allgemein einsichtigen Sätze.369 Der Urteilsspruch ist also durch ein methodisch geleitetes Vorbringen von Gründen und Gegengründen rational zu rechtfertigen.370 Einen bestimmten Aufbau für die Erwägungen gibt es nicht. Formelle Ausführungen zu den Prozessvoraussetzungen gehören sicher an den Anfang. Zur Sprache kommen nur die tragenden Gründe, also solche, die zur Beantwortung einer strittigen Frage ausschlaggebend sind.371 Behandelt werden müssen in verständlicher Art die für die Entscheidung wesentlichen Erwägungen. Die Überzeugungskraft des Urteils hängt nicht nur vom erzielten Ergebnis, sondern auch vom Mass der zwischen Ergebnis und Begründung erreichten Übereinstimmung ab,372 also ob eine Einheit von Ergebnis und Begründung besteht.373 Die Urteilsbegründung gilt als gelungen, wenn keine Diskrepanzen bestehen. Eine ausreichende Begründung liegt somit vor, wenn die Voraussetzungen der Verstehbarkeit des Urteils erfüllt sind und ein sachliches Urteil über seine Richtigkeit gefällt werden kann.374 3. Die Urteilsanfechtung Wer mit einer gerichtlichen Entscheidung nicht einverstanden ist, kann durch Einlegen von Rechtsmitteln ihre Nachprüfung verlangen. Die Richtigkeit des Urteils wird überprüft, indem im Rechtsmittelverfahren ein Urteil über dieses Urteil gefällt wird, das selbst den Ansprüchen an ein gutes Urteil genügt.375
365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375
Löffelmann, S. 180. Löffelmann, S. 182. Mittelstrass, Stichwort „Begründung“, Bd. 1, S. 272 f. Mittelstrass, Stichwort „Begründung“, Bd. 1, S. 272. Vgl. Mittelstrass, Stichwort „Begründung“, Bd. 1, S. 273. Mittelstrass, Stichwort „Begründung“, Bd. 1, S. 272. Löffelmann, S. 91. Weitzel, S. 15. Weitzel, S. 15. Löffelmann, S. 178. Vgl. Löffelmann, S. 127.
IV. Die Urteilsmethoden
107
Der Rechtsmittelzweck ist die Herstellung einer richtigen Entscheidung durch die Korrektur von vorinstanzlichen Fehlern.376 Hier soll die Rechtseinheit durch gleiche Anwendung des Rechts gewahrt werden. Ferner soll durch Präzedenzentscheidungen bestehendes Recht klargestellt, bzw. neues Recht geschaffen und so das Recht fortgebildet werden.377 Die Richtigkeitskontrolle liegt somit nicht nur im Interesse der einzelnen Partei, sondern auch im Allgemeininteresse an einer funktionierenden Rechtspflege. Ist die Prüfung im Rechtsmittelverfahren auf Rechtsfragen beschränkt, liegt das öffentliche Interesse der Rechtsvereinheitlichung im Vordergrund. Ziel des Rechtsmittelverfahrens bleibt jedoch, zu einer richtigen Entscheidung des Einzelfalls zu gelangen, denn das Urteil wird nicht von Amtes wegen, sondern nur auf Antrag der Parteien überprüft. Die Interessen der am Rechtsstreit Beteiligten sind also massgebend. Die Forderung nach einem rechtzeitigen Urteil zielt auf ein kurzes Rechtsfindungsverfahren ab, das Gebot eines richtigen Urteils verlangt die umfassende Korrektur von möglichen Fehlurteilen durch eine Rechtsmittelinstanz. Ein rasches Urteil und die Gewährleistung eines richtigen Urteils stehen in einem potentiellen Zielkonflikt, das unterschiedliche prozessuale Gewichtungen erfordert.378 „Ein überlanges Warten auf Gerechtigkeit ist ebenso rechtsstaatswidrig wie der kurze Prozess.“379 Die Nachteile extensiver Rechtsmittelmöglichkeiten sind die höheren Kosten, eine zu lange Prozessdauer und generell die Schwächung der Leistungsfähigkeit des Rechtssystems.380 Die Rechtsverwirklichung steht also dem Rechtsfrieden entgegen. Eine sachgerechte Regelung bedarf der passenden Abwägung zwischen Fall- und Systemgerechtigkeit. Ein Grundrecht auf Überprüfung jedes Urteils besteht nicht. Von der Wortbedeutung her kann Art. 13 EMRK zwar auf Gerichtsurteile bezogen werden, denn diese Norm fordert bei Verletzung der Konvention eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz gegen alle staatlichen Handlungen, unabhängig davon, ob sie von der Exekutive, Legislative oder Judikative vorgenommen worden sind.381 Indes ist nach Lehre und Rechtsprechung anerkannt, dass Art. 13 EMRK kein Recht auf ein Rechtsmittelverfahren verleiht.382 Wie in anderen Ländern, beispielsweise Deutschland und England,383 gibt es in der Schweiz kein generelles verfassungsmässiges Recht auf Rechtsmittel. Art. 29a BV garantiert lediglich, dass dort, wo das Gesetz ein Rechtsmittel vorsieht, die Beurteilung mindestens auf einer Stufe durch ein unabhängiges Gericht erfolgen 376 377 378 379 380 381 382 383
Kinzig, S. 556. Meier, S. 32; Kinzig, S. 558. Kirchhof (1989), S. 439. Kirchhof (1989), S. 439. Kinzig, S. 558. Wetzel, S. 91. Schweizer (2000), Art. 13 EMRK Rn 48, 50, 54, 69, 71; Wetzel, S. 109. Stürner, S. 51 ff.
108
4. Teil: Die Methoden der Rechtswissenschaft
muss.384 Das Erfordernis der Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges gemäss Art. 35 Abs. 1 EMRK besagt nicht, dass solche Beschwerdemöglichkeiten auch vorzusehen sind.385 Nur in Strafsachen besteht gemäss Art. 29 Abs. 3 BV ein verfassungsmässiger Anspruch auf eine zweistufige Gerichtsbarkeit.386 Menschenrechtliche Verträge sehen eine solche Garantie in Strafsachen durch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie des Zusatzprotokolls zur EMRK ebenfalls vor.387 Die Art und Weise der Überprüfung von Strafurteilen ist hier nicht näher ausgestaltet.388 Das verfassungsmässige Recht auf wirksamen Rechtsschutz meint lediglich einen Anspruch auf eine Gerichtsentscheidung in angemessener Zeit.389 Die Rechtsweggarantie bietet also Schutz durch, aber nicht gegen den Richter. Ebenso wenig lässt sich aus dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip ein Anspruch auf eine zweite richterliche Instanz herleiten. Sehen die Prozessgesetze einen Instanzenzug vor, ist es allerdings nicht zulässig, den Zugang zur nächsten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren.390 Trotz dieser eindeutigen Rechtslage lässt sich durchaus die Auffassung vertreten, dass ein Gerichtsverfahren nur dann als fair eingestuft werden kann, wenn wesentliche Entscheide mit einem Rechtsmittel angefochten werden können.391 Jedenfalls ist nicht einzusehen, weshalb verfassungsrechtlich lediglich bei Strafurteilen ein Rechtsmittel und bei einem Freiheitsentzug gemäss Art. 5 Abs. 4 384
Rhinow, S. 458. Wetzel, S. 110. 386 Rhinow, S. 490. 387 Kinzig, S. 583; Art. 2 des Protokolls Nr. 7 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, abgeschlossen in Strassburg am 22. November 1984, von der Bundesversammlung genehmigt am 20. März 1987, Schweizerische Ratifikationsurkunde hinterlegt am 24. Februar 1988, in Kraft getreten für die Schweiz am 1. November 1988, geändert durch das Protokoll Nr. 11 vom 11. Mai 1994 (SR 0.101.07): „Wer von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt worden ist, hat das Recht, das Urteil von einem übergeordneten Gericht nachprüfen zu lassen. Die Ausübung dieses Rechts und die Gründe, aus denen es ausgeübt werden kann, richten sich nach dem Gesetz. Ausnahmen von diesem Recht sind für Straftaten geringfügiger Art, wie sie durch Gesetz näher bestimmt sind, oder in Fällen möglich, in denen das Verfahren gegen eine Person in erster Instanz vor dem obersten Gericht stattgefunden hat oder in denen eine Person nach einem gegen ihren Freispruch eingelegten Rechtsmittel verurteilt worden ist.“ Art. 14.5 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, abgeschlossen in New York am 16. Dezember 1966, von der Bundesversammlung genehmigt am 13. Dezember 1991, Schweizerische Beitrittsurkunde hinterlegt am 18. Juni 1992, in Kraft getreten für die Schweiz am 18. September 1992 (SR 0.103.2): „Jeder, der wegen einer strafbaren Handlung verurteilt worden ist, hat das Recht, das Urteil entsprechend dem Gesetz durch ein höheres Gericht nachprüfen zu lassen.“ 388 Kinzig, S. 586. 389 Kirchhof (1989), S. 451. 390 Vgl. für Deutschland Kirchhof (1989), S. 454. 391 Meier, S. 32. 385
IV. Die Urteilsmethoden
109
EMRK ein Recht aus richterlicher Überprüfung besteht. Zivilurteile können ebenso eine existentielle Bedeutung für den Betroffenen erlangen. Die Bedeutung verfassungsrechtlicher Grundsätze für das Rechtsmittelsystem ist gross. Dazu gehören gemäss Art. 29 f. BV beispielsweise Rechtsweggarantie, effektiver Rechtsschutz, faires Verfahren, rechtliches Gehör, gesetzmässiger Richter oder richterliche Unabhängigkeit. Dieses Verfassungsrecht impliziert den Anspruch, dass dem Rechtsuchenden rechtzeitig eine faire Beurteilung gewährt wird. Der Anspruch auf Rechtsmittelbelehrung hat zwar keinen Verfassungsrang, sondern ergibt sich allenfalls aus gesetzlichen Vorschriften392 und ist de facto üblich. Aus einer fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung darf dem Rechtsuchenden nach Treu und Glauben kein Nachteil erwachsen, sofern die Voraussetzungen des Vertrauensschutzes erfüllt sind.393 Gerichtliche Entscheide werden durch prozessuale Rechtsbehelfe angefochten. Merkmal aller Rechtsbehelfe ist der Korrekturzweck (es soll eine für die Partei günstigere Entscheidung erreicht werden). Dies geschieht durch Kassation (Aufhebung) oder Reformation (Abänderung) des Urteils, was auch davon abhängt, ob die Richtigkeit des Urteilsergebnisses oder des Entscheidungsfindungsprozesses im Vordergrund steht. Charakteristikum des echten Rechtsmittels als eine besondere Art von Rechtsbehelfen ist der Devolutiveffekt (die Streitsache wird an eine höhere Instanz gebracht) sowie der Suspensiveffekt (die Rechtskraft wird gehemmt). Die Prüfung kann neben der richtigen Rechtsanwendung auch die richtige Tatsachenfeststellung umfassen. Die Einlegung eines Rechtsmittels setzt ein Rechtsschutzinteresse voraus, insbesondere, wenn der Rechtsmittelführer durch die angefochtene Entscheidung beschwert ist, seinem Begehren durch die Vorinstanz also nicht voll entsprochen wurde. Für Rechtsmittel gilt das Verbot der reformatio in peius. Der Rechtsmittelführer darf nicht schlechter als in der angefochtenen Entscheidung gestellt werden. Bei jedem Rechtsmittel ist zwischen seiner formellen Zulässigkeit und seiner materiellen Begründetheit zu unterscheiden. Fehlt es an einer Zulässigkeitsvoraussetzung, wird auf das Rechtsmittel nicht eingetreten. Ein Rechtsmittel kann jederzeit zurückgezogen werden. Bei Erfolglosigkeit eines Rechtsmittels hat der Rechtsmittelführer die Kosten zu tragen.
392 393
Vgl. BGE 101 III 97, 97 f. BGE 117 Ia 297, 298.
5. Teil
Die Aufgaben der Rechtswissenschaft I. Die Erkenntnisaufgabe Der Begriff Erkenntnis1 bezeichnet sowohl den Prozess (jemanden erkennen oder erkennen, dass etwas der Fall ist) als auch das Resultat. Dabei geht es im Unterschied zum Glauben um ein Wissen. Der Denkinhalt muss sich in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit befinden. Das Resultat stellt ein objektiv gültiges, begründetes Wissen dar. Indes muss eine gewisse Subjektivität aufgrund der Abhängigkeit der Erkenntnis vom Bewusstsein berücksichtigt werden. Entgegen einer intuitiven oder evidenten Rechtserkenntnis wird bei der wissenschaftlichen eine methodisch und begrifflich aufgebaute, in den systematischem Zusammenhang gestellte Wahrnehmung des Rechts verlangt, deren Inhalt objektiv und allgemeingültig ist. Ausgangspunkt ist die Bestimmung der Merkmale und Eigenschaften der Rechtsnormen sowie deren Beziehungen. Dies geschieht durch Hervorhebung einer Rechtnorm aus vielen mittels Vergleich und Unterscheidung. Ausgangspunkt ist die Zuschreibung einer Bedeutung, die eine Namensgebung und die Aufteilung einer Rechtsnorm in ihre Bestandteile voraussetzt. Auch muss durch Abstrahieren von untergeordneten Merkmalen die Verbindung zu übergeordneten Prinzipien hergestellt werden. Das Synthetisieren von wesentlichen Eigenschaften sowie die Zuordnung zu Klassen gehört ebenfalls dazu. Dadurch wird eine Rechtsnorm so bestimmt, wie es gemäss den Postulaten der Logik geschehen muss. Ihre Gegebenheiten werden vollständig erfasst. Es liegt ein wahres, ihre Beschaffenheit ganz darstellendes Urteil über die Rechtsnorm vor. Daraus erschiessen sich die gesuchten Zusammenhänge, der Norm wird im übergreifenden System ihr Ort zugewiesen. Wissenschaftliche Rechtserkenntnis ist somit das Finden der Wahrheit als Ergebnis denkender Verarbeitung der geltenden Normen. Die Rechtserkenntnis konstituiert insofern eine Rechtswirklichkeit, als sie ideellen Inhalten durch das Zusammenwirken von rationalen, sowohl empirischen als auch apriorischen Kategorien sprachliche Bedeutung verleiht. Sie beinhaltet immer eine Bestimmung des Verhältnisses der Rechtsnorm zum Rechtssystem als Ganzes. Bei der persönlichen Freiheit gelangte das Bundesgericht 1963 zunächst zwar unter Bezugnahme auf die Literatur, aber doch eher intuitiv und evident zur Er1
Vgl. Mittelstrass, Stichwort „Erkenntnis“, Bd. 1, S. 575.
II. Die Erklärungsaufgabe
111
kenntnis, dass es sich um ein geltendes Grundrecht der Bundesverfassung handle, wurde doch im Wesentlichen damit argumentiert, die persönliche Freiheit bilde einen unentbehrlichen Bestandteil der rechtsstaatlichen Ordnung des Bundes. Die endgültige Festlegung des Gehalts beruhte indes offenkundig auf einer wissenschaftlichen Rechtserkenntnis. Die ausschlaggebende Dissertation stellte eine internationale Rechtsvergleichung an und verglich darüber hinaus die Grundrechte der Verfassung mit dem zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutz. Dabei wurde der Zusammenhang erkannt, dass Art. 27 ff. ZGB die Konkretisierung der Wertordnung der Grundrechte und deren Ausstattung mit Drittwirkung sei, so dass aufgrund dieses Systemzusammenhangs der verfassungsrechtliche Schutz nicht weniger weit reichen dürfe als der (zivil)gesetzliche. Das Grundrecht musste logischerweise die Garantie der Integrität des persönlichen Lebensbereichs des Menschen und nicht nur eine körperliche Freiheit umfassen. Somit handelte es sich dabei nicht um ein blosses Rechtspostulat, sondern um das Auffinden einer bestehenden Rechtswirklichkeit.2
II. Die Erklärungsaufgabe Erklärung3 im Sinne eines performativen Sprechaktes (z. B. Kriegserklärung)4 ist bei der wissenschaftlichen Erklärung nicht von Bedeutung. Eine wissenschaftliche Erklärung ist wie jede Erklärung die Antwort auf eine WarumFrage.5 Sie grenzt sich damit von der Antwort auf eine Was-Frage ab, die als Behauptung, Feststellung oder Beschreibung bezeichnet wird.6 Bei Feststellungen, die nicht unmittelbar einleuchten, wie z. B. die Behauptung, „A ist ein Mörder,“ ist eine Begründung allerdings genauso erforderlich.7 „Was“ ist jedoch eine Substanz-Frage, während „warum“ nach den Relationen zwischen Substanzen fragt.8 Erklärungen unterscheiden sich von Beschreibungen also in der Herstellung eines logischen Zusammenhangs.9 Erforscht man die Beziehung zwischen einer Ursache in einem Kausalprozess und einer bestimmten Wirkung, liegt eine Ursachen suchende Warum-Frage vor, indessen erklärungssuchende Warum-Fragen nach Rechtfertigungsgründen und Sinnzusammenhängen suchen.10 Erstere gibt eine kausale (naturwissenschaftliche) Erklärung, derweil letztere eher den Charakter einer (geisteswissenschaftlichen) Interpretation oder 2
Vgl. 4. Teil II. 3. c). Vgl. Mittelstrass, Stichwort „Erklärung“, Bd. 1, S. 579 f. 4 Löffelmann, S. 38. 5 Schurz, S. 225 f. 6 Löffelmann, S. 37. 7 Löffelmann, S. 37. 8 Löffelmann, S. 33. 9 Schurz, S. 224. 10 Schurz, S. 225 f. 3
112
5. Teil: Die Aufgaben der Rechtswissenschaft
Deutung hat, die argumentativ eingelöst werden muss. Insbesondere menschliche und gesellschaftliche Phänomene sind nicht ausschliesslich von Naturgesetzen gesteuert und können deshalb nicht kausal erklärt werden. Es gibt jedenfalls verschiedene Arten von Erklärungen: Neben der genannten Ursachenerklärung sowie der Deutung unterscheidet man Erläuterung (des Gebrauchs von Gegenständen), Wortexplikation (Definition eines sprachlichen Ausdrucks), Motiverklärung (Deutung der Absichten eines Handelnden), deduktiv-nomologische Erklärung (ein Ereignis wird aus einem allgemeinen Gesetz gefolgert bzw. ein Gesetz aus einer übergeordneten Theorie),11 genetische/historische Erklärung (auf einer Normalfallhypothese beruhende Zusammenhänge)12 sowie funktionale Erklärung (Einordnung einer Erscheinung in einen Systemzusammenhang). Finale oder teleologische Erklärungen geben als Gründe Ziele und Zwecke an, rationale Erklärungen dagegen Mittel-Zweck bezogene, nutzenmaximale Absichten.13 Induktiv-statistische Erklärungen14 begründen mit Wahrscheinlichkeiten und hermeneutische Erklärungen mit vorhandenen Vorverständnissen.15 Gemeinsam ist allen Erklärungen, dass immer orientierende Gründe angegeben werden.16 Diese Gründe werden als Fall einer Regel, im Zweck, der Intention, der Entwicklungsgeschichte oder aber der Funktion gesehen. Unbekanntes wird anschaulich auf Bekanntes reduziert oder konstruktiv schrittweise dargelegt. (Einen Sachverhalt erklärt man, indem man ihn auf seine notwendigen Ursachen oder auf ein Gesetz zurückführt.) Damit erfolgt die Einordnung in einen Zusammenhang, was aufgrund der zugrunde liegenden Objektivierung die rationale Aneignung der Wirklichkeit oder Finden der Wahrheit ermöglicht. Erklärungen bleiben jedoch blosse Annäherungen. In der Wissenschaft gibt es keine absoluten Letzterklärungen, jede Erklärung muss irgendetwas Unerklärtes voraussetzen. Erklärungen basieren häufig auf blossen Annahmen.17 Die Rechtsphänomenologie sucht mit der Beschreibung und Darstellung des praktizierten Rechts auch nach ihren Ursachen. Die Rechtswissenschaft zielt damit zunächst auf eine historische und funktionale Erklärung ab. Im Rahmen der oben als rekonstruktiver Akt definierten Norminterpretation erfolgt eine Analyse der historischen, systematischen und internationalen Normgehalte zusammen mit ihren rechtsphilosophischen und -soziologischen Dimensionen. Dieser Vorgang stellt sich als hermeneutische Erklärung der Bedeutungsgehalte dar. Bei diesen Formen der Suche nach Sinnzusammenhängen handelt es sich nicht, wie in der Naturwissenschaft, um nomologische Erklärungen, selbst wenn sich mit11 12 13 14 15 16 17
Schurz, S. 223 und S. 225. Vgl. Schurz, S. 235 f. Schurz, S. 236. Vgl. Schurz, S. 230 f. Löffelmann, S. 35. Löffelmann, S. 35. Löffelmann, S. 149.
III. Die Darstellungsaufgabe
113
unter verallgemeinernde Rekonstruktionen aufstellen lassen. Vorrangig geht es um spezifische Verstehensleistungen, die ein allgemeines rechtswissenschaftliches Vorverständnis voraussetzen. Ausgehend von der Unterstellung ihrer Rationalität18 soll die Norm durch ihre Rückführung auf das eigene Denken als Ergebnis begrifflich rekonstruierbarer Entwicklungen erklärt werden. Ein solcher Verstehensbegriff steht auch bei der Erklärung ergangener Gerichtsurteile im Vordergrund. Auch hier geht es um die Suche nach einer eigenen Darstellungsmöglichkeit, die sich in der Frage konkretisiert, ob ein Urteil unserer Überzeugung nach gerechtfertigt ist. Dieses Verständnis hängt allerdings eng mit einer nomologischen Erklärung zusammen, da einem Gerichtsurteil immer ein deduktiver Schluss zugrunde liegt. Verlangt eine naturwissenschaftliche Erklärung eines speziellen Sachverhaltes seine Ableitung aus anerkannten theoretischen Sätzen (oder zumindest Gesetzeshypothesen), lassen sich die rechtswissenschaftlichen Erklärungen unterscheiden in: Eine Rückführung auf das eigene rational-begriffliche Denken (begrifflichmachen), in die Einordnung als Teil oder Ausnahme eines allgemeinen Zusammenhangs, ferner in das Ableiten aus Prinzipien sowie in die Darstellung der Entstehungsweise. Dadurch gelingt es auch der Rechtswissenschaft, untersuchte Phänomene in einen umfassenden theoretischen Kontext einzuordnen und so zu erklären, wie sich die gesuchten Zusammenhänge in einer allgemeinen Aussage erschliessen. Die unterschiedliche Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Grundrecht der persönlichen Freiheit lässt sich zuerst mit den veränderten gesellschaftlichen Problemstellungen erklären.19 Das Gericht musste auf neue Technologien wie Blutprobe, Vaterschaftstest oder Gentechnologie eine Antwort finden, so dass eine Erweiterung des Schutzes von der Bewegungsfreiheit auf die körperliche Integrität erfolgte. Die Rechtsprechung muss also historisch erklärt werden. Zum anderen wurde für die Deutung des Satzes „die persönliche Freiheit ist gewährleistet“ im wesentlichen eine rechtssystematische und -vergleichende Rechtfertigung herangezogen, die durch Verweis auf diese Sinnzusammenhänge erfolgte, basierend auf ihre Begrifflichmachung in der wissenschaftlichen Literatur. Die Norm wurde aus dem Prinzip der persönlichen Integrität abgeleitet und fand somit dort ihre Erklärung.
III. Die Darstellungsaufgabe Das Recht wird in sprachlichen Zeichen dargestellt. Recht ist mittels narrativen Charakters der Sprache immer Darstellung.20 Gemeint ist entweder der 18 19 20
Schurz, S. 244 f. Vgl. 4. Teil II. 3. c). Broekman, S. 162.
