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German Pages 253 S. [261] Year 2009
Deutsche Akademie für Anästhesiologische Fortbildung
Refresher Course Aktuelles Wissen für Anästhesisten Nr. 35
9. - 12. Mai 2009, Leipzig
Herausgegeben von der Deutschen Akademie für Anästhesiologische Fortbildung
Aktiv Druck & Verlag GmbH
Deutsche Akademie für Anästhesiologische Fortbildung (DAAF) Schriftführung: Prof. Dr. med. T. Koch Direktorin der Klinik und Poliklinik für Anaesthesiologie und lntensivtherapie Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden Fetscherstraße 74 01307 Dresden Internet: www.uniklinikum-dresden.de E-Mail: [email protected]
ISSN 1431-1437 ISBN 978-3-932653-29-2 Aktiv Druck & Verlag GmbH, Ebelsbach Aktuelles Wissen für Anästhesisten: Refresher Course / hrsg. von der Deutschen Akademie für Anästhesiologische Fortbildung. ISSN 1431-1437 Nr. 35, Mai 2009, Leipzig - (2009) ISBN 978-3-932653-29-2 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Aktiv Druck & Verlag GmbH, Ebelsbach http://www.aktiv-druck.de ©
Aktiv Druck & Verlag GmbH, Ebelsbach 2009 Printed in Germany
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinn der Warenzeichenund Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden.
IV
Geleitwort
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Deutsche Akademie für Anästhesiologische Fortbildung (DAAF) fördert seit ihrer Gründung am 16. November 1977 gemäß ihrer Satzung die Aus-, Weiter- und Fortbildung im gesamten Spektrum unseres Fachgebietes - von der klinischen Anästhesie über die Intensivmedizin und Notfallmedizin bis zur Schmerztherapie. Zu den herausragenden Instrumenten im Bereich dieser Continuous Medical Education (CME) im weiteren Sinne zählt - neben den langjährig etablierten Repetitorien und weiteren Veranstaltungen - insbesondere der Refresher-Course im Rahmen des Jahreskongresses der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI). Der nunmehr 35. Refresher-Course anlässlich des DAC 2009 in Leipzig behandelt daher wiederum eine breite Palette aktueller Themen aus der ganzen Breite des Fachgebietes. Namhafte Referenten geben einen Überblick über den heutigen Wissensstand und tragen damit nicht zuletzt zur Qualitätssicherung in einem immer anspruchsvoller werdenden Umfeld bei. Es hat sich bewährt, die Beiträge des Refresher-Course in einem Buchband zusammenzufassen, um neben dem gesprochenen Wort ein intensiveres Nachlesen und Nacharbeiten zu ermöglichen und den aktuellen Wissensstand über den Tag hinaus zu dokumentieren. Dafür sei den Referenten und Autoren herzlich gedankt, die sich neben ihren klinischen und sonstigen Verpflichtungen dieser zusätzlichen Mühe unterzogen haben. Wir wünschen Ihnen Freude beim Lesen und hoffen, dass möglichst viele Aspekte in die tägliche Arbeit am Patienten einfließen können.
Prof. Dr. med. Thea Koch - Präsidentin der DAAF -
Prof. Dr. med Hans Anton Adams - Vizepräsident der DAAF -
V
Inhaltsverzeichnis
Update Inhalationsanästhesie A. R. HELLER, J.B. ßRÜCKNER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Anästhesie in der Thoraxchirurgie
u. KLEIN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Narkoseeinleitung bei Kindern K. BECKE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . 53 Anästhesie außerhalb des Operationssaals
w. HEINKE, V. THIEME
.................................................
67
Perioperative Periphere Nervenschädigungen
H. JUTZI, A.
BORGEAT . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
Der Anästhesiezwischenfall aus der Sicht des Gutachters J. B. BRÜCKNER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
Die aktuellen Leitlinien der BÄK zur Hämotherapie J. BISCOPING . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Der Patient nach Koronarintervention in der operativen Medizin B. ZWISSLER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
105
Lungenprotektive Beatmung M. QUINTEL, 0. MOERER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Pathophysiologie und Therapie des Akuten Nierenversagens H.-M. BENAD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115
Endokrine Störungen beim Intensivpatienten B. ELLGER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Nicht-zirkulatorische Effekte der Katecholamine P. RADERMACHER, E. CAIZIA, M. GEORGIEFF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Arzneimittelinteraktionen in der Intensivmedizin I. CASCORBI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Die notfall- und intensivmedizinische Grundversorgung des Schwerbrandverletzten H. A. ADAMS, P. M. VOGT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . 163 Erhöhter intraabdomineller Druck D. SCHREITER, F. BOLD, M. METZE, A. P. RESKE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
VII
Placebo und Schmerz M. SCHÄFER, J. ÜELTJENBRUNS ••••...•.••.••..•..••..•..••.•.•••••..••.• 209 Anästhesie und Analgesie bei Suchtpatienten 1. RUNDSHAGEN •.••..••..••.•••..•..••.••..•..•••.•..••.••.••••..••.• 223 Notfallmedizinische Einsatztaktik - work and go A. FLEMMING ••.•••..••..•..••..••.•••.•••.•.•••••..••...•.••..•..•. 237 Was können wir von „Advanced Trauma Life Support® (ATLS®l" lernen B. BOUILLON, C.K. LACKNER, A. SEEKAMP, W. MUTSCHLER, J. STURM, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
CH. G. WöLFL,
VIII
Verzeichnis der erstgenannten Autoren
HELLER,
A. R., PROF. DR.
Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie Universitätsklinik.um Dresden Fetscherstraße 74, 01309 Dresden KLEIN,
u., PROF. DR. MED.
Klinik für Anästhesie und operative lntensivtherapie Südharz-Krankenhaus Robert-Koch-Straße 39, 99734 Nordhausen K., DR. MED. Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin Cnopfsche Kinderklinik/Klinik Hallerwiese St. Johannis-Mühlgasse 19, 90419 Nürnberg BECKE,
HEINKE, W. , PD Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie, Universität Leipzig, Liebigstraße 20a, 04103 Leipzig
H., DR. Kompetenzzentrum Anästhesiologie Universitätsklinik Balgrist Forchstr. 340, 8008 Zürich JUTZI,
J. B., UNIV. PROF. DR. Zentrum für Anästhesiologie und operative lntensivmedizin (CVK) Charite Universitätsmedizin Berlin c/o Keithstr. 16, 10787 Berlin BRÜCKNER,
J., PROF. DR. MED. Klinik für Anaesthesie und Operative Intensivmedizin der St. Vincentius-Kliniken Steinhäuserstraße 18, 76135 Karlsruhe
BISCOPING,
ZWISSLER, B. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinik für Anästhesiologie - Direktion Marchioninistr. 15, 81377 München QUINTEL, M., Abt. für Anästhesiologie II Operative Intensivmedizin Universitätsklinikum Göttingen Robert-Koch-Str. 40, 37075 Göttingen
IX
H.-M., DR. Klinik für Anaesthesie und Intensivmedizin Klinikum Südstadt Rostock Südring 81, 18059 Rostock
BENAD,
B., DR. Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin Albert-Schweitzer-Str. 33, 48149 Münster ELLGER,
RADERMACHER, P., PROF. DR. DR. H.C. Klinik für Anästhesiologie Universitätsklinikum Ulm Parkstr. 11, 89070 Ulm
1., PROF. DR. DR. Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Hospitalstr. 4, 24105 Kiel
CASCORBI,
ADAMS, H. A., PROF. DR. MED. Leiter der Stabsstelle für Interdisziplinäre Notfall- und Katastrophenmedizin Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1, D-30625 Hannover SCHREITER, D., DR. Interdiszipl. op. Intensivst. Klinik f. Anästh. u. Int.th. Univ.klinikum Leipzig Liebigstr. 20, 04103 Leipzig SCHÄFER, M., PROF. DR. Klinik für Anaesthesiologie u. operative lntensivmedizin Charite - Campus Virchow Klin. Augustenburgerplatz 1, 13353 Berlin RUNDSHAGEN, 1., PRiv.-Doz. DR. MED. Charite - Universitätsmedizin Berlin Universitätsklinik für Anästhesiologie und operative lntensivmedizin Geschäftsführende Direktorin: Univ.-Prof. Dr. C. Spies Campus Virchow-Klinikum und Campus Charite Mitte Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin F'LEMMING, A., DR. Zentrum Anästhesiologie Med. Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover
G., DR. MED. Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, BG Unfallklinik Ludwigshafen Klinik für Unfallchirurgie an der Universität Heidelberg Ludwig-Guttmann-Str. 13, 67071 Ludwigshafen
WöLFL, C.
X
Update lnhalationsanästhesie A. R. HELLER, J.B. BRÜCKNER
Hintergrund und Anforderungen Seit mehr als 150 Jahren werden Inhalationsanästhetika in der klinischen Praxis eingesetzt. Der Begriff„ volatile" Anästhetika bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Anästhetika, deren Aggregatzustand bei Raumtemperatur und Umgebungsdruck „flüssig" ist, die aber zur inhalativen Anwendung mit Hilfe eines Verdunsters verdampft, also in den gasförmigen Zustand überführt werden müssen (Halothan, Sevofluran, Desfluran etc.). Sprachlich hiervon unterschieden werden Anästhetika, deren Siedepunkt bei Umgebungsdruck deutlich unter der Raumtemperatur liegt (Lachgas, Xenon), die hier also gasförmig sind. Auch wenn diese Differenzierung gasförmiger Anästhetika lediglich aus ihrem Siedepunkt in Relation zur Raumtemperatur herrührt, ist sie dennoch üblich. Dabei gibt es eine unüberschaubare Zahl von Substanzen, deren Verwendung als Anästhetika geprüft wurde. In der modernen Anästhesie finden nur noch wenige dieser Substanzen Anwendung. Die meisten von ihnen wurden erstmals in den 50-er Jahren des letzten Jahrhunderts synthetisiert und ruhten teilweise Jahrzehnte lang bis zu ihrer klinischen Einführung in den Schubladen. Dies hängt teilweise mit der erforderlichen Technik zusammen, die für die sichere Bereitstellung als Gas (Dampf) erforderlich ist. Andererseits ergibt sich aus dem Anforderungsprofil an das ideale inhalative Anästhetikum (Tabelle 1) ein erheblicher Selektionsdruck auf die Substanzen. •
• • • •
Gute Steuerbarkeit durch niedrigen Blut/Gas-Verteilungskoeffizienten und geringe Fettlöslichkeit Hohe Wirkungsstärke Vorhersagbar verdampfbar Zusatzwirkungen z.B. Relaxierung, Analgesie
• •
Keine Reaktion mit Atemkalk Kostengünstig
•
Keine Biotransformation, umweltneutral (FCKW)
• • •
Nichtentzündlich/ nichtexplosiv Chemisch/ physikalisch stabil Minimale Nebenwirkungen bei hoher therapeutischer Breite (Arrhythmien,
MH, Hämodynamik) •
Angenehmer Geruch
Tabelle l: Anforderungen an das ideale lnhalationsanästhetikum, ergänzt nach [ 1]
Alle in der Klinik eingeführten Inhalationsanästhetika erfüllen diese Anforderungen nur zum Teil: Halothan ist physikalisch instabil, bedarf der Zugabe von Stabilisatoren und kann bei erhöhten Katecholaminspiegeln Herzrhythmusstörungen hervorrufen. Keine Substanz hat eine dem Ether vergleichbare große therapeutische Breite. Alle mit Ausnahme des Lachgases verfügen über gute relaxierende Eigenschaften, allerdings wirken jene bereits im therapeutischen Bereich kardiodepressiv (außer Xenon) und vasodilatatorisch. Sevofluran reizt die Luftwege bei Konzentrationen bis 2 MAC nicht und kann auch bei Kindern in hoher inspiratorischer Konzentration zur Einleitung verwendet werden. Xenon, Sevofluran und Desfluran fluten infolge ihrer geringen Blutlöslichkeit schnell an. Isofluran und Desfluran werden nur minimal, Xenon wird nicht metabolisiert [2;3]. Mit Ausnahme von Lachgas und Xenon können alle Inhalationsanästhetika bei entsprechender Prädisposition eine maligne Hyperthermie triggern. Neben diesen in der klinischen Praxis verwendeten Inhalationsanästhetika existiert eine weitaus größere Anzahl von inhalierbaren Stoffen mit einer enormen Diversität in ihren physikochemischen Eigenschaften, die eine Ausschaltung des Bewusstseins bewirken.
Diese Diversität legt den Verdacht nahe, dass nicht ein einzelner spezifischer Mechanismus/ Rezeptor für die Anästhetikawirkungen verantwortlich sein kann. Die bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts von Meyer und Overton unabhängig voneinander gefundene Korrelation von Lipidlöslichkeit und anästhetischer Wirkstärke war immer ein Ausgangspunkt für die Hypothesenbildung zur Anästhetikawirkung. Sie erlaubte aber nie tatsächlich detaillierte Einsichten in die Pharmakodynarnik dieser Stoffe. Die Schwierigkeit all der abgeleiteten Hypothesen war, dass sie nie ein vollständiges Bild der schnell und komplett reversiblen biochemischen Veränderungen ergaben und entsprechende Teilaspekte nicht erklärten. Dazu gehörten der cut off -Effekt, Druckreversibilität, Dynamik von Wirkeintritt und -beendigung. Die modernen volatilen Anästhetika sind halogenierte Kohlenwasserstoffe. Isofluran, Enfluran, Desfluran und Sevofluran haben eine Etherstruktur. Desfluran, Enfluran und Isofluran enthalten eine potentiell reaktive -OCHF2 -Gruppe (CO-Bildung mit trockenem, verbrauchten Atemkalk möglich). Enfluran und lsofluran sind Strukturisomere. Der Ersatz des Chloratoms gegen ein weiteres Auoratom im lsofluranmolekül führt zur Desfluranstruktur und bewirkt eine größere chemische Stabilität. Luftdruck 760 mmHg
{-=Sevonuran 21'1'.
• 180,nmHg
0
0
0 0
Dampfdruck
0 0
0
SubstenzspezJllsch
0
021 ,uO 0 0 0
T emperaturabhänglg
', •---
Abbildung 1: Die Sättigungskonzentration von 21 % Sevofluran unter Raumtemperatur entspricht einem Partialdruck von 0,21 Atmosphären, also 160mmHg
Zum Verständnis der pharmakokinetischen Eigenschaften der Inhalationsanästhetika sind einige physikalische Grundlagen wichtig. Hierzu zählt das Prinzip des Dampfdruckes (Abbildung 1). Dabei entspricht der Dampfdruck eines Inhalationsanästhetikums in einem geschlossenen System im Sättigungszustand seinem Partialdruck in der Gasphase über der Flüssigkeit. Aus der Verschiedenheit der Dampfdrücke der lnhalationsanästhetika und den damit verbundenen unterschiedlichen Sättigungskonzentrationen ergibt sich die Notwendigkeit, für jedes volatile Anästhetikum konstruktiv variierte Narkosemittelverdampfer (Vaporen, Abbildung 2) einzusetzen. Dabei bestimmt der variable Bypass-Anteil den Einstrom des Frischgases in die Verdunsterkarnmer und damit substanzspezifisch die zugemischte Konzentration des volatilen Anästhetikums.
Hai
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- ·o
Met
1%
46:1
44:1
1,7: 1
25:1
2•,.
22:1
21 :1 0 ,4: 1
12:1
Verdunsterkammer
Q.
oo
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Temperaturkompensation Umgebungsdruckkompensation Variable Dosiennöglichkeit Kalibration für: 1013 mbar: 1&-30 'C: FGF 0,2-10!
Abbildung 2: Schema Bypass-Verdampfer
Die Verwendung von volatilen Anästhetika in Vaporen, die nicht für dieses Anästhetikum konstruiert sind, wird mechanisch durch entsprechend codierte Einfüllstutzen ausgeschlossen. Zuvor kam es immer wieder zu tödlichen Überdosierungen durch Verwechs2
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lung der Verdampfer [4]. Für Desfluran, dessen Siedepunkt in der Nähe der Raumtemperatur liegt, muss ein konstruktiv erweiterter Verdampfer eingesetzt werden, der den gasförmigen Aggregatzustand durch aktive Beheizung sicherstellt. Alle anderen lnhalationsanästhetika können aufgrund ihrer Siedepunkte um 50°C in BypassVaporen verwendet werden.
EEG-Monitoring für OP und Intensivstation
• Individuell adäquate Steuerung der Narkose, geschlechts- und altersspezlflsch • Anpassung der TCI-Zielkonzentration von Propofol
Wirkungen volatiler Anästhetika 1899 und 1901 publizierten Meyer und Overton unabhängig voneinander ihre Beobachtung, dass eine Abhängigkeit der Potenz eines volatilen Anästhetikums von seinem Öl/Gas-Verteilungskoeffizienten besteht. Dazu musste eine Größe eingeführt werden, die es erlaubte, die biologische Wirksamkeit zwischen den Anästhetika zu vergleichen. Auch die Untersuchungen von Ferguson (Abbildung 3) setzten diese Vergleichbarkeit voraus.
• Liegezeitverkürzung auf der Intensivstation l.i1m1JH;_ KIin Neurophysiol 2007; 38(3): 198-202 Klin Neurophysiol 2008; 39(3): 189-193 Biomed Tech 2009; 54(2): 7~2
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Abbildung 3: Ferguson-Korrelation, welche die umgekehrte Proportionalität von Potenz und Dampfdruck volatiler Anästhetika beschreibt
Die minimale alveolare Konzentration (MAC) eines Inhalationsanästhetikums bewirkt bei 50 % der Versuchspersonen auf einen chirurgischen Reiz (Hautinzision) keine Abwehrreaktion mehr, keine Reaktion mehr auf verbale Kommandos (MAC awake) oder keine Reaktion mehr auf die Intubation (MAC Intubation). Dabei gilt: MAC Intubation > MAC > MAC awake 3
Der Vorteil des MAC-Konzeptes liegt in der Möglichkeit des Vergleichs notwendiger Gaskonzentrationen innerhalb und zwischen Spezies, deren unterschiedliche Biochemie Rückschlüsse auf zugrunde liegende Mechanismen erlaubt. Dabei konnte bei Probanden gezeigt werden, dass etwa 0,3 MAC die Fähigkeit verbale Inhalte zu lernen, unterdrücken [l]. Die MAC reduziert sich u.a. in höherem Alter, bei Schwangeren, Hypothermie, Hypotension, Anämie. Umgekehrt steigt die MAC bei Fieber, Säuglingen, erhöhten Katecholaminspiegeln (auch MAO-Hemmer) und chronischem Alkoholabusus. Bei eingehender Betrachtung des Parameters MAC zeigt sich aber, dass dieser Messwert zwei Qualitäten abbildet, die Schlaftiefe aber auch die Analgesie. Entsprechend wird MAC von der zeitgleichen Anwendung analgetischer und sedierender Pharmaka und Verfahren beeinflusst. Am deutlichsten wird das bei der Verwendung von analgetisch wirksamem Lachgas (Tabelle 2). Gleiches gilt aber auch für Opiate im Rahmen der balancierten Anästhesie und ebenso für Regionalanästhesieverfahren wie der Epiduralanästhesie im Rahmen der Kombinationsanästhesie [5]. Wenn auch die MAC volatiler Anästhetika durch die beschriebenen Verfahren reduziert werden kann, ist der Dosisreduktion durch die MAC awake eine Grenze gesetzt, die zur Vermeidung von Awareness nicht unterschritten werden sollte.
NO Xenon Halothan Enfluran Isofluran Sevofluran Desfluran
MAC
MAC
MACawake
(Vol% inO)
(Vol% in 70%N 0)
(in MAC)
105 70 0,76 1,68 1,15 2,05 5-6
0,67 0,3 0,6 0,5 1,1 2,8
0,52 0,38 0,33 0,33
Tabelle 2: MAC- Werte volatiler Anästhetika bei 40-jährigen
Bis vor etwa 30 Jahren wurde von unspezifischen Wirkungen volatiler Anästhetika auf lipophile Zielstrukturen des Organismus ausgegangen. Grund hierfür war neben der molekularen Vielgestaltigkeit der Inhalationsanästhetika, die durch die Meyer- Overton-Regel (Proportionalität von Potenz eines volatilen Anästhetikums zu seiner Lipophilie) bzw. der Ferguson-Korrelation (Abbildung 3) eine gewisse Systematik erfahren hatten, die Beobachtung, dass eine Steigerung des Umgebungsdrucks auf 10 bis 100 Atmosphären die Anästhetikawirkung reduziert oder gar aufhebt (pressure reversa[). Dabei haben gerade Anästhetika, deren Potenz nicht durch die beschriebenen Gesetzmäßigkeiten vorhersagbar ist, interessante Fortschritte ermöglicht. Zum Beispiel weisen die Strukturisomere Isofluran und Enfluran bei nahezu identischer Lipophilie deutlich unterschiedliche MAC-Werte (Tabelle 2) auf. Ähnliches gilt für die(+)- und (-)-Enantiomere von Isofluran. Diese Beobachtungen weisen im Widerspruch zur Meyer-Overton-Regel darauf hin, dass mehr als nur die Lipophilie eines volatilen Anästhetikums seine biologische Wirksamkeit bestimmt. Lange Zeit war die Lipidpertubationstheorie ein gängiges Modell zu Erklärung der Wirkung volatiler Anästhetika. Durch unspezifische Einlagerung der Anästhetika in die Lipiddoppelmembran von Nervenzellen sollten spannungsabhängige Natriumkanäle in ihrer Öffnung behindert werden und somit Hypnose und (oder) Analgesie vermitteln. Stützung fand diese und andere ähnlich gelagerte Theorien durch die pressure reversalBeobachtung, indem man annahm, dass ein gesteigerter Umgebungsdruck die Anästhetikamoleküle wie aus einem Schwamm wieder aus dem neuronalen Gewebe herausdrücken und somit die Funktion der Natriumkanäle wieder restituieren würde. Im Hinblick auf diese Theorie des kritischen Volumens sollte eine Temperaturerniedrigung ähnlich wie 4
eine Drucksteigerung die Wirkung volatiler Anästhetika mindern. Tatsächlich aber sinkt die MAC mit sinkender Körpertemperatur. Weiterhin existiert ein so genannter cut off -Effekt in chemisch homologen Reihen von Anästhetika. Hier kommt es bei Kettenverlängerung über definierte Längen hinaus zu einer Limitierung der Wirkungssteigerung, was einen Hinweis auf die Größe einer spezifischen Bindungsstelle gibt. Die derzeit existierenden molekularbiologischen Untersuchungen beschreiben einzelne teilweise dämpfende, zum Teil exzitatorische, aber auch indifferente Effekte volatiler Anästhetika auf verschiedenste spannungsabhägige und Ligand gated-Ionenkanäle. Hieraus ist aber trotz klarer Einzelhinweise [6] noch kein umfassendes Modell ableitbar. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt in der hohen Komplexität und Redundanz des Gehirns und den noch wenig verstandenen biochemischen und physiologischen Hintergründen für das Bewusstsein. Die vereinfachte Annahme, dass Anästhesie durch eine Tonusreduktion des aufsteigenden retikulären Systems ARAS als Ort der Bewusstseinsmodulation wirkt, wird der Beobachtung differenzierter exzitatorischer, indifferenter oder dämpfender Wirkungen auf dezidierte Bereiche dieses Hirnstammabschnitts nicht gerecht [7] (Abbildung 4). Es konnte gezeigt werden, dass volatile Anästhetika die Informationsübermittlung im ZNS in klinischen Konzentrationen sowohl am Kortex als auch am Hippocampus modulieren. Auch der thalamokortikale Transfer sensorischer Informationen wird beeinflusst. Dabei kann einerseits die direkte Dämpfung, aber auch die Exzitation inhibitorischer Neurone eine Rolle spielen. Entsprechend zeigt eine Reihe volatiler Anästhetika im Hippocampus eine Verlängerung der GABA- induzierten Dämpfung [8]. Dabei wird auch eine Vielzahl von Neuroregulatoren wie Acetylcholin, Katecholarnine, GABA, Glycin etc. in unterschiedlichen Regionen des Nervensystems prä- und postsynaptisch moduliert.
Abb 4: Effekte volatiler Anästhetika auf Schmerzverarbeitung und Bewusstsein
Außer Xenon, dessen Wirkung sich als NMDA-Antagonist [6] im EEG schwer nachweisen lässt [9], zeigen die derzeit für den klinischen Gebrauch zugelassenen Inhalationsanästhetika sowohl eine Verminderung der Frequenz als auch der Amplitude des EEG [2]. Unter Sevofluran sind konvulsive Pattern beschrieben worden, wenn die Konzentration schnell erhöht wird [10]. Ein weiterer Wirkmechanismus der halogenierten Volatila ist eine Stimulation inhibitorischer GABAA-Rezeptoren, während Xenon hier keinen Einfluss nimmt [11]. Alle Inhalationsanästhetika steigern den cerebralen Blutfluss durch Verminderung des Hirngefäßwiderstands und können so eine Zunahme des intrakraniellen Drucks bewirken. 5
Neben Angriffsorten im Gehirn haben nach neueren Untersuchungen auch Zielstrukturen im Rückenmark Bedeutung für die Wirkung volatiler Anästhetika. Dabei ist die neuronale Dämpfung im sensorischen Hinterhorn ebenso von Bedeutung wie die Blockade von Motoneuronen oder die Beeinflussung absteigender schmerzmodulierender Systeme [12-14]. Diese Befunde korrespondieren mit den dosisabhängigen muskelrelaxierenden Effekten der lnhalationsanästhetika bzw. der Verstärkung der Relaxantienwirkung. Unter der Geburt werden entsprechend Kontraktionskraft, Wehenstärke und Ruhetonus durch Inhalationsanästhetika dosisabhängig reduziert. Wirkungen volatiler Anästhetika am peripheren Nerven scheinen dabei keine Rolle zu spielen [13]. Mit Ausnahme des Xenons wirken die modernen Inhalationsanästhetika dosisabhängig kreislaufdepressiv [2]. Neben dem Abfall des peripheren Widerstands nimmt die Kontraktilität des Myokards ab. Dabei kommt es zu einer Vasodilatation der Koronarien bis 1 MAC ohne klinisch relevante Minderung der Koronarreserve. Vielmehr konnte in einer Meta-Analyse gezeigt werden, dass die Anwendung volatiler Anästhetika im Gegensatz zur TIVA die Mortalität Koronarkranker senkt [15]. Die Frage, ob die einheitlich inhibitorische Wirkung volatiler Anästhetika auf die pro-inflammatorische Reaktion immunkompetenter Zellen hiermit in ursächlichem Zusammenhang steht [16], ist bisher nicht geklärt. Lachgas, der älteste inhalative Begleiter des Anästhesisten, entfaltet seine analgetische Wirkung durch Aktivierung von Opiatrezeptoren im periaquäduktalen Grau sowie im Hirnstamm in noradrenergen Neuronen des locus ceruleus AS bzw. A7 [11]. Zudem scheint die Lachgaswirkung einerseits von supraspinaler GABAA-Rezeptoreninhibition abzuhängen, während es diese andererseits auf spinaler Ebene stimuliert [11]. Wegen seines ursächlichen Beitrages zu postperativen Komplikationen wie Erbrechen [17], cerebraler Dysfunktion und möglichen Wundheilungsstörungen [11] ist Stickoxydul allerdings in die Diskussion geraten. Zudem kommen trotz verpflichtenden Monitorings der inspiratorischen O2-Konzentration immer wieder Todesfälle durch hypoxische Gasgemische beim Lachgaseinsatz vor [19]. Entsprechend wird in vielen Kliniken heute auf den Lachgaseinsatz verzichtet. Eine Konsequenz, die in diesem Zusammenhang bislang wenig Beachtung findet, ist die Steigerung des jährlichen Ausstoßes an halogenierten Kohlenwasserstoffen durch den Wegfall der MAC-Absenkung durch Lachgas. Damit wird Np, das ein 310-fach höheres Treibhauspotential (GWP = global warming potential) als C02 besitzt, letztlich ersetzt durch fluorierte Kohlenwasserstoffe (Ozonkiller) mit einem GWP von 3.000- 12.000 x C02• Für die Modellberechnung in Tabelle 3 wurde ein mittleres GWP der halogenierten Volatila von 8.000 x C02 zugrunde gelegt. UKD2006
Desfluran
Sevofluran
FKW
Liter (Flüss.)
315
189
504
kg
457
284
741
m Dampf (Gas) 3
N,0
61
32
93
355
90.517
lll.110
201.627
70.985
€N,Ofrei
181.034
222.219
403.254
GWP'mitN,0
3.653
2.276
5.928
7.305
4.551
11.856
Unterschiede
6.972
€mitN,O
GWP1 N,Ofrei
Summen
272.612
403.254 2.161
+130.642
8.089
11.856
+3.767
Tabelle 3: Verbrauch 2006 und Modellrechnung für Lachgasverzicht (hinterlegt) mit Auswirkungen auf das Finanz- und Umweltjahresbudget am Uniklinikum Dresden. GWP =global warming potential. 1Äquivalent aus Verbrauch [t] und GWP Faktor; Spalte 4 =Summe aus Spalten 2+3
Aus dem dargestellten Jahresverbrauch von 0,74t halogenierten Volatila und knapp 7t Lachgas ergibt sich ein GWP-Äquivalent von 8.089 bei Kosten von € 272.612. Unter Berücksichtigung der wegfallenden MAC-Einsparung ergeben sich bei Lachgasverzicht Mehrkosten von € 130.642 (Preisstabilität angenommen) und eine negative Umweltbi6
lanz mit 1,5-facher Steigerung des ausgestoßenen Treibhauspotentials. In diesem Zusammenhang muss von der Einsparmöglichkeit durch Niedrigflussanästhesie [21] oder andere Arten des Recycling [22] konsequent Gebrauch gemacht werden. Inspiratorische Konzentration
Alveoläre Ventilation
- Verdampfereinstellung, FGF, Verluste - Narkosesystem und Volumen
- FRC
-'°'"''""'•G\ g
•
Aufnahme in das Blut - Lungenperfusion (V/Q) - Blut/Gas Verteilungskoeffizient
- HZV
Aufnahme--!as Gewebe - Organperfusion (relativ/ absolut) - Gewebe/Blut Verteilungskoeffizient - Patialdruckgradient
Abbildung S: Alveolarer Partialdruck als „Drehscheibe" für die Anflutung volatiler Anästhetika
Bedingt durch Löslichkeitsunterschiede von Lachgas (0,47) und Stickstoff (0,015) führt der Ersatz von Blutstickstoff durch Lachgas zu einer rapiden Volumenzunahme von mit Gas gefüllten Körperhöhlen (z. B. Darm, Pneumothorax, Pneumoperitoneum), Luftembolieblasen oder Kunststoffcuffs (Endotrachealtubus, Swan- Ganz-Katheter), weil die Diffusion des Lachgases in diese Räume nicht mit einem mengenmäßig gleichen Hinausdiffundieren des Stickstoffs beantwortet werden kann. Bei einer inspiratorischen Lachgaskonzentration von 75% kann sich das Volumen eines Pneumothorax oder eines SwanGanz-Kathetercuffs so innerhalb von 10 min verdoppeln. In der Ausleitung einer Lachgasanästhesie führt die schnelle Abflutung dieses Gases bei Luftatmung wegen der unterschiedlichen Blutlöslichkeit des Stickstoffs zur erheblichen Verringerung des alveolären Gehalts an Sauerstoff (Diffusionshypoxie). Jeder Patient der eine Lachgas/O2-Anästhesie erhalten hat, muss deshalb in der Ausleitungsphase (nach dem Abschalten des Lachgases) für etwa 5 - 10 min mit einem erhöhten Fp2 ventiliert werden. Lachgas Halothan Enfluran Isofluran Sevofluran Desfluran
Blut/ Gas 0,47
Gehirn/ Blut
2,54
1,9 1,4
1,80
1,1
1,46
1,6
0,69 0,42
1,7 1,3
Fett/ Blut 2,3
Metabolisierung [%] 0,004
51
15-20 2,4
36 45
0,2
48
3-5
27
0,02
Tabelle 3: Verteilungskoeffizienten bei 37° C
Da die Löslichkeit der Inhalationsanästhetika im Blut wesentlich größer als die des verdrängten Stickstoff ist, kommt es zur zügigen Aufnahme in das Blut, was die alveoläre Konzentration der Substanz vermindert. Wenn z. B. 1/3 des Anästhetikums in der Lunge vom Blut aufgenommen wird, beträgt das Verhältnis zwischen der alveolären zur inspiratorischen Konzentration (FA/F1 ratio) 2/3. Aufnahme und Ventilation sind somit gegenläufige Faktoren. Hyperventilation führt zu schnellerem Anstieg der alveolären Konzentration der Inhalationsanästhetika mit guter Blutlöslichkeit. Verteilungskoeffizienten beschreiben die relative Affinität eines Inhalationsanästhetikums zu unterschiedlichen Phasen, z.B. zwischen Blut und Gas oder Blut und Gehirn (Tabelle 3). Ein Blut/Gas-Verteilungskoeffizient für Desfluran von 0,42 bedeutet im Gleichgewicht, dass in der Blutphase eine Desflurankonzentration vom 0,42-fachen der Alveolargaskonzentration enthalten ist. Ist der Blut/Gas-Verteilungskoeffizient größer, kommt es 7
zu verstärkter Aufnahme im Blut und zu einem niedrigeren F/F( Verhältnis (Abbildung 6). Da der aktuelle Partialdruck des lnhalationsanästhetikums im Blut dem in der Alveole fast entspricht, wird bei großer Löslichkeit im Blut der Anstieg des Partialdrucks im Blut und damit auch im ZNS verzögert und das Erreichen einer durch die inspiratorische Konzentrationen vorgegebenen Narkosetiefe dauert länger (Abbildung 7). Der Anästhesist kann durch initiale Anwendung höherer inspiratorischer Konzentrationen diesen Effekt kompensieren. Bei modernen schlecht blutlöslichen Pharmaka hat dieser Effekt aber kaum noch Bedeutung.
0.8
0.6
0.4
0.2 0
1...----JL,,___,J_
_ _ , ,_
___.,_
5
10
15
0
_ _ . _ _.......__
20
25
_,
30
Zufuhr in Minuten Abbildung 6: Aufnahme volatiler Anästhetika als Funktion der Zeit (nach Eger)
Das Narkosebeatrnungsgerät stellt neben den Atemwegen des Patienten einen Teil des Gasvolumens dar, in dem bei Narkoseein- und-ausleitung die Ein- und Auswaschvorgänge stattfinden. Zu Beginn einer Anästhesie muss das Inhalationsanästhetikum das Systemvolumen (Kreisteil, Bälge, Absorber etc.) füllen. Bei Frischgasflüssen bis zu 5 l/min und einem Systemvolumen von 7 l erreicht das Atemkreisteil die am Vapor und den Rotametem eingestellten Gasverhältnisse annähernd erst nach etwa 10 min. Höhere Frischgasflüsse (Abbildung 5) können dies beschleunigen. In den Gummi- und Plastikteilen, die mit dem Inhalationsanästhetikum in Kontakt treten, werden ebenfalls große Mengen der Substanzen gelöst. Die Verteilungskoeffizienten für Gummi bzw. dem Plastik des Endotrachealtubus liegen z.B. für lsofluran bei 49 bzw. 114, für Halothan sogar bei 190 bzw. 233. Im klinischen Einsatz können sich Faktoren der Aufnahme mit den technischen Gegebenheiten des Kreissystems wechselseitig beeinflussen. Die Anflutung eines Inhalationsanästhetikums wird in Abbildung 6 als Beziehung zwischen dem Anstieg der alveolären Konzentration (FA) zur inspiratorischen Konzentration (FI) dargestellt. Die alveoläre Konzentration (FA) nähert sich bei Desfluran rascher der inspiratorischen Konzentration (F,) an als bei den anderen potenten Inhalationsanästhetika. Nur Lachgas zeigt einen noch schnelleren Anstieg, dies hängt jedoch mit der erhöhten inspiratorischen Konzentration zusammen und weniger mit den Unterschieden in der Blutlöslichkeit im Vergleich zu Desfluran. Die initiale Steilheit der Kurven (Abbildung 6) spiegelt die Anflutung im Totraum, das erste „Knie" die Löslichkeit im Blut und das zweite „Knie" die Aufsättigung der gut durchbluteten Organe wider.
8
,mt3 Etagen
s 3 Etagen
s 1 Etage
Ruhe-Sp02 < 90% Abfall > 4% unter Test
Belastungs-Pulsoximetrie Maximale Belastung:
0 2 Aufnahme unter Belastung: V02max ml /min x kg
< 11 >20
12- 19
75 % pred
Perfusionsmntlgramm, quantitatives Lungen-CT zur Schltznng der pnstoperatlffll llelcfakfloll
(pndided postopentive.., ppo): FeV 1 ppo
TI..roppo V02 maxppo
> 1,2 1
0.8 - 1.2 1
40 cm Hp) Spitzendrücke und längere ELV-Dauer. 2. Permeabilitätsschaden durch stärkere kapilläre Belastung infolge von Druck- und Blutflusssteigerung auf der abhängigen, beatmeten Lungenseite. 3. Ischämie!Reperfusions-Schaden durch Lungenkollaps auf der operierten, von der Ventilation ausgeschlossenen Lungenseite mit Einfluss auf die pro-/antiinflammatorische Balance, endothelialer Dysfunktion sowie kapillärer Leckage. Reaktionen betreffen sowohl die nicht ventilierte, aber auch die abhängige, ventilierte Lunge. 4. ,,Oxidativer Stress" durch Bildung freier Sauerstoffradikale bei ELV unter hoher FiO2 mit Schaden beidseits, wobei ebenfalls die ELV-Dauer Einfluss zu haben scheint [73]. Die Reduktion lungensschädigender Effekte unter ELV basiert auf Senkung des Hubvolumens bei fallbezogener PEEP-Einstellung [95]. Erste Belege dafür sind geringere proinflammatorische Effekte bzw. endotheliale Schäden, die klinisch in postoperativ besserer pulmonaler Funktion, weniger Ateminsuffizienz bzw. geringerer Beatmungsdauer resultieren [40, 72, 86]. 34
Die Beatmungsstrategie bei ELV soll darauf gerichtet sein, die Oxygenierung zu sichern und potenzielle, beatmungsbedingte pulmonale Schädigung zu verhindern (47, 91]. PEEP-Applikation während ELV wirkt der Atelektasenbildung in der abhängigen Lunge entgegen und verbessert die Oxygenierung [47]. Deutlicher Druckanstieg durch die auf den jeweiligen PEEP aufgelagerten in-/exspiratorischen Druckwechsel kann jedoch infolge erhöhten pulmonalen Gefäß-Widerstands zu Blutumleitung in die nicht ventilierten Seite mit PaO2-Abfall führen. Dies zu verhindern, soll die PEEP-Applikation strikt im Sinne der Regulierung des Lungenvolumens im Bereich der FRC erfolgen [98]. Neben Oxygenierung und Vermeidung von Atelektasen wird damit zur schonenden Beatmung beigetragen [95]: - Die Inspiration beginnt auf FRC-Niveau, die Lunge ist atemmechanisch „homogener". - Die Compliance ist verbessert, wozu neben günstigerer Druck-Volumen-Verhältnisse die Vermeidung von regionalem exspiratorischem Alveolarkollaps beiträgt. - Bei höherer Compliance auf FRC-Niveau besteht der geringste pulmonalvaskuläre Widerstand, was entsprechend dann gegebener guter V/Q-Abstimmung den Gasaustausch wirkungsvoll optimiert. - Blutumleitung in die nicht ventilierte Lunge ist so am wenigsten zu befürchten. - Die FiO2 kann niedriger gehalten werden. Von der PEEP-Applikation profitieren vorrangig Patienten mit normaler Lungenfunktion und restriktiver Störung, Patienten mit COPD dagegen weniger, da sie per se auto-PEEP entwickeln. Bezüglich Stabilisierung von Oxygenierung unter ELV scheint PEEP um 5 c~O als ausreichend, PEEP >8 c~O dagegen nicht von Vorteil zu sein. Dies umso mehr, wenn auto-PEEP entsteht, der durch externen PEEP verstärkt wird, was besonders bei unzureichender Exspirationszeit auftritt [98]. Zusätzlich werden Recruitment-Manöver auch bei ELV (s.o.), für besseren Gasaustausch und Vermeidung von Atelektasen explizit empfohlen [102]. Erhöhung der FiO 1 auf 1,0 mit ELV-Beginn wird vielerorts als einfachster Schritt eingesetzt, die Oxygenierung zu sichern. Neben Steigerung des PaO2 kommt es dabei zu pulmonaler Gefäßdilatation und so Perfusionszunahme in der ventilierten Lunge [76]. Hypoxämie ist dennoch nicht immer zu verhindern. Der Effekt ist umso mehr eingeschränkt, je höher der pulmonale Shunt ist. Bei Shunt> 25-30%, führt eine FiO2-Anhebung über 0,8 hinaus, normale Kreislauffunktion vorausgesetzt, in einem nur noch geringen PaO2Anstieg. Darüber hinaus sind Nebeneffekte einer hohen FiO2 Resorptionsatelektasen und toxische Effekte, die z.B. bei neoadjuvanter Chemotherapie ins Kalkül zu ziehen sind [56]. Demnach soll, wann immer möglich, eine FiO2 unter 1,0 angestrebt werden.
Im Notfall und für die kurzfristige Stabilisierung der Oxygenierung ist die Erhöhung der FiO2 auf 1,0 einfachster und effektiver Schritt. Behandlung der operierten Lunge während ELV Kontinuierlich positiver Atemwegsdruck (CPAP), auf der nicht ventilierten Lunge appliziert, ist die verbreitetste Methode zur Verbesserung der Oxygenierung unter ELV (Abb. 4).
35
Anästhesie-Kreissystem ""
O2/Luft- Quelle
ventilierte Seite
operierte, von der Ventilation ausgeschlossene Seite
regelbares Druckentlastungsventil CPAP-Einheit
Abb. 4: CPAP-Anwendung, hier über linksseitigen DLT (Konfiguration schematisch).
Der Effekt beruht auf erhaltener Belüftung durch apnoische Oxygenierung [106]. Hierzu schließt man am DLT-Schenkel der stillgelegten Seite ein CPAP-System mit einem O2-Fluss von 2-51/min an. Zur Thorakotomie wird am PEEP-Ventil ein Druck von 3-5 cm 8i0 eingestellt, zur VATS 1-2 cm Hp. Die Konnektierung des Systems erfolgt unmittelbar nach Ausschalten der entsprechenden Seite von der Ventilation, bei noch geschlossenem Throax. Die stillgelegte, noch nicht kollabierte Lunge „atmet" somit durch die in-/ exspiratorischen Druck- und Volumenänderungen der initiierten ELV Sauerstoff, der im Austausch zu Stickstoff eingewaschen wird [81]. Dies beugt Oxygenierungsproblemen am ELV-Beginn vor. Zudem beschleunigt es durch rasche O2-Resorption die Volumenreduktion der operierten Lunge nach Thoraxeröffnung. Bei COPD kann dies durch manuelle Beatmungshübe per CPAP-System vor OP-Beginn zusätzlich unterstützt werden. Bei VATS wird vor Einbringen des Troikars, um Verletzungen zu vermeiden, die CPAP-Einheit vom Druck entlastet. Im Weiteren kann der Lungen-Kollaps visuell gesteuert werden. Die alleinige O2-lnsufflation über das DLT-Lumen der stillgelegten Seite ist nicht so effektiv. Gasverteilung in kollabierte Lungenanteile kann den Shunt sogar erhöhen. Die per CPAP mögliche, an die jeweiligen Operationsbedingungen anzupassende Volumenreduktion der operierten Lunge bietet bei offener Thorakotomie aber auch bei VATS, wo sich CPAP schwieriger gestaltet und primär nicht immer einsetzbar ist, optimale Voraussetzungen sowohl für die Sicherung der Oxygenierung als auch das chirurgische Vorgehen. Bei guter Kooperation von Operateur und Anästhesist kann ein kompletter Kollaps der operierten Lunge oft vermieden oder auf kurze Phasen beschränkt werden (s. Bilddokumentation: [62]). Somit ist CPAP-Applikation auf der nicht ventilierten Seite zugleich fester Bestandteil schonender ELV. Anwendung von PEEP auf der ventilierten in Kombination mit CPAP auf der nicht ventilierten Lunge [43] garantiert in der Regel mit FiO2 < 0,6 die sichere Oxygenierung unter ELV. Bei Eingriffen mit Atemwegs-Eröffnung, z.B. des Starnmbronchus bei Manschettenresektion, funktioniert die CPAP-Applikation durch die vorübergehende Leckage nicht. Dann können mittels Hochfrequenz-Jetventilation (HFJV) per Katheter über das entsprechende DLT-Lumen die Lungenbereiche der zu operierenden Seite distal der Atemwegseröffnung in den Gasaustausch einbezogen werden (s.u.). Außer zur Oxygenierung trägt HFJV auch zur C02-Elimination bei [64].
36
Praktisches Vorgehen bei ELV Hubvolumina von 5-7 ml/ kg lassen Lungenüberblähung vermeiden, was bei angepasstem PEEP selten Spitzendrücke >35 bzw. Plateaudrücke >25 cm 8iO erfordert. Neben der Oxygenierung wird damit für eine „protektive ELV" gesorgt [95]. Die ELV ist unter folgenden Kriterien zu empfehlen (nach [91]): - Druck-kontrollierte Beatmung mit Atemwegsdrücken 4000 ml ist ein bedeutender Risikofaktor für pulmonale Komplikationen nach Pneumonektomie [74]. • Die Infusion von Kristalloiden soll für Erwachsene am Operationstag auf 3000 ml (verteilt auf ~2000 ml intraoperativ und 50 ml/h postoperativ) beschränkt werden. • Die positive Flüssigkeitsbilanz soll 20 ml/k:g, also 1400-1800 ml, in 24 h nicht überschreiten. • Blutverluste bis Hb 9 g/dl werden darüber hinaus mit Kolloiden ersetzt. • Urinausscheidung bis hinab zu 0,5 ml/k:g.h ist normalerweise nicht behandlungsbedürftig. • Bei grossem Gewebstrauma, wie z.B. Pneumonektomie mit Diaphragma- und Perikardresektion oder Ösophagektomie, ist die erweiterte Überwachung angebracht. • Bei instabiler Kreislaufsituation, wie auch Vasodilatation durch TEA, ist die Gabe von Vasokonstriktoren der „Auffüllung" des erweiterten Gefässraumes vorzuziehen. Schmerzbehandlung Die Thorakotomie zählt zu den schmerzhaftesten Eingriffen. Schmerz und muskuloskeletale Funktionsminderung sind bei anterolateraler, Muskel-schonenderer Thorakotomie geringer als bei posterolateraler mit Durchtrennung des M. latissimus dorsi, bei tranversalem Zugang hoch und bei Sternotomie am geringsten. Auch nach VATS ist der Schmerz geringer. Das Ausmass des Akut-Schmerzes korreliert mit demjenigen chronischer Schmerzen des sog. Post-Thorakotomie-Syndroms, das sich nach 40-80% aller Thorakotomien entwickelt [19]. • Nach thoraxchirurgischen Eingriffen findet sich eine akute restriktive Ventilationsstörung mit Minderung von FVC und FEVl auf 75%. Dem Schmerz wird davon ein Anteil von 25% zugerechnet. • Effiziente postoperative Schmerztherapie trägt wesentlich zur Besserung der Lungenfunktion bei. Die Schmerzen entstehen durch Traumatisierung und Entzündung von Thoraxorganen, Knochen und Gelenken sowie der lnterkostalnerven. Die nozizeptiven Stimuli erfolgen über: • Interkostalnerven aus Brustwand und parietaler Pleura • Spinalnerven aus kostovertrebralen und kostotransversalen Gelenken • N. phrenicus vom Diaphragma (mit Projektion in die ipsilaterale Schulter) • N. vagus von Lunge und Mediastinalorganen • Sympathicus aus kranialen Lungenbereichen (mit Projektion auf die Schulter-ArmRegion). Wichtig ist die reflektorische Hemmung der Zwerchfell-Aktivität nach thorakalem und abdominalem Operationstrauma. Aus der Vielzahl von Quellen und Leitungswegen erklärt sich, dass ein multimodales Konzept zur Schmerztherapie nach Thoraxeingriffen mit nichtsteroidalen Analgetika (NSAIDs), Opioiden und Lokalanästhetika nötig ist.
Interkostalblockade: Sie wird am einfachsten durch den Operateur vor Verschluss der Thoraxhöhle ausgeführt; sie soll drei Interkostalräume kranial und kaudal der Schnittführung erfassen. Mit Bupivacain 0,5% wird Analgesie der Brustwand für 6-24 h erzielt, doch kann der Ramus dorsalis des Interkostal(Spinal-)nervs nicht erreicht werden. Das Verfahren ist deshalb für posterolaterale weniger als für anterolaterale Thorakotomie 42
geeignet, sollte aber als Komponente multimodaler Analgesie stets genutzt werden, wenn neuraxiale Anästhesie-Techniken ausscheiden. Paravertebrale Katheter-Analgesie: Die Anlage kann, so zur VATS, präoperativ oder intraoperativ erfolgen. Bei Letzterem wird der Katheter durch die Brustwand in Höhe des hinteren Rippenwinkels vom Chirurgen unter die im Bereich je zweier Segmente oberhalb und unterhalb der Thoraxinzision abgelöste Pleura parietalis eingelegt. Das Anästhetikum erreicht Interkostalnerven und Grenzstrang und bewirkt intensive einseitige SympathikusBlockade. Bei vergleichbarem Effekt kann das Verfahren die thorakale Periduralanästhesie ersetzen (32]. Das Risiko rascher Resorption erfordert Lokalanästhetika mit Vasokonstriktor-Zusatz. Thorakale (Katheter)-Epiduralanalgesie (TEA) ist vielerorts Standard zur postoperativen Schmerzbekämpfung nach Thoraxchirurgie. Das Risiko neurologischer Komplikationen wird durch die Vorteile aufgewogen. • Epidural applizierte Lokalanästhetika und Opioide führen zu umfassender segmentaler Analgesie. Der Vergleich zur PCA zeigt bessere Schmerzausschaltung nach Thoraxeingriff in Ruhe und Aktivität [16] sowie Patientenzufriedenheit und Vigilanz (20]. • Unter TEA werden nach Thorakotomien die Lungenfunktion verbessert (48] und pulmonale und kardiale Komplikationen vermindert (11, 83]. • Bei Risikopatienten ist unter neuraxialer Analgesie die postoperative Mortalität um 63% verringert, nach Lungenresektion das Risiko von Mortalität und Morbidität unter TEA deutlich gesenkt. • Die Katheter-Anlage im Zentrum der betroffenen Segmente bedingt geringeren Substanzbedarf, Eingrenzung der vegetativen Blockade sowie, unter Verwendung lipophiler Opioide, der Analgesie auf das Op-Gebiet und weniger Pruritus, Urinretention sowie motorische Blockaden. • Chronische Schmerzen sind nach präoperativ begonnener TEA geringer (92]. TEA ist für jede Thorakotomie angezeigt. Dringliche Indikationen sind: - hohe Schmerzintensität (Pleurektomie ), - Beeinträchtigung der Atemmechanik (Brustwandresektion), - erhebliche Störung der Lungenfunktion (COPD, Emphysem), - vordringliche Spontanatmung postoperativ (Emphysem-Chirurgie; somit ist die TEA · auch bei VATS sinnvoll).
Frühe postoperative Komplikationen SekretverhaJt, Atelektase, Pneumonie Ursachen für postoperative Störungen von Gasaustausch und mukoziliärem Transport sind v.a. - beeinträchtigte Atem-Mechanik, Husten, Zilienfunktion und veränderte Sekretkonsistenz bei - akuter restriktiver Ventilationsstörung. Die Häufigkeit der Pneumonie nach Thoraxchirurgie beträgt 25-40 % (88]. Die lntensivtherapie ist dann verlängert, und die postoperative Mortalität bis zu 20 % gesteigert. Mehr als drei der Symptome Fieber, Leukozytose, purulentes Sekret, positver KulturNachweis und neues pulmonales Infiltrat bedeuten die Diagnose „Pneumonie". Der Übergang von Sekret-Retention über Atelektase bis postoperativer Pneumonie ist fließend. Postoperative Pneumonie bildet die führende Todesursache bei Thoraxchirurgie. Behandlung der miteinander verbundenen Komplikationen erfolgt durch [37]: • Schmerztherapie: Sorge für aktive Atemmanöver bei Erhalt von Vigilanz und Atemantrieb (s.o.).
