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German Pages [318] Year 2015
Refo500 Academic Studies
Edited by Herman J. Selderhuis In Co-operation with Günter Frank (Bretten), Bruce Gordon (New Haven), Ute Lotz-Heumann (Tucson), Mathijs Lamberigts (Leuven), Barbara Mahlmann-Bauer (Bern), Tarald Rasmussen (Oslo), Johannes Schilling (Kiel), Günther Wassilowsky (Innsbruck), Siegrid Westphal (Osnabrück), David M. Whitford (Waco) Volume 17
Herman J. Selderhuis / Ernst-Joachim Waschke (Hg.)
Reformation und Rationalität
Vandenhoeck & Ruprecht
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Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data available online: http://dnb.d-nb.de. ISBN 978-3-525-55079-3 ISBN 978-3-647-55079-4 (e-book) Ó 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de All rights reserved. No part of this work may be reproduced or utilized in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording, or any information storage and retrieval system, without prior written permission from the publisher. Printing and binding: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Printed in Germany.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sektion I: Wittenberg Helmut G. Walther Wittenberg – Die LEUCOREA im Rahmen der ernestinischen Universitätsgründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Armin Kohnle / Beate Kusche Die Wittenberger Theologische Fakultät in ihrer Anfangszeit – Beobachtungen zu Strukturen, Personal und Profil . . . . . . . . . . . .
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Volker Leppin Zuspitzung und Wahrheitsanspruch – Disputationen in den Anfängen der Wittenberger reformatorischen Bewegung . . . . . . . . . . . . . . .
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Heiner Lück / Stefan Weise Rechtsgrundlagen und Rituale der theologischen Promotionen in Wittenberg während des späten 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . .
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Sektion II: Perspektiven Günter Frank Philosophische Aspekte der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michael Weichenhan Reformation, Rationalität und die Erneuerung der Wissenschaften . . . . 117 Peter Opitz Humanistische „Rationalität“ und evangelische Theologie in den Anfängen der Zürcher Hohen Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
6 Gijsbert van den Brink The Reformation, Rationality and the Rise of Modern Science
Inhalt
. . . . . . 193
Sektion III: Auswirkungen Aza Goudriaan Augustinus und die Vernunft der reformierten Orthodoxie . . . . . . . . 209 Joar Haga Die Metaphysik der lutherischen Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Tarald Rasmussen Rationalität und Bibelauslegung in Niels Hemmingsens De Methodis (1555) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Andrs Szabû Rationalität und Wissenschaft der Renaissance bei den ungarischen Reformierten Theologen um 1600 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Andreas J. Beck Rationalität und Scholastik in der reformierten Orthodoxie, insbesondere bei Keckermann, Voetius und Coccejus . . . . . . . . . . . 263 Henk van den Belt Developments in Structuring of Reformed Theology : The Synopsis Purioris Theologiae (1625) as Example . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Vorwort
Am 19. Oktober 1512 wurde Martin Luther unter dem Vorsitz Andreas Bodensteins von Karlstadt zum Doktor der Theologie promoviert. Zeit seines Lebens blieb er der Universität Wittenberg verbunden. Die reformatorische Bewegung ging mit ihm und durch ihn zunächst von akademischen Anliegen aus, die auch von Anfang an das Verhältnis zwischen der Theologie und den anderen Wissenschaften betrafen. Eine Tagung, die in den Räumen der Leucorea am Ort der ehemaligen Universität Luthers stattfand, nahm diesen 500. Geburtstag der Promotion Luthers zum Anlass, die Frage nach dem Verhältnis von Reformation und Rationalität in einem europäischen und interkonfessionellen Horizont zu bedenken. Die Tagung wurde im Rahmen der Plattform Refo500 organisiert als ein Projekt der Stiftung LEUCOREA, der Theologischen Universität Apeldoorn, der Universität Oslo und der Eberhard Karls-Universität Tübingen und stand unter der Leitung von Prof. Dr. ErnstJoachim Waschke (Halle-Wittenberg), Prof. Dr. Herman J. Selderhuis (Apeldoorn), Prof. Dr. Tarald Rasmussen (Oslo) und Prof. Dr. Volker Leppin (Tübingen). Die Tagung wurde finanziell getragen von der Fritz Thyssen Stiftung. In diesem Band werden die 14 Referate der Tagung veröffentlicht. In einem ersten Teil wird die Geschichte der Leucorea und besonders der Theologischen Fakultät beschrieben. Besondere Aufmerksamkeit bekommen zudem die damaligen Disputationen und Promotionen. Die zweite Sektion beleuchtet den wissenschaftlichen und reformatorischen Rahmen in der Luthers Promotion stattfand, und im letzten Teil werden dann die Entwicklungen sowohl in der lutherischen wie in der calvinistischen Orthodoxie im Blick genommen.
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Vorwort
Als Herausgeber möchten wir an dieser Stelle Frau Claudia Köckert (Halle) und Herrn Mans Raveling (Apeldoorn) danken für ihre redaktionelle Unterstützung, der Stiftung LEUCOREA für den generösen Druckkostenzuschuss und dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die gute Zusammenarbeit bei der Herstellung dieses Bandes. Herman J. Selderhuis Ernst-Joachim Waschke, Herausgeber
Sektion I: Wittenberg
Helmut G. Walther
Wittenberg – Die LEUCOREA im Rahmen der ernestinischen Universitätsgründungen
Ein besonders inniges Verhältnis zur libertas academia möchte man den Wettinern als universitätsgründenden Landesherrn auf den ersten Blick nicht unterstellen. Alle drei von ihnen gegründeten Universitäten in Leipzig 1409, Wittenberg 1502 und Jena 1548/1558 erhielten keine Gründungsurkunde der Landesherren, sondern nur so etwas wie eine schriftliche „Betriebserlaubnis“: – Im Falle Leipzigs die sog. „ordinatio“, die eine Grundordnung und die Zusicherung der bereits Papst Alexander VI. in den Privilegverhandlungen von Pisa zugesicherte Ausstattung von zwei Kollegien für insgesamt 20 Magister enthielt,1 – im Falle Wittenbergs lediglich das Werbe-und Einladungsmanifest von August 1502, in dem auf das Privileg des Reichsoberhauptes Maximilian mit der Formulierung „uß vergunst und erlaubnus der oberhant“ verwiesen wird und den künftigen Wittenberger Magistern und Scholaren „geburende freiheiten“ in Aussicht gestellt werden. Seit 1504 gab es Statuten für die vier Wittenberger Fakultäten, die eine weitgehende Übernahme der entsprechenden Tübinger waren, bevor der Kurfürst im Oktober 1508 der Universität aus eigener Machtvollkommenheit neue Statuten verordnete und Universitätsreformatoren einsetzte.2 – Jena, das für die Ernestiner zunächst nur eine translatio studii aus Wittenberg darstellte und deswegen keiner formellen Gründungsurkunde bedurfte, erhielt auch weder nach der Erweiterung des Lehrbetriebs 1554, noch nach der Privilegierung durch Ferdinands I. von 1557 eine landesherrliche Gründungsurkunde, sondern nur neue Statuten des Ernestinischen Hofes in Weimar (Walther : 2003, 11 – 30).
1 Zu den Anfängen der Universität Leipzig zuletzt zusammenfassend Bünz: 2009, 21 – 325 (77ff zur ordinatio); Miethke: 2012, 13 – 38. 2 Zu den Anfängen Wittenbergs Matthias: 2002, 137 – 163; Töpfer: 2004a, 27 – 54; noch immer heranzuziehen: Friedensburg: 1917, 1 – 41.
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Diesem landesherrlich-patriarchalischen Verhalten der Wettiner bei den Gründungen ihrer Hochschulen entsprach freilich durchaus die herrscherliche Fürsorge für diese Institutionen. Eine entsprechende Ausstattung dieser Bildungseinrichtungen entschied bekanntlich zum guten Teil darüber, ob die Hochschulen nach den meist mühevollen Anfängen auch wirklich reüssierten. Dabei zeigten die Erfahrungen mit zahlreich scheiternden Neugründungen seit dem Spätmittelalter, dass es von entscheidender Bedeutung war, wie diese Hohen Schulen die kritische Phase der ersten beiden Jahrzehnte überstanden und eine entsprechende dauerhafte Attraktivität auf Studienbesucher über das enge regionale Umfeld hinaus entwickelten. Die Forschung hat gerade in jüngster Zeit ihr Augenmerk auf diese materiellen Notwendigkeiten für die Institutionalisierung eines erfolgreichen Universitätsbetriebs gelegt.3 Dabei zeigt sich im Vergleich, dass zumindest Leipzig und Wittenberg zu den am besten finanziell fundierten Universitäten ihrer Zeit gehörten. Bei der Gründung Jenas sind die Ausgangsbedingungen für die Ernestiner nach der Niederlage im Schmalkaldischen Krieg und dem Verlust der Kurwürde nicht vergleichbar. Doch im Falle Leipzigs wie dann in Wittenberg bemühten sich die Landesherren zuvor jeweils um eine den Betrieb und die Attraktivität des Studiums sichernde Ausstattung. Musste zunächst die landesherrliche Schatulle eine solche grundherrliche und pfründenmäßige Absicherung des Lehrbetriebs eine Zeit lang durch Zuschüsse gewährleisten, so wurde doch sowohl in Leipzig als auch in Wittenberg die Sicherung der beiden studia generalia nach gut zwei Jahrzehnten durch eine nach den fiskalischen Maßstäben der Zeit dauerhafte Fundierung abgelöst, die den Universitäten auch in politisch turbulenten Zeiten halbwegs sichere jährliche Einnahmen gewährten. Die Lösung Kurfürst Friedrichs II. und Herzog Wilhelms III. von 1438 für Leipzig mit der Zuweisung von Einkünften aus drei Städten und 42 Dörfern war in dieser Hinsicht vorbildlich und wurde im Zuge der Einführung der Reformation zwischen 1539 und 1544 durch Herzog Moritz noch einmal ausgeweitet, charakteristischerweise aber zugleich mit einer Reform des Lehrbetriebs verknüpft. In Wittenberg dauerte die Eingangsphase ohne eine wirklich ausreichende Fundierung gut zwei Jahrzehnte. Die Inkorporation des Allerheiligen-Stiftes hatte nur eine Teillösung bewirkt, und die Förderung des Augustinerklosters durch Friedrich den Weisen gegen Gewährung von Lehre für die Theologische und die Artistische Fakultät schuf für die Finanzierung des Generalstudiums keine dauerhafte Basis. Das zeigte sich deutlich in der Krise der 1520er Jahre, als die Universität nicht nur wegen der dramatischen Frequenzeinbrüche ernsthaft um ihren Fortbestand fürchten musste (Asche: 2001, 53 – 93). Die neue Funda3 Zur Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse der wettinischen Universitäten zuletzt vergleichend Schirmer: 2012, 75 – 103.
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tion, die 1536 dann von Kurfürst Johann Friedrich beurkundet wurde, stattete die Leucorea mit umgerechnet fast 3800 fl. Jahreseinnahmen aus, was sie mit Leipzig ungefähr gleichziehen ließ. Für einen Neuanfang in Jena veranschlagte Melanchthon in seinem Gutachten für die Söhne Johann Friedrichs 1547 unbedingt nötige 2000 fl. pro Jahr. Praktisch hatte man in den Anfangsjahren nach 1548 in Jena aber nur bis zu 700 fl. zur Verfügung, war trotz vollmundigen Anspruchs also mit dem weitergeführten Wittenberger Studium, dem Moritz 1548 jährliche Fundationseinnahmen von über 4200 fl. garantierte, nicht vergleichbar (Schirmer : 2012, 88ff). In einem ersten Resümee dieser Aspekte ist man versucht zu formulieren, dass die Wettiner als Landesherren im Regelfall für eine gute bis sehr gute materielle Fundierung ihrer Generalstudien sorgten, die damit zu den finanzkräftigsten im Reich zählten. Ausnahme bildet das unter außergewöhnlichen Umständen ins Leben gerufene Jena. Gemeinsam ist den drei Universitäten, am deutlichsten ausgeprägt dann bei den zwei Ernestinischen Gründungen, ihr Status als landesherrlich dominierte Universitäten mit deutlich reduzierter korporativer Autonomie (also der traditionellen libertas academica). Sie stehen damit exemplarisch für die Veränderungen, die seit dem 15. Jh. den Entwicklungsprozess von den spätmittelalterlichen zu den frühneuzeitlichen studia generalia widerspiegeln. Die spätmittelalterlichen Vorstellungen von päpstlich oder kaiserlich privilegierten studia generalia hatten sich nämlich stets mit denjenigen einer notwendigen korporativen Autonomie der rechtlich abgegrenzten Personenverbände als universitates verbunden. Generalstudien erhielten bei ihrer Privilegierung in der Regel denn auch stets eine Binnengliederung nach vier Fakultäten mit einer Rektoratsverfassung. Sie bildeten den Typus, der die deutsche Universitätsgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit bestimmte. Je nach dem Vorbild, an dem man sich bei der Neugründung einer Universität konkret orientierte, war für die artistische Fakultät, in der die erdrückende Mehrzahl der Studenten einzig studierte, eine landsmannschaftliche Gliederung der Studenten nach nationes vorgesehen. Nach ursprünglichem Pariser Vorbild waren dies im Regelfall vier Nationen, denen die Wahl des Rektors als Repräsentanten und Leiter der universitas für ein Studienhalbjahr zukam. Seit dem 15. Jahrhundert wurden jedoch die von wechselnden gewählten Dekanen geleiteten Fakultäten als Selbstorganisation der Professoren der Studienrichtungen bald die zentralen Elemente der Binnenstruktur der Universitäten im Reich und im östlichen Mitteleuropa. Den päpstlichen oder/und kaiserlichen Gründungsprivilegien für die neuen studia generalia kam damit eine doppelte Funktion zu: Sie legitimierten einerseits den theoretischen Anspruch jedes neuen studium generale auf eine Stellung als grundsätzlich gleichrangige höhere Bildungsinstitution, indem den durch akademische Prüfungen Graduierten die
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Berechtigung zur Lehre auch anderswo zuerkannt wurde (licentia ubique docendi); andererseits wurden die Mitglieder dieser Institution zugleich als autonomer Rechtskreis (universitas) privilegiert. Die Zusammenziehung beider Aspekte zum Begriff der universitas studii auf den Siegeln der ersten deutschen Universitäten spiegeln recht genau diese Ansprüche.4 Dazu steht in gewissem Gegensatz die nüchterne Beobachtung, dass sich die Bedeutung einer Universität in älterer Zeit mehr von ihrer Verankerung in der Region her bestimmte als durch die herausragenden wissenschaftlichen Leistungen ihrer Lehrer. Am Erfurter Beispiel lässt sich zeigen, dass eine Zuwendung der Artisten zu Studienreformen zwar einzelnen artistischen Magistern Ruhm bei Fachkollegen und Schülern wie Reputation bei den Höfen einbringen mochte. Aber die Attraktivität des Erfurter Studiums erhöhte der vielgepriesene Erfurter Humanismus nicht. Er brachte nicht nur keine Frequenzwende, sondern wirkte auf die mit einem Rechtsstudium karriereorientierten Angehörigen der Oberschicht wegen der geringen Kompatibilität mit diesem Fachstudium sogar abschreckend. Wer unter den Angehörigen der Oberschicht wirklich sein Rechtsstudium mit dem modischen Studium der Humaniora verbinden wollte, ging gleich an eine italienische Universität. Das sollte vorsichtig bei der Urteilsbildung über das humanistisch-philologische Curriculum Philipp Melanchthons für die gesamte Universität Wittenberg seit Ende der 20er Jahre des 16. Jhs. machen. War es dieses, was der jungen Universität Wittenberg des sächsischen Kurfürsten ab den 40er Jahren wieder reichsweit Attraktion verschaffte, oder war es nicht letztlich doch die kirchliche Reformation, die nun in einem humanistisch-philologischer Curriculum an der Leucorea verbreitet wurde; auch wenn in den frühen 20er Jahren der religiöse Umbruch oft bildungsfeindliche Tendenzen befördert und fast zu einem Zusammenbruch der Universität geführt hatte?5 Dabei gab es auch im 15. Jh. noch kein verbindliches Rezept, um eine Universitätsneugründung zum Erfolg zu führen.6 Weniger der in den Gründungs4 Dazu Walther: 2009, 75 – 98. Ein etwas anderer Ansatz von den überall greifbaren Reformintentionen einer dauerhaften Sicherung der Institution des Studiums her bei MAURER: 2010. Sie unterscheidet als Urheber kirchliche Institutionen (universal) von den betroffenen Universitätsangehörigen (magistri et scholares) und den lokalen, regionalen und überregionalen weltlichen und kirchlichen Autoritäten in ihren Interessen, die sich für sie alle letztlich als Anpassungsmaßnahmen an die veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten erklären. 5 Vgl. die kritischen Anmerkungen bei Helmrath: 1998, 187 – 203. Zur Rolle des Humanismus in Wittenberg speziell Asche: 2001, zur Entwicklung in Leipzig Bünz: 2009, 257 ff. 6 Für die kurfürstlichen Städte Trier und Mainz misslangen die ersten Universitätsgründungsversuche von 1454 und 1467, obwohl die Erzbischöfe sich schon päpstliche Genehmigungsurkunden hatte ausfertigen lassen. Und auch die zweiten Versuche von 1473 und 1477 zeitigten nur kleine studia generalia, die die in den päpstlichen Bullen genannten Vorbilder,
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urkunden immer wieder stereotyp nach den Vorbildern der päpstlichen und kaiserlichen Privilegien des 14. Jhs. behauptete Drang der Gründer nach Förderung der Wissenschaft, des allgemeinen Bildungsniveaus im eigenen Herrschaftsbereichs und überhaupt des rechten Glaubens, auch kaum die Sicherung eines entsprechend gebildeten Reservoirs von gelehrten Räten für die landesherrliche Verwaltung als vielmehr die Situation reichsfürstlicher Konkurrenz unter den Dynastien und der in ihrer wirtschaftlichen Potenz sich ihnen gleichrangig fühlenden großen Reichsstädte motivierten letztlich die Fülle der Neugründungen im 15. Jh. Nicht die Nachfrage bestimmte das Angebot, sondern das Angebot dieser quantitativen Explosion von Hochschulen brachte offenbar die immense Zahl von 235 000 Immatrikulierten an den zuletzt zwölf Universitäten des nordalpinen Reichsgebietes zwischen 1385 und 1505 hervor. Studierten 1385 wohl nur etwas mehr als 2000 Studenten pro Jahr, so waren es um 1500 wohl etwas mehr als 3000, d. h. etwas mehr als 350 Neuimmatrikulierte pro Jahr an den größeren Universitäten (Walther, 2003, 16ff). Die meißnischen Markgrafen aus dem Hause Wettin hatten die günstige Gelegenheit von 1409 konsequent genutzt, um ihre Stellung als bedeutendste Landesherren im mitteldeutschen Raum mit dem Prestigeprojekt der Gründung einer Vier-Fakultäten-Universität in Leipzig für das eigene Territorium zu fördern.7 Das Pariser Universitätsmodell, das letztlich alle mitteleuropäischen Universitätsneugründungen nördlich der Alpen prägte, hatte im Unterschied zu den italienischen Juristenuniversitäten mit seinem Vier-Fakultäten-Modell wie auch der Strukturierung durch die vier studentischen nationes der Artistenfakultät die Binnenorganisation der Gesamtuniversität bestimmt.8 Die divergierenden Interessen innerhalb der studentischen nationes wie im Verhältnis dieser von Köln im Falle Triers, daneben auch noch Paris und Bologna im Falle von Mainz, nicht im entferntesten erreichten. Daneben schlugen auch der zweite Versuch mit Kulm 1434 nun mit einem kaiserlichen Privileg Siegmunds von 1434, des badischen Markgrafen Karl 1459 für Darmstadt und des bayerischen Herzogs Albrechts IV. 1487 für Regensburg fehl, nachdem sich schon der Gründungsvorgang in Ingolstadt der oberbayerischen Vettern von 1459 (Privilegerteilung) bis 1472 hingezogen hatte. Die fürstbischöfliche Gründung von 1402 in Würzburg mit einem päpstlichen Privileg kam offenbar kaum über den Pergamentstatus hinaus, während die anderen Gründungsversuche des 15. Jhs., im Reich Leipzig, Rostock, Löwen, Freiburg i.Br., Greifswald, Basel und Tübingen durchaus reüssierten, freilich in unterschiedlichem Maße. Als erfolgreichste Neugründung erwies sich zweifellos das 1425 inaugurierte Löwen, das sich neben dem älteren Wien zur größten Universität im Reich entwickelte. Diese zahlreichen Gründungen zeigen deutlich die „Welle“ an, die nach der Schismazeit einsetzte und die auch das wieder konsolidierte Papsttum nach der Periode konziliarer Bedrohung seiner Machtposition in der Kirche nicht zurückschrauben konnte. Dazu Walther: 2009, insbes. 89 f. 7 Dazu zusammenfassend Bünz: 2009. 8 Dazu ausführlicher Walther: 2015; Denifle: 1956; Kibre: 1948; Rüegg: 1993, 51ff (Verger, J.), 110 – 115 (Gieysztor, A.), 144ff (Verger, J.); Tanaka: 1990.