114
5. Teil: Die Aufgaben der Rechtswissenschaft
Vollzug einer Darstellungshandlung oder ihr Ergebnis als dinglicher Gegenstand. Alle Eigenschaften können nicht dargestellt werden, die Darstellung beruht auf einer Abstraktion, die auch vom Darstellungsinteresse abhängig ist. Eine Darstellung nimmt Bezug auf etwas ausserhalb ihrer selbst, (auf das Dargestellte) und erlangt somit Bedeutung. Ausser dieser Beziehung zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten (Semantik) lässt sich jene zwischen den Zeichen selbst (Syntaktik) oder zwischen dem Zeichen und seinem Verwender (Pragmatik) untersuchen.21 Darstellung muss speziell produziert und rezipiert werden und hat damit immer einen persönlichen Bezug auf ihre Verwender. Sie ist also zusammenhangbildend, versehen mit einem Sach- und Personenbezug. Der wissenschaftlichen Darstellung kommt die Aufgabe zu, die systematischen Bezüge aufzuzeigen. Bei der Systemdarstellung geht es also nicht um eine blosse übersichtliche Anordnung, sondern um das Aufzeigen von Zusammenhängen und letztlich um die Gliederung unter eine Idee. Das Recht soll umfangmässig vollständig, bezüglich seines Inhalts klar und deutlich sowie hinsichtlich der Begründung stringent und plausibel dargestellt werden. Damit soll die Lösungstauglichkeit erhöht werden. Ausdruck findet das Rechtssystem zunächst in der planmässigen Darstellung der Rechtsnormen nach Ordnungsprinzipien, was als Klassifikation bezeichnet wird.22 Die Ordnung der Normen (Elemente einer Menge) wird anhand bestimmter Kriterien vorgenommen, es erfolgt eine Einteilung in Klassen oder Typen. Ziel einer solchen Systematik ist es, eine analytische Übersicht über die darin geordneten Normen zu geben. Eine fundamentale Systematik folgt der Klassifikation in Privatrecht, öffentliches Rechts und Strafrecht, die sich als eigenständige Fachgebiete etabliert haben. Über die Herstellung einer deutlichen und vollständigen Ordnung hinaus ist das Ziel der Wissenschaft die eigentliche Systemdarstellung des Rechts. Um sich einen Begriff vom Gegenstand zu machen, geht man mit dem Begründungsgedanken des Systems an die Rechtsnormen heran. System ist deshalb nicht nur Ziel, sondern auch Voraussetzung (Inhalt, worauf man sich stützt) und Methode (Form des Ordnens als normiertes Darstellungsverfahren). Eine solche Darstellung setzt ein Bezugssystem voraus. Damit wird die Einheit der Rechtsnormen unter eine Idee erreicht und das Recht als Ganzes mit einem definiertem Wesen erschlossen. Das verlangt die Defintition eines leitenden Systembegriffs. Diese Anschauung a priori heisst, dass die Darstellung eigentlich eine Art Konstruktion des Rechts ist, wodurch ihre wahre Ordnung allerdings erst sichtbar gemacht wird. Darstellung meint also, das Recht zur vollen Anschaulichkeit zu bringen, methodisch zu entwickeln und in Worten (Zeichen) vollständig ausdrücken. Die Darstellung ist nicht
21
Vgl. Mittelstrass, Stichwort „Darstellung (semiotisch)“, Bd. 1, S. 426 f. Analytische Klassifikation geht vom Allgemeinen zum Besonderen; Synthetische Klassifikation vom Besonderen zum Allgemeinen. 22
III. Die Darstellungsaufgabe
115
nur schematisch, sondern mit dem Herausarbeiten der wesensmässigen, inneren Beschaffenheit des Rechts auch symbolisch. Darstellung ist Formulierung der gewonnenen Erkenntnis und soll dem Rechtsbegriff Anschaulichkeit geben, sie ist die fassbare Mitteilung eines vorher intuitiv aufgefassten Wesens. Das Recht als Gegenstand der Rechtswissenschaft soll als System dargestellt werden. Das Zusammenstellen bezeichnet den Vorgang, die vorhanden Normen in eine Ordnung einzufügen. Das erforderliche Bezugssystem ist ein systematisch-gegliedertes und systematisch-zusammenhängendes aus unmittelbar einsichtigen Systemprinzipien systematisch-hergeleitetes Ganzes. Die Systemprinzipen beruhen auf einem Systemideal, das zur Selbstbegründung und -rechtfertigung dient. Ideal ist das Ethos der Person. Jede Norm ist unter der Voraussetzung zu verstehen, dass die Achtung der Person gewahrt ist. Die Systemprinzipien begründen ferner als objektive Ordnung den erforderlichen widerspruchsfreien Entdeckungs-, Rechtfertigungs- und Begründungszusammenhang des darzustellenden Systems. Die Darstellung ist vom Zweck bestimmt, Prognosen über das zukünftige Verhalten der Rechtsnormen (d.h. ihre möglichen Eigschaften respektive ihren Normgehalt in einer spezifischen Situation) zu machen. Eine solche Entwicklung einer eigenen Darstellungsmöglichkeit bedeutet ein besseres Verstehen des Rechts. Die Darstellung ist also ein Verstehensmodell, in das alle weiteren Erkenntnisse ebenfalls integriert werden. Im Ergebnis liegt ein Text vor, welcher das Recht ausdrücklich als System begreift. Das Recht kann auch als Modell dargestellt werden (Modelldarstellung der Realität). Der Darstellungsmodus ist ein reduziertes Abbild des Rechts, mit dessen Hilfe Aussagen über Eigenschaften des Systems in bestimmten Situationen gemacht werden sollen. Ein mögliches Modell des Rechts ist das der dreidimensionalen molekularen Struktur. Die Rechtsnorm (Molekül) besteht typischerweise aus zwei zusammenhängenden Teilen (Atomen), nämlich einem Tatbestand und einer Rechtsfolge.23 Es gibt auch Rechtsnormen, die aus einem einzigen Element aufgebaut sind, die meisten Rechtsnormen weisen aber eine binäre Struktur auf. Einen etwas größeren Verbund von Rechtsnormen nennt man Gesetz (Cluster). In der Rechtsnorm halten die verbundenen Teile über eine Implikation, die „wenndann“-Formel, zusammen.24 Tatbestand und Rechtsfolge bestehen aus Informationen mit einer intuitiv erfassbaren Wortbedeutung als Kern. Die Hülle stellt ihre weitere Bedeutung dar. Unbestimmte Rechtsnormen können mit Kationen verglichen werden. Bei ihnen ist der Geltungsbereich (Radius) grösser. Ferner sind sie dort von Bedeutung (sie „wandern“ zum Ort), wo eine Reaktion mit anderen Normen stattfindet. Dort werden Informationen aufgenommen. Das Be23
Zum Aufbau der Rechtsnorm vgl. Rüthers, S. 95 ff. Die Unterscheidung in Verbote, Gebote und Erlaubnisse ist nicht struktureller, sondern sprachlicher Art. A. M. Philipps, S. 320 ff. 24
116
5. Teil: Die Aufgaben der Rechtswissenschaft
streben der Normen, eine Bindung einzugehen, hängt von ihrer Affinität ab, die eine Folge ihres Geltungsbereichs und des Informationsgehaltes, aber auch der charakteristischen Eigenschaften, ist. Zwischen den Rechtsnormen wirken verschiedenen Kräfte, die ihre Eigenschaften mitbestimmen. Die Rechtsnormen können sich so zu hoch komplexen (polymeren) Verbindungen zusammenfinden. Ihr Aufbau muss in einer Strukturformel beschrieben werden. Je nach Ebene kann man von der Primärstruktur (Verfassungsebene), der Sekundärstruktur (Gesetzesebene), und der Tertiärstruktur (Verordnungsebene) sprechen.
IV. Die Prognoseaufgabe Die Prognose25 ist ein wesentliches Ziel wissenschaftlicher Tätigkeit. Die Voraussicht ermöglicht es, das gegenwärtige Handeln auf zukünftige Entwicklungen einzustellen. In der Naturwissenschaft wird aus zahlreichen Einzelbeobachtungen durch Induktion auf eine Allaussage in Form einer Hypothese geschlossen. Diese Gesetzeshypothese wird insofern falsifiziert, als aus ihr eine Prognose gefolgert wird, die anschliessend im Experiment überprüft wird. Fällt das Experiment entsprechend der Vorhersage aus, hat sich die Hypothese als empirisches Gesetz bewahrheitet, andernfalls muss die Hypothese verworfen werden. Diese experimentelle Methode gehört zum Kern der naturwissenschaftlichen Vorgehensweise. Die Gesetzeshypothese als Voraussetzung ist gleichzeitig eine nomologische Erklärung. Erklärung und Prognose empirischer Tatbestände sind somit verwandt. Beide basieren auf dem gleichen logischen Schema und stützen sich auf die Allaussage eines Gesetzes oder einer Gesetzeshypothese. Eine Prognose unterscheidet sich von einer Erklärung lediglich durch ihre Stellung im logischen Gefüge. Bei der Prognose nimmt die Aussage eines ungewissen (real möglichen, bisher aber nicht bekannten) Sachverhaltes im logischen Schluss die Stelle der Schlussfolgerung ein, während sie bei der Erklärungshypothese (Aussage über die möglichen Ursachen eines bekannten Sachverhaltes) die Prämisse bildet. Jede Prognose ist deshalb eine mögliche Erklärung und umgekehrt. Die Erklärung, warum das Eintreten eines Ereignisses zu erwarten war, ist die Grundlage der Prognose dieses Ereignisses. Bei der wissenschaftlichen Prognose beruht die Voraussage eines Phänomens immer auf einer Kausalität und stützt sich jedes Mal neben gewissen Randbedingungen auf eine Allaussage (Gesetz zur Prognose eines Einzelereignisses oder Theorie zur Prognose eines noch nicht entdeckten Gesetzes), als dessen logischen Schluss sie abgeleitet wird. Dadurch grenzt sich die Prognose als ra-
25
Vgl. Mittelstrass, Stichwort „Prognose“, Bd. 3, S. 350 ff.
IV. Die Prognoseaufgabe
117
tionale Voraussage von einer Wahrsage ab.26 Das vorhergesagte Einzelereignis folgt zeitlich den vorausgesetzten Umständen und dem Zeitpunkt der Vorhersage, während das vorausgesagte Gesetz keinen bestimmten zeitlichen Bezug aufweist. Prognose kann jedoch nicht mit einer exakten Vorhersage von Zukünftigem gleichgesetzt werden, zumal die Schlussfolgerungsvoraussetzungen vielfach in bloss wahrscheinlichen Annahmen und keinen Gewissheiten gründen.27 Eine Prognose lautet deshalb vielfach, „Angenommen, etwas wäre so, dann wäre dies der Fall“.28 Der Wert einer Prognose hängt somit im Wesentlichen davon ab, wie sicher die Prämissen beschaffen sind. Die Prognose kann deshalb zutreffend auch als Urteil über den Erklärungswert einer Erklärung qualifiziert werden.29 Für den Juristen geht es ebenfalls um die Vorhersage von Einzelereignissen auf Grund allgemeiner Gesetze, nämlich um die Prognose, wie ein Gericht einen bestimmten Sachverhalt rechtlich, d.h. nach Gesetz, beurteilen wird. Das Abschätzen der Prozesschancen macht besonders für den Rechtsanwalt einen wesentlichen Bestandteil seiner beruflichen Tätigkeit aus. Die Prozesschancen sind Teil der wissenschaftlichen Indikation einer beruflichen Massnahme. Erst gestützt darauf kann zu einer Klage geraten oder davon abgeraten respektive auf einen Vergleich hingearbeitet, also das eigene berufliche Handeln ausgerichtet werden. Die logische Schlussfolgerung des Syllogismus macht bei einem Gerichtsurteil allerdings nur einen kleinen Teil aus. Die Prognose eines Gerichtentscheides beruht immer auf einer Annahme, ob ein bestimmter Sachverhalt sich auch den Erwartungen gemäss beweisen lässt. Ihr liegt deshalb bereits die hypothetische Aussage, „Wenn dieser Sachverhalt bewiesen ist, dann wird das Gericht so entscheiden“ zugrunde. Ein Gerichtsurteil basiert ferner vielfach auf einer Wertung nach ethischen Prinzipien (z. B. bei der Prüfung, ob der Täter mit einer verwerflichen Gesinnung handelte). Ein Gerichtsurteil wird somit nicht von objektiven Kriterien der Logik und dem Gesetze allein beherrscht und ist demzufolge wegen der auf Annahmen und Wertungen beruhenden unsicheren Prämissen nur schwierig prognostizierbar. Die Notwendigkeit der Voraussage aufgrund von Wahrscheinlichkeitsannahmen und hypothetischen Aussagen ist nicht der einzige Unsicherheitsfaktor. Unklar ist mitunter auch die Auslegung der Gesetze selbst. Die Förderung der Kohäsion des Rechts durch die Rechtswissenschaft führt aufgrund von eindeutigeren Auslegungsergebnissen auch zur Schaffung einer besseren Voraussehbarkeit eines Individualurteils. Die praktische Bedeutung der Rechtswissenschaft liegt also im Erreichen einer gültigen Prognose einer Rechtsentscheidung. Die Rechtswissenschaft muss vorhersagend 26 27 28 29
Vgl. Löffelmann, S. 152. Vgl. Löffelmann, S. 155. Löffelmann, S. 151. Löffelmann, S. 154.
118
5. Teil: Die Aufgaben der Rechtswissenschaft
wirken und hat demnach eine Vermittlungsfunktion zwischen Rechtsetzung und Rechtsentscheidung inne.30
V. Die Lenkungsaufgabe Die Rechtswissenschaft muss die vom Gesetzgeber vielfach zusammenhanglos erlassenen Rechtsnormen auf ein System hin lenken sowie lenkend auf dieses System einwirken. Dadurch sollen dessen Eigenschaften und Strukturen so verändert werden, dass das System sowohl das Widerspruchsfreie und Folgerichtige als auch das Ganze und in sich Geschlossene eines immantenten Begründungszusammenhangs erhält. Dazu müssen die externen Entstehungs- und Verwendungszusammenhänge erschlossen werden. Dieses Konzept setzt eine Zielbestimmung sowie geeignete Mittel und Wege zur Zielerreichung voraus. Wegen der Rückkopplung handelt es sich indes nicht um eine blosse lineare Kausalität einer Steuerung. Bei der Lenkung eines komplexen Systems wie dem Recht muss die Reaktion des mitbeteiligten sozialen Systems berücksichtigt werden, das nicht blosses Objekt ist, sondern seinerseits aus Handlungssubjekten (Gesetzgeber, Richter, Anwälte, Rechtsunterworfenen etc.) besteht. Erst durch die Berücksichtigung von rückgekoppelten Wirkungszusammenhängen können im System Recht Steuerungsprozesse effektiv realisiert werden. Das Rechtssystem als gleichzeitiges Steuerungsobjekt und Lenkungsziel gründet auf der Bestimmung eines Axioms des Rechts (absolute Letztbegründung), durch das den Rechtsnormen ein Geist (mens) eingehaucht wird. Hinzukommen muss die Erkenntnis der Rechtsprinzipien sowie die Einsichten aus ihnen. Durch eine solche Einheit des materialen Prinzips sowie der formalen und materialen Strukturen lassen sich Aussagen mit Wissenschaftsanspruch machen, bzw. Aussagen auf ihre Wissenschaftlichkeit hin überprüfen. Wissenschaft meint hier den widerspruchsfreien Zusammenhang methodisch gebildeter Aussagen. Dieses teilweise vorgegebene, zugleich formale und materiale Prinzipiengefüge macht die immanente Struktur des Rechtssystems aus, dessen organisierende Lenkungsinformationen die Rechtsnormen beeinflussen und in ein äusseres System überführen. Das Recht umfasst somit zwei dynamische Systeme, die zusammen eine Steuerkette bilden. Das gesteuerte äussere System wirkt auf das steuernde innere System zurück. Diesem inneren und äusseren Rechtssystem gelingt es sodann mittels induktiver oder deduktiver logischer Ableitung und Signifikanz, Rechtsnormen zu produzieren, zu vermitteln und zu verbessern. Der Vorgang der Rechtsanwendung wird somit zwar nicht determiniert, aber qualitativ stark beeinflusst. Die Rechtswissenschaft kontrolliert Kausalbedingungen für die zu steuernde Rechtsanwendung. Die Gesetzmässigkeiten dieses Lenkungsprozesses müssen durch die Rechtswissenschaft untersucht und Typen von 30
Vgl. Neumann (2004), S. 398.
V. Die Lenkungsaufgabe
119
Lenkungsprozessen bis hin zu den einzelnen Wechselwirkungen oder anderen Wirkungszusammenhängen definiert werden. Es gilt auch zu untersuchen, welche weiteren (mitunter fehlerhaften) Einflüsse auf die Funktionsweise des Systems einwirken. Durch Abstraktion kann die Komplexität des Prozesses vereinfacht werden. Die Lenkungsaufgabe (dazu gehört, Fehler der anderen in der Rechtsverwirklichung zu diagnostizieren), setzt ein das Recht durch Explizierung entdeckendes (forschendes) Handeln voraus. Ziel ist die Erkenntnis eines gültigen, wissenschaftlich haltbaren, d.h. auf Transsubjektivität und Universalisierung beruhenden Rechts. Die Rechtswissenschaft ist normierend und wirkt selbst regulativ. Sie bestimmt mit, was als Recht gilt. Indem die Rechtswissenschaft einen Bestandteil des Wissenschaftsobjekts bildet, stellt sie einen wesentlichen Faktor der Rechtswirklichkeit dar. Die Rechtswissenschaft ist eine normative Wissenschaft des Normativen und ist sowohl normbeschreibend als auch normsetzend. Die Rechtswissenschaft übte auf die Handhabe des Grundrechts der persönlichen Freiheit eine lenkende Wirkung aus.31 Bei der Ausweitung des Schutzes von der Bewegungsfreiheit zur körperlichen Freiheit und schliesslich auf die persönliche Integrität spielten rechtswissenschaftliche Erkenntnisse eine massgebliche Rolle. Schon früh wurde von der Wissenschaft unter Bezugnahme auf die Entstehungsgeschichte die Auffassung vertreten, die Freiheitsrechte bildeten ein lückenloses System und die Aufzählung in der Verfassung könne nur als beispielhaft angesehen werden. Das Verfassungsrecht werde durch die Positivierung nicht geschaffen, sondern bloss anerkannt. Es würden auch all jene Grundrechte gelten, die den materiellen Rechtsstaat konstituierten. Zur Lenkung der Verfassungsrechtsprechung wird somit auf das materiale Grundprinzip des Rechtsstaates und des Axiom des Rechts verwiesen. Diese Meinung fand 1963 mit der Anerkennung der persönlichen Freiheit als ungeschriebenes Grundrecht der Bundesverfassung Eingang in die Rechtsprechung. Die persönliche Freiheit sei die Voraussetzung für die Ausübung aller anderen Freiheitsrechte und bilde einen unentbehrlichen Bestandteil der rechtsstaatlichen Ordnung des Bundes. Für die weitere Ausweitung zum Schutz der persönlichen Integrität wurde auf die wissenschaftliche Auffassung Bezug genommen, welche aus dem Persönlichkeitsrecht von Art. 27 ff. ZGB durch induktive Verallgemeinerung ein allgemeines Prinzip abstrahierte, dass über das Privatrecht hinaus das ganze Rechtssystem und damit auch das Verfassungsrecht beherrscht. Die Erkenntnis aus diesem Prinzip war die Neufestlegung des Grundrechts der persönlichen Freiheit, was im Endeffekt die Bildung einer neuen Rechtsnorm aus dem Systemzusammenhang darstellt. Die Rückkopplung durch die wissenschaftliche Kritik sowie Berücksichtigung der sozialen Wirkungen führte schliesslich zur Einschränkung 31
Vgl. 4. Teil II. 3. c).
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5. Teil: Die Aufgaben der Rechtswissenschaft
des Grundrechts auf elementare Formen der Persönlichkeitsentfaltung. Dadurch wird der fehlerhafte Einfluss korrigiert, der die Auffassung eines Hauptfreiheitsrechts einer allgemeinen Handlungsfreiheit vertritt. Die neue, kohärente Konzeption fand schliesslich Eingang in eine detaillierte Neufassung. Dieses Beispiel zeigt die offene Lenkung des Rechtssystems und Beeinflussung der Rechtsprechung durch die Wissenschaft. Auch die Rückwirkung der sozialen Systeme zur Beseitigung störender Einflüsse wird aufgezeigt. Massgebend zur Festlegung der Norm war die Analyse der Systemstrukturen und die Prinzipienbildung eines inneren Rechtssystems.
6. Teil
Die Auswirkungen der Rechtswissenschaft I. Der wissenschaftliche Erkenntnisstand Wissenschaft ist ein dynamischer Prozess,1 dessen Momentaufnahme zum gegenwärtigen Zeitpunkt als aktueller Erkenntnisstand bezeichnet werden kann. Aufgrund seiner Publikation ist der Erkenntnisstand einschlägig bekannt und öffentlich zugänglich. Er lässt sich somit ermitteln und durch Zitate belegen. Der Stand der Wissenschaft ist die Summe derjenigen wissenschaftlichen Erkenntnisse, auf denen die Fortentwicklung der Wissenschaft basiert.2 Er beruht somit auf Leistungen der Vergangenheit3 und wird von der wissenschaftlichen Gemeinschaft als Grundlage ihrer weiteren Arbeit betrachtet, bis diese Aussagen durch neue Erkenntnisse überholt sind. Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse können im Widerspruch zum aktuellen Erkenntnisstand treten. Da sich neue Erkenntnisse nur allmählich durchsetzen und die allgemeine Anerkennung erst an Ende eines Prozesses erfolgt, müssen verschiedene Stadien oder Hierarchiestufen unterschieden werden. Was die Zustimmung aller anderen geniesst, ist der allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft oder die herrschende Meinung. Sie lässt sich von der (zunächst) unbeachtlichen Aussenseitermeinung unterscheiden. Beim allgemein anerkannten Stand liegt der Akzent auf dem Allgemeingültigkeitsanspruch. Es handelt sich um Erkenntnisse, die zu den feststehenden theoretischen Grundlagen der Wissenschaft gezählt werden und sich in der Praxis bewährt haben. Sie sind präzise definiert und nicht nur Spezialisten, sondern der gesamten wissenschaftlichen Gemeinschaft durchwegs geläufig. Eine Abweichung verlangt eine eindeutige Widerlegung durch gesicherte neue Erkenntnisse. Für den Berufspraktiker stellt der allgemein anerkannte Stand der Wissenschaft eine Minimalanforderung dar, bei seiner Nichteinhaltung liegt eine mangelhafte Erfüllung vor. Dagegen bezieht der neueste Stand der Wissenschaft den aktuellen Erkenntnisfortschritt oder Forschungsstand ein. Er weist somit noch keine langjährige Praxis auf und ist womöglich zunächst nur Experten bekannt. Immerhin muss er nach Auffassung führender Fachleute als theoretisch richtig erkannt sein.4 Wie beim Stand der Technik5 kann auch hier ein 1 2 3 4
Vgl. Poser, S. 135. Lohse, S. 105. Poser, S. 1. § 906 BGB.