43
• • •
• • •
Sekretmobilisation: Verflüssigung, broncholytische Therapie, Klopf- und Vibrationsmassage. Sekretabsaugung (nasotracheal) bei gestörter Hustenmechanik und mangelnder Kooperation. Fiberbronchoskopie in LA bei zähem, purulentem Sekret sowie bei Verdacht auf Atelektasen. Neben Sekretentfemung dient sie der Lavage, Instillation von Sekretolytika und Beobachtung von Atemwegs-Mechanik und Bronchus-Anastomosen. FOB stets unter EKG und Pulsoximeter sowie O2-Zufuhr. Bei Sp02 4 Jahre mit geringem Temperament und Eltern mit einem geringen Angstlevel (12). Viele Anästhesisten empfinden die Anwesenheit der Eltern gerade in der Einleitungssituation als zusätzlichen Stress, nur routinierte und erfahrene Kinderanästhesisten sehen die Eltern als hilfreiche Unterstützung. Es sei aber auch darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit für die Eltern, bei der Narkoseeinleitung dabei zu sein, die Gesamtzufriedenheit mit der Behandlung steigert und dass die Anwesenheit der Eltern in vielen anderen Ländern Standard ist (13). Die Anwesenheit der Eltern ist daher eine positive Option, die nach Entscheidung des verantwortlichen Anästhesisten eingerichtet werden kann, nicht jedoch nach dem Gutdünken der Eltern entschieden werden sollte.
Intravenöse Narkoseeinleitung Die intravenöse Einleitung der Anästhesie ist die sicherste und schnellste Form der Anästhesieinduktion bei Kindern. Intravenöser Zugang Ein intravenöser Zugang ist bei jeder Narkoseeinleitung wünschenswert, jedoch obligatorisch bei • nicht-nüchternen Kindern • Verdacht auf schwierigen Atemweg • kritisch kranken Kindern (ASA ~ 3) (14) Intraossärer Zugang Eine Alternative zum i.v.-Zugang in besonderen Situationen stellt die gezielte Anlage eines intraossären Zugangs dar. In den Guidelines von 2005 hat der European Resuscitation Council (ERC) den intraossären Zugang als Alternative zur i.v.-Punktion empfohlen (16). Die Literatur der letzten Jahre und die steigende Zahl der Anwendungen zeigen, dass eine i.o.-Punktion längst nicht mit den Risiken verbunden ist, die früher unterstellt wurden (17). Eine Ausweitung der Indikation -z.B. Punktion beim exsikkierten/zentralisierten Kind, beim nicht-nüchternen Kind mit schwierigen Venenverhältnissen und nach frustraner i.v.-Punktion- ist gerade durch moderne, einfache und annähernd schmerzfreie Techniken (z.B. EZIO®) zu befürworten. Lokalanästhestikahaltige Creme Eine etablierte Möglichkeit, den Schmerzreiz einer intravenösen Punktion zu unterdrükken, ist das vorherige Aufbringen einer lokalanästhetikahaltigen Creme (z.B. EMLA®, Rapydan®) (15). Durch die eutektische Zubereitung dringen die Lokalanästhetika in die oberen Hautschichten ein und betäuben das Gewebe. Idealerweise wird die Creme 45-60 min vor geplanter Punktion unter einem Okklusionsverband (z.B. Tegaderm®) aufgetragen und 15 min vor Punktion entfernt. Zu beachten ist jedoch -v.a. bei Kindern mit Krankenhaus-Erfahrung- das psychologische Moment beim Anblick einer i.v.-Kanüle. Aus diesem Grund sollten immer flankierende Maßnahmen angewendet werden, die das Kind einerseits von der Manipulation ablenken (z.B. Verwickeln in ein Gespräch, Husten, Pfeifen oder in ein Windrädchen blasen). Eine vermeintlich unbemerkte Punktion ohne Vorankündigung ("Überrumpeln") ist andererseits strikt zu vermeiden, da das Kind sich hintergangen fühlen könnte und somit eine schlechte Erfahrung für die Zukunft verfestigt
59
wird. Das Kind sollte also vor Punktion darauf hingewiesen werden, dass ein kleiner Pieks verspürt werden kann.
Glukose Bei Neugeborenen und Säuglingen bieten sich weitere effektive schmerzlindernde Optionen an: die Gabe von oraler Glukoselösung in Kombination mit non-nutritivem Schnullersaugen- selbst in niedriger Dosierung (1-10 Tropfen Glukose 20 % ) - ist eine effektive und sichere Methode, prozedurale geringe Schmerzen wie z.B. bei intravenöser Punktion zu reduzieren (18). Propofol Propofol ist in der Kinderanästhesie das am häufigsten benutzte intravenöse Einleitungsmittel. Propofol ist lipidlöslich, man benötigt deshalb als Lösungsvermittler Sojaöl oder MCT, das der injektionsfertigen Lösung das milchartige Aussehen verleiht. In einer Dosis von 3-5 mg/kg KG führt Propofol zu einer raschen Narkoseinduktion (19). Propofol ist in Deutschland nach Abschluß der Neugeborenenperiode (31. Lebenstag) zugelassen. Die zunehmende Häufigkeit von Sojaallergien stellt eine gelegentliche Limitierung der Verwendung von Propofol dar.
Eigenschaften von Propofol: • Reflexdämpfung laryngeal: Propofol zeigt im Vergleich zu Sevofluran larynxreflexdämpfende Eigenschaften (20). • Ruhige Aufwachphase: Sie ist nach intravenöser Narkose mit Propofol signifikant ruhiger als nach Sevoflurananästhesien, das Phänomen der "Emergence Agitation" ist deutlich seltener (21)! • Keine Triggersubstanz der Malignen Hyperthermie: Diese schwerwiegende Komplikation von Inhalationsnarkotika kommt bei der Propofolanästhesie nicht vor. • Antiemetische Wirkung: Propofol wirkt antiemetisch, der Einsatz der intravenösen Anästhesieform reduziert die PONV-Rate allein um 30% (22). • Kaum kardiozirkulatorischen Effekte: Im Vergleich zu Erwachsenen sind die Kreislaufeffekte (v.a. Hypotonie) beim Kind gering ausgeprägt. • Keine ICP-Erhöhung: Propofol führt nicht zum Anstieg des intrakraniellen Drucks, ist daher Mittel der Wahl in der pädiatrischen Neurochirurgie. • Keine Organtoxizitäten: Leber- und Nierenschäden sind bei Propofol nicht beschrieben. • Injektionsschmerz: Die Applikation von Propofol ist schmerzhaft: je kleiner die Venen, desto größer der Schmerz. Der Injektionsschmerz kann durch die Vorweggabe von Opioiden verringert werden, die Beimischung von Lidocain kann als effektivste Methode den Injektionsschmerz ganz verhindern (23). • Exzitatorische Phänomene: Bei der Narkoseeinleitung mit Propofol kann es zu unwillkürlichen Bewegungen kommen. · • Kontaminationsrisiko: Propofol darf nur dann benutzt werden, wenn es unmittelbar vor der Applikation frisch zubereitet wird. Durch die Lipidlösung kommt es innerhalb kurzer :zeit (6h) zu bakterieller Kontamination. Tabelle 4: Eigenschaften von Propofol
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Thiopental Thiopental war bis zur klinischen Etablierung von Propofol Einleitungshypnotikum der Wahl im Kindesalter und wird heute noch verwendet. Hauptmerkmal ist vor allem die rasche Umverteilung, die Wirkdauer ist im Kindesalter etwas länger im Vergleich zu Erwachsenen. Die Dosierung muss im Säuglingsalter höher gewählt werden (6-8 mg/kg KG) als bei Kindern> 1 Jahr (4-6 mg/kg KG) (24). Zu beachten sind die Kontraindikationen (Porphyrie, Hypovolämie) und die Gefahr der Gewebenekrose bei akzidenteller paravasaler oder intraarterieller Applikation. Weiterhin kommt es auch bei Kindern ohne vorbestehende Atemwegsobtruktion signifikant häufiger zur Bronchospastik. Etomidat Etomidat wird in der Kinderanästhesie kaum verwendet. Neben Kardiostabilität sind typische Eigenschaften: Injektionsschmerz (nicht bei der Emulsion), Myoklonien und Cortisolsynthese-Hemmung. Ketamin Ketarnin kann neben der Prämedikation auch zur Narkoseeinleitung verwendet werden (Dosierung Ketamin 2-3 mg/kg KG, S-Ketarnin 1-1,5 mg/kg KG). Von Vorteil ist bei Kindern mit vorbestehender Herzerkrankung oder bestehendem Schock/Hypovolämie die stabile Hämodynarnik durch sympathoadrenerge Stimulation (25). Ketarninmononarkosen sollten im Hinblick auf die typischen psychomimetischen Nebenwirkungen vermieden werden, die Supplementierung mit Benzodiazepinen, Propofol und/oder Opioiden empfiehlt sich. Ketarnin führt zu vermehrter Speichelsekretion und pharyngealer Hyperreflexie. Es sollte daher nicht bei Eingriffen im Bereich der Atemwege angewendet werden und ggf. mit Atropin ergänzt werden.
Maskeneinleitung Die Maskeneinleitung (inhalative Einleitung) hat in der Kinderanästhesie eine lange Tradition, sie ist eine Alternative zur i.v.-Einleitung. Aber: auch eine Maskeneinleitung kann unangenehm und bedrohlich wirken und wird nicht von allen Kindern toleriert. Akzeptiert man die Ein- und Ausleitung einer Narkose als Phasen mit einer erhöhter Komplikationsrate (dies betrifft vor allem den in der Kinderanästhesie wenig routinierten Anästhesisten), muss man einräumen, dass das Fehlen eines venösen Zugangs ein zusätzliches Sicherheitsrisiko darstellt (14). Sevofluran Als einziges geeignetes Medikament zur Maskeneinleitung steht Sevofluran zur Verfügung. Eine schnelle, effektive Form der Maskeneinleitung ist die rasche Aufsättigung mit höheren Konzentrationen Sevofluran (6 Vol% bis zum Bewusstseinsverlust, danach Reduktion auf 4 Vol. %, nach Intubation/Einlegen der Larynxmaske weitere Reduktion) in 100% 0 2 bei hohem Frischgasfluß (> 31/min). Ein langsames Steigern der Sevoflurankonzentration bringt keinen Vorteil. Eigenschaften von Sevofluran • Rasche, unkomplizierte Narkoseeinleitung Mit Sevofluran kann eine Narkose bei Kindern rasch eingeleitet werden, der Geruch ist für Kinder nicht unangenehm, es kommt nur selten zu einer Reizung der Atemwege oder zu einem Laryngospasmus • Kardiozirkulatorische Stabilität Im Vergleich zu Halothan sind unter Sevofluran auch bei Neugeborenen und Säuglin-
61
•
•
•
•
gen kaum Kardiodepression und keine Arrhythmien zu beobachten, während der Einleitungsphase bleiben Blutdruck und Herzfrequenz stabil bzw. sind erhöht (26). Unruhige Aufwachphase Kinder im Vorschulalter leiden postoperativ nach Sevoflurannarkose häufiger an einem auffälligen Unruhe-/Agitationszustand ("delirium"), in dem sie nicht mehr kommunikationsfähig sind (27). Dieser Umstand ist für alle Beteiligten extrem belastend und muss umgehend therapiert werden (z.B. Propofol i.v. 1 mg/kg KG repitierend bis das Delir durchbrochen ist, Monitorüberwachung!) EEG-Veränderungen Unter höheren Dosierungen von Sevofluran wurden schwere EEG-Veränderungen im Sinne von exzitatorischen, nichtkonvulsiven Krampfpotentialen gefunden (28). Sevofluran sollte daher nicht in inspiratorischen Konzentrationen> 6 Vol% verwendet werden, nach der Narkoseinduktion muss die Vaporeinstellung zügig reduziert werden! Interaktion mit Atemkalk Trockener Calciumhydroxid-Absorberkalk kann zu exothermen Reaktionen (Degradation) von Sevofluran führen, dies wiederum kann zum Wirkverlust und zu Hitzeentwicklung im Absorber führen (29). Barium- und kaliurnfreie C02-Absorber scheinen sicher zu sein. Maligne Hyperthermie Wie alle Volatila kann Sevofluran eine maligne Hyperthermie auslösen.
Tabelle 5: Eigenschaften von Sevofluran
Airwaymanagement Die richtige Lagerung des Kindes zur Narkoseeinleitung ist essentielle Voraussetzung für das erfolgreiche Management des Atemweges. Durch den relativ großen Hinterkopf kommt es beim Liegen auf einer flachen Unterlage zur Inklination der HWS mit Gefahr der Obstruktion der oberen Atemwege. Eine Rolle unter der Schulter und die Fixierung des Kopfes in einem Gel-Ring sind banale, aber effektive Methoden, den Atemweg freizuhalten (siehe Abbildu_ng 3).
Abbildung 3: Lagerung/Technik Maskenbeatmung
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Die Beatmung erfolgt über eine altersentsprechende, passende Maske. Runde Masken mit flexiblem Rand (z.B. Laerdal™) sind besonders für die Beatmung von Früh- und Neugeborenen geeignet. Rendell-Baker-Masken mit geringem Totraumvolumen sind schwieriger dicht zu halten. Die Beatmung über eine Maske kann manuell erfolgen: Nach dem Einschlafen des Kindes wird der Kopf in Neutralposition gelagert und die Maske fest auf das Gesicht aufgesetzt. Daumen und Zeigefinger bilden den "C-Griff" , mit dem Ringfinger wird das Kinn als knöchernes Widerlager angehoben. Die Beatmung erfolgt dann durch vorsichtigen Druck auf den Beatmungsbeutel. Vorteile gegenüber der manuellen Beatmung bietet die Maskenbeatmung über den druckkontrollierten Modus (PCV) des Respirators (30): • Druckbegrenzung, kaum Gefahr der Lungen- oder Magenüberblähung • konstante Tidalvolumina • Zwei freie Hände für die Atemwegskontrolle (siehe Abbildung 4)
Abbildung 4: Technik der Maskenbeatmung über druckkontrollierten Modus des Respirators
Besonderheiten der Rapid Sequence lnduction Die Narkoseeinleitung eines nicht-nüchternen Kindes stellt eine besondere anästhesiologische Herausforderung dar: Es gilt, eine potentielle Aspiration von Mageninhalt imd gleichzeitig eine gefährliche Hypoxie zu verhindern (31). Kinder sind stark hypoxiegefährdet: der Sauerstoffverbrauch ist hoch, andererseits sind die Sauerstoffreserven klein (niedrige Funktionelle Residualkapazität, hohes Closing Volume). Die Aspiration im Kindesalter hingegen ist ein eher seltenes Ereignis mit einer -laut Studienlage- geringeren Morbidität und Mortalität (32). Die meisten Aspirationen im Kindesalter ereignen sich während der Narkoseeinleitung, genauer während der Laryngoskopie und dem Versuch der Intubation, der bei zu flacher Narkose oder unvollständiger Muskelrelaxierung mit Husten, Würgen, Pressen und möglicher Regurgitation und Aspiration beantwortet wird. Die Ursache ist häufig der zu frühe Versuch der Intubation unter einer drohenden oder gar schon manifesten Hypoxie. Eine intravenöse Einleitung ist bei nicht-nüchternen Patienten obligatorisch, eine Maskeneinleitung kontraindiziert (33). Eine Apnoephase zwischen Narkoseinduktion und Atemwegssicherung/Intubation wie im Erwachsenenalter führt zwangsweise zu Hypoxie. Dies kann nur durch vorsichtige Maskenzwischenbeatmung verhindert werden. Eine 63
zuverlässige Methode ist die Beatmung über die Maske im druckkontrollierten Modus über den Respirator (P,w 10-12cm 8i0, PEEP 3-5 cm Hp). Der Anästhesist hat beide Hände für den Atemweg frei, der Respirator appliziert, gleichbleibende Compliance, Resistance und Dichtigkeit vorausgesetzt, ein konstantes Atemminutenvolumen. Hohe Spitzendrücke mit der Gefahr der Lungen- und Magenüberblähung, wie sie häufig bei der manuellen Beatmung auftreten, werden konsequent vermieden. Durch diese schonende Beatmung kann die Zeit bis zur vollständigen Muskelrelaxierung bei gesicherter Oxygenierung überbrückt werden.
Komplikationen bei der Narkoseeinleitung Große prospektive Untersuchungen zur anästhesiebedingten Morbidität und Mortalität im Kindesalter konnten zeigen, dass ein wesentlicher Anteil der Komplikationen während der Narkoseeinleitung auftritt (4). Es handelt sich hierbei v.a. um respiratorische Komplikationen durch extrathorakale Atemwegsverlegung. Die Maskenbeatmung des Kindes ist anspruchsvoll und muss sicher beherrscht werden. Besonders schwerwiegend ist eine solche Atemwegsobstruktion während einer Maskeneinleitung ohne intravenösen Zugang. Unerwartet schwieriger Atemweg Kinder ohne Komorbidität haben in der Regel einen anatomisch normalen Atemweg. Bei Problemen mit der Maskenbeatmung handelt es sich meist um eine funktionelle Obstruktion der supraglottischen Atemwege durch suboptimale Lagerung, zu flache Narkose oder auch Thoraxrigidität durch Opioide. In dieser Situation sollte die Lagerung überprüft werden, die Narkose (ggf. auch durch Muskelrelaxierung) vertieft werden. Falls die Maskenbeatmung nicht gelingt, ist wegen der Gefahr der sich rasch entwickelnden Hypoxie sofort eine Hilfsperson zu rufen. Ein zügiger Versuch der endotrachealen Intubation ist legitim, dies sollte jedoch nicht forciert werden. Im Vordergrund steht immer die Oxygenierung des Kindes, nicht die endotracheale Intubation! Mit der Larynxmaske steht eine etablierte Alternative zur Verfügung, die einfach und effektiv den Atemweg sichert. Eine weitere Möglichkeit zur Oxygenierung in dieser Situation stellt Nasen-CPAP dar: der Endotrachealtubus wird blind über die Nase in den Hypopharynx eingelegt (Neugeborene/Säuglinge ca. 4-6 cm oder Abstand NasenspitzeOhrläppchen), das freie Nasenloch und der Mund werden mit der Hand zugehalten, über den Tubus kann nun vorsichtig beatmet werden. Laryngospasmus Eine der häufigsten Komplikationen im Kindesalter ist der Laryngospasmus (34). Fast immer liegt die Ursache in einer zu flachen Narkose. Die Therapie ist daher die rasche Vertiefung der Narkose ggf. mit Muskelrelaxierung. Ereignet sich der Laryngospasmus während einer Maskeneinleitung ohne liegenden i.v.-Zugang so muss versucht werden, diesen Spasmus mittels dosierter Überdruckbeatmung zu durchbrechen. Gelingt das nicht sofort, handelt es sich um einen lebensbedrohlichen Notfall und es muss sofort ein i.v.oder i.o.-Zugang gelegt werden, um Hypnotika/Relaxantien applizieren zu können. Aspiration Die meisten Aspirationen ereignen sich während der Einleitungsphase infolge Laryngoskopie und Intubationsversuchen unter zu flacher Narkose. So ausgelöstes Husten, Pressen und Würgen kann zu Regurgitation und Aspiration führen. Die Aspiration im Kindesalter ist laut Studienlage zwar ein eher seltenes Ereignis und die Mortalität gering, dennoch gilt es, Aspirationen konsequent zu vermeiden resp. zu therapieren (35): 64
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sofortige Intubation mit anschließendem Absaugen oral und endotracheal erst danach Beatmung mit PEEP individuelle Risiko-Nutzen-Abwägung, ob OP durchgeführt wird ggf. Bronchoskopie bei klinischer Symptomatik · keine blinde Antibiotikagabe, keine Kortikoidgabe falls keine klinische Symptomatik: Extubation Beobachtung und Monitoring (SpO2 , paO2) über 2 h (=Zeitfenster bis pulmonale Symptome auftreten)
Fazit: Die Narkoseeinleitung im Kindesalter sollte so kompetent und kindgerecht wie möglich sein. Strategien zur Dyskomfortvermeidung sind altersgerechte Vorbereitungsprogramme, liberale Nüchternzeiten sowie das Vermeiden von überflüssigen schmerzhaften Prozeduren. Eine medikamentöse Prämedikation mit Midazolam, ggf. supplementiert durch S-Ketamin, sorgt für effektive Anxiolyse und eine ruhige Einleitungssituation. Hinsichtlich der Sicherheit stellt die i.v.-Einleitung den Goldstandard dar. Propofol hat Vorzüge gegenüber Sevofluran durch antiemetische Eigenschaften und eine ruhige Aufwachphase. Für den erfahrenen Anästhesisten ist die inhalative Einleitung mit Sevofluran eine Alternative. Die Maskenbeatmung über den druckkontrollierten Modus des Respirators bietet Vorteile.
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Anästhesie außerhalb des Operationssaals WOLFGANG HEINKE, VOLKER THIEME
Einleitung Zunehmend werden Anforderungen für Anästhesien außerhalb der klassischen, durch chirurgische Disziplinen genutzten, Operationssäle gestellt. Diese machen an großen Kliniken inzwischen bis 15% der durchgeführten Anästhesien aus [1]. Ursache für diesen Trend sind die Zunahme moderner minimal-invasiver Verfahren (z.B. Aneurysmacoiling), die Ausweitung diagnostischer Maßnahmen vor allem bei Kindern (Magnetresonanztomographie [MRT]), die Zunahme invasiv-diagnostischer Maßnahmen, die Gefahr kontrastmittel-bedingter Zwischenfälle und der Komfortanspruch der Patienten während bestimmter Prozeduren (siehe Tabelle 1). Da es sich oftmals um vermeintlich „kleinere" Eingriffe und Prozeduren handelt, werden die Risiken für den Patienten und die Schwierigkeiten für den Anästhesisten schnell unterschätzt. Tatsächlich ist die Anästhesie außerhalb des Operationssaals dadurch gekennzeichnet, dass sich der Anästhesist weder räumlich noch personell in seinem vertrauten Umfeld bewegt und die Umgebung im Gegensatz zum Operationssaal nicht den Bedürfnissen von Anästhesisten angepasst ist (z.B. keine Aufwachräume zur Verfügung stehen). Zudem sind die Anforderungen oft schlecht planbar, weshalb häufig kein ausreichend qualifiziertes Anästhesiepflegepersonal zur Verfügung steht. Hinzu kommt, dass gerade bei multimorbiden Patienten mit entsprechend hohem Anästhesierisiko bevorzugt minimal - invasive Therapieverfahren als Alternative zur Anwendung kommen. So ist es nicht überraschend, dass bedingt durch den ungewohnten Arbeitplatz mit häufig reduzierter Ausstattung bei der hohen Zahl von Risikopatienten schwere anästhesiebedingte Zwischenfälle bei Interventionen außerhalb des Operationssaals keine Seltenheit darstellen (2, 3]. Für Anästhesisten stellen sich hiermit neue organisatorische, personelle und technische Herausforderungen. Diese müssen das Ziel haben, für Patienten die außerhalb des OP-Saals anästhesiologisch betreut werden die gleichen strukturellen und personellen Standards wie im OP-Saal zur Gewährleistung ihrer Sicherheit zu garantieren [4]. Die vorgestellte Übersicht soll wichtige Indikationen für Anästhesien außerhalb des klassischen Operationssaals und deren Besonderheiten darlegen. Auf eine Darstellung der Besonderheiten der Anästhesie bei kardiologischen Interventionen außerhalb des Operationssaals wird mit Verweis auf entsprechende Übersichten verzichtet [5].
Fachgebiet
diagnostisch
· lnteneationell • Ancurysmacoiling • AVM - Embolisation
Radiologie
• MRT, CT, PET (Kinder) • Angiographien
• • • •
Aortenstents Carotisstents Gallenwegsdrainagen Radiofrequenzablation, laser-induzierte interstitielle Thermotherapie • Punktionen und Biopsien
(z.B. Abszesse, Tumoren) • Vorbereitung und Durchführung von Brachytherapien
Strahlentherapie Gastrenterologie
• Koloskopie, Gastroskopie (Kinder)
• TIPS -Anlage • Interventionen an den Gallenwegen
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Fachgebiet
diagnostisch
interventionell
Kardiologie
• Herzkatheter (Kinder)
• Aortenstents • Interventionen an den Koronargefä~n • Interventionen an den Herzklappen
Psychiatrie
• Elektrokrampftherapie
Tabelle 1: Indikationen für AnästheOsien außerhalb des OP-Saals
Anästhesie in der Radiologie und Strahlentherapie Auch wenn in der Literatur keine exakten Zahlen vorliegen, darf angenommen werden, dass ein sehr großer Teil von Anästhesien außerh~lb des Operationssaals in den verschiedenen radiologischen Funktionsbereichen (Angiographie, Computertomographie [CT], Magnetresonanztomographie [MRT], konventionelle Durchleuchtung) erbracht wird. Dies ist bedingt durch die Zunahme der Diagnostik (z.B. Kinder-MRT's) ganz allgemein sowie durch eine Zunahme invasiv - diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen, die einerseits schmerzhaft sind, und andererseits das Stillhalten des Patienten über eine längere Zeit erfordern. Typisches Kennzeichen vieler der durchgeführten Prozeduren und damit von Bedeutung für die Steuerung der Anästhesie ist ihr abruptes Ende. Neben der eigentlichen Durchführung der Anästhesie sieht sich der Anästhesist in der Radiologie zusätzlich mit Fragen des Strahlenschutzes sowie der Prophylaxe und Behandlung kontrastrnittelbedingter Reaktionen konfrontiert. Strahlenschutz Abhängig von der Dauer und Prozedur kann es im CT oder der Angiographie zu einer relevanten Strahlenexposition für den Patienten sowie das medizinische Personal kommen. Da sich der Anästhesist oft während der gesamten Behandlung im gleichen Raum wie der Patient aufhalten muss, benötigt er eine Bleischürze und einen Schilddrüsenschutz. Auch sollte ein ausreichend großer Abstand zum Behandlungstisch eingehalten werden. Kontrastmittel Neben eingriffsbedingten Komplikationen ist die Anwendung von jodhaltigen Kontrastmitteln (KM) ein viel diskutiertes Risiko für den Patienten. Diese können allergische Reaktionen, Hyperthyreosen [6] und Kontrastrnittelnephropathien [7] verursachen. Schwere allergische Reaktionen sind sehr selten. In einer Metaanalyse, die insgesamt 10000 Patienten die jodhaltige KM bekamen, einschließt, wurden keine schweren allergischen KM-Zwischenfälle berichtet [8]. Trotzdem sollte beim Risikopatienten immer eine Prophylaxe, z.B. in Form einer kombinierten präinterventionellen Gabe von Glukokortikoiden und Antihistaminika, durchgeführt werden. Eine gesicherte Datenlage, welche Art oder Dosis eine effektive Prophylaxe zur Vermeidung allergischer KM-Reaktionen haben sollte, fehlt, so dass diesbezüglich keine verbindlichen Empfehlungen ausgesprochen werden können. Grundsätzlich wird davor gewarnt, sich auf eine durchgeführte Prophylaxe bei Risikopatienten zu verlassen [8]. Die KM-bedingte Hyperthyreose macht zahlenmäßig etwa die Hälfte aller Hyperthyreosen in Deutschland aus. Bei unselektierten Patienten wird das Risiko einer jodinduzierten Hyperthyreose nach KM-Gabe mit bis zu 0,34% angegeben [9]. Es steigt bei Risikofaktoren, wie einem vorbestehenden Jodmangel (Deutschland ist ein Jodmangelland), hohen KM-Dosen (hoheJodexposition), dem Vorhandensein von autonomem Schilddrüsengewebe (knotig veränderte Schilddrüse) oder hohem Alter des Patienten. Anamnese, Klinik (knotige Struma) und eine TSH-Bestimmung sind deshalb vor KM-Anwendung obligat, um gegebenenfalls eine Prophylaxe (siehe Tabelle 2) vorzunehmen.
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Medikamentöse Prophylaxe der jodlnduzierten Hyperthyreose • 3 x 20 Tropfen (900 mg) Perchlorat (lrenaie)rrag • zusätzlich fakultativ (bzw. obligat bei manifester Hyperthyreose) 20 mg Thiamazol (Favistan~)ffag • Beginn der Therapie: spätestens 2 - 4 Std. vor KM-Exposition
• Dauer der Therapie: 14 Tage Tabelle 2: Empfehlungen zur Prophylaxe der jodinduzierten Hyperthyreose
Die Indikation zur Prophylaxe sollte im Notfall, wenn kein TSH bestimmt werden kann, bei Patienten älter als 60 Jahre, knotig veränderter Schilddrüse oder vorbestehenden Schilddrüsenerkrankungen großzügig gestellt werden. Die im MR verwendeten Kontrastmittel sind nicht jodhaltig und verursachen deshalb keine Schilddrüsenprobleme. Die KM-induzierte Nephropathie wird für ca. 10% aller im Krankenhaus erworben Nierenversagen verantwortlich gemacht [10]. Dementsprechend benötigen Patienten mit Risikofaktoren (z.B. Niereninsuffizienz, hohes Alter, Hypotension, Hypertonie, Herzinsuffizienz) eine Prophylaxe. Empfohlen werden nach einer Konsensuskonferenz [11) die Optimierung des Volumenstatus (ausreichende Hydratation), eine pharmakologische Nierenprotektion (N-Acetylcystein, Theophyllamin), die Anwendung geringer Mengen niedrigosmolarer KM, das Absetzen potentiell nephrotoxischer Medikamente (NSAID, Metformin) sowie Serumkreatininkontrollen im Verlauf. Insbesondere für pharmakologisch protektive Maßnahmen scheint die Datenlage noch nicht ausreichend gesichert, um eine generelle Empfehlung auszusprechen. Trotzdem ist die Gabe von 2 x 600 mg ACC p.o. am Vor- und Untersuchungstag aufgrund geringer Kosten und Nebenwirkungen sinnvoll. Alternativ können bei Notfällen oder besonders hohem Risiko 1200 mgACCpräprozedural i. v. gegeben werden.Auch TheophyllinalsAdenosinantagonist kann deradenosinvermittelten Vasokonstriktion im Rahmen der Kontrastmittelnephropathie möglicherweise entgegenwirken [7]. Selten beschriebene anästhesierelevante Nebenwirkungen durch KM sind u. a. Sehstörungen bis zur kortikalen Blindheit, andere fokale neurologische Defizite, wie z. B. Hemiparese oder Aphasie, Bewusstseinsstörungen und Krampfanfä.lle [12). Diese bilden sich zumeist innerhalb von 3 - 4 Tagen vollständig zurück.
Anästhesie in der Neuroradiologie Diagnostische Angiographien und therapeutische Interventionen für die eine Anästhesie erforderlich ist, werden sowohl elektiv aber auch als Notfallintervention durchgeführt. Häufige neuroradiologsche Interventionen sind die Coil-Okklusion intrakranieller Aneurysmen, die Embolisation von arterio-venösen Maiformationen und die Okklusion duraler arteriovenöser Fisteln [13). Im Rahmen diagnostischer Angiographien des ZNS ist die Anästhesie v.a. bei Kindern, unkooperativen Patienten (Notfall), KM-Unverträglichkeit und sehr ängstlichen Patienten involviert. Die Wahl der Anästhesietechnik hängt von der Prozedur und von der Kooperation Anästhesie - Neuroradiologie ab. In der Regel wird für Interventionen die Allgemeinanästhesie der Sedierung vorgezogen. Sie ermöglicht eine bessere Bildqualität, einen höheren Patientenkomfort, eine sichere Immobilisation des Patienten sowie eine bessere Kontrolle von Atmung und Hämodynamik. Da der Zugang zu den Atemwegen unter der Intervention erschwert ist, ist die Intubation zur Atemwegssicherung die Methode der Wahl. Bei nicht nüchternen Patienten muss zur Einleitung beachtet werden, dass der Angiographietisch nicht gekippt werden kann. Muskelrelaxantien sind nur zur
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Intubation nötig. Allerdings muss gewährleistet sein, dass der Patient sich in kritischen Phasen der Intervention nicht bewegt, da sonst gravierende Komplikationen die Folge sein können (Tab.3).
Interventionell bedingt
ZNS • Blutung (Aneurysmaperforation, Dissektion) • Gefäßverschluss (lbrombembolie, Fehlpatzierung von Coils, Vasospasmus)
peripher • Gefäßverletzung (lokale oder retroperitoneale Blutung, Aneurysma der A.femoralis)
Kontrastmittel bedingt • Allergische Reaktion • Thyreotoxikose • Nephropathie
Tabelle 3: Mögliche Komplikationen neuroradiologischer Interventionen
Als Anästhetika eignen sich kurzwirksame, gut steuerbare Medikamente (Sevofluran, Propofol, Remifentanil), da der Schmerzreiz gering ist und die Interventionen häufig schlecht vorhersehbar abrupt enden. Während der Intervention sollte der arterielle Blutdruck im Normbereich gehalten werden. Zur Überwachung des Blutdrucks kann die Indikation zur Anlage eines arteriellen Katheters abhängig vom Risiko des Patienten großzügig gestellt werden. Die Anlage eines zentralvenösen Katheters ist selten erforderlich. Durch Fehlpunktionen mit Verletzungen der A. carotis interna sind sogar Schwierigkeiten bei der Intervention möglich (kein Passieren, Dissektion, Blutungskomplikationen bei Fibrinolyse). Je nach Dauer der Intervention ist die Anlage eines Blasenkatheters sinnvoll, auch weil durch größere Volumina hyperosmolaren Kontrastmittels eine osmotische Diurese induziert werden kann. Zur Verhinderung von Thrombenbildungen am Katheter oder Führungsdraht des Radiologen wird der Patient intravenös heparinisiert. Nach der Coilokklusion von Aneurysmen bekommt er zusätzlich noch ASS und wenn Stents verwendet werden, wird die Antikoagulation noch durch Clopidogrel ergänzt. Art und Dosis der Antikoagulation sollte immer in enger Kooperation mit dem Neuroradiologen festgelegt werden. Insbesondere nach Embolisationsbehandlungen von arteriovenösen Malformationen besteht die Gefahr ischämischer Komplikationen (z.B. bei zu weit proximalem Verschluss zuführender Arterien) oder von Blutungskomplikationen, wenn es im Angiom zu einer starken Druckerhöhung kommt (z.B. bei zu ausgedehntem Verschluss der drainierenden Venen). Aufgrund dieser Komplikationen sollten bereits während der Intervention regelmäßig die Pupillen kontrolliert werden. Blutungskomplikationen können allerdings auch erstmiteiner Latenz von Stunden bis Tagen auftreten. Eine weitereKomplikationsmöglichkeit ist ein zerebraler Vasospasmus. Dieser kann bereits vor Beginn der Intervention vorhanden sein oder durch Sondierung intrakranieller Gefäße ausgelöst werden. Lokal bzw. systemisch kann versucht werden, den Vasospasmus mit Nitraten, Papaverin oder Nimodipin zu beeinflussen (Cave: Hypotension) und die Arbeitsbedingungen für den Radiologen zu verbessern. Vermeidung von Hyperventilation (ggf. Tolerierung einer Hyperkapnie) und Hypotonien wirken ebenfalls einem Vasospasmus entgegen. Sollte der Patient eine Liquordrainage haben, muss während der Intervention auf einen kontinuierlichen Liquorabfluss geachtet werden, während die Drainage auf Transporten verschlossen wird. Postinterventionell gehört zur Komplikationsprophylaxe die Kontrolle 70
des Druckverbandes im Bereich der Punktionsstelle der Katheterschleuse. Der Druckverband sollte für ca. 4 bis 6 Std. belassen werden. Wenn ein Nahtapparat oder ähnliche Systeme (AngioSeal®) zum Verschluss der Punktionsstelle verwendet werden, ist kein Druckverband erforderlich. Zur Intervention werden verschiedene Embolisate eingesetzt (Polyvinylalkohol, n-ButylVyana acrylat [Histoacryl®], Ethylenvinylalkoholcopolymer [Onyx®]) Onyx® wird zum Teil über die Atemwege ausgeschieden und verursacht, v.a. wahrnehmbar nach der Extubation einen unangenehmen Foetor, der dem bei einen Leberversagen ähnelt, klinisch jedoch unbedenklich ist. Nach der Intervention sollte der Patient auf einer Intermediate Care Station (IMC) neurologisch überwacht werden und 24 Stunden Bettruhe einhalten. Gegebenenfalls schließt sich an die Untersuchung noch ein CT oder MRT an.
Extrakranielle endovaskuläre Stents Der Vorteil endovaskulärer Stentanlagen im Bereich der Aorta oder der A. carotis ist die Minimierung des chirurgischen Traumas und das Vermeiden von Komplikationen durch das Crossclamping. Allerdings sind von derArt des Aneurysmas oder des Gefäßverschlusses nicht alle Patienten für dieses Vorgehen geeignet. Anästhesiologisch kommen die Allgemeinanästhesie, rückenmarksnahe Verfahren und Lokalanästhesien [ 14] zur Anwendung. Dabei bleibt insbesondere die Diskussion um rückenmarksnahe Anästhesieverfahren bei aortaler Stentimplantation wegen der Gefahr epiduraler Hämatome kontrovers, da die Patienten heparinisiert werden und Aspirin sowie gelegentlich Clopidogrel zur Thrombozytenaggregationshemmung bekommen. Aufgrund möglicher Komplikationen bei der Intervention (Ruptur des Aneurysmas, Stenose, Gefäßverschluss, Endoleak, spinale Ischämie) sollte idealerweise ein OP-Saal während der Intervention freigehalten werden, um Komplikationen gegebenenfalls offen chirurgisch zu beherrschen. Die IndikationzumerweitertenMonitoring(invasive Blutdruckmessung, Urinausscheidung) kann bei Stentanlagen in der Aorta großzügig gestellt werden. Eine weitere Indikation für endovaskuläre Stents, ist die Anlage eines transjugularen intrahepatischen portosystemischen Shunts (TIPS). Bei einer solchen TIPS-Anlage wird eine Verbindung zwischen der V. cava inferior und der Pfortader über einen perkutanen transjugulären Zugang geschaffen, um nichtchirurgisch eine portale Hypertension zu behandeln. Technisch hat die TIPS-Anlage eine hohe Erfolgsrate. Bedingt durch den Zustand des Patienten muss dennoch mit Komplikationen, wie Blutungen, hepatischer Enzephalopathie oder pulmonaler Hypertension gerechnet werden. Obwohl auch in Lokalanästhesie durchführbar, werden aufgrund der Komplikationsmöglichkeiten häufig Anästhesisten zur Überwachung der Vitalfunktionen (,,Stand by") oder für die Durchführung einer Allgemeinanästhesie hinzugezogen. Dabei gelten die gleichen Grundsätze wie für die Allgemeinanästhesie bei Patienten mit Lebererkrankungen [15]. Postinterventionell sollten die Patienten für 24 Stunden auf einer IMC - Station überwacht werden. Anästhesie für gastrointestinale Interventionen Im Magen-Darm-Trakt und hepatobiliären System sind es vor allem Endoskopien des oberen und unteren Gastrointestinaltrakts, Gallenwegsdrainagen und Thermoablationen von hepatischen Tumoren die eine anästhesiologische Mitbetreuung der Patienten erfordern. Für Endoskopien des oberen und unteren Gastrointestinaltrakts sind es überwiegend Kinder, die eine Anästhesie benötigen. Diese sollte standardmäßig in Form einer lntubationsnarkose erfolgen, da sonst mit Atemwegsproblemen und Abfällen der Sauerstoffsättigung in Folge einer Obstruktion der oberen Atemwege oder einer 71
Überdehnung des Gastrointestinaltrakts während der Prozedur zu rechnen ist. Darüber hinaus ist eine alleinige Sedierung bei vielen Interventionen qualitativ nicht ausreichend [16]. Als Medikamente kommen wiederum kurzwirksame gut steuerbare Anästhetika zum Einsatz. Nach dem Eingriff ist es wichtig, die eingebrachte Luft aus dem Gastrointestinaltrakt abzusaugen, um den Druck auf das Zwerchfell zu vermindern. Weitere gastrointestinale Interventionen bei denen eine Anästhesie erforderlich sein kann, sind Stentanlagen in den Gallenwegen (perkutane transhepatische Cholangiodrainage [PfCD]). Diese sehr schmerzintensiven Interventionen werden bei obstruktiven Verschlüssen im hepatobiliären System durchgeführt. Betroffen sind häufig inoperable Patienten in z.T. erheblich reduziertem Allgemeinzustand. Sofern kein Aspirationsrisiko besteht, genügt bei diesen Patienten eine Analgosedierung. Eine gute Alternative für eine Analgosedierung mit Kombination mehrerer Medikamente ist die alleinige kontinuierliche Infusion von Remifentanil in einer Dosis von 0,1 - 0,25 µg/kg/min. In diesem Dosisbereich bleiben die Patienten kooperativ, respiratorisch suffizient und sind mit der erzielten Analgesie zufrieden [ 17]. Ein weiterer Vorteil der Anwendung von Remifentanil bei Leberinsuffizienz ist die aufgrund seiner Elimination unveränderte Pharmakokinetik, so dass es zu keiner Verlängerung der Eliminationshalbwertszeit kommt [18]. Zunehmende Verbreitung in der Behandlung von Tumoren oder Metastasen finden auch lokal destruierende Maßnahmen wie die Radiofrequenzablationstechnik (RFA) oder die laser-induzierte interstitielle Thermotherapie (LITT). RFA und LITT sind nichtchirurgische Verfahren zur Tumor - und Metastasenbehandlung vor allem in der Leber [19]. Prinzipiell können aber auch Lungen-, Nieren-, Hirn - und Knochentumoren mit diesen Methoden behandelt werden. Über eine Sonde wird bei beiden Techniken thermische Energie in den Tumor gebracht und das Gewebe zerstört. Die Sonde wird dabei unter bildgebender Kontrolle (Sonographie, CT oder MRT) im Tumor platziert. Im MRT ist zusätzliche eine simultane Kontrolle der Temperaturausbreitung im Gewebe möglich. Finden die Interventionen im MRT statt, müssen die Besonderheiten der Anästhesie im MRT beachtet werden (siehe Abschnitt Anästhesie im Magnetresonanztomographen). Nicht nur im MRT sondern auch im CT ist die Ein- und Ausleitung einer Anästhesie erschwert, da der Zugang zum Kopf des Patienten eingeschränkt ist. Diesem Umstand muss bei erwarteten lntubationsproblemen insofern Rechnung getragen werden, dass Patienten mit schwierigem Atemweg nicht im CT, sondern im OP-Saal eingeleitet werden und anschließend beatmet ins CT transportiert werden. Auch die Lagerung des Patienten im CT muss sorgfältig geschehen, da im Gegensatz zum Op-Tisch keine Halterungen für die Arme vorhanden sind und die am Körper angelagerten Arme bei Lebertumoren die Bildgebung stören können. Auf keinen Fall dürfen die Arme über oder hinter dem Kopf gelagert werden, wie bei kurzer diagnostischer Bildgebung üblich, da dies bei Interventionszeiten von 45 bis 180 min zu Schädigungen des Plexus brachialis führen kann. Wird eine RFA an der Niere durchgeführt, kann eine Bauchlage des Patienten erforderlich werden. Als Anästhesieform ist sowohl die balancierte Anästhesie als auch eine TIVA möglich. Verwendet werden sollten kurzwirksame Anästhetika (Propofol, Sevofluran, Desfluran) und Remifentanil. Dies ist für die Steuerung der Anästhesie von Vorteil, da lediglich der Wärmeeintrag in Gewebe schmerzhaft ist, während die Phasen der Bildgebung lange Zeiten ohne echten schmerzhaften Stimulus darstellen und die Intervention außerdem abrupt beendet ist. Insbesondere bei gefäßnahen Lebertumoren kann es durch den Wärmeeintrag ins Gewebe zu einem systemischen Temperaturanstieg der Patienten von bis zu 1°C kommen, weshalb ein kontinuierliches Temperaturmonitoring sinnvoll ist. Postinterventionell reicht, je nach Zustand des Patienten, zumeist eine ca. 2-stündige Überwachung im Aufwachraum aus. Die größte postoperative Gefahr nach RFA oder LITT von Lebertumoren sind Blutungskomplikationen vor allem bei Patienten mit gestörter Gerinnung. Deshalb muss bei präanästhesiologischen Visite insbesondere auf den 72
Gerinnungsstatus geachtet werden. Bei nicht aufschiebbaren Eingriffen bzw. nicht zu erwartender Gerinnungsnormalisierung sollte die Substitution von Gerinnungsfaktoren und/oder Thrombozytenkonzentraten erfolgen.
Anästhesie im Magnetresonanztomographen Kinder, geistig behinderte Patienten aber auch klaustrophobische Erwachsene, Schmerzpatienten und Intensivpatienten müssen anästhesiologisch im MRT betreut werden [20]. Dabei kann eine vollständige Tomographie je nach untersuchtem Organsystem zwischen 20 und 90 min dauern. Für diese Zeit muss sichergestellt sein, dass der Patient still liegt. Was unter normalen Verhältnissen relativ einfach ist, ist im MRT deutlich erschwert: Der Scannerraum ist abgedunkelt. Der Patient verschwindet in der Bohrung des Scanners (bei Neugeboren und Säuglingen sogar unter der Untersuchungsspule). Es ist laut (80 - 100 dB) und ein starkes Magnetfeld (B0 = 0.5 - 3 Tesla) sowie intermittierende Hochfrequenzimpulse sorgen für Besonderheiten. Wegen der Hochfrequenzimpulse ist der Untersuchungsraum speziell abgeschirmt, damit diese nicht nach außen gelangen und dort Fehlfunktionen an medizinischen Geräten hervorrufen. In anderer Richtung können Hochfrequenzsignale von außen die Bildqualität empfindlich beeinträchtigen. Aufgrund des Magnetfeldes dürfen ferromagnetische Gegenstände auf keinen Fall in den Scannerraum hinein. Diese werden durch das Magnetfeld angezogen und können zur Gefahr für Mensch und Technik werden (Projektilwirkung). Patient und Personal müssen deshalb vor Betreten des Untersuchungsraums auf metallische und magnetische Gegenstände untersucht werden (Schmuck, Uhren, Datenträger, Telefon, Kreditkarten etc.). Sollte der Patient metallische Implantate (z.B. Endoprothesen, Aneurysmaclips, Stents) tragen, muss Rücksprache mit dem Radiologen geführt werden (siehe Tabelle 4).
Absolute Kontraindikationen
Relative Kontraindikationen
• Implantierte Herzschrittmacher/Defibrillatoren
• Implantierte Ventile (v-p-Shunts)
• Implantierte Medikamentenpumpen
• Z.Cntrale Venenkatheter mit implantierten Röntgenkontraststreifen • Orthopädische/unfallchirurgische Metallimplantate • Transdermale Medikamentensysteme
• Cochleaimplantate • Aneurysmaclips/Stents aus magnetischem Material • Künstliche Herzklappen aus magnetischem Material
• Tuben und Trachealkanülen mit Metallspiralen
• Swan-Oanz-Katheter
• Zahnprothesen (auch Brackets)
• Blasenkatheter mit Temperatunnessung • Rektale und ösophageale Temperaturssonden • Ferromagnetische Fremdkörper (z.B. intraokulare Metallsplitter) Tabelle 4: Kontraindikationen für eine MRT-Untersuchung [mod. nach 20]. Bei Unklarheiten sollte grundsätzlich vor der Untersuchung Rücksprache mit dem Radiologen genommen werden.
Für die Anästhesie sollte im MRT, ähnlich wie im OP-Saal, ein Vorbereitungsraum zur Verfügung stehen der sich in unmittelbarer Nähe zum Untersuchungsraum befindet. Hier erfolgt die Ein- und Ausleitung bei der ggf. noch Standardanästhesietechnik verwendet werden kann. Bei Intensivpatienten wird in diesem Bereich die Beatmungs - und Überwachungstechnik auf MR-kompatible Geräte gewechselt, da im Untersuchungsraum nur speziell für den Einsatz in der MRT zugelassene Geräte verwendet werden dürfen. In den Vorbereitungsraum muss der Patient auch bei kardialen oder respiratorischen Notfallen(kardiopulmonaleReanimation)gebrachtwerden,dadieüblicheNotfallausrüstung (Defibrillator, Laryngoskop) nicht MR-kompatibel ist. 73
Im Untersuchungsraum darf die Überwachungs- und Beatmungstechnik nicht zu dicht am Tomographen stehen, um elektromagnetische Interferenzen mit Störungen der Bildgebung und der Anästhesietechnik zu vermeiden. Deshalb sollte sich auf dem Boden eine farbliche Markierung befinden, die die Abnahme der Feldstärke auf unter 20 mT anzeigt (20 mT-Linie, bei 2 Teslageräten ca. l m entfernt von der Kernbohrung). Hinter dieser Linie ist die Gefahr von Fehlfunktionen bzw. Störungen gering. Einige Geräte schalten sich bei zu starkem Magnetfeld auch automatisch ab. Aufgrund des notwendigen Abstands zum Tomographen müssen für die Beatmung längere Beatmungsschläuche verwendet werden. Dies birgt bei Einstellung geringer Tidalvolumina (Säuglinge) Gefahren für eine fehlerhafte Beatmung. Das EKG darf nicht über Elektroden mit metallischen Druckknopfanschlüssen abgeleitet werden, da die wechselnden Magnetfelder in metallischen Gegenständen Wärme induzieren können. Dies kann zu Hautverbrennungen führen. Verbrennungen können ebenfalls durch in Schlaufen gelegte EKG-Kabel entstehen, da dadurch Resonanzkreise entstehen. Ein zuverlässiges EKG ist, bedingt durch elektromagnetische Interferenzen, zumeist nur während der Scanpausen ableitbar [21). Der Fingerclip der Pulsoximetrie sollte abgedeckt werden, um Streulichteinflüsse mit Störungen der empfindlichen Messtechnik (optische Leitung des Signals) zu vermeiden. Nichtinvasive Blutdruckmessung und die Kapnometrie funktionieren problemlos, da diese Signale nicht elektrisch vom Patienten zum Monitor geleitet werden müssen. Ist der Patient intubiert, sollten keine Tuben (oder Trachealkanülen) mit Metallspirale verwendet werden, da zumindest bei Bildgebung im Kopf - und Halsbereich große Auslöschungsartefakte resultieren. Selbst die Spiralfeder im Cuffventil des Tubus kann bei ungünstiger Lage Artefakte im Kopf- und Halsbereich verursachen. Darüber hinaus wird eine Erwärmung der Metallspirale im Tubus diskutiert. Als Anästhesieverfahren genügt bei diagnostischen MRT's in den meisten Fällen eine Sedierung. Eine Intubation zur Atemwegssicherung ist nur bei sehr wenigen Patienten erforderlich (z.B. wenn in Bauchlage gescannt wird). Die Wahl der Medikamente ist vom Zustand des Patienten und der Erfahrung des Anästhesisten abhängig. Gut steuerbar sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen ist die kontinuierliche intravenöse Sedierung mit Propofol. Als orientierender Dosierungsbereich werden nach einem vorsichtig titriertem Bolus (ca. 1- 1.5 mg/kg) etwa 4- 6 mg/kg/h bzw. Plasmakonzentrationen von etwa 1,5 - 2,5 µglml angegeben [22). Für den Neuroradiologen ist es wichtig zu wissen, dass bei bestimmten Bildgebungssequenzen durch Propofol Artefakte ähnlich einer SAB entstehen können [23,24). Alternativ zum Propofol können Ketamin oder Midazolam verwendet werden. Die dargestellten Grundlagen gelten auch, wenn Interventionen oder Operationen [21,25) im MRT durchgeführt werden. Damit ist in der Zukunft bei Weiterentwicklung und Verbreitung offener Magnetresonanztomographen verstärkt zu rechnen, so dass sich Anästhesisten zunehmend mit dieser Problematik auseinander setzen müssen. Je nach Art und Dauer der Intervention sowie den Voraussetzungen des Patienten kommen für Interventionen im MRT alle gängigen Anästhesietechniken zum Einsatz. Anästhesie für die Brachytherapie
Brachytherapeutisch behandelt werden vor allem HNO-Tumoren, Ösophagus-, Bronchialund Gallengangskarzinome, gynäkologische Tumoren sowie das Mamma- und Prostatakarzinom. Das operative Vorgehen bei der Brachytherapie entspricht einem minimal invasiven Eingriff, welcher nur unter einer Anästhesie realisierbar ist. Welche Anästhesietechniken zum Einsatz kommen, ist vom zu behandelnden Tumor, den
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Risikofaktoren und dem Wunsch des Patienten abhängig [26). Vielerorts wird die Anästhesie in Form einer topischen oder lokalen Anästhesie durch den Strahlentherapeuten durchgeführt, häufig bedingt durch die fehlende Verfügbarkeit von Anästhesisten. Dieses Vorgehen ist einer Anästhesie unterlegen, bietet wenig Komfort und beinhaltet das Risiko durch stressinduzierte Bewegungen unterbrochen werden zu müssen bzw. nicht erfolgreich zu sein. Indikationen für eine Allgemein- oder rückenmarksnahe Anästhesie bestehen vor allem zur Applikatorimplantation (Applikatoren sind kleine Plastikschläuche über die die Strahlenquelle ins Tumorbett eingebracht wird.) für die Brachytherapie des Mammakarzinom,gynäkologischerTumorenundfürdieBehandlungdesProstatakarzinoms. Bei der Behandlung anderer Tumorlokalisationen ist eine Allgemeinanästhesie seltener notwendig [27]. Da Applikatorimplantationen eher kurze und vergleichsweise wenig schmerzhafte Eingriffe sind, besteht die Herausforderung für den Anästhesisten v.a. darin, dass er sich nicht in seiner gewohnten Umgebung befindet, die Eingriffsräume nicht auf seine Bedürfnisse zugeschnitten sind (z.B. fehlende Medienversorgung, fehlende Absaugung) und sofern nicht nur die Applikatoren implantiert werden, sondern in der gleichen Sitzung bestrahlt wird, die Notwendigkeit bestehen kann, den Patienten während der Anästhesie für mehrere Minuten zu verlassen. Aufgrund fehlender Literatur gibt es praktisch noch keine Diskussion zur optimalen anästhesiologischen Betreuung dieser Patienten. Logische Überlegungen lassen für dieApplikatorimplantation zur Brachytherapie der Brust die Anästhesieführung als TIVA (Propofol + kurzwirksames Opioid) günstig erscheinen, weil keine Narkosegasabsaugung erforderlich ist und die Patientinnen nach Verzicht auf volatile Anästhetika und Lachgas seltener Probleme mit postoperativer Übelkeit und Erbrechen haben. Bei fehlendem Aspirationsrisiko und verhältnismäßig kurzen OP-Zeiten (15-30 min) reicht zur Atemwegssicherung eine Larynxmaske aus. Zur postoperativen Schmerztherapie genügen peripher wirksame Analgetika (Metamizol, Paracetamol). Bei Brachytherapien von Tumoren im Beckenbereich (gynäkologische Tumoren, Prostata) sind rückenmarksnahe Anästhesieverfahren anwendbar [28]. Sie sind der Allgemeinanästhesie vor allem dann überlegen, wenn in einer Sitzung die Applikatoren implantiert werden, bestrahlt wird und die Applikatoren wieder entfernt werden, denn zur Bestrahlung muss der Patient für etwa 10 min verlassen werden. Die Überwachung des Patienten erfolgt während dieser Zeit über Videokameras aus dem Kontrollraum heraus. Eine Unterbrechung und der Zugang zum Patienten während der Bestrahlung ist zwar prinzipiell, aber nur verzögert möglich. Die Spinalanästhesie bietet bei dieser Prozedur den Vorteil, dass sie zum Zeitpunkt der Bestrahlung (bei der Prostata ca. 45 - 60 min nach Anästhesiebeginn) vollständig fixiert ist und mit anästheisebedingten Komplikationen kaum noch gerechnet werden muss. Anästhesie zur Elektrokrampftherapie Al/gemeines Die Elektrokrampftherapie (EKT) ist ein Standardverfahren zur Behandlung schwerer psychotischer Störungen und Depressionen. Prinzip der EKT ist die Auslösung eines generalisierten zerebralen Krampfanfalls über eine Elektrostimulation. Der Krampfanfall wird von einer kardiovaskulären Antwort begleitet. Diese manifestiert sich initial mit einer parasympathisch induzierten Bradykardie, die nach ca. 15 s in eine sympathische Reaktion umschlägt. Parallel steigen der zerebrale Bluttfluss, der intrakranielle Druck und der zerebrale Metabolismus. Ca. 1000 Patienten werden im Jahr in Deutschland derart behandelt. Dabei zieht sich eine Behandlungsserie über 3 - 4 Wochen mit 3 Behandlungen pro Woche hin.