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zueinander gefährdeten sowohl in Paris wie in den mitteleuropäischen Universitätsneugründungen die Einheit der Gesamtkorporation der Universität mehrfach.9 Auch wenn seit dem 14. Jahrhundert die italienischen Kommunen oder die Signori und nicht mehr die studentischen universitates die Mehrheit der Professoren besoldeten, blieb die Struktur der italienischen Rechtsuniversitäten mit dem Pariser Modell kaum zu vereinen, in dem die Artisten dominierten und die Autorität der Theologen den Ruhm ausmachte. Karls IV. Prager Gründung, die beide Modelle ohne strukturelle Vorgaben einfach vereinen wollte, konnte schon aus diesem Grund kaum reüssieren. Selbst die seit 1372 bezeugte Trennung in zwei Universitäten mit ihren nicht mehr ganz durchschaubaren institutionellen Konsequenzen konnte das Problem offensichtlich nicht beseitigen. Es existierten zwei sozial völlig unterschiedlichen Klientelen von Artisten und Juristen. Angesichts dieser Gegebenheiten war für alle nordalpinen Universitäten die Existenz von Rechtsfakultäten unter dem Dach einer Gesamtuniversität ein Dauerproblem. So wiederholten sich die Prager Schwierigkeiten zwischen Juristen und Nichtjuristen auch anderswo an allen neugegründeten nordalpinen Reichsuniversitäten, wenn dort ein starkes Juristenstudium mit seiner besonderen Klientel entstand.10 Die erfolgreiche Integration einer juristischen Fakultät erforderte also strukturelle Experimente, die von einer bloßen Übernahme des Pariser Nationen-Modells wegführen musste. Erfolgreich gelang es der Kölner Stadtuniversität nach gewaltigen Anfangsschwierigkeiten.11 Die Kölner Bur-
9 In Paris setzte die Universität im 14. Jahrhundert eindeutig auf politisches Wohlverhalten gegenüber dem königlichen Hof als Leitlinie und gefährdete damit manchmal sogar die Autorität von Beschlüssen der Pariser Theologischen Fakultät. Dazu Bernstein: 1978. 10 Im neugegründeten Heidelberger Generalstudium fehlte zunächst ein Juristenstudium; an der dortigen Universität hatte man auch so schon genug Probleme mit der Zuwanderung zweier heterogener Artistenklientelen aus Paris und Prag. Die Heidelberger Statuten verlangten deshalb von jedem Magister einen Eid auf unio et concordia und erläutern dies konkret als die Existenz von vier Fakultäten sub uno rectore et una matre universitate, sahen es deshalb als unumgänglich an, alle Spaltungsgelüste sofort an den Rektor zu melden. In Wien beschwor man nach der erfolgreicheren Zweitgründung in den 80er Jahren des 14. Jhs.: Mutuus amor et favor inter quatuor Facultates et Nationes. Konkret war dabei immer nur eine Fakultät gemeint, die der Juristen, die sich stets sozial weit überlegen fühlten und in die stets beschworene ideale concordia et unitas einer Gesamtuniversität sich nur schwer einfügen lassen wollten. Dazu umfassend Moraw: 1983, 524 – 552; Nuding: 1988, 197 – 248; Miethke: 2009, 157 – 168. 11 Zur Problematik der Integration der Rechtsstudenten Rexroth: 1994, 315 – 344; Schwinges: 1998, 375 – 388; Rexroth: 2002, 507 – 532.– Da schon bei der Gründung an der Kölner Universität ein starkes Juristenstudium etabliert wurde, sogar mit zwei juristischen Fakultäten der Kanonisten und Legisten, führte dies zwar zu praktischen Schwierigkeiten im Curriculum der Rechtsstudien, da doch die Mehrzahl der Studenten der Kanonistik angehörten oder beim Promovieren den Grad des doctor utriusque iuris anstrebten. Jedoch gab es in Köln nur wenige Probleme mit den Artisten, da sich in Köln keine mächtige Artistenfakultät entwickeln konnte, sondern die auch hier zahlenmäßig dominierenden Artesstu-
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senlösung für die Artistenfakultät verweist indirekt darauf, dass das spätmittelalterliche College-System das Nationen-Problem der Artistenfakultät obsolet machen konnte, auch wenn dies offensichtlich niemals von den Zeitgenossen reflektiert wurde.12 In Leipzig zählten die Nationen wegen der Verknüpfung der Universitätsgründung mit dem Abzug der Mehrheit der drei nichtböhmischen Nationen aus Prag zum quasi „natürlichen“ Strukturelement. Da es an der Pleiße bis ins 16. Jh. keine alle Studienrichtungen umfassende Lösung der Gliederung des Studium Generale in Kollegien gab, wurden die Konflikte zwischen Artisten und Juristen dann auf die Auseinandersetzung um den Humanismus übertragen. Während Leipzig also mit seiner Nationenstruktur in der zahlenmäßig dominierenden Artistenfakultät deutlich traditionalistische Züge trug, markiert die Wittenberger Gründung mit dem Verzicht auf eine Nationengliederung einen strukturellen Bruch. Landsmannschaftliche Konflikte unter den Studenten waren zwar damit nicht ausgeschlossen und zeitigten hier wie anderswo gravierende Folgen für das Verhältnis zur eingesessenen Stadtbevölkerung. Doch die neue Lösung machte, wie die Folgezeit ausweist – nicht nur Schule, sondern gewissermaßen „Hochschule“.13 Der Aufstieg der Wettiner in den exklusiven höchsten reichsfürstlichen Rang der Kurfürsten mit dem Erwerb der Sachsen-wittenbergischen Kurwürde 1423 hatte auch eine bessere Dotation der Leipziger Universität durch den neuen Kurfürsten Friedrich II. zur Folge (Stübel: 1879, Nr. 21 – 23, 27 – 33).14 Innerhalb der Dynastie führten die Herrschaftsteilungen mehrfach zu blutigen Auseinandersetzungen, so dass sich erst 1485 eine Lösung durch die Spaltung der Wettiner in die nach den Brüdern Ernst und Albrecht benannten Linien abzeichnete. Die Anteile der Linien am Gesamtgebiet wurden bewusst verzahnt, um den Gesamtanspruch des Geschlechtes auf den Status einer „Großdynastie“ wie die der Habsburger und Wittelsbacher aufrecht zu erhalten. Konnte nach der Regelung der Goldenen Bulle die Kurwürde in Sachsen immer nur von einem einzigen Wettiner ausgeübt werden, so ließen sich doch die Nachkommen beider Linien ungeachtet der faktischen Herrschaftsteilung vom römischen König mit allen Gebieten belehnen. Während Leipzig mit seiner Universität an die albertinische Linie fiel, ging die Kurwürde an die Ernestiner. Nur der sächsische Kurfürst verfügte wie sein brandenburgischer Kollege am Ende des 15. Jhs. noch denten auf die konkurrierenden Bursen aufgeteilt waren. Dazu Tewes: 1993; Meuthen: 1988, 88 ff. 12 Zu den strukturellen Problemen der Integrationsversuche von Juristenfakultäten beim besonderen mitteleuropäischen Universitätstyp des Spätmittelalters Walther: 2014b; zu den besonderen Kölner Verhältnissen Walther: 2015, pass. Vgl. schon Meuthen: 1988, 102ff, 131 ff. 13 Dazu Walther: 2006, 135 ff. 14 Dazu jetzt Bünz: 2009,178ff (Curriculum), 237ff (Juristen), 257ff (Humanismus in Leipzig).
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über keine eigene Universität. Der neue sächsische Kurfürst Friedrich der Weise war es seinem Rang schuldig, eine eigenes studium generale zu gründen, nachdem sogar die Brandenburger Hohenzollern sich zuerst schon bei Papst Alexander VI., dann noch einmal beim Reichsoberhaupt erfolgreich um ein Universitätsprivileg für Frankfurt a. d.O. bemüht hatten. Für den Ernestiner war es in der Ära der Reichsreform zweifellos ein gewichtiger Prestigefaktor, über eine eigene, im sächsischen Kurkreis gelegene Universität zu verfügen, nicht nur an der Albertinischen in Leipzig zu partizipieren oder auf die städtische, politisch aber letztlich kurmainzische Institution der Universität Erfurt zurückzugreifen. Bereits im Juli 1502 zog Friedrich d. Weise für seine kurfürstlich-sächsische Residenzstadt Wittenberg gegenüber den Brandenburgern mit ihrem Universitätsprivileg Maximilians für Frankfurt/Oder nach. Die Ernestinische Universität wurde in aller Eile bereits am 18. Oktober des gleichen Jahres feierlich eröffnet. Wie im Falle Brandenburgs gewährte auch hier der römische König Maximilian das Errichtungsprivileg. Der sächsische Kurfürst verzichtete jedoch auf eine zusätzliche Supplik an die päpstliche Kurie. Wir dürfen darin wohl eine bewusste Demonstration des Zusammenhangs von Universitätsgründung und Kurwürde sehen. Der Umgang mit dem päpstlichen Legaten Raimund Peraudi zur Erlangung zusätzlicher päpstlicher Fundationsvorteile, ohne an der Kurie direkt um ein Gründungsprivileg zu intervenieren, deutet auf das politische Ausspielen der vorteilhaften Situation durch den kurfürstlichen Hof. Das Wittenberger Privileg Maximilians wurde bekanntlich sogar zum Muster für die künftigen Privilegien des Reichsoberhaupts bei Universitätsneugründungen schlechthin. Bis zum Ende des alten Reiches wurde keine der Neugründung im Reich zuerst vom Papst privilegiert.15 Die Bevorzugung des Reichsoberhauptes als alleinigen Aussteller des Privilegs war sicherlich nicht ohne die besonderen Reichsvorstellungen denkbar, wie sie damals am sächsischen Kurfürstenhof bezeugt sind. Es war eine Neuerung, dass auch die theologische Fakultät Wittenbergs zunächst allein durch Maximilians Privileg von 1502 legitimiert wurde. Die päpstliche Bulle Julius II. von 1507 erkannte diesen Vorgang im Nachhinein stillschweigend an.16 Die Grün15 Zusammenfassend Walther: 2006, 140 – 143 (mit älterer Literatur). 16 Anders verhielt es sich bei der Errichtung der Universität in Frankfurt/Oder. Kurfürst Joachim I. hatte in gleicher Weise bei Kaiser und Papst um Universitätsprivilegien suppliziert. Die päpstliche Urkunde Julius’ II. erging erst am 15. März 1506, also zwar kurz vor der feierlichen Eröffnungszeremonie am 26. April; jedoch existierte offenbar schon ein päpstliches Privileg Alexanders VI. von Mai 1498 für Johann Cicero, auf das sich die Supplik der Markgrafen aber offensichtlich nicht bezogen hatte. Die kurfürstliche Errichtungsurkunde vom 5. Oktober 1505 bezog sich dann auf das kaiserliche Privileg als Legitimationsgrundlage; nur die Urkunde der beiden Markgrafen über die Rechtsstellung ihrer neuen Universität vom 22. Februar 1506 allegiert das Alexander-Privileg. Damit lässt sich auch der Vorgang der Frankfurter Gründung als Station im Entwicklungsprozess verstehen, in dem das
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dung Wittenbergs verließ damit den bisherigen rechtlichen Rahmen der Universitätsgründungen. Die Reichsreformdiskussion verschaffte der Privilegierung einer neuen Universität durch das Reichsoberhaupt nun eine Präponderanz. Diese offensichtlich schon um 1500 angelegte Tendenz musste sich noch verstärken, als durch den Bruch der neuen evangelischen Reichsstände mit der römischen Kirche sich eine Erlangung eines Universitätsprivilegs beim Papst von selbst verbot. Der Kaiser als Reichsoberhaupt war damit zur einzig allgemein anerkannten Legitimationsinstanz für ein Privileg für ein studium generale geworden. Die Alternative für die evangelischen Reichsstände hätte nur in der Rückkehr zur Errichtung von Universitäten entsprechend dem Typ der nun schon seit Jahrhunderten unüblichen studia ex consuetudine bestanden. Dies wäre letztlich aber zugleich auf eine Delegitimation des Reichsoberhauptes hinausgelaufen. Solche Vorstellungen waren den evangelischen Reichsständen aber völlig wesensfremd und hätten eine Abkehr von den bewährten Verfassungsprinzipien im Reich bedeutet. Von den lutherischen Theologen in ihren Römerbriefkommentaren und auch in den theologischen und juristischen Gutachten zum Widerstandsrecht für den Schmalkaldischen Bund wurde eine solche Infragestellung der Amtsgewalt des Reichsoberhaupts niemals erwogen. Diese neuartige Exklusivposition des Kaisers bei der Privilegierung neuer Universitäten wurde vielmehr als gültiges Reichsrecht dann auch ganz selbstverständlich von den katholischen Reichsständen übernommen, auch wenn diese die theologischen Fakultäten zusätzlich vom Papst privilegieren ließen.17 Die wirkliche Universitätsgründung vollzog freilich der Landesherr. Und wenn auch im kaiserlichen Privileg von 1502 die traditionellen älteren Modelle der autonomen Universitäten als Vorbild genannt wurden; das vom Landesherrn der Universität bewilligte Siegel von 1514 zeigt nur noch den kurfürstlichen Gründer, dem allein die Urheberschaft der akademischen Lehre zugeschrieben wird: me auspice cepit Witenberg docere. Die traditionelle Umschrift auf mittelalterlichen Universitätssiegeln, universitas studii bzw. universitas magistrokaiserliche gegenüber dem päpstlichen Gründungsprivileg eine Vorrangstellung gewinnt, ein Prozess, der offensichtlich mit Maximilian einsetzt. Dazu Kintzinger: 1999, 209 – 236; Walther: 2003, 20 ff. 17 Wie sehr der zwar sonst ein dezidiert landesherrliches Kirchenregiment praktizierende Friedrich d. Weise dennoch aus kirchenrechtlichen Gründen die oberste Instanz der Kirche für seine politischen Pläne benötigte und zu nutzen wusste, zeigten deutlich die erwähnten, vom Kardinallegaten Bf. Raimund Peraudi gleich zu Beginn 1503 erbetenen päpstlichen Privilegien für die neue Universität Wittenberg, darunter den Dispens für 40 Kleriker, römisches Recht zu studieren. Hierbei orientierte sich der Kurfürst ganz an dem Kölner Modell von 1388, obwohl Maximilians Urkunde nur die Vorbilder Bologna, Siena, Padua, Pavia, Perugia, Paris und Leipzig namentlich genannt hatte. Die an erster Stelle genannten italienischen Juristenuniversitäten beweisen, welche Vorbilder die deutschen Neugründungen am liebsten imitiert hätten, hätten sie nur die dafür nötigen wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen besessen. Dazu Walther: 2003, 21.