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6. Teil: Die Auswirkungen der Rechtswissenschaft
imaginärer Experte als Massstab angenommen werden, der über alle Vorgänge, Veröffentlichungen und Thesen seines Fachgebiets Bescheid weiss. In der Rechtswissenschaft behauptete sich ausgehend von der Autorität der Kommentarliteratur und ihrer Verfasser lange die Lehre der communis opinio doctorum, in welcher detailliert dargelegt wurde, wann eine herrschende Meinung vorlag und unter welchen Umständen ihr gefolgt werden musste. Sie hatte jedenfalls die Vermutung der Richtigkeit für sich und stellte das wichtigste juristische Argument dar.6 Dem Autoritätsargument kommt noch heute eine überragende Bedeutung zu. Noch immer gilt der Topos ab autoritate als der häufigste im Recht.7 Für die Rechtsprechung besteht bezüglich „bewährter Lehre“8 allerdings keine Befolgungs-, sondern lediglich eine Berücksichtigungs- und Auseinandersetzungspflicht.9 Dabei spielt weder die Zahl noch das Ansehen der Befürworter einer Ansicht eine Rolle. Entscheidend ist die sachliche Überzeugungskraft.10 Eine Abweichung von der herrschenden Meinung als Stand der Rechtswissenschaft setzt ihre Kenntnis voraus. Ferner müssen die geltenden methodischen Kriterien eingehalten werden. Ein neuer rechtswissenschaftlicher Vorschlag verlangt ausser der Einsicht in die anderen rechtswissenschaftlichen Postulate eine Kenntnis des positiven Rechts und des Gewohnheitsrechts, der Rechtsprechung, der Modelle fremder Rechte, der rechtshistorischen Muster sowie der gesetzgeberischen Projekte im entsprechenden Bereich.11 Zu prüfen ist ferner, ob der in Frage kommende Vorschlag ein Erkenntnisfortschritt, eine Axiomannäherung oder ein Effizienzfortschritt bedeutet. Ein Erkenntnisfortschritt liegt vor, wenn das Postulat die Erfassung des bestehenden Rechtssystems erleichtert, verbessert oder vertieft. Solches kann beispielsweise durch die Formulierung eines neuen Rechtsprinzips geschehen. Als Beispiel dafür ist die Entdeckung des Rechtsgrundes als iusta causa traditionis zu nennen.12 Von einer Axiomannäherung kann gesprochen werden, wenn das Rechtssystem ihren Grundprinzipien wie Gerechtigkeit, Menschenwürde, Erwartungssicherheit oder Rechtsfrieden näher gebracht wird. Ein Beispiel für mehr Erwartungssicherheit ist der Schutz des Konsensualvertrags ex fide bona ohne Einhaltung der Formstrenge früherer Zeiten.13 Zu einem erhöhten Schutz der Menschenwürde trugen etwa die Schrift „Cautio Criminalis“ von Friederich Spree von Langenfeld aus dem Jahre 1631 sowie die Dissertation von 1705 unter Christian Thomasius, 5
Vgl. BGE 114 II 82, 85: „durchschnittlich gut ausgebildete Fachleute“. Schröder (2001), S. 46 ff. 7 Schröder (2001), S. 48. 8 Art. 1 Abs. 3 ZGB. 9 Hausheer/Jaun, Art. 1 ZGB N 275. 10 Hausheer/Jaun, Art. 1 ZGB N 272. 11 Vgl. Parthey, S. 385. 12 Wesel, S. 191. 13 Vgl. Wesel, S. 213; actio empti, actio venditi. 6
I. Der wissenschaftliche Erkenntnisstand
123
„De tortura ex foris Christianorum proscribenda“14 bei, die sich gegen den Einsatz der bis anhin üblichen Folter wandten.15 Zur Steigerung der Konfliktlösungseffizienz gehört beispielsweise die Durchsetzung des öffentlichen Strafrechts im Gegensatz zum Privatstrafrecht.16 Zu berücksichtigen bleibt selbstverständlich, dass das Recht als kontingentes System mit seiner veränderlichen Gesetzgebung und Rechtsprechung eine dynamische Vorgabe für die Rechtswissenschaft darstellt und deshalb eine ständige Anpassung erforderlich macht. Der Stand der Wissenschaft verändert sich somit als Reaktion auf äussere soziale und politische Umstände. Rechtswissenschaftliche Aussagen sind im besonderen Mass historisch bedingt. Beispielsweise ist Hugo Grotius’ Einführung des Begriffs ius gentium als Recht zwischen rechtspersönlichen Staaten und damit als eigentliches Völkerrecht17 vor dem Hintergrund der Veränderung der mittelalterlichen Reichsidee im Zuge der Reformation zu sehen. Andererseits weisen die wissenschaftlichen Grundlagen, verkörpert in den Rechtsprinzipien und Rechtsinstituten, eine hohe Konstanz auf. Die Unterscheidung zwischen der römischen actio in rem und der actio in personam ist als solche zwischen dinglichem/absoluten und persönlichem/relativen Recht für das heutige Privatrecht nach wie vor massgebend, ebenso der Eigentumsbegriff (dominium) im Unterschied zum Besitz (possessio).18 Andere grundlegende Probleme, die über lange Zeit strittig waren, erweisen sich heute als obsolet. Dazu gehört die Frage, wie sich römisches und einheimisches Recht verbinden sollen.19 Dieses Beispiel zeigt, wie geschichtliche Veränderungen selbst fundamentale Fragestellungen beeinflussen können. Der Vorstellung eines andauernden Wissensfortschritts liegt das Deutungsschema von Mutation und Selektion zugrunde, bei der sich schliesslich eine Sicht als massgebend durchsetzt.20 Bei einem wissenschaftlichen Problem können bestimmte Fragen durch das vorhandene Wissen zwar (noch) nicht beantwortet,21 aber immerhin bereits gestellt werden. Es ist möglich, einen Sachverhalt zu beschreiben. Genügt es, bereits bestehendes Wissen auf neue Sachverhalte anzuwenden oder kann fehlendes Wissen aus dem Erkenntnisstand abgeleitet werden,22 liegt lediglich eine lösbare Aufgabe vor. Dies gilt auch, wenn sich ein Gesamtproblem in mehrere bewältigbare Teilprobleme aufteilen 14
Über die Verbannung der Folter aus den Gerichten der Christen. Wesel, S. 398 ff.; am 3. Juni 1740 wurde die Folter von Friedrich II. für Preussen aufgehoben. 16 Vgl. Wesel, S. 332. 17 Wesel, S. 370; zur Bedeutung von Grotius vgl. Wieacker, S. 289 ff. 18 Wesel, S. 187. 19 Wesel, S. 364, Statutentheorie oder usus modernus pandectarum. 20 Poser, S. 137. 21 Parthey, S. 384. 22 Parthey, S. 383. 15
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6. Teil: Die Auswirkungen der Rechtswissenschaft
lässt. Ein Erklärungsproblem besteht erst bei einer fehlenden Voraussetzung zur Lösung.23 Hier muss neues Wissen gewonnen werden. Im Ergebnis findet eine progressive Problemverschiebung statt.24 Wissenschaft kann deshalb unter dem Aspekt der Wissenserweiterung auch als die methodische Lösung von Erkenntnisproblemen verstanden werden.25 Das Fragen treibt die Wissenschaft voran. Diese Evolution darf nicht behindert werden, indem die Wissenschaft auf einen gegenwärtigen Stand festgeschrieben wird, wie es beispielsweise im Zitiergesetz des Kaiser Theodosius 426 n. Chr. zum Ausdruck kommt.26 Jede Anregung ist vorurteilsfrei zu prüfen, sie könnte sich als richtungweisend herausstellen.
II. Die wissenschaftliche Sorgfalt Sorge ist zunächst ein Gefühl der Angst. Daraus folgt die Mühe für das Wohlergehen eines Gutes und der Wille zur Beseitigung der Bedrohung. Aus dem in Sorge oder bekümmert sein folgt ein Sorge tragen oder sich kümmern und schiesslich ein Sorgen im Sinne von bewirken. Man erkennt die Gefahr für den Erhalt eines Gutes, nimmt die Pflichten für dessen Gedeihen auf sich und richtet sein Verhalten darauf. Die Gefahrenerkenntnis setzt Aufmerksamkeit voraus und führt zu einem Risikobewusstsein, während die Verhaltensanpassung eine Überzeugung vom notwendigen Verhalten sowie eine Fähigkeit dazu erfordert. Achtsamkeit, Gewissenhaftigkeit und Fähigkeit sind also Teil der Sorgfalt. Das Ergebnis der Hingabe ist eine das Gut bewahrende Handlung. Sorgfalt wird somit zum Synonym von ordnungsgemässem, gründlichem und besonnenem Vorgehen, so dass mit einem erforderlichen Mass an Sorgfalt gehandelt wird. Sie weist damit auf das latenische diligentia hin, das neben Sorgfalt auch Gewissenhaftigkeit, Aufmerksamkeit und Umsicht bedeutet. Sorgfalt steht im Gegensatz zur Nachlässigkeit oder Unkonzentriertheit (was rechtlich als Fahrlässigkeit bezeichnet wird). Nach herrschender Lehre und Rechtsprechung stellt die Verletzung der Sorgfaltspflicht eine magelhafte Erfüllung des Vertrages dar. Das entspricht dem Begriff der Widerrechtlichkeit in der Haftung aus unerlaubter Handlung. Gemäss Art. 398 Abs. 2 OR haftet der Beauftragte dem Auftraggeber für getreue und sorgfältige Ausführung des ihm übertragenen Geschäftes. Art. 398 Abs. 1 OR verweist für das Mass der Sorgfalt des Beauftragten auf die Regeln des Arbeits23
Vgl. Parthey, S. 384. Vgl. Parthey, S. 382. 25 Vgl. Parthey, S. 383. 26 „Es durften nur noch die Schriften von Papibian, Paulus, Ulpian, Modestin und Gaius vor Gericht zitiert werden und die von solchen Juristen, die dort zu den betreffenden Problemen genannt wurden. Dann wurde gezählt und nach der Meinung der Mehrheit entschieden. Bei Stimmengleichheit gab den Ausschlag die des Papinian.“ (Wesel, S. 236). 24
II. Die wissenschaftliche Sorgfalt
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vertrags gemäss Art. 321e Abs. 2 OR. Der Sorgfaltsmassstab richtet sich daher nach den Fähigkeiten, Fachkenntnissen und Eigenschaften des Beauftragten. Ob eine Verletzung der Sorgfaltspflichten vorliegt, ist stets anhand des konkreten Falls zu prüfen.27 Die Sorgfalt bei der Vornahme einer Leistung ist nicht als Gegenstand selbständiger (und als solche einklagbaren) Pflichten, sondern als Teil der Hauptleistungspflicht anzusehen.28 Unsorgfalt zieht im Auftragsrecht den Verlust des Honorars sowie der Auslagenvergütung nach sich. Wenn dem Auftraggeber ein Schaden erwachsen ist, kann er bei Verschulden des Beauftragten zudem Schadenersatz geltend machen. Der Beauftragte hat grundsätzlich für jedes Verschulden einzustehen, seine Haftpflicht setzt somit bereits bei einem leichten Verschulden ein. Das Verschulden, das gemäss Art. 97 Abs. 1 OR vermutet wird, stellt den subjektiven Faktor der Haftpflicht dar. Es liegt nur dann vor, wenn die Verletzung der Sorgfaltspflicht dem Beauftragten zugerechnet werden kann, was voraussetzt, dass er unter Berücksichtigung der Umstände des Falls hätte angemessen vorgehen können, dies jedoch vorsätzlich oder aus Fahrlässigkeit unterliess. So kann sich ein beauftragter Anwalt mit dem Nachweis entlasten, dass jeder Anwalt mit durchschnittlichen Kenntnissen und beruflichen Fähigkeiten in der gleichen Situation nicht anders gehandelt hätte.29 Die Sorgfaltspflichtverletzung ist somit haftungsbegründend, wobei sie sowohl Teil der dazu erforderlichen Vertragsverletzung bzw. Widerrechtlichkeit als auch des Verschuldens ist. Der Begriff weist somit eine Doppelfunktion auf, nämlich als Grundlage des in der Sorgfaltspflichtverletzung liegenden Unrechtsvorwurfes wie auch des in der Fahrlässigkeit liegenden Schuldvorwurfes.30 Der Begriff der Sorgfalt findet sich also sowohl in der deliktischen als auch in der vertraglichen Haftung (dort jeweils bei der Vertragsverletzung/Widerrechtlichkeit), als auch beim Verschulden. Von einer einheitlichen Verwendung darf dabei nicht ausgegangen werden. Beim Verschulden wird der individuelle Vorwurf begründet, so dass es auf die persönlichen Verhältnisse des Schuldners ankommt, während beim Kriterium der Widerrechtlichkeit/Vertragsverletzung objektive Anforderungen an das Verhalten massgebend sind.31 Ausgehend von der Einsicht, dass die Vertragshaftung die Ausgestaltung eines bereits bestehenden Schuldverhältnisses ist, während die Deliktshaftung erst zu ihrer Begründung führt, muss in der Vertragshaftung dem Vertrauensprinzip eine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen werden. Die Sorgfalt bestimmt sich hier nach typisierenden Kriterien der Verkehrsauffassung, ausgehend von der Frage, welche Kompetenzen mit dem Leistungsangebot als notwendig vorausgesetzt wer-
27 28 29 30 31
BGE 127 III 357, 359; Fellmann, Art. 398 N. 485. Vgl. Schur, S. 205. BGE 117 II 563, 567. Schur, S. 115. Schur, S. 114.
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6. Teil: Die Auswirkungen der Rechtswissenschaft
den bzw. bei der Erfüllung des Vertrages die üblicherweise gebotene Sorgfalt angewendet wird.32 Ein wesentlicher individueller Schuldvorwurf liegt nun bereits darin, dass der Vertragspartner den typisierten Erwartungen nicht gerecht wird, beispielsweise bei jemandem, der sich als Rechtsanwalt betätigt, aber die beruflichen Standards nicht einzuhalten vermag. Das Können des Beauftragten hat auch unter Verschuldensaspekten dem Stand des Wissens auf seinem Gebiet zu entsprechen.33 Dem so genannten Übernahmeverschulden, der Übernahme der Tätigkeit oder des Nichtbeizugs eines Spezialisten34 trotz fehlender eigener Kompetenz, kommt deshalb eine grosse Bedeutung zu. Die fehlende Einsicht in die persönliche Inkompetenz begründet ein individuelles Verschulden.35 Von einem Rechtsanwalt ist deshalb zu verlangen, dass er nur Mandate in Rechtsgebieten entgegennimmt, in denen er sich auskennt oder in denen er sich die erforderlichen Kenntnisse rechtzeitig aneignen kann. Hinreichende Rechtskenntnis liegt vor, wenn dem Anwalt die einschlägigen Gesetze und die höchstrichterliche Rechtsprechung dazu bekannt sind und wenn er sich in den gängigen Kommentaren und Monographien auskennt.36 Mit dem Begriff der Sorgfalt gemäss Art. 398 Abs. 2 OR wollte der Gesetzgeber im Übrigen die diligentia des römischen Rechts nachzeichnen,37 die sich mit der geschilderten Etymologie des Wortes Sorgfalt weitgehend deckt. Es ist deshalb ein Pleonasmus, vom Anwalt, wie es in Art. 12 lit. a BGFA vorgeschrieben ist, sorgfältige und gewissenhafte Berufsausübung zu verlangen, da Sorgfalt nicht nur Genauigkeit, sondern auch Pflichtbewusstsein umfasst, insbesondere bezüglich der Pflicht, die eigenen Fähigkeiten zur Gewährleistung eines Rechtsgutes voll einzusetzen.38 Der Sorgfalt liegt ein ethisches Prinzip zugrunde, dass mit dem Begriff der Sorge gekennzeichnet ist.39 Sie ist eine Kombination von (innerer) Einstellung oder Bewusstseinszustand einerseits und (äusserer) Vorgehensweise andererseits, in deren Folge man gemeinhin zwischen innerer und äusserer Sorgfalt unterscheidet.40 Sorgfaltspflichten sind Pflichten zum Schutz von Rechtsgütern, für die man Verantwortung trägt.41 Bei jeder Sorgfaltspflicht muss zunächst bestimmt werden, für welches Rechtsgut eine Gewährleistungspflicht übernommen wurde oder aus besonderer gesetzlicher Vorschrift bereits besteht. Geht es um die Ab-
32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Fellmann, Art. 398 N. 471. Fellmann, Art. 398 N. 498. Vgl. zum Arzt Fellmann, Art. 398 N. 386. Vgl. BGE 124 III 155, 164. Urteil des BGer vom 11. 8. 2005 (4C.80/2005). Vgl. für Deutschland Walter, S. 8. Sorgfalt als Synonym von Gewissenhaftigkeit vgl. Fellmann. Art. 398 N. 356. Schur, S. 104. Vgl. Walter, S. 95 f. Vgl. Schur, S. 110 f.
II. Die wissenschaftliche Sorgfalt
127
wendung von Gefahren für dieses Rechtsgut, liegt die Sorgfalt in einer Vorsicht. Dabei besteht die Verpflichtung, die aus einem konkreten Verhalten oder Geschehen erwachsende Gefahr für ein geschütztes Rechtsgut zu erkennen und sich darauf richtig einzustellen, also die gefährliche Handlung entweder zu unterlassen oder sie zumindest nur unter ausreichenden Sicherheitsvorkehrungen vorzunehmen. Bei einer vertraglichen Vereinbarung kann mit dem geschützten Rechtsgut neben der Leistungserbringung auch die Einhaltung der Vereinbarung als solche oder das Wohl des Vertragspartners verstanden werden.42 Ohne besondere Absprache oder Garantieverpflichtung schuldet der Beauftragte hier sorgfältiges Leisten dergestalt, dass der vereinbarte oder vorausgesetzte Leistungszweck möglichst erreicht und durch die Handlung nicht gefährdet wird.43 Er muss einerseits alles tun, was zur Erreichung des Zweckes erforderlich ist, um dadurch die richtige Erfüllung der Hauptleistung und die Verwirklichung des Leistungserfolges herbeizuführen44 und hat andererseits alles zu unterlassen, was dem Vertragspartner Schaden zufügen könnte.45 Massgebend ist dabei der Zweck der Vereinbarung.46 Zur Bestimmung der Sorgfaltspflicht kann man sie an einem bestimmten Rechtsgut messen, indem gefragt wird, ob alles Menschenmögliche getan wurde, um es zu erreichen oder einen Schaden davon abzuwenden. Das Mass der Sorgfalt kann ferner auch Gegenstand einer eigenen Vereinbarung sein (beispielsweise kann sich der Rechtsanwalt dazu verpflichten, eine Angelegenheit zunächst nur summarisch zu prüfen). Dort, wo das Ergebnis nach objektiven Kriterien überprüft und als richtig oder falsch qualifiziert werden kann (wie etwa bei einem Gutachten), ist es auch möglich ein objektiv gewährleistungsfähiges Erfolgsversprechen abzugeben.47 Massgebend sind deshalb zunächst die gemeinsam von den Vertragsparteien zugrunde gelegten Vorstellungen über das richtige Vorgehen. (Erst dadurch wird der Privatautonomie Rechnung getragen.) Das Mass der Sorgfalt bestimmt sich im Vertrag also durch Vereinbarung oder aber es gilt nach Treu und Glauben, was stillschweigend vorausgesetzt wurde. Die bei fehlender Absprache vorausgesetzte oder übliche Sorgfalt geht von einem rollentypischen, meistens berufsspezifischen Verhalten aus. Nach dem Vertrauensprinzip darf man mindestens eine Leistung erwarten, die einer üblichen Qualität entspricht.48 Das Mass der Sorgfalt bestimmt sich dabei nach ob42 43 44 45 46 47 48
Vgl. Schur, S. 104. Vgl. Fellmann, Art. 398 N. 16. Fellmann, Art. 398 N. 20. BGE 115 II 62, 65. Urteil des BGer vom 7. 2. 2002 (4C.316/2001). BGE 127 III 328, 330. Fellmann, Art. 398 N. 472.