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Prämedikation Bei krankheitsbedingt mangelnder Einwilligungsfähigkeit kann für eine EKT eine Betreuung notwendig werden und die Genehmigung der EKT beim Vormundschaftsgericht beantragt werden. Schrittmacher und implantierte Defibrillatoren sind keine Kontraindikationen gegen die Durchführung einer EKT. Automatische implantierbare Kardioverter/Defibrillatoren (AICDs) sollten für die Dauer der EKT jedoch deaktiviert werden. Auch in der Schwangerschaft kann unter Beachtung spezifischer Anästhesierisiken (Aspirationsgefahr) und der Risiken für die Schwangerschaft (Wehentätigkeit, Abort, Frühgeburt) eine EKT durchgeführt werden. Am OP-Tag sollten antikonvulsiv wirksame Medikamente möglichst abgesetzt werden, während antihypertensive und antischämische Medikamente weiter eingenommen können. Auf eine Prämedikation mit Benzodiazepinen wird aufgrund deren antikonvulsiver Wirkung verzichtet. Anästhesieführung Auch für eine EKT müssen die Anforderungen an einen Anästhesiearbeitsplatz vollständigerfülltwerden [29]. Neben demBasismonitoring (EKG, nichtinvasiveBlutdruckmessung, Pulsoxymetrie, Kapnometrie) sollten ein (Narkose-) Beatmungsgerät und auch ein Defibrillator sowie Notfallmedikamente zur Verfügung stehen. Neben dieser Standardanästhesieüberwachung wird ein EEG- und elektromyographisches Monitoring durchgeführt. Ziel der Anästhesieführung ist eine Abschwächung der vegetativen Reaktion auf den Elektrostimulus, die Vermeidung von Bewegungen, eine möglichst geringe Beeinflussung der Krampfaktivität und eine rasche Wiederherstellung von Atmung und Bewusstsein. Dies lässt sich in der Regel durch eine intravenöse Kurznarkose erreichen. Als Anästhetika eignen sich sowohl Methohexital (0, 75 - 1,5 mg/kg), Etomidate (0,15 - 0,3 mg/kg) und Propofol (0,75 - 1,5 mg/kg). Hämodynamische Reaktionen werden am besten durch Propofol gedämpft. Propofol hat allerdings starke antikonvulsive Eigenschaften, weshalb zur EKT nur geringe Dosierungen (0,75 bis 1,5 mg/kg) angewendet werden sollten, da sonst kein ausreichend langer Krampfanfall ausgelöst werden kann. Eine Möglichkeit die notwendige Dosisreduktion von Propofol zu erzielen, ist die Kombination mit kurz wirksamen Opioiden (Remifentanil, Alfentanil). Die Hypnotika sollten mit Muskelrelaxantien kombiniert werden, um körperliche Schäden und Myalgien durch bzw. nach dem tonisch - klonischen Krampfanfall zu vermeiden. Von der Wirkungsdauer eignen sich sowohl Succinylcholin (0,75 - 1,5 mg/kg) als auch Mivacurium (0,08 - 0,15 mg/kg), wobei das Nebenwirkungspotential von Mivacurium deutlich geringer einzustufen ist. Vor der Injektion des Muskelrelaxanz wird ein Arm durch eine Torniquetanlage von der Zirkulation ausgeschlossen, um das elektromyographische Monitoring des Krampfanfalls zu gewährleisten. Die Ventilation kann durch eine Maskenbeatmung sichergestellt werden. Dazu sollte ein oropharyngealer Tubus eingelegt werden, um den Patienten während des Krampfanfalls vor eventuellen Bissverletzungen zu schützen. Um die zerebrale Krampfschwelle zu senken, kann eine kurzzeitige Hyperventilation versucht werden. Während des Elektroschocks wird die Maskenbeatmung unterbrochen. Eine endotracheale Intubation ist aufgrund der geringen Dauer des Eingriffs nur bei einem erhöhten Aspirationsrisiko erforderlich [29,30]. Bei nichtadäquater Krampfauslösung (motorische Krampfaktivität unter 25 s, Krampfaktivität im EEG unter 30 s) können in gleicher Narkose 1 - 2 weitere Stimulationen erforderlich sein. Verlängerte Krampfanfälle müssen spätestens nach einer Dauer von 3 Minuten pharmakologisch durch antikonvulsive Medikamente unterbrochen werden, da sie das Risiko kognitiv-rnnestischer Defizite erhöhen. Nach der EKT genügt eine anästhesiologische Überwachung für ca. 30 - 45 min, sofern der Patient anschließend durch geschultes psychiatrisches Personal weiter beobachtet wird. Dabei ist zu beachten, dass sich die Patienten kognitiv deutlich langsamer erholen als nach einer üblichen Kurznarkose.
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Zusammenfassung Mit der Betätigung außerhalb des Operationssaals entwickelt sich für den Anästhesisten ein neues, anspruchsvolles und interessantes Arbeitsgebiet, welches zukünftig noch weiter an Bedeutung gewinnen wird. Dabei wird dieser Bereich in den Kliniken oft unterschätzt, da Logistik und Infrastruktur den Verhältnissen für Anästhesien außerhalb des Operationssaals selten angepasst sind. Die Folge sind höhere Komplikationsraten als im klassischen Operationssaals (1,31]. Darüber hinaus erfordert die Steuerung der Anästhesien oder der Analgosedierungen in diesem Bereich eine gute Kenntnis der Prozedur, eine gute Zusammenarbeit zwischen Operateur und Anästhesist und sehr viel anästhesiologisches Geschick. Dies macht in der Regel den Einsatz von erfahrenen Kollegen an diesen Arbeitsplätzen erforderlich. In Anbetracht der bereits jetzt schon hohen Patientenzahlen und des großen Anteils an Risikopatienten in diesem Bereich müssen sich Anästhesisten den Herausforderungen stellen und die gleichen personellen und technischen Sicherheitsstandards für ihre Patienten schaffen, wie im Operationssaal.
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Perioperative Periphere Nervenschädigungen H.
JUTZI,
A.
BORGEAT
1. Einleitung Bei perioperativ aufgetretenen peripheren Nervenschädigungen (PPNS) ist das Zusammenspiel im Dreieck Anästhesie - Chirurgie - Patient sehr wichtig. Seitens des Patienten steht die Betreuung und mögliche Therapie im Vordergrund, seitens der Klinik ist wichtig die Ursache einer solchen Nervenschädigung zu eruieren und zu eliminieren. Zwingend wird die Abklärung spätestens dann, wenn Klagen vorliegen. In jedem Fall ist es wichtig die Situation zu analysieren, um Massnahmen zur Verhinderung von PPNS zu treffen. Der Anästhesiearzt muss dann wissen, wo seine Verantwortung liegt.
2. Verteilung der perioperativen peripheren Nervenschädigungen Von den Jahren 1990-1999 sind die perioperativen peripheren Nervenschädigungen auf Grund von amerikanischen Versicherungsunterlagen zusammengestellt worden . otveru Schleien
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Von 4183 Klagen auf perioperativ entstandenen Schädigungen an Patienten fielen deren 670 ( 16%) auf periphere Nervenschädigungen. Interessanterweise entfallen 190 davon auf den n.ulnaris. 85% dieser Schädigungen am n.ulnaris standen im Zusammenhang mit Allgemeinanästhesie und nur 15% davon mit einer Regionalanästhesie.
3. Nerven sind empfindliche Strukturen 3.1. Histologie und Klinik der Nervenschädigungen Im peripheren Nervensystem sind die kleinsten Einheiten die Nervenfasern. Die Nervenfasern bestehen aus dem Axon, welches von einer Myelinscheide ummantelt ist. Nervenfasern werden durch das Endoneurium zu Nervenfaserbündeln zusammenfasst, diese wiederum werden durch das Perineurim zu Nerven zusammenfasst. Endoneurium und Perineurium enthalten nutritive Blutgefässe. Verletzung dieser Blutgefässe - durch Überstreckung, toxische Substanzen, Nadelspitzen mit konsekutivem Hämatom - kann zu indirekten Nervenschädigungen führen.
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Neuropraxie Von Neuropraxie spricht man, wenn von Nervenfasern die Myelinschicht beschädigt ist. Eine Beschädigung der Myelinschicht hat eine Störung der Nervenleitgeschwindigkeit zur Folge. Klinisch treten Dysästhesien, Parästhesien, Anästhesien und Paresen auf. Je nach Ursache, können diese Störungen protrahiert auftreten. Eine komplette Erholung innert Tagen bis Wochen ist zu erwarten. Axonotmesis Bei der Axonotmesis ist das Axon geschädigt, die Myelinschicht aber in ihrer Kontinuität erhalten. Die Nervenleitgeschwindigkeit ist proximal der Schädigung gestört, distal davon anfänglich noch normal. Die klinischen Symptome treten sofort auf: Dysästhesien, Parästhesien, Paresen und als Ausdruck von neuropathischen Schmerzen Allodynien und Hyperästhesien. Die Prognose ist vom Zustand der umgebenden Myelinschicht abhängig, üblicherweise ist die Prognose gut, Restitutio kann bis zu einem Jahr dauern. Neurotmesis Bei der Neurotmesis ist die Nervenfaser - meist der ganze Nerv - im ganzen Querschnitt unterbrochen. Klinische Symptome wie Anästhesie und Plegie treten sofort ein, evtl. treten Phantomschmerzen und andere neurorpathiesche Schmerzen im weiteren Verlauf auf. Ohne chirurgische Adaption tritt keine Erholung ein, die Prognose ist schlecht.
3.2. Ursachen der PPNS 3.2.1. Lagerung Schon lange bevor die Nerven des Plexus brachialis „durch Regionalanästhesien gefährdet wurden", also als Schulteroperationen noch in alleiniger Allgemeinanästhesie durchgeführt wurden, interessierte man sich für die Auswirkungen der Lagerung auf die elektrischen Eigenschaften der Nerven: Ein Zug der Größenordung von 6 Kp in der Längsachse des Humerus resp 3 Kp senkrecht zum Humerus führt zu einer Veränderung der somatosensorisch evozierten Potentialen (SEP) des n.musculocutaneus. Auch die SEP von anderen Nerven des Plexus brachialis werden als Folge der Neuropraxie verändert. Im Experiment führt schon leichter Zug am Nerv zu sichtbaren morphologischen Veränderungen. An der relativen Längenveränderung des n.medianus kann an der Leiche objektiviert werden, was die Lagerung an einem Nerven bewirken kann. Die folgende Grafik zeigt, wie der n.medianus bei abduziertem Arm und nach unten gedrückter Schulter bis zu 5% verlängert wird. Eine Situation wie sie z.B. bei starker Trendelenburg-Lagerung zur Laparaskopie mit abgewinkeltem Arm vorkommen kann.
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6
.....,_n. medlanus geme-n am Humerus - n . medlanusgeme-n am Handgelenk
Ann adduziert
Ann adduziert
Ann 90' abduziert
Ann 90' abduziert
Schulter in Ruhelage
Schulter nach unten
Schulter in Ruhelage
Schulter nach unten
gedrilckt
gedrilckt
Steinschnittlagen gefährden den n.ischiadicus, wohl sowohl durch Zug als auch durch Druck. 3.2.2. Tourniquets Statistisch gesicherte Zusammenhänge gibt es zwischen tiefem(!) Alter, tiefem präoperativen Blutdruck, präoperativen Flexionskontrakture, Revisionsoperationen, Operationszeit und totale Tourniquetzeit . 3.2.3. Chirurgische Einflüsse Bei der Schulterarthroskopie kommt es durch die Instillation von Kochsalzlösung in die Gelenkkapsel zu einer Überdehnung derselben. Der durch diese Raumforderung entstandene Ueberdruck führt beim benachbarten n.musculocutaneus zu vorübergehenden Veränderungen der SEP in 16 von 20 Patienten. Auch Schädigungen durch intraoperative Manipulationen führen zu einer Schädigung dieses Nerven. Aus anatomischen Gründen gilt eine ähnliche Argumentation für den n.axillaris. Bei der Varisationsoperation wird der n.fibularis, der lateral am Knie vorbeizieht, gestreckt und kann so geschädigt werden. Wir machen aus diesem Grund bei solchen Operationen nur bei ganz spezieller Indikation (Kontraindikation für Vollnarkose und Spinalanästhesie) Ischiadikusblockaden. 3.2.4. Double Crush-Syndrom Dieser Begriff ist in der Literatur wenig abgehandelt - in der klinischen Arbeit ist das Double Crush Syndrom noch spekulativ. Der Begriff enthält aber einige interessante Ansatzpunkte. Das Double Crush Syndrom bezieht sich ausschließlich auf das periphere Nervensystem und nicht auf Erkrankungen am zentralen Nervensystems. Unter dem Double Crush Syndrom versteht man, dass eine Nervenschädigung an einem peripheren Nerven schlechter ertragen wird, als dies zu erwarten wäre, wenn dieser Nerv an einer anderen Stelle bereits vorgeschädigt ist. Experimentell ist gezeigt worden, dass eine einzelne Kompression nach der Entlastung keinen weiteren Einfluss auf die Nervenleitung hat, dass aber sowohl eine gleichzeitige, als auch eine um drei Wochen später weiter distal angebrachte Kompression bei 50% der Versuchstiere eine komplette Blockade der Nervenleitung verursacht hat. Eine klinische Relevanz liegt z.B. beim Carpaltunnel-Syndrom des n.medianus in Kombination mit einer vorbestehenden Radiculopathie
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vor. Dazu würde auch ein Teil (Präoperative Flexionskontrakturen, Revisionsoperationen) der oben beschriebenen statistischen Zusammenhänge mit den Tourniquets passen. Selber haben wir einen Fall publiziert, wo eine Patientin anlässlich einer Knieoperation nach einem Fernoralkatheter zur postoperativen Schmerzbekämpfung, ein neurologisches Defizit beklagte. Ein Elektromyogramm der Gegenseite deckte aber eine vorbestehend nicht bekannte Neuropathie auf.
4. Regionalanästhesie und PPNS Bisher haben wir dargelegt, dass PPNS durch Ursachen anderer Natur als durch Regionalanästhesie entstehen können. Mechanische Schädigungen von Nerven beim Anlegen von Regionalanästhesien entstehen entweder durch Kontakt der Nadelspitze mit dem Nerv oder durch unerkannte intraneurale Injektionen. Kontakte von Nadelspitze mit Nerven lösen Parästhesien aus - dies war früher eine gängige Technik um Regionalanästhesien anzulegen - um diesen Kontakt zu vermeiden legen wir Regionalanästhesien grundsätzlich am wachen, höchstens leicht sedierten Patienten an. Intraneurale Injektionen sind mit hohen Injektionsdrucken verbunden, deshalb soll die Injektion durch geübtes Personal vorgenommen werden. Ziel muss sein, das Lokalanästhetikum nicht so nahe als möglich sondern so nahe als nötig zu applizieren. Wir suchen die Nerven deshalb mit dem Nervenstimulator auf. Diese Methode hat ein sehr geringes Risiko der Nervenschädigung: Nervenschädigungen durch Anlegen einer Regionalanästhsie bei Schulteroperationen tragen ein Risiko von 0.5%. Eine Rate die von keiner anderen Methode bisher unterboten worden ist. Es gibt keine Evidenz, dass mit dem Ultraschall Nervenschäden verhindert werden.
4.1.Anlage Für alle Nervenblockaden im perioperativen Bereich (intraoperative Anästhesie, postoperative Analgesie) haben wir das gleiche Prinzip. Unter sterilen Bedingungen suchen wir mit dem Nervenstimulator die entsprechenden Nerven auf. Die gute Position der Nadel ist gefunden, wenn man mit 0.5 mA Strom und mit einer Reizdauer von 0.1 msec noch eine gute motorische Antwort hat. Dabei ist zu beachten, dass eine kontinuierliche Reduktion des Stroms (Beginn mit 1.5 mA) von einer kontinuierlichen Reduktion der motorischen Antwort begleitet sein muss. Ein plötzlicher Abbruch weist auf einen elektrischen Widerstand zwischen Nerv und Nadelspitze hin. Das kann ein Gewebeteil sein, der dann die Ausbreitung des Lokalanästhetikums zum Nerv hin erschwert oder behindert. Bei den interskalenären Blockaden haben wir mit dieser Methode eine Erfolgsrate von mindestens 97%. Die durch die Regionalanästhesie bedingte neurologische Komplikationsrate beträgt für die Interscalenären Blockaden 0.4%. Beim Einlegen von peripheren Nervenkathetern achten wir darauf, dass der Katheter die Kanülenspitze nicht mehr als 5 cm überragt, damit keine Aberrationen entstehen können. Damit wir für die postoperative Phase sicher sind, dass der Katheter gut liegt, spritzen wir das Lokalanästhetikum nicht durch die Nadel, sondern durch den Katheter. Aus medicolegalen Gründen wird für die Anlage von peripheren Nervenblockaden für jeden Zugang ein Protokoll erstellt, hier werden im Wesentlichen die anatomischen Landmarken, verwendetes Material, stimulierte Nerven, Strom und Impuls sowie klinische Bemerkungen protokolliert. 4.2. Abklärungen bei postoperativen PPNS Im Vordergrund steht die regelmäßige klinische Untersuchung und Beschreibung der objektiven und subjektiven Befunde. Sie gibt bereits Hinweise auf den möglichen Ort der Schädigung und damit auf die mögliche Ursache (Lagerung, Operation, Anästhesie, vor82
bestehend). Bei Auftreten eines neurologischen Defizits nach einem freien Intervall ist an eine sich entwickelnde Raumforderung (intra- oder perineurales Hämatom, Kompartmentsyndrom) zu denken. Bildgebende Verfahren (Sonographie, CT, MR) sind in dieser Situation initial indiziert, um Raumforderungen auszuschließen, resp. zu erfassen und zu eliminieren. Elektrophysiologische Untersuchungen haben initial nur eine beschränkte Aussagekraft. Mit Hilfe der Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) kann die Stelle der Läsion eingegrenzt werden, indem die Nervenleitgeschwindigkeit von distal der vermutete Läsion normal und dagegen von proximal her vermindert ist. Das Elektromyogramm (EMG) ist in den ersten 7 Tagen meist normal bis eine Denervierung eingesetzt hat. Ein in dieser Zeit pathologisches EMG muss an eine vorbestehende Neuropathie denken lassen, ein Vergleich mit der ,gesunden' Gegenseite ist angebracht . Durch die ablaufende Denervierung und die damit verbundene höhere Empfindlichkeit des Muskels auf Acetylcholin treten nach rund 7 Tagen im EMG Spikes (PSW-Potentiale) auf. Durch Regionalanästhesie verursachte Neuropathien sind in der Regel Neuropraxien. Diese erholen sich nach Wochen und zeigen dann eine Normalisierung des EMG Grundsätzlich gilt:
Schädigungen vom Myelin (Neuropaxie) führen zu einer verminderten Nervenleitgeschwindigkeit. Schädigungen vom Axon (Axonotmesis) führen zu einer Denervation und damit zu einem pathologischen Elektromyogramm. Es gilt zu denken, dass dieser Grundsatz ausschliesslich auf eine einzelne Nervenfaser zutrifft. In der Realität hat man es meist mit verletzten Nerven oder Nervenbündel zu tun, was bedeutet, dass sich das elektrophysiologische Resultat aus verletzten und intakten Nervenfasern zusammensetzt. Jede elektrophysiologische Untersuchung einer PPNS liefert deshalb in der Praxis ein Mischbild von pathologischen und physiologischen Zuständen und muss dementsprechend fachlich beurteilt werden. Einzig bei der Neurotmesis, wo der Nerv im ganzen Querschnitt durchtrennt ist, gilt die reine Gesetzmässigkeit wieder. Bei klinische peripher imponierenden Nervenschädigungen sind auch immer zentrale Schädigungen in Betracht zu ziehen, hier helfen Somatosensorisch Evozierte Potentiale weiter. 4.3. Prognose und Behandlung der PPNS Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass Nervenläsionen, die im Zusammenhang mit Regionalanästhesien aufgetreten sind, eine gute Prognose haben. Es ist in der Literatur nicht behandelt, aber man muss annehmen, dass es sich bei PPNS um Neuropraxien handelt. Wenn man PPNS nach Regionalanästhesie mit interskalenären Kathetern gezielt (im Unterschied zu den Publikationen, wo nur die vom Patienten beklagten neurologischen Defizite untersucht werden) sucht und andere Ursachen ausschließt, findet man bei 74 ( 14%) von 520 Patienten am 10.postoperativen Tag milde Zeichen einer Neuropathie (Parästhesien, Dysästhesien oder Schmerz), die wahrscheinlich nicht auf die Chirurgie zurückzuführen sind. Bis nach 12 Monaten sind diese Neuropathien verschwunden. Der Unterschied zwischen Peripheren Nervenblockaden (PNB) und Peripheren Nervenkathetern (PNK) ist nicht signifikant.
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18 16 14 12 10
-
-
~
8 6 4 2 0 Nach 10 Tagen
Nach 1 Monat
Nach 3 Monaten
Nach 6 Monaten
Nach 12 Monaten
Vergleichbare Zahlen kommen von einer Multicenterstudie mit 847 Patienten. Drei (0.35%) von diesen Patienten hatten postoperativ durch Regionalanästhesie verursachte Neuropathien. Diese Neuropathien waren bis zur 10. Wochen spontan verschwunden. Für die Prognosen von nicht anästhesieinduzierten Nervenschädigungen ist natürlich die Ursache wichtig. Die schlechteste Prognose hat die Neurotmesis. Außer bei der Neurotmesis gibt es keine kausale Behandlung, hier müssen die Nervenendigungen operativ zusammengeführt werde, um eine Erholung zu ermöglichen. Bei der Neuropraxie und Axonotmesis bleiben nur supportive Maßnahmen wie, psychische Betreuung (im Extremfall psychiatrische Behandlung), medikamentöse Therapie (mild Schmerzmittel bis Opiate, Neuroleptika, Schmerzmittel für Phantomschmerzen) und andere supportive Maßnahmen (Physiotherapie).
Kommentar: Das vorliegende Manuskript ist inhaltlich klar, Es enthält aus der Sicht des Referenten wenige sprachliche Schwächen oder Besonderheiten, die vermutlich der Schweizer Provenienz des Autors geschuldet sind. Die kritischen Stellen habe ich rot markiert. Sonst ist das Manuskript als Zusammenfassung des Vortrags reif für den Refresherkurs-Band. (Volker Hempel)
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Der Anästhesiezwischenfall aus der Sicht des Gutachters J. B.
BRüCKNER
Bei Betrachtung aller Arzthaftpflichtfälle gehören Anästhesiologie und lntensivmedizin zu Fachgebieten wie Chirurgie und Frauenheilkunde, die in der Sprache der Juristen als ,,haftungsträchtig" bezeichnet werden. Kommt es durch ärztliches Fehlverhalten z. B. zu einem apallischem Syndrom oder einer Tetraplegie, so sind allein die monatlichen Pflegekosten mit bis zu 10 000 € anzusetzen. Aber selbst intraoperative Wachheit, verursacht durch eine unzureichende medizinisch nicht zu rechtfertigende flache Narkose, kann, wenn es zu einem sogenannten posttraumatischen Stresssyndrom kommt, durch jahrelange psychotherapeutische Betreuung enorme Kosten verursachen. Im Vergleich dazu fallen die gerichtlich erstrittenen Schmerzensgelder wesentlich geringer aus. Ärztliche Gutachter werden zur Beratung von Schlichtungsstellen, Gerichten, Staatsanwaltschaften, Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche von den Anwälten der Kläger und Beklagten, sowie von Versicherungen benötigt. Wenn es darum geht, berechtigte Schadensansprüche gegen einen Arzt durchzusetzen, hat der geschädigte Patient einen groben Fehler nachzuweisen (Fehlverhalten, das aus objektiver ärztlicher Sicht bei Anlegung des für den Arzt geltenden Ausbildungs- und Wissensmaßstabes nicht mehr verständlich und verantwortbar erscheint, weil ein solcher Feh/er dem behandelnden Arzt aus dieser Sicht „ schlechterdings nicht unterlaufen darf'. Das kann etwa der Fall sein, wenn auf eindeutige Befunde nach gefestigten Regeln der ärztlichen Kunst nicht reagiert wird oder wenn grundlos Standardmethoden zur Bekämpfung möglicher bekannter Risiken nicht angewandt werden und wenn besondere Umstände fehlen, die den Vorwurf des Behandlungsfehlers mildern können). Eine solche gravierende Abweichung von klinischen Standards muß vom Gericht festge· stellt werden. Der Geschädigte muß sich einer anwaltlichen Hilfe und meist mehrerer Privatgutachter bedienen, ehe ein zivilrechtliches Verfahren überhaupt in Gang gesetzt werden kann. Der Patient und/oder seine Angehörigen müssen zudem finanziell z. T erheblich in Vorlage treten, ohne daß eine Gewähr besteht, später einen Schadensersatz zu erhalten. Erst wenn es gelingt, eine grobe Fehlhandlung nachzuweisen, führt dies für den beklagten Arzt zur Umkehrung der Beweislast, d. h. nun muß er belegen, daß der Schaden auch eingetreten wäre, wenn die Behandlung einwandfrei abgelaufen, d. h. gesicherte Standards eingehalten wurden. Auch wenn bei der Feststellung der Kausalität des Schadens Zweifel verbleiben, so gehen diese vollständig zu Lasten des Beklagten. Versuche, unberechtigt eine Entschädigung zu erhalten und die schlechten Erfahrungen aus den USA sind die wesentlichen Hemmnisse, dieses System zu Gunsten des durch grobe ärztliche Fehler (z. B. apallisches Syndrom oder Querschnittslähmung als Folge ärztlichen Handelns) geschädigten Patienten zu ändern. Geschädigte Patienten und deren Angehörige sind sehr schlecht beraten, wenn sie dieses auch finanziell aufwendige Verfahren durch eine Strafanzeige (fahrlässige Körperverletzung, fahrlässige Tötung) umgehen wollen. Im Falle einer Strafanzeige übernimmt zwar die Polizei/Staatsanwaltschaft kostenfrei die notwendigen Sachverhaltsermittlungen und holt eigene gutachterliche Stellungnahmen ein, die aber in den wesentlich engeren Rahmen des Strafrechts (in dubio pro reo) fallen. Die Erfolgsaussichten eines Strafverfahrens liegen im Vergleich zum zivilen Schadensersatzprozess sehr niedrig: Nur ca. 3% der Verfahren enden mit einer Verurteilung und die Erfolgschancen bei einem nachfolgenden Zivilverfahren sind durch die bereits in der Strafakte befindlichen Gutachten erheblich vermindert.
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Wenn Biermann (5,6) davon spricht, daß eine Strafanzeige zur Durchsetzung von Schadenersatzanspruch einem juristischen Kunstfehler gleichkommt, so sollte dies zu denken geben. Auf die Durchsetzung von Medizinschadensvorwürfen spezialisierte Fachanwälte für Medizinrecht raten deshalb Geschädigten von einer Strafanzeige ab. In den letzten Jahren ist zu beobachten, daß solche Anwälte auch zunehmend den Gang zu Schlichtungsstellen vermeiden. Auch dieses Verfahren ist für den Geschädigten kostenfrei und präjudiziert angeblich nicht für ein späteres Schadensersatzverfahren. Wenn von den Schlichtungsstellen eingeholte Gutachten jedoch ablehnend ausfallen, ist dies für einen Zivilprozess durchaus ein erheblicher Nachteil. Vom Gerichten oder der Staatsanwaltschaft bestellte Sachverständige, insbesondere aber Privatgutachter, sind je nach ihrer Meinungsbildung oft unangenehmen Reaktionen der nicht begünstigten Seite ausgesetzt. Dies und die sehr geringen Erstattungen für ein umfangreiches Gutachten (etwa im Vergleich zu Honoraren, die Architekten oder Juristen gezahlt werden) führen zunehmend dazu, daß viele Ärzte sich einer Sachverständigentätigkeit verweigern. Gutachter sollten vor Übernahme des Gutachtenauftrages sehr sorgfältig prüfen, ob Gründe für eine mögliche Befangenheit vorliegen (enge Beziehungen zwischen den beiden Krankenhäusern, ehemaliges Schüler-Lehrerverhältnis, wissenschaftliche gemeinsame Projekte u.v.m.) und es nicht auf entsprechende Vorwürfe ankommen lassen. Wenn dann in der Gerichtsverhandlung der Klagevertreter plötzlich den Gutachter fragt, ob er denn mit dem Angeklagten „per Du" sei, so macht im Bejahensfalle der Gutachter nicht unbedingt einen guten Eindruck. Im Privatgutachten ist der Gutachter frei in seiner Bewertung des Sachverhalts. Er kann sich zu ärztlichen, pflegerischen oder organisatorischen Fehlern, groben Versäumnissen, Dokumentations- und Aufklärungsmängeln äußern. Er sollte aber unbedingt versuchen, den Sachverhalt allein aus Sicht seiner Fachkenntnis zu sehen. Ein Zwischenfall nach einer Operation kann vom Anästhesisten durchaus beurteilt werden. Details der Operation und mutmaßliche Fehler des Chirurgen sollten dagegen nur sehr zurückhaltend kommentiert werden, es sei denn es handelt sich um offenkundige Abweichungen von geltenden Standards, die selbst von Laien beurteilt werden können. Ist die Ursache des Zwischenfalls unklar oder die Dokumentation schlecht, sollten bei der Stellungnahme Formulierungen im Konjunktiv gewählt werden. Wenn verschiedene Privat-Gutachter Stellungnahmen abgeben, entwertet es die getroffenen Schlußfolgerungen, wenn diese nicht einheitlich ausfallen. Ein vom Gericht oder der Staatsanwaltschaft bestellter Gutachter ist Berater des Gerichts und hat entsprechend eine relativ starke Position. Als Gerichtsgutachter sollte man sich streng an die Beantwortung der gestellten Fragen des Beweisbeschlusses halten, sonst droht die Ablehnung wegen Befangenheit durch die Beklagtenseite. Anträge auf Befangenheit des Gutachters sind ein probater Versuch, um einen lästigen Berater des Gerichts loszuwerden. Sind die Fragen des gerichtlichen Beweisbeschlusses aus der Sicht des Gutachters unvollkommen, sollte er vor Erstattung des Gutachtens sich dem Gericht gegenüber entsprechend äußern, damit die im Beweisbeschluß gestellten Fragen ggf. erweitert werden. Es ist sehr wichtig, die zur Verfügung gestellten, oft schwer lesbaren, meist aber voluminösen Krankenunterlagen sehr sorgfältig durchzusehen. Selbst bei Originalkrankenunterlagen macht dies manchmal erhebliche Mühe. Fehler in der Sachstandsdarstellung lassen immer Zweifel an der Sorgfalt und damit auch der Glaubwürdigkeit des Gutachters aufkommen. Dies gilt natürlich auch, wenn der Gutachter häufiger seine Bewertung ändert. Der Gutachter hat nach den bei Eintritt des Schadens geltenden medizinischen Stan-
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dards zu urteilen und sollte dies wissenschaftlich belegen (durch eine Literaturzusammenstellung, die sich nicht allein auf Lehrbücher oder vom Mainstream entfernte exotische Journale stützen darf). Da es oft schwierig ist, dem behandelnden Arzt eine gravierende Abweichung von geltenden medizinischen Standards nachzuweisen (z.B. weil die Dokumentation schlecht oder nicht existent ist, bzw. die verwendeten Methoden zwar umstritten, jedoch nicht obsolet waren), wird anwaltlich hilfsweise im Zivilverfahren immer wieder versucht, Dokumentations- und Aufklärungsmängel sowie -Lücken heranzuziehen, weil dies zu einer Beweislastumkehr führen kann d. h. der beschuldigte Arzt muß nunmehr nachweisen, daß er lege artis gehandelt hat. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Verletzung von Befunderhebungsund Befundsicherungspflichten kann sich die Beweislast verschieben, gleichgültig ob das Versäumnis als grob zu qualifizieren ist oder nicht, wenn die Behandlerseite es schuldhaft unterlassen hat, medizinisch zweifelsfrei gebotene Befunde zu erheben und zu sichern, deren Erhebung gerade wegen des erhöhten Risikos, um dessen Eintritt im Prozess gestritten wird, geschuldet wird. Wenn der Behandlerseite nachgewiesen werden kann, daß gegen Befunderhebungs- und Befundsicherungspflichten verstoßen wurde stellt sich die Frage, ob mit mehr als 50%iger Wahrscheinlichkeit ein positiver Befund unterstellt werden kann. Im Falle der Bejahung, kann davon ausgegangen werden, daß die Nichtreaktion auf diesen positiven Befund einen groben Behandlungsfehler darstellt. Die Erwartungen von Staatsanwaltschaft und Gerichten an ein Gutachten im Strafprozess gehen immer dahin, daß die Prämisse "wenn ein ärztliches Fehlverhalten nicht stattgefunden hätte, wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Tod oder der Schaden nicht eingetreten" oder "der Patienten hätte bei pflichtgemäßem Handeln des Arztes mit einem Grad von Gewissheit, der vernünftige Zweifel ausschließt, den tatsächlichen Eintritt des Todes um eine nicht ganz unwesentliche 'Zeitspanne überlebt" vom Sachverständigen bestätigt oder abgelehnt wird. Da der "Grad von Gewissheit" juristisch nicht zahlenmäßig oder prozentual definiert werden kann, haben viele Ärzte erhebliche Schwierigkeiten, trotz Erkennen schwerer ärztlicher Kunstfehler, die gutachterliche Feststellung "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" zu treffen, dies meist dann zu Gunsten des beschuldigten Arztes. Auch wird der Gutachter oft um eine wissenschaftlich belegbare Feststellung gebeten, zu welchem Prozentsatz bei anderem bzw. richtigem ärztlichen Handeln der eingetretene Schaden nicht eingetreten wäre. Liegt die Einschätzung für ein schicksalhaftes Geschehen um den 5%-Bereich, so tritt im Strafverfahren immer das „in dubio pro reo"-Prinzip ein, selbst wenn gutachterlich gravierende Abweichungen von geltenden Standards gesehen werden. Der Sachverständige sollte bei der Abfassung seines Gutachtens eine sachliche Sprache pflegen, für den Laien (das sind hier auch die Juristen) verständliche medizinische Fachbegriffe verwenden, juristische Feststellungen (z.B. "grober Behandlungsfehler", ,,fahrlässiges Vorgehen" u.a.) vermeiden, Aufklärungsmängel allein unter ärztlichen Aspekten werten (wenn er denn dazu gefragt wurde) und im Text nicht widersprüchlich sein. Auch im Privatgutachten sollte der Gutachter bei seiner Sprachwahl immer davon ausgehen, daß seine Stellungnahme später in das Gerichtsverfahren eingebracht wird. Rüde Redewendungen und salopper Sprachstil können die Glaubwürdigkeit des Gutachters schnell entwerten. Als Gutachter ist man andererseits sehr überrascht, wie mangelhaft selbst bei einem eingetretenen schweren Zwischenfall die ärztliche Dokumentation ausfällt (oft ist aus der Pflegedokumentation viel mehr zu entnehmen), und wie selten klinische Befunde (Visiten, klinische Untersuchungen, Ergebnisse gemeinsame Konsile u. a.) dokumentiert werden. Eine Dokumentation kann nicht immer parallel zum tatsächlichen Geschehen erfolgen und die Akutbehandlung des Patienten bei einem Zwischenfall hat Vorrang vor der Doku-
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mentation. Danach muß uitnah jedoch ein ausführlicher Zwischenfallsbericht erstellt werden, aus dem für eine dritte Person nachvollziehbar sein muß, wer, wann, welche Maßnahmen in zeitlicher Abfolge vornahm und wie der Patient jeweils darauf reagierte. Hat man bei der Dokumentation etwas vergessen, so ist es erlaubt, einen Nachtrag z. B. zum Narkoseprotokoll zu schreiben. Es sollte aber erkennbar sein, wer, wann diesen Nachtrag schrieb. Dringend zu warnen ist vor falschen Angaben oder Fälschungen. Krankenunterlagen, Narkoseprotokolle u. a. sind Dokumente und Gerichte reagieren üblicherweise sehr unwirsch, wenn solche unerlaubten Manipulationen nachgewiesen werden. Auch werden immer noch - für einen Gutachter nicht nachvollziehbar - gravierende Aufklärungsmängel im Routinebetrieb toleriert. Es wird oft vergessen, daß ein individualisiertes Aufklärungsgespräch nicht durch reines Ankreuzen des von der Schwester hingelegten Aufklärungsbogens ersetzt werden kann. Immer wieder muß man feststellen, daß stationäre, schon sedierte Patienten erst kurz vor Narkoseeinleitung (sozusagen an der Schleuse zum OP) aufgeklärt werden. Ein prämedizierter Patient ist nicht mehr im vollen Besitz seiner Erkenntnis- und Beschlussfähigkeit und ein Aufklärungsgespräch unter diesen Umständen ist immer fehlerhaft. Auch sollte man bei ambulanten Eingriffen sich nicht auf das einschlägige Urteil des BGH verlassen: Leider hat der BGH festgestellt, daß bei „normalen ambulanten Eingriffen" die Aufklärung noch am Operationstag erfolgen könne. Gerade bei ambulanten Eingriffen muß der Patient sein soziales Umfeld sehr intensiver als bei einer stationären Behandlung organisieren (Betreuung auf dem Wege nach Hause und danach, Schmerztherapie, Versorgung durch den Hausarzt, einzuhaltende Sicherungsmaßnahmen und notwendige den Behandlungserfolg fördernde Verhaltensweisen u.v.m.). Leider hat der BGH nicht definiert, was er unter einem „normalen" ambulanten Eingriff versteht. Auch an dieser Stelle ergeben sich viele Möglichkeiten für einen mutmaßlich geschädigten Patienten, Streit zu beginnen. Ist es zu einem Zwischenfall gekommen, erfolgen oft Fehler im zwischenmenschlichen Umgang zwischen Patient, Angehörigen und Ärzten. Solche Verständnisschwierigkeiten und Ungeschicklichkeiten sind dann meist Ursache für verbissen geführte zivilrechtliche Auseinandersetzungen. Weitere Fehler werden gemacht, wenn es zur (vom Gericht oder der Staatsanwaltschaft angeordneten) Beschlagnahme von Krankenunterlagen kommt. Niemals Krankenunterlagen herausgeben, ohne sie vorher paginiert und kopiert zu haben. Prozesse finden oft erst nach einigen Jahren statt und das menschliche Gedächtnis ist leider limitiert. Auch sollte man nach einem schweren Zwischenfall bereits vor Zeugenvernehmung bei der Polizei anwaltlichen Rat suchen.
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Die aktuellen Leitlinien der BÄK zur Hämotherapie J.
BISCOPING
Mit der Verabschiedung durch den Vorstand der Bundesärztekammer ist die Gesamtnovelle 2008 der zuletzt im Jahr 2003 überarbeiteten Leitlinien zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten abgeschlossen worden. Die erste Auflage der HämotherapieLeitlinien war 1995 veröffentlicht worden, in der Folge fanden zwei Revisionen (2001 und 2003) statt. Auf Grund des hohen Implementierungsgrades dieser Leitlinien wurde auch in der Gesamtnovelle an der Grundkonzeption gemäß der 3. Auflage (2003) der Leitlinien festgehalten, Inhalt und Therapieempfehlungen jedoch vollständig überarbeitet und ein Klassifikationsschema der Empfehlungen eingeführt. Die Besonderheit der aktuellen Leitlinien zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten besteht in ihrer Ausrichtung auf die Indikationsstellung und Auswahl von Blutkomponenten. Damit wird von dem üblicherweise in Leitlinien verbreiteten Bezug auf eine einzelne Krankheitsentität abgewichen. Dieses ist auch der Grund, weshalb die neue Namensgebung mit „Querschnitts-Leitlinien (BÄK) zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten" gewählt wurde. Sie sollen damit ein wesentliches Instrument zur Förderung von Qualität und Transparenz medizinischer Versorgung sein. Konkret haben sie dabei die Aufgabe, - wissenschaftliche Evidenz und Praxiserfahrung zu speziellen medizinischen Versorgungsproblemen explizit darzulegen, - unter methodischen und klinischen Aspekten zu bewerten, - gegensätzliche Standpunkte zu klären, - unter Abwägung von Nutzen und Schaden das derzeitige Vorgehen der Wahl zu definieren und - unter Berücksichtigung der vorhandenen Ressourcen gute klinische Praxis zu fördern und die Öffentlichkeit darüber zu informieren. Diese Leitlinien zielen darauf ab, Entscheidungen in der medizinischen Versorgung auf eine rationale Basis zu stellen und das diagnostische und/oder therapeutische Handeln zu beeinflussen. Der sachgerechte Umgang mit Blutkomponenten zur Hämotherapie stellt eine besondere Aufgabe ärztlichen Handelns dar und ist nicht auf einzelne Fachgruppen innerhalb der Ärzteschaft beschränkt. Zum einen gilt es daher, durch eine kritische Indikationsstellung und Anwendung die zur Verfügung stehenden Präparate therapeutisch bestmöglich anzuwenden und potenzielle Infektionsrisiken zu vermeiden (19), zum anderen verpflichten die begrenzten Ressourcen dieser aus freiwilligen Blutspenden gewonnenen Blutprodukte zu einem besonders sorgfältigen Umgang. Bei der vorliegenden Leitlinie handelt es sich um eine systematisch entwickelte Entscheidungshilfe über die angemessene ärztliche Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problem und damit um eine Orientierungshilfe im Sinne von Handlungsund Entscheidungsvorschlägen, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann oder sogar muss (1, 3). Die Entscheidung darüber, ob einer bestimmten Empfehlung gefolgt werden soll, muss vom Arzt unter Berücksichtigung der beim individuellen 91
Patienten vorliegenden Gegebenheiten und der verfügbaren Ressourcen getroffen werden (7). Erstmals seit Bestehen der Hämotherapie-Leitlinien wurde die Ausgestaltung gegenüber den vorhergehenden Ausgaben weiter systematisiert. In den jeweiligen Kapiteln (Kapitel 1-11) werden klare Empfehlungen für die Auswahl und die Indikation zur Anwendung der jeweiligen Blutprodukte ausgesprochen und klassifiziert. Mit Einführung dieses Klassifizierungssystems kann der Anwender die zu Grunde liegende Evidenz und den Grad der jeweiligen Empfehlung der Leitlinien nachvollziehen. Diese Klassifikation der Empfehlungen erfolgte durch die Mitglieder des Arbeitskreises (Redaktionskomitee) im Rahmen eines Konsensusverfahrens. Dabei wurden explizite Kriterien für die klinische Beurteilung von Anwendbarkeit und Übertragbarkeit der Evidenz vorgegeben. Dies waren: -
die Effektstärken und die Konsistenz der Studienergebnisse, die klinische Relevanz, das Verhältnis zwischen erwünschten und unerwünschten Behandlungsergebnissen, pathophysiologische und klinische Plausibilitäten, die Umsetzbarkeit der Leitlinien in den klinischen Alltag.
Insbesondere wurden somit konkrete Behandlungsempfehlungen formuliert und der jeweilige Stand der wissenschaftlichen Evidenz klar hervorgehoben. Die Kennzeichnung der Qualität von Daten und Studien, auf denen die Empfehlungen basieren, erfolgte nach dem für die Leitlinien des American College of Chest Physicians (ACCP) zur Thromboseprophylaxe und Therapie entwickelten System. Tabelle 1 führt die Inhalte der Empfehlungen und die Evidenzlevel näher aus. Empfehlungen, bei deren Befolgung nach Ansicht des Redaktionskomitees der Nutzen für den Patienten größer ist als eine mögliche Gefährdung wurden als Grad 1 gekennzeichnet. Empfehlungen, bei denen keine klaren Daten über das Nutzen/Risiko-Verhältnis vorliegen, wurden als Grad 2-Empfehlung klassifiziert. Der zugehörige Evidenzlevel wurde mit Qualität A gekennzeichnet, wenn die zu Grunde liegenden Daten auf ausreichend großen prospektiven, randomisierten Studien beruhen. Lagen mehrere prospektive Studien mit widersprüchlichen Ergebnissen oder mit methodischen Unzulänglichkeiten vor, so wurde die Evidenz als Qualität B gekennzeichnet. Fallbeobachtungen und nicht randomisierte Studien wurden als Qualität C eingestuft. Waren die Schlussfolgerungen aus diesen Fallbeobachtungen und nicht-randomisierten Studien jedoch eindeutig und durch mehrere Untersuchungen bestätigt, wurde die Qualität als C+ bewertet. Die so mögliche Klassifizierung wurde im Text durch die Modalverben „soll" (starke Empfehlung), ,,sollte" (mittelstarke Empfehlung), ,,kann" (schwache Empfehlung) sowie ,,könnte" (sehr schwache Empfehlung) sprachlich zum Ausdruck gebracht.
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Grad der Empfehlung
NuttenRisikoVerhältnis
Evidenz- Bewertung der metholevel dischen Stärke der zu Grunde liegenden Daten
Gesamt- Implikationen wertung, KlassifiZierung
1
Eindeutig A
Randomisierte, kontrollierte Studien ohne wesentliche methodische Einschränkungen mit eindeutigem Ergebnis.
1
Eindeutig C+
Keine randomisierten, kontrollierten Studien, jedoch eindeutige Datenlage.
1
Eindeutig B
Randomisierte, kontrolJierte Studien mit methodischen Schwächen. Trotz eindeutigem Ergebnis der Studie ist nicht sicher ausgeschlossen, dass methodische Fehler das Ergebnis beeinflusst haben.
1B
1
Eindeutig C
Beobachtungsstudien ohne Kontrollgruppe, jedoch mit überzeugendem Ergebnis.
IC
2
2
Unklar
Unklar
A
C+
2
2
Unklar
Unklar
B
C
Randomisierte, kontrollierte Studien ohne methodische Einschränkungen,aber mit unterschiedlichen Ergebnissen.
Keine randomisierten kontrollierten Studien, Datenlage jedoch durch Extrapolation anderer Studien ableitbar.
JA
1 C+
,,keywords"
Starke Empfehlung, die für die meisten Patienten gilt.
Starke Empfehlung, die
"soll''
wahrscheinlich für die meisten Patienten gilt.
,,sollte"
Mittelstarke Empfehlung,
2A
.
ab-hängig vom individuelJen Krankheitsfall kann ein "sollte" anderes Vorgehen angezeigt sein. In die Empfehlung ist die lnterpre-tation der Ergebnisse durch den Arbeitskreis der Leitlinien eingegangen.
Schwache Empfehlung,
2C+
abhängig vom individuellen Krankheitsfall kann ein anderes Vorgehen angezeigt sein. In die Empfehlung ist ,,kann'' die Interpretation der Ergebnisse durch den Arbeitskreis der Leitlinien eingegangen.
Randomisierte, kontrollierte Studien mit gravierenden Schwächen. 2B
Schwache Empfehlung,
Beobachtungsstudien, Fallbeschreibungen
Sehr schwache Empfehlung, abhängig 2C
abhängig vom individuellen ,,kann" Krankheitsfall kann ein anderes Vorgehen angezeigt sein.
vom individuellen ,,könnte" Krankheitsfall kann ein anderes Vorgehen angezeigt sein.
Tabelle 1:
Klassifizierungssystem, mit dem die zu Grunde liegende Evidenz und der Grad der jeweiligen Empfehlung nachvollziehbar dargestellt wird.
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Inhalt In insgesamt 11 Kapiteln werden mit der zuvor genannten Systematik Empfehlungen zur Therapie mit Erythrozytenkonzentraten, Thrombozytenkonzentraten, Granulozytenkonzentraten, Plasma zur therapeutischen Anwendung, Humanalbumin, Faktor VIII-Konzentraten, Faktor VIII / von Willebrand-Faktor-Konzentraten, Faktor IX-Konzentraten, aktivierten Prothrombin-Komplex-Konzentraten, Prokoagulatoren, Inhibitoren, humanen Immunglobulinen und zur Autologen Hämotherapie gegeben. Kapitel 11 stellt sehr ausführlich unerwünschte Wirkungen bei der Anwendung der zuvor genannten Produkte dar. Da von besonderer klinischer Bedeutung für unser Fachgebiet, werden im Folgenden die Therapieempfehlungen und ihre Klassifizierung für Erythrozytenkonzentrate, Thrombozytenkonzentrate, Plasma zur therapeutischen Anwendung sowie zur Autologen Hämotherapie exemplarisch dargestellt. Erythrozytenkonzentrate In einer kurzen Einführung werden die unterschiedlichen verfügbaren Präparate (leukozytendepletiertes Erythrozytenkonzentrat in Additivlösung, gewaschenes Erythrozytenkonzentrat, kryokonserviertes Erythrozytenkonzentrat, bestrahltes leukozytendepletiertes Erythrozytenkonzentrat) charakterisiert. Ausführlicher werden dann die physiologischen Funktionen und Lagerungsfolgen von Erythrozytenkonzentraten beschrieben, wobei auch auf die aktuellen Daten bei herzchirurgischen Patienten verwiesen wird, nach denen die Transfusion von über 14 Tage gelagerten Erythrozyten mit erhöhten Komplikationsraten postoperativ sowie mit vermindertem Überleben assoziiert sind (16). Wegen teilweise methodischer Einschränkungen sind die diesbezüglichen Empfehlungen der Leitlinien zurückhaltend (Tabelle 2). Innerhalb der zugelassenen Lagerungsdauer sollten nicht generell kurz gelagerte EK angefordert werden.
lC
Bei Fliih- und Neugeborenen sollten unter bestimmten Bedingungen (z. B. Austauschtransfusion, Massivtransfusion, extrakorporale Lungenunterstützung) kurz gelagerte EK verwendet werden.
IC
Tabelle 2: Empfehlungen zur Anwendung von Erythrozytenkonzentraten in Abhängigkeit ihrer Lagerungsdauer.