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rum et scolarium, die damit auf die korporative Autonomie der Institution verwies, ist in Wittenberg (und dann auch in der Folgegründung Jena) ersatzlos weggefallen. Das Verhältnis von autonomer universitas und Landesherr ist eindeutig zu Gunsten des letzteren geklärt und spricht zu jedem Leser der von der Korporation besiegelten Urkunden. Wie schon herausgestellt, verwies das Einladungsschreiben des Kurfürsten und seines Bruders von 1502 zwar auf das durch Maximilians Privileg gewährte Promotionsrecht für das neue Generalstudium in Wittenberg, stellte aber die traditionell dazu gehörenden geburenden freiheiten der Mitglieder einer universitas als Gnade des Landesherrn nur in Aussicht. 1508 verlieh allein der Kurfürst ohne Berücksichtigung einer bestehenden korporativen Autonomie die ersten Statuten der Gesamtuniversität und der vier Fakultäten. Einleitend bemerkt er, dass er es gewesen sei, der die Universität unter Zustimmung des Papstes und des Kaisers gegründet habe.18 Erst mit der Neufundierung der Universität in den 30er Jahren des 16. Jhs. konnte sich die Universität Wittenberg als Generalstudium jedoch wirklich konsolidieren. Melanchthons Bestrebungen zielten schon seit den 20er Jahren auf eine Reform der Curricula aller vier Fakultäten. Auch das traditionelle Juristenstudium sollte anders als in Leipzig mit einer humanistisch geprägten Artisten- und Theologenausbildung versöhnt werden. Die ja anfänglich durchaus nicht nur bei Luther bestehende Feindseligkeit eines Großteils der Kirchenreformatoren gegenüber dem spätscholastischen Universitätslehrbetrieb konnte damit zugleich erfolgreich überwunden werden. Den Anfang machten 1526 Melanchthons neue artistische Studienordnungen, bis 1545 folgten für alle Fakultäten und die Gesamtuniversität neue Statuten.19 Melanchthons artistische Reformen beeinflussten bekanntlich auch die Curricula der Höheren Fakultäten. Diese Zusammenhänge bedürften einer erneuten gründlichen Untersuchung.20Vielleicht wird aber die Stellung der Leucorea als ernestinische Universitätsgründung deutlich, wenn man sie nicht nur in Wettinischer Binnenpespektive vergleicht, sondern auch mit dem Ergebnis des ersten Versuchs zur Gründung einer neuen Universität durch einen protestantischen 18 Friedensburg: 1926, Nr. 2 (Einladungsschreiben) Nr. 22 (Universitätsstatuten): Gymnasium nostrum litteratorium, quod pridem ad laudem dei optimi maximi, ad clericorum augmentum et communem studiosorum utilitatem approbante Julio pontifice maximo et Maximiliano imperatore instituimus); Nr. 23 – 26 (die Statuten der vier Fakultäten von 1508). 19 Lutherische Reformation und Universitätshumanismus: Spitz: 1981, 9 – 31; Hammerstein: 1994, 339 – 357; zu Wittenberg zuletzt Asche: 2001, ; Walther: 2003, 22; Druck der reformierten artistischen Studiengänge (von 1526) in Friedensburg: 1926, 146 f (Nr. 148), der neuen Fundationsurkunde (von 1536), 72 ff (Nr. 193), der Fakultätsstatuten von 1545 als Teil der Academiae Witebergensis Leges, quae bis quotannis publice recitantur, Wittemberg 1545, 255 – 278 (Nr. 271 ff); zu Leipzig: Rudersdorf: 2009, 331 – 391. 20 Älterer Forschungsstand bei Friedensburg: 1917, 90 ff; Burmeister: 1974, 251 – 261; Lück: 1998; Asche: 2001; Matthias: 2002, 137 – 143.
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Reichsfürsten, also mit dem, was sich 1527 in Marburg vollzog. Auch hier waren für die Neugründung in erster Linie dynastische Interessen maßgeblich. Der junge hessische Landgraf hatte als prononcierter Parteigänger der lutherischen Kirchenreformation die Gründung eines universalis studium Marpurgenis zum wichtigen Teil einer im Oktober für seine Territorien vorgesehenen umfassenden „Reformatio Ecclesiarum Hassiae“ gemacht. Bei der Marburger Gründung wurden deswegen Melanchthons curriculare Reformen berücksichtigt, die inzwischen in Wittenberg um sich griffen. Das Schlagwort für die Marburger Neugründung war der „gemeine Nutzen“, in dem sich die Herrschaftsinteressen des Landesherrn und die Kirchenreform verbinden sollten (Walther : 1999, 111ff z. Forschungsstand).21 Aber anders als Friedrich der Weise stellte Landgraf Philipp seiner Gründung im August 1529 einen landesherrlichen Freiheitsbrief aus. Philipp erklärte darin, er habe in Marburg „ein löblich universal studium furgenommen und ufrichten lassen“, musste aber einräumen, dass er sich noch darum bemühen werde, von der kaiserlichen Majestät „Fundation vnnd Privilegien ad gradus promovendi etc. zu erlangen“. Denn ohne ein solches Privileg war kaum eine allgemeine Anerkennung der Marburger Promotionen zu erreichen. Als erste Magisterpromotionen in der Artistenfakultät anstanden, bemühte sich Philipp zunächst um ein solches Privileg vom Reichsoberhaupt, versprach sich dann wohl mehr Erfolg vom 1531 inzwischen zum Römischen König gewählten Kaiserbruder Ferdinand als von Karl V. selbst, der im Juli 1531 kühl dem landgräflichen Gesandten erwiderte, er könne sich nicht erinnern, dass in den verbindlichen und gültigen Formen des Reichsrechts in Marburg eine Universität errichtet worden sei. Der Landgraf hatte aber auch bei Ferdinand in Wien keinen Erfolg. Aus religionspolitischen Gründen lehnten die königlichen Räte eine Privilegienerteilung ab, räumten freilich ein, dass eine künftige politische Konstellation im Reich eine solche notwendig machen könne. Deshalb erhielt Philipp nur einen vertröstenden Bescheid aus Wien. Nach dem Herbst 1540 war tatsächlich eine andere politische Lage eingetreten. Karl V. wollte den Landgrafen aus dem Schmalkaldischen Bund herausbrechen. Der Kaiser war aus diesen politischen Erwägungen heraus sogar bereit, die Doppelehe des Landgrafen zu akzeptieren, Philipp erhielt die Anerkennung der Marburger Hohen Schule als Universität ohne Verzicht auf das Promotionsrecht für Theologen. Allerdings erhielt er von Karl V. am 16. Juli 1541 dafür kein kaiserliches Privileg, sondern nur eine Bestätigung (confirmatio) der vom Landgrafen „aufgericht universitet und hohe Schuel“ mit den akademischen Freiheiten der übrigen Universitäten im Hl. Römischen Reich. Das Marburger Beispiel zeigt freilich den inzwischen relativ eng gewordenen 21 Zuletzt Walther : 2010, 23 – 28.
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neuen rechtlichen Rahmen an, in dem sich aufgrund der religions- wie allgemeinpolitischen Entwicklungen im Reich noch ein Handlungsspielraum für die Errichtung neuer Universitäten auch für der Gruppe der protestierenden Reichsstände ergab. Philipp versuchte niemals, auf die ältere Form eines studium generale ex consuetudine auszuweichen. Wie schon gesagt, entsprach ein Übergehen des Reichsoberhaupts bei einer Neugründung nicht der Reichsauffassung auch der evangelischen Reichsstände. Philipp musste, um für sein Studium in Marburg eine Anerkennung als Generalstudium mit zumindest reichsweit gültiger licentia docendi zu erhalten, die exklusive Privilegierungsinstanz des Kaisers als Reichsoberhaupt nutzen und zu diesem Zweck Kompromisse eingehen. Im Falle der Ernestiner stellt die langfristige Sicherung einer weiterhin funktionierenden Universität in Wittenberg, ihre curriculare Reform und gleichzeitig langfristige Fundierung bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts also eine bemerkenswerte Leistung von kurfürstlichem Hof und kirchenreformatorischem Lehrkörper dar. Diese Beurteilung schließt auch die erfolgreiche Fortführung unter Moritz nach der Kapitulation des Schmalkaldischen Bundes ein (Töpfer : 2004b, 119ff). In der Situation der ernestinischen Herrschaftskrise nach 1547 war die Frage einer Fortführung ihrer Wittenberger Universität in ihrer alten oder in einer veränderten neuen Form keineswegs das wichtigste Problem. Erst am Ende einer Diskussionsphase fiel im September 1547 Johann Friedrichs Entscheidung zur Errichtung einer Hochschule in Jena, aus finanziellen Gründen 1548 nur als studium particulare verwirklicht und doch als studium generale geplant. Als der albertinische Vetter Moritz als neuer Kurfürst die Universität in Wittenberg weiterzuführen versprach und Melanchthon dort auch weiterhin lehren wollte, gleichzeitig eine Entscheidung zu dem durch den Kaiser verkündeten Zwischenlösung in Glaubensfragen im Reich (Augsburger Interim) anstand, sah Hanfried das wahre Luthertum der Schmalkaldischen Artikel weder beim mitgefangenen hessischen Landgrafen, noch bei Melanchthon, noch bei Moritz von Sachsen gesichert. Es schien inzwischen offensichtlich für die Ernestiner auch in höchster finanzieller Bedrängnis nicht mehr möglich, als wahrer lutherischer Fürst auf eine landesherrliche Universität zu verzichten.22
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Armin Kohnle / Beate Kusche
Die Wittenberger Theologische Fakultät in ihrer Anfangszeit – Beobachtungen zu Strukturen, Personal und Profil
Nach Erfurt und Leipzig war Wittenberg die dritte Universitätsgründung im mitteldeutschen Raum.1 Mit der im Jahr 1502 erfolgten Errichtung der Leucorea und ihrer generellen Einordnung im Spannungsfeld zwischen spätem Mittelalter und Früher Neuzeit beschäftigen sich mittlerweile mehrere Aufsätze.2 Darüber hinaus aber hat die Erforschung der Wittenberger Universitätsgeschichte von der intensiven universitätsgeschichtlichen Forschung der vergangenen Jahrzehnte nur am Rande und in Detailfragen profitiert, dies gilt überraschenderweise in besonderem Maße für die Geschichte der Theologischen Fakultät, ihre institutionellen und personellen Rahmenbedingungen und Strukturen.3 Obwohl die Bedeutung der Wittenberger Theologischen Fakultät für die Reformation außer Frage steht, lässt sich im Augenblick die Literatur zu dieser universitären Teileinheit in ihrer Frühzeit noch an einer Hand aufzählen: Neben der großen und immer noch wichtigen Universitätsgeschichte Walter Friedensburgs von 1917 ist auf den älteren einschlägigen Aufsatz von Kurt Aland (1952, 155 – 237) zu verweisen, der jedoch das gesamte 16. Jahrhundert und nicht nur die Gründungsphase der Fakultät behandelt. In jüngerer Zeit haben sich Markus Wriedt (vgl. 2002, 14 – 29) und Martin Treu (vgl. 1998, 31 – 51) zur Theologischen Fakultät geäußert. Von Heinz Scheible liegen zudem neuere Arbeiten zu einzelnen Institutionen und Personen der Universität Wittenberg vor (vgl. u. a. 2007, 7 – 43; 1996, 123 – 144). Es bleibt also großer Spielraum für neue Untersuchungen und Fragestellungen. Hier kann es im Folgenden aufgrund der gebotenen Kürze nur darum gehen, die Anfänge der Wittenberger Theologischen Fakultät in einigen ausge1 Der folgende Beitrag ist eine leicht erweiterte und mit Anmerkungen versehene Fassung des Wittenberger Vortrages vom 11. Oktober 2012, der im Rahmen der Tagung „Reformation und Rationalität“ unter dem Titel „Die Anfänge der Theologischen Fakultät“ gehalten wurde. 2 Vgl. z. B. Scheible: 1978, 131 – 147; Stievermann: 2002, 39 – 54; Stievermann: 1999, 175 – 207; Töpfer : 2004, 27 – 54. 3 Einen Überblick über den Stand der Forschung zur Wittenberger Theologischen Fakultät in der Reformationszeit bietet neuerdings Kohnle: 2013, 201 – 211.
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wählten Punkten kritisch zu rekapitulieren und dabei den einen oder anderen Akzent etwas anders zu setzen als es bisher in der Forschung geschehen ist.4 Die zu diskutierenden Punkte beschäftigen sich mit Periodisierungsfragen, speziell damit, was man sich unter „Anfänge“ der Theologischen Fakultät zeitlich und inhaltlich vorzustellen hat, des Weiteren mit Strukturen und Personen, mit der materiell-finanziellen sowie räumlichen Ausstattung der Fakultät, und schließlich mit dem inhaltlichen Profil und der Lehre.
1.
Gründung und „Anfänge“ der Fakultät
Das Gründungsjahr der Wittenberger Theologischen Fakultät war das Jahr der Gründung der Gesamtuniversität 1502. Wittenberg wurde als klassische VierFakultäten-Universität gestiftet, die Theologie gehörte von Anfang an als erste der drei oberen Fakultäten dazu. So steht sie auch entsprechend der traditionellen inneruniversitären Rangfolge an erster Stelle in der Aufzählung aller Fakultäten im Stiftungsbrief des römisch-deutschen Königs Maximilian, den er am 6. Juli 1502 für die neue Hohe Schule an der Elbe ausgestellt hatte (Friedensburg: 1926, 1 – 3 [Nr. 1]). Neben den Theologen nahmen im Zusammenhang mit der feierlichen Eröffnung der Wittenberger Universität am 18. Oktober 1502 auch die Artisten, Juristen und Mediziner offiziell ihren Lehr- und Prüfungsbetrieb auf.5 Für alle galt in den Anfangsjahren des Wittenberger Studiums das Privileg des kostenlosen Promovierens, das die landesherrlichen Universitätsstifter Kurfürst Friedrich und Herzog Johann von Sachsen gewährt hatten, um die Attraktivität und Anziehungskraft ihrer Neugründung zu erhöhen und um damit den erfolgreichen Start zu gewährleisten (Friedensburg: 1926, 3 f [Nr. 2]). Zur Startmannschaft des Wittenberger Studiums gehörten neben dem Theologieprofessor Johann von Staupitz mehrere Artistenmagister, die bereits theologische Grade erworben hatten und daher auch Lehraufgaben an der höheren Fakultät übernehmen konnten (vgl. Foerstemann: 1841, 1). Als Rekrutierungsorte dienten die Universitäten Leipzig und Tübingen, bereits im Vorfeld des offiziellen Gründungsaktes war hier gezielt für Wittenberg geworben worden.6 Letztlich ist also von einem tatsächlich funktionierenden Fakultätsbetrieb 4 Neue Untersuchungen zu Personen und Strukturen der Theologischen Fakultät der Universität Wittenberg erfolgen derzeit im Wittenberger Forschungsprojekt „Das ernestinische Wittenberg. Universität und Stadt (1486 – 1547)“ an der Stiftung LEUCOREA. Ziel der prosopographischen Forschungen ist die Erstellung eines Professorenbuches der Theologischen Fakultät. 5 Zur Geschichte der drei Fakultäten vgl. Kathe: 2002; Lück: 1998; Koch: 2007, 289 – 348; Kaiser/Völker: 1980. 6 Als Anwerber und Vermittler von Studierenden und von Lehrenden sowohl für die künftige
Die Wittenberger Theologische Fakultät in ihrer Anfangszeit
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in Wittenberg seit dem Jahr 1502 auszugehen, bereits im Wintersemester 1502 wurden dann auch erste akademische Grade an der Theologischen Fakultät verliehen (Foerstemann: 1838, 2). Zur Absicherung der rechtlichen Basis der Promotionen in der Theologie wurden zu Beginn des Jahres 1503 und endgültig 1507 die noch ausstehenden kirchlichen Bestätigungen und Privilegien erwirkt (Friedensburg: 1926, 5 [Nr. 4f], 17 [Nr. 19]; IsraÚl: 1913, 66ff, 100 – 103). Nicht so einfach ist die Frage zu beantworten, wie weit man die „Anfänge“ reichen lassen möchte. Eine einheitliche Antwort findet sich in der Literatur nicht. Wriedt geht in seinem Aufsatz zu den Anfängen der Theologischen Fakultät bis in das Jahr 15187, eine Zäsur, für die man gute Gründe finden kann, die aber keineswegs zwingend erscheint. Andere Zäsuren, die auch geeignet wären, das Ende der „Anfänge“ zu markieren, gab es in der Frühgeschichte der Fakultät mehrere. Zu denken wäre zum Beispiel an die Bestätigung der Universitätsgründung und die Inkorporation des Allerheiligenstifts durch Papst Julius II. am 20. Juni 1507 (Friedensburg: 1926, 17 [Nr. 19]; IsraÚl: 1913, 66ff). Nach dem Stiftungsbrief König Maximilians vom Juli 1502 lag nun auch ein päpstliches Privileg für Wittenberg vor, damit waren alle Voraussetzungen für die allgemeine europaweite Anerkennung der in Wittenberg verliehenen theologischen Abschlüsse gegeben. Die Inkorporation des Allerheiligenstifts war für die Anfangszeit in wirtschaftlicher Hinsicht zwar höchst bedeutsam, aber keineswegs das Ende der Entwicklung, die erst mit der Fundation Johann Friedrichs vom 5. Mai 1536 zu einem Abschluss kam (Friedensburg: 1926, 172 – 184 [Nr. 193]). Erst mit dieser landesherrlichen Maßnahme wurden Aufgaben und Einkünfte der theologischen Lehrer klar geregelt. Im Lichte dieser wahrhaftigen Neugründung der Leucorea erscheint alles, was vorher war, als eine langgestreckte Gründungsphase. Wesentlich früher liegende Einschnitte kann man freilich ebenso in Erwägung ziehen: Geht man von der internen Organisation der Theologischen Fakultät aus, bietet sich das Jahr 1508 als Zäsur an, denn im November 1508 gab der Landesherr der Fakultät ihre ersten Statuten (Friedensburg: 1926, 31 – 39 [Nr. 23]). Damit war eine wichtige Etappe in der strukturellen Festigung der Wittenberger Theologische Fakultät als auch für den bereits angelaufenen Studienbetrieb in den ersten Jahren nach der Eröffnung des Generalstudiums wirkten speziell Martin Pollich an der Universität Leipzig und Johann von Staupitz an der Universität Tübingen; vgl. u. a. Friedensburg: 1917, 12 f; Wriedt: 1995, 173 – 186. 7 Im Jahr 1518 immatrikulierte sich Philipp Melanchthon an der Wittenberger Universität. Seine Berufung auf den Lehrstuhl für Griechisch ist zwar einzuordnen in den laufenden Reformprozess der Wittenberger Universität, stellte aber schließlich eine wichtige Zäsur dar. Sein Auftreten und Wirken verband sich „[…] mit dem Öffentlichwerden der reformatorischen Position Luthers und sukzessive auch einiger Mitstreiter wie Andreas Bodenstein aus Karlstadt, Johannes Lang und Nikolaus von Amsdorf.“ Wriedt: 2002, speziell 12 f.