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6. Teil: Die Auswirkungen der Rechtswissenschaft
jektiven Kriterien,49 wobei der konkreten Situation Rechnung getragen wird. Es handelt sich um einen normativen Idealtypus, der am empirischen Normalverhalten anknüpft. Gemeint ist eine fiktive Person, die über die in ihrem Berufe erforderlichen durchschnittlichen körperlichen, geistigen und moralischen Fähigkeiten verfügt.50 Vergleichsgrösse ist, wie bei der Beurteilung einer erfinderischen Tätigkeit,51 der durchschnittlich gut ausgebildete und gewissenhafte Fachmann.52 Dieser ist weder Experte des betreffenden Fachgebiets noch Spezialist mit hervorragenden Kenntnissen. Er muss nicht den gesamten Stand des Faches überblicken, jedoch über fundierte Kenntnisse und Fähigkeiten, eine solide Ausbildung sowie ausreichende Erfahrung verfügen und so für den in Frage kommenden Fachbereich gut gerüstet sein. Aufgrund der diesem pflichtbewussten Durchschnittsfachmann zuzurechnenden Eigenschaften und Fähigkeiten (bei Annahme seiner vollen Aufmerksamkeit und Überlegung sowie dem ganzen Einsatz seiner Kräfte) ist alsdann, bezogen auf den Zeitpunkt der Vertragsvereinbarung, zu prüfen, ob er in gleicher Weise vorgegangen wäre, wie beim zu beurteilenden Verhalten. Daraus geht hervor, ob es sich um einen vermeidbaren Fehler handelt.53 Weist die tatsächlich vorhandene Kompetenz bei der zu beurteilenden Person darüber hinaus, sind solche überdurchschnittliche Fähigkeiten voll anzurechnen. Der normative Anspruch besagt, dass (anders als bei der Verkehrssitte, die lediglich die im Verkehr geltende Übung widerspiegelt) nicht auf einen empirischen Durchschnitt der Berufsangehörigen, sondern auf das professionelle Verhalten eines durchschnittlich guten Berufsinhabers abgestellt wird, der die berufsspezifischen Standards einhält. Solche Standards sind breit anerkannte und befolgte Verhaltensregeln, die jedermann im betreffenden Kreis geläufig sind, oder allgemein vorausgesetzte Fähigkeiten,54 über die jeder Berufsangehörige verfügen muss. Sie sind in einer bestimmten (Berufs-)Gruppe zum Gemeingut geworden.55 Aus dem fachlich Denkbaren sowie dem technisch Machbaren und in der Erprobung Bewährten erwachsen unter Berücksichtigung des wirtschaftlich Vertretbaren berufsspezifische Vorgaben und darauf aufbauend berufsrollentypische Verhaltenserwartungen. Damit werden professionelle Standards gesetzt respektive modifiziert und vielfach in Normen deklaratorisch festgehalten. Sie repräsentieren ein hohes Mass an Sachverstand des betreffenden Gebietes. Ein solcher Standard verbindet, wie der Sorgfaltsbegriff auch, normative und faktische Kriterien und ist ein komparativer Begriff, da er vom 49
BGE 115 II 62, 64. Fellmann, Art. 398 N. 486. 51 Vgl. BGE 123 III 485, 491. 52 Vgl. BGE 115 II 62, 64. 53 Vgl. BGE 115 II 62, 64; Fellmann, Art. 398 N. 486; Urteil des BGer vom 14. 12. 2000 (4C159/2000). 54 Deutsch, S. 138. 55 Vgl. Fellmann, Art. 398 N. 398. 50
II. Die wissenschaftliche Sorgfalt
129
tatsächlich geübtem Verhalten ausgehend und den Gegebenheiten angepasst, das Mögliche aufzeigt und daraus ein bestimmtes, objektiviertes Verhalten als zur Sicherung der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität fordert. Der Standard wird somit durch Abwägung fallbezogen gebildet und gilt in normierbaren Situationen. Dies gilt insbesondere für Sicherheitsstandards, die das zur Sicherheit Gebotene bestimmen. Standard ist somit eine Aussage über das gute und erforderliche, aber auch machbare Verhalten. Hier werden somit objektivierte Anforderungen an die Qualität der Handlungen festgelegt. Bei den Rechtsanwälten gilt als solcher Standard die Kenntnis von in Lehre und Praxis einheitlich vertretenen, klaren und damit nicht interpretationsbedürftigen Recht (Gemeint ist beispielsweise die Einhaltung von Verwirkungs- oder Verjährungsfristen).56 Für die Architekten gehört die Beachtung der allgemein anerkannten Regeln der Baukunde dazu,57 Ärzte haben nach den Grundsätzen der medizinischen Wissenschaft zu verfahren.58 Professionelle Standards beeinflussen den zivilrechtlichen Sorgfaltsmassstab,59 es kommt ihnen indizielle Bedeutung zu. Allerdings verfügt ein Standard über keine eigene, automatische Rechtsverbindlichkeit. Er muss als Sorgfaltspflicht erst Anerkennung finden. Eine Abweichung durch individuelle vertragliche Konkretisierung bleibt zudem möglich. Ein Standard ist der Sorgfaltsmassstab lediglich für standartisiertes Verhalten. Er gilt nicht, falls besondere Umstände vorliegen, die im Einzelfall ein abweichendes Verhalten rechtfertigen. Der Nachweis bleibt offen, dass der erforderlichen Sorgfalt auch auf eine andere Weise genüge getan wurde. Ein derzeit anerkannter Standard kann über dies durch den aktuellen Stand der Wissenschaft überholt sein. Aus dem dynamischen Charakter der fachlichen Standards folgt im Übrigen zwingend eine ständige Entwicklung der Sorgfaltspflichtanforderungen und damit verbunden die Notwendigkeit zur dauernden Fortbildung.60 Die einzuhaltenden Standards werden in besonderen Verhaltensnormen konkretisiert und vielfach kodifiziert. Dafür kommen nicht nur Rechtsnormen, sondern auch private Normen, etwa solche von Berufsverbänden, in Frage. Ein bekanntes Beispiel dafür sind die SIA-Normen.61 Solche ausserrechtlichen Verhaltensnormen bestimmen, wie die Standards ebenfalls, die Grenzen der objektiv erforderlichen Sorgfalt wesentlich mit, ohne sie allerdings zu determinieren.62 Ihnen kommt gleichermassen, selbst als Kodifikation, bloss eine indikative und keine normative Funktion zu, ausser sie erlangten durch ausdrücklichen gesetzlichen Verweis 56
BGE 117 II 563, 566 f. Fellmann, Art. 398 N. 369. 58 Vgl. BGE 113 Ib 420, 423; BGE 115 Ib 175, 181; Fellmann, Art. 398 N. 398; vgl. Wiegand (1985), S. 91. 59 Vgl. BGE 115 II 62, 64; Urteil des BGer vom 14. 12. 2000 (4C159/2000). 60 Vgl. für die Architekten Fellmann, Art. 398 N. 369. 61 Normen des Schweizerischen Ingenieurs- und Architektenvereins. 62 Vgl. Deutsch, S 157 ff. und S. 178. 57
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6. Teil: Die Auswirkungen der Rechtswissenschaft
eine unmittelbare rechtliche Gültigkeit.63 Verbandsnormen, die nur im Rahmen der Vereinsautonomie und nur gegenüber den Mitgliedern gelten, dokumentieren im Übrigen nicht zwangsläufig berufliche Standards, sondern sind vielfach Ausdruck von freiem Gestaltungswillen. Den Typen der Sorgfalt durch die Ausrichtung an ein Rechtsgut oder durch besondere Vereinbarung, ferner durch idealtypisches Verhalten nach anerkannten, meist beruflichen Standards und schliesslich durch Einhaltung ausdrücklicher Verhaltensregeln ist gemeinsam, dass die Art und Weise des Vorgehens beschrieben wird.64 Die Vorgehensweise muss gewisse Qualitätskriterien erfüllen. Qualität bedeutet hier die Einhaltung vorrechtlich definierter Normen. Es wird bezüglich der Prüfung der Widerrechtlichkeit bzw. Vertragsverletzung eine faktisch erzielbare Sollbeschaffenheit verlangt. Die Einhaltung solchermassen definierter Fehlerfreiheit setzt ein Pflichtbewusstsein und Engagement voraus. Die Unversehrtheit bzw. Verwirklichung des Rechtsgutes kann zwar nicht garantiert werden, muss aber mit ganzer Kraft und mit vollem, nicht nachlassendem Einsatz angestrebt werden. Hinzukommen müssen hinreichende theoretische sowie praktisch-technische Fähigkeiten, die oftmals durch die Absolvierung einer Ausbildung oder Prüfung belegt werden müssen. Von einem Berufsmann werden höhere, d.h. fachmännische Fähigkeiten verlangt.65 Von diesen Fähigkeiten muss ein sachgerechter Gebrauch gemacht werden, indem die Vorgehensweise geeignet, erforderlich und angemessenen ist, um den angestrebten (vertraglich vereinbarten) Zweck herbeizuführen.66 Somit müssen Problemlösungsstrategien gefunden und geschickt umgesetzt werden. Aufgrund einer ex-ante-Betrachtung ist ferner im Rahmen des Verschuldens zu fragen, ob trotz vollem und zweckmässigem Einsatz dieser fachmännischen Kompetenz erkennbare, vermeidbare oder unzumutbare Risiken eingegangen wurden, die sich in einem Schaden realisieren. Zumutbar ist ein Risiko insbesondere dann noch, wenn es im Einzelfall unter besonderer Einwilligung nach Aufklärung wegen des zu erwartenden grossen Nutzens eingegangen wird. Massgebend für das zulässige Mass des Risikos ist zunächst also die vertragliche Vereinbarung. Die Einschätzung möglicher Risiken erfolgt sodann nach fachlichen Kriterien, wobei im Rahmen des Vertretbaren ein Beurteilungsspielraum besteht. Bei der juristischen Tätigkeit, wo eine nicht allgemein verfügbare fachliche Kompetenz Ausübungserfordernis ist, wird die durch einen Fähigkeitsausweis belegte Absolvierung einer Universitätsausbildung zur Voraussetzung für die Berufsausübung gemacht. Bei einem Rechtsanwalt kommt noch die nachuniversitäre Anwaltsausbildung hinzu. So entsteht eine gemeinsame exklusive Wis63 64 65 66
Vgl. Art. 229 StGB: Gefärdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde. Vgl. Schur, S. 104. BGE 115 II 62, 64. Vgl. Fellmann, Art. 398 N. 356.
II. Die wissenschaftliche Sorgfalt
131
sensbasis der Berufsangehörigen, es bildet sich ein berufliches Rollenverständnis und darauf aufbauend eine professionelle Ethik. Die Öffentlichkeit verbindet mit einer solchen Tätigkeit nunmehr bestimmte Erwartungen. An die Ausübung werden persönliche, sachliche und fachliche Anforderungen gestellt, die von der Professionsgemeinschaft erfüllt werden müssen. Der Mandant willigt normalerweise unausgesprochen nur in eine Ausführung nach diesen Kriterien ein, schliesslich wendet er sich bewusst an eine Person, die über einen entsprechenden Ausbildungsabschluss verfügt. Nach der Rechtsprechung verletzt ein Anwalt seine Sorgfaltspflicht, wenn das ihm vorgeworfene Handeln eine Verletzung von beruflichen Standards (allgemein anerkannten und gefestigten Regeln) darstellt.67 Die rechtswissenschaftlichen Standards sind deshalb Grundlage und Massstab der erforderlichen anwaltlichen Sorgfalt, sowohl im Rahmen der vertraglichen Haftung als auch im allgemeinen Berufsrecht. Die wissenschaftliche Sorgfaltspflicht setzt demnach eine wissenschaftliche Indikation für eine berufliche Massnahme voraus. Unnötige oder unwirksame Massnahmen müssen vermieden werden. Der Vertragspartner muss zudem in die Massnahme eingewilligt haben, nachdem er umfassend aufgeklärt wurde. Die Vornahme muss ferner den Grundsätzen und Methoden der Wissenschaft entsprechen und sich überdies am anerkannten Erkenntnisstand der Wissenschaft sowie am Berufsethos ausrichten. Der Jurist muss schliesslich unter Anwendung aller Erkenntnisse sowie Fähigkeiten handeln. Über das Vorgehen muss er laufend und unaufgefordert informieren und Rechenschaft ablegen.68 Dem Einholen von Weisungen muss eine Beratung vorangehen.69 Unzweckmässigen Weisungen ist durch Abmahnung entgegenzuwirken.70 Die erforderliche Indikation besagt insbesondere auch, dass die berufliche Massnahme zwar ein gewisses berufsimmanentes Risiko beinhaltet, jedoch nicht über ein tragbares Risiko hinausgehen soll,71 das zudem vertraglich vereinbart oder zumindest stillschweigend vorausgesetzt sein muss. Sollte sich dieses zulässige Risiko realisieren und ein Schaden eintreten, ist keine Ersatzpflicht geschuldet, da keine Erfolgshaftung besteht. Insbesondere ist hier eine nachträgliche Betrachtung unangebracht:72 Die Inhaber wissenschaftlicher Berufe üben eine Risiko behaftete Tätigkeit aus, der auch haftpflichtrechtlich Rechnung zu tragen ist (beispielsweise trägt der Rechtsanwalt nicht die Verantwortung für die spezifischen Risiken, die mit der Durchsetzung einer vertretbaren Rechtsauffassung verbunden sind).73 Generell haben die Par-
67 68 69 70 71 72 73
BGE 117 II 563, 566 f. BGE 115 II 62, 67. BGE 115 II 62, 65. BGE 115 II 62, 65. Vgl. BGE 113 Ib 420, 425. Vgl. BGE 127 III 357, 359. BGE 127 III 357, 359.
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6. Teil: Die Auswirkungen der Rechtswissenschaft
teien und nicht der Rechtsanwalt das Prozessrisiko zu tragen.74 Eine Sorgfaltspflichtverletzung liegt nur dann vor, wenn Risiken eingegangen werden, die ein professionell handelnder, gewissenhafter Berufsangehöriger in der gleichen Lage vermieden hätte.75 Damit wird auf die Kriterien der Erkennbarkeit sowie der Vermeidbarkeit eines Risikos bei professionellem Verhalten verwiesen.76 Die Komplexität der Tätigkeit sowie die Einmaligkeit jedes Falles machen zwar einen individuellen Entscheidungs- und Beurteilungsspielraum der Berufsinhaber unentbehrlich, die Entscheide müssen aber nach Massgabe von wissenschaftlichen Kriterien noch vertretbar sein.77 Anders als bei der Wissenschaftsund Forschungsfreiheit besteht in der berufsmässigen Anwendung der Wissenschaft keine freie Wahl von Fragestellung, Methode oder Durchführung.78 Die Grundsätze und Methoden der Wissenschaft sowie ihr allgemein anerkannter Erkenntnisstand sind verbindlich. Ferner hat sich der Berufsinhaber an die anerkannten Erkenntnisquellen zu halten.79 Dies gilt in der Rechtswissenschaft absolut, da es hier, anders als etwa in der Medizin, keine alternativen Methoden gibt. Allerdings ist eine Abweichung vom aktuellen Stand der Wissenschaft als herrschender Meinung nach derem Kenntnisnachweis zum Wohle des Klienten unter der Bedingung einer positiven Nutzen- und Risikoabwägung zulässig. Die Einräumung eines gewissen Ermessensspielraums besagt indes nicht, dass sich die zivilrechtliche Haftung des Berufsinhabers auf grobe Verstösse gegen die genannten Regeln der Wissenschaft beschränken würde, vielmehr hat er für jede Sorgfaltspflichtverletzung einzustehen.80 Der Abgrenzung zwischen vertretbarem und unvertretbarem Vorgehen liegt jedoch ein Wertungsentscheid zugrunde.81 Anhand eines Vergleichs der durchgeführten mit den nach den objektiven Anforderungen der wissenschaftlichen Standards angezeigten Massnahmen lässt sich die Einhaltung der wissenschaftlichen Sorgfaltspflicht,82 d.h. eine der Wissenschaft entsprechenden Vorgehensweise, bemessen.83
III. Das wissenschaftliche Ethos Das rechtswissenschaftliche Ethos, das auf dem allgemeinen beruht, meint das besondere Ethos des Wissenschaftlers (Wissenschaftsethos) sowie speziell 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83
BGE 127 III 357, 359. BGE 115 II 62, 66. Fellmann, Art. 398 N. 389 und N. 474. Vgl. BGE 127 III 357, 362. Vgl. zur theoretischen Wissenschaft BGE 127 I 145, 152 f. Vgl. für die Medizin BGE 130 IV 7, 12. Vgl. für die Medizin BGE 130 IV 7, 11. BGE 127 III 357, 360. Vgl. BGE 130 IV 7, 12. Vgl. für die Ärzte BGE 130 V 396, 401.
III. Das wissenschaftliche Ethos
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des Juristen, insbesondere Rechtsanwaltes oder Richters (Professionsethos). Es handelt sich daher nicht um ein anderes Ethos, sondern damit wird zum Ausdruck gebracht, dass das allgemeine Ethos eine besondere situative Anwendung erfährt. Die Menschwerdung führt zu einem weitgehenden Verlust der unwillkürlichen, reflexartigen Handlung. Der Mensch bleibt zwar in Bereichen des vegetativen Nervensystems ein Naturwesen. Herzschlag und Kreislauf, Atmen und Schwitzen oder der Schlaf gehen ohne Zutun der Person vonstatten.84 Ansonsten tritt aber zwischen Reiz und Reaktion eine Verzögerung ein, was die Möglichkeit der Besinnung auf verschiedene Handlungsmöglichkeiten zulässt.85 Diese Besonnenheit ist eine in Sprache gefasste Reflexion,86 sie setzt ein Erkennen voraus.87 Der Mensch hat nicht nur Kenntnis, sondern Kenntnis von der Kenntnis.88 Er weiss um sich und seiner Selbst, kann sich sein eigenes Tun vor Augen halten,89 und tritt so in eine bewusste und erkennende Subjekt-ObjektBeziehung zur Welt.90 Das führt zu einem Subjektsein, in welchem sich der Mensch zu sich selbst und der Welt in ein Verhältnis gesetzt findet.91 Dies zwingt ihm als bewusste Leistung eine Stellungnahme auf. In dieser inneren und äusseren Haltung verkörpert sich sein Welt- und Selbstverhältnis.92 Der Zwang zu Haltung eröffnet gleichzeitig eine Freiheit, denn sie enthält die Möglichkeit, diese oder jene Haltung einzunehmen.93 Der Mensch ist ein Lebewesen, das Anforderungen an sich stellt. Er existiert mit Bindung an Normen, die Anerkennung verlangen.94 Man lebt so in einer Spannung zwischen Natur und Geist, Gebundenheit und Freiheit, generell im Gegensatz von Sein und Sollen.95 Haltung als Selbst- und Weltverhältnis weist also drei wesentliche Merkmale auf, nämlich eine notwendige Leistung, ein Wissen in Form von Erkenntnis und eine Moralität.96 Moralität meint hier moralische Relevanz als Notwendigkeit und Möglichkeit von Bewertung. Menschliches Handeln ist moralisch relevant, weil Haltung eingenommen und Stellung bezogen werden muss.97 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97
Fellsches, S. 42. Fellsches, S. 49. Fellsches, S. 49. Fellsches, S. 49. Fellsches, S. 44. Fellsches, S. 44 f. Vgl. Fellsches, S. 41. Vgl. Fellsches, S. 44. Fellsches, S. 43. Fellsches, S. 44. Fellsches, S. 46. Fellsches, S. 46. Fellsches, S. 45. Fellsches, S. 45.
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6. Teil: Die Auswirkungen der Rechtswissenschaft
Die (aufrechte) Haltung des Menschen muss gelernt werden.98 Der Zivilisationsprozess hat Haltungen hervorgebracht, die wir aufgrund unserer Sozialisierung verinnerlicht haben. Diese Haltung ist die geltende Sitte und Moral.99 Die Moral bezeichnet hier in ihrer deskriptiven Bedeutung die Gesamtheit der ethischen Handlungsregeln, die vom überwiegenden Teil einer menschlichen Gemeinschaft als verbindlich akzeptiert oder zumindest hingenommen wird. Daraus erwächst das Gewissen als grundlegendes Anstandsgefühl und spezielle moralische Instanz des menschlichen Bewusstseins, das den Menschen zu bestimmten Handlungen drängt. Neben dieser herrschenden Sitte und Moral gibt es auch das ethische Empfinden eines Einzelnen oder einer Gruppe. Ethos kennzeichnet die sich in Lebensgewohnheiten offenbarende innere Werthaltung eines Menschen oder einer (Berufs-)Gruppe. Sie beruht auf einer subjektiven Wahrheitsanerkennung (Überzeugung). Der Begriff verbindet eine normative (was sein soll) mit einer deskriptiven (was ist) Sicht. Das Ethos ist abhängig von der natürlichen Veranlagung, einer angenommenen Gewohnheit und der vernünftigen Einsicht. Als griechische Bezeichnung für Charakter, Geist, Stimmung oder Moral ist das Bedeutungsspektrum von Ethos breit.100 In der klassischen Rhetorik nach Aristoteles bezeichnet Ethos eine der drei Arten der Überzeugung, nämlich die durch die Autorität und Glaubwürdigkeit des Sprechers.101 Der moderne Begriff der Ethik leitet sich von „Ethos“ ab. Ethische Normen sind Regeln, die auf einer Wertvorstellung basieren und sich so am Gegensatz von Gut und Böse ausrichten. Daraus erwächst Moral im normativen Sinn als ethisch begründete Verhaltensmaxime, die sich von ästhetischen, logischen oder rechtlichen Verhaltensnormen abgrenzen. Die Moral beschäftigt sich also damit, was gutes oder schlechtes menschliches Handeln ausmacht. Dazu gehören eine Vorstellung vom Ausmass individueller menschlicher Freiheit und eine Bestimmung von Gut und Böse. Ethik befasst sich mit den Grundlagen menschlicher Werte und Normen. Sie kann auch als das Nachdenken über Moral oder als Wissenschaft von der Moral verstanden werden. Es ergeben sich unterschiedliche Ethiken und damit verschiedene moralische Verhaltensanforderungen, je nachdem, welche Wertvorstellungen man zu Grunde legt. In unserem europäischen Kulturkreis ist die Letztbegründung das Ethos der Person, was auch mit Menschenwürde umschrieben wird. Sie ist die 98
Fellsches, S. 43. Fellsches, S. 46. 100 Der Begriff Gewohnheit leitet sich von Wohnung her. Analog dazu kann das griechische Wort ethos soviel wie Leben zu Hause bedeuten. Die Ethik ist folglich dazu da, eine Bleibe, eine Welt zu erhalten, in der man sich zu Hause fühlt. Vgl. Kemp, S. 47. 101 Die anderen beiden sind Pathos (rednerische Gewalt und emotionaler Appell) und Logos (Folgerichtigkeit und Beweisführung). 99
III. Das wissenschaftliche Ethos
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gemeinsame Überzeugung von der Person in jedem Menschen als höchstes Gut. Im menschlichen Zusammenleben geht es um die Achtung der Integrität der Person des anderen, eines Lebenszusammmenhangs, der unantastbar bleiben muss.102 Die Integrität ist zu achten, weil sie verletzbar ist. Die Verletzlichkeit drückt die Verfasstheit jeglichen menschlichen Lebens aus.103 Die Zustandbeschreibung ist zugleich ethisches Prinzip des Handelns, indem im Bewusstsein der Verletzlichkeit sowie der Autonomie, Würde und Integrität der Person und aus Sorge daraus gehandelt werden soll.104 Aus Achtung der anderen Person und aus Respekt gegenüber der Würde des Mitmenschen erwachsen Höflichkeit, Verständnis, Einfühlungsvermögen, Rücksicht und Hilfsbereitschaft. Eine solch positive Einstellung anderen Menschen gegenüber wird als Menschlichkeit bezeichnet. Persönliche Integrität kann auch als Übereinstimmung des persönlichen Ethos mit dem eigenen Handeln verstanden und als Treue zu sich selbst umschrieben werden. Zu den inneren Werten, von denen man sich bei seinem Handeln leiten lassen sollte, gehören sicher die Kardinaltugenden Besonnenheit, Klugheit, Tapferkeit und Gerechtigkeit. Besonnenheit bezeichnet hier eine zurückhaltende und situationsbeherrschende Verhaltensweise im Unterschied zur Impulsivität. Individuelle Gerechtigkeit lässt sich mit Fairness gleichsetzen. Zu den guten Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen zu zählen ist ferner Treue. Der Mensch geht Bindungen ein, die ihn für die Zukunft unwandelbar festlegen. Gewissenhaftigkeit bezeichnet eine charakterliche Eigenschaft, die sich als dauerhaft erlebte Bindung an seine Wertvorstellungen äussert und gleichzeitig eine mit Genauigkeit und Sorgfalt ausgeführte Bewältigung übernommener Aufgaben verlangt. Die Gewissenhaftigkeit ist eng verbunden mit Gründlichkeit (vollständige, erschöpfende Aufgabenerfüllung), Umsicht (vollständige Berücksichtigung von Risiken) und Zuverlässigkeit. Diese Eigenschaften stehen im Gegensatz zur Oberflächlichkeit, Ungenauigkeit, Flüchtigkeit und Liederlichkeit. Gegen Gleichgültigkeit steht also ein Verantwortungsbewusstsein, das eine persönliche Identifikation mit dem Ethos voraussetzt und sich in der altruistischen Einstellung äussert. Das Berufsethos des Wissenschaftlers kann nicht losgelöst vom Wissenschaftsideal und von den Wissenschaftskriterien beschrieben werden.105 Wissenschaft ist sicheres Wissen, dessen Wahrheit sich in klassischer Sicht durch unmittelbare Evidenz der Prinzipien (Erkenntnis der Prinzipien) und logische Evidenz der Deduktion aus diesen Prinzipien (Erkenntnis aus Prinzipien) ergibt. Nach moderner (naturwissenschaftlicher) Vorstellung ist das Kriterium die Verifikation der Sätze mit Wahrheitsanspruch (aus der Forschungserfahrung gewon102 103 104 105
Kemp, S. 46. Kemp, S. 47. Vgl. Kemp, S. 47. Vgl. zum folgenden Abschnitt Baumgartner, S. 1742 ff.
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6. Teil: Die Auswirkungen der Rechtswissenschaft
nenen hypothetischen Generalisierungen) an intersubjektiv überprüfbarer Erfahrung (emipirischen Befunden). Mit diesem Wahrheits- ist ein Autonomieanspruch verbunden, zu dessen Selbstverständnis Postulate der neutralen Distanz, der Vorurteilsfreiheit, der Wertfreiheit, der Offenheit für Kritik sowie generell der Objektivität gehören, was unter dem Begriff der „intellektuellen Redlichkeit“ zusammengefasst werden kann. In der Wissenschaft darf es keine Lüge oder Täuschung geben, was beispielsweise bei der Wahrung der Urheberschaft von besonderer Bedeutung ist.106 Die wissenschaftliche Objektivität geht von einer wertfreien, von subjektiven Betroffenheiten abstrahierten Gegenstandswahrnehmung ihrer Objekte aus.107 Objektivität ist die beschreibende Haltung eines Beobachters, die zu einer Übereinstimmung mit dem Ereignis führt, ohne eine Wertung oder subjektive Verzerrung vorzunehmen. Neben dem Ideal der Wahrheit lässt sich die Idee der Wissenschaft durch das Ideal der Erklärung und des Verstehens (die Wissenschaft will nicht bloss konstatieren, sondern auch die Ursachen und Gesetzmässigkeiten finden), ferner durch das Ideal der Rechtfertigung (eine wissenschaftliche Meinung muss begründet werden) und schliesslich durch das Ideal der Intersubjektivität und Öffentlichkeit (Wissenschaft muss sich öffentlich mitteilen und nachprüfen lassen) charakterisieren.108 Allen Idealen liegt die Idee zugrunde, dass Erkenntniszuwachs (Erwerb neuen Wissens, dessen Dokumentation und die Weitergabe als Lehre) ein Wert an sich darstellt.109 Wissenschaft ist allerdings nicht bloss das einem Begründungszusammenhang unterliegende, sich stetig entwickendende Aussagesystem, sondern gleichzeitig ein institutionalisiertes soziales System, das über die wissenschaftliche Gemeinschaft hinaus auf die gesamte Gesellschaft einwirkt. Wissenschaftliche Ergebnisse prägen heute direkt herrschende Welt- und Menschenbilder (z. B. Psychoanalyse). Das menschliche Überleben ist zudem vom Stand der wissenschaftlichen Forschung abhängig (z. B. Atomphysik). Aktuelle Erkenntnisse bedürfen zu ihrer Praxisfähigkeit der Vermittlung durch die Wissenschaft. Generell besteht eine Abhängigkeit der Gesellschaft vom Expertenwissen.110 Hier stellen sich Fragen hinsichtlich der gesellschaftlichen Steuerbarkeit der Wissenschaft. Die Verantwortung des Wissenschaftlers ist zu einer gesellschaftlichen Verantwortung geworden und nicht mehr auf das Vertrauen der wissenschaftlichen Gemeinschaft beschränkt.111 Zwar kann Wissen nicht an sich verurteilt und bereits erlangtes Wissen nicht untersagt werden,112 Wissenschaft und Technik sind aber nur so weit verantwortbar, wie sie steuerbar bleiben. Ihre Folgen 106 107 108 109 110 111 112
Mohr, S. 81. Fellsches, S. 44 und S. 47. Sandkühler, Stichwort „Wissenschaft“, S. 1764 ff. Mohr, S. 79. Mohr, S. 87. Kemp, S. 49. Kemp, S. 50.