Nach allgemeinen Grundsätzen zur Anwendung, Dosierung und Art der Anwendung werden zur Abschätzung des physiologischen Transfusionstriggers klinische Symptome aufgezählt, die bei laborchemisch gesicherter Anämie und erhaltener Normovolämie auf eine anämische Hypoxie hinweisen können (Tabelle 3). Die klinisch-wissenschaftliche Diskussion um die individuelle Indikationsstellung zur Transfusion von Erythrozyten bei akuter Anämie findet ihren Niederschlag in einer bereits zuvor von Weite (27) entwickelten Tabelle, die jedoch in diesen Leitlinien um die Kennzeichnung der Evidenzlevel der damit verbunden Empfehlungen ergänzt wurde (Tabelle 4).
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Kardio-pulmonale Symptome ►
Tachykardie
►
Hypotension
►
Blutdruckabfall unklarer Genese
►
Dyspnoe
Ischämietypische EKG-Veränderungen ►
neu auftretende ST-Senkungen oder Hebungen
►
neu auftretende Rhythmusstörungen
Neu auftretende regionale myokardiale Kontraktionsstörungen im Echokardiogramm
Globale Indices einer unzureichenden Sauerstoffversorgung ►
Anstieg der globalen O 2-Extraktion > 50%
►
Abfall der O2-Aufnahme > 10% vom Ausgangswert
►
Abfall der gemischtvenösen O 2-Sättigung < 50%
►
Abfall des gemischtvenösen P02 < 32 mrnHg
►
Abfall der zentralvenösen O 2-Sättigung < 60%
►
Laktazidose (Laktat > 2 mmol/1 + Azidose)
Tabelle 3: Klinische Symptome, die bei laborchemisch gesicherter Anämie und erhaltener Normovolämie auf eine anämische Hypoxie hinweisen können (physiologische Transfusionstrigger). Rb-Bereich
Kompensationsfähigkeit / Risikofaktoren
s 6 g/dl (s 3,7 mmolß)
> 6-8 g/dl (3,7-5,0 mmol/1)
> 8-10 g/dl (5,0-6,2 mmol/1)
> 10 g/dl (~ 6,2 mmolß)
Transfusion JA*
Kompensation adäquat, keine Risikofaktoren
NEIN
Kompensation eingeschränkt, Risikofaktoren vorhanden (z.B. KHK, Herzinsuffizienz, cerebrovaskuläre Insuffizienz)
JA
Hinweise auf anämische Hypoxie (Physiologische Transfusionstrigger: z.B. Tachykardie, Hypotension, EKG-Ischämie, Laktazidose) Hinweis auf anämische Hypoxie (Physiologische Transfusionstrigger: z.B. Tachykardie, Hypotension, EKG-Ischämie, Laktazidose)
JA
Bewertung 1 C+ 1 C+ 1 C+
1 C+ JA 2C
NEIN**
IA
Tabelle 4: Empfehlungen zur Transfusion von Erythrozyten bei akuter Anämie unter Berücksichtigung der aktuellen Hämoglobinkonzentration, der Kompensationsfähigkeit sowie des Vorhandenseins kardiovasculärer Risikofaktoren und klinischer Hinweise auf eine manifeste anämische Hypoxie; (*) im Einzelfall können bei adäquater Kompensation und ohne Risikofaktoren niedrigere Hb-Werte ohne Transfusion toleriert werden(**) im Einzelfall kann einer Transfusion auf Hb-Werte > JOg/dl indiziert sein.
Den Besonderheiten der EK-Transfusion im Kindesalter wird unter anderem mit einer eigenen Empfehlung (Tabelle 5) Rechnung getragen. Da die Transfusionsvolumina, speziell bei Früh- und Neugeborenen in wesentlich engeren Grenzen geplant werden müssen, als dies bei der Erythrozytentransfusion des Erwachsenen der Fall ist, enthalten die Leitlinien zudem eine praxisrelevante formelhafte Anleitung zur Berechnung des Transfusionsvolumens in ml EK zur Erreichung eines Ziel-Hk bei bekanntem, aktuellen Hk.
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Bei Friih- und Neugeborenen sollen zur Akuttherapie eines Volumenmangels durch Blutverlust EK gegeben werden
J C+
Tabelle S:
Empfehlungen zur Transfusionsindikation von Erythrozytenkonzentraten bei Früh- und Neugeborenen.
Thrombozytenkonzentrate Zu Eingang dieses Kapitels wird darauf hingewiesen, dass für die Fragestellung der Thrombozytentransfusion bisher nur einzelne prospektive Studien vorliegen. Die angegebenen Evidenzgrade und Empfehlungen basieren auf einer Medline-Recherche zu dieser Thematik seit 1990 und auf einem aktuellen Review der Fachgesellschaften Deutsche Gesellschaft für Transfusionsmedizin und Immunhämatologie, Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie sowie Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (11). Als globale Indikation der Thrombozytentransfusion werden Prophylaxe und Therapie von thrombozytär bedingten Blutungen genannt. Diese Indikationsstellung ist neben der Thrombozytenzahl und Thrombozytenfunktion auch maßgeblich von der Blutungs-symptomatik abhängig. Diese wird in der WHO-Einteilung wie folgt klassifiziert: Grad 1 Grad2 Grad3 Grad4
kleinere Hämatome, Petechien, Zahnfleischbluten kleinere Blutungen, die keine Transfusion von Erythrozytenkonzentraten erfordern transfusionsbedürftige Blutungen Organ- oder lebensbedrohliche Blutungen
Bezüglich einer prophylaktischen Thrombozytentransfusion zur Verringerung des Risikos einer klinisch bedrohlichen Blutung wird in den aktuellen Leitlinien darauf verwiesen, dass nur für Patienten mit hämatologisch-onkologischen Erkrankungen dazu Daten aus kontrollierten klinischen Studien vorliegen (23). Für alle anderen Patientengruppen basieren daher die Empfehlungen der aktuellen Leitlinien nur auf Kasuistiken und Expertenmeinungen. Zur Systematisierung von Therapieentscheidungen zur Thrombozytentransfusion werden unter klinischen Gesichtspunkten 4 Patientengruppen gebildet, auf die in den nachfolgenden Therapieempfehlungen teilweise differenziert Bezug genommen wird:
GruppeA Gruppe B Gruppe C Gruppe D
Patienten mit chronischer Thrombozytopenie Patienten mit einem erhöhten Thrombozytenurnsatz Patienten mit akuter Thrombozytenbildungsstörung durch Chemotherapie wie Gruppe C, jedoch mit zusätzlichem Blutungsrisiko
Vor allem für die Patienten der Gruppe A sind die Transfusionstrigger erst für sehr niedrige Thrombozytenwerte festgelegt. Für eine prophylaktische Gabe, auch bei sehr niedrigen Thrombozytenzahlen (< 5.000/µl), wird nur eine schwache Empfehlung (2 B, ,,kann") abgegeben. Lediglich bei klinisch manifesten Blutungen Grad 3 oder Grad 4 und vor chirurgischen Eingriffen beruhen die Empfehlungen auf einem eindeutigen NutzenRisiko-Verhältnis (1 B, ,,soll"). Für Patienten mit einem erhöhten Thrombozytenumsatz, hierzu zählen vor allem auch Patienten mit Sepsis und Verbrauchskoagulopathie, fehlen prospektive Studien, die eine prophylaktische Transfusion von Thrombozyten - auch bei stark erniedrigten Werten empfehlen. NurimFalle bedrohlicher Blutungen (Grad4) wird die Thrombozytentransfusion empfohlen (Tabelle 6). In diesen Fällen ist bis zur Blutstillung oft eine hohe Dosierung an Thrombozyten erforderlich. Bei Patienten mit Umsatzsteigerungen im Rahmen einer
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Verbrauchskoagulopathie oder Sepsis wird auch bei Blutungszeichen die Gabe von Thrombozyten kontrovers diskutiert. Prospektive Studien dazu liegen nicht vor, weshalb der Grad der Empfehlung nur mit 2 beziffert ist (unklares Nutzen-Risiko-Verhältnis) und der Evidenzlevel nur auf Beobachtungsstudien bzw. Fallbeschreibungen fußt. In der Gesamtbewertung ist diese Therapie dann auch nur eine sehr schwache Empfehlung (,,könnte"). Bei Immunthrombozytopenien nur im Fall von bedrohlichen Blutungen Bei Patienten mit hämolytisch urämischem Syndrom und bei Patienten mit TIP und bedrohlicher Blutung nur nach Ausschöpfung aller anderen therapeutischen Optionen Bei Patienten mit Sepsis und Verbrauchskoagulopathie nur im Falle bedrohlicher Blutungen Empfehlungen Thrombozytenumsatz.
Tabelle 6:
zur
Thrombozytentransfusion
bei
Patienten
mit
2C 2C 2C einem
erhöhten
In einem eigenen Unterkapitel wird dann zurThrombozytentransfusion im Zusammenhang mit invasiven diagnostischen Eingriffen Stellung genommen. Unter der Voraussetzung einer normalen Thrombozytenfunktion wird für eine Thrombozytenzahl .!:: 50.000/µl kein erhöhtes Blutungsrisiko gesehen, auf die Erhebung einer gezielten Blutungsanarnnese wird eindringlich verwiesen (,,ist unentbehrlich"). Die entsprechende Empfehlung der Leitlinien gibt Tabelle 7 wieder. Die Thrombozytentransfusion wird bei Patienten ohne zusätzliche Blutungsrisiken vor invasiven Eingriffen ab einer Thrombozytenzahl < 50.000/µl empfohlen. Tabelle 7:
lC
Indikationsempfehlung bei Patienten zu invasiven diagnostischen Eingriffen.
Im Falle einer Thrombozytopathie ist der Transfusionstrigger maßgeblich durch den Schweregrad der Thrombozytopathie bestimmt. Solche iatrogenen Thrombozytopathien finden sich bei Patienten, die mit Glycoprotein-Ilb-Illa-Inhibitoren oder nach StentImplantation mit einer Kombination aus ASS und Clopidogrel behandelt werden. Für den Fall, dass bei diesen Patienten ein Abklingen der thombozytenfunktionshemmenden Medikamentenwirkung nicht abgewartet werden kann, empfehlen die Leitlinien, das individuelle Risiko einer Stent-Thrombose gegen das Risiko einer Blutung abzuwägen. Wenn ein operativer Eingriff das Absetzen der Kombinationstherapie mit thrombozytenfunktionshemmenden Medikamenten erfordert, wird empfohlen, zumindest die Behandlung mit ASS nach Möglichkeit fortzuführen. Neben einer notfallmäßigen Normalisierung der Thrombozytenfunktion durch Thrombozytentransfusion liegen auch Berichte über die Effektivität von Desmopressin und Antifibrinolytika vor (2, 12, 25). Über diese Grenzwertempfehlungen hinaus machen die Leitlinien weitere Angaben zum Vorgehen bei Lumbalpunktion, Leberpunktion, Gelenkpunktion, zahnärztlicher Behandlung, gastrointestinaler Endoskopie, Bronchoskopie einschließlich transbronchialer Biopsie,Angiographie (einschließlich Koronarangiographie) undBeckenkammbiopsie. Bei Anlage zentraler Venenkatheter ohne anarnnestische Blutungsneigung wird keine Thrombozytensubstitution bei mehr als 10.000 Thrombozyten/µl empfohlen. Liegt jedoch eine klinische Blutungsneigung vor, so wird bei Thrombozyten s 20.000/µl eine prophylaktische Thrombozytentransfusion empfohlen; diese Empfehlung ist jedoch in ihrer Gesamtbewertung als sehr schwache Empfehlung klassifiziert (2 C, ,,könnte"). Auf Grund der Bewertung der verfügbaren aktuellen Literatur ist bei normaler Thrombozytenfunktion und Thrombozytenwerten > 50.000/µl nicht mit einer erhöhten Blutungsneigung zu rechnen und demzufolge nach den Leitlinien eine präoperative Thrombozytengabe nicht erforderlich (5). Für operative Eingriffe mit einem geringen Blutungsrisiko, bei denen durch Kompression eine Blutstillung erreicht werden kann, werden in den Leitlinien auch Thrombozytenzahlen zwischen 20.000 und 50.000/µl für
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ausreichend gehalten. Nur wenn in diesen Situationen bereits eine präoperative Blutungsneigung besteht oder eine Thrombozytenzahl von < 20.000/µl vorliegt, ist die präoperative Thrombozytengabe indiziert. Für operative Eingriffe mit einem besonders hohen Blutungsrisiko (z.B. neurochirurgische Eingriffe) wird ein präoperativer Wert über 70.000 bis 100.000/µl empfohlen. Bei kardiochirurgischen Eingriffen und Einsatz der Herz-Lungen-Maschine ist eine präoperative Thrombozytengabe nach Leitlinien in der Regel nicht erforderlich. Ausnahmen bilden Patienten mit Thrombozytopenie (< 20.000/ µl). Bei erworbenen Thrombozytenfunktionsstörungen (z. B. Urämie, nach kardiopulmonalem Bypass, Behandlung mit Thrombozytenaggregationshemmem) ist eine prophylaktische Therapie mit Thrombozyten als Regelbehandlung nicht indiziert, vor allem kann die Transfusionsindikation in diesen Fällen nicht von der Thrombozytenzahl abgeleitet werden, sondern klinisch anhand der Blutungsneigung. Tabelle 8 gibt Auskunft über die Leitlinienempfehlung zur Thrombozytentransfusion bei chirurgischen Eingriffen und den Grad der Empfehlung mit jeweiligem Evidenzlevel. Prophylaktisch vor kleineren operativen Eingriffen bei vorbestehender thrombozytärer 2 C Blutungssymptomatik oder bei Thrombozytenzahlen s 20.000/µl Prophylaktisch bei größeren operativen Eingriffen und Eingriffen mit hohem Blutungsrisiko unmit- 2 C telbar präoperativ bei Thrombozytenzahlen < 50.000/µl Prophylaktisch bei operativen Eingriffen mit einem sehr hohen Blutungsrisiko unmittelbar präopera- 1 C tiv bej Thrombozytenzahlen von < 70000/µI bis 100.000/µI In der Kardiochirurgie bei verstärkten postoperativen Blutungen 2C Tabelle 8:
Empfehlung zur Thrombozytentransfusion bei chirurgischen Eingriffen.
Für die Empfehlungen zur Thrombozytentransfusion bei akuten Blutungen nennen die Leitlinien eine Interventionsschwelle zur Prophylaxe einer Verlustkoagulopathie bei < 100.000 Thrombozyten/µ] und bei transfusionspflichtigen Blutungen einen identischen Grenzwert zur Intervention, doch handelt es sich in beiden Fällen um eine Gesamtbewertung mit der Klassifizierung 2 C (Beobachtungsstudien, Fallbeschreibungen, unklares NutzenRisiko-Verhältnis, ,,könnte"). Plasma zur therapeutischen Anwendung In diesem Kapitel werden die 4 in Deutschland zugelassenen Präparate (gefrorenes Frischplasma (GFP), Solvent-Detergent (SD)-behandeltes Plasma (SDP), MethylenblauLicht-behandeltes Plasma (MLP) und lyophilisiertes Humanplasma (LHP) eingangs kurz in ihrem jeweiligen Herstellungsweg besprochen. In einem 2. Abschnitt werden dann die Qualitätskriterien der drei erstgenannten Präparate aufgeführt; für LHP liegen dazu bislang keinerlei publizierte Daten vor.
Als allgemeine Grundsätze beschreiben die Leitlinien eine prinzipielle TherapieIndikation mit Plasma, wenn die Plasma-Aktivitäten der Gerinnungsfaktoren und Inhibitoren bei komplexen Koagulopathien wegen manifester Blutungen oder drohender schwerer Blutungen vor invasiven Eingriffen angehoben werden müssen und/oder Plasma-Aktivitäten der Gerinnungsfaktoren V und XI oder der von Willebrand-Faktor: CP angehoben werden müssen, für deren Substitution noch keine zugelassenen Konzentrate zur Verfügung stehen. Auch weisen die Leitlinien darauf hin, dass die Behandlung anderer angeborener Koagulopathien grundsätzlich mit Gerinnungsfaktorenkonzentraten erfolgen soll, z. B. Hämophilie A mit Faktor VIII-Konzentraten. Zur notfallmäßigen Aufuebung des Effektes oraler Antikoagulantien oder eines schweren Vitamin-K-Mangels werden hierbei rascher und besser wirksame Prothrombinkomplexkonzentrate (PPSB) empfohlen.
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Für eine effiziente Therapie mit Plasma werden als Voraussetzungen genannt: - die laboranalytische Sicherung der vermuteten Koagulopathie mittels Thromboplastinzeit (TPZ), Quickwert und gegebenenfalls aktivierter partieller Thomboplastinzeit (APTf) - Spiegel des gerinnbaren Fibrinogens - Festlegung der Dosis nach Therapieziel - laboranalytische Kontrolle des Transfusionseffektes nach Plasmatransfusion - Festlegung geeigneter Transfusionsintervalle. Anhand einer Beispielrechnung wird die erforderliche Dosis in ml Plasma/kg Körpergewicht angegeben, wobei der Hinweis nicht fehlt, dass selbst hohe Plasmadosen lediglich einen moderaten Anstieg der Aktivitäten der Gerinnungsfaktoren und Inhibitoren beim Empfänger bewirken ( 17). Soweit für bestimmte Krankheitsbilder überhaupt Studien über die Behandlung mit Plasmapräparaten vorliegen, so gibt es ohnehin nur für das GFP und SDP einige wenige randomisierte, klinisch relevante Untersuchungen (24). Auch wenn es nach wie vor klinische Gepflogenheit ist, dass bei akutem, massivem Blutverlust neben der Transfusion von Erythrozytenkonzentraten zeitnah auch Plasma zur therapeutischen Anwendung transfundiert wird, so weisen die Leitlinien darauf hin, dass kontrollierte Studien zur Ermittlung wirksamer Plasmadosen in diesem Zusammenhang fehlen. Dennoch sollte nach Leitlinie auf Grund einer Reihe von Faktoren die Indikation zur Plasma-Transfusion bei massivem, anhaltendem Blutverlust frühzeitig gestellt werden: - der Blutverlust ist in der klinischen Routine schwer zu quantifizieren - bei raschem Blutverlust sind Normovolämie und ein Hämoglobinspiegel von mindestens 60 g/1 schwer aufrecht zu erhalten - Verbrauch von Gerinnungsfaktoren an großen Wundflächen und/oder durch DIC - Quickwert,APTT, Konzentration des gerinnbarenFibrinogens und Thrombozytenzahl sind nicht immer zeitgerecht verfügbar - Anhaltender Blutverlust über 100 ml/min oder anhaltender Substitutionsbedarf von mehr als 2 Erythrozytenkonzentraten/15 min (nach Transfusion von mindestens 4-6 EK) - anhaltender Blutverlust, insbesondere durch manifeste mikrovaskuläre Blutungen, nach Transfusion von 4-10 EK, wenn Quickwert, APTT und gegebenenfalls Fibrinogen nicht zeitgerecht verfügbar sind - die schnelle Plasma-Transfusion von 15-20 ml/kg Körpergewicht mit einer Geschwindigkeit von 30-50 ml/min ist dabei der schematischen Gabe von 1 Einheit Plasma auf 1-3 Einheiten EK vorzuziehen (14) Ausdrücklich weisen die Leitlinien darauf hin, dass in der Herzchirurgie die prophylaktische postoperative Gabe von Plasma zur Minderung des postoperativen Blutverlustes nicht indiziert ist (4); siehe Tabelle 9. Plasma sollte in einer Dosierung von 15-20 ml/kg Körpergewicht rasch transfundiert werden bei Patienten mit schwerem akuten Blutverlust und manifesten oder drohenden rnikrovaskulären Blutungen, die durch eine Koagulopathie mit Quickwerten < 50% oder APTf > 45s und/oder Fibrinogenspiegel < l g/l mitverursacht werden Plasma soll nicht prophylaktisch postoperativ bei Patienten mit kardiopulmonalen BypassOperationen mit Quickwerten > 50% und Fibrinogenspiegeln > lg/l und fehlenden mikrovaskulären Blutungen transfundiert werden
IC
1A
Tabelle 9: Empfehlungen zur therapeutischen Anwendung von Plasma bei Patienten mit schwerem akuten Blutverlust sowie bei Operationen mit kardiopulmonalem Bypass.
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Zur Plasmatransfusion bei disseminierter intravasaler Gerinnung enthalten die Leitlinien einen eigenen Abschnitt mit differenzierter Betrachtung. Ebenso werden in einem eigenen Abschnitt spezielle Indikationen bei pädiatrischen Patienten besprochen. Den Abschluss des Kapitels bildet eine umfangreiche Tabelle (Tabelle 10), in der Krankheitsbilder aufgeführt sind, bei denen Plasma nicht angewendet werden sollte bzw. nicht wirksam ist. Prophylaktische postoperative Plasmagabe bei Patienten mit kardiopulmonalen Bypass-Operationen mit Quickwerten > 50% oder Fibrinogenspiegeln > lg/1 und fehlenden mikrovaskulären Blutungen
IA
Prophylaktische perioperative Plasmagabe bei Patienten mit Lebertransplantation und Quickwerten 1!:50%
2C+
Prophylaktische Gabe vor Leberpunktion, Parazentese, Thorakozentese oder Punktion zentraler Venen bei Patienten mit Hepatopathie und Koagulopathie
l C+
Prophylaktische Plasmagabe bei akutem Leberversagen ohne Blutungskomplikationen zur
Besserung der Prognose Disseminierte intravasale Gerinnung (DIC) ohne Koagulopathie und/oder ohne
Blutungskomplikationen Akute Pankreatitis
IB
2C JA
Prophylaktische Gabe von Plasma bei Frühgeborenen
IA
Partieller Plasmaaustausch bei Neugeborenen mit Polycythämie und Hyperviskositätssyndrom
lB
Hämolytisch-urämisches Syndrom bei Kindern
lB
Verbrennungen ohne Blutungskomplikationen und ohne Koagulopathie
IB
Plasmaaustausch bei Guillain-Barre-Syndrom
IA
►
primärer Volumenersatz
►
parenterale Ernährung
►
Substitution von Immunglobulinen
1 C+
► Mangelzustände von Gerinnungsfaktoren und Inhibitoren, die mit Konzentraten wirksamer und verträglicher behandelt werden können, z. B. Hämophilie A und B, schwere Kumarin-induzierte Blutung, mit Ausnahme von Notfällen bei fehlender rechtzeitiger Verfügbarkeit von Konzentraten oder bei Kontraindikationen gegen Konzentrate (z. B. PPSB bei Heparin-induzierter Thrombozytopenie, Typ II) ► Hämostasestörungen, die mit Plasma grundsätzlich nicht wirksam behandelt werden können: Thrombozytopenie, Thrombozytopathie, Hyperfibrinolyse
Tabelle 10: Fehlindikationen für die Therapie mit Plasma.
Autologe Hämotherapie In Kapitel 10 der Leitlinien werden Verfahren der Autologen Hämotherapie mit ihren Indikationen dargestellt und bewertet. Nebenautologen Erythrozytenpräparationen (präoperative Eigenblutentnahme, präoperative norrnovolämische Hämodilution, maschinelle Autotransfusion) werden autologe Thrombozytenkonzentrate, autologes gefrorenes Frischplasma, autologer Fibrinkleber und autologes plättchenreiches Plasma sowie autologe Stammzellpräparationen als Verfahren genannt. Zu letzterem wird auf die verschiedenen Richtlinien der Bundesärztekammer zu dieser Thematik sowie auf die DGTIEmpfehlungen zur Blutstammzellapherese verwiesen.
Auch in diesen neuen Leitlinien wird darauf hingewiesen, dass bei planbaren operativen Maßnahmen die Patienten über das Risiko homologer Bluttransfusionen und die Möglichkeit der Anwendung von Eigenblut sowie den Nutzen und das Risiko der Eigenblutentnahme und -anwendung individuell und rechtzeitig aufzuklären sind, wenn bei regelhaftem Operationsverlauf eine Transfusionswahrscheinlichkeit von mindestens 10% besteht. Diese prozentuale Angabe der Transfusionswahrscheinlichkeit hat auf dem Boden hauseigener Daten zu erfolgen. Aktuelle Studien belegen den Nutzen der präoperativen Eigenblutspende insbesondere in der kardiovasculären Chirurgie (6, 18) und der Hüft- und Wirbelsäulenchirurgie (9, 10). Für den Einsatz der präoperativen Eigenblutspende in der Knieendoprothetik und in der 100
Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie kann auf Grund aktueller Daten keine generelle Empfehlung ausgesprochen werden. Da das wesentliche Ziel der präoperativen Eigenblutspende in einem objektivierbaren Zugewinn an Erythrozyten liegt, ist ein Spendekonzept für diesen Zugewinn entscheidend, welches ein Zeitintervall zwischen der letzten Eigenblutspende und der geplanten Operation von mindestens 3 Wochen beinhaltet. Nur so kann auf Grund der zeitabhängigen, physiologischen Gegebenheiten der Erythropoese eine adäquate Erythrozytenregeneration stattfinden. Daher empfehlen die aktuellen Leitlinien ein intensiviertes Eigenblut-Spendeprogramm, das nachweislich zu einem verstärkten erythropoetischen Stimulus und einem signifikanten Zugewinn an Erythrozytenmasse gegenüber Spenden im früher üblichen „konventionellen Programm" führt, (21, 22). Tabelle 11 gibt die entsprechend bewertete Empfehlung wieder. Bei Durchführung der präoperativen Eigenblutspende wird ein „intensiviertes" Spendeprogramm empfohlen, bei dem innerhalb kurzer Zeit (1 Woche) 2 Eigenblutentnahmen durchgeführt werden, C+ 1 sofern es der klinische Zustand des Patienten zulässt, so dass neben einem stärkeren Absinken des Hämatokrit auch ein längerer Zeitraum zur Erythrozytenregeneration bis zur Operation besteht.
Tabelle 11:
Bewertung der Empfehlung eines intensivierten Spendeprogramms bei der präoperativen Eigenblutspende.
Die seit einer Reihe von Jahren kontrovers diskutierte Effektivität einer präoperativen normovolämischen Hämodilution wurde dahingehend bewertet, dass die präoperative normovolämische Hämodilution nur bei Patienten mit hochnormalen Hb-Werten als Methode mit limitiertem Effekt empfohlen werden kann. Kontrollierte Studien zu diesem Thema konnten keine Reduktion des Bedarfs an allogenen Erythrozytenkonzentraten nachweisen, weshalb diese Aussage in den Leitlinien mit der Gesamtbewertung 1 A versehen wurde. Sie ist damit eindeutig und basiert auf randomisierten, kontrollierten Studien mit eindeutigem Ergebnis. Das Verfahren der maschinellen Autotransfusion wird als für alle Operationen indiziert beschrieben, bei denen ein großer Blutverlust erwartet werden kann (z.B. orthopädische oder gefäßchirurgische Eingriffe) beziehungsweise akut (Notfalloperationen) eintritt. Trotz einer zum Teil 50%igen Retransfusionsrate des Wundblutes weisen die Leitlinien darauf hin, dass wegen der erheblich variierenden Rückgewinnungsrate für dieses Verfahren eine regelhafte Berücksichtigung bei der Transfusionsplanung nicht möglich ist.BezüglichderLagerungsfähigkeitdesdurchMATgewonnenenErythrozytenkonzentrates ist mit den neuen Leitlinien insofern eine zeitliche Präzisierung vorgenommen worden, als die alte Formulierung „kann ... bis zu 6 Stunden gelagert werden" um den Satz ergänzt worden ist „In diese Zeitspanne ist der gesamte Vorgang eingeschlossen." Weiterhin wurde auch in der aktuellen Fassung der Leitlinien die „Negativmonographie" zur Retransfusion von intra- oder postoperativ gesammeltem Wund- oder Drainageblut ohne vorherige Aufbereitung (waschen) aufrecht erhalten, indem für das so gesammelte Wundblut die Gefahr einer Gerinnungsaktivierung, Zytokin- und eventuellen Endotoxineinschwemmung sowie Einschwemmung anderer biologisch aktiver Substanzen als potenzielle Gefährdung erwähnt wird. Der Einsatz der maschinellen Autotransfusion bei Tumoroperationen, wie er von Hansen (12) inauguriert wurde, findet ebenfalls in den neuen Leitlinien Berücksichtigung und eine entsprechende Bewertung (Tabelle 12). Sowohl bei zu erwartendem großem Blutverlust als auch bei intraoperativ akut auftretenden Blutungen kann der Einsatz der MAT, unter Beachtung der Kontraindikationen, empfohlen werden. Der Einsatz der MAT bei Tumorpatienten kann nach vorheriger Bestrahlung des Wundblutes vor Retransfusion empfohlen werden. Tabelle 12: Bewertung Fremdbluteinsparung.
der
maschinellen
Autotransfusion
als
perioperatives
1 C+ 2C+
Verfahren
zur
101
Die Herausgeber und Autoren der neuen Leitlinien haben größten Wert darauf gelegt, den aktuellen Stand des Wissens zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses abzubilden. Dies schließt jedoch nicht aus, dass bei der Anwendung dieser Querschnitts-Leitlinien in der täglichen Praxis neue Fragen auftreten. Im Interesse der Optimierung sind daher alle Nutzer aufgerufen, ihre Erfahrungen im Umgang mit diesen Leitlinien dem Arbeitskreis zur Verfügung zu stellen. Im Falle neuer relevanter Erkenntnisse, welche eine Überarbeitung der Querschnitts-Leitlinien erforderlich machen, kann eine kurzfristige Aktualisierung und Information der Öffentlichkeit über das Deutsche Ärzteblatt erfolgen. Der aktuelle Stand der Querschnitts-Leitlinien ist im Internetauftritt der Bundesärztekammer (http:// www.baek.haemotherapie.de) abrufbar.
102
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103
Der Patient nach Koronarintervention in der operativen Medizin B. ZWISSLER, MÜNCHEN
1. Kardiales Risiko nach Perkutaner Coronarer Intervention (PCI) Patienten nach Perkutaner Coronarer Intervention (PCI) haben infolge des Eingriffs ein vulnerables, hoch thrombogenes Gefäßsystem. Dies hatte in den Anfangsjahren nach Einführung der ,Perkutanen transluminalen Coronarangioplastie' (PTCA) zur Folge, dass sich auch ein zunächst erfolgreich dilatiertes Koronargefäß in etwa 20 % aller Fälle innerhalb weniger Stunden und Tage wieder verschloss. Die hohe Re-Okklusionrate nach PTCA führte letztlich zur Entwicklung sog. Koronarstents (Übersicht bei (1). Tatsächlich gelang es mit der Einführung der sog. ,Bare Meta/ Stents' (BMS; Drahtgeflechthülsen aus Metall) im Jahre 1993 sowie damit verbunden einer ,Dualen Thrombozytenaggregationshemmung' (d.h. der gleichzeitigen Gabe von ASS und eines ADP-Antagonisten wie Clopidogrel), die Frühverschlussrate nach PTCA signifikant zu senken. Allerdings zeigte sich rasch, dass es etwa 6-9 Monate nach Implantation von BMS erneut zu einem signifikanten Anstieg der kardialen Komplikationsrate kam. Grund hierfür war eine zunehmende Re-Stenosierung der Gefäße infolge einer Hyperplasie der Neointima sowie einer überschießenden Proliferation von Fibroblasten mit Invasion in das Lumen des Stents (sog. ,In-Stent Stenose'). Mit der Zulassung sog. Drug Eluting Stent (DES) im Jahre 2002 schien auch dieses Problem zunächst gelöst. DES sind letztlich konventionelle Stents, die mit einem antiproliferativen Wirkstoff beschichtet sind (z.B. Sirolimus, Paclitaxel), der kontinuierlich abgegeben wird und damit die Entstehung einer Neointima-Hyperplasie sehr effektiv unterdrückt. Initiale Ergebnisse zeigten eine Reduktion der Re-Stenoserate gegenüber BMS zwischen 75 und 90% und führten dazu, dass der Anteil von DES-Implantationen im Jahre 2005 in den USA auf ca. 85 % anstieg. Das Konzept der DES erlitt jedoch bereits wenig später - im Jahr 2007 - einen erheblichen Rückschlag. Befunde aus großen klinischen Studien hatten gezeigt, dass bei Patienten mit DES nach Absetzen von Clopidogrel 6 Monate nach Implantation nicht nur die Inzidenz von sekundären Stent-Thrombosen, sondern in der Folge auch die Letalität im Vergleich zu Patienten mit BMS signifikant anstiegt (4.9 % vs. 1.3 %) (1). Grund hierfür ist offensichtlich, dass sich bei DES - anders als bei BMS - durch den antiproliferativen Einfluss der Stentbeschichtung über lange Zeit keine funktionelle NeoIntima ausbilden kann und die endovaskuläre Oberfläche wegen des fehlenden Endothels daher auch noch nach mehreren Monaten hoch thrombogen ist. Allgemein wird daher heute für Patienten nach Implantation von DES eine Verlängerung der dualen Plättchenhemmung von 6 Monaten auf mindestens 12 Monate dringend empfohlen.
Merke: Patienten nach Implantation von koronaren Stents müssen - außer bei Vorliegen absoluter Kontraindikationen gegen Thrombozytenaggregationshemmer - lebenslang mit ASS sowie für mindestens 4 Wochen (Patienten mit BMS) bzw. für mindestens 12 Monate (Patienten mit DES) mit einem ADP-Antagonisten (z.B. Clopidogrel) behandelt werden.
105
2. Operative Eingriffe bei Patienten mit Stents 2.1 Elektive Operationen Während die o.g. Empfehlungen durch klinische Daten gut belegt sind, ist das optimale Vorgehen bei Patienten mit Stents, die sich einem operativen Eingriff unterziehen müssen, deutlich komplexer. Dem Schutz vor Stent-Thrombosen steht hier ein erhöhtes perioperatives Blutungsrisiko bei Einnahme von Thrombozytenaggregationshemmern gegenüber (2). Zwar liegt für nicht-kardiochirurgische Operationen bei koronaren Risikopatienten bislang keine wirklich prospektive Nutzen-Risiko Analyse für die Fortführung bzw. Beendigung einer antithrombozytären Therapie vor. In den letzten Jahren häuften sich jedoch Befunde, wonach das Absetzen einer laufenden Plättchenhemmung bei Patienten mit Stent die Inzidenz kardiovaskulärer Komplikationen in der perioperativen Phase signifikant erhöht (3). Nach derzeitiger Kenntnis sollten daher ADP-Antagonisten nur vor großen Operationen mit relevantem Blutungsrisiko entsprechend ihrer Pharmakodynarnik 7 bis 10 Tage präoperativ abgesetzt werden. Zwingend ist ein Absetzen vor rückenmarknaher Regionalanästhesie oder vor anderen Eingriffen in geschlossenen Höhlen (z.B. Eingriffe im Schädel, Wirbelkanal, Augenhinterkammer). Eine bestehende Medikation mit ASS (z.B. 100 mgffag) sollte - außer bei Vorliegen absoluter Kontraindikationen (z.B. neurochirurgische OP) - unbedingt beibehalten werden. Die alleinige Einnahme von ASS 100 (d.h. ohne gleichzeitige Thromboseprophylaxe) stellt nach den aktuellen Empfehlungen der DGAI keine Kontraindikation für die Durchführung einer neuroaxialen Blockade (mehr) dar. Wie lange jedoch das Intervall zwischen Anlage eines Stents und einer elektiven Operation unter dem Aspekt der optimalen Sicherheit für den Patienten sein sollte, ist derzeit unklar. Insgesamt scheint das kardiale Risiko umso geringer zu sein, je länger eine Operation nach erfolgter Stent-Implantation verschoben wird (4).
Merke: Die AHNACC Leitlinien 2007 schlagen als Procedere derzeit vor, Eingriffe nach PTCA frühestens 14 Tage, nach Versorgung mit einem BMS frühestens 30 - 45 Tage und nach Einlage eines DES frühestens 365 Tage nach der jeweiligen koronaren Intervention durchzuführen (Abbildung 1) (5). Diese Empfehlungen werden auch durch Daten einer aktuellen Studie unterstützt, die zeigte, dass die Inzidenz schwerer kardialer Komplikationen am geringsten ist (3.3 %), wenn zwischen Implantation eines DES und Operation mindestens 1 Jahr vergangen war. Dagegen war jeder frühere Operationszeitpunkt mit einer unverändert hohen Komplikationsrate behaftet (0 - 90 Tage: 6.4 %; 91 - 180 Tage: 5.7 %; 181 - 365 Tage: 5.9 %) (6).
106
, 1
Perkutane Coronare Intervention
PTCA
1
BMS
1
1 DES
1
1
Zeit nachl
I Eine:riff
1
30Td T5d l i C-:J 1
1
14d
jor&Assl I
OP verschieben! (außer Notfall) ~
Abbildung 1: Vorgehen bei koronaren Risikopatienten, die sich einem operativen Eingriff unterziehen müssen, in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der zuvor erfolgten Perkutaner Coronarer Intervention (nach AHA/ACC Leitlinien 2007 (5)).
2.2 Dringliche Operationen und Notfalleingriffe Erhebliche Probleme ergeben sich naturgemäß für Patienten mit therapiebedürftigem Koronarbefund, aber dringlicher Operationsindikation (z.B. bösartiger Tumor). Eine Wartezeit von 3 - 12 Monaten ist dabei medizinisch, aber auch psychologisch problematisch. Chirurg, Anästhesist und Kardiologie müssen hier das ·Risiko einer verzögerten operativen Therapie gegen das Risiko einer erhöhten kardialen Morbidität (und Letalität) abwägen und zusammen mit dem Patienten über den besten Operationszeitpunkt bzw. auch über die Reihenfolge der durchzuführenden Maßnahmen entscheiden. Bei (semi-) dringlicher Operationsindikation, zwingender Notwendigkeit einer vorangehenden PCI und hohem operativen Blutungsrisiko ist ein konventioneller Metallstent (BMS) oder sogar die Beschränkung auf eine reine PTCA der Einlage eines Medikamenten freisetzenden Stents (DES) vorzuziehen. Präoperativ sollten ADP-Antagonisten bei Patienten, die einen Stent innerhalb der o.g. kritischen Zeitintervalle (vgl. Abbildung 1) erhalten hatten, nur für Operationen mit hohem Blutungsrisiko abgesetzt werden (Ticlopidin 10 - 14 Tage, Clopidogrel 7 - 9 Tage). Eine Therapie mit niedrigdosiertem ASS (z.B. 100 mg / Tag) darf bei kardialen Hochrisikopatienten in der perioperativen Phase gar nicht mehr unterbrochen werden, sofern keine absolut zwingenden Gründe hierfür vorliegen (z.B. intrakranieller Eingriff, manifeste Blutung o.ä.). So traten schwere kardiale Komplikationen bei 30 % aller Patienten auf, die weniger als 1 Monat nach Anlage eines BMS bzw. weniger als 3 Monate nach Anlage eines DES operiert worden waren und bei denen sowohl ADPAntagonisten als auch ASS abgesetzt worden waren (7). Völlig unabhängig vom verwendeten Stent scheinen dringliche oder notfallmäßige Eingriffe mit einer höheren Rate schwerer kardialer Komplikationen vergesellschaftet zu sein als elektive Eingriffe (4).
107
2.3
Perioperatives ,Bridging' als mögliches Konzept bei Hochrisikopatienten
Bei Hochrisikopatienten (z.B. DES vor< 12 Monaten+ dringliche Operation mit hohem perioperativen Blutungsrisiko) wird derzeit folgendes Vorgehen diskutiert mit dem Ziel, die vulnerable perioperative Phase möglichst kurz zu halten (,Bridging'): • •
• •
Absetzen von Clopidogrel 5 Tage präoperativ, ASS belassen, Beginn einer Infusionstherapie mit Heparin (zur Hemmung der Thrombinbildung) und einem kurzwirksamen Gllb/Illa Antagonisten (z.B. Tirofiban, Eptifibatide) zur Hemmung der Thrombozytenaktivierung, Absetzen von Heparin und Gllb/Illa Antagonisten 6h präoperativ Wiederbeginn der Therapie mit Clopidogrel früh postoperativ (Aufsättigungsdosis von 600 mg p.o. + 75 mg / d).
Der Nutzen eines solchen ,Bridging' ist bislang nicht prospektiv klinisch untersucht. Gleichwohl wird es in der Praxis zunehmend häufiger angewendet, sollte aber nur in enger Rücksprache mit dem den Patienten betreuenden Kardiologen erfolgen.
Merke: Heparin allein oder auch andere Hemmstoffe der plasmatischen Gerinnung können die protektiven Wirkungen von Thromboytenaggregationshemmern nicht ersetzen und sind daher - als Monosubstanz - für ein ,Bridging' ungeeignet. Ist die Anlage einer neuroaxialen Blockade bei Patienten geplant, bei denen ein ,Bridging' mit Eptifibatide oder Tirofiban erfolgt, muss das Intervall zwischen Absetzen der Medikation und Punktion mindestens 8 h betragen (3 ). Insgesamt ist die Indikation jedoch streng zu stellen, da Risikopatienten mit der Indikation zum ,Bridging' in aller Regel postoperativ rasch wieder Thrombozytenaggregationshemmer erhalten werden und damit ein sicheres Zeitintervall zum Entfernen des Katheters schwer oder überhaupt nicht definiert werden kann.
2.4
Postoperative Überwachung
Patienten, die weniger als 90 Tage nach PTCA oder Platzierung eines Stents operiert werden, bedürfen einer intensiven postoperativen Überwachung. Sobald chirurgisch vertretbar, sollte eine präoperativ unterbrochene Therapie mit Thrombozytenaggregationshemmern postoperativ rasch weitergeführt werden. Während der antithrombozytäre Effekt von ASS auch nach oraler Gabe innerhalb weniger Stunden einsetzt, erreicht Clopidogrel erst nach mehreren Tagen seine volle Wirksamkeit.
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Lungenprotektive Beatmung MICHAEL QUINTEL UND L ONNEN M0ERER
Zentrum Anaesthesiologie, Rettungs- und lntensivmedizin, GeorgAugust-Universität Göttingen Ziele der maschinellen Beatmung sind die Verbesserung des pulmonalen Gasaustauschs und die Entlastung der Atemmuskulatur. Bis in die 90er Jahre hinein wurde dabei vorrangig das Ziel verfolgt „normale" oder „physiologische" Blutgaswerte zu erreichen, unabhängig davon, welche Einstellungen am Beatmungsgerät hierfür erforderlich waren. Der zunehmende, umfassende Einsatz maschineller Beatmung in der Intensivmedizin ging mit der Erkenntnis einher, dass eine Überdruckbeatmung deletäre Folgen haben kann. Das Auftreten eines Barotraumas und die pathologischen Veränderungen nach Langzeitbeatmung, haben zur Einführung des Begriffs VILi (ventilator induced lung injury) geführt. Allerdings hatten diese reproduzierbaren Veränderungen zunächst keine Veränderung der Konzepte maschineller Beatmung in der klinischen Praxis zur Folge. Durch Beatmung verursachte Lungenschäden wurden vielmehr lange Zeit als nicht zu verhindernde Nebenwirkung in Kauf genommen. Hickling und Mitarbeiter waren die ersten, die bei ARDS-Patienten im Vergleich zu einer historischen Kontrolle zeigen konnten, dass eine Beatmung mit niedrigen Tidalvolumina (4 - 7 ml pro kg Körpergewicht (=ideal body weight, IBW) zu einer deutlichen Reduktion der Mortalität führt (10). Die Autoren akzeptierten erhöhte arterielle C02-Werte und glichen auch erniedrigte pH-Werte nicht aus. Das bis dato gängige Konzept, mit aller Macht „physiologische" Blutgaswerte anzustreben, wurde hiermit nachhaltig in Frage gestellt. Vielmehr lieferten diese Studie erste Anzeichen dafür, dass es sinnvoller ist erhöhte PaC02-Werte zu akzeptieren, als eine die Lunge schädigende Beatmung in Kauf zu nehmen. Der Begriff des beatmungsinduzierten Lungenschadens (ventilator induced Jung injury, VILi) wurde bis in die neunziger Jahre hinein im wesentlichen im Sinne eines Barotraumas verwendet. Dreyfuss und Saumon fassten 1998 erstmalig zusammen, dass invasive Einstellungen der Beatmungsparameter einen akuten Lungenschadens nicht nur verschlechtern sondern selbst ein ARDS verursachen können ( 11 ). Seither konnte vielfach nachgewiesen werden, dass ein akuter Lungenschaden durch hohe Tidalvolumina, hohe in- und end expiratorische Drücke, Atemfrequenzen und einer hohen inspiratorischen 0 2-Konzentration unterstützt oder verursacht werden kann. Diese Befunde bekräftigten das Konzept des VILi. Tremblay und Mitarbeiter trugen eine weitere wichtige Erkenntnis bei, wonach eine traumatische maschinelle Beatmung nicht nur einen direkten Lungenschaden im Sinne einer mechanische Schädigung verursacht, sondern darüber hinaus eine inflammatorische Reaktion induziert, die auch andere Organe schädigen und damit eine Multiorganversagen verursachen kann (12,13). Eine Beatmung mit positivem Druck induziert in einer Lunge die mechanischen Kräfte Stress und Strain, die zu einer Freisetzung pro- und antiinflammatorischer Mediatoren führen kann (14). Die gewählte Einstellung der Beatmung bestimmt, ob die induzierten Veränderungen im Hinblick auf das Outcome eine geringe, vernachlässigbare Schädigung verursachen, oder eine lebensbedrohliche Zerstörung von Lungenstrukturen und massiver Freisetzung von Mediatoren zur Folge haben (14). Der mechanische Stress auf das Lungengewebe während maschineller Beatmung ergibt sich aus den applizierten transpulmonalen Drücken, wohingegen der entstehende Strain vom Verhältnis des endexspiratorischen Lungenvolumens zum 109
applizierten Tidalvolumen bestimmt wird. Hieraus lässt sich ableiten, dass ein niedriges Tidalvolumen, das der Elastance des respiratorischen Systems Rechnung trägt (Reduktion der resultierenden transpulmonalen Drücke) in Kombination mit einem adäquaten endexspiratorischen Druck und damit einem optimierten Verhältnis von endexpiratorischem Lungenvolumen zum angewandten Tidalvolumen zu einer verminderten Lungenschädigung führen sollte. Dieses Konzept, beatmungsassoziierte Schäden zu verhindern, wird als lungenprotektive Beatmung bezeichnet. Eine Vielzahl klinischer Studien untersuchte den Effekt eines protektiven Beatmungsregimes, mit dem Ziel, eine Verbesserung des Outcome nachzuweisen (15,16,17). So konnten Amato et al. zeigen, dass Beatmung mit 6 ml/kg IBW (mittlerer PEEP 16 cmHp) im Vergleich zu 12 ml/kg (mittlerer PEEP 8,7 c~O) zu einer Reduktion der 28-TageSterblichkeit führt. Weitere Untersuchung zeigte weniger eindeutige oder keine positiven Ergebnisse, weshalb eine groß angelegte Studie des amerikanischen ARDS-Netzwerkes (ARDS-Net) aufgelegt wurde die Beatmungsstrategie mit niedrigem Tidalvolumen (6 ml/ kg IBW) mit einer konventionellen Einstellung (12 ml/kg IBW) verglich (18). Die Studie wurde nach Einschluss von 861 Patienten gestoppt, weil die lungenprotektive Strategie zu einer signifikanten Reduktion der Letalität führte (31,0% vs. 39,8%). Villar und Mitarbeiter applizierten bei einem Patientenkollektiv ein Tidalvolumen von 5 - 8 ml/kg idealem Körpergewicht und stellten den PEEP anhand einer Druck-VolumenKurve 2 cm Hp oberhalb des unteren lnflektionspunktes ein. In der Kontrollgruppe wurde mit 9 - 11 ml/kg beatmet und ein PEEP .!:: 5 cmHp eingestellt (19). Die Studie wurde vorzeitig gestoppt, weil die Gruppe mit dem niedrigeren Tidalvolumen und dem höheren PEEP eine deutlich reduzierte Sterblichkeit zeigte. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass eine zunehmende Evidenz dafür vorliegt, dass eine protektive Beatmung, die eine hohe mechanische Belastung vermeidet, zu einer Reduktion der Beatmungsdauer und sekundären Organdysfunktionen sowie zu einer Verbesserung der Überlebensrate bei Intensivpatienten mit ALi/ARDS führt. Die Empfehlung zur Verwendung niedriger Tidalvolumina bei Patienten mit ALi/ARDS kann als gesichert gelten. Die Applikation eines höheren PEEP hingegen, die das Ziel verfolgt einen zyklischen alveoläre Kollaps zu verhindern und die dadurch bedingten Scherkräfte zu minimieren, ist weiterhin Gegenstand der Diskussion. Gattinoni und Mitarbeiter konnten in einer kürzlich publizierten Untersuchung bei Patienten mit ALi/ARDS zeigen, dass ein erhöhter PEEP bei Patienten, bei denen sich keine Lungenareale rekrutieren lassen, nicht von einer Erhöhung des PEEP profitierten, wohingegen bei Patienten, bei denen eine Rekrutierung möglich ist, eine höheren PEEP wahrscheinlich sinnvoll ist (20). Zwei kürzlich publizierte Studien konnten zeigen, dass das ARDS-Net Konzept nicht bei allen Patienten eine protektive Beatmung bewirkt. Ranieri und Mitarbeiter zeigten bei 30 ARDS- Patienten, dass es bei ca. einem Drittel zu Überblähung von Lungenarealen mit konsekutiver inflarnmatorischer Reaktion kommt, wenn die Einstellungen aus der ARDSNei-Studie verwendet wurden. Betroffen waren Patienten mit signifikant höherem Anteil nicht belüfteter Lungenregionen (21). Grasso und Mitarbeiter applizierten Tidalvolumina von 6 rnl pro kg ideales Körpergewicht und randomisiert einen PEEP entweder nach der ARDS-Net Tabelle oder adjustiert ihn anhand des Stressindex (eine Variable, die Anhand atemmechanischer Parameter berechnet werden kann und die Trennung zwischen alveolärem Kollaps und Überblähung erlaubt) zwischen 0,9 and 1,1 (21). Diese Untersuchung zeigte ebenfalls eine unzureichende Lungenprotektion bei Beatmungseinstellungen nach ARDS-Net Protokoll. Beide Studien geben eine klaren Hinweis darauf, dass zumindest bei einigen Patienten das bisher gängige Konzept der lungenprotektiven Beatmung, das 110
im wesentlichen aus der Reduktion des Tidalvolumens besteht, nicht ausreichend ist, um einen sicheren Schutz vor einem beatmungsassoziierten Lungenschaden sicherzustellen. Die Suche nach weiteren Lösungen und alternativen Interventionsmöglichkeiten, um die Schäden durch eine maschinelle Beatmung zu begrenzen bleibt auch in der Zukunft eine klinische und wissenschaftliche Herausforderung. Die Beibehaltung des Konzepts einer lungenprotektiven Beatmung auch dann wenn unter diesen Bedingungen kein ausreichender Gasaustausch erzielt werden kann, öffnet die Frage nach alternativen Behandlungsstrategien und deren Effektivität. Nachdem die Versuche, die Lungen mittels extrakorporaler Membranoxygenierung (ECMO) mehr oder weniger vollständig zu ersetzen, in der Anfangsphase eher frustran verliefen (4,5), erfahren diese Techniken in den letzten Jahren eine Renaissance. Der Grund für die anfänglichen Misserfolge liegt möglicherweise auch darin begründet, dass mit dem Einsatz von ECMO nicht automatisch eine lungenprotektive Strategie verfolgt wurde. In der Regel wurde also Beatmungseinstellungen beibehalten, die wir heute für die Unterhaltung oder Entstehung eines ARDS verantwortlich machen. Eine kritische Neubeurteilung erscheint deshalb dringend erforderlich, bei einer solchen Neubeurteilung sollte die Lunge protektiv - mit niedrigen Tidalvolumina und adäquatem PEEP - beatmet und der Gasaustausch via ECMO sichergestellt werden. Darüber hinaus konnte die angewandte Technik umfassend verbessert werden. So stehen heute Oxygenatoren und Schlauchsysteme zur Verfügung, deren Biokompatibilität durch Beschichtung verbessert wurde. Kanülen, Pumpensystem und Oxygenatoren sind grundlegend optimiert worden, das Primingvolumen der Systeme konnte deutlich reduziert werden. Von diesen neuen Techniken kann erwartet werden, dass sie die verfahrensbedingte Komplikationsrate zukünftig deutlich reduzieren. Neben der klassischen ECMO stehen mittlerweile weitere passive (pumpenlose) Verfahren zur Verfügung, die über die arteriovenöse Druckdifferenz zur C0 2-Elimination eingesetzt werden können (24,25,26). Die Möglichkeit einer Oxygenierung ist allerdings limitiert, da nur im Falle einer sehr niedrigen arteriellen Sauerstoffsättigung ein erhöhter Sauerstofftransfer über ein solches arteriovenöses System stattfindet. Das als interventional lung assist (ILA, Novalung®, Talheim) beschrieben Verfahren wurde mittlerweile in verschiedenen Studien untersucht (27,28,29,30). Aktuell läuft eine randomisierte multizentrische Studie, in der der Einsatz der ILA bei ARDS-Patienten mit einem „ultra" lungenprotektiven Beatmungsregime (Tidalvolumen < 5 ml pro kg ideales KG) verglichen wird. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Stellenwert lungenprotektiver Beatmungsstrategien gesichert ist, dennoch bedürfen viele Fragen, wie zum Beispiel die nach einem optimalen PEEP, weiterer Untersuchungen. Sollte ein ausreichender pulmonaler Gasaustausch mit einem herkömmlichen Beatmungsregime nicht erreicht werden können, erscheint es logisch, den Gasaustausch dann mittels extrakorporaler Verfahren (ECMO, ILA) sicherzustellen und von einer Erhöhung der Invasivität der konventionellen Beatmung Abstand zu nehmen. Über die Rolle einer „ultra" protektiven Beatmungsstrategie kann bisher nur spekuliert werden. Zukünftige Untersuchungen müssen zeigen, ob sich die bislang rein obseravtionellen Daten in großen klinischen Studien bestätigen lassen und wie die Indikationgrenzen definiert werden können, ab denen eine Erweiterung um ein extrakorporales Verfahren sinnvoll und effektiv erscheint.