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Ämter und Verfahrensregeln erreicht, auch die internen schriftlichen Aufzeichnungen der Fakultät wurden seither geordneter, ein Dekanatsbuch wurde regelmäßig geführt (Foerstemann: 1838).8 Erstmals fällt Licht auf die inneren Verhältnisse, aber eben auch nicht mehr. Denn die wenig später einsetzende, mit dem Namen Martin Luthers verbundene reformatorische Entwicklung hat vieles von dem überholt, was 1508 festgelegt worden war. Dies führt zu der Frage, ob die Anfänge der Theologischen Fakultät „sub specie Lutheri et reformationis“ betrachtet werden dürfen? Doch Vorsicht hinsichtlich des Zäsurcharakters ist angebracht. Nach der von Hans Schneider neuerdings etablierten Chronologie (2011, 1 – 157, speziell 96 – 111) fiel der erste Wittenberg-Aufenthalt Luthers in die Zeit zwischen Herbst 1508 und Herbst 1509, die endgültige Übersiedelung in das Jahr 1512. Während seines ersten Aufenthalts spielte Luther an der Fakultät kaum eine Rolle, war er doch noch Student, erwarb lediglich den Grad eines Baccalaureus biblicus (Foerstemann: 1838, 4) und qualifizierte sich in Wittenberg für den Grad eines Sententiarius. Bevor er seine Antrittsvorlesung halten konnte, wurde er nach Erfurt zurückgerufen (vgl. Schneider : 2011, 99 – 102). In die Wittenberger Fakultät eingetreten ist er erst im Spätjahr 1512 (Foerstemann: 1838, 13). Auch dies bedeutete zunächst keine Zäsur in der Fakultätsgeschichte. Luthers reformatorischer Weg war ein evolutionärer Prozess, dessen Bedeutung für die Fakultät erst nach und nach spürbar wurde. Ähnliches gilt für den Thesenanschlag 1517, der als Zäsur der Fakultätsgeschichte wenig taugt. Mit besseren Gründen könnte man das Jahr 1516 in Betracht ziehen, denn damals wurden Mängel in der Ausstattung der Universität erstmals intensiv diskutiert und Reformen angemahnt (Friedensburg: 1926, 74 – 81 [Nr. 55 – 57]). Für das bereits erwähnte Jahr 1518 als Zäsur spricht, dass mit Philipp Melanchthon die neben Luther zweite prägende Gestalt nicht nur der Artistischen, sondern auch der Theologischen Fakultät nach Wittenberg kam. Doch auch diese Sicht ist problematisch, geht sie doch einher mit der Vorstellung, dass erst mit Melanchthon der Humanismus nach Wittenberg gekommen sei. Auf diese unzutreffende Sichtweise ist noch zurückzukommen. Die Diskussion unterschiedlicher Zäsuren in der Geschichte der Wittenberger Theologischen Fakultät kommt also zu keinem eindeutigen Ergebnis. Die Gründung der Universität Wittenberg war ein langgestreckter Vorgang, der erst mit der Fundation von 1536 zu einem wirklichen Abschluss kam. Die Theologische Fakultät entwickelte sich mit der Gesamtuniversität und gewann durch Luther, Melanchthon und die anderen Wittenberger Reformatoren eine neue Gestalt. Allerdings nahm die Überwindung der spätmittelalterlich-scholasti8 Vgl. zu den ältesten überlieferten Statuten und zum Dekanatsbuch der Theologischen Fakultät auch: Die Wittenberger Universitäts- und Fakultätsstatuten vom Jahre 1508: 1867.
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schen Zustände eineinhalb Jahrzehnte in Anspruch. Erst Melanchthons Statuten für die Theologische Fakultät von 1533 besiegelten diesen Umbau (Friedensburg: 1926, 154 – 158 [Nr. 171]; Foerstemann: 1838, 152 – 157). Die „Anfänge“ der Theologischen Fakultät reichten also strenggenommen bis in die frühen 1530er Jahre. Um den folgenden Überblick aber nicht zu überlasten, erfolgt ganz pragmatisch eine Konzentration auf die Zeit zwischen Gründung und reformatorischem Aufbruch, von 1502 bis etwa 1518.
2.
Strukturen und Personen
Die Wittenberger Theologische Fakultät war im Vergleich zu anderen Fakultäten des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation mit fünf – zumindest geplanten – ordentlichen Professuren groß, hinzu kamen noch die außerordentlichen Professoren. An einer mittelgroßen deutschen Universität wirkten dagegen lediglich zwei bis maximal drei Professoren der Theologie (Seifert: 1996, 197 – 374, speziell 214). Dies verweist auf den hohen Stellenwert, den der für seine Frömmigkeit bekannte Kurfürst Friedrich der Weise seiner Gründung als Bildungsstätte für die Landesgeistlichkeit zugemessen haben muss. Auch wenn wir vor 1508 wenig über die innere Organisation der Fakultät wissen, steht doch zu vermuten, dass die in dieser Zeit üblichen Strukturen von Anfang an existierten: Ein Dekan, der nach den Statuten von 1508 zu zwei Terminen im Jahr9 aus den Magistern (Doktoren) der Theologie gewählt wurde, ein collegium der Doktoren, das den Dekan wählte. Zur Fakultät zu zählen sind auch die Inhaber der niedrigeren akademischen Grade, wie die Bakkalare, Sententiare oder Lizentiaten. Diese waren aufgrund ihrer erreichten Abschlüsse zur Lehre an der Theologischen Fakultät verpflichtet, aber rein rechtlich noch keine Vollmitglieder der höheren Fakultät. Hinzu kamen die Studierenden, die noch keine Grade erworben hatten. Die Theologen waren auch an den gesamtuniversitären Gremien beteiligt (Friedensburg: 1926, 18 – 31 [Nr. 22]). Als Mitglieder des akademischen Senats nahmen sämtliche Magister der Theologie, sowohl Weltgeistliche als auch Ordensgeistliche, an der Wahl des Oberhauptes der Hohen Schule, des Rektors, teil. Theologen trafen fakultätsübergreifende Entscheidungen. Sie verfügten auch außerhalb ihrer eigenen Korporation über Aufsichtsbefugnisse. Als Reformatoren besaßen einzelne, ausgewählte Theologen
9 Zu wählen war das neue Oberhaupt der Fakultät durch die Mitglieder des theologischen Senats zum Fest des Evangelisten Lukas (18. Oktober) und zum Fest der Heiligen Philippus und Jakobus (1. Mai); Friedensburg: 1926, 31 – 39 (Nr. 23), speziell 33.
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direkte Einflussmöglichkeiten auf die künftige Entwicklung der Wittenberger Universität.10 1502 und in den ersten Jahren nach der Gründung der Leucorea ist eine gezielte Politik der Rekrutierung von Professoren zu beobachten, wobei die Universitäten Leipzig und Tübingen auch weiterhin, wie bereits in der Planungsund Vorbereitungsphase des neuen Generalstudiums, eine wichtige Rolle spielten. Darüber hinaus erlangte die Universität Erfurt eine größere Bedeutung. Zu verweisen ist hier beispielsweise auf den Doktor der Theologie Jodocus Trutfetter, der 1506/07 für Wittenberg verpflichtet wurde. Er immatrikulierte sich an der Leucorea nach der Rückkehr der Universität, die wegen der Pest in Wittenberg im Jahr 1506 nach Herzberg an der Elster verlegt worden war (Foerstemann: 1841, 19 f). 1507 erhielt Trutfetter eine der fest besoldeten Stellen für Universitätslehrer im Allerheiligenstift, als Archidiakon war er ordentlicher Theologieprofessor und hatte das Predigtamt an der Schlosskirche inne.11 Wittenberg wurde als Ordensstudium der Franziskaner und der Augustinereremiten eingerichtet. Ein Franziskanerkloster bestand schon lange, das Augustinereremitenkloster wurde bekanntlich im Zuge der Universitätsgründung neu errichtet. Das Ordensstudium hatte für die Neugründung viele Vorteile. Es sorgte nicht nur für Immatrikulationen und schuf ein Rekrutierungspotential für Hochschullehrer, sondern sicherte zugleich die Besoldung eines Teils der Wittenberger Professoren. Das Amt des Dekans ging unter den Doktoren der Theologie unter Beachtung spezieller Voraussetzungen12 reihum, ab dem Wintersemester 1509/10 wurden in den folgenden Jahren die beiden 1508 statutarisch festgelegten Wechsel im Dekanat pro Jahr auch in der Praxis vorgenommen.13 Vor diesem Winterse10 Zum Gremium der Reformatoren (ab 1508), ihren Aufgaben und ihrer Stellung zwischen Landesherr und Universität vgl. Töpfer: 2004, 38 – 40. „Ihnen oblag die gegebenenfalls notwendige Reform der Universitätsstatuten, die Wahrnehmung von Ordnungs- und Aufsichtskompetenzen, die Bestellung der Vorsteher der Bursen und die Durchführung der inneruniversitären Zensur und Lehraufsicht.“ Ebd., 39. 11 Die Fluktuation unter den Professoren der Anfangszeit war aber hoch. So verließ auch Trutfetter bereits 1510 Wittenberg wieder. Vgl. Bünger/Wentz: 1941, 121; Plitt: 1876. 12 Bei der Wahl des Dekans und bei der Übertragung und Übernahme von Aufgaben und Ämtern in der Theologischen Fakultät waren Fristen zu beachten, die sich nach dem Zeitpunkt der Doktorpromotion und der Aufnahme in den Senat richteten; vgl. u. a. Friedensburg: 1926, 33 f (Nr. 23), 81 f (Nr. 59). 13 Vom Wintersemester 1509/10 bis zum Sommersemester 1518 standen der Wittenberger Theologischen Fakultät folgende Professoren als Dekane vor – mit Ausnahme von Pollich sämtlich Stiftsherren des Wittenberger Allerheiligenstiftes oder Augustinereremiten: Jodocus Trutfetter (Wintersemester 1509/10), Peter Lupinus (Sommersemester 1510), Wolfgang Ostermair (Wintersemester 1510/11), Martin Pollich (Sommersemester 1511), Peter Lupinus (Wintersemester 1511/12), Andreas Bodenstein (Sommersemester 1512), Wenzeslaus Link (Wintersemester 1512/13), Martin Pollich (Sommersemester 1513), Peter Lupinus (Wintersemester 1513/14), Andreas Bodenstein (Sommersemester 1514), Wenzeslaus Link
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mester kamen dagegen auch längere Amtszeiten vor, die mit Ausnahmesituationen wie dem Start des Studiums oder mit Krisenzeiten wie dem Pestausbruch 1506 zu erklären sind, aber auch auf Lücken in der Überlieferung zurückgeführt werden können, gibt es doch nur spärlich erhaltene schriftliche Aufzeichnungen aus den Anfangsjahren der Wittenberger Theologischen Fakultät. Soweit die vor 1509 rekonstruierbare Liste der theologischen Dekane Aussagen zulässt (Foerstemann: 1838, 1 – 5; Friedensburg: 1926, 14 – 17 [Nr. 17]), dauerte das Dekanat des Gründungsdekans der Theologischen Fakultät, Johann von Staupitz, mindestens zwei, wenn nicht drei Semester. Vom Sommersemester 1506 bis zum Wintersemester 1507/08 war Martin Pollich aus Mellrichstadt Dekan, also ganze vier Semester. Der Augustinereremit Staupitz und Pollich waren die beiden wichtigsten Figuren unter den Wittenberger Theologen der ersten Stunde.14 Der Doktor der Medizin und kurfürstliche Leibarzt Martin Pollich war zugleich der Gründungsrektor der Leucorea und der erste, der 1503 in Wittenberg einen theologischen Magistergrad erwarb (Foerstemann: 1838, 2). Sowohl Pollich als auch Staupitz gehörten zu den durch den sächsischen Kurfürsten Friedrich den Weisen eingesetzten und erstmals in den Statuten 1508 greifbaren Reformatoren, was ihrer Stellung entsprach und ihnen zusätzlich enormen Einfluss auf die innere Ausgestaltung und weitere Entwicklung der Leucorea eröffnete. Neben diesen beiden prägenden Persönlichkeiten der Anfangsjahre begegnen unter den ersten Dekanen der Wittenberger Theologischen Fakultät auch weniger bekannte Männer wie die Franziskaner Paul Carnificis und Ludwig Henning in den Jahren 1504 und 1505 (Foerstemann: 1838, 2; Bünger/Wentz: 1941, 393, 395). Allerdings endete mit diesen beiden Personen der Einfluss des Franziskanerordens auf die Fakultät abrupt, und die Augustinereremiten dominierten fortan. Neben Staupitz gehörten dem Augustinereremitenorden an: Wolfgang Ostermair, Dekan im Winter 1510/11, Wenzeslaus Link aus Colditz, Dekan im Winter 1512/13 und 1514/15, Johann Herrgott, Dekan im Winter 1516/17 und natürlich Martin Luther, erstmals Dekan im Sommersemester 1515. Neben die Dekane aus den Bettelorden traten seit dem Sommersemester 1508 die Stiftsherren des 1507 inkorporierten Allerheiligenstifts: Jodocus Trutfetter im Sommer 1508 und Winter 1509/10, Petrus Lupinus, erstmals im Sommer 1510, schließlich Andreas Bodenstein aus Karlstadt, erstmals im Sommer 1512. In der (Wintersemester 1514/15), Martin Luther (Sommersemester 1515), Peter Lupinus (Wintersemester 1515/16), Andreas Bodenstein (Sommersemester 1516), Johann Herrgott (Wintersemester 1516/17), Martin Luther (Sommersemester 1517), Peter Lupinus (Wintersemester 1517/18), Andreas Bodenstein (Sommersemester 1518); vgl. Foerstemann: 1838, 5 – 21. 14 Zu Staupitz vgl. Hamm: 2000, 119 – 127; Wriedt: 1991; sowie Wriedt: 2002, speziell 14 – 29. Zu Pollich vgl. Schlereth: 2001, 605 f; Grünberg: 1952, 87 – 91; sowie für die Zeit bis zu seinem endgültigen Wechsel nach Wittenberg Kusche: 2009, 725 – 728.
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Dekaneliste der Theologischen Fakultät spiegeln sich demzufolge auch die unterschiedlichen Finanzierungsquellen der Universität.
3.
Ausstattung und Finanzierung
Die Leucorea beruhte nach ihrer Gründung auf einer Mischfinanzierung15 aus direkten Zuschüssen des Landesherrn, Stellen, die durch die Bettelorden finanziert wurden, und seit 1507 auf der Verbindung mit dem Wittenberger Allerheiligenstift. Ein eigenes Stiftungsgut wurde der Universität bei ihrer Gründung nicht zugewiesen. Dieses gemischte System galt auch für die Theologen. Der Augustinereremit Staupitz wurde vom Orden unterhalten, was aber nicht ausschloss, dass er vom Kurfürsten für seine Ratgeberdienste nicht noch zusätzliche Zuwendungen bekam. Pollich, der als Ratgeber, kurfürstlicher Leibarzt und Theologieprofessor eine besondere Stellung einnahm, erhielt verschiedene Einkünfte und Unterstützungsleistungen vom Kurfürsten.16 Erst durch die Fundation von 1536 wurde dieses Mischsystem durch Übertragung von Besitz an die Universität und durch feste Gehälter ersetzt (Friedensburg: 1926, 172 – 184 [Nr. 193]). Die Funktion des Allerheiligenstifts als finanzielles Rückgrat der Leucorea wurde in der Urkunde des Papstes Julius II. vom 20. Juni 1507 geregelt (Friedensburg: 1926, 17 [Nr. 19]; IsraÚl: 1913, 66ff). Die Inkorporation des Stifts in die Universität war verbunden mit einer Neuordnung und personellen Aufstockung. Das Stift bestand ursprünglich aus einem Propst und sechs Stiftsherren, also aus sieben Personen.17 Diese sieben alten Stellen wurden mit neuen Amtsbezeichnungen fortgesetzt: Dekan, Propst, Archidiakon, Kantor, Kustos, Scholaster und Syndicus. Die Einkünfte reichten je nach Wert der zugewiesenen Pfründen von sechzig Gulden Jahreseinkommen für den Propst bis zwölf Gulden für den Syndicus. Hinzu kamen fünf neue, mit zehn bzw. neun Gulden bescheiden dotierte herzogliche Kanonikate, so dass aus dem Stift seit 1507 zwölf Personen finanziert wurden, allerdings mit einem Zuschuss des Kurfürsten. Laut päpstlicher Urkunde sollte die landesherrliche Zuweisung eine Höhe von 2000 15 Vgl. dazu Stievermann: 1999, 198 – 200; sowie Haussherr : 1952, 345 – 354. 16 Zu Beispielen für Zuwendungen und Aufwandsentschädigungen für Staupitz und Pollich vgl. die Auflistungen der Ausgaben in den Hofgegenrechnungen der Ämter und in den Amtsrechnungen des Amtes Wittenberg sowie in den Schatullenausgaben im Weimarer Hauptstaatsarchiv ; z. B. ThürHStA Weimar, EGA, Reg. Bb 126; ThürHStA Weimar, EGA, Reg. Bb 2742 und Bb 2746; sowie ThürHStA Weimar, EGA, Reg. Bb 4177. Mit diesen Rechnungen beschäftigt sich derzeit intensiv Thomas Lang im Rahmen des Projektes „Das ernestinische Wittenberg. Universität und Stadt (1486 – 1547)“ an der Stiftung LEUCOREA Wittenberg. 17 Zum Wittenberger Allerheiligenstift vgl. grundsätzlich Bünger/Wentz: 1941, 75 – 164.