III. Das wissenschaftliche Ethos
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müssen darüber hinaus im Wesentlichen voraussehbar und positiv bewertbar sein.113 Zudem sollte bei der Erlangung des Wissens nicht in die Integrität des Lebens eingegriffen werden.114 Das Ethos des Rechtswissenschaftlers unterscheidet sich nicht von denjenigen anderer Wissenschaften. Die Besonderheit besteht lediglich darin, dass das Objekt Recht bereits auf einem Ethos beruht, mit der Recht von Unrecht unterschieden wird. Das Ethos ist die Überzeugung des Personseins jedes Menschen und seiner Würde. Die Tätigkeit des Rechtswissenschaftlers setzt diese Haltung voraus. Eine solchermassen verstandene Menschlichkeit ist nicht nur die Voraussetzung des (Menschen-)Rechts, sondern auch für die Tätigkeit des Rechtswissenschaftlers. Sie hat auf der Gültigkeit dieses materialen Prinzips zu gründen, so dass die geltenden Normen darauf aufzubauen und dahingehend angewendet werden müssen. Auch für den praktisch tätigen Juristen, insbesondere Richter und Rechtsanwalt, existiert keine eigene Ethik, sondern die allgemeine Ethik wirkt bloss auf die spezifischen beruflichen Anforderungen ein. Der Jurist übt seinen Beruf nach seinem Gewissen sowie den allgemeinen Geboten der Ethik und der Menschlichkeit aus. Prägend für das Selbstverständnis des Richters und Anwalts wirken persönliche Integrität, insbesondere als Unkorrumpierbarkeit und als Verbot der Erlangung persönlicher Vorteile, ferner Verschwiegenheit (Diskretion), als Fähigkeit Vertraulichkeit (Geheimhaltung) zu wahren sowie Kollegialität.115 Von Bedeutung für die Berufsvorstellungen erweist sich das römische mandatum sowie der Status der damit im Römischen Reich befassten Personen. Das öffentliche Amt des Richters ist ganz gekennzeichnet durch die notwendige Unparteilichkeit als Unabhängigkeit von den Parteien, Dritten sowie von weiteren Einflüssen. Der Richter hat von sich aus in den Ausstand zu treten, wenn seine Unbefangenheit in Frage gestellt werden kann. Er hat sich nur von Informationen beeinflussen zu lassen, die ordnungsgemäss in den Prozess eingebracht wurden. Die komplexe anwaltliche Tätigkeit und ihre Ausrichtung auf den einzelnen Mandanten mit seinen individuellen Problemen macht einen Entscheidungs- und Beurteilungsspielraum des Anwaltes unentbehrlich. Massgebend sind deshalb zunächst die gemeinsam von Anwalt und Mandant zugrunde gelegten Vorstellungen über das richtige Vorgehen. Da der Mandant aber unausgesprochen nur in eine Ausführung nach den anerkannten Standards einwilligt, muss sich diese zwangsläufig danach richten. Der Rechtsanwalt muss die Regeln der Jurisprudenz beachten. Die rechtswissenschaftlichen Standards sind also Grundlage und Massstab der erforderlichen anwalt113
Spinner, S. 158. Vgl. Kemp, S. 50. 115 Letzteres war ein verfassungsrechtliches Prinzip der Römischen Republik, wonach jedes Magistratsamt des cursus honorum mit zwei oder mehr gleichberechtigten Kollegen besetzt werden musste, die gegenseitig das Recht der intercessio (Verhinderung einer Anordnung des Kollegen) besassen. 114
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6. Teil: Die Auswirkungen der Rechtswissenschaft
lichen Sorgfalt sowohl im Rahmen der vertraglichen Haftung, als auch im allgemeinen Berufsrecht. Die Methoden und Erkenntnisse der Rechtswissenschaft determinieren eine sachgerechte Leistung und bilden den Massstab des beruflichen Handelns. Juristische Indikation gehört neben Einverständnis nach Aufklärung und Vorgehen nach den anerkannten Regeln und unter Anwendung aller Erkenntnisse sowie Fähigkeiten zur Sorgfaltspflicht. Dieser Grundsatz konkretisiert sich beispielsweise im Verbot, aussichtslose Prozesse zu führen. Der Anwalt muss von einer Klage absehen, selbst wenn der Prozess für ihn finanziell einträglich wäre, falls nach den anerkannten Regeln der Rechtswissenschaft keine hinreichenden Erfolgsaussichten bestehen. Der notwendige Wissenschaftsbezug schliesst folglich eine Ausrichtung der Berufsausübung auf reine Gewinnmaximierung aus. Damit nimmt der Anwalt seine Mitverantwortung für die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaates wahr. In seiner ganzen beruflichen Tätigkeit hat der Rechtsanwalt die wissenschaftliche Ausrichtung seines Berufes zu beachten. Damit wird das Vertrauen der rechtsunkundigen Öffentlichkeit in die Anwaltschaft als solche gewährleistet. Ein hinreichendes Mass an uneigennütziger Berufsauffassung bildet deshalb einen Teil des beruflichen Selbstverständnisses. Man dient der Sache „Recht“. Dies gilt umso mehr, als der Anwalt mit grundlegenden gesellschaftlichen Belangen befasst ist, die einen zentralen Bereich im Wertesystem der Gesellschaft ausmachen. Im Anwaltsgesetz erfolgt die rechtliche Relevanz des Berufsethos durch die Generalklausel der Gewissenhaftigkeit von Art. 12 lit. a BGFA.116 Als spezifisch berufsethische Standards gelten solche der persönlichen Integrität wie die Pflicht zur Wahrung des Rechts, das Gebot der Gewissenhaftigkeit, des Altruismus, der Kollegialität, der Unabhängigkeit sowie der Verschwiegenheit und Loyalität zum Mandanten. Das Gebot der Sachlichkeit, die Pflicht zur Respektierung der freien Anwaltswahl, die Pflicht zur persönlichen Betreuung oder die Informations- und Dokumentationspflicht gehören ebenfalls dazu. Hinzu kommen Standards der fachlichen Kompetenz. Neben dem bereits erwähnten Gebot zur Befolgung einer juristischen Indikation sowie der Beachtung der anerkannten Grundsätze, Methoden und Erkenntnisse der Rechtswissenschaft sind die Pflichten zur Weiterbildung sowie zur Anwendung der gesamten persönlichen Fähigkeiten einzuhalten. Als sachlicher Standard gilt die Pflicht zur Ausübung in eigenen Praxisräumlichkeiten und zu deren angemessenen Ausstattung. Somit muss sich ein Rechtsanwalt zur sorgfältigen, gewissenhaften, rechtskonformen, vertrauenswürdigen, unabhängi-
116 Die gesetzlichen Berufsregeln sind das Gebot der Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, das Gebot der Unabhängigkeit, die Pflicht zur Vermeidung von Interessenkonflikten, das Gebot der sachlichen Werbung, das Verbot des Erfolgshonorars, die Pflicht zur Versicherung beruflicher Risiken, die Pflicht zur Übernahme von amtlichen Mandaten, die Pflicht zur Vermögensaussonderung, die Abrechnungspflicht, die Meldepflicht über eigene Daten, die Pflicht zur originalen Titelführung sowie die Pflicht zur Beachtung des Berufsgeheimnisses.
IV. Die wissenschaftliche Indikation
139
gen, verschwiegenen, sachlichen, speditiven, persönlichen, fairen und kollegialen Berufsausübung verpflichtet fühlen.
IV. Die wissenschaftliche Indikation Unter Indikation (von lat. indicare, anzeigen) versteht man den Anlass und die Rechtfertigung für die Durchführung einer beruflichen Massnahme. Der Begriff stammt aus der Medizin und ist insbesondere Bestandteil der Chirurgie, wo ein Eingriff invasiv und belastend ist.117 Die Veranlassung, ein bestimmtes Heilverfahren anzuwenden oder ein Medikament zu verabreichen, ergibt sich aus der ärztlichen Diagnose und Prognose. Ist eine Massnahme indiziert, dann ist sie sinnvoll begründet, andernfalls ist sie medizinisch sinnlos. Eine Kontraindikation bezeichnet eine Situation, in dem eine Massnahme nicht durchgeführt werden darf.118 Der Indikationsbegriff ist auch in der Rechtswissenschaft relevant, beschreibt er doch den Umstand, dass eine berufliche Massnahme einer Rechtfertigung bedarf und insbesondere nicht rein kommerziell motiviert sein darf. So verbietet das Berufsrecht – wie erwähnt – dem Anwalt aussichtslose oder mutwillige Prozesse zu führen.119 Hier besteht eine Vergleichbarkeit mit Schönheitsoperationen, die medizinisch nur selten indiziert sind. Das ärztliche Handeln ist legitimiert, sobald eine Krankheit vorliegt.120 Für die Rechtswissenschaft stellt der Begriff des Unrechts die analoge legitimatorische Kategorie dar, die den begründeten Hinweis auf eine bestimmte Handlungsnotwendigkeit und damit eine Verpflichtung zu juristischem Handeln liefert.121 Die zielführende Kategorie bildet die Rechtsverwirklichung (vergleichbar mit dem Begriff der Gesundheit in der Medizin).122 Handlungsziel ist es, dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen. Ansatz bildet die Erkenntnis eines Rechtsanspruches und das Angezeigtsein einer bestimmten Art seiner Durchsetzung, die mit wissenschaftlicher Strenge verfolgt werden muss. Die Indikation ist Teil der beruflichen Sorgfalt. Das Prüfen der eigenen fachlichen Voraussetzungen gehört ebenfalls dazu. Die eigene Irrtumsmöglichkeit muss berücksichtigt werden und kann den Beizug von Berufskollegen erforderlich machen.123 Die Rechtfertigung bezieht sich auf einen definierten Fall und ist neben fachlicher (rechtswissenschaftlicher) auch ökonomischer und ethischer Natur. Krite117 118 119 120 121 122 123
Anschütz (1982), S. 1. Vgl. Anschütz (1989), S. 537 ff. Vgl. z. B. Art 60 Abs. 2 VwVG. Paul (Medizintheorie), S. 70. Vgl. für die Medizin Anschütz (1989), S. 537 f. Vgl. Paul (Gesundheit und Krankheit), S. 132. Anschütz (1982), S. 4.
140
6. Teil: Die Auswirkungen der Rechtswissenschaft
rium kann unter Umständen auch die wirtschaftliche Lage der Beteiligten sein. So hat es im Normalfall keinen Sinn, selbst bei hinreichenden Erfolgsaussichten einen Prozess anzustrengen, wenn feststeht, dass die Gegenpartei mittellos ist und die Klagesumme nach gewonnenem Prozess nicht wird bezahlen können. Die Indikation zu einer beruflichen Massnahme ist eine persönliche Entscheidung des Juristen nach bestem Wissen und Gewissen. Das Berufsethos muss deshalb die Indikationstellung beeinflussen. Fachliche Indikation als wissenschaftlich begründeter Entschluss und Anweisung zu einer bestimmten Handlung wird von der Motivation beeinflusst. Auftrag des Rechtsanwaltes ist die optimale Wahrung der Interessen seines Mandanten. Bei seinen Methoden bleibt er jedoch an das Recht gebunden und darf sich keiner unlauteren Mittel bedienen, weshalb eine methodenkritische Einstellung vorhanden sein muss. Die Indikationsstellung ist sowohl handlungs- als auch verfahrensspezifisch. Man muss beispielsweise in Indikationen zur Übernahme eines Mandates, zur Klageerhebung oder zum Einreichen von Rechtsmitteln unterscheiden. Die sich ergebende Handlung kann sowohl ein aktives Tun als auch ein Unterlassen sein. Welchen Aufwand ein Jurist im Rahmen eines bestimmten Auftrages betreibt, liegt in seinem pflichtgemässen Ermessen. Allerdings dürfen keine überflüssigen oder untauglichen Massnahmen durchgeführt werden. Die fachliche Indikation ist nicht immer eindeutig definiert. Nur in seltenen Fällen kann man von einer absoluten Indikation sprechen, bei der ein zwingender Grund für eine Massnahme vorliegt und keine anderen Möglichkeiten zur Verfügung stehen, so dass keine weitere Abwägung mehr erforderlich ist. In den meisten Fällen wird die fachliche Indikationsstellung von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Diese relative Indikation erfordert eine Abwägung, die durch mehrere Gesichtspunkte gekennzeichnet ist: Auszugehen ist von der Frage der Handlungsnotwendigkeit und dem geeigneten Zeitpunkt. Wichtig sind somit Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit einer Vorkehr. Zu prüfen sind mögliche Handlungsalternativen. Abzuwägen sind insbesondere die Vor- und Nachteile einer Handlung für den Betroffenen, also das Abschätzen der möglichen Nutzen und Risiken sowie von Aufwand und Ertrag unter Beachtung etwaiger Kontraindikationen. Diese bestehen für alle Massnahmen, von denen von vornherein ein Erfolg nicht zu erwarten ist. Sie führen zur Aussichtslosigkeit einer Vorkehr, was eine Prognose der Erfolgsaussichten voraussetzt. Indikation bedeutet eine Selektion von Massnahmen aus einer Vielfalt im Hinblick auf einen definierten Einzelfall und ist deshalb vom Grundsatz her hypothetisch. Grundlage der fachlichen Indikation bildet die umfassende rechtliche Diagnose der Situation, also ein Durchdenken des Falles. Dies setzt wie in der Medizin eine Untersuchung, als Prozess der Datenerhebung voraus. Die Situation muss sodann als Sachverhalt rechtlich erfasst und durchschaut und schliesslich als bestimmter rechtlicher Tatbestand richtig gedeutet werden.124 Es ist demnach notwendig, die Situation auf eine wissenschaftliche Fallbeschreibung
IV. Die wissenschaftliche Indikation
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zurückzuführen, um das weitere Vorgehen zu legitimieren. Bei den Indikationsüberlegungen lassen sich somit mehrere Schritte eines Entscheidungsprozesses unterscheiden. Dies stellt Stufen juristischen Denkens mit steigender Wahrscheinlichkeit dar, genauer von der Vermutungserkenntnis zur vorläufigen Erkenntnis bis hin zur Abschlusserkenntnis.125 Über die Durchführung der Massnahme besteht auch bei gegebener Indikation eine Aufklärungspflicht. Indikation und Einwilligung nach Aufklärung bilden die Grundlagen des beruflichten Tätigwerdens des Juristen. Es besteht ein Zusammenhang zwischen Art der Indikation und dem Ausmass der Aufklärungspflicht. Diese ist bei einer absoluten Indikation weniger umfassend, da zwangsläufig die Aufklärung über mögliche Alternativen entfällt,126 was nicht heisst, dass die Aufklärung ganz unterbleiben kann. Eine Einwilligung ist im Übrigen nur im Rahmen einer bestehenden fachlichen Indikation bindend.127 In der Praxis wird häufig mit dem Begriff der Aussichtslosigkeit eines Prozesses operiert, als eine Art der Kontraindikation. Wie das vorliegende Beispiel zeigt, kann eine Klageerhebung aus verschiedenen Gründen angezeigt sein: Ein operativer Eingriff führte bei einer Patientin zu Komplikationen, die eine Hirnschädigung mit vollständiger Invalidität zur Folge hatten.128 Ihre Unfallversicherung lehnte eine Haftung mit dem Argument ab, es handle sich nicht um einen Unfall. Für eine Klage gegen die Unfallversicherung gelangte die Patientin an ihre Rechtsschutzversicherung. Diese verweigerte eine Kostengutsprache unter Hinweis auf die Aussichtslosigkeit der Klage. Es handle sich bei der Komplikation nicht um einen Unfall und ein Anspruch gegen die Unfallversicherung sei verjährt. Zu den vertraglichen Voraussetzungen einer Kostengutsprache gehörte im vorliegenden Fall, dass der Rechtsstreit, für dessen Durchführung eine Kostengutsprache verlangt wird, nicht als aussichtslos erscheint. Der Begriff der Aussichtslosigkeit wurde vom Gericht gleich gehandhabt wie bei der unentgeltlichen Rechtspflege. Dort heisst es dazu: „Rechtsbegehren, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können, nicht aber, wenn die Gewinnaussichten und die Verlustgefahren sich ungefähr die Waage halten oder wenn jene nur wenig geringer sind als diese. Es soll verhindert werden, dass eine Partei auf Staatskosten einen Prozess durchführt, den eine vermögende Person auf eigene Kosten vernünftigerweise nicht unternehmen würde.“129 124
Vgl. für die Medizin Anschütz (1982), S. 6. Vgl. Anschütz (1982), S. 14. 126 Anschütz (1989), S. 143. 127 Misslingt ein medizinischer Eingriff, der nicht notwendig oder objektiv nicht geeignet war oder weil er unsachgemäss ausgeführt wurde, so ist die Widerrechtlichkeit selbst dann zu bejahen, wenn der Patient eingewilligt hat. (BGE 115 Ib 175, 181). 128 BGE 119 II 368, 369 f. 129 BGE 105 Ia 113, 114. 125
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6. Teil: Die Auswirkungen der Rechtswissenschaft
Das Bundesgericht verneinte im Prozess der Patientin gegen die Rechtsschutzversicherung über die Kostengutsprache (Feststellung der Leistungspflicht) unter den gegebenen Umständen die Aussichtslosigkeit einer Klage gegen die Unfallversicherung. Zur Verjährungsfrage führte es aus: „Die Beklagte bestreitet indessen nicht, dass die S., bei der die O. (Unfallversicherung) offenbar rückversichert ist, gegenüber der Klägerin auf die Verjährungseinrede verzichtet habe. Vertragspartnerin der Klägerin sei aber die O. und nicht die S. Der Verzicht dieser könne jener nicht entgegengehalten werden. Die O. verweigere jede Zahlung. Von daher sei es unwahrscheinlich, dass sie sich nicht auf die Verjährung berufe. Die Verjährung lässt die Forderung nicht untergehen, sondern bewirkt, dass der Schuldner unter Berufung auf die Verjährung seine immer noch geschuldete Leistung verweigern kann. Es handelt sich um eine Einrede im technischen Sinne (. . .). Sie ist deshalb nur zu berücksichtigen, wenn sie vom Schuldner geltend gemacht wird. Verweigert ein Schuldner die Leistung, hat er damit die Verjährung noch nicht geltend gemacht. Allerdings erscheint es in der Tat in der Regel unwahrscheinlich, dass ein Schuldner, der im Vorfeld eines Prozesses jede Leistung verweigert, sich im Prozess nicht auf die Verjährung berufen wird. Indessen sind Ausnahmen durchaus vorstellbar. Insbesondere braucht mit der Berufung auf die Verjährung durch eine Versicherung nicht gerechnet zu werden, wenn diese für den entsprechenden Schaden rückversichert ist und die Rückversicherung ihrerseits auf die Einrede der Verjährung gegenüber dem Versicherten verzichtet hat. Diesfalls hat die Versicherung den Schaden nicht selber zu tragen und sie wird von daher kaum ein Interesse haben, die Verjährung geltend zu machen. Solche Umstände sind aber vorliegend unbestritten gegeben. Auch lehrt die Erfahrung, dass Versicherer bisweilen in grundsätzlichen Fällen auf die Verjährungseinrede im Prozess verzichten. Von daher kann die Aussichtslosigkeit nicht schon damit begründet werden, dass sich die S. möglicherweise auf die Verjährung berufen könne, wenn sie das bis anhin nicht getan hat.“130
Bezüglich des Unfallbegriffs wurde verworfen, dass die konstitutionelle Prädispostion der Patientin einen Unfall ausschliesse. Ferner wurde dazu ausgeführt: „Damit ein ärztlicher Eingriff als ungewöhnlicher äusserer Faktor (und damit als Unfall) qualifiziert werden kann, muss seine Vornahme unter den jeweils gegebenen Umständen vom medizinisch Üblichen ganz erheblich abweichen und zudem, objektiv betrachtet, entsprechend grosse Risiken in sich schliessen. Im Rahmen einer Krankheitsbehandlung, für welche der Unfallversicherer nicht leistungspflichtig ist, kann ein Behandlungsfehler ausnahmsweise den Unfallbegriff erfüllen, nämlich wenn es sich um grobe und ausserordentliche Verwechslungen und Ungeschicklichkeiten oder sogar um absichtliche Schädigung handelt, mit denen niemand rechnet noch zu rechnen braucht. (. . .) Die Voraussetzungen des Unfallbegriffs sind aber unabhängig von der zivilrechtlichen Haftung zu beurteilen, und nicht jeder Kunstfehler braucht einen Unfall darzustellen (. . .). Entsprechend kommt auch der Frage, ob eine bestimmte Behandlung überhaupt indiziert war, keine zentrale Bedeutung zu. Erweist sich die Indikation für einen im Rahmen der Krankheitsbehandlung erfolgten Eingriff im Nachhinein als falsch, liegt eine blosse Fehlbehandlung vor. 130
BGE 119 II 368, 374.
V. Die wissenschaftliche Aufklärung
143
Hierfür hat der Unfallversicherer nicht aufzukommen, es sei denn, die (nicht indizierte) Vorkehr selber überschreite die Schwelle der Aussergewöhnlichkeit (. . .). Ob diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall gegeben sind, mag in der Tat fraglich erscheinen. (. . .) Im vorliegenden Fall ist (. . .) zu beachten, dass Ausgangspunkt für die Schädigung offenbar die Entfernung des Drainagesystems und damit ein unmittelbarer Eingriff in den Körper gebildet hat. Fraglich mag indessen erscheinen, ob die Entfernung der Drainage mit anschliessendem das Hirn schädigendem Überdruck unter den gegebenen Umständen ganz erheblich vom medizinisch Üblichen abwich. Es geht indessen im vorliegenden Verfahren nicht darum zu beurteilen, ob tatsächlich ein Unfall vorliegt. Vielmehr ist die Frage zu entscheiden, ob die Auffassung des Kantonsgerichts – auf die das Obergericht verweist –, es liege ein Unfall vor, als derart abwegig bezeichnet werden muss, dass ein Prozess der Klägerin gegen die Unfallversicherung als von vornherein aussichtslos bezeichnet werden müsste. Das lässt sich aber auf Grund der vorstehenden Überlegungen nicht behaupten.“131
Die Klageerhebung gegen die Rechtsschutzversicherung ist ohne weiteres indiziert, zumal für vorprozessuale Abklärungen gegen die Unfallversicherung noch eine Gutsprache geleistet wurde. Die Indikation zur Klage gegen die Unfallversicherung wird vom Faktor beeinflusst, dass das finanzielle Risiko dann durch die Rechtschutzversicherung abgedeckt wäre. Müsste es von der Klägerin selbst getragen werden, sollte der Umstand, dass die Unfallversicherung die Verjährunseinrede erheben kann, stärker gewichtet werden. Ohne vorherige Vergewisserung könnte die Klageindikation wohl nicht gestellt werden. Allerdings wird hier nur das Vorliegen der Kontraindikation der Ausichtslosigkeit geprüft. Hingegen wird bezüglich der Ungewissheit, ob das Gericht den fehlerhaften medizinischen Eingriff tatsächlich als Unfall werten wird, kein übermässiges Risiko eingegangen. Eine solche Annahme erscheint ohne weiteres vertretbar und darüber kann bei Klageeinleitung unter Berücksichtigung des wirtschaftlichen Vorteils eines Prozessgewinns keine absolute Gewissheit verlangt werden.