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113
Pathophysiologie und Therapie des Akuten Nierenversagens H.-M.
BENAD
Einleitung Ein akutes Nierenversagen (ANV) kann sich nach vorheriger normaler Nierenfunktion oder nach bereits vorbestehender eingeschränkter Nierenfunktion entwickeln (acute on chronic renal failure ). Bei Patienten auf der Intensivstation tritt ein ANV hauptsächlich durch eine vom Organ Niere unabhängige Ursache auf. Es manifestiert sich meist im Rahmen eines Multiorganversagens (MOV) und dieses hat trotz aller modernen intensivmedizinischen Behandlungsverfahren weiterhin eine sehr hohe Letalität. In Untersuchungen von LIANO et al [24] betrug diese 76%, wenn ein ANV im Rahmen eines MOV aufgetreten war. Bei Patienten, die mit einem isolierten Nierenversagen auf der Intensivstation behandelt werden mussten, betrug die Letalität lediglich 30% und entsprach damit etwa der von Patienten, die mit einem ANV nicht auf der Intensivstation behandelt werden mussten (31 % ).
Definition und Einteilung Zur Definition des akuten Nierenversagens findet sich in der Literatur eine Vielzahl verschiedener Formulierungen, die jeweils nicht ausreichend validiert sind. Allgemein akzeptiert wird, dass es sich beim akuten Nierenversagen um eine plötzliche, innerhalb von Stunden oder Tagen auftretende, anhaltende, prinzipiell reversible Verschlechterung der in- und exkretorischen Nierenfunktion handelt, die bis zu deren vollständigem Verlust führen kann. Klassisch teilt man unter pathophysiologischen Aspekten das akute Nierenversagen in das prä-, intra- und postrenale Versagen ein. Die Übergänge sind aber häufig fließend, bedingt doch ein prä- oder postrenales Nierenversagen fast immer auch über die eintretende Tubulusschädigung ein intrarenales Versagen des Organs. Im Jahr 2004 wurde auf einer internationalen Konsensuskonferenz [6] eine einheitliche Definition und Stadieneinteilung mit den RIFLE-Kriterien (Risk, Injury, Failure, Loss, End Stage Kidney Disease (ESRD)) erarbeitet. Nach diesen Kriterien erfolgt eine Einteilung der Nierenschädigung nach Serumkreatinin-Werten und der Diurese. Es zeigte sich aber, dass eine bedeutsame Schädigung der Nieren schon vor deren völligem Versagen diagnostisch und vor allem auch therapeutisch relevant ist und dies führte zu einer weiteren Modifikation der Stadieneinteilung: Im Jahr 2007 wurde die AKIN-Stadieneinteilung (Acute Kidney Injry Network) [30] vorgestellt und diese scheint sich mehr und mehr durchzusetzen, da im AKIN-Stadium 1 im Gegensatz zum RIFLE-Stadium „Risk" bereits ein Grenzwert des Kreatininanstiegs von 0,3 mg/dl genannt wird (Abb. 1). Auf die RIFLE-Stadien „Loss" und „ESRD" wurde verzichtet, da es sich um Spätfolgen der akuten Nierenschädigung handelt. Zu bedenken ist, dass beide Einteilungen nicht auf die Ursache der Funktionsstörung eingehen.
115
RIFLE-Stadium AKINStadium
Serumkreatininanstieg
Serumkreatininanstieg
Diurese
RIFLE 1,5 bis 2-fach
AKIN ~ 0,3 mg/dl bzw. 1,5 bis 2-fach 2 bis 3-fach
RIFLE/AKIN
Risk lnjury
2
Failure
3
Loss
< 0,5 ml/kgKG/Std. über 6-12 Std. 2 bis 3-fach < 0,5 ml/kgKG/Std. über > 12 Std. Serumkreatinin > 4 mg/dl Serumkreatinin > 4 mg/dl < 0,3 ml/kgKG/Std. oder oder über > 24 Std. oder > als 3-fach > als 3-fach Anurie> 12 Std. oder Notwendigkeit oder Notwendigkeit Nierenersatztherapie Nierenersatztherapie Dauerhaftes Nierenversagen für mehr als
4Wochen End Stage Kidney Disease (ESRD)
Dauerhaftes Nierenversagen für mehr als 3 Monate
Abb. 1: Einteilung der akuten Nierenschädigung nach RlFLE- und AKIN-Stadien, mod. nach [6;30]
In der angloamerikanischen Terminologie wird zunehmend „Acute renal failure" durch „Acute kidney injury" ersetzt. Im deutschen Sprachgebrauch sollte ebenfalls mehr von der akuten Nierenschädigung als vom akuten Versagen gesprochen werden, da schon vor dem völligen Versagen des Organs die Funktionseinschränkung pathophysiologische Relevanz besitzt. Die neue Einteilung trägt diesem Punkt insofern Rechnung, dass bereits die abrupte Abnahme der exkretorischen Nierenfunktion, definiert durch einen absoluten Anstieg des Serum-Kreatinins um nur 0,3 mg/dl (entsprechend um 26,4 µmol/1) zur Einstufung als eine akute Nierenschädigung im Stadium 1 führt. Weitere Kriterien zur Einstufung in dieses Stadium sind der Anstieg des Serum-Kreatinins um 50 % oder ein Rückgang der Urin-Ausscheidung unter 0,5 ml/kg KG/Std. über mehr als 6 Stunden. Neuere Arbeiten belegen, dass die Niereninsuffizienz nicht alleine Folge einer generalisierten schweren Erkrankung sein kann, sondern selbst auch Mediator für die schlechte Prognose des Patienten ist. So waren bei kardiochirurgischen Patienten bereits geringe Kreatininanstiege im Serum um mehr als 50% innerhalb von 48 Stunden postoperativ mit einer Verdopplung der Mortalität verbunden [22]. Andere Autoren berichten über eine deutliche Zunahme der Mortalität bei einem Kreatininanstieg von nur 0,3 mg/dl [11], was wiederum die Bedeutung der AKIN-Stadieneinteilung unterstreicht. Es konnte gezeigt werden, dass die Niereninsuffizienz selbst durch erhöhte Zytokinspiegel zu einer Induktion eines inflammatorischen Zustandes führt. Bei schwerer immunsuppressiver Wirkung der Urämie ist in der Gesamtschau davon auszugehen, dass die Niereninsuffizienz nicht nur als ernstzunehmende Komplikation wahrgenommen und behandelt werden muss, sondern selbst wesentlich einen Mortalitätsfaktor darstellt [40, 13]. Da eine Niereninsuffizienz bei kritisch Kranken über Urämie, Immunsuppression, HypervoIämie und Elektrolytimbalancen prognoseentscheidend sein kann, gilt in letzter Zeit die besondere Aufmerksamkeit noch mehr der Vermeidung einer Nierenschädigung, dem frühen Erkennen einer solchen und der frühen und adäquaten Therapie.
Ursachen einer akuten Nierenschädigung in der Intensivmedizin In der Intensivmedizin lässt sich oft keine isolierte Ursache der akuten Nierenschädigung ausmachen, vielmehr ist dies ein multifaktorielles Geschehen. Grundprobleme sind aber immer Ischämie und direkte Nephrotoxizität.
116
Ischämische Situtationen bei Traumen, großen Operationen (Kardiochirurgie) oder Sepsis mit Hypovolämie und Hypoxämie oder z.B. auch hypotone Phasen während akuter Blutungsprobleme führen im sich entwickelnden Schockgeschehen mit erhöhtem Sympatikotous rasch zur Abnahme des renalen Blutflusses und damit auch der glomärulären Filtration. Durch die Störung der tubulären Zellintegrität mit Verlust der Zellpolarität bis hin zu Zelltod und Apoptose und folgender Ablösung der Zellen von der Basalmembran kommt es einerseits zur Verstopfung des Tubuluslumens und andererseits führt die Zerstörung dieser Epithelzellschicht zu einem Verlust der Barrierefunktion. Dies bedingt einen sog. „Backleak" (Rückdiffusion von Filtrat aus dem Tubuluslumen in das Interstitium). An den renalen Kapillaren führen Vasokonstriktion sowie kapilläres Leck (Capillary leak syndrome, CLS) und disseminierte intravasale Gerinnung (DIC) als Wegbereiter des Multiorganversagens auch hier zu Obstruktion und Hypoxie. Man spricht direkt von einer sich entwickelnden ischämischen/nephrotoxischen akuten Tubulusnekrose [15]. Weitere Ursachen des akuten Nierenversagens sind möglich. Eine Übersicht gibt Abbildung 2, die nach strukturellen Ebenen geordnet pathophysiologische Aspekte aufzeigt. Auf weitere prärenale und postrenale Ursachen wird an dieser Stelle nicht eingegangen.
Organ
Körper
Gewebe
•Vfil.Polaritll
•Ve,1.•VertUTIJ)Ung
LB. •Throrrmwe •V8'1wiitis
·... •-
_
{
•...,ooung
Große Gefäße
Prlrenal
Molekül
Zelle
L __ _ ___J
Mikrozirkulation LB-
•Vaskulilis •M-
Tubulus -obolru•.Back-leak'
•Hflmolyl-urlnilChuSynm'Om
•Kai-
lntrarenal Ischämische Toxizität
·-LB.
•~Korttiwtmittal •Myo-lHAmoglobin
.•.
•VMOkonstJiktion
•T""'°'
"°"'"""°"
Interstitium
Postrenal
..,.,.....Naphrih •Infektionen
Kapillaren
·•~-...........
•Thrombo-~
•La~
{
-c,tddoe IL-1
•AdhlsionsrnoleWe ICAM-1, E-&!Jledin
..___ _ __ _ J
Abb. 2: Pathophysiologische Aspekte des akuten Nierenversagens auf verschiedenen strukturellen Ebenen nach HALLER [15]
Risiken Vor allem in der Kardiochirurgie laufen viele Untersuchungen mit dem Ziel, Prädiktoren für die Entwicklung einer akuten Nierenschädigung zu ermitteln. Kardiochirurgische Patienten bieten für diese Untersuchungen den Vorteil, dass meistens Ausgangsbefunde vorliegen und der Zeitpunkt der Nierenschädigung mit dem operativen Ereignis bekannt ist. Mehrere Scores wurden entwickelt, eine hohe Sensitivität und Spezifität erreicht zum 117
Beispiel der AKICS Score (Acute kidney injury following cardiac surgery Score), der auch als Sao-Paulo-Score bekannt ist [35]. Es konnte für kardiochirurgische Patienten gezeigt werden, dass ein Alter über 65 Jahre, eine bereits präoperativ bestehende Kreatininerhöhung von 1,2 mg/dl sowie präoperative Blutzuckerwerte höher als 140 mg/dl, kombinierte große Eingriffe, eine kardiopulmonale Bypasszeit von länger als zwei Stunden, Low cardiac output und ein erniedrigter zentraler Venendruck (ZVD) gute Prädiktoren sind und für die Bildung von fünf Risikokategorien herangezogen werden. Grundsätzlich erscheint es sinnvoll, auch für andere intensivmedizinische Krankheitsbilder Erfahrungen mit diesem Score zu übernehmen, um so Risikopatienten zu ermitteln. Allgemein anerkannt sind weitere potentielle Risikofaktoren wie die Gabe von Kontrastmittel und der Einsatz von Antifibrinolytika, wie zum Beispiel Tranexamsäure [26], die jeweils zur Verminderung des renalen Blutflusses durch Vasokonstriktion führen. Auch der Einsatz von nichtsteroidalen Antiphlogistika/Analgetika, von Aminoglykosiden und Amphothericin B hat eine erhöhte Rate von Nierenfunktionsstörungen zur Folge [16].
Neue Parameter Bei der Beurteilung eines Ausgangskreatininwertes ist zu bedenken, das durch den sog. ,,Kreatininblinden Bereich" bereits eine erhebliche Abnahme der glomerulären Filtrationsrate vorliegt, auch wenn der Kreatininwert noch nicht oder scheinbar unwesentlich erhöht ist [19]. Um Risikopatienten noch schneller zu erfassen, werden seit einigen Jahren neuere Laborparameter untersucht, da ein Anstieg des Serumkreatinins erst mit einer zeitlichen Verzögerung von 24-48 Stunden auf ein sich entwickelndes akutes Nierenversagen hinweist. Untersuchungen zeigen, dass z.B. der Anstieg von S-Cystatin C deutlich schneller eine solche Entwicklung detektieren kann [17]. Weitere Hoffnungen werden auf NGAL (Neutrophil Gelatinase-Associated Lipocalin) als einen frühen Serum- und Urin-Biomarker für eine akute ischämische Nierenschädigung bei kardiochirurgischen Patienten gesetzt. Zwei Stunden nach kardiopulmonalem Bypass war NGAL bei 71 Kindern ein zuverlässiger und unabhängiger Prädiktor (ROC Curve 0,998 (receiver-operating characteristic curve), Sensitivität 1.00, Spezifität 0.98 bei einem Grenzwert von 50 µg/l) für eine akute Nierenschädigung, die durch einen SerumkreatininAnstieg um 50% erst zwei Tage später erfasst werden konnte [32].
Verlauf und Klinik Eine akute Nierenschädigung kann oligurisch, anurisch oder poly- bzw. normurisch verlaufen. Probleme entstehen hauptsächlich bei oligo- anurischem Nierenversagen, da es durch Flüssigkeitsüberladung zu Hypertonie, Linksherzinsuffizienz, Lungenödem, Pleuraergüssen, peripheren Ödemen und Hirnödem kommen kann. Weiterhin spielen Störungen des Elektrolythaushaltes mit Hyponatriämie, Hyperkaliämie, Hyperphosphatämie und Hypokalzämie eine bedeutende Rolle. Neben Entgleisungen des Säure-Basen-Haushaltes mit Entwicklung einer metabolischen Azidose kann es zu Herz-Rhythmusstörungen, Perikarditis und Perikarderguss kommen. Weitere Komplikationen der Urämie sind Gastritis mit Ulcera und Blutungen, Anämie und eine gestörte Thrombozytenfunktion, eine urämische Enzephalopathie und letztlich besteht bei allgemein erhöhtem Infektionsrisiko eine erhöhte lnzidenz für Pneumonie und Schocklunge. 118
Klinische und paraklinische Beurteilung Bei der Beurteilung des Patienten, seines Volumenstatus' und der Nierenfunktion stehen neben klinischen Befunden (Hautturgor, trockene Schleimhäute, urämischer Geruch, Urinprduktion und -färbe etc.) verschiedene Parameter zur Verfügung. Goldstandard zur Messung der glomerulären Filtrationsrate (GFR) ist nach wie vor die Bestimmung der Inulinclearance, da Inulin im Gegensatz zum Kreatinin nur glomerulär filtriert wird. Kreatinin wird bei höheren Serurnkonzentrationen ebenfalls tubulär sezerniert, was eine Überschätzung der GFR bei erhöhten Serumkreatininwerten zur Folge hat [2]. Trotzdem wird im Rahmen der Intensivmedizin routinemäßig die Kreatininclearance bestimmt. Hierzu bieten sich zwei Methoden an. Über den 24-Stunden-Sammelurin ermittelt man die tägliche Kreatininausscheidung des Patienten und kann nach Messung des Serumkreatininwertes die Clearanceleistung nach der Formel in Abb. 3 ermitteln.
U Krea [g/1]
Cl
Krea
x 100 x
U Vol [ml]
[ml/min] = 1 S
Krea
[mg/dl] x 1440 [min] 1
Abb. 3: Ermittlung der Kreatiniclearance aus dem 24-Std.-Sarnmelurin.
UKn:• U Vol SKn:a
= Kreatininkonzentration im 24-Std.-Sammelurin = Volumen des 24-Std.-Sammelurins = Kreatinikonzentration im Serum
Da diese Ermittlung aber aufwändig und mit einer hohen Fehlerquote behaftet ist, kann man die Kreatininclearance auch mit Hilfe von validierten Formeln berechnen. Beispielhaft sei in Abb. 4 die Ermittlung nach COCKROFT und GAULT gezeigt.
1
Cl
Krea
(140-Alter) 72 x
J
X
kg KG
1
=
Bei Frauen 85
S Krea
[mg/dl]
I
Abb. 4: Ermittlung der Kreatininclearance nach COCKROFT und GAULT
ClKn:a SKn:a
= Kreatininclearance = Serurnkonzentration Kreatinin
Bei der weiter gekürzten MDRD-Formel wird auch nicht mehr das Körpergewicht benötigt. Diese Berechnungen erlauben bei aller Abweichung nur eine schnelle Orientierung über die Glomeruläre Filtrationsrate. Die Anwendung der Formel wird bei sich schnell verändernden Nierenwerten, wie sie beim ANV auftreten, nicht empfohlen, ebenso nicht bei Kindern und Personen mit einem Alter über 70 Jahren. Bei sehr niedrigen Werten kann es außerdem zu einer Überschätzung der GFR kommen. Im Internet finden sich mehrere Kalkulationstools zur noch schnelleren Übersicht.
119
GFR [ml/min/1,73m2] = 175 x (SKrea)- 1,154 x (Alter)-0, 2o3 x 0,742 (Frauen) Abb. 5: MORD-Formel zur Berechnung der GFR
GFR SKrca
= Glomeruläre Filtrationsrate = Serumkonzentration Kreatinin
Als weitere Methoden steht neben dem direkten Vergleich von Urin- und Serumosmolarität zur Beurteilung der Konzentrationsfähigkeit der Niere auch die Ermittlung der fraktionellen Natriumextraktionsrate zur Verfügung (Abb. 6). Beide Verfahren erlauben aber nur eine grobe Beurteilung der komplexen Transportvorgänge am Tubulus-Sammelrohrsystem [15] und die Bestimmungen sollten vor einer etwaigen Diuretikagabe erfolgen. Die Messung der fraktionellen Harnstoffextraktionsrate hat den Vorteil, dass die Harnstoffkonzentration im Urin im Gegensatz zur Natriumkonzentration nur unwesentlich durch die Gabe von Diuretika beeinflusst wird. Die genannten fraktionellen Extraktionsmessungen sind auch eine Hilfe bei der Beurteilung, ob ein Volumendefizit vorliegt.
X 100
FEurea =
Uurea X P Krea p Urea X UKrea
X 100
Abb. 6: Berechnung der fraktionellen Natrium- bzw. Harnstoffextraktionsrate
FENabzw. Urea UNabzw. Urea PNabzw. Urea UKrca PKrea
= Fraktionelle Natrium- bzw. Harnstoffextraktionsrate = Urinkonzentration Natrium bzw. Harnstoff = Plasmakonzentration Natrium bzw. Harnstoff = Urinkonzentration Kreatinin = Plasmakonzentration Kreatinin
Ist die fraktionelle Harnstoffexkretionsrate kleiner als 35% liegt sehr wahrscheinlich ein prärenales Nierenversagen mit Retention von Natrium und damit auch von Wasser bei einem Volumenmangel vor. Eine Fraktion größer als 35% spricht für ein renales Versagen mit verminderter Konzentrationsfähigkeit [16]. Bei allen Patienten mit akuter Nierenschädigung sollte die Volumenstatusbeurteilung durch ein erweitertes hämodynamisches Monitoring verbessert werden. Manche neuere Arbeiten wie auch eine aktuell veröffentlichte Metaanalyse [26] beurteilen den zentralen Venendruck (ZVD) als eher verzichtbaren Parameter. Da er jedoch leicht zu messen ist und gerade in der Verlaufskontrolle Therapieentscheidungen erleichtern kann, hat sich dieser Verzicht noch nicht allgemein durchgesetzt. Zudem hat der ZVD eine zentrale Stellung bei Therapieentscheidungen gemäß der weiterhin aktuellen ,,Early goal-directed therapy" [36] und findet Eingang in derzeit gültige Leitlinien zur Herz-Kreislauf-Therapie. Die Volumensteuerung ist keine Indikation zur Anlage eines pulmonalarteriellen Katheters (PAK) [12], und es gibt auch keine Empfehlung zum Einsatz bei Patienten im septischen Schock [2]. Bessere Ergebnisse bringen Ansätze der volumenmessbasierten Flüssigkeitstherapie, wie z.B. unter Verwendung des PICCO®-Systems [14] oder auch der Echokardiografie.
120
Prävention Grundvoraussetzung für die glomeruläre Filtration ist die Aufrechterhaltung eines ausreichend hohen arteriellen Mitteldrucks. Dieser sollte 65 mm Hg nicht unterschreiten. Bei älteren Patienten werden leicht höhere Werte von 70 mm Hg empfohlen. Ein weiteres Anheben des arteriellen Mitteldrucks auf Werte von 85 mm Hg brachte aber keinen Vorteil [9]. Kann ein ausreichender arterieller Mitteldruck durch die Volumentherapie nicht erzielt werden, ist der Einsatz von Katecholaminen gerechtfertigt. Bei einem kardial bedingten Low-output-Syndrom sollte zunächst mit Dobutamin behandelt werden. Bei septischen Patienten führt Noradrenalin zu einer Normalisierung des pathologisch erniedrigten Gefäßtonus' und hat, eine ausreichende Volumengabe vorausgesetzt, eine Verbesserung der Nierenfunktion bei diesen Patienten zur Folge [1]. Doparnin gilt heute als obsolet [16]. Vor einem unkritischen Vasopressoreinsatz mit Maskierung eines intravasalen Volumenmangels muss jedoch gewarnt werden [18]. Eine adäquate Injusionstherapie sollte immer zielgerichtet und individuell angepasst sein. Ein Flüssigkeitsmangel muss dabei immer mit kristalloiden lnfusionslösungen (Vollelektrolytlösungen!) ausgeglichen werden. Auf ,,(un)physiologische" isotone Kochsalzlösung als Basis einer Infusionstherapie sollte wegen der Gefahr der hyperchlorärnischen Azidose verzichtet werden. Die Hyperchlorämie führt zu renaler Vasokonstriktion und Suppression der Renin-Aktivität mit folgender Abnahme der GFR und damit zur Nierendysfunktion. Bei einem (akuten) Volumenmangel ist auch der Einsatz von kolloidalen Volumenersatzmitteln angezeigt. Hier scheint ein Vorteil für moderne HAES-Präparationen (130/0,4) nach Nutzen-Risiko-Profil zu bestehen. Die in der VISEP-Studie [10] erhobenen Daten - in der HEAS-Gruppe waren vermehrt Niereninsuffizienzen zu verzeichnen - sind für diese Lösungen nicht übertragbar, da das Studienprotokoll ältere HAES-Präparationen (200/0,5) forderte und es zudem zu erheblichen Dosisüberschreitungen kam. Ein balanciertes lnfusionsprograrnm mit Vollelektrolytlösungen und dem differenzierten und gezielten Einsatz von modernen HAES-Präparationen bei akuten Volumenmangelzuständen ist nierenprotektiv. Der unkontrollierte und hochdosierte Einsatz von Diuretika wird in der Intensivmedizin zunehmend kritisch gesehen. In der Henleschen Schleife führen die sog. Schleifendiuretika (z.B. Furosemid) zu einer Verhinderung der Natriumrückresorption und damit zu einer Zunahme der Diurese. Die Diuretika haben dabei aber keinerlei Einfluss auf die glomeruläre Filtrationsrate, sodass bei ausbleibendem Diureseanstieg ihr weiterer Einsatz nicht sinnvoll ist. Es kann schließlich nur „vor Rückresorption bewahrt" werden, was vorher glomerulär filtriert wurde! Durch die Gabe von Diuretika kann ein akutes Nierenversagen nicht verhindert werden, ganz im Gegenteil wird über eine mortalitätssteigernde Wirkung bei Patienten mit einer akuten Nierenschädigung berichtet [31]. Unbedingt unterbleiben muss der Diuretikaeinsatz bei hypovolämen Patienten, da es über Abfall des Mitteldrucks zur Abnahme der GFR und damit zur Nierenschädigung kommt. Zu den nephrotoxischen Substanzen zählen z.B. einige Antibiotika (z.B. Aminoglykoside), Kontrastmittel und Vertreter der nichtsteroidalen Antiphlogistika. Bei eingeschränkter Nierenfunktion sollte möglichst auf diese Substanzen verzichtet werden. Wenn Kontrastmittel verabreicht werden müssen, sollte die Dosis auf ein Mindestmaß beschränkt werden und der Patient gut hydriert sein. Neben der großzügigen Volumengabe vor Kon121
trastmittelexposition ist der protektive Wert von höher dosiertem Acetylcystein (ACC) über vasodilatierende, damit die Nierenperfusion steigernde und antioxidative Wirkungen beschrieben [5]. Da die Substanz in Dosierungen von 1200 mg vor und nach der Kontrastmittelexposition und für weitere 2 Tage jeweils einmal intravenös verabreicht keine gravierenden Nebenwirkungen aufweist und zudem nicht sehr kostenintensiv ist, kann ihr Einsatz trotz nicht abschließender Bestätigung der Wirksamkeit empfohlen werden [16]. Viele Medikamente müssen mit ihrer Dosis an das Maß der Niereninsuffizienz angepasst werden. Erfolgt dies nicht, kommt es nach Kumulation zu toxischen Effekten. Nicht deutlich ist der Einfluss der ACE-Hemmer. Haben diese Substanzen in der Langzeittherapie über ihre blutdrucksenkende Wirkung einen nierenprotektiven Effekt, ist ihre Wirkung z.B. perioperativ bei kardiochirurgischen Patienten nicht abschließend geklärt. Es existieren Daten zu protektiven [7] und schädigenden Einflüssen [3] auf die Nierenfunktion. Selbst die stabile Führung des Blutzuckers hatte in der VISEP-Studie [10] einen protektiven Einfluss auf die Nierenfunktion und so scheint die Blutzuckereinstellung unter Vermeidung von Hyper- und Hypoglykämie ebenfalls ein für das Organ Niere wichtiger Parameter zu sein. In letzter Zeit häufen sich Berichte über neue Substanzen, die eventuell zur medikamentösen Behandlung einer akuten Nierenschädigung eingesetzt werden könnten. Veröffentlichungen zu Nesiritide [28] (recombinantes BNP (Brain Natriuretic Peptide) und eine kürzlich erschiene Metaanalyse zum Doparnin Rezeptor-1 Agonist Fenoldopam [5] mit vor allem renal vasodilatierender Wirkung geben Hoffnungen auf eventuell neue Therapieansätze. Bei kardiochirurgischen Patienten mit vorbestehender Nierenfunktionsstörung konnte der protektive Effekt von Fenoldopam ebenso wie von Acetylcystein nachgewiesen werden [5].
Nierenersatztherapie Seit vielen Jahren hat sich die kontinuierliche Nierenersatztherapie als schonendes Behandlungsverfahren für kritisch Kranke entwickelt. Arterio-venöse Behandlungsformen wurden durch sichere, pumpengestützte, veno-venöse Therapieformen abgelöst. Die ,,Kontinuierliche Veno-Venöse Hämodialyse" (CVVHD), die „Kontinuierliche VenoVenöse Hämofiltration" (CVVH) oder die Kombination beider Verfahren als „Kontinuierliche Veno-Venöse Hämodiafiltration" (CVVHDF) verbinden heute die Vorteile der Kontinuität mit einer hohen Effektivität und sind durch moderne Geräte mit aufwändigen Bilanz- und Überwachungstools sicherer geworden und im breiten Einsatz in der Intensivmedizin. Bei einer intermittierenden Behandlung kommt es zwangsläufig zu einer sägezahnförmigen Schwankung der Retentionswerte mit all ihren Nachteilen für den Patienten (Dysäquilibriumsyndrom) und die Hämodynamik wird durch die begrenzte Behandlungsdauer, die für den notwendigen Flüssigkeitsentzug zur Verfügung steht, erheblich gestört. Somit sollten behandlungsfreie Intervalle umso kürzer gewählt werden, je instabiler der Patient ist. Wenn nicht die Möglichkeit einer kontinuierlichen Behandlung besteht, profitieren die Patienten von einer täglichen Dialysebehandlung, da nachweislich die Wiederherstellung der Nierenfunktion schneller zu beobachten ist und die Patienten hämodynamisch stabiler sind [39]. 122
Die Vorteile der kontinuierlichen Behandlung scheinen bei insgesamt wenigen Nachteilen, wie z.B. Immobilisation und Antikoagulation, deutlich zu überwiegen. Vor allem die kreislaufstabilisierende Wirkung ist seit langem bekannt [33] und wiederholt beschrieben worden. In jüngster Zeit konnten in einer Multizenterstudie [42] jedoch keine Vorteile für die kontinuierliche Behandlung von kritisch Kranken mit hohem Schweregrad des Multiorganversagens herausgearbeitet werden. In dieser Studie wurde in der Gruppe der intermittierenden Behandlung aber sehr sorgfältig auf eine möglichst schonende Behandlung Wert gelegt (isovolärnische Anlage, gekühltes Dialysat und intensives Personaltraining). Neuere Behandlungsverfahren, wie die „Slow Low Efficiency Daily Dialysis" (SLEDD) sind ein Kompromiss zwischen kontinuierlichen und Kurzzeitverfahren, ebenso effektiv wie diese und bieten den Patienten Vorteile durch die länger mögliche Behandlungszeit. In einem Zentrum ist bei häufigem Einsatz der Nierenersatztherapie das SLEDD-Verfahren eine gute Alternative, da nach zunächst hohen Anschaffungskosten die folgenden Betriebskosten durch Wegfall der Dialysat- und Ablaufbeutel niedriger sind. Zu bedenken ist aber, dass nur eine Dialysebehandlung mit diesem System möglich ist und keine Hämofiltration. Nur letztere erlaubt auch eine effektive Elimination von höhermolekularen Substanzen. Nachdem es bislang nicht gelungen ist zu beweisen, dass eine effektive Mediatorenelimination in der Sepsis zu einer Stabilisierung des Patienten führt und viele Molekulargewichte der in Betracht kommenden Moleküle weit über dem Cut-off-Wert der heute eingesetzten Filtermembranen (ca. 40 kD) liegen, ist aber ein hoher Hämofiltrationsanteil bei septischen Patienten weiterhin eine Rationale. Veröffentlichungen zu Studien und Fallberichten mit neuen „Super-highflux-Filtern" (Cut-off-Wert bei ca. 100 kD) wie z.B. bei Rhabdomyolyse [34] sind vielversprechend und es bleibt abzuwarten, ob mit diesen Membranen der Anteil der Hämofiltration bei septischen Patienten neu zu bewerten ist, da auch über eine deutliche Mediatorenelimination berichtet wird [41]. Zur Dialysedosis gibt es keine Richtlinien, auch wenn gezeigt werden konnte, dass bei zu geringer Dosis die Mortalität deutlich höher liegt. Üblich sind derzeit 35 ml/kg KG/Std .. Diese Daten beruhen auf der im Jahr 2000 publizierten RONCO-Studie [37], die als prospektive Multicenterstudie einen Mortalitätsrückgang durch Steigerung des Filtrationsvolumens von 20 auf 35 ml/kg KG/Std. nachweisen konnte. Eine weitere Steigerung des Umsatzes auf 45 ml/kg KG/Std. brachte keinen weiteren Vorteil. Vergleichende Untersuchungen konnten diese Daten aber nicht bestätigen [8]. Die Letalität lag bei diesen Untersuchungen jedoch mit 25% weit unter der der o.g. Ronco-Studie, die mit > 50% Letalität wesentlich kränkere Patienten eingeschlossen hatte. Die eingesetzten Dialyse- und Hämofiltrationslösungen sollten im Bereich der Intensivmedizin bikarbonat-gepuffert sein, da für diese eine deutlich bessere Kreislaufstabilität nachgewiesen werden konnte [4] und der Lactatmetabolismus bei Leberinsuffizienz eingeschränkt ist. Der Kaliumgehalt der Lösungen muss individuell angepasst werden. Man sollte kaliumarme Lösungen bevorzugen, die dann auf den gewünschten Wert eingestellt werden können. Nur so hat man bei Patienten mit einer Hyperkaliärnie auch die Möglichkeit, schnell mit den vorhandenen Lösungen zu therapieren. Mehrere Hersteller bieten Katheter zu extrakorporalen Eliminationsverfahren an. Diese
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Katheter sollten Blutflüsse von mindestens 200 ml/min zulassen und werden am häufigsten als Doppellumenkatheter eingesetzt. Modeme Oberflächenbehandlungen einschließlich antimikrobieller Beschichtungen verringern thrombotische Ablagerungen und die Ausbildung von Biofilmen und lassen bei streng aseptischem Umgang lange Liegezeiten zu. Als Zugangsweg ist der über die Vena jugularis intema rechts wegen des geraden Katheterverlaufs in die obere Hohlvene zu bevorzugen. Auch ist die Anlage über die V. subclavia möglich (besser links als rechts bei nicht so engem Gefäßbogen). Wegen erhöhtem Thrombose- und Infektionsrisikos sollte man auf den Zugang über die Venae femoralis nur im Notfall zurückgreifen [29]. Bei unzureichenden Flüssen durch Ansaugen des Katheters an die Gefäßwand werden in der täglichen Routine häufig die Katheterschenkel getauscht. Dies führt aber zu einer deutlichen Zunahme der Rezirkulation bis zu 40% und die Effektivität des Verfahrens nimmt deutlich ab. Besonders gravierend ist dieser Effekt bei Anlage des Katheters über die Vena femoralis, da hier der venöse Blutfluss zudem niedriger ist [23; 25]. Um ein frühes Clotting des Systems zu vermeiden, müssen hohe Blutflüsse gewählt werden, und die Hämofiltration sollte als Prädilutionsmethode eingesetzt werden. Nur so kann ein übermäßiger Hämatokritanstieg im Filter vermieden werden bei nur mäßigem Effektivitätsverlust des Verfahrens. Durch den Kontakt mit Fremdoberflächen wird bei allen extrakorporalen Verfahren eine Antikoagulation zumindest des extrakorporalen Kreislaufs notwendig. Am häufigsten wird nach wie vor unfraktioniertes Heparin eingesetzt. Vorteile sind die einfache Steuerung über PTf und ACT, die gute Antagonisierbarkeit mit Protamin und das günstige Preis-Leistungs-Verhältnis. Ein bekanntes Problem ist die Heparin-induzierte Thrombozytopenie (HIT), die bei Auftreten zu einer alternativen Antikoagulation zwingt. Prostazyklin hemmt sehr wirkungsvoll und mit sehr kurzer Halbwertzeit die Thrombozytenfunktion, ist aber wegen Hypotoniegefahr und aus Kostengründen im alleinigen Einsatz nicht zu empfehlen. Niedrig dosiert in Kombination mit Heparin sind ein „Thrombozytensparender Effekt" und längere Filterstandzeiten beschrieben [21].
In der täglichen Routine ist der Einsatz von Hirudin wegen des deutlich erhöhten Blutungsrisikos nicht zu empfehlen. Der Umgang mit dieser alternativen Antikoagulation erfordert sehr viel Erfahrung, da ein Antidot nicht zur Verfügung steht. Bei blutungsgefährdeten Patienten ist eine regionale Antikoagulation nur des extrakorporalen Kreislaufs zu erwägen. Der kombinierte Einsatz von Heparin und Protamin hat sich bei der kontinuierlichen Nierenersatztherapie nicht durchgesetzt, da dieses System sehr instabil ist und Protamin selbst dosisabhängig antikoagulatorische Eigenschaften besitzt. Sehr lange Filterstandzeiten erlaubt die regionale Antikoagulation mit Zitrat. Durch Zitrat wird Kalzium im extrakorporalen Kreislauf als Chelat gebunden und der Abfall des ionisierten Kalziums führt zu einer effektiven Antikoagulation. Ein Großteil des an Zitrat gebundenen Kalziums wird über die Dialyse oder Hämofiltration eliminiert und muss dem Patienten wieder zugeführt werden. Der Anteil des dem Patienten mit dem System infundierten Zitrats wird in der Leber zu Bicarbonat metabolisiert und das Kalzium wieder frei gesetzt. Dieses sehr komplexe System braucht sehr viel Verständnis vom Anwender, da beispielsweise jede Änderung des Blutflusses auch eine Änderung des Zitratflusses und der Kalziumsubstitution nach sich ziehen muss. Es existieren verschiedene Ansätze zur Zitratantikoagulation. Neue Systeme versuchen, die komplexe Steuerung für den Anwender einfacher zu machen. Dieses System wird im Vortrag eingehend erläutert, da es sich als alternatives Behandlungskonzept mehr und mehr durchsetzt. 124
Einen Konsens, bei welchen Retentionswerten mit einer Nierenersatztherapie begonnen werden sollte, gibt es bislang nicht. Immer mehr Fakten sprechen aber für einenfrühzeitigen Therapiebeginn und mit ausreichend hoher Intensität. Bei kritisch Kranken sollte eine kontinuierliche Behandlung als CVVHDF [38] oder die intermittierende Behandlung - dann aber täglich und schonend - durchgeführt werden. Letztlich aber sollte auf einer Intensivstation immer das Verfahren zum Einsatz kommen, mit dem ein hohes Maß an Erfahrung vorliegt [20].
Literatur
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Endokrine Störungen beim lntensivpatienten BJÖRN ELLGER
Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin des UKM Einleitung Mit den klassischen endokrinen Syndromen wird der Intensivmediziner selten konfrontiert, da sie nur in Einzelfällen eine Therapie auf der Intensivstation erfordern. In den letzten Jahren rückten Veränderungen der endokrinen Regulation, die konsekutiv im Rahmen verschiedener Grunderkrankungen extra-endokrinen Ursprungs auftreten, zunehmend in den Brennpunkt intensivmedizinischen Interesses (1). Diese Veränderungen werden als bedeutend für die Entwicklung des Multiorganversagens kritisch kranker Patienten angesehen, Veränderungen der endokrinen Regelkreise können also gleichzeitig Ursache und Folge von lebensbedrohlichen Krankheitsbildern sein. Da es schwer abzuschätzen ist, welche Facette der endokrinen Veränderungen positiv und welche negativ für das Überleben schwerer Erkrankungen sind, müssen Interventionen in endokrine Regelkreise mit großer Vorsicht erfolgen. Akute und prolongierte Phase kritischer Krankheit Wesentlicher Bestandteil der akuten Reaktion des Körpers auf eine Krankheit oder ein Trauma ist eine hyperkatabole Stoffwechsellage, die zur vermehrten Bereitstellung von energiereichen Substraten (Glukose, freie Fettsäuren, Aminosäuren) aus körpereigenen Depots für das Aufrechterhalten vitaler Organfunktionen führt. Die Reaktion verläuft weitgehend uniform und unspezifisch bei verschiedenen Grunderkrankungen und ist durch die Nahrungsaufnahme kaum zu beeinflussen. Im Lauf der Evolution als positiv für das Überleben selektionierte Veränderungen verschiedener endokriner Regelkreise verursachen und unterhalten diese metabolische Facette der „akuten Stressreaktion". Die moderne Intensivmedizin ermöglicht das Überleben schwerer Erkrankungen oder Verletzungen, die noch vor wenigen Jahren tödlich verlaufen wären. Die hyperkatabole Stressreaktion der akuten Stressreaktion persistiert, wenn eine intensivmedizinische Behandlung über eine längere Zeit (5-7 Tage) notwendig wird und bedingt einen auch durch Ernährung kaum zu beeinflussenden, fortschreitenden Verlust von Körpersubstanz, der wiederum weitere Organdysfunktionen oder eine ausbleibende Erholung von Organsystemen nach sich zieht. Die endokrinen Anpassungsreaktionen in dieser „prolongierten Krankheitsphase" unterscheiden sich charakteristisch von denen der akuten Phase (Abbildung 1). Die prolongierte Phase unterlag nicht dem Evolutionsdruck und muss daher nicht zwingend als positiv für das Überleben angesehen werden. Besonders Dysregulationen des Blutzuckerspiegels und der Hypophysen-HypothalamusAchse sind intensivmedizinisch relevant; die Insuffizienz der hypothalarnischen Regulation erscheint als endokrine Facette des Multiorganversagens (2). Die Ursache dieser lntensivtherapie-assoziierten Endokrinopathie ist bis dato nicht bekannt. Es wird aber vermutet, dass unter anderem iatrogene Einflüsse durch Pharmaka (z.B. durch Doparnin, Etomidate, Ketokonazol), die zur Unterdrückung einer physiologischen Hormonregulation führen, eine entscheidende Rolle spielen (3).
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Akute Phase Releasinghormone TSH GH ACTH FSH/LH Prolaktin T3 T4 rT3 IGF-1 IGFBP-3 GHBP Kortisol Testosteron Insulin
Prolongierte Phase
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Hypothalamus
t= t t t= t
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Hypophyse
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!! ! t= !! ! t t=! !! t=
Periphere Hormone
Abbildung 1: Biphasischer Verlauf von Serurnspiegeln verschiedener Hormone im akuten und prolongierten Krankheitsverlauf (TSH: Thyreotropin, GH: Wachstumshormon, ACTH: Adrenokortikotropes Hormon, FSH: Folikel Stimulierendes Hormon, LH: Luteinisierendes Hormon, T3: Trijodthyronin, T4: Thyroxin, rT3: reverses T3, IGF-1: Insulin-Like-Growth-Factor, IGFBP-1 : IGF-bindendes Protein, GHBP: GH-bindendes Protein)
Entgleisung des Blutzuckers (BZ) als Ursache einer akuten Erkrankung Entgleisungen des BZ fallen vor allem durch neurologische und gastrointestinale Symptome sowie eine Polyurie auf. Die Diagnose kann schnell durch die BZ-Messung gestellt werden; Ketonkörper, Elektrolytentgleisungen und Hyperosmolalität komplettieren die Diagnostik. Die Therapie der ketoazidotischen oder hyperosmolaren Form der Hyperglykämie erfolgt durch Flüssigkeitstherapie (häufig mehr als 3 Liter, cave: Urinproduktion gibt aufgrund der osmotischen Diurese keinen Hinweis auf den Volumenstatus!!!), vorsichtiges Ausgleichen von Elektrolytentgleisungen (cave: ReboundHyperkaliämie) und intravenöse Insulinzufuhr (Bolus 0,15 iU/kg Altinsulin iv, dann kontinuierliche Insulininfusion 0,1 iU/kg/h. Angestrebt wird ein BZ-Abfall von 50 bis 75 mg/dl pro Stunde, ab BZ 250 mg/dl kontinuierliche Glukoseinfusion). Es muss unbedingt bedacht werden, dass ein zu schneller Ausgleich von BZ, Elektrolyten und Osmolalität zum Hirnödem führen kann. Die Azidose gleicht sich meist in Folge der BZ-Normalisierung und Flüssigkeitstherapie aus, Puffern sollte allenfalls bei extremer Azidose (pH 5 mmol/1 (mit korrespondierendem Basendefizit > 5 mmol/1) belegt eine insuffiziente Gewebeperfusion und/oder schwere Störung der Leberfunktion mit konsekutiv erhöhter Mortalität. Bei schwer gestörter Gewebeperfusion kann initial eine normale Konzentration vorliegen, ehe in der Reperfusionsphase pathologische Werte auftreten. • Bestimmung der CK und CK-MB im Plasma zur Beurteilung des Muskelschadens . • Bestimmung weiterer organspezifischer Plasma-Parameter wie GPT (ALT), Kreatinin, !so-Amylase, Lipase und Troponin. • Bestimmung der Blutalkohol-Konzentration, Drogenscreening, Hepatitis- und HIVSerologie. Die reibungslose Zusammenarbeit im Team trägt wesentlich zum Behandlungserfolg bei; klare Absprachen sowie enge und kollegiale Zusammenarbeit sind unverzichtbar. Ein Teamkoordinator sorgt für den reibungslosen Ablauf; er darf den Patienten nicht verlassen und sichert die Kontinuität.
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Intensivmedizinische Grundversorgung Allgemeine Aspekte
Einschätzung der Prognose Tobiasen et al. [51] haben im Jahr 1982 unter Auswertung von insgesamt 1.352 Patienten den „Abbreviated Burn Severity Index" (ABSI) entwickelt und validiert. In die Bewertung gehen Geschlecht (Männer 0, Frauen 1 Punkt), Alter (1 - 5 Punkte), ein Inhalationstrauma (1 Punkt), eine drittgradige Verbrennung (1 Punkt) und die VKOF (1 - 10 Punkte) ein. Als schwer lebensbedrohlich (Überlebenswahrscheinlichkeit 50 - 70 %) wurde ein Wert von 8 - 9 Punkten ermittelt. Andere Autoren betonten die Bedeutung von Alkoholund Nikotin-Abusus, vorbestehenden kardialen und neurologischen Befunden [52] sowie von pulmonalen, renalen und endokrinologischen Vorerkrankungen [53]. Der ABSI wird unverändert benutzt; seine Bedeutung beruht jedoch nicht auf den - nur zeitbedingt gültigen und durch verbesserte therapeutische Möglichkeiten veränderten - absoluten Werten der Überlebenswahrscheinlichkeit, sondern auf der Identifizierung der führenden Risikofaktoren. In der Gesamtschau sind dies VKOF, Alter und Inhalationstrauma [54], während eine Selbstschädigung das Risiko nicht erhöht [5]. Die sichere Einschätzung der Prognose ist nur selten möglich - neben der VKOF (zweitund höhergradig) gehen zahlreiche weitere Faktoren wie Alter, Inhalations- oder Kombinationstrauma sowie einschlägige Vorerkrankungen (COPD, koronare Herzkrankheit, verminderte Immunkompetenz usw.) in die Bewertung ein. Wesentliche Risiken und allgemeines Vorgehen Der intensivmedizinische Verlauf des Schwerbrandverletzten erscheint in seinen Grundzügen zunächst vorhersehbar und entspricht - stark vereinfacht - einem im Zeitraffer ablaufenden Sepsisgeschehen. Auf diesen grundsätzlichen Verlauf wirken jedoch immer wieder gravierende zusätzliche Noxen und Einflüsse ein. Dazu zählen insbesondere: • Die durch lokale und generalisierte Ödeme erschwerte Atemwegssicherung mit der Gefahr der Asphyxie, • eine instabile Kreislaufsituation mit einem innerhalb weniger Stunden stark wechselnden Infusionsbedarf, • wiederholte ausgedehnte und zeitaufwändige chirurgische Versorgungen mit erheblichen Risiken für Kreislauf und Temperaturerhalt (daher Aufheizen von Intensivbox und OP), • jederzeit drohende septische Einschwemmung über die verletzte Haut oder Katheter usw. Diese Situation erfordert größte Aufmerksamkeit sowie hohe personelle Präsenz und Konstanz. Die therapeutischen Entscheidungen beruhen vielfach auf Erfahrung; das Evidenzniveau ist nur gering. Insgesamt orientiert sich das Vorgehen - bei allen Abweichungen im Einzelfall - jedoch grundsätzlich an den gültigen Leitlinien zur Therapie der Sepsis [55, 56]. Die gewissenhafte tägliche körperliche Untersuchung des Patienten von Kopf bis Fuß, die sorgfältige Auswertung aller technischen Befunde, das kritische Überdenken der Medikation sowie der Notwendigkeit und Liegezeit von Gefäßzugängen und anderen invasiven Maßnahmen (was kann weggelassen oder entfernt werden?) und die Festlegung von Tageszielen - in einer gemeinsamen Visite des ärztlichen und Pflegedienstes - sind unverzichtbar (Abb. 4).
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Medizinische Hochschule Hannover l 30°
2. Erhöhtes gastrointestinales Volumen Magenatonie Darmatonie/Ileus Pseudoobstruktion des Colons 3. Erhöhtes intraabdominales Volumen Hämoperitoneum / Pneumoperitoneum Aszites / Leberfunktionsstörung 4. Kapillarleck / hohe Volumensubstitution Polytrauma / Verbrennungen Azidose (pH < 7.2) Hypotension/ prolongierter Schock Hypothermie (Körperkerntemperatur < 33°C) Massivtransfusion (> 10 Blutkonserven in 24h) Koagulopathie (Thrombozyten < 50.000 Gpt/L Prothrombinzeit (Pf)> 15 sec partielle Thromboplastinzeit (aPTf) > 2 fach internationale standardisierte Ratio (INR) > 1.5) massive Volumensubstitution > 5L / 24h Pankreatitis Oligurie Sepsis Darnage Control Laparotomy
oder
oder oder
Tabelle 1: Risikofaktoren für die Ausbildung einer intraabdominellen Hypertonie (lAH) oder eines abdominellen Kompartmentsyndroms (ACS) [26]
Definitionen und Einteilungen Intraabdominelle Hypertonie (IAH): Der in der Bauchhöhle unter physiologischen Bedingungen und in Ruhe vorliegende intraabdominelle Druck (IAP) liegt unterhalb 5mmHg und schwankt atemabhängig (27, 28]. Eine IAH wird als eine anhaltende intraabdominelle Druckerhöhung von~ 12mmHg in verschiedenen Schweregraden definiert (Tabelle 2). Abdomineller Perfusionsdruck (APP): In Analogie zur Berechnung des intrakraniellen Perfusionsdrucks (CPP) wird der abdominelle Perfusionsdruck zur Beschreibung der Organdurchblutung herangezogen und durch Subtraktion des IAP vom mittleren arteriellen Blutdruck (mean arterial pressure; MAP) kalkuliert:
APP = MAP - IAP (29, 30] Patienten mit einem erhöhten IAP und ggf. noch einem erniedrigten MAP stehen unter dem Risiko ein ACS zu entwickeln und sollten einem regelmäßigen Monitoring des IAP untenogen werden (31, 32]. Die Prävalenz eines ACS wird mit ca. 8% angegeben. Abdominelles Kompartmentsyndrom (ACS): Dieser Begriff, der in Analogie zum Kompartmentsyndrom der Extremitäten oder auch des Schädels geprägt wurde, resultiert aus einen kritisch niedrigen Perfusionsdruck (s.u.), der unterhalb der Organperfusion liegt und zur Dysfunktion oder Versagen der abdominellen Organe führt. Die Diagnose ACS sollte gestellt werden, wenn bei dreimaliger Druckmessung im Abstand von je einer Stunde der IAP ~ 20 mmHg beträgt und zusätzlich eine neu aufge200
tretene Dysfunktion eines oder mehrerer Organsysteme vorliegt (Tabelle 2). In diesem Fall sollte die mögliche Ursache des ACS identifiziert und geklärt werden [31, 32). Schweregrad
Intraabdomineller Druck
Grad I
IAP 12- 15 mrnHg
Grad II
IAP 16-20 mrnHg
Grad III
IAP 21 - 25 mrnHg
Grad IV
IAP 2e: 25 mrnHg
ACS
IAP > 20 mrnHg + neues Organversagen
Tabelle 2: Schweregrade der intraabdominellen Hypertonie und des abdominellen Kompartmentsyndroms [26]
Die intraabdominelle Druckerhöhung kann in eine direkte oder indirekte IAH eingeteilt werden. Der IAP wird direkt durch das Volumen der intraabdominellen Organe oder durch raumfordemde intraabdominelle Flüssigkeit beeinflusst. Eine indirekte Drucksteigerung wird durch Krankheitszustände verursacht, die zu einer Verminderung der Rumpfwandcompliance führen (z.B. Verbrennungswunden, großflächiger Wundschorf, abdominale Wandödeme). Hinsichtlich der zeitlichen Entstehung und der Dauer kann in eine hyperakute, akute, subakute oder chronische IAH eingeteilt werden. Bei sportlicher Betätigung, Husten, Lachen oder der Defäkation kann der intraabdominelle Druck hyperakut für Sekunden oder Minuten hohe Spitzenwerte ohne Krankheitswert erreichen. Relevant sind intraabdominelle Druckanstiege, die sich akut innerhalb von Stunden z.B. durch Blutungen aber auch iatrogen durch Tamponaden oder subakut innerhalb von Tagen z.B. durch intraabdominelle Flüssigkeitsverschiebungen aufgrund eines Kapillarlecks entwickeln können. Bei intraabdominellen Druckanstiegen, die über Wochen bis Monate, z.B. in der Schwangerschaft, bei Adipositas, großen abdominellen Tumoren oder bei Aszites entstehen, können sich die Organsysteme adaptieren. Eine akute Exazerbation ist jedoch möglich [33). Bei Ausbildung eines ACS wird unter Berücksichtigung der kausalen Ursache zwischen einem primären, sekundären oder tertiären ACS unterschieden. Das primäre ACS ist ein Zustand, welcher direkt mit Verletzungen oder Erkrankungen des Abdomens oder des Beckens assoziiert ist. Das sekundäre ACS ist auf Erkrankungen zurückzuführen, welche ihren Ursprung außerhalb der abdomino-pelvinen Region haben [34). Nach Behandlung eines primären oder sekundären ACS wird ein erneut auftretendes ACS als rezidivierendes, rekurrentes oder tertiäres ACS bezeichnet und ist mit einer besonders hohen Mortalität belastet [32). Pathophysiologische Einflüsse Die gesteigerten intraabdominellen Drücke führen zu einer Kompression des gesamten intraabdominellen und retroperitonealen Gefäßsystems. Initial kommt es zu einer venösen und portalvenösen Stase mit vermehrter Flüssigkeitssequestration und mit progredientem Anstieg des Druckes zur Beeinträchtigung der arteriellen Perfusion. Die Einschränkung der Nierenfunktion ist häufig die erste, auf einen erhöhten IAP folgende Organdysfunktion [3, 35, 36). Eine neu auftretende Oligurie oder Anurie trotz scheinbar suffizienter Volumentherapie sind typische Zeichen eines ACS [26). Fortschreitende Gewebshypoxien mit möglicher Nekrosebildung betreffen vor allem den Darm [37) und die Leber [35). Es kommt zur Gewebsazidose und Liberation von Zytokinen und Mediatoren, welche die Basalmembran schädigen und ein Fortschreiten der lnflammation und des Kapillarlecks induzieren. So wird ein Circulus vitiosus initiiert, der im Multiorganversagen endet [38, 39). Durch den erhöhten IAP kommt es zu einem kranialen Zwerchfell-Shift. Die direkte Kompression des Lungenparenchyms führt zur Reduktion des Residualvolumens und der 201
funktionellen Residualkapazität. Die Folgen sind Kompressionsatelektasen mit Ventilations-Perfusions-Missverhältnis und Hypoxämie. Häufig werden oder sind diese Patienten beatmungspflichtig. Die dabei oft notwendigen hohen Beatmungs-Spitzendrücke sind Folge der reduzierten Gesamt-Compliance des respiratorischen Systems, bedingt insbesondere durch die reduzierte Thoraxwand-Compliance und zusätzlich reduzierte Compliance der atelektatischen Lunge [40-42]. Der Zwerchfellhochstand führt ebenfalls zur Verlagerung der Herzachse aus ihrer physiologischen Position. Alle drei Komponenten der Herzarbeit (Vorlast, Kontraktilität, Nachlast) werden durch die IAH beeinträchtigt. Der venöse Rückstrom zum Herzen ist bei erhöhtem intraabdominellen Druck kompressionsbedingt reduziert, sodass die Vorlast des Herzens sinkt. Folge ist eine Tachyardie, um bei erniedrigten Schlagvolumina das Herzzeitvolumen aufrechtzuerhalten. Der periphere Gefäßwiderstand steigt mit zunehmendem IAP an. Über längere Zeit wird dadurch der mittlere arterielle Druck unverändert aufrechterhalten. Durch die Transmission des IAP nach intrathorakal sind erhöhte zentralvenöse (CVP) und pulmonalarterielle Verschlussdrücke (PAOP) zu messen, welche den intravasalen Volumenstatus nicht korrekt widerspiegeln. Der Flüssigkeitsbedarf des Patienten kann dadurch unterschätzt werden. Der erhöhte pulmonalvaskuläre Widerstand und konsekutive pulmonale Hypertension führen zur rechtsventrikulären Belastung und Dilatation bei verminderter linksventrikulärer Vorlast. Erhöhter pulmonal- und systemischvaskulärer Widerstand stellen eine globale Nachlasterhöhung dar, welche bei vermindertem Sauerstoffangebot zur Myokardinsuffizienz führen kann [43-45]. Zunehmendes Kreislauf- und respiratorisches Versagen führen aufgrund der Verringerung des globalen Sauerstoffangebotes unweigerlich in das Multiorganversagen [41, 42]. Auch der intrakranielle Druck zeigt mit dem IAP gleichsinnige Veränderungen. Ein hoher IAP bewirkt über eine Beeinträchtigung des venösen Abstromes und Anstieg des zentralvenösen Druckes zunächst einen venösen Rückstau im Gehirn. Bei gleichzeitig reduziertem systemischen Blutdruck sinkt der zerebrale Perfusionsdruck (CPP) [46]. Flüssigkeitssequestration im Hirn, venöse Stase und reduzierter Perfusionsdruck können ein Hirnödem verursachen, welches den CPP weiter vermindert.