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Gulden haben. Der Bedingung kam Kurfürst Friedrich der Weise nach, indem er eine ewige Rente von 120 Gulden aussetzte. Die Stiftsherrenstellen waren mit Lehrverpflichtungen an der Universität und mit geistlichen Aufgaben am Stift und in der Stadt verbunden. Nach der Regelung von 1507 waren der Archidiakon und der Kantor zu Predigtdiensten in Stifts- und Stadtkirche verpflichtet und gleichzeitig zu theologischen Vorlesungen dreimal wöchentlich. Dem Kustos wurden die Disputationen am Freitag mit den theologischen Magistern in der Heiligen Schrift übertragen. Die Norm besagte demzufolge, dass der Theologischen Fakultät drei der sieben alten Stellen am Stift zugewiesen waren, die anderen den Juristen, die fünf neuen Stellen den Artisten. Wie so oft stimmten Norm und Wirklichkeit aber nicht völlig überein. Tatsächlich lehrte in der Frühzeit nur einer der Stiftsherren an der Theologischen Fakultät, später waren es zwei. Die feste Verbindung mit bestimmten Stellen am Stift wurde anfangs überwiegend eingehalten: Jodocus Trutfetter und nach ihm Andreas Bodenstein aus Karlstadt hatten die Position eines Archidiakons inne, Petrus Lupinus und nach ihm Johann Dölsch die Stelle des Kustos.18 Die eigentlich auch den Theologen zugewiesene Stelle eines Kantors bekleidete nach 1507 aber für fast zwanzig Jahre ein Jurist, der keine Lehre bei den Theologen ableistete. Dafür wurde der Jurist und Theologe Justus Jonas 1521 auf die Stelle des Propstes gesetzt, die mit der Juristenfakultät verbunden war. Jonas lehrte aber bei den Theologen und ließ sich bei den Juristen vertreten.19 Die beiden anderen regulären Stellen an der Theologischen Fakultät waren durch die Franziskaner und die Augustinereremiten zu unterhalten. Nach einer 1504 von Staupitz beurkundeten Vereinbarung besetzten die Augustinereremiten die „ordinaria in biblia“ und außerdem eine Professur „in morali philosophia“ bei den Artisten (Friedensburg: 1926, 12 f [Nr. 14]). Neben Staupitz und Luther als den beiden bekannten Augustinereremiten wirkten aus diesem Orden auch die weniger prominenten Hartwig Temmen, Johann Vogt, Johann Mantel, Wolfgang Ostermair, Johann Herrgott und Wenzeslaus Link an der Fakultät.20 18 Trutfetter war von 1507 bis 1510 Archidiakon, Karlstadt von 1510 bis 1524. Die Stelle des Kustos vor Lupinus hatte der Jurist Lorenz Schlamau inne (1507/08). Nach dem Wechsel Schlamaus in das Dekanat des Kapitels folgte ihm im Amt Lupinus (von 1508 bis 1521), dessen Nachfolger wurde im Jahr 1521 Johann Dölsch; Bünger/Wentz: 1941, 118 f, 121, 123, 126ff, 131 f. 19 Von 1507 bis 1525 bekleidete der Jurist Ulrich von Dienstedt die Stelle des Kantors; zu Ulrich von Dienstedt und Justus Jonas vgl. Bünger/Wentz: 1941, 118, 122 f, 137 f; zu Jonas des Weiteren Leder : 1988, 234 – 238; Dingel: 2009. 20 Zu diesen Angehörigen des Augustinereremitenordens und Mitgliedern des theologischen Senats in der Frühzeit der Universität Wittenberg vgl. Wriedt: 2002, 22 – 24. Zum Wittenberger Augustinereremitenkloster und zu den Mitgliedern des Konventes vgl. grundsätzlich Bünger/Wentz: 1941, 440 – 499.
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Hinsichtlich der franziskanischen Professur können nur drei Persönlichkeiten namhaft gemacht werden: Paul Carnificis und Ludwig Henning, die 1504 und 1505 auch als Dekane amtierten, sowie Peter Zedlitz (Fontinus).21 Henning, der 1504/05 bereits für den abwesenden Carnificis Aufgaben an der Theologischen Fakultät übernommen hatte, trat dessen Nachfolge an. Er wurde im Rotulus von 1507, der einen Blick auf das Lehrpersonal der Leucorea gestattet, als ordentlicher Professor der Theologie geführt (Friedensburg: 1926, 14 – 17 [Nr. 17]). Danach dominierten die Augustinereremiten und die Stiftsherren des Allerheiligenstifts die Theologische Fakultät. Lediglich im Sommersemester 1519 bekleidete mit Fontinus nochmals ein Franziskaner das theologische Dekanat (Foerstemann: 1838, 22). Nach bisherigem Stand der Kenntnis ist festzuhalten, dass die Verbindung zwischen der Fakultät und dem Franziskanerorden in den Jahren nach 1507 nur locker war, wenn nicht sogar phasenweise ganz abgerissen war. Eine feste Besetzung der theologischen Ordensprofessur und damit eine institutionelle Verknüpfung der Franziskaner mit der Fakultät scheint es jedenfalls nicht gegeben zu haben. Zu vermuten ist, dass die Augustinereremiten diese Lücke ausfüllten.
4.
Räumlichkeiten
Man hat sich Wittenberg in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts als große Baustelle vorzustellen. Schloss und Schlosskirche, Kollegien als universitätseigene Gebäude und Augustinereremitenkloster mussten grundlegend umgebaut oder überhaupt erst errichtet werden. Die Behinderungen für einen regulären Lehrbetrieb kann man sich lebhaft vorstellen. Wie man sich räumlich beholfen hat, lässt sich für die Theologen wenigstens fragmentarisch rekonstruieren: Die Stadtpfarrkirche St. Marien diente der Universität, aber auch den oberen Fakultäten als Aula. Hier fand die feierliche Eröffnung der Leucorea 1502 statt22, hier wurden die Promotionen der Theologen und Mediziner vollzogen. Die Gemeinde schaffte für diese Gelegenheiten eigens Bänke an (vgl. Ludwig: 2011, 121 – 134, speziell 121 Anm. 3; Foerstemann: 1838, 2). Die im Bau befindliche Stiftskirche Allerheiligen wurde von den Theologen mitbenutzt, soweit es der Fortschritt der Baumaßnahmen zuließ. Die Einwölbung war erst 1506/07 abgeschlossen, 1509 fanden theologische Promotionen in
21 Zum Wittenberger Franziskanerkloster und zu den Mitgliedern des Konventes vgl. grundsätzlich Bünger/Wentz: 1941, 372 – 397. 22 Zu den Eröffnungsfeierlichkeiten der Wittenberger Universität vgl. Friedensburg: 1917, 18 – 20.
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dieser Kirche statt (Bellmann/Harksen/Werner : 1979, 91 f; Bünger/Wentz: 1941, 91, 470; Foerstemann: 1838, 5). In der Anfangszeit der Fakultät wird auch das Franziskanerkloster von den Theologen mitbenutzt worden sein, das Beichthaus diente als Lektorium (Ludwig: 2011, 121 mit Anm. 3; Bünger/Wentz: 1941, 384). Die eigentlichen Universitätsgebäude, der Gebäudekomplex des collegium Fridericianum, welcher Wohn-, Versammlungs- und Lehrräume für alle vier Fakultäten bieten sollte, entstand im Verlauf des ersten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts. Man unterschied das 1503 bis 1505/07 errichtete alte Kolleg, das Hintergebäude, vom neuen Kolleg, dem Vordergebäude, das 1509 bis spätestens 1513 errichtet wurde.23 Das Dekanatsbuch erwähnt zu 1510 und 1511 die Nutzung des alten Kollegs durch die Theologen. In einer hinteren Stube tagte 1512 auch der theologische Senat. Nach Fertigstellung nutzte die Fakultät für die Durchführung ihrer Lehrveranstaltungen auch das große Auditorium des neuen Kollegs.24 Neben diesen eigens der Universität zugedachten Räumlichkeiten spielten in der Anfangszeit aber auch die Privathäuser der Professoren für die Fakultät eine Rolle – in Pollichs Wohnhaus in der Schlossstraße fanden 1510 zum Beispiel eine Einberufung und Verhandlungen der Theologischen Fakultät statt (Foerstemann: 1838, 7). Ähnliches gilt für das Augustinereremitenkloster, das parallel zum Baufortschritt nach 1504 für ein Hausstudium der Ordensangehörigen und wahrscheinlich auch für Lehrveranstaltungen der Theologischen Fakultät genutzt wurde.25 Die schwierigen räumlichen Verhältnisse der Gründungs- und Anfangszeit werden zu Beginn der reformatorischen Phase der Theologischen Fakultät bereits einigermaßen bereinigt gewesen sein.
5.
Inhaltliches Profil und Lehre
Der Blick hinter die Kulissen auf das inhaltliche Profil und die Praxis der Lehre an der Wittenberger Theologischen Fakultät ist auch und gerade für die Anfangsjahre selten möglich. Spezielle Untersuchungen zum Lehrbetrieb gibt es nicht, das Promotionswesen ist ebenfalls nicht im Detail untersucht. So ist man auf Einzelbeobachtungen angewiesen, die darauf hindeuten, dass sich die Wittenberger Theologische Fakultät im Rahmen des an einer spätmittelalterlichen Universität des Reiches Üblichen bewegte. Die Graduierungsstufen waren so wie anderswo auch: Der baccalaureus biblicus war der niedrigste theologische Grad, 23 Einen Überblick über die Wittenberger Kollegienlandschaft bietet Ludwig: 2010. 24 Vgl. zur Nutzung der Räumlichkeiten in den beiden Gebäuden des collegium Fridericianum durch die Theologen u. a. Foerstemann: 1838, 7, 9, 13, 20, 22; Bellmann/Harksen/Werner : 1979, 224. 25 Zum Bau des Augustinereremitenklosters vgl. Neser : 2005, speziell 21 – 29, 312.
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der freilich in der Regel die Graduierung zum magister artium voraussetzte. Die nächsten akademischen Stufen waren die eines sententiarius, eines formatus und eines licenciatus. Wer sich dabei bewährte, konnte die Erlaubnis (licencia) zur Magisterpromotion erwerben, das heißt für das theologische Doktorat. Eine Liste aus dem Jahr 1516 gibt einen Eindruck von den Zahlen (Friedensburg: 1926, 76 – 81 [Nr. 57], speziell 79).26 Danach sind im Jahr 1509 in der Theologie zwei baccalaurei biblici und zwei baccalaurei sentenciarii promoviert worden. 1510 waren es ein Biblicus, zwei Sententiare, zwei Lizentiaten und ein Doktor ; 1511 zwei Sententiare, fünf Lizentiaten und vier Doktoren; 1512 vier Biblici, zwei Lizentiaten, ein Doktor ; 1513 vier Sententiare; 1514 ein Biblicus, vier Lizentiaten; sowie 1515 ein Lizentiat und vier Doktoren. Den 42 Promotionen an der Theologischen Fakultät standen im selben Zeitraum 26 an der Juristischen Fakultät und lediglich sieben an der Medizinischen Fakultät gegenüber. Der Struktur einer vormodernen Universität entsprechend, lagen diese Zahlen der drei höheren Fakultäten nur bei einem Bruchteil der Promotionszahlen an der Artistenfakultät, die in die Hunderte gingen. Die Angaben in Bezug auf die Theologische Fakultät scheinen zu belegen, dass der Grad eines Formatus schon damals nicht mehr gesondert verliehen wurde und dass sich für den höchsten theologischen Grad der Name „Doktor“ inzwischen etabliert hatte. Interessant ist auch der Hinweis, dass von den Promovierten bis auf vier Bakkalaurei, zwei Lizentiaten und einem Doktor alle Mönche gewesen sind. Der Anteil der Mönche betrug damit 83 Prozent. Soweit wir ihre Namen kennen, handelte es sich zum größten Teil um Augustinereremiten, zum kleineren Teil um Franziskaner. „Wittenberg war eine Universität der via antiqua skotistischer Richtung“, so hat es Heinz Scheible im Blick auf die Artisten einmal formuliert (1996, 130). Und die Theologen? Die in der Forschung kontrovers diskutierte Frage nach der Überwindung der spätmittelalterlich-scholastischen Zustände und der Formierung dessen, was man Wittenberger Theologie nennen könnte, kann hier in angemessener Ausführlichkeit nicht mehr behandelt werden. Die Antwort hängt davon ab, wie stark man den Humanismus an der Fakultät verankert sieht, bevor er durch Melanchthons Ankunft in Wittenberg 1518 einen starken Schub erhielt. Nach Junghans (2002, 55 – 70) wurde 1502 zwar eine spätscholastische Universität gegründet, die in ihren ersten Jahren auf Humanisten aber durchaus eine gewisse Anziehungskraft ausübte.27 Der 1507 nach Wittenberg gekommene Jurist Christoph Scheurl, Doktor beider Rechte in Bologna, gilt als Schlüsselfigur dieses Wittenberger Frühhumanismus. Diese Phase endete jedoch mit Scheurls 26 Vgl. zu den Promotionszahlen an den vier Fakultäten der Universität Wittenberg in den ersten 15 Jahren ihres Bestehens Aland: 1952, 159, 212 f (Anm. 18 – 20). 27 Vgl. auch Junghans: 1984/85.
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Weggang nach Nürnberg im Frühjahr 1512, und es stellt sich die Frage, inwieweit auch die Theologische Fakultät bis zu diesem Zeitpunkt von humanistischen Ideen ergriffen war. Junghans nennt Pollich einen Anhänger, Staupitz zumindest keinen Gegner des Humanismus. Doch erst in einer nächsten Phase, die Junghans zwischen 1513 und 1517 datiert, wurde die Theologische Fakultät vom Humanismus richtig ergriffen, im Unterschied zu der Zeit davor nun aber nicht mehr von einem an der heidnischen Antike orientierten Humanismus, sondern von einem christlichen Bibelhumanismus. Exponenten dieser Entwicklung sind der zunächst an der Artistenfakultät und von November 1515 bis Mai 1516 an der Theologischen Fakultät lehrende Augustiner Johann Lang28, der kurfürstliche Sekretär Georg Spalatin und Martin Luther. Mit Luther und Lang hielt eine neue theologische Methode an der Fakultät Einzug, ein Bibelhumanismus, der den traditionellen Lehrveranstaltungen offenbar schnell das Wasser abgrub. Im März 1516 sprach Lang gegenüber Spalatin von dem großen Zulauf, den die humanistischen Studien, die Vorlesungen über die Bibel und über die alten Schriftsteller genössen, während die scholastischen Doktoren kaum zwei oder drei Hörer hätten.29 Mit diesem Methodenwechsel einher ging bald auch eine neue inhaltliche Ausrichtung, denn Luthers Bibelstudium führte ihn immer weiter weg von etablierten scholastischen Lehrmeinungen. Die Herausbildung einer reformatorischen Theologie und die Etablierung eines bibelhumanistischen Lehrprogramms verliefen an der Wittenberger Fakultät parallel. Und dennoch blieben die traditionellen scholastischen Strukturen noch Jahre erhalten, bis sie 1523 beseitigt wurden.30
6.
Schlussbemerkung
Dieser Beitrag sollte dazu dienen, einige Schlaglichter auf die Anfänge der Wittenberger Theologischen Fakultät, ihre Strukturen, Finanzen, Personen, Räumlichkeiten und ihr Profil zu werfen. Zum letzten Punkt hätte man viel mehr anführen müssen. Auch auf die Lehrveranstaltungen an der Theologischen Fakultät, die in ihrer Gesamtheit bisher kaum untersucht wurden, konnte im 28 Zu Lang und seiner Römerbriefvorlesung vgl. Kruse: 2002, 42 – 52 und 71 – 78. 29 Junghans: 2002, 65; Kruse: 2002, 51 f. 30 1523 wurde eine neue Ordnung für das Wittenberger Studium erlassen, es gab grundlegende Umgestaltungen der Hohen Schule. Am Aufbau der neuen, reformatorischen Universität war Philipp Melanchthon maßgeblich beteiligt. Durch Melanchthons Engagement „[…] ging erstmals und in nachhaltiger Weise eine funktionale Ausrichtung humanistischer Disziplinen auf die Theologie einher, allerdings ohne Zerstörung des Eigenwertes dieser artistischen Fächer.“ Rudersdorf /Töpfer: 2006, 214 – 261, speziell 241.
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Rahmen dieses Beitrags nicht eingegangen werden.31 Es ist letztlich deutlich geworden, wie viel es zu Luthers beruflichem und intellektuellem Nahumfeld noch zu klären gibt.
Literaturverzeichnis Aland, Kurt (1952), Die Theologische Fakultät Wittenberg und ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der Leucorea während des 16. Jahrhunderts, in: 450 Jahre MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, Bd. 1: Wittenberg 1502 – 1817, Halle, 155 – 237. Bellmann, Fritz/Harksen, Marie-Luise/Werner, Roland (1979), Die Denkmale der Lutherstadt Wittenberg (Die Denkmale im Bezirk Halle), Weimar, 91 f. Bünger, Fritz/Wentz, Gottfried (Bearb.) (1941), Das Bistum Brandenburg, Teil 2 (Germania Sacra, 1. Abteilung: Die Bistümer der Kirchenprovinz Magdeburg, Bd. 3), Berlin. Die Wittenberger Universitäts- und Fakultätsstatuten vom Jahre 1508 (1867), hg. im Auftrag des mit der königlichen Universität Halle-Wittenberg verbundenen thüringisch-sächsischen Vereins zur Erforschung des vaterländischen Altertums, Halle. Dingel, Irene (Hg.) (2009), Justus Jonas (1493 – 1555) und seine Bedeutung für die Reformation (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 11), Leipzig. Foerstemann, Carl Eduard (Hg.) (1838), Liber Decanorum Facultatis Theologicae Academiae Vitebergensis, Leipzig. Foerstemann, Carl Eduard (Hg.) (1841), Album academiae Vitebergensis, ab a. Ch. MDII usque ad a. MDLX, Leipzig, 1, 19 f. Friedensburg, Walter (1917), Geschichte der Universität Wittenberg, Halle (Saale). Friedensburg, Walter (Bearb.) (1926), Urkundenbuch der Universität Wittenberg Teil 1 (1502 – 1611) (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt, Neue Reihe 3), Magdeburg. Grünberg, Theodor (1952), Martin Pollich von Mellerstadt, der erste Rektor der Wittenberger Universität, in: 450 Jahre Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Bd. 1: Wittenberg 1502 – 1817, Halle, 87 – 91. Hamm, Berndt (2000), Article „Staupitz, Johann[es] von“, TRE 32, 2000, 119 – 127. Haussherr, Hans (1952), Die Finanzierung einer deutschen Universität: Wittenberg in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens (1502 – 1547), in: 450 Jahre Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, Bd. 1: Wittenberg 1502 – 1817, Halle, 345 – 354. Israël, Friedrich (1913), Das Wittenberger Universitätsarchiv, seine Geschichte und seine Bestände. Nebst den Regesten der Urkunden des Allerheiligenstiftes und den Fundationsurkunden der Universität Wittenberg, Halle (Saale), 66 – 68, 100 – 103. Junghans, Helmar (1984/85), Der junge Luther und die Humanisten, Weimar/Göttingen. Junghans, Helmar (2002), Martin Luthers Einfluß auf die Wittenberger Universitäts31 Mit den Disputationen in der Wittenberger Frühzeit beschäftigt sich der Beitrag von Volker Leppin in diesem Band.