V. Die wissenschaftliche Aufklärung Aufklärung bezeichnet einen Klärungsprozess, in welchem Unwissen beseitigt wird. Das Aufklären ist eine auf Erzielung von mehr Klarheit gerichtete Tätigkeit, das Aufgeklärtwerden verschafft ein klares Bewusstsein von der Bedeutung der Dinge. Das Klar-machen und Klar-werden vermindert somit das Wissensgefälle zwischen zwei Personen. Es geht um Information über Umstände, die einer Person noch nicht bekannt sind und führt bei ihr zu einer Erkenntnis eines Sachverhaltes. Damit wird die Voraussetzung der Klarheit ihres Urteils geschaffen. Zwischen Aufklärung und Beratung besteht ein Unterschied: Wer einen Rat erteilt, legt dem Gegenüber ein entsprechendes Verhalten nahe, während die Aufklärung sich damit begnügt, die tatsächlichen Voraussetzungen 131
BGE 119 II 368, 375 f.
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6. Teil: Die Auswirkungen der Rechtswissenschaft
für dessen eigenen Entscheid zu verschaffen. Ein Ratschlag setzt allerdings regelmässig eine entsprechende Aufklärung voraus.132 Aufklärung beschränkt sich somit auf Sachverhaltsinformationen. Von anderen Informationshandlungen unterscheidet sich die Klarstellung dadurch, dass sie von sich aus, also spontan, erfolgt. Sie bedarf im Unterschied zur Auskunftserteilung keines besonderen Begehrens. Anders als bei blossen Hinweisen (Deklarationen, Warnungen)133 verschafft die Aufklärung spezifische Entscheidungsgrundlagen.134 Die Aufklärung ist folglich eine unaufgeforderte Darlegung und Begründung von noch unbekannten Sachverhalten, die einer Person zur Entscheidungsfindung dienen können. Die Aufklärungspflicht ist die auf Aufklärung gerichtete Rechtspflicht.135 Sie besteht unabhängig von einer vertraglichen Vereinbarung oder einer besonderen gesetzlichen Vorschrift bereits gestützt auf Treu und Glauben:136 Die Aufklärungspflichten ergeben sich auf Grund des in Anspruch genommenen Vertrauens.137 Ausschlaggebend dafür ist, dass in einem Rechtsverhältnis aufgrund des besonderen Verhaltens einer Partei oder wegen ihrer speziellen Position berechtigtes Vertrauen geschaffen wird. Solches kann schon für die Vertragsverhandlung gelten. Die besondere Aufklärungspflicht erstreckt sich deswegen nicht bloss auf die Abwicklung des Vertrages, sondern bereits auf ihre Anbahnung.138 Schutzwürdig sind insbesondere die Erwartungen, die man den wissenschaftlichen Berufen hinsichtlich der Indiziertheit, Richtigkeit und Vollständigkeit ihrer Erklärungen entgegenbringt.139 Berechtigtes Vertrauen wird durch die besondere berufliche Stellung sowie Selbstdarstellung begründet.140 Der Grund liegt in der Funktion als Sachverständige sowie den erhöhten Berufspflichten, welchen die Berufsangehörigen unterliegen.141 Diese Berufspflichten basieren auf dem eigenen berufsethischen Selbstverständnis und vielfach, wie beim Arzt oder Rechts-
132
Hartmann, S. 5; Abegglen, S 124; Nigg, S. 204. Hartmann, S. 19; vgl. das Konsumenteninformationsgesetz (SR 944.0) und die Preisbekanntgabeverordnung (SR 942.211). 134 Vgl. Abegglen, S. 118; Wiegand (1993), S. 150. 135 Vgl. Wiegand (2002), S. 761; Abegglen, S. 118; BGE 130 I 126, 131 f.: Von Bedeutung ist die Aufklärungspflicht auch im öffentlichen Recht sowie im Strafrecht. Der Pflicht der Behörde, die festgenommene Person unverzüglich über ihr Aussageverweigerungsrecht aufzuklären, kommt als eigenständige Verfahrensgarantie mit formellrechtlichen Charakter gestützt auf Art. 31 Abs. 2 BV Verfassungsrang zu; zur Pflicht zur Aufklärung über eine HIV-Infektion vgl. BGE 131 IV 1, 6. 136 Vgl. BGE 120 II 331, 336; BGE 121 V 28, 30; Hartmann, S. 25; Abegglen, S. 147. 137 Abegglen, S. 147. 138 Vgl. BGE 124 III 155, 162. 139 Vgl. Abegglen, S. 58 f. 140 Abegglen, S. 157. 141 Vgl. Abegglen, S. 181. 133
V. Die wissenschaftliche Aufklärung
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anwalt, zusätzlich auf öffentlich-rechtliche Ausübungsvorschriften.142 Die Aufklärungspflicht gehört zu den allgemeinen Berufspflichten der wissenschaftlichen Berufe.143 Wer dieser Berufe ausübt, garantiert aber, dass er die beruf-lichen Standards gewährleisten und die Berufspflichten beachten wird.144 Den Berufsangehörigen wird deshalb berechtigterweise ein über die allgemeinen Redlichkeitserwartungen hinausgehendes Vertrauen in die fachliche Kompetenz und persönliche Integrität entgegengebracht, das schützenswert ist.145 Es lässt sich somit von einer wissenschaftlichen Aufklärungspflicht sprechen und zwar nicht nur bezüglich der Person des Aufklärungspflichtigen, sondern auch wegen des Inhalts der Aufklärung. Inhaltlich geht es um die Erklärung eines wissenschaftlichen Vorgangs, womit eine wissenschaftliche Erkenntnis vermittelt wird.146 Das stellt als massgebender Umstand für die Willensbildung des Klienten neben dem Hinweis auf die Bedeutung allgemeiner Vertragsbestimmungen sowie den Bedingungen der Vertragsgültigkeit den zentralen Bestandteil der Aufklärungspflicht dar.147 So ist etwa der Arzt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts verpflichtet, den Patienten über die Diagnose sowie Art und Risiken der in Aussicht stehenden Behandlungsmethoden aufzuklären.148 Die Aufklärung beinhaltet bei allen wissenschaftlichen Berufen die Indikation und umfasst damit Nutzen und Risiken einer beabsichtigten beruflichen Massnahme. Es besteht ein Anspruch über deren Art, Umfang, Verlauf, Risiko, Alternativen und Prognose unaufgefordert, rechtzeitig und umfassend informiert zu werden. Ausser diesen wissenschaftlichen Befunden sachlicher Art gibt es diejenige persönlicher Art, namentlich über die eigene fachliche Kompetenz. So ist auf das Fehlen der erforderlichen Fachkenntnisse oder eigenes fachliches Fehlverhalten hinzuweisen.149 Bereits als Vertragsverhandlungspartner hat der Berufsinhaber somit auf Umstände, die für die Gestaltung eines beabsichtigten Vertragsverhältnisses von objektiver oder erkennbar subjektiver Bedeutung sind, von sich aus hinzuweisen.150 Die Aufklärungsbedürftigkeit muss nicht eigens dargelegt werden.151 Bei bestehendem Auftragsverhältnis kann die Aufklärungspflicht auch aus der Treuepflicht im Sinne von Art. 398 Abs. 2 OR152 oder dem Weisungsrecht nach 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152
Vgl. Wiegand (1985), S. 83. Bezüglich Arzt vgl. BGE 117 Ib 197, 200. Wiegand (1985), S. 84. Hartmann, S. 36 f.; Abegglen, S. 157 und S. 163. Vgl. Nigg, S. 204; Wiegand (1993), S. 150. Vgl. Hartmann, S. 15. BGE 117 Ib 197, 203. Hartmann, S. 18 f. Vgl. BGE 131 V 472, 479. Abegglen, S. 175. BGE 115 II 62, 65; Wiegand (1993), S. 151; Nigg, S. 204.
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6. Teil: Die Auswirkungen der Rechtswissenschaft
Art. 397 OR153 abgeleitet werden, womit im Gegensatz zur Auskunftspflicht nach Art. 400 Abs. 2 OR oder der Rechenschaftspflicht gemäss Art. 400 Abs. 1 OR betont wird, dass sie ohne entsprechendes Verlangen der Gegenseite besteht.154 Indes unterscheiden sich vorvertragliche und vertragliche Aufklärungspflichten in ihrer Bedeutung nicht.155 Sie ergeben sich insbesondere nicht erst aus dem vertraglich explizit oder konkludent Vereinbarten.156 Die Aufklärungsinhalte wirken sich als entscheidrelevante Informationen jedoch direkt auf die Vertragsgestaltung aus und beziehen sich somit auf rechtsgeschäftlichem oder rechtsgeschäftsähnlichem Verhalten.157 Damit wird auch der typische Schutzzweck der Aufklärungspflicht klar, nämlich die Ermöglichung der Selbstbestimmung und der freien Willensbildung als Ausdruck der Persönlichkeitsrechte.158 Die Aufklärung soll der Gegenseite ermöglichen, in Kenntnis aller Umstände die Vor- und Nachteile abzuwägen und gestützt darauf selbst eine kompetente Entscheidung zu treffen.159 Die Partei muss in die Lage versetzt werden, ihre vertraglichen Rechte, insbesondere die Weisungsbefugnis, wirksam wahrzunehmen, meistens dadurch, dass die Einwilligung zu der vom Berufsinhaber vorgeschlagenen Massnahme erteilt wird. Die Aufklärung ist regelmässig mit der Empfehlung einer wissenschaftlich indizierten Massnahme verbunden, die sodann durch den dadurch erzielten Konsens zum Gegenstand einer vertraglichen Vereinbarung wird. Der Rat darf deshalb nicht persuasiv sein. Die Weitergabe von Informationen über die Indikation muss also in eine zum jeweiligen Zeitpunkt als hinreichend empfundene Sicht auf die Sache münden, die daran gemessen wird, ob eine selbstbestimmte und kompetente Ausübung der vertraglichen Rechte ermöglicht wird, selbst wenn fraglich ist, ob die Gestaltungsmöglichkeit tatsächlich genutzt wird.160 Der weitere Gang der Dinge soll durch eigene, vernünftige Entscheide des Auftraggebers bestimmt werden. Ist dies aus Sicht des Berufsinhabers trotz Aufklärung noch nicht der Fall, besteht eine besondere Abmahnungspflicht.161 Der Berufsinhaber hat als Fachmann nicht nur über die Kosten und Gefahren sowie die Erfolgschancen unaufgefordert Auskunft zu geben, sondern auch über die Zweckmässigkeit des Auftrages und der Weisungen.162 Der Umfang der Aufklärungspflichten bemisst sich daran, ob der Zweck einer autonomen und kompetenten Entscheidungsmöglichkeit erreicht 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162
Nigg, S. 204; Wiegand (1993), S. 151. Vgl. Nigg, S. 204; Hartmann, S. 4 f; Abegglen, S. 4 f. Abegglen, S. 131. Abegglen, S. 119 und S. 124. Abegglen, S. 118 und S. 120. BGE 117 Ib 197, 200; Abegglen, S. 120 und S. 135. BGE 117 Ib 197, 209; Wiegand (1985), S. 114. Vgl. BGE 131 V 472, 479. Vgl. BGE 115 II 62, 65. BGE 115 II 62, 65.
V. Die wissenschaftliche Aufklärung
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wird, unabhängig davon, ob der Aufklärungspflichtige über das entsprechende Wissen tatsächlich verfügt.163 Der Parteiwille oder bestehende Berufsstandards sind bezüglich des Umfangs der Aufklärung ebenfalls nicht massgebend.164 Ein massgeblicher Zeitpunkt zur umfassenden Aufklärung besteht nach erfolgter Sachverhaltsabklärung.165 Aufzuklären ist in einem bestehenden Vertragsverhältnis im Übrigen immer dann, wenn der Berufsinhaber eine ausdrückliche Einwilligung einholen muss oder auf konkrete Weisungen angewiesen ist.166 Dies gilt insbesondere, falls er sein Vorgehen grundsätzlich ändert.167 Damit wird die Voraussetzung geschaffen, die Interessen des Mandanten sachgerecht weiterzuverfolgen.168 Die Aufklärungspflicht steht so im Kontext der weiteren auftragsrechtlichen Informations-, Beratungs- und Warnpflichten, die sich ebenfalls aus der Sorgfalts- und Treuepflicht gemäss Art. 398 Abs. 2 OR ergeben.169 Die Einhaltung der Aufklärungspflicht verlangt vom Berufsinhaber eine offene, wahrheitsgemässe und vollständige Information. Das Mass der erforderlichen Aufklärung bestimmt sich dabei danach, was ein gewissenhafter Berufsinhaber in der gleichen Lage an Sorgfalt anzuwenden pflegt.170 Ein blosses Erwähnen der Risiken genügt nicht.171 Die gebotene Intensität richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls,172 d.h. nach individuell-konkreten Massstäben.173 Die Aufklärung muss umso intensiver sein, je schwerwiegender die Bedeutung einer Tatsache oder die Risiken und Folgen einer Massnahme sein können.174 Nicht aufgeklärt werden muss über Nebensächlichkeiten.175 Sofern er forensisch tätig werden soll, muss der Anwalt seinen Klienten nach bestem Wissen und Gewissen über die Prozesschancen informieren. Dabei hat er ihn über alle Risiken aufzuklären.176 Auf ungünstige Erfolgsaussichten ist ausdrücklich und unter Angabe der ungefähren prozentualen Anteile hinzuweisen.177 Für die gehörige Aufklärung trägt der Berufsinhaber die Beweislast.178 Sie ist an 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178
Wiegand (1993), S. 151; Abegglen, S. 173. Abegglen, S. 124. Vgl. Abegglen, S. 40 f. Vgl. BGE 115 II 62. BGE 115 II 62, 67. Nigg, S. 212. Vgl. Nigg, S. 204; BGE 124 III 155, 162. Abegglen S. 124. BGE 124 III 155, 163. Hartmann, S. 29. Wiegand (1993), S. 158. BGE 117 Ib 197, 203; BGE 113 Ib 420, 426; Hartmann, S. 41. Hartmann, S. 41. Abegglen, S. 40 f.; vgl. BGE 124 III 155, 163; BGE 116 II 519, 521 f. Vgl. BGE 117 Ib 197, 206. BGE 117 Ib 197, 202; vgl. Wiegand (1993), S. 196.
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6. Teil: Die Auswirkungen der Rechtswissenschaft
keine Form gebunden und kann mündlich oder schriftlich erfolgen.179 Die Erfüllung der Aufklärungspflicht muss indes manifestiert werden und dem Berechtigten erkennbar sein.180 Die grundsätzliche Formfreiheit wird ferner dadurch eingeschränkt, dass eine bloss schriftlich durchgeführte Aufklärung den inhaltlichen Anforderungen nicht genügt,181 falls sie mit einer Empfehlung über das weitere Vorgehen verbunden ist.182 Unter Beratung wird nämlich das individuelle Gespräch verstanden,183 so dass das persönliche Gespräch das zentrale Element einer solchen Aufklärung bildet.184 Gegenstand der Aufklärungspflicht bildet alles, was für den Berechtigten von Bedeutung ist.185 Der Inhalt der Aufklärungspflicht wird einerseits durch den Wissensstand des Aufklärungsberechtigten und anderseits durch die Natur des zu besorgenden Geschäftes bestimmt. Kompliziertheit des Gegenstandes sowie Grad der Angewiesenheit des Aufklärungsberechtigten bestimmen den Umfang. Dabei obliegt dem Aufklärungspflichtigen durch einlässliche Nachfragen, den konkreten Informationsbedarf zu ermitteln.186 Die konkrete Aufklärungsbedürftigkeit muss also nicht von vorn herein erkennbar sein.187 Aus seiner Position als Experte folgt ohne weiteres, dass der Berufsinhaber über den notwendigen Sachverstand und damit einen Wissensvorsprung verfügen muss und die erforderliche Information seinem Wissensbereich zuzurechnen ist.188 Der eigene Mangel an Fachwissen entlastet also den Aufklärungspflichtigen nicht.189 Bei der wissenschaftlichen Aufklärung ergibt sich eindeutig, dass der Aufklärungsberechtigte nicht über die Information verfügt. Der Wert oder die Risiken der Leistung sind ihm ohne fachmännische Information nicht ersichtlich.190 Ebenso wenig kann davon die Rede sein, dass er selbst für die Information sorgen sollte191 oder ihn die Pflicht trifft, die fragliche Tatsache zu kennen.192 Allerdings entfällt die Aufklärungspflicht, wenn der Aufklärungsberechtigte den Umstand tatsächlich schon kennt.193 179
Wiegand (1993), S. 189. Vgl. BGE 121 V 28, 33. 181 Wiegand (1993), S. 189; vgl. BGE 124 III 155, 163. 182 Vgl. BGE 131 V 472, 478. 183 BGE 131 V 472, 479. 184 Wiegand (1993), S. 190. 185 BGE 115 II 62, 65. 186 BGE 124 III 155, 162. 187 A. M. Abegglen, S. 175. 188 Vgl. Hartmann, S. 36; Nigg, S. 204. 189 BGE 124 III 155, 164. 190 Wiegand (1993), S. 150. 191 Vgl. zum Kriterium des Informationsbedarfs Hartmann, S. 35 f.; Abegglen, S. 178. 192 Hartmann, S. 34. 193 BGE 117 Ib 197, 204; BGE 116 II 431, 434; Abegglen, S. 178. 180
V. Die wissenschaftliche Aufklärung
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Bei der wissenschaftlichen Aufklärungspflicht des Juristen stehen keine höher zu gewichtende Interessen der Informationspflicht entgegen,194 wie dies etwa bei anderen Aufklärungspflichten aufgrund der Persönlichkeitsrechte (vgl. die Offenbarungspflicht des Bewerbers um eine Arbeitsstelle)195 oder einer medizinisch-therapeutischen Notwendigkeit der Fall sein kann. Aufgrund der spezifischen fachlichen Kompetenz des Juristen ist deshalb über alle Umstände und Bedingungen eines Falles zu orientieren. Ebenso wenig ist hier im Gegensatz zum medizinischen Bereich (z. B. bei einer HIV-Infektion) die Notwendigkeit einer Offenbarungspflicht gegenüber Dritten ersichtlich. Das Fehlen eines überwiegenden Geheimhaltungsinteresses gilt auch für eigenes Fehlverhalten, so dass der Anwalt verpflichtet ist, seinen Mandanten sowohl auf die eigenen Fehler als auch auf die sich daraus ergebenden Schadenersatzansprüche aufmerksam zu machen.196 Eine solche Offenbarungspflicht geht nicht über die aus dem Grundsatz von Treu und Glauben hergeleitete Aufklärungspflicht hinaus. Aufklärung ist ein Korrelat zur Einwilligung. Einerseits muss sich die Erläuterung auf alle Bereiche beziehen, die aus der Sicht des Aufklärungsberechtigten für die Einwilligung in eine vorgeschlagene Massnahme relevant sein können. Auszuschliessen ist ein Mangel an Wissen über Umstände, bei deren Kenntnis man sich allenfalls anders entschlossen hätte.197 Andererseits kann sich auf die Einwilligung nur berufen, wer der Aufklärungspflicht nachgekommen ist.198 Sofern mit der Aufklärung auf die Risiken aufmerksam gemacht wurde, erfasst die Zustimmung alle mit dem Eingriff in absolute Rechte notwendigerweise verbundenen Risiken.199 Die Einwilligung schliesst somit berufsinhärente Risiken ein, also solche, die bei ordnungsgemässer Durchführung und sorgfältigem Vorgehen bestehen, nicht aber solche, die auf einen Fehler zurückzuführen sind.200 Die Einwilligung ist eine rechtsgeschäftliche Willenserklärung.201 Sie kann formfrei, also mündlich oder schriftlich, erteilt werden und kann auch konkludent erfolgen.202 Der Einwand der hypothetischen Einwilligung in die Massnahme ist zulässig.203 Der Berufsinhaber trägt die Beweislast
194
Hartmann, S. 30 f. Vgl. BGE 132 II 161, 166: Der Arbeitnehmer hat im Rahmen seiner Offenbarungspflicht von sich aus alles mitzuteilen, was ihn zur Übernahme der fraglichen Stelle als ungeeignet erscheinen lässt oder die vertragsgemässe Arbeitsleistung erheblich beeinträchtigt. 196 Nigg, S. 212. 197 Abegglen, S. 173. 198 BGE 113 Ib 412, 425; BGE 115 Ib 175, 181; BGE 117 Ib 197, 200. 199 BGE 115 Ib 175, 183. 200 BGE 113 Ib 412, 425; BGE 115 175, Ib 181. 201 BGE 115 Ib 175, 183. 202 Wiegand (1993), S. 196; vgl. BGE 115 Ib 175, 183. 203 BGE 117 Ib 197, 208. 195
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6. Teil: Die Auswirkungen der Rechtswissenschaft
für die Behauptung, der Auftraggeber hätte auch bei hinreichender Aufklärung eingewilligt.204 Massgeblich bei der Prüfung der hypothetischen Einwilligung ist nicht eine vernünftige und besonnene Durchschnittsperson, sondern vielmehr, wie sich der jeweilige Vertragspartner unter den konkreten Umständen verhalten hätte.205 Die unterlassene oder unzureichende Aufklärung kann, da keine wirksame Einwilligung besteht, durch die nachfolgenden Massnahmen zu einem unerlaubten Eingriff in absolute Rechte wie körperliche Integrität oder Eigentum führen.206 Sie ist als Verletzung des Vertrauens und nach erfolgtem Vertragsschluss als Schlechterfüllung des Vertrages auch als solche haftungsbegründend.207 Die Aufklärungspflichtverletzung wird der Haftung für schlechten Rat und falsche Auskunft zugeordnet.208 Demnach trifft gestützt auf Art. 41 OR eine Schadenersatzpflicht, wer aufgrund seines Fachwissens auch blosse Gefälligkeitsauskünfte erteilt und dabei wider besseres Wissen oder leichtfertig unrichtige Angaben macht oder ihm bekannte entscheidrelevante Tatsachen verschweigt.209 Die fehlerhafte Aufklärung wird der Täuschung gleichgesetzt.210 Ein täuschendes Verhalten nach Art. 28 OR besteht ausser in einer Vorspiegelung falscher Tatsachen im Verschweigen von Tatsachen, soweit eine Aufklärungspflicht besteht. Eine solche kann sich ergeben, wenn eine Mitteilung nach Treu und Glauben und den herrschenden Anschauungen geboten ist, was für den konkreten Einzelfall zu bestimmen ist.211 Allerdings beeinträchtigt die Verletzung der Aufklärungspflichten nach Abschluss des Vertrages die Vertragsgültigkeit nicht.212
204 205 206 207 208 209 210 211 212
Vgl. BGE 117 Ib 197, 208. Vgl. BGE 117 Ib 197, 209. Vgl. BGE 117 Ib 197, 200. BGE 124 III 155, 163; BGE 120 II 331, 335. Abegglen, S. 58 f. Abegglen, S. 58. Vgl. BGE 131 V 472, 480; BGE 121 V 28, 34. BGE 132 II 161, 166; BGE 116 II 431, 434. Hartmann, S. 8.