Diagnostik und Messmethoden Klinische Untersuchung Bei der klinischen Untersuchung imponiert das Abdomen aufgrund der häufig bis zur vollständigen Paralyse reduzierten Darmtätigkeit und der beschriebenen Flüssigkeitsverschiebungen ins Interstitium aufgetrieben und gespannt. Aber selbst für erfahrene Chirurgen ist es schwierig und unzuverlässig allein durch die Palpation des Abdomens die Diagnose einer IAH oder eines ACS zu stellen. Die Treffsicherheit der klinischen Diagnosestellung eines erhöhten IAP wird in der Literatur mit einer Sensitivität von nur 50% angegeben [16]. Intraabdominelle Druckmessung Eine frühzeitige Erfassung der IAH ist durch die intraabdominelle Druckmessung möglich. Sie ermöglicht eine zügige Intervention und ist zur Verlaufsbeurteilung und Therapiekontrolle geeignet. Eine zeitnahe Diagnosestellung bzw. Therapie kann die Mortalität kritisch Kranker senken (Abbildung 1) [32].
202
Screening
~
2 Risikofaktoren (siehe Tabelle 1) oder Progression oder neuaufgetretenes Organversagen
! 1Messung des intraabdominellen Druckes (IAP)
!
!
0 !
Patient hat IAH Schweregradeinstufung (sieh Tabelle 2)
Patient hat keine IAH
Management-Algorithmus IAH/ACS (sieh Tabelle 3)
Klinische Beobachtung Re-Check bei klinischer Verschlechterung
[Abbildung 1: Algorithmus zur Diagnosestellung der intraabdominellen Hypertonie und des abdominellen Kompartmentsyndroms (modifiziert nach Cheatham [26])]
In der klinischen Anwendung werden direkte von indirekten und kontinuierliche von diskontinuierlichen Messverfahren unterschieden. Bei der direkten, kontinuierlichen Messung erfolgt die Ermittlung des IAP über einen Druckabnehmer, welcher durch Punktion direkt in die Bauchhöhle eingeführt wird (Verres-Nadel, Katheter). Diese Art der Messung ist als bettseitiges Verfahren aufgrund der Invasivität risikobehaftet und wenig verbreitet. Es dient eher zur Druckmessung unter OP-Bedingungen, beispielsweise im Rahmen einer Laparoskopie. Bei der indirekten, non-invasiven Messung wird der IAP über einen Hohlorganzugang (Harnblase, Magen, Rektum, Uterus) gemessen. Verschiedene kontinuierliche bzw. diskontinuierliche Monitoringsysteme sind kommerziell erhältlich oder im Fall der Blasendruckmessung aus einem einfachen Druckwandlersystem selbst herzustellen (Abbildungen 2) [47). Die indirekte Messung des IAP über die Harnblase, die sogenannte intravesikale Druckmessung, gilt als Goldstandard der diskontinuierlichen Messverfahren.
[Abbildung 2: Bahnenbank-Meßsystem für die intravesikale IAP-Messung)
203
Unabhängig von der Art des genutzten Systems sollte die IAP-Messung unter standardisierten Bedingungen erfolgen [31]. Die vollständig entleerte Harnblase wird retrograd mit 25ml isotoner, steriler NaCl-Lösung gefüllt und der Druckabnehmer in der Medioaxillarlinie bei flacher Rückenlage des Patienten positioniert. Die Druckmessung erfolgt erst nach einer Äquilibrierungszeit von ca. 30-60 Sekunden nach Instillation der NaCl-Lösung um Fehlmessungen aufgrund einer kurzen reflektorischen Tonuserhöhung des M. detrusor vesicae zu vermeiden. Der IAP wird dann indirekt über die endexspiratorische Messung des intravesikalen Druckes in mmHg bestimmt [47]. Therapie Die IAH- und ACS-assoziierten Komplikationen führen zu einer Verlängerung der Intensiv- und Krankenhausaufenthaltsdauer sowie zu einem Anstieg der Morbidität und Mortalität. Eine frühzeitige Diagnosestellung und adäquate therapeutische Interventionen können die Häufigkeit dieser Komplikationen erheblich reduzieren [26, 31, 32, 48]. Auch bei Patienten mit einer IAH oder ACS sollte der APP über 50-60 mmHg betragen [26]. So wird in der „early goal directed therapy" der Sepsis ein mittlerer arteriellen Zieldruck (MAP) von mindestens 65 mmHg durch eine forcierte Korrektur des Volumenmangels angestrebt [49]. Einerseits führt eine exzessive Volumengabe bei Risiko-Patienten signifikant häufiger zu einer schweren IAH und gilt als ein unabhängiger Prädiktor für die Entwicklung eines ACS [50, 51]. Daher sollten hypertone kristalloide oder kolloidale Infusionslösungen [52] und Katecholamine [53] bei Patienten mit IAH oder sekundärem ACS bevorzugt eingesetzt werden. Andererseits wird ein MAP von 65 mmHg nicht für einen ausreichenden APP sorgen, wenn der IAP kritische Werte erreicht oder eine ACS vorliegt. Damit bleibt als kausaler Ansatz die Senkung des IAP. Als konservative Maßnahmen kommen eine suffiziente Analgosedierung ggf. unter Einbeziehung einer Epiduralanästhesie oder Muskelrelaxation [26, 54], Prokinetika-Gabe sowie nasogastrale und rektale Dekompression [55, 56], flache Rückenlage [31] oder Anhebung des kolloidosmotischen Druckes in Kombination mit Diuretika bzw. Nierenersatzverfahren [57] in Betracht. Die operative Dekompression stellt eine lebensrettende interventionelle Maßnahme dar. Sie ist bei einem gegenüber konservativen Therapiemaßnahmen refraktären ACS und einem neu aufgetretenen Organversagen indiziert [52]. Durch die Dekompressionslaparotomie entsteht die Situation eines Abdomen apertum, das durch einen temporären Wundverschluss unter Respektierung des intraabdominellen Volumengewinnes mit einem Folienverband oder einem Vakuum-assistierten Saugverband versorgt werden kann (Abbildung 3a, b) [53, 54]. Eine frühzeitige Intervention kann die Komplikationsrate und Letalität deutlich senken, eine verzögerte Dekompressions-Laparotomie bei Vorliegen eines ACS dagegen die Letalität bis zu 60% erhöhen [11].
[Abbildung 3: a) Patient mit 2.ökum-Fistel und Abdomen apertum nach Entlastung eines abdominellen Kompartmentsyndroms und b) nach Vakuum-Verbandstechnik]
204
In Anbetracht einer hohen Morbidität nach operativer Dekompression stellen bei sonst fehlender Laparotomie-Indikation sowie bei liquiden Raumforderungen Sonographieoder CT-gestützte interventionelle Punktionen oder Drainageanlagen eine sinnvolle weniger invasive Maßnahme zur Behandlung einer IAH dar. Typische Indikationen sind die Entlastung von Aszites, Zysten, Abszessen oder von Hämatomen ohne aktive Blutung [26, 58-60]. Die evidenz-basierte Datenlage zu den einzelnen Therapiestrategien ist bisher unzureichend. Im Patienten-adaptierten Gesamtkonzept des intensivmedizinischen Managements der IAH und des ACS spielen sowohl konservative als auch interventionelle Maßnahmen eine bedeutende Rolle (Tabelle 3) [26].
Management/ Therapieempfehlung
Evidenmiveau
Aufrechterhaltung eines abdominellen Perfusionsdruckes (APP) oberhalb 50-60mmHg
IC
Analgosedierung: auf eine adäquate Analgosedierung sollte geachtet werden um IAP Anstiege durch Husten, Pressen etc. zu vermeiden
keine Evidenz keine Empfehlung
Neuromuskuläre Blockade (zeitlich limitierter Effekt)
2C
Prokinetika / Dekompression: sinnvolle konservative Therapieansätze ohne dass kontrollierte Studien vorliegen
keine Evidenz keine Empfehlung
Differenzierte Flüssigkeitstherapie, sorgfältiges Monitoring bei Risiko-patienten um Volumenüberladung zu vermeiden und Progression in ein sekundäres ACS zu vermeiden
1B
Einsatz hypertoner kristalloider und kolloidaler Lösungen bei Patienten mit Risiko für ein sekundäres ACS
IC
Diuretika/Nierenersatzverfahren: Diuretika in Kombination mit Kolloiden scheinen sinnvoll um Flüssigkeit aus dem Interstitium zu mobilisieren
keine Evidenz keine Empfehlung
Perkutane Ultraschall oder CT gestützte Dekompression (freie Flüssigkeit, Luft, Abszesse, Hämatome)
2C
chirurgische Dekompression bei therapierefraktärem ACS, Anlage eines „Abdomen apertum"
1B
Temporärer Bauchdeckenverschluss: Bogota Bag, Vakuum-Saugverbände; bisher ohne vergleichende Studien, keine eindeutigen Vorteile eines Verfahrens
keine Evidenz keine Empfehlung)
Zeitpunkt des sekundären Bauchdeckenverschlusses (Tage /Monate)
keine Evidenz keine Empfehlung
Laparotomien von Patienten, welche Risikofaktoren für IAH/ACS zeigen, sollten nicht forciert verschlossen werden, definitiver Faszienverschluss unter Monitoring des IAP
IC
Tabelle 3: Management der intraabdominellen Hypertonie und des akuten Kompartmentsyndroms sowie Grad der Evidenz [26]
205
Zusammenfassung Die intraabdominelle Hypertonie stellt eine Druckerhöhung in dem geschlossenen Raum des Abdomens dar, die bei Überschreitung eines kritischen Gewebedruckes zum Organdysfunktionssyndrom und damit zum abdominellen Kompartmentsyndrom mit hoher Letalität führen kann. Neben Patienten mit intrabdominellen Infektionen und/oder Sepsis sind besonders Trauma-Patienten mit abdominellen Verletzungen oder Verbrennungen prädisponiert. Eine vorausschauende Therapie und die klinische Aufmerksamkeit unter Nutzung objektiver Messmethoden kann eine IAH oder ein ACS verhindern oder frühzeitig erkennen. Nur eine unverzügliche und konsequente Ausschöpfung aller konservativen und interventionellen Therapieoptionen wird den mit einer hohen Letalität belasteten Sekundärschaden verhindern. Dabei ist vor allem das pathophysiologische Verständnis für diesen schwerwiegenden Krankheitskomplex sowie die interdisziplinäre Zusammenarbeit aller beteiligten Fachrichtungen notwendig.
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Placebo und Schmerz MICHAEL SCHÄFER UND JOCHEN ÜELTJENBRUNS
Einleitung Der Begriff „Placebo" (lat. placere „ich werde gefallen") besitzt bis heute eine negative Konnotation, die wahrscheinlich historisch begründet ist. Im England des 12. Jahrhunderts bezeichnete „placebo" eine gesungene Totenandacht. Die Sitte, Trauergäste dafür zu bezahlen, dieser Totenandacht beizuwohnen (eine ursprüngliche Aufgabe der Familienangehörigen des Verstorbenen) begründete erstmalig die negative Konnotation des „placebo", da diese bezahlten „Ersatz- oder Scheintrauernden" gering geschätzt wurden. Im 14. Jh. wurde die religiöse Bedeutung des „placebo" säkularisiert und mit „to sing a placebo" synonym für Schmeicheleien verwendet. Im 17. Jahrhundert wurden dann von angelsächsischen Medizinern inerte Medikamente als „placebo" bezeichnet, also Medikamente, die eher verabreicht wurden, um dem Patienten zu gefallen bzw. diesem einen Gefallen zu erweisen, als diesem „spezifisch" nützlich zu sein. Somit stellte eine Placebotherapie eine Gefälligkeit des Arztes seinem Patienten gegenüber - auf dessen Wunsch - dar, ohne dass der Arzt hierdurch einen spezifischen Therapieeffekt erwartete [1]. Eine Vielzahl von Therapien, die in ihrer Zeit als spezifisch wirksam angesehen wurden, wurden im Laufe des medizinischen Fortschritts nachträglich als Placebo (inerte, nicht spezifisch wirksame Therapie) identifiziert. So ist es heute nicht mehr nachzuvollziehen, dass beispielsweise die Angina pectoris durch Ligatur der A. mammaria interna [2] oder chronische Schmerzzustände durch Barbotage des Liquor cerebrospinalis [3] - z. T. mit beachtlichem Erfolg - behandelt wurden und diese Verfahren erst nach besserem Wissen bzw. nach Kontrolle mit einer Placebogruppe als nicht überlegen beurteilt, damit als ,,Placebotherapie" stigmatisiert und aufgegeben wurden. Auch in neuerer Zeit werden etablierte Therapieverfahren im Vergleich mit einer Placebokontrolle infrage gestellt. So beispielsweise das arthroskopische Debridement des Kniegelenks bei schmerzhafter Gonarthrose [4] oder die laparoskopische Adhäsiolyse bei unklarem, chronischen Abdominalschmerz [5]. Beide Verfahren waren dem in der Kontrollgruppe (keine Intervention, ,,Sham-Operation") angewendeten Verfahren nicht überlegen; beide zeigten in gleicher Weise wie in der Kontrollgruppe auch keine Besserung nach erfolgter Behandlung im Vergleich zur Ausgangssituation. So ist es nicht verwunderlich, dass der Placeboeffekt seine negative Konnotation bis auf den heutigen Tag behalten hat. Durch den Anästhesiologen Henry K. Beecher mit seiner viel beachteten Publikation aus dem Jahr 1955 „Thepowerful placebo" [6] wurde die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Placeboeffekt als solchem eingeläutet. Beecher berichtete darin über seine im Zweiten Weltkrieg gemachten Erfahrungen, als ihm als Feldarzt das Morphin ausging, er durch die Injektion von Kochsalzlösung (Placebo) bei verwundeten Soldaten erstaunliche analgetische Erfolge erzielte und ähnliche Ergebnisse in vorwiegend selbst durchgeführten klinischen Untersuchungen beobachtete. Dadurch angeregt, haben in den letzten Jahren neuere Forschungsergebnisse zu einem beachtlichen Fortschritt im Verständnis der „spezifischen" Mechanismen des Placeboeffektes geführt, die darauf hinweisen, dass unter dem Placeboeffekt (in randomisierten klinischen Studien) bzw. der Placeboantwort (beim individuellen Patienten) ein therapiebegleitendes, komplexes Phänomen zu verstehen ist, das biologische, psychologische und soziokulturelle Aspekte beinhaltet und keineswegs nur „Artefakt" oder sogar 209
„Störfaktor" ist, sondern nützlicher Therapiebestandteil sein kann. Die Grenze zwischen „Verumtherapie" und „Placebotherapie" scheint sehr viel schwieriger auszumachen zu sein, und den Erwartungen des Patienten sowie dem „therapeutischen Akt" zwischen Therapeut und Patient, kommt eine zentrale Bedeutung zu [7]. Im folgenden soll durch die Zusammmenstellung altbekannter sowie neuester Ergebnisse der Erforschung des Placeboeffektes dem Leser ein aktueller (zeitgemäßer) Placebobegriff vorgestellt werden.
Placeboeffekte in randomisierten klinischen und experimentellen Studien: Die Anwendung eines bekanntermaßen inerten Mittels (Placebo) im Vergleich zu einem Medikament mit vermutlich spezifischer Wirkung (Verum) soll in Unkenntnis der verabreichten Substanz sowohl des Prüfers als auch des Probanden (doppelblind) getestet werden, um möglichst alle subjektive Voreingenommenheit (,,bias") von vorneherein auszuschalten. Dieses Prinzip der Placebokontrolle in Studien wird seit den 30er Jahren v. a. in der klinischen Pharmakologie zunehmend propagiert und gilt heute in Form der randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten klinischen Studie als „Goldstandard" zur Beurteilung der Wirksamkeit neuer Therapien [1, 8). In diesem Zusammenhang wird der Placeboeffekt als Artefakt, als „therapeutisches Rauschen" angesehen, und Placebogruppen werden in klinische Studien eingeschlossen, um diese „Störvariable" zu kontrollieren. Quantifiziert wird lediglich der Effekt der Verumgruppe, der abzüglich des Placeboeffektes die spezifische Wirksamkeit darstellen soll. Der vermeintlich nicht spezifisch wirksame Placeboeffekt blieb somit in seinem Wirkmechanismus lange Zeit uninteressant und wurde nicht gezielt untersucht. Innerhalb zweiarmiger kontrollierten klinischen Studien (Verum vs. Placebo) soll eine Placebogruppe (Kontrollgruppe) im Studiendesign die Effektivität einer neu zu prüfenden Therapie (Verumgruppe) im Vergleich zu dieser Kontrollgruppe sichtbar machen. Dabei werden jedoch genau genommen Veränderungen unterschiedlichster Herkunft in der Kontrollgruppe (Placebogruppe) unberücksichtigt gelassen [8, 9). In der Literatur werden derartige Kontrollgruppeneffekte vereinfacht als Placeboeffekte beschrieben und lassen die verschiedenen ,,Artefakte" eines Placeboeffektes (Spontanverlauf, Regression zur Mitte, Verhaltensänderung durch Studienteilnahme, Teilnehmerselektion durch Einhaltung des Studienprotokolls, Provokation sozial erwünschter Aussagen über Symptombesserung oder die unbemerkte Parallelintervention) unberücksichtigt [10). Edzard Ernst unterscheidet daher einen „echten Placeboeffekt" (,,true placebo effect") von einem „subjektiv wahrgenommenen Placeboeffekt" (,,perceived placebo effect"), um deutlich zu machen, dass in Abhängigkeit von mehreren bisher unberücksichtigten Faktoren Placeboeffekte bei verschiedenen Patienten sehr unterschiedlich ausfallen können [11). Feinstein formuliert, dass allein schon der therapeutische Akt - unabhängig, ob er Placebo oder Verum beinhaltet - eine Antwort auslöst, die zur (günstigen) Beeinflussung des Patienten führt [12). Mit dreiarmigen klinischen Studien (Verum vs. Placebo vs. Nichtbehandlung) können diese Störfaktoren, die einen Placeboeffekt vortäuschen, letztlich durch den weiteren Einschluss einer unbehandelten Kontrollgruppe (z.B. Warteliste) weitestgehend kontrolliert werden und den tatsächlichen Placeboeffekt (,,true placebo effect") sichtbar machen [11). Eine aktuell propagierte Alternative zum dreiarmigen Studiendesign stellt das „Openhidden"-Paradigma von Benedetti et al. zur Bestimmung des tatsächlichen Placeboeffektes 210
dar. Hierbei wird das Verumpräparat zu unterschiedlichen Zeitpunkten entweder angekündigt (,,Open"-Komponente) oder versteckt (,,Hidden"-Komponente) appliziert. Aus der jeweils resultierenden Wirkung (Antwort) kann zwischen dem spezifischen Verumeffekt (bei versteckter Gabe) und der Kombination aus spezifischem Verum- sowie Placeboeffekt (Gesamttherapieeffekt) bei angekündigter, sichtbarer Gabe der tatsächliche Placeboeffekt abgeleitet werden ohne dass eine Placebogruppe eingeschlossen werden muss [13].
Quantität und Qualität von Placeboeffekten Historisch gesehen, haben sich bestimmte Ansichten über Placebo-Responderraten, Wirksamkeit und Wirkdauer eines Placeboeffektes festgesetzt. Ob diese Ansichten noch heutigen Erkenntnissen entsprechen, soll im Folgenden dargestellt werden. Die in der Literatur oft erwähnte fixe Placebo-Responderrate von etwa 30% beruht auf der viel zitierten Arbeit von Beecher et al. [6], der in seiner Analyse von 15 - z. T. methodisch unzulänglichen - Studien mit 1082 Patienten Placebo-Responderraten von 15-87% erkannte und daraus einen statistischen Mittelwert von 35% errechnete. Dieser recht hohe Anteil sorgte damals für einiges Aufsehen, musste jedoch nach einer kritischen Analyse derselben zitierten Studien von Kienle u. Kiene [14] revidiert werden. In einer ebenso viel beachteten Veröffentlichung zeigten Levine et al. [15], dass die PlaceboResponderrate bezüglich akuter Zahnschmerzen bei ihren Untersuchungen etwa bei 39% lag. Jedoch war die Patientenanzahl pro Gruppe zu klein, als dass eine Verallgemeinerung zulässig wäre. McQuay et al. [8] listen Placebo-Responderraten von 7-49% für Studien, die den akuten bzw. chronischen Schmerz untersuchten, und sprechen von der Misskonzeption, die fälschlicherweise eine fixe Rate an Placebo-Respondern postuliert, vielmehr muss die Inzidenz von Placeboantworten als sehr variabel eingeschätzt werden. Als ebenso variabel muss auch die Wirkstärke der Placeboantwort angesehen werden. Die allgemeine Annahme, dass etwa ein Drittel der maximalen Wirkung einer Therapie auf die Placeboantwort zurückzuführen ist, ist nicht korrekt [16, 8]. Metaanalysen bzw. Übersichten dreiarmiger Studien zeigen entweder nur geringe [17, 8] oder sehr variable Placeboeffekte [ 11]. Benedetti et al. beschreiben in ihren recht systematischen experimentellen Untersuchungen der offenen vs. versteckten Placebogabe (,,Open-hidden"Paradigma) Placeboantworten mit einer durchschnittlichen Schmerzreduktion von bis zu 57% im Vergleich zu einer unbehandelten Kontrollgruppe [18]. Placeboeffekte sind bei der Behandlung verschiedenster krankhafter Zustände wie z. B. Schmerzen, Parkinson-Krankheit, Depression u. a. beschrieben [19]. Dabei scheint es, dass bestimmte Erkrankungen „placebosensitiver" sind als ?ßdere. Dies sind vorwiegend solche, deren Verbesserung oder Verschlechterung (durch Verum- oder Placebobehandlung) anhand subjektiver Messparameter (z.B. Schmerzintensität, Depressivität) beurteilt werden. Bei subjektiven Messparametern zeigen sich scheinbar ausgeprägtere Placeboeffekte [8]. Insbesondere schmerzhafte Zustände scheinen „placebosensibel" zu sein. So können selbst Hrobjartsson et al., die in ihren kritischen Übersichtsarbeiten (Metaanalysen) zur Bedeutung des Placeboeffektes in klinischen Studien im Vergleich zu einer unbehandelten Kontrollgruppe Placeboeffekte nahezu negieren, bei Schmerzzuständen Placeboeffekte erkennen [ 17]. Die Autoren schlussfolgerten, dass sich z. B. in 27 schmerztherapeutischen Studien nur ein recht geringer, klinisch nicht bedeutungsvoller Unterschied im analgetischen Effekt der Placebo- gegenüber der unbehandelten Kontrollgruppe zeigte. Der Zweck einer solchen Placebobehandlung lag jedoch bei den begutachteten klinischen Studien primär in dem Vergleich der Verumbehandlung mit einer Kontrolle, als dass wirklich ernsthaft der Placeboeffekt untersucht worden wäre [20]. Klinische Studien, die v. a. den Mechanismus der Placeboanalgesie untersuchten, zeigen, dass das Ausmaß des Placeboeffektes von der Art und Weise, wie das Placebo präsentiert wird (Kontext), abhängig ist. In nachfolgenden Metaanalysen wurde der Placeboeffekt nach diesen 2 unterschiedlichen Aspekten getrennt untersucht [21, 20]. In 23 klinischen Studien wurde
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das Placebo ausschließlich als Kontrolle verwendet, in 14 experimentellen Studien wurden gezielt die Mechanismen der Placeboanalgesie untersucht. Das Ausmaß der Placeboanalgesie war in den zuletzt genannten Studien (errechnete, mittlere Effektgröße 0,95) wesentlich größer als in den ersteren (errechnete, mittlere Effektgröße 0,14), und dieser Unterschied war signifikant. Der hauptsächliche Grund hierfür liegt darin, dass für den Placeboeffekt wichtige Faktoren wie die Konditionierung und die Erwartungshaltung bei letzteren deutlich ausgeprägter waren [21]. Die Aufklärung in kontrollierten klinischen Studien über die Wahrscheinlichkeit, ein inaktives Medikament zu erhalten und die Suggestionen in experimentellen Studien ein „starkes Schmerzmittel" zu erhalten, mögen eine wesentliche Rolle in dem geringeren Placeboeffekt dieser Studien spielen. Somit ist in der klinischen Praxis mit einer verstärkten Placeboreaktion zu rechnen. An chronischen Rückenschmerzpatienten zeigte sich auch, dass die subjektiv bestimmte Schmerzintensität, die Stärke der unangenehmen Empfindung und die erlebte Schmerzlinderung beim klinischen Rückenschmerz ausgeprägter waren als beim experimentell durchgeführten Schmerzprovokationstest [22]. Es scheinen Placeboantworten also mehr die „illness", d. h. die subjektiv erlebten Krankheitssymptome, als die „disease", d. h. die objektiv fassbare Krankheit, zu beeinflussen [23]. Daher verwundert es nicht, dass Placeboeffekte zwar in der Schmerzreduktion erkennbar werden, jedoch z.B. bei onkologischen Patienten keinen Effekt bezüglich der Tumorprogression zeigen [24]. Ausgenommen von Placeboeffekten scheinen Therapien bei Patienten mit Bewusstseinseinschränkungen (z. B. narkotisierte Patienten; [25]) oder ausgeprägten kognitiven Defiziten (z.B. Alzheimer-Demenz; [26]) zu sein. Die versteckte Verabreichung eines Placebos führt zu keiner Placeboantwort [13]. Daher erscheint die bewusste Wahrnehmung (und Bedeutungsgebung) der Behandlung und deren symbolischen Charakter wichtig zu sein. Erkenntnisse aus placebokontrollierten Studien zeigen, dass die Wirkdauer von Placeboeffekten in der Pharmakotherapie eher nicht von langer Dauer sind. Stamer et al. beobachteten z. B. in der postoperativen Schmerztherapie eine nur Minuten anhaltende Wirkdauer der placeboinduzierten Analgesie im Vergleich zur eigentlichen Opioidanalgesie [27]. Es finden sich jedoch auch Hinweise, dass Placeboeffekte z. B. nach erfolgter intraartikulärer Placebogabe im Vergleich zu intraartikulärer Glukosamin- oder Chondroitinsulfatgabe angeblich sogar Jahre anhalten können [28]. Zusammengefasst unterliegen die Anzahl der Placebo-Responder, das Ausmaß und die Dauer des Placeboeffektes einer deutlich größeren Variabilität, als bisher angenommen und es stellt sich die Frage nach modulierenden Variablen. Modulation des Placeboeffektes Jeder Arzt-Patient-Kontakt birgt letztendlich das Potenzial, eine Placeboantwort zu initiieren. Modulierende Variablen des Placeboeffektes sind v.a. in der Art der Therapie (Applikationsform), in bestimmten Eigenschaften des Patienten bzw. des Therapeuten und deren Interaktion gesucht und gefunden worden. Trotz kritischer Stimmen [8] scheinen etliche Untersuchungen in der Literatur die Annahme zu bestätigen, dass mit zunehmender Invasivität der Therapieform bzw. Applikationsweise der Placeboeffekt zunimmt [29]. Injektionen scheinen einen ausgeprägteren Placeboeffekt zu haben als die orale Medikation. Diese Annahme stärkt eine neuere Metaanalyse. Über eine deutliche Reduktion ihrer Migräne-Kopfschmerzen berichteten 2 Stunden nach Behandlung 191 von 561 Patienten (34%) nach subkutaner Injektion eines Placebos und nur 25 von 112 Patienten (22%) nach oraler Einnahme eines Placebos [30]. Interessanterweise ist orales Placebo nicht gleich orales Placebo: Farbe, Größe, Form und Zubereitung einer oralen Medikation können unterschiedliche Placeboeffekte hervorrufen. De Craen et al. haben in einer systematischen Übersichtsarbeit über 12 veröffentlichte klinische Studien die Auswirkung der Farbe einer oralen
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Medikation auf deren stimulierende oder beruhigende zentralnervöse Wirkungen untersucht. Rote Tabletten scheinen eher stimulierend und blaue Tabletten eher sedierend zu wirken [31]. Placebotabletten, denen der Markenname eingraviert ist (z. B. Aspirin®) zeigen größere Placeboeffekte als ungekennzeichnete Tabletten [32]. Auch der höhere Preis einer Medikation führt wohl aufgrund einer stärkeren Wirkungserwartung zu einem ausgeprägteren Placeboeffekt [33]. Auch „Dosis-Wirkungs-Beziehungen" in der Placeboantwort zeigen sich bei oraler Medikation: Zwei Tabletten bewirken mehr als eine [34], die 4-mal tägliche Einnahme ist der 2-mal täglichen Einnahme überlegen [1]. Die Sham-Akupunktur (eine oberflächliche Nadelung an nicht als Akupunkturpunkten definierten Körperstellen) scheint der oralen Placeboeinnahme signifikant überlegen zu sein. Daten von 270 Patienten aus Untersuchungen, in denen entweder eine ShamAkupunktur oder ein orales Placebo mit der oralen Einnahme von Amitriptylin bei Patienten mit 3 Monate andauernden, therapierefraktären Armschmerzen verglichen wurden, wurden zum direkten Vergleich hergenommen. Der Vergleich zeigte einen signifikanten Vorteil für die Sham-Akupunktur gegenüber der oralen Placeboeinnahme in dem wöchentlichen Rückgang der Schmerzintensität und der Begleitsymptome während des gesamten Verlaufs der Untersuchungen [35]. Eine Placebointervention scheint also offensichtlich im Vergleich zu einer oralen Placeboeinnahme einen größeren Placeboeffekt zu bewirken. Hinsichtlich bestimmter Patienteneigenschaften, die möglicherweise einen Einfluss auf die Placeboantwort haben könnten, konnten initiale Versuche, eine bestimmte „Placebopersönlichkeit" auszumachen [6], nicht bestätigt werden. Die Fähigkeit, auf eine Placebobehandlung zu reagieren, scheint nicht an ein spezielles psychologisches Profil oder eine Persönlichkeitsstruktur des Patienten gebunden zu sein [36] und ist auch intraindividuell nicht konstant [37]. So führt der Ausschluss von initialen Placebo-Respondem während der „Placebo-run-in"-Phase einer klinischen Studie nicht zu einer Veränderung des Placeboeffektes in der fortlaufenden Studie [38]. Die Compliance des Patienten scheint jedoch den Placeboeffekt zu beeinflussen, d.h. die mangelnde Einnahme einer Placebomedikation reduziert deren Effektivität [39]. Bei bewusstlosen oder bei hochgradig kognitiv eingeschränkten (dementen) Patienten zeigen sich, wie bereits erwähnt, keine Placeboeffekte. Sinclair et al. [25] konnten in einer dreiarmig durchgeführten Studie zur postoperativen Behandlung des Wundschmerzes nach Diskektomie mit Lidocain (Lidocainspray vs. Placebospray vs. Nichtbehandlung) keinen Unterschied in der Wirksamkeit zwischen den Gruppen erkennen. Die Applikation des Sprays erfolgte vor Hautnaht am anästhesierten (bewusstlosen) Patienten. Benedetti et al. [26] zeigten, dass bei Alzheimer-Patienten mit schlechtem kognitiven Status die Placeboantwort verloren geht. Das heißt, das Auftreten einer Placeboantwort ist ohne das bewusste Erleben der Situation (der Behandlung), in der ein Placebo verabreicht wird, nicht möglich. Es gibt wenige systematische Untersuchungen darüber, ob bestimmte Therapeuteneigenschaften den Placeboeffekt beeinflussen. In einer Initiative des britischen National Health Service sollten in einer systematischen Bewertung der Literatur Wesen und Ausmaß des Placeboeffektes bestimmt werden, um diesen möglicherweise einer qualitativ besseren Patientenversorgung zugute kommen zu lassen. In 85 ausgewählten Veröffentlichungen, in denen die Erwartungshaltung u. a. bezüglich des Therapeuten ein primärer Untersuchungsparameter war, waren die Überzeugtheit von der Behandlung, selbstsicheres Auftreten, Autorität, Empathie und Herzlichkeit des Behandlers mit ausgeprägteren Placeboeffekten assoziiert [40]. Weitere für den Placeboeffekt günstige Therapeutenqualitäten scheinen Erfahrung, Sicherheit, Kommunikationsfähigkeiten, Art der Instruktionen und Zeitaufwand mit dem Patienten zu sein [41]. Patienten, die prä- und postoperative ausführliche Informationen und Instruktionen erfahren (z.B. über den postoperativen Verlauf der Schmerzen), benötigen postoperativ weniger Analgetika und werden früher entlassen [42]. Wird bei der 213
Aufklärung innerhalb einer klinischen Studie über eine Placebogruppe berichtet, d.h. über die Wahrscheinlichkeit ein Placebo zu erhalten, verringert dies den Placeboeffekt [43]. Skovlund et al. untersuchten in einem sequenziellen Studiendesign die analgetische Wirkung von Paracetamol bei postpartalen Schmerzen; hierbei wurde zunächst Paracetamol mit Placebo [44] und in der nachfolgenden Untersuchung Paracetamol mit Naproxen [45) verglichen. Patienten der Placebogruppe wurden bei dem ersten Vergleich darüber aufgeklärt, mit einer 50%igen Wahrscheinlichkeit ein „unwirksames" Placebo zu erhalten. In der Patientengruppe, in der Paracetamol mit Placebo verglichen wurde, war Paracetamol nur halb so effektiv wie in der nachfolgenden Untersuchung, in der Paracetamol nicht mit Placebo, sondern mit Naproxen verglichen wurde. In Untersuchungen, in denen - häufig aus ethischen Gründen - die Randomisierung der Patienten zu aktiver Behandlung vs. Placebo 2: 1 oder größer und der Patient darüber informiert ist, zeigt sich ein proportional deutlich geringerer Unterschied zwischen Verum- und Placebogruppe (i.S. eines ausgeprägteren Placeboeffektes), als wenn das Randomisierungsverhältnis der Patienten 1: 1 beträgt [46]. Placebos, die durch Ärzte verabreicht werden, zeigen offensichtlich größere Placeboeffekte, als wenn dies durch Pf1egepersonal erfolgt [4 7]. Bei unspezifischen Erkrankungszeichen ohne ernsthafte Grunderkrankung wirkt allein das versierte Stellen einer feststehenden Diagnose als Placebo [48]. Intensivierte diagnostische Maßnahmen per se wie Labor- und apparative Untersuchungen (z. B. EKG) können bei Patienten mit unspezifischen Brustschmerzen im Vergleich zu einer Gruppe, die diese Diagnostik nicht erhält, zur Verbesserung der Symptome führen [49]. Möglicherweise hat auch das Geschlecht des Therapeuten Einfluss auf das Ausmaß der Placeboantwort. Patienten mit Reizdarmsyndrom zeigten in der Placebogruppe in 39% der Fälle eine Besserung, wenn sie durch eine Ärztin behandelt wurden, im Vergleich zu 19%, wenn sie durch einen Arzt behandelt wurden [50]. Die meisten der genannten modulierenden Faktoren haben Einfluss auf die bewusste oder unbewusste Erwartungshaltung des Patienten (oder des Therapeuten); hierdurch wird letztendlich im wesentlichen das Ausmaß der Placeboantwort bestimmt.
Mechanismen der Placeboantwort: Die Placeboantwort ist eine komplexe psychophysiologische Reaktion. Es existiert bislang keine einheitliche Theorie, die die Placeboantwort in ihrer Gesamtheit erklären kann. Nach der Publikation von Beecher 1955 wurden Placeboeffekte vorwiegend psychologisch untersucht. Dies führte zu den beiden noch heute vorherrschenden und breit unterstützten Theorien für Placeboantworten, der klassischen (,,Pawlovschen") Konditionierung und der Erwartungstheorie. Erst in den 90er Jahren wurden Untersuchungen zu den neurobiologischen Grundlagen des Placeboeffektes systematisch bearbeitet.
Psychologische Mechanismen Nach der klassischen Konditionierung handelt es sich beim Placeboeffekt um ein erlernte Reaktion basierend auf dem Prinzip des (unbewussten) Lernens durch Assoziation. Dabei stellt die Verumbehandlung den unkonditionierten Reiz dar, der eine unkonditionierte Reaktion (z. B. Schmerzreduktion) auslöst. Der gesamte Kontext der Verumbehandlung (Behandlungssetting, Applikationsweise oder Aussehen eines Medikamentes etc.) fungiert als konditionierter Reiz. Treten nun beide Reize häufig gemeinsam (in Assoziation) auf, kommt es zu einer Kopplung der Reize, und nach einer gewissen Zeit kann der konditionierte Reiz allein z.B. eine Schmerzreduktion im Sinne einer Placeboantwort (als konditionierte Reaktion) auslösen. Art und Stärke der konditionierten Placeboantwort hängen somit einerseits von den individuellen, erfahrenen bzw. erlernten Veränderungen nach einer medizinischen Behandlung, andererseits von der 214
Häufigkeit der verbundenen Assoziationen ab [51]. Amanzio et al. demonstrierten in einem ischämischen Armschmerzmodell, in dem 10-15 min nach Insufflation einer Blutdruckmanschette über 300 mmHg über ischämische Schmerzen berichtet wird, Konditionierungseffekte nach Konditionierung mit Morphin (,,opioid conditioning") oder mit Ketorolac (,,nonopioid conditioning"). Die vorherige Exposition des Probanden mit einem Verum (Morphin oder Ketororlac) zeigte bei nachfolgender Exposition mit einem Placebo eine vergleichbare Schmerzlinderung [52]. Die klassische Konditionierung kann allerdings Placeboantworten, die ohne entsprechende individuelle Vorerfahrungen (Konditionierung) auftreten, nicht erklären. Für diesen Fall bietet die Erwartungstheorie ein besseres Erklärungsmodell. Erwartungstheorie. ,,Erwartung" meint die Antizipation, d. h. die gedankliche (bewusste) Vorwegnahme eines zukünftigen Ereignisses. Die Erwartungstheorie beschreibt die Placeboantwort als eine direkt von der Erwartung des Patienten abhängige Reaktion, die zu entsprechenden Veränderungen (z.B. Schmerzreduktion) führt [53]. Die Placeboantwort spiegelt quasi die Erwartung eines Patienten an die Wirksamkeit einer Therapie, an die Kompetenz des Behandlers oder an die eigene Kompetenz wider. In ihrem ischämischenArmschmerzmodell beschrieben De Pascalis et al. Placeboantworten, die aufgrund einer durch Suggestion hervorgerufenen Erwartungshaltung des Patienten (,,Sie erhalten jetzt eine sehr starke Schmerztablette") erzeugt werden konnten. Diese Placeboantworten fielen sogar deutlich ausgeprägter aus, wenn eine hohe Erwartungshaltung bei Probanden erzeugt wurde (,,Das zu applizierende Medikament wurde bisher erfolgreich in der Schmerztherapie und nach chirurgischen Eingriffen eingesetzt und hat in wissenschaftlichen Untersuchungen seine Wirksamkeit unter Beweis gestellt"), jedoch deutlich niedriger, wenn nur eine moderate Erwartungshaltung erzeugt wurde (,,Das zu applizierende Medikament kann wahrscheinlich Schmerzen lindern, was bisher wissenschaftlich noch nicht nachgewiesen wurde; in Einzelfällen hat es jedoch gelegentlich zu einer Schmerzverstärkung geführt") [54]. Sehr ähnliche Beobachtungen ließen sich auch bei Patienten mit einem Reizdarmsyndrom machen. Die Patienten evaluierten nach unterschiedlicher lokaler Behandlung (Lidocain oder Placebo enthaltendes Gleitmittel) die Schmerzintensität, die durch eine standardisierte,mechanischeDehnungdesRektumsausgelöstwurde.NachlokalerPlaceboapplikation und verbaler Suggestion (,,Das gerade erhaltene Gleitmittel ist bekannt dafür, dass es zumindest in einigen Patienten Schmerzen lindert") gaben die Patienten eine vergleichbare Reduktion der Schmerzintensität-VAS-Scores an (von im Mittel VAS =6 in der Kontrollgruppe ohne Behandlung auf im Mittel VAS =3 in der Placebogruppe), wie die Patienten, die eine lokale Verum- (Lidocain-)Behandlung erhalten hatten. Die Angaben über das Ausmaß der Unannehrnlichkeit korrelierten eng mit den Schmerzintensität-VASScores. Gezieltes Nachfragen über die Erwartungshaltung der Patienten (,,Welche Schmerzintensität erwarten Sie nach dieser Behandlung?") ergab in 77% der Fälle eine Vorhersage der später gemessenen Schmerzintensität. Daraus lässt sich schließen, dass die Größe der Erwartungshaltung eines jeden Patienten das Ausmaß der Placeboantwort beeinflusst [55]. Sind es bei der klassischen Konditionierung die Anzahl der Reizkopplungen (Assoziationen), die das Ausmaß einer Placeboantwort determinieren, so werden für das Erwartungsmodell andere Faktoren vermutet, die das Ausmaß der antizipierten Reaktion beeinflussen wie z. B. die Suggestibilität des Patienten, dessen „locus of control" (internale vs. externale Kontrollüberzeugung) und Motivation (z. B. der Leidensdruck). Möglicherweise bestehen ,,spezifische" Placeboantworten nach Konditionierung oder Erwartung. Benedetti et al. konnten zeigen, dass „erwartete Placeboeffekte" bei bewussten physiologischen Prozessen (wie z.B. Schmerz) eine Rolle spielen, während „konditionierte Placeboeffekte" vorwiegend dann auftreten, wenn unbewusste physiologische 215
Funktionen (wie z. B. die Hormonausschüttung) involviert sind [56]. Möglicherweise existieren geschlechtsspezifische Unterschiede. Flaten et al. konnten zeigen, dass Suggestionen auf einen experimentellen Schmerzreiz vorwiegend bei Männern „placeboanalgetisch" wirken und besonders dann, wenn diese von einem weiblichen Versuchsleiter ausgesprochen werden [57] Interessanterweise war in einer kontrollierten klinischen Studie an Patienten mit atopischer Dermatitis die durch Konditionierung erzeugte Placeboantwort (,,Schmerzlindernde Salbe") länger anhaltend als die durch eine Erwartungshaltung vermittelte [58]. In ihrer Metaanalyse zur Untersuchung der mittleren Effektgröße einer placebovermittelten Analgesie zeigten Vase et al. [21], dass die Kombination der durch Suggestion erzeugten Erwartungshaltung und der Konditionierung deutlich ausgeprägtere Placeboeffekte auslöste als jede einzelne Komponente für sich genommen. Neueste Untersuchungen legen nahe, dass die jeweilige Komponente (Erwartung oder Konditionierung) einer placebovermittelten Analgesie durch unterschiedliche neurobiologische Pfade vermittelt ist: Die konditionierte Placeboanalgesie soll nicht über opioidsensitive schmerzmodulierende Pfade wirken, während die durch Erwartung hervorgerufene Placeboanalgesie über opioidsensitive schmerzmodulierende Pfade wirken soll [52]. Neurobiologische Mechanismen Eine Schlüsselfunktion in der Erforschung der psychoneurobiologischen Mechanismen der Placeboantwort, d. h. der Wechselwirkungen zwischen psychischen Prozessen und möglichen biologischen Abläufen kommt der 1978 publizierten Untersuchung von Levine et al. [15] zu. Sie untersuchten Patienten, die sich einer Extraktion des dritten Unterkiefermolaren (Weisheitszahn) unterzogen. Alle Patienten bekamen zur Extraktion 10-20 mg Diazepam i.v., 3%iges Mepivacain ohne Vasokonstriktorzusatz perineural (N. mandibularis) und Lachgas (15- bis 40%ig) inhalativ. Zu den Zeitpunkten 2 und 3 Stunden nach Gabe des Lokalanästhetikums erhielten die Patienten im Aufwachraum randomisiert, doppelblind entweder 7,5 mg Morphinsulfat, 10 mg Naloxon oder Placebo i. v. Ihnen wurde erklärt, dass es sich jeweils um ein starkes Schmerzmittel handle. Die Schmerzintensität wurde mithilfe der VAS alle 20 min nach Gabe der Studienmedikation erhoben. Die i.v.-Placebo-Gabe führte bei 9 Patienten zu einer signifikanten 50%igen Schmerzreduktion (Responder), bei 14 Patienten jedoch zu keiner signifikanten Schmerzveränderung (Nonresponder). Die nachträgliche zweite i.v.-Gabe von Naloxon führte bei den Respondern zu einer signifikanten Aufhebung der Schmerzreduktion auf Ausgangswerte, beidenNonrespondemzukeinerweiteren Steigerung der Schmerzintensität. Aus ihren Ergebnissen schlossen Levine et al. zum ersten Mal, dass ein analgestischer Placeboeffekt auf der Freisetzung körpereigener Opioide (endogene Opioide) beruhen kann. Erst in den 90er Jahren wurden Untersuchungen zu den neurobiologischen Grundlagen des Placeboeffektes wieder aufgenommen und systematisch bearbeitet. Benedetti et al. [59] konnten die Ergebnisse von Levine et al. bestätigen. An freiwilligen Probanden wurde eine Blutleere des linken Unterarms durch Auswickeln des Armes und Aufblasen einer Blutdruckmanschette (300 mmHg) erzeugt. Durch manuelle Anwendung eines Handtrainers 12-mal alle 2 s konnte ein zunehmender Ischämieschmerz ausgelöst werden. Das unter Hinweis auf ein starkes Schmerzmittel i.v. verabreichte Placebo (isotone Kochsalzlösung) im kontralateralen Unterarm führte im Vergleich zu einer versteckten i.v.-Placebo-Gabe (über eine Perfusorspritze) bei Placeborespondern (26,9%) zu einer fast 50%igen Schmerzreduktion. Die versteckte i.v.-Gabe von 10 mg Naloxon konnte diese placebobedingte Schmerzreduktion wieder aufheben, was auf einen opioidvermittelten Effekt im Zentralnervensystem hindeutet. Sowohl in schmerzrelevanten Hirnregionen, wie z. B. dem periaquäduktalen Grau des Mittelhirns, als auch im Rückenmark können endogene Opioide eintretende Schmerzimpulse modulieren. Es wäre also denkbar, dass
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an diesen Stellen des Zentralnervensystems der Placeboeffekt eine Freisetzung endogener Opioide auslöst. Die in der Vergangenheit ursprünglich getrennten Erklärungsansätze von entweder psychologischen oder neurobiologischen Vorgängen erfahren durch diese neuen Ergebnisse eine zunehmende Integration, d. h. dass die psychologischen Phänomene der Konditionierung und der Erwartung einen Einfluss auf neurobiologische Phänomene wie z.B. das körpereigene Opioidsystem haben können. Neurostrukturelle Beziehungen in der Bildgebung Eine bei weitem stärkere Unterstützung erhielt die Hypothese einer Beteiligung des endogenen Opioidsystems an einem Placeboeffekt durch bildgebende Verfahren. Mithilfe der i.v.-Applikation eines radioaktiv markierten µ-Opioidrezeptor-spezifischen Liganden ( C-Carfentanil) konnten entsprechende Bindungsstellen im Gehirn mit der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) sichtbar gemacht werden. Eine Aktivierung körpereigener Opioide (z.B. Endorphin) wäre indirekt an der Verdrängung des radioaktiv markierten µ-Liganden von Opioidrezeptor-spezifischen Bindungsstellen erkennbar. An freiwilligen Probanden zeigten Zubieta et al., dass die i.v.-Placebo-Gabe in dem experimentellen Schmerzmodell einer i.m.-Injektion von ca. 3 ml einer 5%igen Kochsalzlösung in den Kaumuskel eine Mobilisierung körpereigener Opioide zur Folge hatte. Dies führte zur Verdrängung des radioaktiven µ-Liganden in schmerzrelevanten Hirnarealen wie z. B. dem Cingulum und den Basalganglien, sowie zu einer signifikanten Schmerzreduktion [60]. Diese Ergebnisse wurden durch „Functional-magnetic-resonance-imaging- (fMRI) Untersuchungen an Probanden bestätigt, in denen eine placeboinduzierte Schmerzlinderung mit einer Abnahme der Aktivität schmerzrelevanter Hirnareale, wie z. B. Thalamus und Cingulum, einherging [61]. In einer weiteren aufsehenerregenden Veröffentlichung konnte demonstriert werden, dass die i.v.-Gabe von Remifentanil oder Placebo (isotone Kochsalzlösung) in einem definierten Schmerzmodell (48°C-Exposition des linken Handrückens über 70 s) in gleicher Weise die Schmerzintensität reduziert und entsprechende Hirnareale aktiviert, nämlich Cingulum und Hirnstamm [62]. Es zeigt sich also eine große Ähnlichkeit in der Aktivierung schmerzrelevanter Hirnareale zwischen Placebo- und Opioidinjektion, was auf einen gemeinsamen Mechanismus schließen lässt. Dabei scheinen spezifische Hirnareale, wie z.B. das periaquäduktale Grau des Mittelhirns, bevorzugt durch die Placeboanwendung aktiviert zu werden und möglicherweise durch deszendierende schmerzhemmende Bahnen auf der Ebene des Rückenmarks einen schmerzlindernden Placeboeffekt auszulösen [63]. Ähnliche Ergebnisse werden auch bei Placeboeffekten in der Behandlung anderer Krankheiten, wie z. B. dem Morbus Parkinson, erzielt. Dies ist eine Erkrankung der Basalganglien, bei der es zum Absterben von doparninenthaltenden Neuronen kommt. Das relative Überwiegen des Neurotransmitters Acetylcholin resultiert zunächst in den motorischen Symptomen: Tremor, Rigor und Hypokinese. In einer viel beachteten Veröffentlichung konnten de 1a Fuente-Fernandez zeigen, dass eine Placebogabe kombiniert mit entsprechenden suggestiven Äußerungen eine Verbesserung der motorischen Leistungen, einen mehr als 200%igen Anstieg der extrazellulären Doparninkonzentration und eine deutliche funktionelle Verbesserung bewirkte [64]. Es liegt also nahe anzunehmen, dass die Placeboantwort, abhängig von der jeweiligen Erkrankung, unterschiedlichste physiologische Systeme aktivieren kann, wie z. B. das Opioid- oder das Doparninsystem beim Schmerz bzw. bei der Parkinson-Krankheit.