Die Wittenberger Theologische Fakultät in ihrer Anfangszeit
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Zuspitzung und Wahrheitsanspruch – Disputationen in den Anfängen der Wittenberger reformatorischen Bewegung
Neben der Vorlesung war die Disputation die hervorgehobene Lehrform der mittelalterlichen Universität. In ihr bewährte sich der diskursive Charakter des akademischen Betriebs. Wer sich in ihr schulte, lernte, die eigene Position nicht nur zu entfalten, sondern auch gegen Widerlegungen zu behaupten. William Courtenay (1987, 30) hat die Disputation daher treffend mit dem Turnierwesen verglichen,1 wobei auch mitschwingt, dass sich der Disputator die von ihm vertretenen Thesen nicht immer voll und ganz zueigen machen musste. Gerade um den eigenen Verstand zu üben, hatte man ja beispielsweise auch Gründe gegen die Existenz Gottes zu finden und stark zu machen – freilich zu dem höheren Zweck, sie umso souveräner zu widerlegen und so die Überlegenheit der christlichen Wahrheit gegenüber jedem philosophisch möglichen Zweifel zu erweisen. Ganz in diesem Sinne hat einer der bedeutendsten Disputatoren des frühen 16. Jahrhunderts, Johannes Eck, bei der Veröffentlichung einer 1516 in Wien über die Trinitätslehre abgehaltenen Disputation angegeben, dass er diese exercitii causa, bloß zur Übung, veranstaltet habe (Eck: 1923, 26,7 f). Disputationen konnten aber auch mehr sein als ein gelehrtes Spiel. Man konnte sie nutzen, um bestimmte Lehren zu überprüfen oder einzuprägen. Vor allem boten sie eine geradezu ideale Form zur Reduktion von Komplexität an (Schubert: 2008, 412).2 Der Zwang, in einer Disputation Fragen letztlich mit einem Sic oder Non zu beantworten, bot die Möglichkeit, innerhalb der Vielfalt spätmittelalterlicher Möglichkeiten klare Alternativen herauszuarbeiten, die eine Ent1 Diesen turnierartigen Charakter übersieht Schubert: 2008, 414 – 419, wenn er aufgrund einzelner Quellenbelege unterstellt, dass die mittelalterliche Disputation allein schon die „Infragestellung“ der Wahrheit der kirchlichen Lehre untersagt habe. Selbstverständlich konnte man auch die Existenz Gottes oder andere Zentralinhalte des christlichen Glaubens infrage stellen. Das Bewusstsein aber, dass dieser der auch akademisch zu eruierenden Wahrheit entspräche, bestimmte auch die Ergebnisse der Disputation. 2 Schubert: 2008, 6 f, weist zu Recht darauf hin, dass bislang die Disputationen der frühen Reformationszeit einseitig unter dem Gesichtspunkt der Inhalte und weniger ihrer formalen Gestaltung betrachtet wurden.
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scheidung für oder gegen eine bestimmte Position zu erzwingen schienen. Betrieb man eine solche Alternative bloß exercitii causa, mochte dies eine geringe Wirkung entfalten. Gebrauchte man aber die Alternative für eine Reform und setzte das Neue dem Alten gegenüber, so konnte der Zwang zur Wahl in der von Peter L. Berger (1992) für die moderne Gesellschaft nahegelegten griechischen Urbedeutung zum „Zwang zur Häresie“ werden. Eben dies geschah in Wittenberg in einer relativ kurzen Zeit, in der aus einer Reformbewegung innerhalb des breiten Spektrums mittelalterlicher Theologie eine Bewegung wurde, die sich als die Alternative schlechthin zum Bisherigen gab und dies dann im Zuge der weiteren Entwicklung auch wurde. Der Rahmen, innerhalb dessen man sich mit solchen Disputationen in Wittenberg bewegte, war durch die Statuten der Theologischen Fakultät vom 15. November 1508 klar bestimmt.3 Den Rahmen der Doktorpromotionen regelten sie zum einen unter den Pflichten des Dekans, zum anderen in einem eigenen Abschnitt über die Promotionen. Dem Dekan oblag die Pflicht, nach Erhalt der Promotionsgebühren den Kandidaten die Quästionen anzuzeigen, über welche sie disputieren sollten, und außerdem Tag, Ort und Zeit der Disputation schriftlich mitzuteilen.4 Zudem hatte er einen öffentlichen Anschlag an den Wittenberger Kirchentüren vorzunehmen, der die Angabe von Promotor, Promovend, Vorsitzendem und Respondenten enthalten sollte.5 Da hier Promotor und Vorsitzender unterschieden werden, ist unter dem promotor derjenige zu verstehen, der den Akt der Promotion im juristischen Sinne vollzog.6 Der Ablauf wird gründlich für die Magisterpromotion beschrieben.7 Hiernach legte ein magister dem zu promovierenden Baccalaren eine Frage mit begründeter bejahter und verneinender Antwort vor (in unam atque alteram partem disputata). Dieser hatte die Frage einer Entscheidung zuzuführen. Darauf hatten seine Baccalarenkollegen zu reagieren, indem sie seine Lösung zu widerlegen suchten. War dies erfolgreich absolviert, erfolgte nach dem Ritual der Auseinandersetzung mit den Gleichrangigen die für die Kooptation in den Magisterkreis notwendige Auseinandersetzung mit diesen. Nun hatte ein anderer Magister wiederum eine Frage vorzulegen, behandelte diese aber in anderer Weise als der erste, nämlich einerseits logisch (trivialiter), andererseits theologisch. In theologischer Hinsicht legte er dann eine Entscheidung vor, 3 Vgl. zu den Disputationen in Wittenberg die Artikel von Schwarz: 2010, 328 – 340, und Leppin: 2014, 166 – 172. Eine allgemeine, im Einzelnen zu differenzierende Beschreibung der Abläufe bietet Schubert: 2008, 417 f. 4 Urkundenbuch der Universität Wittenberg, 33. 5 Urkundenbuch der Universität Wittenberg, 33. 6 Siehe hierzu Urkundenbuch der Universität Wittenberg, 35. 7 Urkundenbuch der Universität Wittenberg, 35; zu den Änderungen, die die Vorschriften und damit das Disputationswesen insgesamt 1580 erfuhren, siehe Appold: 2004, 26 – 30.
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markierte aber zugleich offene Fragen als dubium. Die Aufgabe wurde also differenzierter und feiner. Denn nun war dieses dubium vom Promovenden zu untersuchen, und zwar so, dass er so viele Schlüsse vorzulegen hatte, wie Magister anwesend waren. Das gab die Möglichkeit, dass wiederum jeder von diesen gegen die vorgetragene Lösung votierte. Für diesen komplexen Vorgang aber sah die Ordnung mehrere Begrenzungen zum Schutz des Promovenden vor: Zum einen sollte der gesamte Akt nicht länger als drei Stunden dauern, und zum anderen hatte der Vorsitzende die Aufgabe, die Diskussion mit den Magistern abzubrechen, nachdem der Promovend ein Argument und die erste Replik beantwortet hatte. Daraufhin sollte der Vorsitzende eine geschliffene Rede halten und die Fortsetzung des Verfahrens auf den nächsten Tag terminieren. Dieser war dann schon dem feierlichen Abschluss vor dem gesamten Senat der Fakultät gewidmet: Der Promotor vollzog mit einer feierlichen Rede die Promotion, und der Promovierte antwortete seinerseits mit einem Lob der Theologie. Die nun erfolgende Promotion war ein ritueller Akt, an welchem sich, offenbar um die weiterreichenden Fähigkeiten der Theologen zu unterstreichen, auch ein puer e regione mit einer Frage beteiligen sollte – die Tatsache, dass hierdurch schon in den Regularien akademischer Disputationen in Wittenberg ein gewisser Öffentlichkeitscharakter mitgesetzt war, hat bislang in der reformationshistorischen Forschung kaum Aufmerksamkeit gefunden. In diesem Zusammenhang fällt auch die eigenartige Rede von galli, die zur Behandlung dieser Frage herangezogen werden. Offenkundig handelt es sich um erfahrene Magister, die als Partner im öffentlichen Gespräch die Rolle des disputativen Gegenübers einzunehmen haben. Neben diesen besonders feierlich beschriebenen Disputationen zur Erlangung der Magisterwürde gab es auch Disputationen auf anderen Graduierungsstufen: Für den baccalaures biblicus, den sententiarius, den formatus und den licentiatus,8 wobei lediglich die Disputation zur Formatur etwas ausführlicher beschrieben wird. Vor allem aber gab es die Zirkulardisputationen, die dem entsprachen, was in anderen Kontexten als quodlibeta bekannt ist:9 Ihrer Rangfolge nach sollten die Magister während des Semesters jeweils freitags eine dreistündige Disputation abhalten, für die ausdrücklich vorgeschrieben wurde, sie sollte sincere, amice, non clamorose et odiose, magis ad eruendam veritatem quam inanem gloriolam aucupandam abgehalten werden. In der frühen Phase der reformatorischen Bewegung in Wittenberg gewannen beide Arten von Disputation Bedeutung. Die erste wichtige Disputation, die zu Recht als „erster öffentlicher Vorstoß für Luthers Theologie“ (Kruse: 2002, 79) 8 Urkundenbuch der Universität Wittenberg, 34. 9 Vgl. hierzu Wolf: 1965, 41 f.
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gilt, fand wohl am 19. September 1516 statt:10 Es handelte sich um die Disputation De viribus hominis sine gratia. Disputator war Bartholomäus Bernhardi aus Feldkirch. In der Überlieferung sind auch dessen Erläuterungen erhalten. Nach den angeführten Statuten hätte eigentlich Luther als Vorsitzender die Thesen aufstellen müssen; dieser selbst aber erklärte gegenüber Lang wenige Wochen später in einem Brief, die positio stamme nicht von ihm, sondern von Bartholomäus.11 Otto Clemen schloss hieraus, Bartholomäus Bernhardi habe die Thesen erstellt, Luther hingegen die Erläuterungen.12 Dem wird man so nicht einfach folgen können. Soviel ist lediglich deutlich, dass Bartholomäus Bernhardi Autor der Thesen selbst war.13 Dabei ist allerdings zunächst der von Luther verwendete Singular propositio deutungsbedürftig. Meint er mehrere Thesen, spricht Luther sonst im Plural von positiones.14 Hier ist also offenbar das Ganze der Disputation gemeint, allerdings allem Anschein nach ohne Erläuterungen, denn im selben Brief spricht Luther davon, dass Amsdorff die propositio nach Erfurt gesandt habe, nachdem er die tituli abgeschnitten habe.15 Das lässt am ehesten auf eine Disputationseinladung schließen, also einen Plakatdruck, wovon aber kein Exemplar mehr erhalten ist.16 Dann aber dürfte der Singular propositio in der Tat die Gesamtheit der Thesen, also der propositiones, meinen. Diese stammen demnach alle von Bartholomäus Bernhardi; über die Autorschaft an den Erläuterungen hingegen besteht geringere Klarheit als Clemen meinte. Nach den Regularien der Disputationen ist eher davon auszugehen, dass
10 In Leppin: 2010, 97, schreibe ich noch 25. September (ebenso Kruse: 2002, 78). Hieran hat Herr cand. theol. Matthias Baral in seiner Hausarbeit „Theologische Wahrheitsfindung als kommunikatives Ereignis: Die Disputation Bernhardis Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia im Kontext der Römerbriefvorlesung Luthers 1515/16“ (Tübingen, 2011), zu Recht Kritik geübt: Die Disputation hat laut Einladung an einem Freitag stattgefunden (WA 1, 145, 3) – der 25. September aber war ein Donnerstag. Baral votiert daher für den 26. September als Disputationsdatum. Allerdings ergibt sich dann die Schwierigkeit, dass im Dekanatsbuch die Promotion von Bartholomäus Bernhardi für den 25. September verzeichnet wird (Liber Decanorum. Das Dekanatsbuch der theologischen Fakultät zu Wittenberg, hg. v. Johannes Ficker, Halle/ S. 1923, 26v). Das lässt sich nun auf keine Weise mit den normativen Regelungen verbinden, denn hiernach hätte dann die Disputation am 24. September stattfinden müssen, was aber ein Mittwoch war. Da die Promotion schwerlich vor der Disputation stattgefunden hat, muss man also wohl, abweichend von den Statuten, auf den nächstliegenden Freitag zuvor, also den 19. September gehen. 11 WA.B 1, 65 (Nr. 26, 20 f). 12 WA.B 1, 68 Anm. 5, unter Berufung auf WA 1, 143, wo die Frage aber offen gelassen wird. 13 Klassischerweise überwiegt gegenüber diesem – in der Tat erstaunlichen – Faktum – in der Forschung eine Konzentration auf eine auktoriale Lutherperspektive (siehe etwa Lohse: 1988, 250 – 264, 252.). 14 WA.B 1, 94 (Nr. 38, 15); 103 (Nr. 45, 4). 15 WA.B 1, 66 (Nr. 26, 57 f). 16 WA 1, 142.
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der Disputator ihr Urheber ist als der Vorsitzende.17 Damit hätte man es bei der vorliegenden Quaestio mit einem Text zu tun, der von Luther inspiriert und auch als solcher anerkannt wurde,18 nicht aber mit einem, an dem dieser selbst als Autor mitgewirkt hätte. Versucht man den möglichen Wortlaut der Thesenreihe zu rekonstruieren, wie sie per Anschlag spätestens am 12. September 1516 in Wittenberg an Stadt– und Schlosskirche ausgehängt worden sein müssen, so ergibt sich folgende Thesenreihung: An homo, ad Dei imaginem creatus, naturalibus suis viribus Dei creatoris praecepta servare aut boni quippiam facere aut cogitare atque cum gratia mereri meritaque cognoscere possit? Conclusio prima. Homo, ratione animae Dei imago et sic ad gratiam Dei aptus, suis naturalibus viribus solis creaturam quamlibet qua utitur vanitati subiicit, sua et quae carnis sunt quaerit. Corollarium I. Homo vetus, vanitas vanitatum universaque vanitas, Reliquas quoque creaturas, alioqui bonas, efficit vanas. Corollarium II. Carnis nomine dicitur homo vetus non tantum quia sensuali concupiscentia ducitur, Sed (etiam si est castus, sapiens, iustus) quia non ex Deo per spiritum renascitur. Corollarium III. Etsi omnes infideles vani sint, nihil boni operantes, non tamen aequalem poenam patientur omnes. Conclusio secunda. Homo, Dei gratia exclusa, praecepta eius servare nequaquam potest neque se, vel de congruo vel de condigno, ad gratiam praeparare, verum necessario sub peccato manet. Corollarium I. Voluntas hominis sine gratia non est libera, sed servit, licet non invita. Corollarium II. Homo, quando facit quod in se est, peccat, cum nec velle aut cogitare ex seipso possit. Corollarium III. Cum iusticia fidelium sit in Deo abscondita, peccatum vero eorum manifestum in seipsis, Verum est, non nisi iustos damnari atque peccatores et meretrices salvari. Conclusio tertia. Gratia seu charitas, quae non nisi in extrema necessitate succurrit, inertissima est ac potius nulla charitas, nisi extrema necessitas non mortis periculum sed cuiuscunque rei defectus intelligatur. 17 Für Bartholomäus als Autor spricht auch, dass Luther die dritte conclusio in seinem Schreiben an Lang mit anderen Begriffen und anderen Autoritäten behandelt, als dies in der ausformulierten Disputation der Fall ist; vgl. WA.B 1, 66 [Nr. 26, 36 – 55] mit WA 1, 149,19 – 31. Besonders auffällig ist, dass Luther erklärt, zur Beantwortung sei keine andere Autorität heranzuziehen als Matt 7,12, während diese Bibelstelle in der Disputation selbst nur eine Autorität neben anderen ist. 18 WA.B 1, 65 (Nr. 26, 18).