7. Teil
Die Ergebnisse der Rechtswissenschaft I. Die ratio legis Die ratio legis (Vernunft, Verstand des Gesetzes) geht von der Vorstellung aus, eine Norm beruhe auf einem vernünftigen Grund. Jeder Rechtsnorm sei ein rationaler Zweck oder ein Sinn immanent. Diese Konzeption weicht von der archaischen Auffassung ab, der willkürliche Herrscherwille sei massgebend und reiche als Rechtsgrund aus. Die Handhabung der Norm wird sodann auf die ratio legis ausgerichtet, so dass andere Kriterien, wie beispielsweise die Wortbedeutung oder der Wille des Gesetzgebers, nicht ausschlaggebend sind.1 Eine solche Ausrichtung hat zur Folge, dass die Rechtsnorm mittels Analogie auch auf Fälle angewendet werden kann, die durch die Wortbedeutung nicht erfasst sind. Auch das Gegenteil einer so genannten teleologischen Reduktion ist möglich, indem die Norm auf Fälle, die der klaren Wortbedeutung, aber nicht dem Zweck entsprechen, keine Anwendung findet. Es erfolgt also eine Einschränkung oder Ausdehnung, wenn die Wortbedeutung gegenüber der ratio legis zu weit oder zu eng ist. Dort, wo die sprachliche Fassung das Regelungsziel nicht erreicht, sind unabhängig von der Wortbedeutung der Norm alle Fälle erfasst, die von der ratio legis gedeckt sind. Analogie und Reduktion sind abgesehen vom Strafrecht in der Rechtsanwendung anerkannt.2 Dabei handelt es sich nicht um einen Eingriff in die gesetzgeberische Kompetenz, sondern um eine zulässige richterliche Rechtsschöpfung.3 Aufgrund ihrer Ausrichtung der Auslegung auf die ratio legis4 umschreibt das Bundesgericht diese als „den wahren Rechtssinn einer Vorschrift,“5 der aufgrund der herkömmlichen Auslegungselemente zu ermitteln sei.6 Damit wird die ratio legis im Endeffekt zur Umschreibung des richtigen Auslegungsergebnisses.7
1 Vgl. für die frühneuzeitliche juristische Interpretationsliteratur Schröder (2001), S. 60. 2 BGE 123 II 595, 600; BGE 121 III 219, 224; BGE 111 la 292, 297. 3 BGE 121 III 219, 224. 4 Vgl. BGE 123 II 595, 600; BGE 121 III 219, 224. 5 BGE 111 la 292, 297. 6 BGE 123 II 595, 600; BGE 121 III 219, 224. 7 Eichenberger, S. 15; ablehnend Dubs, S. 22.
152
7. Teil: Die Ergebnisse der Rechtswissenschaft
Die ratio legis als vernünftiger und zweckmässiger Gesetzesgrund besagt also, dass es sich dabei um das Normprinzip handelt. Eine direkt ausgesprochene ratio ist indes selten. Bei unausgesprochener ratio stellt sich somit die Frage nach ihrer Ermittlung. Dabei ist davon auszugehen, dass die Norm immer das Mittel zur Erreichung eines beabsichtigten Zweckes ist. Jeder Norm liegt eine rationale Zweck-Mittel-Relation zugrunde. Zu ihrer Festlegung greift man auf die gängigen Auslegungsmethoden zurück.8 Vielfach wird die ratio legis deshalb in einem engen Sinn als Bezeichnung des massgebenden Gesetzeszwecks, also als Umschreibung des telos im Sinne der teleologischen Auslegungsmethode verstanden.9 Ferner wird zur Erschliessung des ursprünglichen, entstehungszeitlichen Zweckes auf die Entstehungsgeschichte mit den Materialien verwiesen.10 Im Grundsatz sei die Festlegung auf die Regelungsabsicht des Gesetzgebers und die damit erkennbar getroffenen Wertentscheidungen auszurichten. Die Zweckbezogenheit des rechtsstaatlichen Normverständnisses lasse sich nicht aus sich selbst heraus, sondern nur aus den Absichten des Gesetzgebers ableiten.11 Nach herrschender Auffassung kommen deshalb neben dem teleologischen auch die grammatikalischen, historischen und systematischen Gesichtspunkte zur Anwendung. Die ratio legis geht jedoch über den direkten Normzweck hinaus.12 Sie ist auch mehr als ein teleologisches Auslegungselement oder gar eine blosse Auslegungsmethode.13 Der sinnerfüllte Grund, warum eine Rechtsnorm besteht, beschreibt nämlich auch das Ziel des Rechts an sich. Die Ratio ergibt sich deshalb nicht nur aus dem einzelnen Gesetz, sondern direkt aus dem Recht selbst. Sie verweist als Rechtsnormgrund zwangsläufig auch auf die Essenz des Rechts,14 als den höheren Rechtsgrund, auf dem die Norm beruht.15 Die ratio legis umfasst damit ebenso das allgemeine Rechtsprinzip der Würde der Person sowie die übrigen Rechtsprinzipien. Was als ratio legis angesehen wird, hängt damit von der Rechtskonzeption ab. Im Absolutismus beinhaltete diese ausschliesslich den Willen des Gesetzgebers. Heute kann auf die Rationalität und die Ethik des logisch widerspruchsfreien und auf einer Wertvorstellung basierenden Rechtssystems verwiesen werden. Neben der Essenz des Rechts kommen in der ratio legis auch seine Ordnungs-, Friedensund Sicherheitskomponenten zum Tragen. Sie ist deshalb nicht etwas Unabänderliches, sondern passt sich den veränderten Wert- und Ordnungsvorstellungen an. 8
Vgl. BGE 121 III 219, 224. Vgl. Dubs, S. 22. 10 Vgl. Dubs, S. 25. 11 BGE 121 III 219, 224. 12 Eichenberger, S. 14. 13 Eichenberger, S. 13. 14 Vgl. Eichenberger, S. 13. 15 Vgl. Schröder (2001), S. 234. 9
II. Die Rechtsprinzipien
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II. Die Rechtsprinzipien 1. Die Theorie des Rechtsprinzips Nach herrschender Auffassung ist die Unterscheidung zwischen Regel und Prinzip von qualitativer Natur und insbesondere keine Frage des Abstraktionsgrades: Generalität schaffe noch kein Prinzip.16 Prinzipiengewinnung basiere somit nicht auf Abstraktion, sondern auf Konstruktion.17 Jede Norm sei deshalb entweder eine Regel oder ein Prinzip.18 Abgrenzungskriterium sei zunächst die Art der Äusserung: Regeln seien bedingte Allsätze mit gültiger logischer Implikation (wenn-dann), d.h. dem Schluss von der Bedingung auf die Konsequenz. Sie seien normalerweise mit einer Rechtsfolge (Sanktion) belegt, die als Implikation eines Tatbestandes formuliert sei. Dagegen wiesen Prinzipien keinen Aufforderungscharakter auf, bestimmen also nicht unmittelbar die normativen Folgen.19 Prinzipien statuierten vielmehr einen Zustand, dessen Erreichen von der Auswahl und Wirkung der Verhaltensregeln abhänge.20 Prinzipien erforderten ferner eine Abwägung zwischen dem als ihren Zweck gesetzten Idealzustand und dem dafür notwendigen Verhalten.21 Ein weiteres Kriterium sei der Anwendungsmodus: Regeln hätten einen Alles-oder-Nichts-Charakter (Umfassungsanspruch),22 Prinzipien einen Sowohl-als-auch- bzw. einen Mehr-oder-Weniger-Charakter.23 Mehrere Prinzipien gelangten gleichzeitig, auf graduelle Weise, mittels Abwägung zur Anwendung, während Regelkonflikte mit der Ungültigkeit einer der beiden Regeln endeten.24 Prinzipien seien somit als Optimierungsgebote zu verstehen.25 Ihr Konflikt sei systemimmanent.26 Schliesslich sei der Beitrag zur Entscheidungsfindung unterschiedlich. Prinzipien umfassten nur einen Teil der dafür relevanten Aspekte (Partialitätsanspruch),27 während Regeln einen Anspruch auf die Erzeugung einer spezifischen Lösung hätten.28 Prinzipien determinierten die Entscheidung nicht, sondern enthielten nur Grund-
16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28
Progl, S. 5. Vgl. Progl, S. 6. Vgl. Alexy (2000), S. Vgl. Bergmann Avila, Vgl. Bergmann Avila, Vgl. Bergmann Avila, Vgl. Bergmann Avila, Vgl. Bergmann Avila, Vgl. Bergmann Avila, Vgl. Bergmann Avila, Vgl. Bergmann Avila, Vgl. Bergmann Avila, Vgl. Bergmann Avila,
32; Progl, S. 6. S. 25 ff. und die dort zitierte Literatur. S. 129. S. 129. S. 129; Ramos Pascua, S. 9. S. 28 ff. und dort zitierte Literatur. S. 26 ff. und S. 41. S. 26. S. 27. S. 129. S. 130.
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7. Teil: Die Ergebnisse der Rechtswissenschaft
lagen oder werttheoretische Fundamente, die mit anderen Aspekten zusammengebracht werden müssten.29 Sie bedürften zudem einer Konkretisierung.30 Ein Prinzip ist der Grund von respektive die Voraussetzung für etwas. Ein Merkmal ist dessen Vorrangeigenschaft und stellt den Leitgedanken31 oder eine fundamentale Festlegung dar. Ein Rechtsprinzip ist deshalb der Ursprung, die oberste Bedingung oder die Begründung einer Rechtsnorm. Gleichzeitig ist die Rechtsnorm Ausdruck von Rechtsprinzipien. Ein und dasselbe Rechtsprinzip kann in verschiedenen Rechtsnormen enthalten sein,32 so dass ein Rechtsprinzip eine normübergreifende, gegenüber der Norm allgemeinere Aussage enthält. Allerdings meint diese Definition nicht, dass auch eine übergeordnete Norm ein Prinzip für die darauf beruhende niederrangige Norm darstellt. Ansonsten wäre die Verfassung (insbesondere deren Grundrechtsteil) Rechtsnorm und Prinzip zugleich.33 Zwischen einer allgemeinen Rechtsnorm (z. B. einem Grundrecht) und einem Rechtsprinzip besteht – obwohl eine qualitative Differenz vorliegt – hinsichtlich der Wirkung indes nur ein gradueller Unterschied. Zwar haben die meisten Rechtsprinzipien keine positiv-rechtliche Existenz, sondern müssen von der Rechtswissenschaft als dem Recht immanent identifiziert und spezifiziert sowie begrifflich und argumentativ zur Geltung gebracht werden.34 Wo ein Prinzip ausnahmsweise positives Recht ist,35 weist es jedoch nicht die formale Struktur und den materiellen Gehalt einer Rechtsnorm mit ihrer unmittelbaren Rechtsfolge auf. Das Rechtsprinzip ist nur insofern normativ, als die in ihr enthaltene, deskriptive Aussage Normen betrifft. Den Rechtsprinzipien darf allerdings eine mittelbare normative Gültigkeit nicht abgesprochen werden. Diese kommt den Rechtsprinzipien schon insoweit zu, als sie sich in den Rechtsnormen verkörpern.36 Die Anwendung einer Rechtsnorm richtet sich zudem ausser an der ratio legis immer an den werttheoretisch höherrangigen Prinzipien aus.37 Ferner wird in bestimmten Fällen so auf sie zurückgegriffen, dass Rechtsprinzipien zur direkten Anwendung gelangen und dadurch die richterliche Entscheidung unmittelbar bestimmen.38 Damit sind sie automatisch Teil des anwendba29
Vgl. Bergmann Avila, S. 25 ff. Vgl. Bergmann Avila, S. 25. 31 Vgl. Progl, S. 4 f. 32 Llompart, S. 6. 33 Progl, S. 4. 34 Llompart, S. 8. 35 Vgl. Art. 5 BV, Grundsätze rechtsstaatlichen Handeln: Abs. 1: Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht; Abs. 2: Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein; Abs. 3: Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben; Abs. 4: Bund und Kantone beachten das Völkerrecht. 36 Llompart, S. 6. 37 Vgl. Bergmann Avila, S. 129. 38 Ramos Pascua, S. 9. 30
II. Die Rechtsprinzipien
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ren Rechts. Indem die Rechtsprinzipien den sinnvollen Zusammenhang ausdrücken, bleiben sie allerdings Teil des immateriellen inneren Systems des Rechts. Sie sind erkenntnistheoretisch zu verstehen als Mittel oder Voraussetzung des Rechtsverständnisses oder ontologisch als Grund oder Begründung von dem, was wir Recht nennen.39 Die Reduktion des Rechts auf seine formellen und materiellen Prinzipien ermöglicht die kohärente Interpretierbarkeit der Normen, die Erklärung von Phänomenen sowie die Rechtsfindung. Hierin besteht die Rechtfertigung zur Verwendung des Begriffs „Prinzip“. 2. Das universale Rechtsprinzip Ein Grundsatz oder Prinzip ist immer ein Allsatz. Er drückt das Allgemeine, das verschiedenen Gegenständen Gemeinsame, aus. Ein solches Prinzip, verstanden als die Voraussetzung für etwas oder die Herrschaft über etwas, ist absolut, wenn ihm nichts vorangeht.40 Ein Verweis auf andere Sätze oder ein Beweis durch sie besteht nicht. Ein absolutes Prinzip ist also keine Schlussfolgerung aus einer höheren Voraussetzung. Vielmehr steht ein absolutes Prinzip am Anfang und kann deshalb als Grund im Sinne einer Erstprämisse bezeichnet werden. Ein absolutes Prinzip zeichnet sich nicht nur durch die Eigenschaft aus, Vorrang zu haben. Ausser dem Voranstehen kennzeichnet es sich auch durch die besondere Art der Wahrheit.41 Diese beruht nicht auf logischer Ableitung, sondern aus unmittelbar einleuchtender Anschauung und intuitiver Erfassung oder wird schlicht als gegeben unterstellt. Ein solches Axiom und gleichzeitig eine apriorische Voraussetzung stellt für das Recht die Personhaftigkeit des Menschen dar. Personsein ist das selbstbewusst denkende und empfindende Wesen des Menschen. Es ist allen Menschen gemeinsam und macht das Menschsein aus. Dieses Wesen des Menschen ist einmalig und wertvoll. Der Wert des Menschen ergibt sich bereits aus seinem Personsein und nicht aufgrund des Habens bestimmter Eigenschaften. Ein solches Werturteil ist die gemeinsame Überzeugung des abendländischen Menschen und damit Grundlage und Massstab seines Handelns. Das Credo, das die Person in jedem Menschen als höchster Wert zu achten ist, bildet auch den richtungsweisenden Grundsatz für das Zusammenleben. Die Würde darf niemandem abgesprochen werden. Der Wert der Person und sein Schutz ist die Erstbegründung des Rechts und macht seinen materialen Begriff aus. Recht wird also durch den Inhalt charakterisiert, es ist die verbindliche Verwirklichung eines Ethos der Person und nicht primär und ausschliesslich der Wille einer Mehrheit.
39 40 41
Llompart, S. 8. Vgl. Progl, S. 16. Progl, S. 17.
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7. Teil: Die Ergebnisse der Rechtswissenschaft
Die Achtung der Person als Anspruch und Pflicht ist oberstes und allgemeines Prinzip des Rechts. Daraus lässt sich ein axiomatisches System von Prinzipien ableiten, das durch diese Konstante determiniert ist. Das Axiom ist strukturbestimmend und liefert insbesondere Kriterien für Rechtmässigkeit als Abgrenzung von Recht und Unrecht. Ferner verlangt es seine Implementierung in jede Norm. Rechtsnormen sind unter der Voraussetzung zu verstehen und anzuwenden, dass die Würde der Person gewährleistet ist. Das Axiom ist damit gleichzeitig der Geist (mens) jedes Gesetzes. Es drückt die grundlegenden Werteigenschaften des Rechts und damit sein Wesen aus. Durch die geforderte Hypostasierung verkörpert es die rational und ethisch motivierte Essenz des Rechts im Gesetz. Die mens darf also nicht mit der ratio legis gleichgesetzt werden. Das allgemeine Rechtsprinzip ist insofern ein Ergebnis der Rechtswissenschaft, als es durch die Wissenschaft expliziert, d.h. anhand eines konkreten Bezugsgegenstandes (z. B. einer bestimmten Norm oder eines Falles) zur sprachlichen Präsenz gebracht werden muss. Damit erlangt das Wesen des Rechts direkte Geltung und wird somit verwirklicht. Die Begriffsbildung erfolgt indes nicht rein deduktiv, sondern ist das Ergebnis einer Synthese zwischen allgemeinem Rechtsprinzip und Bezugsgegenstand. Als Bestimmung und Voraussetzung der Rechtsnorm besitzt das Axiom bereits notwendige Gültigkeit, so dass die konkrete Essenz auch durch Abstraktion oder Induktion aus der Rechtswirklichkeit erlangt werden kann. 3. Die spezifischen Rechtsprinzipien Im Recht darf nicht von einem einheitlichen Prinzipienverständnis ausgegangen werden, ausser, man versteht unter einem Rechtsprinzip bereits jede allgemeingültige Aussage, die das Recht betrifft.42 Zwar trifft es zu, dass Rechtsprinzipien die Grundeigenschaften des Rechts ausdrücken. Die Prinzipiengewinnung kann jedoch in sehr unterschiedlicher Weise erfolgen. Prinzipienbildung ist wie jede wissenschaftliche Kategorienbildung eine Synthese eines apriorischen, inneren und eines empirischen, äusseren Anteils. Sie umfasst als systematische Begriffserweiterung somit sowohl empirische Induktion als auch überpositive Deduktion. Prinzipienbildung darf insbesondere nicht auf die Ableitung aus dem universalen Rechtsprinzip beschränkt bleiben. Das universale Rechtsprinzip gibt den Wertbezug jeder Rechtsnormen an, nicht aber deren parktischen Zweck. Sie ist also notwendiges, nicht jedoch hinreichendes Prinzip der Rechtsnorm. Deshalb muss sich die Rechtswissenschaft auf weitere Arten der Prinzipienbildung beziehen. Im Vordergrund steht die Konstruktion aus der vorgegebenen ratio legis.43 Dabei handelt es sich nicht um eine Abstraktion der 42 43
Llompart, S. 5. Vgl. Schröder (2001), S. 271.
II. Die Rechtsprinzipien
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Norm selbst, da deren Ergebnis wieder eine Norm darstellen würde,44 sondern um eine Ideation (Neubildung eines Begriffes). Aus dem universalen Rechtsprinzip des Wertes der denkend-rationalen Person mit ihrem Vernunft-, Freiheits- und Sozietätsgehalt als Prämisse lässt sich ein System von formalen und materialen Rechtsprinzipien ableiten, die man als axiomatische Wesensprinzipien bezeichnen kann. Anhand der formalen Kategorie Person mit dem Kriterium Identität (Ichheit der Person) entsteht eine Subjekt-Objekt-Beziehung zur Aussenwelt, was personales Denken und Erfahrung beinhaltet. Daraus gehen Kategorien wie Sache oder Handlung, aber auch Kausalität, Wille und Zweck hervor. Die materiale Kategorie Person umfasst das Leben selbst mit der Integrität eines autonomen, unantastbaren Freiheitsbereichs. Dem Prinzip des Schutzes der Integrität und Freiheit der Person kommt eine für das Recht wesentliche Bedeutung zu. Ausdruck findet dieser Grundsatz im Prinzip der Privatautonomie mit den spezifischen Freiheitsrechten. Im Integritätsbereich besteht eine materiale Gleichheit, die absolut ist und keine Differenzierung zulässt. Der Vernunftgehalt der Person drückt sich in Rationalität und einem Gerechtigkeitssinn aus. Aus diesen beiden Kategorien leiten sich die Prinzipien der Sachgerechtigkeit, Verhältnismässigkeit, Zweckmässigkeit, proportionalen Gleichheit und Billigkeit ab. Die Vorstellung der Person umfasst auch Mitmenschlichkeit, die sich darin zeigt, gegenüber dem Mitmenschen Milde walten zu lassen und Gnade zu üben. Man soll sein Recht schonend und rücksichtsvoll ausüben sowie auf rechtsmissbräuchliches Verhalten verzichten. Aus der Einheit des materialen Prinzips ergeben sich also die apriorischen Prinzipien personale Freiheit, materiale Gleichheit, Gerechtigkeit, Rationalität und Gnade. Teleologische Prinzipien gehen von der Einsicht aus, dass jede Rechtsnorm ein konkretes Verhaltensziel aufweist. Diese variable Ordnungsfunktion des Rechts liegt in der Bewahrung vorhandener oder im Erreichen gewünschter sozialer Zustände. Eine Rechtsnorm wird als Mittel zu einem demokratisch festgelegten Ordnungszweck eingesetzt. Die Normen instrumentalisieren somit eine variable Zweck-Mittel-Relation. Die Verhaltensanweisung (Mittel) leitet sich aus einem Verhaltensziel ab. Dieses liegt letztlich in der Umsetzung bestimmter, im Wohlergehen begründeter Interessen. Die entsprechenden Prinzipien werden durch Induktion aus dem geltenden Recht gewonnen. Nach dem teleologischen Grundprinzip muss eine Rechtsnorm geeignet sein, ihrem Zweck nach ein bestimmtes öffentliches Interesse wirksam zu erreichen. Daraus ergeben sich das Verhältnismässigkeitsprinzip sowie das Prinzip des öffentlichen Interesses. Norm- oder Gesetzesprinzipien folgen aus den einer Normierung zugrunde liegenden Beständigkeits- und Sicherheitsinteressen. Das Recht ist Mittel der
44
Vgl. Progl, S. 5.
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7. Teil: Die Ergebnisse der Rechtswissenschaft
Erwartungssicherung. Die damit verbundene Beständigkeit ist ihrerseits vertrauensbildend. Aus dem Prinzip der Erwartungssicherheit entwickelt sich der Grundsatz von Treu und Glauben mit dem Vertrauensprinzip, das in zahlreichen Variationen (ne bis in idem, Rückwirkungsverbot, Kriterium der Vertragsauslegung, Haftungsprinzip, gutgläubiger Erwerb, pacta sunt servanda) das Recht prägt. Ein weiteres Postulat des Rechts ist Berechenbarkeit. Diese Rechtssicherheitsvorstellungen verlangen Erkennbarkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts. Ihren Niederschlag finden solche Gewissheitsanforderungen im Legalitätsprinzip mit seinen weiteren Ausprägungen, wie beispielsweise dem Prinzip der Bestimmtheit der Norm, dem Grundsatz nulla poena sine lege oder jenem der Nichtrückwirkung belastender Normen. Das Erfordernis drückt sich auch im Prinzip der Rechtskraft sowie in weiteren, eher institutionellen Prinzipien aus. Dazu gehören der Schutz wohlerworbener Rechte, der Ersitzung und Verjährung. Institutionelle Prinzipien sind an eine bestimmte Rechtsfigur gebunden. Bei diesem Bezugsgegenstand handelt es sich meistens um ein Rechtsinstitut, d.h. um ein Lebensverhältnis, dessen Sachzusammenhang gleichzeitig einen Normzusammenhang begründet und zu einer begrifflichen Gesamtheit zusammenfasst. Die aus dieser Rechtsfigur abgeleiteten Prinzipien drücken den entsprechenden Begründungszusammenhang aus oder formulieren deren Essenzeigenschaften. Dadurch strukturieren sie gleichzeitig die Beziehungen zwischen den Rechtsnormen, es werden ihre Kausal- und Erkenntnisfaktoren dargestellt. Solche allgemeinen Rechtsaussagen werden durch Analyse gewonnen (beispielsweise liegt der materielle Gehalt des Strafrechts im Schuldprinzip). Dieses Erkenntnisprinzip ist direkt kausal für zahlreiche Rechtsnormen, etwa für die Bestimmungen zur Strafbarkeit und Strafzumessung. Damit wird der entsprechende Sachzusammenhang definiert. Prinzipien des einen Rechtsbereiches können auch auf andere Gebiete übertragen werden. Als Erkenntnisfaktoren für das öffentliche Recht sowie das Völkerrecht gelten beispielsweise zahlreiche institutionelle Prinzipien des Privatrechts, was ein Beispiel für die direkte Anwendung von Rechtsprinzipien ist. Dazu gehören beispielsweise Verjährung, Anspruch auf Rückerstattung oder Verzinsung. Logische Prinzipien ergeben sich aus den Regeln des richtigen Denkens. Sie entsprechen der Vernunft. Neben den formalen Kriterien wie Widerspruchsfreiheit und Lückenlosigkeit (also dem Kohärenzprinzip) gehören beispielsweise das Prinzip, dass niemand mehr Rechte auf einen anderen übertragen kann, als er selbst hat oder der Grundsatz lex posterior derogat legi priori dazu. Aus der mit der Logik zusammenhängenden argumentativen Methode fliesst sodann das Begründungsprinzip. Die sich auf die verschiedenen Dimensionen des Rechts beziehenden einzelnen Prinzipienkategorien, nämlich axiomatische Wesensprinzipien, teleologische
III. Das Rechtssystem
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Prinzipien, Normprinzipien sowie institutionelle Prinzipien, sind zwar in sich kohärent, jedoch mit anderen Prinzipienkategorien nicht in jedem Fall voll vereinbar (z. B. weist das Normprinzip der Rechtssicherheit in eine vermehrte Generalisierung sowie Beständigkeit der Regelung, während das Billigkeitsprinzip den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung tragen will). Damit wird die grundsätzliche Aporie im Recht deutlich. Die Pluralität der Rechtsprinzipien ist für die Rechtsanwendung von zentraler Bedeutung. Zwischen den Rechtsprinzipien besteht kein abstrakter Vorrang, sondern eine entsprechende Gleichrangigkeit. Diese kann zur Folge haben, dass die Prinzipien in der konkreten Anwendungssituation kollidieren. Ihre gleichzeitige volle Verwirklichung kann sich als unmöglich erweisen. Kollidierende Prinzipien machen deshalb eine fallspezifische Abwägung erforderlich, die auf einen Ausgleich zielt. Die Notwendigkeit der Abwägung als Folge der Pluralität der Rechtsprinzipien und ihrer abstrakten Gleichrangigkeit bestimmt ganz wesentlich die Methodik. Der Abwägungsvorgang ist für das Recht fundamental.