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Nutzung von Placebo-Antworten in der klinischen Praxis: Hinweise für die praktisch klinische Bedeutung des Placeboeffektes zeigt die Übersichtsarbeit von Vase et al. in der das Ausmaß der Placeboanalgesie in der klinischen Situation wesentlich größer war als in kontrollierten klinischen Studien [21]. Die in den letzten mehr als 10 Jahren gewonnenen Erkenntnisse über psychologische und neurobiologische Phänomene der Placeboantwort haben gezeigt, dass der Placeboeffekt ein echtes, messbares Korrelat einer psychoneurobiologischen Reaktion des Organismus darstellt und damit selbst Einfluss auf den Heilungsprozess, wie z. B. die Schmerzlinderung, nehmen kann. Placebo ist also nicht gleichbedeutend mit „keiner Therapie". Während in klinischen Studien Placeboeffekte möglichst minimiert (kontrolliert) werden, um die tatsächliche Wirkung eines Medikaments zu erhalten, können in der klinischen Praxis maximale Placeboeffekte zur Optimierung des Gesamttherapieeffektes erwünscht sein. Dabei soll die Nutzung des Placeboeffektes nicht die beabsichtigte Anwendung einer inerten Substanz (inerte Therapie) bzw. einer ineffektiven Intervention bedeuten, sondern vielmehr die Nutzung konditionierter Reaktionen, die sich möglicherweise aus der Anamnese (positive Assoziation von bestimmten Therapiemaßnahmen in der Vorgeschichte mit Symptombesserung) ergeben bzw. die Maximierung einer realistischen Wirksamkeitserwartung beim Patienten durch Information und zusätzlicher Suggestion eines günstigen Gesamtherapieeffektes [12]. Beispiele dafür, wie dies praktisch umgesetzt werden kann, bieten die oben erwähnten Modulatoren des Placeboeffektes. Die positive Beeinflussung von Wirksamkeitserwartungen bei Patienten durch verbale Suggestionen oder auch nur Informationen verändert die Bereitschaft des Patienten, Symptome durch die Behandlung (unabhängig davon ob Verum oder Placebo) als gebessert zu empfinden. So führte z. B. nach Thorakotomie zur Entfernung eines Lungentumors der alleinige Hinweis, dass eine sehr geringfügige Hintergrundinfusion einer i.v.-PCA ein stark wirksames Schmerzmittel enthalte, zu einer verbesserten postoperativen Schmerzkontrolle, erkenntlich an einer etwa 35%igen geringeren Anforderungsrate von Buprenorphin [65]. Durch die alleinige Aussage, dass ein nachgewiesenermaßen starkes Schmerzmittel gegeben wurde, führte bei Patienten mit Reizdarmsyndrom, die ein rektales oder orales Placebo erhielten, zu einer gleichen, fast 75%igen Schmerzreduktion wie bei Patienten, die lokales Lidocain erhielten. Es zeigte sich eine sehr gute Korrelation (r=0,77) zwischen der Erwartungshaltung bzw. dem Wunsch nach Schmerzlinderung und der tatsächlich berichteten (reduzierten) Schmerzintensität [55]. Es muss jedoch auch berücksichtigt werden, dass durch Suggestion einer unrealistischen Wirksamkeitserwartung (z.B. Schmerzfreiheit, die vom Patienten nicht erreicht werden kann) oder durch angsterzeugende Informationen Konditionierung und Erwartungshaltung nachteilige Auswirkung haben können. Negative (für den Patienten nachteilige) konditionierte Reize bzw. die Erwartung einer Verschlechterung durch Suggestion kann zum Gegenteil eines Placeboeffektes, nämlich einem Noceboeffekt, führen [66]. Die praktische Nutzung des Placeboeffektes ist in der aktuellen AWMF-Leitlinie zur Behandlung postoperativer und posttraumatischer Schmerzen neuerdings aufgenommen: „Der Placeboe.ffekt in der Schmerztherapie soll durch positive und realistische Informationen so weit wie möglich ausgeschöpft werden; der Nozeboeffekt soll durch Vermeidung negativer und angsterzeugender Informationen so weit wie möglich reduziert werden. Sofern eine aktive Schmerztherapie möglich ist, sind medikamentöse PlaceboVerabreichungen, über die der Patient nicht informiert und aufgeklärt wurde, ethisch nicht vertretbar. Sie sollen außerhalb von Studien nicht zur postoperativen Schmerztherapie genutzt werden." Die Verabreichung einer inerten Substanz bzw. die Anwendung einer „Scheinoperation" (,,sham surgery") als Placebobehandlung (Negativkontrolle) im Rahmen von kontrollierten, klinischen Untersuchungen ist nach Einholung eines Votums der Ethikkommission 218
nur an einer begrenzten Anzahl von Patienten nach ausführlicher Aufklärung und freiwilliger Einwilligung in die Teilnahme der Studie möglich. Kritiker placebokontrollierter Studien geben jedoch zu bedenken, dass Studienteilnehmern in der Placebogruppe möglicherweise eine wirkungsvolle Therapie vorenthalten werde. Dies sei unethisch, auch wenn sich Patienten mit diesem Vorgehen einverstanden erklären würden [67]. Der Weltärztebund(WorldMedicalAssociation, WMA) hat beider 59. Generalversammlung im Oktober 2008 in Seoul die sechste Revision der Deklaration von Helsinki verabschiedet, deren Ergänzungen insbesondere den Einsatz von Placebos in klinischen Studien betreffen. Der Einsatz von Placebos (oder der Verzicht auf eine Behandlung in einer Kontrollgruppe) sei nur dann vertretbar, 1. wenn es keine andere wirksame Behandlung gibt oder 2. wenn zwingende und wissenschaftlich schlüssige methodologische Gründe den Einsatz von Placebos notwendig machen, um die Wirksamkeit oder Sicherheit einer Behandlung zu bestimmen, und wenn die Patienten in Placebo- oder unbehandelter Kontrollgruppe nicht dem Risiko einer schweren oder irreversiblen Schädigung ausgesetzt sind. Dabei wird extreme Sorgfalt eingefordert, um einen Missbrauch dieser zweiten, zusätzlichen Option zu vermeiden. Eine mögliche Alternative, zumindest für die medikamentöse Gabe eines Placebos, bieten Benedetti et al. [13, 19] in ihren zahlreichen Studien an. Statt der Verabreichung einer inerten Substanz favorisieren sie zwei verschiedene Verabreichungsformen: die angekündigte Gabe eines aktiven Medikaments im Vergleich zu seiner versteckten Gabe, bei der der Patient nicht gewahr wird, zu welchem Zeitpunkt das Medikament tatsächlich verabreicht wird, und damit der übliche situative Kontext, in dem ein Medikament verabreicht wird, wegfällt. Während erstere die spezifische plus die Placebokomponente anzeigt, zeigt letztere nur die spezifische Wirkung, woraus sich der Anteil der spezifischen im Vergleich zur Placebokomponente kalkulieren lässt.
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Anästhesie und Analgesie bei Suchtpatienten PRrv.-Doz. DR.
MED. INGRID RUNDSHAGEN
Einleitung: Die Zahl suchtkranker Patienten ist in Deutschland sowie weltweit hoch. Neben den gesellschaftlich akzeptierten Substanzen wie Nikotin und Alkohol sind derzeit Heroin, Kokain und Cannabis als Spitzenreiter des illegalen Drogenkonsums einzuschätzen. Suchtmittel werden entweder als Monosubstanzen, vielfach aber auch in Kombination konsumiert. Anästhesisten werden mit Suchtkranken im Rahmen der Notfallversorgung konfrontiert, sei es bei akuten Intoxikationen oder in der Traumaversorgung. Auch in der elektiven perioperativen Versorgung bedarf der suchtkranke Patient aufgrund seiner Begleiterkrankungen, seines veränderten Bedarfs an Anästhetika und Analgetika sowie seiner spezifischen Begleit- oder Drogenersatztherapie einer besonderen Aufmerksamkeit. Auch nach jahrelanger Abstinenz ist eine Suchterkrankung perioperativ relevant.
Ziele des Refresherkurses: Dieser Refresherkurs zu Patienten mit Suchterkrankungen hat das Ziel, den klinisch tätigen Anästhesisten darin zu unterstützen, eine mögliche Disposition zu Suchterkrankungen frühzeitig zu erkennen, um in der perioperativen Phase schwere Komplikationen in Folge der Suchterkrankung für Patienten zu vermeiden. Ziel:
1) Identifikation von Patienten mit Suchterkrankungen und 2) perioperative Strategien für Anästhesie und Analgesie bei spezifischen Suchterkrankungen
Dazu werden folgende Punkte abgehandelt: ► Begriffsklärungen ► Relevanz von Suchterkrankungen ► Pathogenese ► Analgetische Toleranz und Hyperalgesie ► Substanzen und klinische Manifestationen ► Substitutionstherapie ► Psychische Co-Morbidität ► Anästhesie- und Analgesieregime
Begriffsklärungen: Im Folgenden werden einige Begriffe, die im Zusammenhang mit einer Suchterkrankung wesentlich sind, in ihrer Bedeutung erklärt [l]. Sucht: Als eine Suchterkrankung wird eine chronische Erkrankung mit Verhaltens-, kognitiven und körperlichen Phänomenen, die sich nach wiederholtem Gebrauch von psychotropen Substanzen entwickelt, definiert. Synonyma sind: psychische Abhängigkeit; psychische und Verbaltenstörungen durch psychotrope Substanzen (ICD-10) bzw. Substanzmissbrauch (DSM IV). Der Genuss von psychotropen Substanzen erzeugt angenehme Gefühlsänderungen oder Freiheit von Distress. Als weitere Kriterien der Suchter-
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krankung gelten unabweisbar zwanghafter Gebrauch, Drogenhunger (,,craving"), Kontrollverlust und fortgesetzter Gebrauch trotz Schädigung. Toleranz: Verlust von Substanzwirkungen bei wiederholtem Gebrauch, die durch Dosiserhöhung kompensiert werden kann. Eine Toleranzentwicklung ist vorwiegend bei ZNS dämpfenden Substanzen (Alkohol, Opioide, Sedativa/Hypnotika) zu beobachten. Hingegen entwickelt sich eine Toleranz nicht oder kaum bei ZNS-stimulierenden Substanzen wie Kokain, Amphetamin, Cannabis oder Ecstasy. Kreuztoleranz: Mit Kreuztoleranz wird der Wirkungsverlust von Phyrmaka bezeichnet, der primär durch wiederholte Gabe einer ähnlich wirkenden Substanz ausgelöst wurde. Kreuztoleranz ist nicht streng gruppenspezifisch, z. B. können Sedativa beim Alkoholiker weniger wirksam sein. Körperliche (physische) Abhängigkeit: Aufgrund der physiologischen, neuronalen Gegenregulation auf den ständigen Konsum von ZNS-dämpfenden psychotropen Substanzen entsteht ein körperliches Entzugssyndrom. Physische Abhängigkeit gibt es auch bei anderen Substanzen und ist nicht zwingend mit einer psychischen Abhängigkeit verbunden. Entzugssyndrom: Symptome unterschiedlicher Art und Ausprägung nach Entzug einer psychotropen Substanz, die dauerhaft konsumiert wurde. Während bei ZNS-dämpfenden Substanzen vorwiegend körperliche Symptome auftreten, finden sich bei ZNS-stimulierenden Substanzen überwiegend psychische Symptome. Distress: Darunter wird eine Reaktion auf eine anhaltende psychische, körperliche oder soziale Überforderungssituation verstanden, die mit vegetativer und endokriner Dysregulation und Verhaltensänderungen einhergeht mit erheblicher emotionaler Beeinträchtigung. Reinforcement: Mit diesem psychologischen Begriff werden motivationale Faktoren, die eine Suchtentstehung und -unterhaltung begünstigen, zusammengefasst. Als positive Verstärker gelten Substanzen, wenn Rauschzustand, Euphorie und Enthemmung ausgelöst werden. Als negativer Verstärker gelten Substanzen, die Distress, depressive ängstlicher Zustände oder Dysphorie verringern oder aufheben. Abstinenz: Völlige Freiheit von psychotropen Substanzen {,,clean"). Der Begriff „Binge Drinking" entstand im angloamerikanischen Raum und beschreibt den exzessiven bzw. übermäßigen Alkoholkonsum zu einer bestimmten Gelegenheit, welcher auch den Alkoholrausch impliziert. Synonyme: Rauschtrinken oder umgangssprachlich ,,Komasaufen". Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) versteht unter „Binge Drinking" den Konsum von fünf und mehr alkoholischen Standardgetränken zu einer Gelegenheit.
Relevanz von Suchterkrankungen: Die nachfolgenden Zahlen sind dem Drogen- und Suchtbericht des Gesundheitsministeriums (Stand Mai 2008) entnommen [2]. Tab. 1. gibt korrespondierende Zahlen aus dem Europäischen Drogenbericht für den gleichen Zeitraum wieder [3]. Nikotin: 33,9 % der Erwachsenen in Deutschland rauchen. Das entspricht etwa 16 Millionen Menschen. Im Alter von 12-17 Jahren greifen 18 % der Jugendlieben zur Zigarette. Etwa 140.000 Menschen sterben jedes Jahr vorzeitig an den direkten Folgen des Rauchens. Die volkswirtschaftlichen Kosten des Rauchens für die Gesellschaft werden auf 18,8 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Alkohol: 9,5 Millionen Menschen in Deutschland konsumieren Alkohol in riskanter Weise. Nach Definition der WHO wird eine Grenze von mehr als 20 gffag für Frauen bzw. mehr als 30 gffag für Männer als riskanter Alkoholkonsum angenommen [4]. 1,3 Millionen Menschen sind alkoholabhängig. Jedes Jahr sterben in Deutschland mindestens 224
42.000 Menschen an den Folgen ihres Alkoholmissbrauchs. Die volkswirtschaftlichen Kosten für die Gesellschaft werden auf 20 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Medikamente: In Deutschland sind schätzungsweise 1,4-1,5 Millionen Menschen medikamentenabhängig. 70% davon sind Frauen. Im Vordergrund steht die Gruppe der Benzodiazepine. Insbesondere sind hiervon auch Patienten im höheren Alter betroffen. Die volkswirtschaftlichen Folgekosten der Medikamentenabhängigkeit werden derzeit auf ca. 14 Milliarden Euro geschätzt (Extrapolierung der Bundesärztekammer). Cannabis: Der Epidemiologische Suchtsurvey von 2006 geht davon aus, dass in Deutschland insgesamt etwa 600.000 Personen zwischen 18 und 64 Jahren Cannabis entweder missbrauchen (380.000) oder von Cannabis abhängig sind (220.000). Heroin und sonstige illegale Drogen: Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 167.000 und 198.000 Menschen in Deutschland illegale Drogen, d. h. Opiate, Kokain, Amphetamine und Halluzinogene (z.B. LSD) problematisch konsumieren. Droge
Lebenszeitprävalenz in Europa
Cannabis
mindesten 70 Millionen oder 20 % der europäische Erwachsenen
Kokain
mindesten 12 Millionen oder 4 % der europäischen Erwachsenen
Ecstasy
mindesten 9,5 Millionen oder 3,4 % der europäischen Erwachsenen
Amphetamine
mindesten 11 Millionen oder 3,5 % der europäischen Erwachsenen
Opioide
Problematischer Opioidkonsurn: zwischen 1 und 8 Fällen je 1 000 Erwachsene (15 bis 64 Jahre; schwierige Schätzung bei unzureichenden Datenlage)
Tab. 1: Lebenszeitprävalenzen in Europa [3]
Pathogenese: Suchtkranke repräsentieren eine sehr heterogene Gruppe. Der Drogenmissbrauch ist von zahlreichen psychopathologischen Auffälligkeiten begleitet. Häufig wird von Suchtkranken nicht nur eine Substanz missbraucht, sondern situativ auch andere psychotrope Substanzen genutzt. In wie weit Suchterkrankungen und die dazugehörige Pathophysiologie eine Folge der Toxizität der Substanzen und/oder eine Aggravation unterschiedlicher genetischer und sonstiger Einflussfaktoren ist, ist bisher nicht umfassend geklärt. Im Sinne einer Vulnerabilitätstheorie wird vermutet, dass biologische und Umweltfaktoren dazu führen, dass der Circulus vitiosus der Suchterkrankung entsteht. Auf molekularer Ebene bestehen beim Suchtkranken strukturelle und funktionelle Änderungen zahlreicher Neurotransmittersysteme [5,6]. Eine besondere Bedeutung wird dem mesokortikolimbischen System zugeschrieben, das affektiv-emotionale Signale im Sinne von Belohnung vermittelt. Die Adaptation von doparninergen Neuronen im ventralen Tegmentum und deren korrespondierenden Neurone im Nucleus accumbens werden als wesentlich für die individuelle Entwicklung von Toleranz, charakteristischer Verhaltensänderungen (Craving, Reinforcing), Dosissteigerung und lang anhaltende Erinnerung (Suchtgedächtnis) angesehen. Aber auch andere Neurotransmittersysteme, wie das glutamat-, serotonin-, noradrenerge, GABA (y-Aminobuttersäure), NMDA (N-Methyl-DAspartat) und das Endocannabinoid System, weisen Veränderungen auf. Tierexperimentellen Studien zufolge zeichnet sich ab, dass genetische Mutationen eine veränderte Rezeptorstruktur und eine Hypersensitivität von Rezeptoren bedingen [7,8]. Bei Suchtkranken, aber auch bei Patienten mit depressiven oder affektiven Störungen, wiesen Wissenschaftler u.a. Variationen von Genen, die für die Expression des Muskarin 2 Rezeptors verantwortlich sind, nach [9,10]. Auf intrazellulärer Ebene wird dem hirnspezifischen neurotrophen Faktor (brain-derived neurotrophic factor: BDNF), ein im Hirn nachweisbarer, von zahlreichen psychotrophen Substanzen beeinflusster Wachstumsfak225
tor, eine wesentliche Bedeutung für die neuroplastischen Prozesse bei lang anhaltendem Substanzmittelmissbrauch zugeschrieben. BDNF reguliert intrazelluläre Signalkaskaden, welche Überleben, Wachstum, Differenzierung und Struktur der Zelle beeinflussen [5]. In Zwillingsstudien lag die Bedeutung genetischer Einflüsse für die Entwicklung einer Alkoholkrankheit bei ca. 60 %. Bei Suchtkranken ist eine erhöhte Stressvulnerabilität zu beobachten. Das bedeutet, dass bei verschiedenen organischen (z. B. Operation, Trauma) oder psychischen (z. B. Angst, Leistungsdruck) Stressoren die Aktivität des limbischen als auch des vegetativen Systems, (insbesondere Hypothalamus, Hypophysen-Nebennieren-Achse) gesteigert ist. Die Aktivierung des endogenen Stresssystems wird nicht nur als wesentlich für die negative Stimmungslage bei Drogenabstinenz, sondern auch für die erhöhte Stressvulnerabilität erachtet. Koob postuliert Dysregulationen im zerebralen Stress- als auch Anti-Stress-System, welche das Empfinden von Distress und das Verlangen nach Distress mindernden Substanzen dauerhaft verändert [11]. Er stellt die Hypothese auf, dass die Interaktion von Corticotropin-Releasing-Faktor (CRF) und Norepinephrin im Hirnstamm und im basalen Frontalhirn, die Interaktion von Orexin und CRF im Hypothalamus und basalen Frontalhirn, sowie die Interaktion von CRF und Vasopressin und/oder Orexin zur chronischen Dysregulation des emotionalen Zustandes bei Suchtkranken führt.
Analgetische Toleranz und Hyperalgesie In einem Übersichtsartikel hat Koppert die Ergebnisse zahlreicher Untersuchungen zur Opioid induzierten analgetischen Toleranz und Hyperalgesie zusammengefasst [12]. Als analgetische Toleranz bezeichnet man das Phänomen, dass bei länger dauernder Applikation eines Opioids der analgetische Effekt abnimmt. Dieses hat eine Dosissteigerung zur Folge. Außerdem ist beobachtet worden, dass nach Applikation von Opioiden eine vermehrte Schmerzempfindlichkeit im Sinne einer Hyperalgesie auftritt. Dieses wird im Sinne einer physiologischen Gegenregulation erklärt. Dem Eingriff in das nozizeptiven Systems folgt die physiologische Aktivierung antinozizeptiver Mechanismen. Es gibt dabei kein einheitliches Bild der Schmerzverstärkung, vielmehr variiert es in Abhängigkeit vom verwendeten Opioid. Alle in der Klinik eingesetzten Opiode führen dosisabhängig zu einer Herabsetzung der Schmerzschwelle. Heroin scheint im Vergleich zu Methadon einen wesentlich stärkeren hyperalgetischen Effekt zu bewirken. Neben der Rezeptordesensibilisierung scheinen die Aktivierung der Adenylzyklase, die NMDA-Rezeptoraktivierung, die Freisetzung von opioidantagonistischen Peptiden und eine Fazilitierung der synaptischen Übertragung in Hinterhomneuronen eine wesentliche Rolle zu spielen.
Substanzen und klinische Manifestationen: Alkohol: Alkohol ist als polare Substanz wasser- und fettlöslich und passiert die BlutHirnschranke. Er reichert sich in der Lipidmembran von Zellen an und wirkt an unterschiedlichen Rezeptoren, wie den GABA-, NMDA-, Opioid- und Serotoninrezeptoren. In niedriger Dosierung wirkt Alkohol euphorisierend und enthemmend, in hoher Dosierung kommt es zur Bewusstseinstrübung, fehlendem Erinnerungs- und Urteilsvermögen sowie Lähmungen. Koma mit eventuell tödlichem Ausgang tritt ab Blutalkoholkonzentrationen von 2,5 - 3,5 mg/rnl Blut auf. Vaagts und Mitarbeiter haben in einem Übersichtsartikel die Wirkungen von Alkohol beim Menschen umfassend beschrieben [13]. Bei der akuten Alkoholintoxikation können eine verminderte Myokardkontraktilität, Herzrhythmusstörungen sowie Hypotonie mit Reflextachykardie infolge einer peripher NO-vermittelten Vasodilation auftreten. Schon
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geringe Mengen an Alkohol senken den Tonus des unteren Ösophagussphinkters und die Peristaltik, somit besteht eine erhöhte Aspirationsgefahr. Alkohol führt an der Mukosa des Magens und am Ösophagus zur Epithelschädigung. In der Leber zeigen sich ein erhöhter Sauerstoffverbrauch, eine verminderte Gluconeogenese, eine verminderte Oxidation von Fettsäuren und ein Lak:tatanstieg. Im Pankreas kommt es zu einer erhöhten Sekretionsleistung bei gleichzeitiger Konstriktion des ductus pancreaticus. Immunologisch findet sich eine verringerte Adhäsionsfähigkeit und Chemotaxis der Leukozyten. Makrophagen schütten vermindert TNF-alpha aus. Die Aktivität des granolozyten-stimulierenden Faktors wie auch der Superoxidase ist vermindert. Die Zilienfunktion im Endobronchialsystem ist herabgesetzt. Hämatologisch stehen gestörte Thrombozytenaggregation und Thrombozytopenie im Vordergrund. Der chronisch alkoholabhängige Patient ist meist multimorbid. Bei 50 % der Alkoholiker besteht eine Hirnatrophie, 10 % der Demenzerkrankungen sind alkoholbedingt. Bei 20-40 % der Patienten mit chronischem Abusus besteht eine ausgeprägte Polyneuropathie. Dilatative Kardiomyopathie mit eingeschränkter Pumpleistung des Herzens, Arrythrnien, arterieller Hypertonie und koronare Herzerkrankung sind Folge des langjährigen Alkoholabusus. Die chronische Refluxösophagitis sowie die direkte Toxizität des Alkohols auf die Mucosa begünstigt die Entstehung von Malignomen im oberen Gastrointestinaltrakt. Auch die Dünndarmmukosa wird in ähnlicher Weise geschädigt, was zur verminderten Kompensation bei Hypoxie oder Hypoperfusion führt und ursächlich für die erhöhte Rate an septischen Komplikationen bei alkoholkranken Patienten sein könnte. Wenn über einen Zeitraum von 10 Jahren mehr als 80 g Alkohol täglich konsumiert werden, entwickeln etwa 10 % der Patienten eine Leberzirrhose. Portale Hypertension, Ösophagusvarizen, Hypalbuminämie, Hyponatriämie, gestörte hepatische Gerinnung und Aszitis sind Folge. Die chronische Pankreatitis führt langfristig zur verminderten Insulinproduktion. Immunologisch führt die verminderte Leukozytenproduktion im Knochenmark zur erhöhten Anfälligkeit für Infektionen. Hämatologisch sind makrozytäre Anämie und Thrombozytopenie auffällig. Die gestörte Thrombozytenfunktion wird auf eine Hemmung der Aggregation sowie eine verminderte Freisetzung von Thromboxan 2 zurückgeführt. Metabolismus: Alkohol wird zu ca. 95 % in der Leber metabolisiert. Von Bedeutung sind dabei der zytoplasmatische Abbau durch die Alkoholdehydrogenase, das mikrosomale ethanoloxidierende System des endoplasmatischen Retikulums und in Peroxysomen lokalisierte Katalasen. Es entsteht Acetaldehyd, welches in den Mitochondrien zu Acetat abgebaut wird. Bei chronischem Alkoholkonsum ist die Fähigkeit, Acetaldehyd abzubauen, eingeschränkt. Das führt zur Reaktion von Acetaldehyd mit zahlreichen Proteinen, deren normale Funktion dann eingeschränkt ist. Alkoholentzugssyndrom: Die Symptome (Tab. 2) beginnen etwa fünf bis zehn Stunden nach Absinken des Blutalkoholspiegels und erreichen unbehandelt nach zwei bis drei Tagen ein Maximum. Etwa 2-5 % der alkoholkranken Patienten entwickeln im Verlauf der Erkrankung Alkoholentzugsanfälle. Das Delirium tremens ist durch kognitive Störungen, Unruhe, Bewusstseinsstörungen, Tremor und Überaktivität des autonomen Nervensystems (Hypertonie, Tachykardie, Tachypnoe) gekennzeichnet. Die Inzidenz ist mit weniger als ein Prozent aller Entgiftungen sehr gering, aber als potentiell lebensbedrohlich zu werten. Symptome des Alkoholentzugssyndroms Tremor der Hände, Angst, Unruhe, Schlafstörungen, beschleunigte Puls- und Atemfrequenz, Anstieg der Körpertemperatur, Schweißausbrilche, optische, taktile und akustische Halluzinationen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen
Tab. 2: Symptome des Alkoholentzugssyndroms
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Cannabis: Die weibliche Pflanze des indischen Hanfes (cannabis sativa variatio indica) sondert ein harziges Sekret ab, in der neben der psychotropen Substanz ö-9Tetrahydrocannabinol (THC) über 400 weitere Stoffe vorhanden sind. Marihuanazigaretten werden aus getrockneten Blättern und Blüten hergestellt. Haschisch wird aus dem konzentrierten Harz der Pflanze gewonnen. THC wird nach Inhalation rasch in die Blutbahn aufgenommen, es wird in der Leber zu mehr als 20 Metaboliten abgebaut. Im ZNS sind spezifische Cannabinoidrezeptoren nachgewiesen worden (CB 1 und CB 2). Das Endocannabinoid System spielt eine wesentliche Rolle in der Kontrolle von Schmerz, Motivation und Kognition. Beim Menschen finden sich CB 1 Rezeptoren vorwiegend im Hippocampus, Neocortex, Basalganglien, Cerebellum and Nucleus olfactorius anterior, aber auch in der Amygdala, Hypothalamus und dem periaqueduktalen Grau im Mittelhirn sind sie nachweisbar [14). Der akute Marihuana-Rausch bewirkt ein Gefühl der Entspannung mit euphorischer Komponente, von diskreten Einschränkungen des Denkens, der Konzentrationsfähigkeit und der Psychomotorik begleitet. Mundtrockenheit, eine leichte Beschleunigung des Herzschlages und eine konjunktivale Rötung sind ebenfalls nachweisbar. Höhere Dosen können in der Symptomatik einer Alkoholintoxikation gleichen. Die Droge kann bei Patienten mit psychotischen oder neurotischen Vorerkrankungen schwere emotionale Störungen auslösen [15). Chronischer Gebrauch führt zu allgemeiner Interesselosigkeit, die Symptome sind schwer von einer moderaten Depression und einer Reifungsstörung in der Adoleszenz abzugrenzen. Die pulmonalen Folgen gleichen denen des Nikotinabusus. Bei Patienten mit vor bestehender koronarer Herzinsuffizienz kann ein Angina-Pectoris Anfall ausgelöst werden. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass neben der psychischen Abhängigkeit auch eine körperliche Entzugssymptomatik auftritt. Antagonisten der Cannaboid Rezptoren führen zu deutlichen körperlichen Entzugserscheinungen. Cannabidiol, ein weiterer Inhaltsstoff, zeigt keine psychotropen Wirkungen, ist aber als Hemmstoff mikrosomaler Enzyme verantwortlich für Interaktionen mit anderen Pharmaka, z. B. einer prolongierten Wirkung von Barbituraten. Opiate und Opioide: Morphin und Codein werden direkt aus dem milchigen Saft des Schlafmohns Papaver somniferum gewonnen. Zu den semisynthetischen Substanzen gehören u. a. Hydromorphon, Diacethylmorphin (Heroin) und Oxycodon. Rein synthetische Opioide sind Fentanyl, Piritramid, Buprenorphin und viele mehr. Opioide aktivieren periphere, spinale und supraspinale Opioidrezeptoren. Neben den klassischen Rezeptoren (s. Tab. 3) ist noch eine vierte Gruppe identifiziert worden (als Nediceptin oder Orphanin bezeichnet). Zahlreiche Isoformen und Subtypen sind beschrieben worden. Opiodrezeptoren
Wirkung
Mu (µ)
Analgesie, Euphorie, Husten, Appetitlosigkeit, Atemsuppression, verminderte Magen-Dann-Motilität, Sedierung, hormonelle Veränderungen, Dopamin- und Acetylcholinfreisetzung
Kappa(x)
Verminderte dysphorische Stimmung, verminderte Magen-Dann-Motilität, Appetitlosigkeit, Atemsuppression, Sedierung, Analgesie
Delta (Ö)
Hormonelle Veränderungen, Appetitlosigkeit, Dopaminfreisetzung
Tab. 3: Opiodrezeptoren und Wirkungen
Die Haupteffekte von Toleranz, Abhängigkeit und Entzug werden vor allem von µ-Rezeptoren vermittelt und gehören zum Wirkungsspektrum aller verschreibbaren Opioide. Diacetylmorphin (Heroin) hat aufgrund seiner molekularen Struktur eine besonders starke Suchtgefahr. Es ist ca. dreifach so wirksam wie Morphin. Bei intravenöser Verabreichung werden die Effekte am schnellsten erreicht, aber auch 228
beim Rauchen oder Inhalieren ist die Resorption nahezu vollständig. Die Substanzen werden überwiegend über die Leber glucuronisiert, nur ein geringer Teil über Urin oder Faeces ausgeschieden. Die akute Intoxikation, die bei mehr als 60 % der opiatabhängigen Patienten im Verlauf auftritt, ist potentiell tödlich [16]. Zu den typischen Symptomen zählen Miosis der Pupillen (bei Anoxie des Gehirns entwickelt sich eine Mydriasis), verlangsamte Atmung, Bradykardie, Hypothermie und Bewusstseinseintrübung bis zum Koma. Infolge der Atemdepression treten unbehandelt das kardiorespiratorische Versagen und der Tod ein. Neben dieser Symptomatik kann eine „allergieähnliche" Reaktion auf intravenöses Heroin sowie dessen Streckmittel (Zuckerstoffe, Milchpulver, Chinin, Phenacetin, Koffein, Antipyrin, Strychnin u. a. mehr) auftreten. Eine verminderte Vigilanz und ein schäumendes Lungenödem stehen klinisch im Vordergrund. Heroinabhängige Patienten neigen zur Polytoxikomanie. Insbesondere Benzodiazepine, Alkohol, aber auch Clonidin wird konsumiert, um die Nebenwirkungen zu reduzieren bei unverändertem Rauscherleben. Es besteht eine hohe Prävalenz von Hepatitis C und HIV als Begleiterkrankung. Entzugssymptome: Die Entzugssymptome entsprechen den gegenteiligen Effekten der Drogeneinnahme und sind in Tab. 4 zusammengefasst. Symptome des Opiatentzugs
Agitation, Unruhe, Angst, Dysphorie, Mydriasis, Rhinitis, leichte Erhöhung der Körpertemperatur, Herz- und Atemfrequenz, Husten, Hyperalgesie, abdominelle Schmerzen, Diarrhoe, starkes Schwitzen, Piloerektion (Gänsehaut), Muskelkrämpfe
Tab. 4: Klinische Symptome bei Opiatentzug
Kokain: Kokain ist ein Stimulans und ein Lokalanästhetikum mit ausgeprägter Vasokonstriktion. Die Blätter der Kokapflanze (Erythroxylon coca) enthalten 0,5-1 Prozent Kokain. Nach oraler, intranasaler, intravenöser Applikation oder Inhalation nach Pyrolyse entfaltet die Droge ihre physiologischen und Verhaltens verändernden Wirkungen. Kokain erhöht die Konzentrationen von Doparnin, Noradrenalin und Serotonin durch Bindung an die Transportermoleküle in der präsynaptischen Membran von Neuronen. Die Wirkung von Kokain tritt nach wenigen Minuten ein, erreicht ein Maximum nach 10-20 Minuten und hält selten länger als ein Stunde an. Bei speziellen Zubereitungen, wie dem mit Natriumbikarbonat zubereiteten free-base Kokain (,,Crack") tritt die Wirkung nach Inhalation bereits nach 8-10 Sekunden ein, weshalb es zunehmend populär wird. Kokain hat eine Plasmahalbwertszeit von etwa 45-60 Minuten. Es wird hauptsächlich durch eine Plasmaesterase metabolisiert und die Metaboliten mit dem Urin ausgeschieden. Kokain führt neben der Betäubung von Hunger und Müdigkeit zu motorischer Unruhe, einem schwer zu beschreibendem Glücksgefühl, der Vorstellung von übermenschlicher Stärke als auch optisch-akustisch-taktilen Halluzinationen. Es kommt zu einer Steigerung der Herzfrequenz, des Blutdrucks und der Körpertemperatur. Kürzlich konnte gezeigt werden, dass der hypertensive Effekt nach Inhalation von Kokain beim Menschen durch eine exzessive Zunahme des Herzzeitvolumens mit peripherer Vasodilatation sowie direkter Sympathikus Stimulation am Herzen bedingt ist [17]. Das Abklingen der Wirkung ist häufig von Angstzuständen und ausgeprägter Aggressionsneigung begleitet. Als Folge der akuten Intoxikation können Atemdepression, Herzrhythmusstörungen, koronare Ischämie, cerebrale Krampfanfälle, ischämische oder hämorrhagische Schlaganfälle sowie Subarachnoidalblutungen zum Tode führen [18). Der chronische Kokaingenuss kann zu Nekrosen der Nasenschleimhaut (bei intranasaler Applikation), zu deutlichem Libidoverlust, Galaktorrhö und Fertilitätsstörungen führen. Es können paranoide Wahnideen auftreten. Patienten, die Crack inhalieren, können aufgrund der Lösungsmittel schwere Lungenerkrankungen, ein Glottisödem oder eine Leberinsuffizienz entwickeln.
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Kokain führt zu einer Toleranzentwicklung, die zur Dosissteigerung oder häufigeren Einnahme führt. Es tritt eine psychische Abhängigkeit auf. Bisher ist umstritten, ob Entzugssymptome wie psychomotorische Agitiertheit oder autonome Hyperaktivität bestehen. Der Entzug kann aber von einer ausgeprägten depressiven Stimmungslage begleitet sein. Amphetamine: Die Stimulatien sind Abkömmlinge des Phenylethylamins und wirken über die Freisetzung von Noradrenalin, Adrenalin und Dopamin. Sie hemmen außerdem die Wiederaufnahme der Amine in ihre Speicher und den enzymatischen Abbau durch die Monoaminooxydase. Nach oraler Aufnahme kommt es zur nahezu vollständigen Resorption im Dünndarm. Amphetamin wird sowohl unverändert als auch nach Metabolisierung in der Leber renal ausgeschieden. Patienten, die Methamphetamine (,,Ice", ,,Chalk", ,,Crystall" u. a.) missbrauchen, berichten von Euphorie und verminderter Müdigkeit auf unangenehme Lebenssituationen. Nachteilige physiologische Wirkungen sind Kopfschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten, Appetitminderung, abdominelle Beschwerden, Schlafstörungen sowie paranoides, aggressives oder psychotisches Verhalten. Leistungsgrenzen werden nicht mehr erkannt. Die akute Intoxikation ähnelt der des Kokainabusus. Ecstasy (MDMA; 3.4-Methylendioxymethamphetamin), als Droge besonders bei Jugendlichen beliebt, kann oral eingenommen, aber auch injiziert oder inhaliert werden Es führt zur gesteigerten Stimmungslage, Selbstüberschätzung und Enthemmung. Häufig ist Ecstasy mit anderen Substanzen wie Koffein, Atropin, Ketamin, Ephedrin, Methamphetamin oder Amphetamin verunreinigt. Ausgeprägte Hyperthermie, Hyponatriämie und Lebertoxizität können neben den oben beschriebenen Symptomen nach Intoxikation auftreten. Alle Amphetaminderivate können zur raschen psychischen Abhängigkeit führen. Eine Dosissteigerung ist bei Toleranzentwicklung üblich. Es tritt kein typisches Entzugssyndrom auf, jedoch zeigen sich extremes Schlafbedürfnis, Heißhunger, Angst und Gereiztheit nach erzwungenem Absetzen [15]. Benwdiazepine: Benzodiazepine führen zur 1) Anxiolyse (Unterdrückung der Folgeerscheinungen von Angst-, Spannungs- und Erregungszuständen), 2) Beruhigung und Sedierung, 3) Muskelrelaxation und 4) antikonvulsiver Wirkung. Erwähnenswert ist außerdem die unterschiedlich ausgeprägte amnestische Wirkung. Der Hauptangriffsort der Benzodiazepine ist das limbische System. Ihre inhibierende Wirkung beruht auf einer Aktivierung prä- bzw. postsynaptischer GABA-Rezeptoren. Benzodiazepine führen zur Verminderung der REM-Schlafphasen. Nach abruptem Absetzen nach längerer Anwendung treten Hyposomnie, Angstzustände, Schwindel und Schwächegefühl auf. Insbesondere bei älteren Menschen kann ein organisches Psychosyndrom oder eine paradoxe Reaktion in Form eines Erregungszustandes bei gleichzeitiger Bewusstseinstrübung auftreten. Monatelange Einnahme von hohen Benzodiazepin Dosen kann nach Absetzen zu psychotischen Reaktionen, Krämpfen und einem Delirium tremens führen. Benzodiazepine werden nach oraler Anwendung rasch resorbiert und in Abhängigkeit von der Lipidlöslichkeit der Derivate an Plasmaalbumin gebunden. Die metabolische Inaktivierung erfolgt im endoplasmatischen Retikulum, vorwiegend in der Leber. Flunitrazepam (Rohypnol®), welches sich besonderer Beliebtheit zum Missbrauch erfreut, hat eine Halbwertszeit von 10-20 Stunden. Als Einzelsubstanz ist Flunitrazepam relativ ungefährlich, hingegen können respiratorische und kardiale Insuffizienz bei der Kombination mit anderen Substanzen rasch entstehen.
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Substitutionstherapie: Es gibt spezifische Medikamente, die als Substitutionstherapie oder um die Rückfallrate zu reduzieren, eingesetzt werden. Einige Interaktionen mit Anästhetika sind relevant (Tab. 5). Medikament
Droge
Pharmakologie
Mittler Tages-Dosis
Anästhesiologische Relevanz
Methadon Levomethadon (L-Polarnidon®)
Heroin
µ-Rezeptor-Agonist vennindert Entzugssymptome und das drug craving
Methadon: 10-12 rnl (100-120 mg); Levomethadon: 10-12 rnl (50-60 mg) p.o.
Medikation fortführen, keine ausreichende Analgesie
Buprenorphin (Subutex®, Temgesic®)
Heroin
Partieller Rezeptor Agonist/Antagonist
2-8 mg sublingual
venninderte Wirkung von µ-RezeptorAgonisten, ggfls. Umstellung auf Methadon
Naltrexon (Nemexin®)
Alkohol
µ-Rezeptor Antagonist, vennindert Rückfallrate
24-48 h präoperativ absetzen, Cave: vorsichtige Opioiddosierung bei Hochregulation der Rezeptoren
Tab. 5: Medikamente zur Substitutionstherapie
Naltrexon blockiert Opioidrezeptoren für mehr als 72 h. Während es bei Heroinabhängigen die psychotrope Wirkung verhindert, wirkt es beim Alkoholiker als Anti-Craving Medikament. Aufgrund der ausgeprägten Hochregulation der µ-Opioid-Rezeptoren wird empfohlen, während der Anästhesie und für die postoperative Analgesie die Opioiddosierung vorsichtig zu steigern. Die erhöhte Anzahl an aktivierten Rezeptoren kann frühzeitig zur Atemdepression führen. Die Naltrexontherapie kann eine Woche nach erfolgter Anästhesie/Opioidanalgesie wieder aufgenommen werden, dezidierte Untersuchungen perioperativ fehlen aber bisher [1].
Psychische Co-Morbidität Süchtige Patienten weisen eine deutlich höhere Prävalenz an psychischen, therapiebedürftigen Erkrankungen auf, als die Normalbevölkerung. Sie äußern sich in Depressionen, Psychosen, Angst-, Persönlichkeits-, und Somatisierungsstörungen. Unter Patienten mit psychischen Erkrankungen waren 32 % suchtkrank, 37% der Patienten mit Alkoholabusus wiesen eine psychische Co-Morbidität auf (19]. Die psychische Co-Morbidität begünstigt eine akzentuierte Schmerzempfindung und postoperative Komplikationen. Angst, depressive Verstimmung, unmotiviertes Verhalten, eine fehlende Krankheitseinsicht bzw. Bewältigungsstrategie (,,Coping") sowie ein hoher Therapieanspruch können die perioperative Phase schwierig gestalten [1].
Anästhesie- und Analgesieregime Es gibt keine umfassenden evidenz-basierten Richtlinien zum anästhesiologischen Vorgehen bei Suchtkranken, vielmehr überwiegen Empfehlungen aus Übersichtsarbeiten mit Erfahrungsmitteilungen [1,20,21]. Unter akuter Wirkung von Drogen ist eine Anästhesie 231
kontraindiziert. Es bestehen die üblichen Notfallindikationen, wobei ein erhöhtes Risiko besteht. Grundsätzliche Überlegungen: Der suchtkranke Patient ist ein chronisch kranker Patient. Insbesondere bei umfangreichen operativen Eingriffen gilt er als Hochrisikopatient aufgrund seiner zahlreichen CoMorbiditäten. Die perioperative Therapie ist nicht Therapie der Grunderkrankung, vielmehr sind die Besonderheiten der chronischen Suchterkrankungen zu akzeptieren. Gleichrangige perioperative Behandlungsprinzipien sind nach Jage und Heid [1]: ► ► ► ► ► ►
Stabilisierung der körperlichen Abhängigkeit durch Substitution (z. B. Methadon bei Heroinsucht oder Clonidin/Benzodiazepine bei Alkoholsucht) Vermeidung von Distress und Craving Weitestgehende intra- und postoperative Stressabschirmung Vermeidung analgetischer Unterversorgung Postoperative Optimierung der regionalen oder systemische Analgesie durch Nichtopioide bzw. Koanalgetika Berücksichtigung der vielschichtigen körperlichen und psychischen Co-Morbiditäten
Prämedikation: Während des Prämedikationsgespräches sollten möglichst umfassende Informationen über den Substanzabusus (was, wie viel, wie häufig, welche Dosis, wann zuletzt, Entzugssymptome, Entzugsversuche?) gesammelt werden. Patienten in Abstinenzprogrammen geben meist sehr freizügig und detailliert Auskünfte. Die Angaben bei Drogenabhängigen sind oft unzuverlässig. Bei Verdacht auf Alkoholabhängigkeit können zum Screening standardisierte Fragebögen wie der „CAGE" (s. Tab. 6) oder „AUDIT'' eingesetzt werden [22,23). Der CAGE ist besonders gut geeignet, Patienten mit Gefährdung für ein Alkoholentzugssyndrom während des Krankenhausaufenthaltes zu detektieren. Cut down
Haben Sie schon mal daran gedacht, Ihre Trinkmenge zu reduzieren?
Annoyed
Haben Sie sich jemals über die Kritik anderer Personen an Ihrem Trinkverhalten geärgert?
Guilty
Haben Sie sich je wegen Ihres Trinkverhaltens schuldig gefühlt?
Eye-opener
Haben Sie morgens Alkohol getrunken, um wach zu werden oder sich konzentrieren zu können?
Tab. 6: CAGE-Fragebogen zur Primärevaluation der Alkoholabhängigkeit
Die körperliche Untersuchung gibt Hinweise auf die organischen Begleiterkrankungen, ggfls. sind weiterführend Untersuchungen zu veranlassen. Insbesondere bei Alkoholkranken ist auf Leberwerte, Hämoglobin und Gerinnungsparameter zu achten. Großzügig sollte, insbesondere bei auffälliger Psychopathologie, die psychiatrische Mitbetreuung erwogen werden. Zur medikamentösen Prämedikation ist bei Heroinabhängigen Methadon indiziert, bei anderen Suchterkrankungen Benzodiazepine zu erwägen. Das Vorgehen in Bezug auf eine Drogenersatztherapie ist in Tab. 5 zusammen gefasst. Eine beruhigende Gesprächsführung, die Vertrauen schafft, ist als wesentlich zu erachten, um den Stress der perioperativen Phase für Suchtkranke zu minimieren. Anästhesiedurchführung: Auch bei Suchtkranken richtet sich die Auswahl der Pharmaka nach organischen Vorschäden und dem geplanten Eingriff. Es gibt keine Hinweise, dass eine Allgemeinanästhesie per se Sucht aktivierend ist. Sowohl inhalative als auch total intravenöse Techniken sind
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möglich. Da Remifentanil bei Opioidsucht und unter Methadonsubstitution eine ausgeprägte postoperative Hyperalgesie bewirken kann, sind andere Opioide wie Fentanyl, Sufentanil und Alfentanil bei diesen Patienten bevorzugt einzusetzen [24]. Patienten unter Methadonsubstitution haben keine ausreichende Analgesie intra- und postoperativ, sondern benötigen zusätzlich Analgetika. Die intraoperative Gabe von Clonidin iv. (0, 1 -0,2 µg/kg KG /h kann eine Reduktion der Opioiddosis bewirken. Ketamin iv. (1-2 µg/kg KG/h) hat eine antihyperalgetische Wirkung. Suchtkranke können aufgrund von Kreuztoleranzen einen deutlich erhöhten Bedarf an Analgetika (30-100 % über der üblichen Dosis) haben, es wird nach klinischen Kriterien dosiert [l]. Unter akuter Drogeneinnahme kann es zur Wirkungsverstärkung von Anästhetika und verzögertem Aufwachen kommen. Bei intraoperativer Tachykardie, Hypertension und Schweißausbrüchen ist an ein beginnendes Entzugssyndrom zu denken. Es wird vermutet, dass Suchtkranke von regionalen Techniken profitieren, insbesondere bei der Behandlung perioperativer Schmerzen. Bisher fehlen jedoch prospektive Studien, deren Ergebnisse die theoretischen Überlegungen untermauern. Eine mangelnde Akzeptanz gegenüber regionalen Verfahren und ein erhöhtes Infektionsrisiko mögen individuelle Kontraindikationen Verfahren darstellen. Es bestehen keine spezifischen Kontraindikationen gegen den Einsatz von epiduralen Opioiden. Zur Ausleitung der Anästhesie sollte auf die Gabe von Antidoten verzichtet werden, das langsame stressfreie Erwachen ist wesentlich. Naloxon kann zu Hyperalgesie, massiven Schmerzen und akut bedrohlichem Entzugssyndrom führen. Die Schmerztherapie sollte schon während der Allgemeinanästhesie beginnen. Die lokale Infiltration mit einem Lokalanästhetikum hat einen hohen Stellenwert. Spezifische Besonderheiten bei Alkoholkranken: Die Indikation zur rapid sequence induction ist aufgrund von erhöhtem Aspirationsrisiko großzügig zu stellen. Engmaschige Elektrolyt- und Glucosekontrollen sind perioperativ notwendig. Die chronische Hyponatriämie sollte bei unauffälligem neurologischem Befund wegen der Gefahr einer irreversiblen präpontinen Myelinolyse nicht ausgeglichen werden. Kontraindikationen von Medikamenten bei schwerer Leberinsuffizienz sind zu berücksichtigen. Es besteht ein erhöhtes Blutungsrisiko. Werden im CAGE Fragebogen 3 Fragen mit ,,Ja" beantwortet oder 2 Fragen mit ,,Ja" neben einem bestehenden pathologischen Laborparameter, so ist eine perioperative Delirprophylaxe notwendig, sofern der operative Eingriff erforderlich ist. Mittel der 1. Wahl sind Benzodiazepine, additiv kann zur Prämedikation und intraoperativ Clonidin verwandt werden und in der postoperativen Phase fortgeführt werden. Haloperidol ist nur bei produktiv psychotischen Symptomen indiziert [25]. Die perioperative Gabe von Ethanol iv. (ca. 30-60 g/24 h (max. 200 g/24 h) kann im Einzelfall sinnvoll sein. Postoperative Phase: Es gelten die üblichen Standards zur Überwachung. Ein besonderes Augenmerk gilt einer beginnenden Entzugssymptomatik. Die Indikation zur Aufnahme auf eine Intermediate Care oder eine Intensivstation ist großzügig zu stellen. Der postoperative Schmerz wird bei Suchtpatienten häufig unterschätzt und unzureichend therapiert. Dies gilt insbesondere für Patienten mit Opioidsucht. Dabei ist inzwischen bekannt, dass insbesondere der Mangel einer adäquaten Schmerztherapie ein wesentlicher Grund für Rückfälle in die Opioidsucht sein kann [26]. Sowohl für Drogenabhängige als auch Patienten mit Abstinenz oder unter Substitutionstherapie bietet sich ein multimodales Schmerzkonzept an [21]. Der Einsatz von regionalen Katheterverfahren hat neben systemischer Analgesie mit Nichtopioiden und Opioiden (bei sehr schmerzhaften Operationen) einen hohen Stellenwert. Die Patienten-kontrollierte Analgesie mit adaptierten Dosierungen ist bevorzugt geeignet. Grundsätzlich sollten partielle Opioid Agonisten/ 233
Antagonisten nicht verwandt werden. Eine engmaschige Überwachung ist erforderlich. Ein aktives Einbinden des Patienten in die Strategie fördert das Vertrauen, bewirkt eine Stressreduktion und verhindert eine Selbstmedikation des Patienten, nicht zuletzt auch mit illegalen Substanzen.