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Corollarium I. Christus Iesus, virtus nostra, iusticia nostra, cordium et renum scrutator, solus est cognitor meritorum nostrorum ac iudex. Corollarium II. Cum credenti omnia sint autore Christo possibilia, Superstitiosum est humano arbitrio aliis Sanctis alia deputari auxilia. Corollarium III. Est iuxta praemissa ad quaestionem responsivum. Quaestio accedens. Utrum omnes in Christo baptizati aequaliter recipiant effectum Baptismatis? Conclusio. Gratia Baptismatis regulariter et semper aequalis est, quantum est ex parte Dei et sacramenti, inaequalis tamen esse potest, quantum ad ministros, meritum, passionem Christi et recipientis subiecti.19
Angesichts der Schwierigkeit der Rekonstruktion muss man eventuell unterstellen, dass die Corollaria von Bartholomäus erst im Laufe der Disputation hinzugefügt wurden, während man wohl die quaestio accedens auf seine Erstfassung zurückführen kann. Gegen die Zuweisung der corollaria an den zu unterstellenden ersten Plakatdruck spricht insbesondere das dritte corollarium zur dritten conclusio, da es die inhaltlichen Abhandlungen der beiden vorangehenden corollaria voraussetzt, also, unterstellt man, dass diese von Bernhardi formuliert worden sind, seinerseits auch von diesem stammen muss. Als per Anschlag verbreiteter Text wären damit nur die drei conclusiones anzusehen, und damit eine Textfolge, deren Anstößigkeit gering war. Sie richtete sich vor allem gegen Vorstellungen, die dem Menschen Fähigkeiten zum Heil allein aufgrund seiner natürlichen Ausstattung zusprachen, was eine bestimmte, in Kreisen der Via moderna begegnende Haltung traf (Grane: 1962, 247 – 250; Oberman: 1965, 48 – 51),20 aber keineswegs als Gemeingut gelten konnte. Das gilt ebenso für die zweite conclusio, für die tragend ist, dass der Ausschluss jedweder 19 Herausgezogen aus: WA 1, 145 – 151. 20 Junghans: 1968, 296 – 298, hat eindringlich gezeigt, dass die Hochschätzung der menschlichen Natur für die Gnade bei Gabriel Biel nicht allein auf Wilhelm von Ockham zurückgeht, sondern sich einer „Synthese von Humanismus und Christentum“ verdanke, wobei letztere Alternative so heute schwerlich haltbar ist, aber ausdrückt, dass sowohl die scholastische Tradition als auch der Humanismus in der Willenslehre des Tübinger Theologen zusammenwirkten und zu Aussagen wie in II Sent d. 28 q. 1 a. 2 führen: „[…] intellectus ex suis naturalibus potest cognoscere et iudicare bonum, iustum et honestum esse faciendum ac malum fugiendum propter finem naturalem“ (conclusio 1: Biel: 1984, 538, 3 – 5.); „Liberum arbitrium ex suis naturalibus, sine dono gratiae, potest quodlibet peccatum mortale novum cavere“ (conclusio 2: ebd. 538, 1 f.). Biel geht damit zurück auf Aussagen Ockhams, nach denen gilt: „Igitur potest vitare ex puris naturalibus omne peccatum“ (Ockham : 1984, 319, 741 f.). Diese stehen aber ausdrücklich in einem Kontext, der die pelagianische Auffassung ablehnt, so könne sich der Mensch de condigno das ewige Leben erwerben (ebd. 320, 749 – 752). Es geht in ihnen um ein Ausloten von Möglichkeitsaussagen, nicht um eine Beschreibung des gegebenen Heilswegs (vgl. hierzu jetzt die differenzierte Deutung im umfassenden Horizont von Ockhams Gnaden- und Prädestinationslehre bei Beyer : 2012, 136 f).
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Art von Verdienst sich allein auf den Menschen außerhalb der Gnade bezieht, was eine Zueignung von Verdiensten auf Grundlage der Gnade Gottes durchaus als möglich erscheinen lässt. Auch die dritte conclusio, die lediglich den Spezialfall einer gratia oder caritas im Notfall behandelt, war innerhalb des gegebenen gnadentheologischen Spektrums denk- und aussprechbar. Die eigentliche Schärfe kam durch die corollaria hinein, besonders die zur zweiten conclusio, die zum einen jeglichen freien Willen ohne die Gnade bestritten, zum anderen das facienti quod in se est in Frage zogen und schließlich die Verdammung der Gerechten und Rettung der Sünder benannten. Betrachtet man mithin die Disputatio De viribus unter dem Aspekt, in welcher Weise hier das Medium der Disputation dazu genutzt wurde, die neue reformatorische Theologie zu präsentieren, so wird man sagen können, dass das Erregungspotenzial vergleichsweise gering war – was auch damit zusammenhängen mag, dass es sich aller Wahrscheinlichkeit nach bei dem Text nicht um das Werk eines Magisters, sondern eines Schülers handelte. Die Disputation diente zunächst einmal der internen theologischen Selbstverständigung in Wittenberg und der Absicherung des durch Luthers Römerbriefvorlesung erreichten theologischen Standes durch Weitergabe unter dem theologischen Nachwuchs. Ihre eigentliche Wirkung erlangten die Wittenberger Disputationen erst durch eine zugespitzte Form, die freilich nicht an der Leucorea erfunden wurde, sondern den Wittenbergern durch Johannes Eck nahe gebracht wurde. Dieser suchte im Frühjahr 1517 über Christoph Scheurl, der 1512 die Wittenberger juristische Professur verlassen hatte und in seine Heimatstadt Nürnberg zurückgekehrt war (Lück: 1998, 73 – 93, 79 f), Kontakt mit den Wittenbergern.21 In diesem Zusammenhang schickte Scheurl den Wittenbergern am 1. April 1517 auch ein Buch mit Disputationen Ecks.22 Hierbei kann es sich wohl nur um dessen Wiener Disputation vom August 1516 handeln, welche mit einigen anderen Schriften am 27. Januar 1517 von Johann Miller in Augsburg gedruckt worden war.23 Karlstadt und Luther hatten damit einen Text in Händen,24 der prägend für ihre eigene Disputierkunst werden sollte: Ganz anders als die wenigen, in sich aber komplex formulierten Thesen der Disputation De viribus bot 21 Zu der kurzen Phase freundschaftlicher Beziehung siehe Iserloh: 1985, 22 f; vgl. Scheurls gegenseitige Empfehlung von Eck und Wittenbergern in Scheurl: 1872,2, und WA.B 1, 91 (Nr. 36, 2 – 4). Zu Scheurls Stellung zwischen Eck und den Wittenbergern: Wetzel: 1998, 161. 22 WA.B 1, 91 (Nr. 36, 2 – 4): „Amicum meum Iohannem Eckium de virtute tua feci certiorem, unde amicitiae tuae percupidus nedum ad te literas dedit, sed et libellum cum disputationibus suis mittit.“ 23 Disputatio Joan. Ecjkij Theologi Viennae Pannoniae ha-j bita cum Epistola ad Reuerendis-j simum Episcopum Ei-jstettensem.j (…), Augsburg: Miller 1517 (VD 16 E 314); vgl. Eck: 1923, XXII – XXIV. 24 Siehe den Verweis auf seine Antwort an Eck WA.B 1, 94 (Nr. 38, 12 – 14).
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Eck eine umfangreiche Thesenreihe, die sich die Möglichkeiten zur Zuspitzung in Disputationen in geradezu genialer Weise zu eigen machte.25 Denn es wurden nicht allein Denkanstöße gegeben, sondern mit den sachlichen Thesen war zugleich in vielen Fällen auch eine personelle Front aufgemacht, indem Eck benannte, gegen wen er sich in ihnen wandte. So endeten seine Thesen mit „contra communem“26, „contra Scotum“27, „contra Gabrielem“28, ja sogar „contra sanctum Thomam“29. Diese Form, die sich wohl der Kombination aus scholastischer Denkweise und humanistisch geprägter rhetorischer Fähigkeit bei Eck verdankte, griff Karlstadt schon wenige Wochen nach Erhalt des Textes in seiner Thesenreihe vom 26. April 1517 auf (Kolde: 1890, 450 – 454):30 Mehrere Thesen haben im Druck31 Bemerkungen wie „contra communem“ oder „contra scholasticos“ (Kähler : 1952, 9*). Was Ernst Kähler der „unmittelbare(n) Wirkung“ Augustins zuschreibt, war tatsächlich die Adaption Eckscher Rhetorik. Karlstadts Thesen wurden vermutlich nie disputiert (Barge: 1968, 83), dürften also allenfalls für eine Zirkulardisputation bestimmt gewesen sein. Inhaltlich wie formal stellen sie einen Schlüsseltext dar, der den Übergang von der eher moderaten Reform des Jahres 1516 zu dem auch nach außen gewandten Veränderungswillen des Jahres 1517 markiert. Karlstadt verband ein vehementes Plädoyer für die augustinische Theologie mit einer neuen theologischen Autoritätenlehre. Bekanntlich hatte er sich anfänglich gegenüber dem Neuansatz Luthers gesträubt, bis er in Leipzig am 13. Januar 1517 eine Ausgabe von De spiritu et littera erworben hatte (Kähler : 1952, 5, 4 – 12). Nun aber, in der vor25 Das Neue, das sich dann in den Wittenberger Disputationen beobachten lässt, liegt in dieser von Eck übernommenen formalen Eigenart. Die Abgrenzungen, es gehe nun nicht mehr um bloße „Einzelheiten“, „Übung“ oder „Wortgefecht“ (Lohse: 1988, 253) verdanken sich einer massiven, den Quellen nicht unbedingt gerecht werdenden Abwertung des spätmittelalterlichen Disputationswesens. 26 Eck: 1923, 27, 3 u. ö. 27 Eck: 1923, 27, 6 u. ö. 28 Eck: 1923, 29, 3. 29 Eck: 1923, 26, 15. 30 Kolde verbindet die Thesen noch aufgrund eines sekundären handschriftlichen Vermerks mit der Promotion Bartholomäus Bernhardis aus Feldkirchen im September 1516 (450). Barge: 1968, 464 f, verweist dagegen vor allem auf die sonst gegebene Überschneidung mit der Disputation De viribus hominis sine gratia, die definitiv mit Feldkirchens Promotion verbunden ist und auf Karlstadts eigenes Schreiben an Spalatin vom 28. April 1518, in dem er auf eine Reihe von 152 Thesen verweist. Unklar bleibt allerdings der Bezug auf die vorliegende Thesenreihe, insofern diese nur 151 Sätze aufweist, der von Barge a. a. O. aus dem Scrinium des Olearius zitierte Brief Karlstadts hingegen von conclusiones centum quinquaginta duas spricht. Die genaue Zuordnung muss späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben, einstweilen ist von der von Barge etablierten Datierung auf den 26. April 1517 auszugehen. Eine kommentierende Neuedition der Karlstadtthesen findet sich in Kähler : 1952, , 11*–36*; vgl zu der Disputation Kruse: 2002, 89 – 94. 31 Die Handschrift hat diese Bemerkungen nicht, siehe Kähler : 1952, 10* Anm. 2.
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liegenden Disputation, vertrat er die augustinische Gnadenlehre mit großer Schärfe. Besonders bemerkenswert sind die Ausführungen in These 27 – 33, wonach Gott allein den Willen des Menschen bestimmt und selbst ein steinernes Herz verwandeln könnte (Kähler : 1952, 17*).32 In anderen Zusammenhängen heißt es, dass der Gnade keinerlei Verdienste vorausgingen (Kähler : 1952, 16*), und Karlstadt hat auch keine Scheu, sich zu einer strengen Prädestinationsauffassung zu bekennen (Kähler : 1952, 29* [These 111 – 113]). All dies hat wiederum seinen Grund in dem Ringen um ein neues Schriftverständnis, durch welches Karlstadt die divina testimonia und die Kirchenväter in ein kritisches Verhältnis zueinander setzte.33 Ausdrücklich bekennt er sich in These 1 zur Gültigkeit der Kirchenväter, sofern deren Aussagen nicht korrigiert oder retrahiert sind. Im Falle eines Widerspruchs sind sie nach den göttlichen Zeugnissen und der Vernunft zu unterscheiden (Kähler : 1952, 11*). Der Sache nach ist damit nicht viel mehr gesagt, als was in der mittelalterlichen Hermeneutik seit Abaelards Sic et Non Voraussetzung war.34 Die Emphase aber liegt auf der ersten These: „Dicta sanctorum patrum non sunt negenda“ (Kähler : 1952, 11*), die Luthers Disputation gegen die scholastische Theologie zu präludieren scheint, insofern diese mit einer Verteidigung Augustins einsetzt: Der Kampf, den die Wittenberger fochten, war zunächst einmal einer für die Gültigkeit der Kirchenväter in einer vorausgesetzten und gegebenenfalls zu überprüfenden Einheit mit der Heiligen Schrift. Hinzu kam eine scharfe Invektive gegen Aristoteles: Die Lehre des Aristoteles bewirke eine mala mixtura, wenn man sie in der Theologie anwende (Kähler : 1952, 34* [These 143]). Eine weitere Besonderheit des Textes ist – neben dem Bekenntnis zu Augustin und einer von Aristoteles befreiten Methode in der Theologie und der auf Eck zurückgehenden formalen Eigenart der contra-Abgrenzungen – , dass Karlstadt den Kreis der Adressaten in eigenartiger Weise über den üblichen universitären Horizont hinaus ausgedehnt hat: Am 28. April 1517 richtete er an Spalatin die Bitte, dass der Kurfürst Theologen des Landes für eine Disputation seiner Thesen nach Wittenberg beordere.35 Bernd Moeller hat dies mit dem von dem nüchternen Text nicht nahegelegten Bild von einer „Sternfahrt“ ausgeschmückt (Moeller : 2008, 17). Jedenfalls war Karlstadt offenbar willens, das von ihm angeschlagene Thema nicht allein im Horizont der akademischen Disputation verhandeln zu lassen. Damit aber kam eine ungeheure Dynamik in das Wittenberger Geschehen: Zeitgleich wurde die Ecksche Zuspitzungstechnik für 32 33 34 35
Vgl. hierzu Kruse: 2002, 91. Vgl. hierzu Kruse: 2002, 90 f. Siehe hierzu Klitzsch: 2010, 67 – 70. Siehe das Schreiben von Karlstadt in SCRINIUM ANTIQVARIUM j :DIWEIQA j ANTIQVITATIS j FRAGMENTA, j M. JOH. GOTTFRID.OLEARIUS, Halle: Typis Salfeldicis 1671, 8; vgl. Barge: 1968, I 463.
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Disputationen aufgegriffen und der übliche akademische Horizont der Disputation gesprengt. Offenkundig formierte sich hier der Veränderungswille der Wittenberger in neuer, über den akademisch-deliberativen Stil hinausreichender Weise. Luther bemerkte und goutierte diesen neuen Zugang sofort: Noch am 6. Mai schickte er Karlstadts Thesen an Scheurl und pries sie in den höchsten Tönen: Has sententias, quas vocant Positiones, mitto ad te, et per te Patri Magistro Venceslao, et si qui alii sunt, quos huius generis deliciae delectant. Sunt (nisi fallor) haec iam non Ciceronis Paradoxa, sed Carolstadii nostri, imo Sancti Augustini, Ciceronianis tanto mirabiliora et digniora, quanto Augustinus, imo Christus, Cicerone dignior est. Arguente autem ista Paradoxa omnium eorum vel negligentiam vel ignorantiam, quibuscunque fuerint visa magis paradoxa quam orthodoxa, ne dicam de iis, qui ea potius cacodoxa impudenti temeritate iudicabunt, quia nec Aug[ustinum], nec Paulum legunt, aut ita legunt, ut non intelligant, seque et alios secum negligant. Sunt igitur paradoxa modestis, et qui non ea cognoverunti, sed eudoxa et calodoxa scientibus, mihi vero aristodoxa. Benedictus Deus, qui rursum iubet de tenebris splendescere lumen.36
Die dichte intellektuelle Atmosphäre der Zeit zeigt sich auch daran, dass Luther im selben Brief darauf verwies, dass er an Eck geschrieben habe.37 Der Konnex war ihm zumindest auf assoziativer Ebene präsent, vor allem aber sah er die Bedeutung der Karlstadtschen Aktivitäten für das Wittenberger Lager, und es dürfte kein Zufall sein, dass der berühmte begeisterte Brief über die Fortschritte in Wittenberg an Johannes Lang nur 12 Tage später verfasst wurde: Theologia nostra et S. Augustinus prospere procedunt et regnant in nostra universitate Deo operante. Aristoteles descendit paulatim inclinatus ad ruinam prope futuram sempiternam. Mire fastidiuntur lectiones sententiariae, nec est, ut quis sibi auditores sperare possit, nisi theologiam hanc, id est bibliam aut S. Augustinum aliumve ecclesiasticae auctoritatis doctorem velit profiteri.38
Das Gegenüber zwischen einer an Bibel und Kirchenvätern orientierten Theologie und der üblichen aristotelisch geprägten Scholastik war offenkundig und nicht allein durch den üblichen Vorlesungsbetrieb, sondern eben auch durch Karlstadts Thesen vor aller Augen gestellt. Wenige Monate später nahm Luther sich offenbar dessen inszenatorische Zuspitzungstechnik zum Vorbild, als er die später sogenannte Disputation gegen die scholastische Theologie verfasste. Deren Thesen, die am 4. September 1517 Franz Günther aus Nordhausen zu disputieren hatte, stellten eine scharfe Front 36 WA.B 1, 94 (Nr. 38, 15 – 26). 37 WA.B 1, 94 (Nr. 38, 13 f). 38 WA.B 1, 99 (Nr. 41, 8 – 13).
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vor Augen, in der nicht das abwägende Einerseits – Andererseits galt, sondern das ausgrenzende Sic oder Non. Sachlich ging es hier wie in Karlstadts Thesen um die Grenzen der menschlichen Fähigkeit, um die fehlende Willensfreiheit und die völlige Angewiesenheit auf Gottes Gnade zum Heil, aber auch um die schon von Karlstadt anvisierte und von Luther im Lang-Brief angesprochene neue Form von Theologie ohne Aristoteles. Was sich hier abzeichnete, war in erster Linie eine Theologie mit den Kirchenvätern, beziehungsweise mit Augustin. Wie Karlstadt mit der Verteidigung der Kirchenväter eingesetzt hatte, hieß nun auch bei Luther die erste These: „Dicere, quod Augustinus contra haereticos excessive loquatur, Est dicere, Augustinum fere ubique mentitum esse. Contra dictum commune“.39 Schon diese These zeigt eben jene neue Qualität, die Luther durch Eck kennengelernt und bei Karlstadt weiter beobachtet hatte: Auch in den anderen Thesen folgt immer wieder auf eine positive oder negative Aussage ein klares Contra. Das half der Klarheit in der Disputation: Luther brachte das Medium zu seinem äußersten Ziel, indem er Wahr und Falsch nicht nur der Sache, sondern auch den theologischen Schulen nach einander gegenüberstellte, ja, indem er wie schon Eck die eigene Position im „Contra dictum commune“40 oder „Contra omnes scholast.“41 der gesamten bisherigen Lehre gegenüberstellte. Der Disputator, beziehungsweise sein Professor Luther, machte mit den Formulierungen deutlich, von wessen tradierten Lehrmeinungen er sich absetzte. Insbesondere Leif Grane hat aufgewiesen, dass Luthers gedankliches Gegenüber auch dort, wo er dies nicht ausdrücklich aussprach, der Tübinger Theologe Gabriel Biel war (Grane: 1962).42 Luthers Erfurter Lehrer hatten sich an dessen Schriften orientiert und ihrem Studenten so den Eindruck vermittelt, Biels Theologie sei so etwas wie der Inbegriff scholastischer Lehrart. So hat Luther selbst wohl keineswegs den Eindruck gehabt, an einem schulischen Lehrstreit teilzunehmen, sondern sich gegen allgemeine Auffassungen zu wenden, insbesondere dort, wo es um das Grundverständnis der Theologie ging. 43. Error est dicere: sine Aristotele non fit theologus. Contra dictum commune. 44. Immo theologus non fit nisi id fiat sine Aristotele.43
Die rhetorische Inszenierung dieser Sätze war deutlich und scharf: Das inhaltliche Ja war mit dem Nein zur bisherigen Lehre verbunden. Dem Ja zu Augustin 39 40 41 42
WA 1, 224, 7 f. WA 1, 224, 8. WA 1, 225, 39. Diese Erkenntnis wird verwässert, wenn man davon spricht, Luther habe „die Lehre der Scholastiker, insbesondere Gabriel Biels“ problematisiert (Kaufmann: 2010, 143) – das tradierte Bild von der Lehre der Scholastiker entspricht nicht dem heutigen Erkenntnisstand. 43 WA 1, 226, 14 – 16.