III. Das Rechtssystem Unter dem Rechtssystem kann nach einem soziologischen Verständnis ein Sozialsystem verstanden werden. Danach bildet die Gesellschaft eine Einheit mehrerer funktional differenzierter Sozialsysteme wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion oder auch Recht. Als solches gesellschaftliches Subsystem ist das Recht zur Erledigung einer bestimmten gesellschaftlichen Aufgabe zuständig. Dabei handelt es sich gleichzeitig um ein autonomes Funktions-, Handlungs- und Kommunikationssystem. Es weist nach der Systemtheorie bestimmte Systemeigenschaften auf. Ferner sind nach einem Input-Output-Schema einzelne Prozesse wahrnehmbar. Der Jurist nimmt das Recht in erster Linie als ein kognitives Gebilde wahr, zunächst als eine Vielzahl von Normen, die sich meist in Texten manifestiert und deshalb als Symbolsystem in Erscheinung tritt. Zum System wird die Vielzahl allerdings erst, wenn darin ein in sich zusammenhängendes, geordnetes Ganzes erkannt wird. Dabei muss zwischen einem inneren sowie einem äusserem Rechtssystem unterschieden werden. Die Rechtsnormen sind die Elemente des äusseren Rechtssystems, die das System konstituieren. Sie sind aufgrund einer intensionalen normgeberischen Anordnungsleistung miteinander in Teilsystemen verbunden, beispielsweise in Rechtsinstituten, Erlassen oder Kodifikationen. Ferner erfolgt eine klassifikatorische Einteilung der Rechtsnormen in Privatrecht, öffentliches Recht sowie Strafrecht. Die Systemstruktur des Rechtssystems folgt zudem im Wesentlichen aus der Pluralität sowie der Hierarchie der Normgebungsorgane, indem zwischen Verfassung-, Gesetz- und Verordnungsgeber mit den entsprechenden
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7. Teil: Die Ergebnisse der Rechtswissenschaft
Normstufen unterschieden wird. Diese stehen unter einem wechselseitigen Verweisungszusammenhang, denn die Eigenschaften der untergeordneten Normen sind von den übergeordneten her bestimmt und umgekehrt. Das äussere Rechtssystem ist deshalb kein blosses Ordnungsprinzip (Systematik), sondern drückt eine funktionale Zusammengehörigkeit aus. Das äussere System wird sodann durch das innere Rechtssystem mit seinem Prinzipiengefüge massgeblich beeinflusst. Das innere Rechtssystem stellt die inhaltlichen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Rechtsnormen dar und drückt sie unter Explizierung ihrer Gehalte in Rechtsprinzipien aus. Der Zusammenhang betrifft sowohl den Begründungs- als auch den Kategorienzusammenhang. Ersterer stellt die erkennbaren Ursachen der Rechtsnormen dar, womit gleichzeitig die Entstehungs- sowie Verwendungszusammenhänge erschlossen werden. Beim Kategorienzusammenhang handelt es sich um die Zusammenfassung von verschiedenen Rechtsnormen, die sich durch bedeutungsvolle gleiche Merkmale auszeichnen, zu der abstrakten Einheit eines Rechtsprinzips. Es werden die übergeordneten (wesensmässigen) Eigenschaften der Rechtsnormen vorgestellt und sie dadurch in einem logischen, normativen, teleologischen oder axiologischen Bedeutungszusammenhang gruppiert. Damit wird die Art ihrer Zusammengehörigkeit zum Ausdruck gebracht. Über ihre Prinzipien können die Rechtsnormen in ein funktionierendes System gebracht werden. Dies ermöglicht Widerspruchsfreiheit, Vollständigkeit und Unabhängigkeit der Aussagen. Durch die aktive Wirkung der Rechtsprinzipien entsteht ferner Ordnung, Einheit und letztlich Emergenz. Das System weist Eigenschaften auf, die den einzelnen Normen selbst nicht zukommen was wieder auf die Normeigenschaften zurückwirkt. Diese ergeben sich nicht nur aus dem, was im Normtext explizit ausgedrückt ist, sondern direkt auch aus dem System. Dadurch wird die Voraussetzung der Anwendung des Rechts als kohärentes Ganzes geschaffen, was als Grundprinzip der Einheit des Rechts bezeichnet werden kann. Die Prinzipien- und Systembildung ist gleichzeitig eine Gliederung des Rechtsstoffes unter einen leitenden Systembegriff. Dabei handelt es sich um das Ethos der Person. Anhand ihrer Herausarbeitung wird die innere Beschaffenheit und das Wesen des Rechts erschlossen. System ist somit nicht nur Ziel, sondern auch Voraussetzung und Methode. Das vorausgesetzte Bezugssystem, d.h. worauf man sich stützt, ist aus dem leitenden, sich selbst begründenden Systembegriff axiomatisch hergeleitet. Die Vorgehensweise der Systembildung basiert ebenfalls auf einer systematischen Verbindungsherstellung und ist damit stringent und plausibel. Jede Aussage soll sich kohärent in das Rechtssystem integrieren, indem die Handhabung der Rechtsnormen mit den Prinzipien in Einklang steht. Ein systematisch-hergeleitetes, systematisch-zusammenhängendes und systematisch-gegliedertes Ergebnis fördert die Kohäsion des Rechts. Das so definierte Rechtssystem enthält das Widerspruchsfreie und Folgerichtige, d.h. das Ganze und in sich geschlossene
III. Das Rechtssystem
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eines immanenten Zusammenhangs. Das Recht umfasst somit zwei dynamische Systeme. Das gesteuerte äussere System wirkt auf das steuernde innere System zurück. Diesen inneren und äusseren Rechtssystemen gelingt es sodann mittels induktiver oder deduktiver logischer Ableitung und Signifikanz, Rechtsnormen zu produzieren, zu vermitteln und zu verbessern.
Résumé Das Ziel dieses Beitrages besteht darin, die Grundsätze und Methoden der Rechtswisssenschaft zu definieren und ihre praktische Bedeutung als professionelle Standards darzustellen. 1. In der modernen Gesellschaft beruht die Rechtfertigung für das Handeln nicht mehr auf der Unabänderbarkeit einer naturgesetzlichen mythischen Ordnung oder in autoritativen Vorgaben, sondern geht aus dem Ethos, den eigenen, für wahr gehaltenen Wertvorstellungen, hervor. 2. Aus den übereinstimmenden Wertüberzeugungen ergeben sich handlungstaugliche, erfüllbare und als sozial verbindlich angesehene Handlungsanforderungen. Für das Phänomen Recht konstituierend ist das darauf basierende Wechselverhältnis zwischen Anspruch und Pflicht sowie die Durchsetzung in einem geregelten Erzwingungsverfahren. Als Kategorie von ethisch begründeten Handlungsnormen besteht Recht neben Sitte (gesellschaftlich sanktionierte Handlungsregeln) und Moral (individuelle Handlungsregeln). 3. Höchste Wertüberzeugung des christlich-abendländischen Denkens stellt die Person als einmaliges menschliches Wesen dar. Der Wert der Person (Menschenwürde) bildet somit auch die materiale Grundlage des Rechts. Aus diesem Axiom lässt sich ein System formaler und materialer Rechtsprinzipien ableiten, die für die Definition des Rechtssystems notwendig, jedoch nicht hinreichend sind. Dazu gehören Autonomie, Gleichheit, Rationalität und Gerechtigkeit. 4. Die so definierte Rechtsidee prägt zunehmend auch die institutionelle Machtausübung des Staates und seine Gestaltung der Gesellschaft, so dass dessen Gesetze zu Rechtsnormen werden. 5. Die Essenz des Rechts ist eine Wertvorstellung über den Menschen. Diese subjektive Existenz als Rechtsüberzeugung manifestiert sich in der sozialen Existenz des praktizierten Rechts sowie der institutionellen Existenz des verbrieften Rechts. Das Recht ist gleichzeitig ein Ethos, eine Usanz sowie ein Kodex. 6. Die Rechtswissenschaft hat zur Aufgabe, diejenige Begrifflichkeit zu entwickeln, die es erlaubt, ihren Gegenstand angemessen zu erschliessen. Ferner hat sie Kriterien für ein richtiges Recht sowie Regeln der richtigen Rechtsanwendung aufzustellen. Das Recht hat als wissenschaftlich haltbarer Typ eine weitere Existenzform. 7. Die Rechtswissenschaft definiert das Recht als ein rationales System. Elemente des äusseren Systems sind die Rechtsnormen. Das innere System beruht
Résumé
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auf axiomatischer, teleologischer, institutioneller und logischer Prinzipienbildung. Die Systeme stehen in einem wechselseitigen Verweisungszusammenhang. Jede Wissenschaft ist die methodische Beschäftigung mit Systemen. Die Rechtswissenschaft ist deshalb eine Wissenschaft. 8. Das Rechtssystem drückt eine Werthaltung aus, will aber gleichzeitig gesellschaftliche Ordnung schaffen, namentlich individuelle Gewaltanwendung verhindern und Konflikte lösen. Damit soll die Position des Einzelnen geschützt und ihm Gewissheit vermittelt werden. 9. Juristische Methode bezeichnet ein zum voraus festgelegtes, planmässiges und folgerichtiges Vorgehen zur Erreichung einer Erkenntnis. Wissenschaftlichkeit setzt Methodenwahrheit und -klarheit in der Behandlung seines Gegenstandes voraus. Ziel ist es, durch Explizierung und Hypostasierung eine hohe Kohäsion des Rechts zu erlangen, so dass die Kriterien der Widerspruchsfreiheit und Lückenlosigkeit der Aussagen erfüllt sind, damit das Ergebnis vor der Essenz des Rechts standhält. 10. Das jeweilige Objekt macht eine spezifische Methode erforderlich, so dass zwischen Norm-, Sachverhalts- und Urteilsmethoden unterschieden werden muss. Die verschiedenen Methoden lassen sich auf die Grundoperationen der Berücksichtigung, des Vergleichs, der Schlussfolgerung, der Bewertung sowie der Entscheidung zurückführen und umfassen auch eine Problemlösungstechnik. 11. Rechtsnormbildung basiert auf einer Institutionalisierung von homogenen, auf individuellen Überzeugungen beruhenden Verhaltenserwartungen. Sie erfolgt durch Normsetzung, Übereinkunft oder evolutionärer Entwicklung. 12. Es besteht kein Algorithmus der Normfindung. Die Suche nach der relevanten Norm muss aufgrund eines übergeordneten Zusammenhangs, insbesondere aus dem bestehenden Rechtsverhältnis heraus vorgenommen werden. 13. Bei der Normhandhabung sind die drei Stufen der Auslegung, Festlegung und Anwendung zu unterscheiden. Die Normauslegung zerfällt in das Normverständnis, als dem intuitiven, unmittelbaren Realisieren der Wortbedeutung sowie dem rekonstruktiven Akt der Norminterpretation als dem Verständlichmachen eines Normtextes, insbesondere von dessen objektiver Bedeutung und subjektiver Sinnintention. Der Erkenntnisakt der Norminterpretation will durch eine systematische, historische und philologische Ansicht der Norm die rechtsphilosophischen, -soziologischen sowie -theoretischen Gehalte erschliessen. Die in der Normauslegung festgestellten Bedeutungsgehalte sind im Gestaltungakt der Normfestlegung (Lesartkonstruktion und Lesartvalidierung) so gegeneinander abzuwägen, dass sich die Norm kohärent in das Rechtssystem integriert und eine Identität von sprachlicher Analyse und juristischer Denkform erreicht wird. Die Normanwendung ist die Bezugnahme zwischen einem Sachverhalt und einer Norm, in welcher eine Bedeutungsgleichheit zwischen beiden gefunden
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Résumé
wird. Beides beruht auf einem abwägenden Werturteil. Der Sachverhalt ist bereits eine normgerechte Beschreibung einer Situation. 14. Ein juristisches Urteil ist das Ergebnis der Beurteilung eines Begehrens. Es beinhaltet eine Würdigung von Aussagen und manifestiert sich in einer Überzeugung. Die Beurteilung hat den Charakter einer Begründung, die ausreichend und wahrheitsgemäss dargestellt werden muss. Ein Grundrecht auf Anfechtung eines Gerichtsurteils besteht nur in Strafsachen. 15. Die wissenschaftliche Rechtserkenntnis ist nicht intuitiv, sondern methodisch, begrifflich und systematisch. Durch Rückführung auf das eigene Denken, Einordnung in einen allgemeinen Zusammenhang, Ableitung aus Prinzipien sowie Darstellung der Entstehungsweise können Phänomene erklärt und in einen Kontext eingeordnet werden. Dabei stehen das Aufzeigen von Zusammenhängen und die Gliederung unter der Idee des im Recht aufgehobenen Ethos im Vordergrund. Damit lassen sich wissenschaftlich haltbare Rechtsnormen definieren sowie gültige Prognosen erstellen, wie ein bestimmter Sachverhalt rechtlich entschieden wird (Urteilshypothesen). 16. Für die Berufsausübung ist entscheidend, dass sich der Jurist an gewissen Standards orientiert und sich insbesondere dem wissenschaftlichen Ethos verpflichtet fühlt, sich am aktuellen Erkenntnisstand orientiert, nicht ohne hinreichende Indikation und Aufklärung tätig wird und die volle Sorgfalt walten lässt.
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Sachverzeichnis Anwendung 32, 34, 46, 48, 55, 57, 58, 59, 61, 63, 65, 74, 76, 77, 83, 92, 94, 107, 131, 132, 133, 138, 151, 152, 153, 154, 158, 160, 163, 166 Aufklärung 103, 130, 138, 141, 143, 144, 146, 147, 148, 149, 150, 164, 172 Aufklärungspflicht 141, 144, 145, 147, 148, 149, 150, 170 Auslegung 24, 42, 60, 63, 66, 74, 75, 77, 78, 83, 117, 151, 163, 165, 166, 167, 170, 172 Axiom 23, 25, 32, 34, 37, 62, 119, 155, 156, 162 Berufsethos 7, 131, 135, 138, 140 Berufspflichten 144, 145 Bundesgericht 12, 71, 77, 85, 86, 91, 110, 142, 151 Christentum 14, 170 Credo 16, 17, 155 Darstellung 7, 27, 32, 59, 64, 103, 104, 112, 113, 114, 115, 164 Einwilligung 91, 92, 130, 141, 146, 147, 149, 150 EMRK 12, 87, 88, 99, 102, 104, 107, 171, 172 Entscheidung 19, 21, 22, 49, 54, 61, 63, 64, 65, 76, 80, 89, 96, 97, 98, 99, 102, 103, 106, 109, 140, 146, 153, 154, 163, 172 Erkenntnis 25, 27, 29, 58, 59, 63, 84, 95, 110, 111, 115, 118, 119, 133, 135, 139, 141, 143, 145, 163 Erklärung 25, 32, 34, 58, 70, 111, 112, 113, 116, 117, 136, 145, 155 Erwartungssicherheit 38, 122, 158
Essenz 22, 23, 25, 29, 32, 38, 58, 62, 84, 152, 156, 162, 163 Ethos 14, 15, 16, 18, 21, 23, 29, 35, 36, 67, 115, 132, 134, 137, 155, 160, 162, 164 Explizierung 29, 32, 33, 57, 58, 82, 119, 160, 163 Gerechtigkeit 19, 23, 35, 55, 64, 107, 122, 135, 157, 162, 171 Gesetz 20, 23, 27, 32, 33, 42, 44, 55, 58, 72, 76, 77, 99, 107, 108, 112, 115, 116, 117, 152, 156, 159 Gleichheit 18, 19, 21, 23, 47, 56, 61, 157, 162 Grundsatz 17, 25, 29, 42, 51, 53, 55, 61, 68, 85, 92, 138, 140, 149, 152, 155, 157, 158 Indikation 13, 117, 131, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 145, 146, 164, 165 Integrität 14, 18, 29, 85, 86, 111, 113, 119, 135, 137, 145, 150, 157 Interpretation 40, 41, 74, 76, 82, 83, 111, 165, 166 Kodex 20, 22, 162 Kriterium 29, 36, 38, 47, 58, 66, 98, 125, 135, 140, 148, 153, 157, 158 Lenkung 118, 119, 120 Logos 14, 15, 20, 134 mens 17, 32, 58, 118, 156 Methode 26, 57, 59, 62, 63, 65, 73, 93, 114, 116, 132, 158, 160, 163 Modus 22, 23, 49, 98 Moral 16, 18, 36, 134, 162, 166, 167
174
Sachverzeichnis
Norm 15, 20, 22, 24, 31, 32, 34, 35, 43, 44, 45, 46, 53, 58, 60, 62, 63, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 73, 74, 75, 76, 83, 84, 85, 89, 94, 96, 97, 101, 107, 110, 113, 115, 120, 151, 152, 153, 154, 156, 157, 163 Normauslegung 34, 74, 77, 82, 84, 88, 163 Normbildung 32, 42, 67, 69, 70, 171 Normfestlegung 59, 74, 75, 82, 83, 84, 85, 88, 92, 163 Normfindung 71, 73, 163 Normhandhabung 43, 74, 76, 163 Norminterpretation 74, 82, 112, 163 Normkonkretisierung 65, 76 Normverständnis 74, 77, 163
Rechtsanwalt 117, 126, 127, 130, 131, 137, 145
Person 14, 16, 17, 18, 19, 21, 22, 23, 29, 30, 32, 37, 45, 47, 55, 57, 62, 76, 89, 108, 115, 128, 131, 133, 134, 141, 143, 144, 145, 152, 155, 156, 157, 160, 162 Prämisse 17, 23, 37, 60, 63, 96, 97, 116, 157 Prinzip 23, 29, 30, 37, 38, 42, 45, 47, 55, 61, 70, 71, 97, 113, 119, 126, 135, 137, 153, 154, 155, 156, 157, 158 Prognose 85, 99, 116, 117, 139, 140, 145 Prozess 18, 40, 41, 43, 49, 60, 63, 65, 69, 72, 76, 77, 78, 100, 102, 107, 110, 121, 129, 137, 140, 141, 171
Rechtsverhältnis 38, 72, 144, 163
ratio legis 32, 57, 58, 151, 152, 154, 156, 166 Rationalität 14, 18, 21, 22, 23, 35, 113, 152, 157, 162 Recht 7, 8, 14, 16, 17, 18, 19, 20, 22, 23, 27, 29, 30, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 42, 44, 45, 46, 47, 49, 51, 52, 55, 56, 57, 64, 67, 70, 73, 75, 78, 83, 86, 87, 89, 91, 93, 94, 97, 107, 108, 113, 114, 115, 118, 119, 122, 129, 137, 139, 140, 144, 152, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 161, 162, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172
Rechtsfrieden 169, 171
49, 50, 107, 122, 168,
Rechtsinstitut 30, 38, 158 Rechtsmissbrauchsverbot 55, 61, 94 Rechtsphänomenologie 27, 32, 112 Rechtsprinzip 37, 38, 39, 61, 152, 154, 155, 156, 157 Rechtssicherheit 51, 52, 54, 55, 56, 159, 165, 171 Rechtsstaat 21, 22, 47, 71, 86, 119, 169, 171 Rechtssystem 30, 31, 33, 36, 41, 44, 45, 46, 57, 66, 84, 95, 110, 114, 118, 119, 122, 159, 160, 163, 169 Rechtsverwirklichung 27, 50, 64, 107, 119, 139, 168 Rechtswissenschaft 7, 13, 14, 25, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 44, 57, 59, 63, 65, 104, 110, 112, 113, 115, 117, 118, 119, 121, 122, 132, 138, 139, 151, 154, 156, 162, 170 Sachverhalt 25, 36, 40, 60, 63, 65, 72, 73, 75, 76, 89, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 100, 112, 117, 123, 140, 163, 164 Sitte 134, 162 Sorgfalt 13, 124, 125, 126, 127, 130, 131, 135, 138, 139, 147, 164, 166, 171 Standard 128, 129, 138 Subsumtion 65, 74, 90, 92, 93, 96, 166 System 17, 26, 29, 31, 44, 45, 46, 73, 75, 83, 114, 115, 118, 119, 157, 159, 160, 161, 168, 169, 172
33, 35, 37, 39, 84, 85, 89, 110, 123, 136, 156, 162, 165, 166,
Technik 57, 136 Theorie 26, 27, 31, 74, 84, 89, 112, 116, 153, 165, 168, 170
Sachverzeichnis Überzeugung 14, 16, 17, 18, 19, 21, 23, 59, 89, 91, 101, 113, 124, 134, 135, 137, 155, 164 Übung 128 Unrecht 7, 17, 19, 137, 156 Ursache 25, 32, 37, 58, 68, 111 Urteil 18, 22, 27, 35, 37, 41, 45, 50, 76, 97, 98, 99, 100, 102, 103, 105, 106, 107, 108, 110, 113, 117, 126, 127, 128, 129, 164, 169, 170, 171 Usanz 20, 162 Verfassung 23, 27, 33, 62, 85, 86, 111, 119, 154, 159, 169, 170 Verkehrssitte 128 Vertrauensschutz 55
175
Wert 15, 16, 17, 29, 39, 46, 47, 68, 70, 71, 92, 117, 136, 148, 152, 155, 162 Willkür 18, 22, 51, 99 Wissenschaft 13, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 60, 104, 112, 114, 118, 119, 120, 121, 123, 124, 129, 131, 132, 134, 135, 136, 156, 159, 163, 165, 167, 168, 169, 170, 171, 172 Wortbedeutung 41, 54, 74, 75, 77, 80, 81, 83, 88, 107, 115, 151, 163
Zusammenhang 25, 31, 34, 37, 45, 57, 60, 63, 72, 75, 77, 84, 85, 88, 110, 111, 112, 118, 141, 155, 160, 164