Anästhesie und Analgesie beim ehemals drogenabhängigen Patienten: Ein sorgfältiges interdisziplinäres Management unter Beteiligung von Suchttherapeuten ist zu erwägen, um die perioperative Stressbelastung, insbesondere bei ausgedehnten Eingriffen, bei möglicherweise weiter verminderter Stresstoleranz dieser Patienten zur reduzieren und ein möglichst komplikationslosen Verlauf zu ermöglichen. Je länger das Intervall der Drogenabstinenz andauert, desto geringer ist das Rückfallsrisiko. Es gibt aber keine exakten Fallzahlen, wie häufig ein Rückfall durch einen operativen Eingriff mit Anästhesie ausgelöst wurde. Zahlreiche anekdotische Berichte lassen darauf schließen, dass intensives Verlangen nach der Droge auch bereits bei kleinen Eingriffen auftreten kann. Da die Suchterkrankung eine chronische Erkrankung ist, kann es auch nach vielen Jahren der Abstinenz zum Rückfall kommen. Angst und Schmerz gelten als potentielle Auslöser für das Verlangen nach der Droge, bzw. den Rückfall in die Sucht (21]. Es ist wichtig, im Rahmen des Prämedikationsgespräches eine Vertrauensbasis zu diesen Patienten herzustellen. Während Patienten in Abstinenzprogrammen häufig sehr korrekt berichten, kann es bei anderen Patienten zum Teil schwierig sein, verlässliche Angaben zu erhalten. Wichtig ist zu erfragen, wie lange die Abstinenz besteht. Dem Patienten sollte eine möglichst exakte Information über das anästhesiologische Vorgehen inklusive der geplanten postoperativen Analgesie gegeben werden. Die Indikation zur medikamentösen Prämedikation ist individuell zu stellen. Manche Patienten lehnen sie ab. In Abhängigkeit vom geplanten Eingriff scheinen bei drogenabstinenten Patienten Regionalverfahren besonders gut geeignet, sofern keine spezifischen Kontraindikationen bzw. eine Ablehnung des Patienten besteht [l]. Es ist allerdings nicht geklärt, ob durch die Anwendung eines regionalen Anästhesieverfahrens die Rückfallrate vermindert werden kann. Für die Allgemeinanästhesie gibt es keine speziellen Empfehlungen. Bei Patienten in der frühen Phase nach Beendigung des Drogenkonsums kann ein erhöhter Anästhetikaund Analgetikabedarf bestehen. Grundsätzlich sind bei der Wahl der Medikamente die Begleiterkrankungen zu berücksichtigen. Für die postoperative Analgesie sind regionalanästhesiologische Katheterverfahren besonders gut geeignet. Darüber hinaus sollten Infiltrationen der Wundränder oder Gelenkinstallationen mit Lokalanästhetika angewandt werden, um den systemischen Analgetikagebrauch zu reduzieren. Für die systemische Analgesie hat die Anwendung von Nichtopioiden einen hohen Stellenwert. In Abhängigkeit vom durchgeführten Eingriff sind auch Opioide indiziert. Die Sorge vor Suchtreaktivierung sollte auf keinen Fall zu einer analgetischen Unterversorgung der Patienten Anlass geben. Eine engmaschige Überwachung des Patienten und ggfls. eine Dosisanpassung ist daher wesentlich. Wenn die Gabe von sog. schwach wirksamen Opioide, wie z. B. Tramadol nicht ausreichend ist, kommen starke Opioide zum Einsatz. Eine Kombination kann ebenfalls sinnvoll sein. Zu beachten ist, dass für Tramadol eine Kontraindikation bei Krampfneigung besteht. Gut geeignet sind für die Gabe von Piritramid oder Morphin Patienten-kontrollierte Verfahren, wobei die i.v. Dosis im Einzelfall abweichend von Standardregimen adaptiert werden muss.
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Notfallmedizinische Einsatztaktik - work and go A.
FLEMMING
Einführung In der Notfallmedizin ist der Faktor „Zeit" eine wichtige Einflussgröße, die zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses rückt [1, 7, 23, 24, 31, 40]. Im Bereich der Versorgung von Traumapatienten [12, 23, 36], der kardiopulmonalen Reanimation [19] sowie weiteren internistischen Notfallbildern wie dem akuten Koronarsyndrom [32] und den akuten neurologischen Krankheitsbildern wie SAB und zerebraler Insult wird die Problematik exemplarisch deutlich. Auch in Leitlinien und Therapieempfehlungen findet diese Einflussgröße Beachtung [3, 15, 16, 18, 19, 29, 33]. Bei genauer Analyse des Faktors ,,Zeit" stellt sich die Frage, ob und bei welchen Einsatzsituationen die notärztlichen Therapiemaßnahmen den hierfür notwendigen, erhöhten Zeitbedarf im Sinne eines „stay and play" rechtfertigen oder ob nicht alternativ ein schneller Kliniktransport im Sinne des „load and go" mit eingeschränkter Basisversorgung indiziert ist [22, 36]. Beim Vergleich solch konträrer Einsatztaktiken müssen zuerst die weiteren Einflussfaktoren und Systemmerkmale identifiziert und bewertet werden. Wichtige Einflussfaktoren und Systemmerkmale im notärztlichen Rettungssystem: • • • •
Notärztliche Qualifikation, Rettungsdienstliebe und klinische Infrastruktur, Notfallmedizinische Zeitintervalle, Erkrankungsschwere, Behandlungsumfang und Versorgungsqualität.
Eine unkritische Übertragung einer Einsatztaktik in ein anderes Rettungssystem kann somit nicht erfolgreich sein, vielmehr muss nach differenzierteren Lösungswegen gesucht werden.
Die in diesem Zusammenhang geprägten Begriffe des „work and go" [l] bzw. des „act rapidly and go fast" [34 J würdigen den Z,eitaspekt unter Berücksichtigung der genannten Einflussfaktoren und Systemmerkmale. Somit unterscheiden sich diese Rettungstaktiken deutlich vom „stay and play" oder „load and go". Notärztliche Qualifikation Die notärztliche Patientenversorgung ist im deutschen Rettungsdienst seit Jahrzehnten bewährt und im internationalen Vergleich ein markantes System- und Qualitätsmerkmal. Das flächendeckende boden- und luftgebundene notärztliche Rettungssystem ermöglicht - insbesondere bei vital bedrohten Notfallpatienten - die frühzeitige ärztliche Behandlung bereits am Notfallort. Anschließend wird der Patient unter fortlaufender Therapie zeitgerecht in eine geeignete medizinische Versorgungseinrichtung transportiert. Im Jahre 2000/2001 führten 47 % der insgesamt 4,4 Millionen rettungsdienstlichen Notfalleinsätze zur Alarmierung eines Notarztes (Bundesanstalt für Straßenwesen 2003). Diese Zahlen spiegeln das indikationsbezogene Stufenkonzept der rettungsdienstlichen Versorgung wider. Der Rettungsleitstelle obliegt hierbei die bedarfsgerechte 237
Rettungsmitteldisposition auf der Grundlage von vorgegebenen Notarzteinsatzkatalogen mit imperativem Charakter. Für die notärztliche Tätigkeit ist in der Regel die ärztliche Zusatzqualifikation „Notfallmedizin" nach Empfehlungen der Bundesärztekammer erforderlich. Diese kann nach einer definierten klinischen Weiterbildung, einem 80h-Fortbildungskurs und einem Einsatzpraktikum unter Supervision erworben werden. In der Einsatzpraxis werden jedoch Defizite im Notfallmanagement [5] und bei speziellen invasiven Techniken - wie Koniotomie, intraossärem Zugang und Thoraxdrainage - deutlich [35, 45]. Durch die zusätzliche Teilnahme an praxisorientierten Seminaren [45] und Team-Schulungen (Advanced Trauma Life Support®, Systematic Prehospital Life Support®, International Trauma Life Support®) kann den hohen Anforderungen an eine umfassende sowie zeitgerechte notärztliche Versorgung - unter Berücksichtigung eines effektiven Teammanagements - besser entsprochen werden [41]. Die Verwendung von Leitlinien und Behandlungsalgorithmen ermöglicht die Standardisierung medizinischer Versorgungsabläufe, stößt in der Notfallmedizin aber auch rasch an die Grenzen [28]. Es gehört zum Selbstverständnis der notärztlichen Tätigkeit, den Umfang der medizinischen Versorgung individuell an die jeweilige Notfallsituation anzupassen und die aktuellen Leitlinien und Empfehlungen bedarfsgerecht umzusetzen - dies macht im Kern den Unterschied zum nichtärztlichen „Paramedic" aus.
Nur ein differenziertes, anspruchsvolles notärztliches Vorgehen kann eine Über- oder Unterversorgung des Patienten verhindern [35]. Dass eine qualifizierte notärztliche Behandlung dem Notfallpatienten substantiell nutzt, wurde in verschiedenen Arbeiten belegt [22, 30, 35, 40]: •
•
Die Untersuchung von Fischer et al. [21] zeigt, dass die Effizienz der medizinischen Versorgungsqualität im untersuchten notärztlichen System höher war als im untersuchten Paramedic-System, dies insbesondere bei schwer oder kritisch erkrankten oder reanimationspflichtigen Patienten. Auch in einer norwegischen Studie [30] profitierten besonders häufig die schwer erkrankten oder verletzten Patienten (NACA 5 und 6) von einer notärztlichen Therapie im Sinne einer gesteigerten Lebenserwartung.
Diese Ergebnisse liefern Hinweise auf den Vorteil einer notärztlicher Therapie - besonders bei höherer Erkrankungs-, oder Verletzungsschwere - und begründen somit besonders den gezielten und indikationsabhängigen Notarzteinsatz. Rettungsdienstliebe und klinische Infrastruktur
Es ist evident, dass die notfallmedizinische Versorgung und Einsatztaktik sowohl von rettungsdienstlichen als auch von weiteren infrastrukturellen Gegebenheiten - hier insbesondere der Krankenhausstruktur - abhängt. In einer Literaturrecherche zum Thema „Einfluss verschiedener Rettungsmittel und Zielklinik nach Polytrauma" [4] ließ sich in einigen Studien ein Trend zur Letalitätssenkung bei Einsatz der Luftrettung erkennen, was unter anderem auf die bessere Ausbildung und umfassendere Erfahrung der Teams zurückgeführt wurde. Die Allgemeingültigkeit und 238
Übertragbarkeit ist auf Grund der Heterogenität der Rettungsdienst- und Krankenhausstrukturen sowie der Verletzungsmuster allerdings eingeschränkt. Zusammenfassend lässt sich - unter der Vorraussetzung vergleichbarer Versorgungsqualität und Zielklinikauswahl - kein genereller Vorteil für den Einsatz der Luftrettung erkennen. Einen entscheidenden Einfluss im Sinne einer signifikanten Letalitätssenkung zeigte vielmehr die zeitgerechte und primäre Behandlung in einem Traumazentrum oder einer Klinik mit vergleichbarem Versorgungsniveau. Auch in weiteren Arbeiten konnte kein genereller Vorteil für ein bestimmtes Rettungsmittel nachgewiesen werden (12, 28]. Bei der präklinischen Versorgung von pädiatrischen Traumapatienten ließ sich im regionalen Einzugsbereich eines Traumazentrums ebenfalls kein Unterschied in der Qualität der präklinischen Versorgung zwischen baden- und luftgebundenen notärztlichen Rettungssystemen nachweisen [38]. Bei der Entscheidung für den Einsatzeinesluft- oder bodengebundenen Rettungsmittels sind folglich einerseits die zeitgerechte primäre notärztliche Versorgung (Rettungsdienstinfrastruktur) und andererseits die zeitgerechte Einlieferung in ein Krankenhaus mit geeigneter Versorgungsstufe (Krankenhausinfrastruktur) zu beachten. Aufgrund der Tageszeit und Wetterabhängigkeit ist die Luftrettung aber immer nur als Ergänzungssystem zur bodengebunden rettungsdienstlichen Versorgung zu sehen. Die zunehmende Spezialisierung der Kliniklandschaft erfordert vom Notarzt zusätzliche detaillierte Kenntnisse der klinischen Infrastruktur und eine direkte und frühzeitige Kommunikation mit der aufnehmenden Klinik. Hierzu müssen klinische Ansprechpartner klar benannt und über feste Rufnummern „rund um die Uhr" erreichbar sein. Besonders bei zeitkritischen Interventionen (z.B. PTCA) oder komplexen Versorgungen (z.B. Polytrauma) bleibt es die notfallmedizinische Idealforderung, den Patienten unmittelbar in ein geeignetes Interventions- oder Versorgungszentrum einliefern zu können. Hierzu ist unter Einbindung der Rettungsleitstellen die Einrichtung regionaler und ggf. überregionaler Netzwerke erforderlich, die zu einer Verzahnung der rettungsdienstlichen Versorgung mit der klinischen Weiterbehandlung führen. Notfallmedizinische Zeitintervalle
Da der Faktor „Zeit" als ein wesentlicher Einflussfaktor in der notfallmedizinischen Versorgung identifiziert worden ist, wurden weitere detaillierte Analysen der beteiligten Zeitintervalle durchgeführt (10, 20, 39]. Die Unterteilung der Gesamteinsatzzeit in verschiedene Zeitintervalle (Tabelle 1) ermöglicht eine detaillierte Problemanalyse von Verzögerungen im rettungsdienstlichen Ablauf [37]. Im Sinne eines umfassenden Qualitätsmanagements kann darüber hinaus die Wirksamkeit einer entsprechenden Lösungsstrategie untersucht werden.
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Definition Zeitintervalle in der Luftrettung Ausrückintervall
Zeitintervall vom Alannierungszeitpunkt der Besatzung des RTH bis zum Start
Augzeitintervall
Zeitintervall vom Start bis zur Landung des RTH am Einsatzort
Zugangszeitintervall
Zeitintervall von der Landung des RTH am Einsatzort bis zum Patientenkontakt
Abtransportintervall
Zeitintervall vom Beginn des Abtransportes des Patienten bis zum Abflug des RTH vom Einsatzort Zeitintervall vom Abflug des RTH vom Einsatzort bis zur Landung am aufnehmenden Krankenhaus
Transportintervall Übergabeintervall
Zeitintervall von der Landung des RTH am aufnehmenden Krankenhaus bis zur Übergabe des Patienten an den aufnehmenden Arzt
Prähospitalzeitintervall
Zeitintervall von der Alannierung des RTH bis zur Übergabe des Patienten im aufnehmenden Krankenhaus.
Tab. 1: Zeitintervalle im luftgebundenen Rettungsdienst [20].
Neben den bereits in der Routineerfassung dokumentierten Zeitintervallen wurden auch versteckte Zeitintervalle (hidden intervals) identifiziert [10]. Dies ist insofern bedeutsam, weil als Grundlage für die Berechnung der Hilfsfristen, z. B. das Zeitintervall bis zum Erreichen der Einsatzstelle gilt (Datenerfassung durch die Rettungsleitstelle). Sinnvoller erscheint jedoch die Erfassung der notfallmedizinisch relevanteren Zeit bis zum ersten Patientenkontakt [ 19]. So wurde bei der Analyse der Einsatzzeiten einer Rettungshubschrauber-Station nachgewiesen, dass nach Landung bis zum Eintreffen am Patienten durchschnittlich zwei Minuten vergehen [9] - hierbei war die Entfernung vom Landeplatz bis zur Einsatzstelle die entscheidende Größe. Die notärztliche Versorgungsphase vor Ort (,,On-Scene-Intervall") von im Mittel 21 min verteilte sich gleichmäßig auf die Patientenversorgung sowie das Zugangs- und Abtransportintervall zum Rettungsmittel. Die Zeitdauer der Patientenversorgung war hierbei nicht von der Notfallkategorie, sondern von der Erkrankungs- bzw. Verletzungsschwere und einer evt. Vorbehandlung abhängig und bei schwerverletzten bzw. erkrankten Patienten verlängert [10]. Beim Kliniktransport mittels Rettungshubschrauber dauert es nach der Landung an der Zielklinik durchschnittlich weitere fünf Minuten, bis der Patient in die Weiterbehandlung übergeben werden konnte. Dieses Zeitintervall verlängerte sich nochmals signifikant, wenn ein weiteres bodengebundenes Transportmittel zum Transport vom Landeplatz zur Klinik erforderlich wurde. In weiteren Analysen von Luftrettungssystemen fanden sich Verweilzeiten von durchschnittlich 25 min [17] und bei der Versorgungszeit pädiatrischer Traumapatienten eine durchschnittliche Versorgungszeit von 22 min [37]. Die präklinische Verweildauer verlängerte sich hierbei signifikant, wenn ein zweiter venöser Zugang oder eine Intubation erforderlich wurden [38). Retrospektiv wurden im Luftrettungsdienst 47,3 % der Patienten mit Schädel-HimTrauma und 35,7 % der Patienten mit Polytrauma innerhalb einer Stunde in die Klinik eingeliefert [37]. In einer weiteren prospektiven Studie betrug das Prähospitalintervall diagnoseunabhängig 48,5 min [20). Weiterhin wurde bei 82,3 % aller Einsätze ein Prähospitalintervall von unter einer Stunde eingehalten, was u. a. der Forderung nach Nutzung der „golden hour of trauma" [12] entgegen kommt. Im bodengebundenen Rettungsdienst wurden präklinische Versorgungszeiten von 15 - 25 min beobachtet [20].
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Insbesondere der Patient mit Polytrauma profitiert von einer kurzen Rettungszeit (< 30 min) und schneller Einlieferung in eine Traumazentrum ( < 90 min) [23 ]. Aktuelle Empfehlungen zur Behandlung des Polytraumas fordern eine maximale Beschleunigung aller notwendigen Arbeitsabläufe und eine zügige Klinikeinlieferung [ I ]. Die detaillierte Analyse aller notfallmedizinisch relevanten Zeitintervalle ermöglicht das Erkennen von Verzögerungen und erleichtert deren ursächliche Zuordnung. Im Rahmen einer Qualitätsentwicklung können auf dieser Grundlage Verbesserungsmöglichkeiten erarbeitet und anschließend erprobt werden. Weiterhin können die erhobenen Datensätze mit anderen Systemen oder Erfassungszeiträumen verglichen werden und erlauben somit ein „Benchmarking" innerhalb des Qualitätsmanagements [37]. Hierdurch besteht auch die Möglichkeit, alle Mitarbeiter eines Rettungssystems für die Zeitproblematik zu sensibilisieren.
Erkrankungsschwere, Behandlungsumfang und Versorgungsqualität Der Behandlungsumfang und die Ergebnisqualität korrelieren mit der Qualifikation des eingesetzten Personals sowie der Erkrankungs- und Verletzungsschwere des Patienten [21, 35, 36]. Die Verbesserung des Patientenzustandes durch erweiterte notärztliche Therapie bis zur Klinikeinlieferung ließ sich in einem Systemvergleich zwischen Notarztund Paramedic-System am deutlichsten bei den schwer erkrankten Patienten (Mainz Emergency Evaluation Score < 22) nachweisen, die hiervon signifikant häufiger profitierten [21]. Die weniger schwer erkrankten Patienten (MEES > 27) profitierten verständlicherweise nicht signifikant besser von einer notärztlichen Behandlung. In der Untergruppe der reanimierten Patienten fand sich im notärztlichen Rettungssystem bei Klinikeinlieferung ein vierfach höherer Reanimationserfolg und bei Krankenhausentlassung eine dreimal höhere Entlassungsrate. Der direkte Beweis, dass dieser verbesserte Patientenzustand auch tatsächlich die Mortalität der behandelten Patienten senkt, konnte jedoch - unter anderem wegen fehlender klinischer Anschlussdaten - nicht erbracht werden. Dass die Qualität invasiver Techniken auch vom Qualifikationsniveau und der Erfahrung abhängig ist [25], lässt sich auch an Untersuchungen zur präklinischen Intubation durch Paramedics und Notärzte aufzeigen [2, 6, 9,14]. Die Erfolgsrate der Intubation lag in einer Multicenterstudie [2] bei Notärzten 99,1 %, wobei in 10,8 % der Fälle eine schwierige Intubation vorlag. Allerdings zeigte eine weitere Untersuchung auch in einem notärztlichen Rettungssystem die Problematik der „unerkannten Fehlintubation" auf [42]. Somit ergeben sich hohe Anforderungen an Qualifikation und Monitoring. Bei „Paramedics" betrug die Erfolgsrate der Intubation 81 %, wobei der erste Intubationsversuch nur in 61 % erfolgreich war [14]. In einer weiteren Arbeit fanden sich 22,6 % Komplikationen in Zusammenhang mit der präklinischen Intubation [9]. Hierbei muss auch berücksichtigt werden, dass eine medikamentöse Narkoseeinleitung oder Relaxierung durch Paramedics meist nicht durchgeführt wurde. Zusätzlich wurde kritisch hinterfragt, ob die präklinische Intubation durch Paramedics unter Beachtung der möglichen Komplikationen, des Zeitverlustes und eventueller Alternativen überhaupt sinnvoll erscheint [6]. Die Autoren kamen zu keinem abschließenden Ergebnis; allerdings zeigte sich, dass die präklinische Verweildauer durch die Intubation verlängert wurde und zusätzliche Komplikationen auftraten.
Ein erfolgreiches Atemwegsmanagement im Sinne einer ausreichenden Oxygenierung, Ventilation und Atemwegssicherung ist bei vielen Notfallbildern erforderlich und begründet somit besonders ein umfassendes notfallmedizinisches Qualifikationsniveau. Für die 241
Situation der„ schwierigen oder unmöglichenlntubation "müssen in allen Rettungssystemen qualifikationsabhängig alternative Techniken geschult und zeitgerecht eingesetzt werden [11 , 22].
Der Behandlungsumfang und die Entscheidung über die geeignete Zielklinik - unter Beachtung der Transportzeit - werden zunehmend auch durch erweiterte Diagnostiktechniken beeinflusst. Hierbei ist beispielsweise die Aufzeichnung und Interpretation eines 12-Kanal-EKG beim akuten Koronarsyndrom zu nennen, das richtungweisend für die Auswahl der Zielklinik ist [18, 32]. Auch die präklinische Sonographie FAST (fokussierte abdominelle Sonographie bei Trauma) kann die Auswahl der Zielklinik bei stumpfen Abdominal- und Thoraxtraumen bei klinisch zunächst unauffiilligen Patienten [27, 43, 44] sowie bei bedrohlichen Gefäßprozessen beeinflussen. Auch im Rahmen der Beurteilung der myokardialen Pumpfunktion - z.B. Differentialdiagnose des nicht defibrillationspflichtigen Kreislaufstillstandes - kann die präklinische Sonographie FEEL (Focused Echocardiography for Life Support) weitere Erkenntnisse bringen und muss um Zeitverlust zu vermeiden - in den Reanimationsalgorithmus integriert sein [8]. Durch entsprechende Qualifikation der Notärzte muss die Diagnosesicherheit gesichert und jeder unnötige Zeitverlust vermieden werden, um in der Nettobilanz auch einen Vorteil beispielsweise im Hinblick auf die zielgerichtete Klinikeinweisung - zu sichern [8]. Differenzierte therapeutische Maßnahmen und neue Diagnosetechniken stellen somit hohe Ansprüche an die Aus- und Weiterbildung der Notärzte [31] . Neben dem hohen notärztlichen Versorgungsniveau gewinnt darüber hinaus - besonders wegen der aktuellen Veränderungen der Krankenhauslandschaft - die gezielte und zeitgerechte Zuweisung in geeignete Fachabteilungen an Bedeutung.
Zusammenfassung •
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Die allgemeine Übertragbarkeit der vorliegenden Studiendaten zur rettungsdienstlichen Versorgungsqualität ist aufgrund der unterschiedlichen Systemparameter, Evidenzniveaus und Patientenzahlen begrenzt - Teilaspekte scheinen jedoch richtungweisend zu sein. Es gibt kein Allheilmittel bezüglich der Rettungstaktik. Das „Prähospitalzeitintervall" ist ein wichtiges Systemmerkmal, aber nicht der einzige Einflussfaktor in der notfallmedizinischen Versorgung. Im notärztlichen Rettungssystem profitiert besonders die Gruppe der Schwererkrankten bzw. -verletzten von einer notärztlichen Therapie. Dies begründet unter anderem die Einsatztaktik eines „indikationsbezogenen Notarzteinsatzes". Alle notärztlichen Therapiemaßnahmen müssen unter Berücksichtigung der Notfallsituation sowie der weiteren Systemfaktoren indiziert und zügig umgesetzt werden. Auch der Abtransport muss zielgerichtet und zeitgerecht in eine geeignete Versorgungseinrichtung erfolgen: ,,work and go!". In besonderen Notfallsituationen (z. B. unstillbare Blutung) ist es sinnvoll, die Initialtherapie vor Ort zu minimieren, um die schnellstmögliche Klinikeinlieferung zu gewährleisten. Nur ein sicheres Beherrschen der notärztlichen Techniken erlaubt die zeit- und fachgerechte Umsetzung aller Maßnahmen und sichert damit das notwendige Qualitätsniveau.
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Was können wir von „Advanced Trauma Life Support® (ATLS®)" lernen G. WöLFL, B. T. Paffrath
CH.
BOUILLON,
C.K. LACKNER, A. SEEKAMP, W. MtrrSCHLER, J. STURM,
Einleitung Der erste Schritt zur Verbesserung des Schockraummanagements ist, selbstkritisch festzustellen, dass bei fast jeder Schockraumversorgung Fehler passieren. So wie in der Luftfahrt erkannt wurde, dass es den fehlerfreien Flug nicht gibt, so kann man dies analog für die komplexe Schockraumversorgung von Polytraumen annehmen. Nicht jeder Fehler muss dabei eine negative Konsequenz für das Behandlungsergebnis des Patienten haben [9]. Wenn jedoch mehrere Fehler zusammenkommen, werden negative Auswirkungen für den Patienten wahrscheinlicher. Daher gilt es, Ursachen von Fehlern zu analysieren und Strategien zu entwickeln, sie zukünftig zu vermeiden (15]. In einer retrospektiven Analyse von 22.577 Traumapatienten des San Diego Traumaregisters wurden bei 893 Patienten 1032 signifikante Fehler mit Einfluss auf das Behandlungsergebnis identifiziert. 53% dieser Fehler passierten während der Schockraumphase, 26% während der operativen Phase und 21 % während der Intensivbehandlungsphase [4]. 6% der verstorbenen Traumapatienten hätten nach Einschätzung der Autoren überleben können, wenn Fehler vermieden worden wären. Fehler in der Beurteilung abdomineller Verletzungen waren die häufigste Fehlerursache im Schockraum. Bei 196 Patienten wurden dabei Defizite festgestellt, wobei drei Patienten in der Folge verstarben. Bei 114 Patienten wurden relevante Diagnosen erst 24 Stunden nach Einlieferung in der Klinik bzw. nach Auftreten einer Komplikation diagnostiziert, sechs dieser Patienten verstarben. Bei 97 Patienten fanden die Untersucher nicht akzeptable Verzögerungen bis zur Durchführung notfallmäßiger Operationen, zwei Patienten verstarben. Als Ergebnis der Studie forderten die Autoren Ausbildungsprogramme für die Schockraumphase. Besonderes Augenmerk soll dabei auf die Diagnostik von Verletzungen des Abdomens, die Diagnostik und das Management von Kopfverletzungen sowie die Durchführung und Evaluation der Stabilisierung der Vitalfunktionen gelegt werden. In einer kritischen Analyse vermeidbarer Fehler untersuchte Ruchholtz die Verläufe von 40 frühverstorbenen, polytraumatisierten Patienten [9]. Bei 30% der Patienten konnte entsprechend der vorher festgelegten Kriterien kein Fehler in der frühen Versorgung nachgewiesen werden, bei 45% fanden sich Versorgungsfehler, die sicher ohne Einfluss auf den tödlichen Verlauf waren und bei 15% konnten Behandlungsfehler mit einem möglichen Einfluss auf den tödlichen Verlauf nachgewiesen werden. Insgesamt konnte er 64 Fehler aufzeigen, davon 64% Managementfehler, 23% Therapiefehler und 13% Diagnostikfehler. Die Managementfehler bezogen sich vor allem auf Verzögerungen in der Durchführung dringend indizierter diagnostischer oder therapeutischer Maßnahmen. Einen definitiv vermeidbaren Tod konnte Ruchholtz bei keinem der 40 frühverstorbenen Patienten nachweisen. Allerdings folgerte er, dass davon ausgegangen werden muss, dass dieselben Fehler auch bei primär überlebenden Schwerverletzten vorkommen und bei diesen dann Sekundärschäden auslösen, die wesentlich den weiteren Behandlungsverlauf beeinflussen können. Um die Fehlerquellen im Management der Polytraumversorgung zu verringern forderte er die Einführung und Weiterentwicklung von Klinikstandards. Die Effektivität eines standardisierten Managements im Schockraum im Hinblick auf den Ablauf der Diagnostik und das Behandlungsergebnis kann mit Zahlen belegt werden. Ruchholtz untersuchte den Effekt von Behandlungsleitlinien im Schockraum auf die Prozess- und Ergebnisqualität in der Polytraumaversorgung [10]. Es wurden zwei prospektiv erfasste Kollektive von Patienten, vor und nach Einführung eines 245
Polytraumaalgorithmus verglichen. Er konnte zeigen, dass der zeitliche Ablauf der Diagnostik und die Durchführung dringlich gebotener therapeutischer Interventionen nach Einführung des Klinikstandards deutlich verkürzt werden konnte. Neben der Optimierung der Versorgungsabläufe konnte vor allem auch das Behandlungsergebnis verbessert werden. Die Sterblichkeit konnte in allen Verletzungsschwerekategorien relevant gesenkt werden. Die Kunst des Schwerverletztenmanagements besteht nach Schweiberer vor allem in folgenden Fähigkeiten: Rasches Erfassen der traumatischen Gesamtbelastung, schnelles Erkennen aller bedrohlichen und relevanten Verletzungskomponenten und Setzen der richtigen Prioritäten. Unentschlossenheit, Chaos, Hektik oder vermeidbare Verzögerungen erhöhen das Risiko der posttraumatischen Morbidität und Mortalität [12]. ATLS® ist ein Ausbildungskonzept, das ein standardisiertes und prioritätenorientiertes Schockraummanagement von Traumapatienten lehrt. Ziele sind die schnelle und genaue Einschätzung des Zustandes des Traumapatienten, die prioritätenorientierte Behandlung und die Entscheidung, ob die eigenen Ressourcen zur Behandlung des Patienten ausreichen oder ein Transfer des Patienten zu erwägen ist. Über allem steht der Gedanke, Sekundärschäden zu vermeiden, die Zeit nicht aus den Augen zu verlieren und eine gleichbleibende Qualität der Versorgung zu sichern. Die Kurse vermitteln hierzu systematisches Wissen, Techniken, Fertigkeiten und Verhalten in Diagnostik und Therapie. Sie richten sich an alle an der Traumaversorgung im Schockraum beteiligen Fachrichtungen.
Kursinhalt
ATLS® ist ein einfaches Konzept, welches klare diagnostische und therapeutische Prioritäten für die frühe klinische Phase der Traumaversorgung definiert. Die wichtigste Idee dabei ist, dass der Zustand des Patienten anhand der Vitalfunktionen rasch eingeschätzt und die lebensbedrohlichen Verletzungen zuerst behandelt werden müssen (treat first what kills first). Es ist vor allem die Entscheidungsfindung, die im Vordergrund steht und nicht die Umsetzung dieser Entscheidungen. Jeder kann die Umsetzung individuell nach eigenem medizinischen Kenntnisstand durchführen.
Das ABCDE-Konzept:
A B C
D E
Airway with cervical spine protection Breathing Circulation and control of extemal bleeding Disability or neurologic status Exposure (undress) and Environment (temperature control)
Das diagnostische Konzept besteht aus einer Erstuntersuchung (primary survey) des Patienten, die sich an den Vitalfunktionen orientiert und bei Bedarf durch lebenserhaltende Erstmaßnahmen ergänzt wird, sowie einer Zweituntersuchung (secondary survey) mit dem Ziel, alle relevanten anatomischen Verletzungen zu erkennen. Wenn notwendig, werden die Untersuchungen durch zusätzliche diagnostische Schritte (adjuncts) ergänzt. Anschließend erfolgt die definitive Therapie. Dabei soll immer geprüft werden, ob die Ressourcen des eigenen Krankenhauses zur Behandlung der diagnostizierten Verletzungen ausreichen. Falls nicht, soll ein Transfer des Patienten erfolgen. Verschlechtert sich der Zustand des Patienten zu irgendeinem Zeitpunkt der Untersuchung, soll sofort wieder mit einer Reevaluation der Vitalfunktionen begonnen werden, um die Ursache zu klären und das Problem zu behandeln. 246
Erstuntersuchung ( Primary Survey) Durch die Erstuntersuchung sollen die akut bedrohlichen Verletzungen rasch erfasst werden. Dazu werden die Vitalfunktionen nach A B C D E (Airway, Breathing, Circulation, Disability, Exposure) evaluiert. Das wichtigste Ziel in den ersten Minuten ist es, ausreichend Sauerstoffan die lebenswichtigen Zellen zu bringen. Dazu sind die Sauerstoffaufnahme und der Sauerstofftransport notwendig. Parallel zur Untersuchung werden, falls notwendig, die Vitalfunktionen stabilisiert. Die Abläufe werden hier aufeinander folgend nach ihrer zeitlichen und inhaltlichen Priorität dargestellt. Im Schockraum laufen die verschiedenen Untersuchungsschritte selbstverständlich in Absprache und Kommunikation zwischen den Disziplinen simultan ab. Dies bildet die hohe Interdisziplinarität des Kurssystems sehr gut ab.
AAirway Zur Sauerstoffaufnahme braucht der Patient einen freien Atemweg (A) und eine intakte Atmung (B). Diese werden als erstes überprüft. Wenn der Atemweg nicht frei ist, muss die Ursache rasch behoben werden. Ist dieses durch einfache Maßnahmen nicht möglich, muss der Atemweg durch Intubation gesichert werden. Dies gilt auch für bewusstlose Patienten (Glasgow Coma Scale/GCS :S 8). Dabei muss auf mögliche Halswirbelsäulenverletzungen geachtet werden. Daher soll die Halswirbelsäule grundsätzlich bis zur Abklärung provisorisch durch eine Halskrause stabilisiert werden. Ist eine Intubation indiziert, aber nicht möglich, muss die Indikation für einen chirurgischen Atemweg geprüft werden. B Breathing Die Atmung kann durch eine klinische Untersuchung mit Auskultation des Brustkorbs im Seitenvergleich und Kalkulation der Atemfrequenz beurteilt werden. Die Pulsoxymetrie kann weitere wertvolle Informationen liefern. Eine schnelle Atemfrequenz, der Einsatz der Atemhilfsmuskulatur, asymmetrische Atemexkursionen oder ein abgeschwächtes AtemgeräuschkönnenHinweisfüraufeinAtemproblemgeben.EinSpannungspneumothorax muss sofort entlastet werden, wobei zunächst durch eine Kanüle die akute Bedrohung abgewendet werden kann, bis eine definitive Thoraxdrainage gelegt wird. C Circulation Die schwere Blutung ist eine der wesentlichen Ursachen für das Versterben nach einem Trauma. Daher muss eine relevante Blutung frühzeitig diagnostiziert oder ausgeschlossen werden. Anhand von Blutdruck und Herzfrequenz kann ein Schockstadium definiert werden. Dies gibt wiederum einen Hinweis auf den Blutverlust des Patienten. Relevante Blutungen treten vor allem bei abdominellem Trauma, bei Thoraxtraumen oder bei Frakturen großer Röhrenknochen und des Beckens auf. Ein wichtiges Hilfsmittel zur Diagnostik schwerer abdomineller oder thorakaler Blutungen ist der Ultraschall, der rasche und zuverlässige Aussagen im Schockraum ermöglicht. Die Frakturen der großen Röhrenknochen und des Beckens können klinisch und radiologisch gesichert werden. Wird im Ultraschall eine relevante abdominelle Blutung bei gleichzeitiger Kreislaufinstabilität diagnostiziert, muss sofort die therapeutische Konsequenz Laparotomie und Blutstillung - gezogen werden. Weiterhin sollen zur Volumentherapie zwei großlumige intravenöse Zugänge gelegt und warme lnfusionslösungen - laut ATLS® z.B. Ringerlactat - in ausreichender Menge appliziert werden. D Disability In einer ersten neurologischen Untersuchung soll der Bewusstseinszustand des Patienten sowie die Pupillen überprüft werden. Ziel ist es, nach Hinweisen auf eine relevante intrakranielle Raumforderung zu fahnden. Wenn es der Zustand des Patienten erlaubt, kann 247
bereits zu diesem Zeitpunkt die GCS erhoben werden. Wenn nicht, soll dies im „secondary survey" im Rahmen einer ausführlicheren neurologischen Untersuchung nachgeholt werden. Veränderungen des Bewusstseins können auf eine zerebrale Hypoxie oder Perfusionsminderung hinweisen, die Folge einer Hirnverletzung sein können. Ein veränderter Bewusstseinszustand soll zu einer sofortigen Reevaluation von Atemweg (A), Atmung (B) und Kreislauf (C) führen. Auch Alkohol und andere Drogen können das Bewusstsein verändern. Dies soll erst erwogen werden, wenn zentrale Ursachen ausgeschlossen sind. Bedenken muss man, dass auch das Bewusstsein nach einem Unfall einer Dynamik unterliegen kann. Ein primär intaktes Bewusstsein schließt ein Schädel-HirnTrauma nicht aus. Ein primär bewusstseinsklarer Patient kann bei Entwicklung eines epiduralen Hämatoms erst sekundär eintrüben (talk and die). Daher muss das Bewusstsein regelmäßig reevaluiert werden. E Exposure, Environment Der Patient soll initial komplett entkleidet und einer kurzen Untersuchung von Kopf bis Fuß unterzogen werden, um relevante schwere Verletzungen mit möglichem kurzfristigen Einfluss auf die Vitalfunktionen frühzeitig zu entdecken. Dabei können instabile Frakturen der großen Röhrenknochen oder eine instabile Beckenfraktur als mögliche Blutungsursache mit Auswirkung auf das Kreislaufsystem frühzeitig entdeckt und provisorisch stabilisiert werden. Zur Sicherung der instabilen Beckenfraktur kann ein natives Röntgenbild des Beckens sinnvoll sein. Eine ausführliche körperliche Untersuchung zur Erkennung aller anatomischen Verletzungen erfolgt im Rahmen des „secondary survey". Damit der Patient nicht auskühlt, soll er warme Infusionen erhalten und zugedeckt werden. Eine Hypothermie ist ein negativer Prognosefaktor mit Auswirkung unter anderem auf das Gerinnungssystem und soll unbedingt verhindert werden.
Als ergänzende Maßnahmen werden im Rahmen der Erstuntersuchung ein EKG abgeleitet, ein Urinkatheter gelegt und definierte Röntgenaufnahmen angefertigt. Weiterhin werden die Vitalfunktionen kontinuierlich überwacht (Monitoring). Lebensrettende Erstmaßnahmen werden eingeleitet, sobald das Problem erkannt wird - und nicht erst nach Abschluss der Erstuntersuchung. Es soll auch immer überprüft werden, ob die adäquate medizinische Versorgung gewährleistet werden kann oder die Verletzungen einen Transfer des Patienten in ein Traumazentrum notwendig machen. Zweituntersuchung (Secondary Survey) Die Zweituntersuchung beginnt erst, nachdem die Erstuntersuchung (ABCDE) abgeschlossen, die notwendigen Erstmaßnahmen durchgeführt und die Vitalfunktionen stabilisiert worden sind. Es wird der Unfallmechanismus erhoben und die Anamnese des Patienten im Hinblick auf relevante Vorerkrankungen bewertet. Das Kernstück der Zweituntersuchung ist die Untersuchung des Patienten von Kopf bis Fuß mit dem Ziel, alle anatomischen Verletzungen zu erkennen. Sie beinhaltet auch eine Reevaluation der Vitalfunktionen einschließlich Erhebung der Glasgow Coma Scale (GCS). Zusätzlich werden notwendige Labortests und radiologische Untersuchungen einschließlich CT-Diagnostik vorgenommen. Die Ergebnisse der Erst- und Zweituntersuchung müssen sorgfältig dokumentiert werden. Die erhobenen Befunde müssen dann bewertet und ein Therapiekonzept erstellt werden. Wichtig ist es, immer wieder zu prüfen, ob die notwendigen Therapieschritte vor Ort durchgeführt werden können oder ob ein Transfer des Patienten notwendig ist. Verändert sich der Zustand des Patienten zu irgendeinem Zeitpunkt wird der Patient sofort nach ABCDE reevaluiert, um die Ursache für die Veränderung zu erkennen und zu therapieren. Im Kurs werden diese diagnostischen und therapeutischen Schritte praktisch an
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Fallbeispielen simuliert und tram1ert. Es wird die systematische Evaluation von Röntgenbildern des Thorax und der Wirbelsäule und das Erkennen traumatypischer Pathologien ebenso geübt wie eine systematische neurologische Untersuchung des Traumapatienten. Typische Fallstricke, wie sie jeder Erfahrene im Schockraum erlebt hat, sind in die Beispiele eingebaut und sensibilisieren den Teilnehmer für seine tägliche Arbeit. Auch das Arzt-Arzt-Gespräch vor einem Patiententransfer wird in den Simulationsbeispielen geübt. An den Übungsstationen werden aber auch wichtige chirurgische Fertigkeiten und Maßnahmen der Atemwegssicherung und der Schocktherapie praxisrelevant trainiert. Die chirurgischen Techniken werden an einem speziell für den Kurs entwickelten Simulationsmodell Traumaman® gelehrt. Die Techniken der Koniotomie, Perikardpunktion, Thoraxdrainage, Vena sectio und Peritoneallavage können dadurch wirklichkeitsnah erlernt werden. Ebenso wird der Stellenwert der Sonographie in der Diagnostik des stumpfen Bauchtraumas dargestellt und als standardieserte Untersuchung (FAST= Focused Assessment Sonography in Trauma) eingeübt.
Was können wir von ATLS® lernen: 1. Einen sicheren Weg in der Erstversorgung von Traumapatienten: Viele Algorithmen und Ablaufschemata wurden eingeführt. ATLS erhebt nicht den Anspruch, der einzige Weg der Versorgung von Schwerverletzten zu sein, hat aber den Vorteil eines standardisierten Vorgehens. ATLS® ist kein Algorithmus im eigentlichen Sinn. ATLS® gibt auch nicht eine feste Struktur bzw. Rollenverteilung vor, wer welche Aufgabe im Schockraum wahrnehmen soll. ATLS® soll daher auch nicht bestehende Schockraumprotokolle ersetzen, sondern ist ein übergeordneter Handlungsleitfaden, der sich an den physiologischen Bedürfnissen und Behandlungsprioritäten des verletzten Patienten orientiert. Je nach strukturellen, personellen und logistischen Voraussetzungen einer Klinik sollten die konkreten Abläufe im eigenen Schockraum - orientiert am ATLS®Konzept- interdisziplinär abgesprochen und festgelegt werden. Die einzelnen Aufgaben können dann parallel umgesetzt und kommuniziert werden. ATLS versteht sich dabei als eine gemeinsame internationale Sprache in der Traumaversorgung, die hinter diesen Behandlungskonzepten steht [3, 13, 14, 16]. 2. Teamwork, Kommunikation und interdisziplinäre Zusammenarbeit: Basis für ein erfolgreiches Schockraumanagement nach ATLS® ist ein funktionierendes, interdisziplinäres Team unter der Leitung eines in der Polytraumaversorgung erfahrenen Arztes. Weg vom „Tunnelblick" der jeweiligen Disziplinen schult ATLS® die an der Versorgung beteiligten Ärzte im Verständnis aller medizinischen Abläufe. Durch die einfache „Common Language" AB C D E wird eine einheitliche Traumasprache initiiert, die es jedem erlaubt, immer auf dem Level des Mitversorgenden zu sein. Dies ist ein maßgeblicher Faktor in der Kommunikation und erlaubt eine optimierte Zusammenarbeit zwischen allen an der Versorgung beteiligten Disziplinen. Besonders stolz ist ATLS® Deutschland darauf, dass von Anfang an die beiden Hauptdisziplinen Unfallchirurgie und Anästhesie diese Zusammenarbeit geschult und gelebt haben. 3. Geordnete Abläufe statt Chaos: Die Versorgung polytraumatisierter Patienten ist eine hochkomplexe Aufgabe. Vergleichbar mit einer Landung eines Verkehrsflugzeuges unter Instrumentenflugbedingungen bei schlechtem Wetter und maximal eingeschränkter Sicht besteht auch bei der Polytraumaversorgung ein maximal hoher „Workload" in einem sehr engen räumlichen und zeitlichen Fenster. Hier bietet ATLS® eine gute Möglichkeit, Gefahren abzuwenden und einen sicheren und geordneten Ablauf, ähnlich der Checkliste von Piloten, zu schaf249
fen. Durch redundante Kontrollsysteme wie ATLS® oder Checklisten im Flugverkehr ist es möglich, rechtzeitig adäquat auf die Komplexität der Situation, die sich fortlaufend durch unvorhersehbare Eigendynamik steigern kann, zu reagieren und den Patienten vor weiterem Schaden zu schützen [10]
4. Optimiertes personelles und infrastrukturelles Management Befinden sich die an der Versorgung beteiligten Ärztinnen und Ärzte durch eine standardisierte Schulung auf einem gleichen Qualifikationsniveau, können Hierarchien weitgehend flach gehalten werden. Dies optimiert die personelle Organisation und Selbstorganisation im Schockraum. Die Therapie gestaltet sich nach den Bedürfnissen des Patienten und nicht nach den Bedürfnissen des Personals! Durch die in ATLS® geforderte infrastrukturelle Klarheit: ,,Wohin gehe ich mit welchem Patienten zu welchem Zeitpunkt" müssen sich die Disziplinen und das Personal mit der Ihnen zur Verfügung stehenden Infrastruktur auseinandersetzen. Die Wege und Ressourcen müssen vorher klar sein! Gerade im Rahmen der sich aktuell im Aufbau befindlichen Traumanetzwerke schafft dies eine zusätzliche Sicherheit für Patienten und Personal. Egal in welche Klinik ein Notarzt den Traumapatienten transportiert, egal in welcher Klinik ein Chirurg, Unfallchirurg, Neurochirurg, Anästhesist oder Radiologe am frühen Traumamanagement beteiligt ist, das Konzept und die Sprache sind immer gleich: ATLS®. 5. Outcomeverbesserung: Inzwischen belegt eine Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen den Ausbildungswert dieses Kurses und seine positiven Auswirkungen auf das Traumamanagement von Kursteilnehmern in ihren Kliniken [6]. Die erfolgreiche Absolvierung eines ATLS® Kurses fördert beim einzelnen Anwender das Verständnis für grundlegende Prinzipien des initialen Traumamanagements. Amerikanische Assistenzärzte gaben an, dass der erfolgreiche Besuch dieser Kurse sie persönlich auch in der Wahl ihrer Fachrichtung beeinflusst hat. Sie gaben weiter an, dass der Kurs die Interaktion mit ihren Oberärzten in der Tagesroutine intensiviert habe und die Kommunikation und fachliche Auseinandersetzung mit traumaassoziierten Themenkreisen anhaltend verbessert habe [6]. 6. Qualitätsmanagement: Ein standardisierter Ablauf eignet sich hervorragend zur Aufarbeitung im Rahmen von Nachbesprechungen und statistischen Auswertungen. Anhand einfacher Protokolle kann sicher evaluiert werden, ob und wie sich die Performance ändert und wo sich Verbesserungspotential ergibt. Hier sind die Fachgesellschaften und Klinken gefordert und aufgerufen, z. B. anhand von Datenanalysen eine Evaluierung vorzunehmen. Für die BG Unfallklinik Ludwigshafen, in der seit 2003 ATLS®geschult und praktiziert wird, hat sich durch ATLS® eine hohe persönliche Sicherheit der geschulten Mitarbeiter eingestellt sowie nachweislich die Anwesenheitszeit im Schockraum reduziert. Hierzu laufen aktuell Datenanalysen. Auch im Rahmen der entstehenden Traumanetzwerke wird hier der gegenseitige Austausch im Sinne gemeinsamer Fallkonferenzen durch die gemeinsame Traumsprache optimiert. Durch das präklinische Partnerprogramm PHTLS® (Prehospital Trauma Life Support®) wurde darüber hinaus der ATLS®-Standard an den Unfallort gebracht und durch die gemeinsame Sprache im Schockraum zwischen Präklinik und Klinik diese Schnittstelle optimiert [19].
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Diskussion
ATLS® vermittelt Inhalte eines sinnvollen Schockraummanagements. Es lehrt eine einfache Systematik um Prioritäten in der frühen klinischen Diagnostik und Therapie richtig zu erkennen. ATLS® soll Ärzten helfen, diese Prioritäten schneller zu erkennen, Fehler zu vermeiden und die gewonnenen Erkenntnisse umzusetzen. Neben der Vermittlung von theoretischem Wissen und praktischen Fertigkeiten ist vor allem das pädagogische Konzept des problemorientierten Lernens innovativ. ATLS® legt den Schwerpunkt auf den Transfer des vermittelten Wissens in konkrete Handlungsabläufe am Patienten. In einer Zeit von „high tech medicine" führt ATLS® den Teilnehmer zunächst wieder an eine sorgfältige klinische Untersuchung mit prioritätenorientierten diagnostischen und therapeutischen Konsequenzen zurück. Es werden klare Handlungsabläufe geübt und die Wichtigkeit einer permanenten Reevaluation des klinischen Zustandes betont. ATLS® lehrt den Teilnehmer - vergleichbar mit einer Cockpitcrew - laut zu denken, um Denkabläufe transparent zu machen und ermöglicht so den Instruktoren, falls notwendig, frühzeitig modulierend einzugreifen. Natürlich ist ATLS® nicht der einzige Weg, es gibt durchaus auch kritische Stimmen. Ein immer wieder geäußerter Kritikpunkt sind medizinische Inhalte, die nach Ansicht einzelner Autoren nicht dem aktuellen Wissensstand entsprechen. ATLS® versucht durch regelmäßige Überarbeitung der Inhalte, alle vier Jahre neu gewonnenes Wissen zu implementieren, wobei mit der aktuellen Revision 8 alle Änderungen evident sein müssen und mit Evidenzlevel belegt sind. Im deutschen ATLS®-Programm wurden daher von Anfang an chirurgische und anästhesiologische Instruktoren ausgebildet, die den neuesten medizinischen Wissenstand vermitteln können. Besonders erfreulich ist hier die sehr gute Darstellung der aktuellen Diskussion in der Novemberausgabe 2007 der Zeitschrift „Der Anästhesist" [9, 10]. Diese Diskussionen sind wichtig und produktiv und werden auch weiterhin das Thema positiv beeinflussen. In den Kursen wird vor allem vermittelt, dass der Algorithmus und die Priorisierung wichtig sind und nicht so sehr, wie die Entscheidung im Detail umgesetzt wird. Natürlich muss im Kurs vermittelt werden, wie eine Intubation medikamentös eingeleitet wird, aber noch wichtiger ist es, den Teilnehmern zu vermitteln, wann der Atemweg gesichert werden muss. Eindrucksvoll ist, dass die erfolgreiche Implementierung des Kurses in Deutschland (der erfolgreichsten eines Landes seit der Implementierung von ATLS® überhaupt) dazu geführt hat, dass auch Deutschland einen maßgeblichen inhaltlichen Anteil am neuen Kursmanual (Version 8) hat. So ist es durch dieses Engagement erst möglich, international Einfluss zu nehmen und bewährte und hervorragende Konzepte zu verbreiten. Zu begrüßen ist weiterhin, dass sich auch andere Fachgesellschaften und Organisationen der standardisierten Traumaversorgung präklinisch (Prehospital Trauma Life Support-PHTLS®, International Traum Life Support-ITLS®) wie auch klinisch (European Trauma CourseETC«l>) verschrieben haben. Hier sehen wir ganz klar den Benefit für den Patienten im Rahmen eines schweren Traumgeschehens und freuen uns als Fachgesellschaft, die sich der umfassenden Versorgung des Traumapatienten nach wie vor verpflichtet fühlt, ganz besonders über diese Entwicklung.
Fazit für die Praxis
ATLS® ist ein Ausbildungskonzept, das ein standardisiertes, prioritätenorientiertes Schockraummanagement lehrt. Ziele sind die schnelle und genaue Einschätzung des Zustandes des Traumapatienten, die prioritätenorientierte Behandlung und die Entscheidung, ob die eigenen Ressourcen zur Behandlung ausreichen bzw. ein Transfer des 251
Patienten notwendig ist. Über allem steht der Gedanke Sekundärschäden zu vermeiden, die Zeit nicht aus den Augen zu verlieren und eine gleichbleibende Qualität der Versorgung zu sichern. Der Kurs vermittelt hierzu systematisches Wissen, Techniken, Fertigkeiten und Verhalten in Diagnostik und Therapie. Als positive Hauptlerneffekte seit Einführung von ATLS® in Deutschland im Jahr 2003 sind folgende Punkte aufzuführen: 1. ATLS® bietet „einen" sicheren Weg in der Erstversorgung von Traumapatienten. 2. ATLS®schult und lebt Teamwork, Kommunikation und interdisziplinäre Zusammenarbeit. 3. ATLS®fördert geordnete Abläufe und ordnet das Chaos. 4. ATLS®optimiert personelles und infrastrukturelles Management. 5. ATLS®führt zu einer Verbesserung des Arbeitsablaufes und des Outcomes. 6. ATLS® bietet ein gutes Werkzeug zum Qualitätsmanagement. 7. ATLS® stellt ist ein strukturiertes Ausbildungskonzept in der Erwachsenenbildung dar. 8. ATLS® ist durch realitätsnahe „Skills" sowie praktische und theoretische Prüfungssituationen in besonderem Maße für die Ausbildung junger Kollegen geeignet.
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