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stand ein Nein zu Aristoteles gegenüber, dem Ja zu einer radikalen Sünden- und Gnadenlehre ein Nein zu pelagianisierender und aristotelischer Anthropologie, die Luther durch seine Konfrontation gemeinsam auf eine Seite der Alternative brachte. Die Konfrontationssprache der Disputation wurde so zur Absage an alles Bisherige, an die vermeintliche allgemeine Meinung, genutzt – in einer Zeit, in der Neuheit und Originalität aus guten Gründen gerade nicht als Kriterium von Theologie galten, eine gewagte Strategie. Diese thetische Schärfung aber konnte den Wittenbergern Klärung und Selbstbewusstsein geben. Die Inszenierung des reformatorischen Konfliktes erfolgte hier in einer perfekten Anwendung der Form der Disputation auf der, durch Johannes Eck repräsentierten, Höhe der Zeit. Noch bedeutsamer für den Fortgang der Reformation wurde aber, dass das Medium der Disputation, wiederum auf Karlstadts Bahnen, noch weitere Brechungen erfuhr. Bernd Moeller hat den Zusammenhang von Karlstadts Disputation mit Luthers Ablassthesen aufgewiesen44 und dabei zu Recht auf die Besonderheit der Ankündigung vom 31. Oktober 1517 hingewiesen. Man kann sich diese an der intitulatio der Thesen unmittelbar deutlich machen: Amore et studio elucidande veritatis hec subscripta disputabuntur Wittenberge, Presidente R.P. Martino Lutther, Artium et S. Theologie Magistro eiusdemque ibidem lectore Ordinario. Quare petit, ut qui non possunt verbis presentes nobiscum disceptare agant id literis absentes. In nomine domini nostri Hiesu Christi. Amen.45
Der emphatische Wahrheitsbegriff, den Luther hier zugrunde legte, knüpfte offenbar an die Statuten an, welche die Zirkulardisputation – um eine andere konnte es sich hier gar nicht handeln – in besonderer Weise auf die Wahrheitsfrage verpflichteten. Gleichwohl war diese Form der Einladung unüblich: Wer eine Disputation ankündigte, wandte sich an die Lehrenden und Studierenden der eigenen Universität. Die Eingeladenen nahmen an dem Geschehen mündlich teil – daran war auch im Falle der von Karlstadt geplanten Disputation mit Beteiligung aus dem ganzen Land gedacht46 –, nicht aber durch Briefe, in Abwesenheit schriftlich. Luther wollte etwas anderes als das Übliche – während der reale Akt der Disputation nach allem, was wir wissen, nie stattgefunden hat, wurden Auswärtige tatsächlich einbezogen. Eben jenem Johannes Lang, dem Luther schon zuvor von den Fortschritten der Wittenberger Theologie berichtet hatte, sandte er am 11. November die Ablassthesen zu.47 Bekanntlich gab es, 44 Ihm folgt weitgehend Kaufmann: 2012, 178 f. 45 WA 1, 233, 1 – 9. 46 Karlstadt berichtete tatsächlich, dass er die Thesen angeschlagen habe („publicÀ affixi“ [Olearius, Scrinium 8]), aber anders als Luther bewegte er sich dabei im Horizont einer mündlich in Wittenberg abzuhaltenden Disputation. 47 WA.B 1, 12 f (Nr. 52).
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schon am 31. Oktober, auch zwei weitere Briefempfänger : Die Bischöfe von Mainz und Brandenburg. Was von Iserloh als Zeichen der Demut des Wittenberger Mönchs gedeutet wurde, ist durchaus ambivalent: Luther hat mit aller Energie den Kreis der Adressaten ausgeweitet. Überregionale Fachkollegen wie kirchliche Entscheidungsinstanzen wurden einbezogen, bald folgte, wohl nicht von Luther selbst angeregt, auch die Verbreitung durch den Druck. Das lokale Wittenberger Geschehen beanspruchte so überregionale Relevanz, die Provinzuniversität gerierte sich als Zentrum der intellektuellen Debatte. Aus der Abstimmung mit den Füßen in den örtlichen Hörsälen wurde eine reichsweite Auseinandersetzung. In diesem Horizont liest sich dann die Doppelthese zu Beginn auch als Einladung zum Konflikt: 1 Dominus et magister noster Iesus Christus dicendo ,Penitentiam agite & c.‘ omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit. 2 Quod verbum de penitentia sacramentali (id est confessionis et satisfactionis, que sacerdotum ministerio celebratur) non potest intelligi.48
Unter Nutzung der Möglichkeiten der Disputationstechnik wird der eigene Anspruch durch die konfrontative Thesenform geschärft und so die Argumentation von einem Beitrag im Rahmen der Vielfalt der Möglichkeiten zur Alternative von Wahr oder Falsch vorangetrieben. Insbesondere die scharfe Negation in der zweiten These setzte eine im Grundsatz unanstößige Auffassung als Konflikt in Szene.49 Das akademische Medium wurde so also dazu genutzt, die Vielfalt denkerischer Möglichkeiten auf eine klare Alternative zuzuspitzen, in der den Wittenbergern die Lehre der Wahrheit, einem diffusen Gegner aber die Behauptung des Falschen zugeordnet wird. So trug Luther selbst noch zu einem Zeitpunkt, zu dem er theologisch den mittelalterlichen Boden nicht verlassen hatte, dazu bei, dass die sich um ihn scharende Bewegung auch als Herausforderung an die Kirche insgesamt verstanden werden konnte, zumal er deutlich machte, dass er mit seinem Anspruch über den akademischen Diskurs hinausreichen wollte: Nicht nur exercitii causa, sondern um der Wahrheit Willen wurden die kirchlichen Instanzen einbezogen – und die Wittenberger selbst inszenierten sich als die Gruppe derer, die die Wahrheit jeder Falschlehre entgegenstellten. Luther mag von der breiten öffentlichen Aufmerksamkeit, auf die die Thesen stießen, überrascht worden sein.50 Aber die Geister, die da über ihn herfielen, hatte er durch seine souveräne Handhabung der Disputationstechnik selbst gerufen. 48 WA 1, 233, 10 – 13. 49 Vgl. zum mystischen Hintergrund Leppin: 2002, 7 – 25. 50 WA.B 1, 160, 8 f. „Ego sane secutus theologiam Tauleri et eius libelli, quem tu nuper dedisti imprimendum Aurifabro nostro Christianno“.
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Rechtsgrundlagen und Rituale der theologischen Promotionen in Wittenberg während des späten 16. Jahrhunderts
Vorbemerkung Das Promotionsrecht ist das Kriterium, welches bis heute eine Universität von anderen Bildungseinrichtungen unterscheidet. Die rechtlichen Grundlagen dafür, ihre Umsetzung und die damit verbundenen Handlungen nehmen daher in der Verfassung, in der Geschichte und im Selbstverständnis einer Universität einen hohen Rang ein.1 Mit Blick auf vergangene Jahrhunderte ist der Titel dieser kleinen Studie dahingehend zu präzisieren, dass im Folgenden die Promotionen zum Doktor2 gemeint sind. Wie allgemein bekannt ist, wurden die Wörter promotio und promovere auch als Bezeichnungen für das Verfahren zur Erlangung anderer, d. h. niedrigerer, akademischer Grade (vgl. Boehm: 2008, 111 – 126) benutzt.3 Es geht also um die Doktorpromotionen in Wittenberg, und zwar dem Anlass der Tagung entsprechend, um jene des späten 16. Jh.s an der Theologischen Fakultät.4 Dabei soll in zwei Schritten vorgegangen werden. In einem ersten Schritt sind die Rechtsgrundlagen der Promotionen an der Universität Wittenberg kurz vorzustellen. In einem zweiten Schritt ist dann auf die damit verbundenen Rituale einzugehen. Am Schluss soll das Ausgeführte kurz zusammengefasst und allgemein gewürdigt werden.
1 Zu aktuellen Rechtsfragen und -problemen vgl. Münch/Mankowski: 2013. 2 Vgl. dazu Verger : 1993a, 139 – 157, hier 139 – 142. 3 Vgl. auch Marti: 2001, 1 – 20, hier 3, sowie die verschiedenen Beiträge in Müller/ Liess/ Bruch: 2007; Schwinges: 2007. 4 Vgl. die Übersicht von Lück: 2004, 232 – 243, hier insbes. 235 – 240. Zu aktuellen Forschungsfragen zur Theologischen Fakultät während der Reformationszeit vgl. Kohnle: 2013, 201 – 211, sowie Dingel/Wartenberg: 2002. Zum Lehrprogramm der Theologischen Fakultäten im Mittelalter allgemein vgl. Asztalos: 1993, 359 – 385; zur Theologie als „Leitwissenschaft“ im 16. Jh. vgl. Schmidt-Biggemann: 1996, 391 – 424, hier 400 – 408.
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1.
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Rechtsgrundlagen
Zunächst zum Begriff: Rechtsgrundlagen der Promotion im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit sind jene verbindlichen Normen, welche in den kaiserlichen/königlichen, päpstlichen und landesherrlichen Gründungsdokumenten5 in bezug auf die Universität sowie in den Statuten der Universität und der einzelnen Fakultäten verankert sind oder auf diese gestützt werden. Sie werden flankiert von einzelnen Rechtsakten, erlassen von der Landesherrschaft oder von der Universität resp. ihren Fakultäten, welche die jeweils geltenden Rechtsgrundlagen der Promotionen modifizierten, d. h. neueren Entwicklungen anpassten. Darüber hinaus bildeten stets Gewohnheiten im Sinne ungeschriebenen Gewohnheitsrechts (consuetudines) normative Grundlagen für die Promotionen. Das Fundament aller Normierungen und Berechtigungen für die Universität Wittenberg bildet das königliche6 Gründungsprivileg, ausgestellt von König Maximilian I. (1486/1508 – 1519) am 6. Juli 1502 in Ulm.7 Es ist die zentrale und höchstrangige Rechtsgrundlage für das gesamte Lehr-, Lern-, Prüfungs-, Graduierungs-, Jurisdiktions- und Verwaltungsgeschehen an der Leucorea. Aus rechtlicher Sicht ist der Stiftungsbrief ein „begünstigender Herrschaftsakt für einen Einzelempfänger“ (Krause: 1984, 1999 – 2005, hier 1999). Privilegierender ist der Römische König und künftige Kaiser8 ; Privilegierter ist der Herzog von Sachsen (hier Friedrich III., gen. der Weise [1486 – 1525], als Herzog und Kurfürst des ernestinischen Sachsen). In diesem Privileg wird zunächst begründet, warum es auf Bitten des säch-
5 Zu den kaiserlichen und päpstlichen Gründungsprivilegien vgl. Schmidt: 1999, 143 – 154. 6 Maximilian erlangte erst 1508 die Kaiserwürde. 7 Text bei IsraÚl: 1913, 96 – 99; Friedensburg: 1926, Nr. 1 (1 – 3); Text und Übersetzung bei Blaschka: 1952, 69 – 85, hier 75 – 80. Äußeres (nach Blaschka u. Autopsie durch H. L.): Pergament, angehängtes Wachssiegel; 58, 8 x 49,5 cm; Durchmesser Siegel: 10 cm; Original im Universitätsarchiv Halle (im Folgenden: UAH). Links ist die eigenhändige Unterschrift Maximilians zu sehen. Rechts auf der Plica steht der Vermerk des Verwalters der Hofkanzlei Cyprian von Serntein. Letzterer war seit 1490 in der Kanzlei und im Hofrat Maximilians tätig. Er stammt aus der Südtiroler Familie von Northeim. Seit 1496 war er Protonotar und Rat, seit 1509 Kanzler. Darüber hinaus war er die Schaltstelle zwischen der königlich-kaiserlichen Zentrale und den Behörden in den verschiedenen Reichsteilen, vor allem in den österreichischen Erbländern. Er starb 1524. Das Siegel zeigt im Zentrum den einfachen (königlichen) Reichsadler : Heraldisch rechts: das Wappen von Ungarn (vier rote und vier weiße Balken); links: Österreich (rot-weiß-roter Bindenschild); in der zweiten Reihe von rechts nach links: Burgund (je 3 gelbe und blaue Schrägbalken), Tirol (Adler) und Habsburg (Löwe). Die Umschrift lautet: „S. MAXIMILIANI: D: G: ROM: ET. HVNG. REX. ARCHI dX. AVSTR: BVRGVd: BRET: dX: COMES. TIROLIS:“ Die Schnur weist die Farben Rot und Weiß als Farben von Österreich und Blau aus dem Wappen von Burgund auf. 8 So die Formulierung in der Goldenen Bulle in der Übersetzung von Fritz: 1978, 50 – 52.
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sischen Herzogs zur Ausstellung der Urkunde gekommen ist.9 Darin heißt es (zitiert wird hier und im Folgenden die deutsche Übersetzung von Anton Blaschka [1952, 78 – 80]): … müssen Wir vor allem fleißig Umschau halten, daß die Wissenschaften, edlen Künste und freien Studien in glücklichem Fortgang zunehmen, damit Unsere Untertanen aus der Quelle göttlicher Weisheit schöpfen und zur Verwaltung des Staatswesens und zur Besorgung der übrigen menschlichen Geschäfte geschickter werden. (Blaschka: 1952, 78).
Weiter wird ausgeführt: Wir wollen demnach und gebieten, daß fürderhin Doktoren einer jeden Fakultät ohne Unterschied und geeignete Personen, welche der erwähnte erlauchte Herzog oder seine Nachfolger oder die von ihnen dazu Bevollmächtigten bestimmen, Macht und Gewalt haben, an der genannten Universität in allen Fakultäten, nämlich in der heiligen Theologie, in beiderlei Recht (Dolezalek/Wunderlich: 2012, 1469 – 1471), dem kanonischen (vgl. Becker : 2012, 1569 – 1576) wie dem bürgerlichen,10 in den Künsten und in der Medizin sowie auch in der Philosophie und in allen und jeglichen Wissenschaften zu lesen und Vorlesungen, Disputationen (vgl. Lück: 2008a, 1089; Verger : 1993b, 89 – 80, hier 55), Repetitionen und Conclusionen öffentlich vorzunehmen und zu halten und die genannten Wissenschaften zu lehren, zu erklären, zu erörtern und zu erläutern und alle schulmäßigen Verrichtungen auszuüben auf die Weise und nach der Ordnung, wie dies an den übrigen Universitäten und öffentlichen Gymnasien üblich ist. (Blaschka: 1952, 78).
Die Fakultäten werden darin ermächtigt, nach einer Prüfung akademische Grade11 zu verleihen: Wir bestimmen daher und gebieten: die Doktorenkollegien … sollen Macht haben, diejenigen, welche fähig erachtet worden sind, die Palme12 in ihrem Wettstreit zu erringen, auf Grund einer strengen und sorgsamen Prüfung durch Doktoren des Kollegiums in jeder Fakultät nach Art und Gewohnheit und in feierlicher Form, wie es sonst an den Universitäten beobachtet wird … (Blaschka: 1952, 79).
Speziell zu den Doktoren wird klargestellt, dass der Herzog von Sachsen entsprechende Statuten und Verordnungen erlassen werde. Des weiteren sollen sich die Kandidaten, die promovieren wollen, bei den Kollegien (Fakultäten) vorstellen. Von diesen sollen sie zum eigentlichen Examen zugelassen, dann nach Anrufung des Heiligen Geistes examiniert werden. Weiter heißt es wörtlich: 9 Zur Standortfrage vgl. Stievermann: 2002, 39 – 54. Zum Zusammenhang von Residenz, Stadt und Universität in Wittenberg vgl. Lück: 2012a, 2201 – 2248. 10 Gemeint ist das römische/kaiserliche Recht (ius civile). 11 Die Grade galten als hervorragender Ausweis wissenschaftlicher Befähigung. Ihre Inhaber besaßen aufgrund der kaiserlichen/königlichen und päpstlichen Privilegien universal gültige Rechte. Vgl. Verger : 1993b, 49, 55. 12 Hier als „Siegespreis für einen guten Lebenskampf“ (Lurker : 1991a, 550 – 551, hier 551).
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… und wenn sie auf diese Weise geschickt, geeignet und fähig dazu befunden und erklärt worden sind, sie zu Bakkalaren, Magistern, Lizentiaten oder Doktoren entsprechend dem Wissen und der Wissenschaft eines jeden einzelnen zu erkiesen und mit der Würde dieser Art auszuzeichnen, auch durch Aufsetzen des Biretts (vgl. Wisniewsky : 2003, 29; Vavra: 1992, 23 f; Kühnel: 1992, 30)13 und Darbietung des goldenen Ringes14 und des Kusses15 und in der sonst gewohnten feierlichen Weise einzukleiden und ihnen die übliche Tracht und die Abzeichen der genannten Würden zu übergeben und zu übertragen. (Blaschka: 1952, 79).
Sodann folgt der typische Hinweis auf die Vorrechte der Doktoren an älteren berühmten Universitäten: Und die Doktoren, die an dieser Universität promoviert worden sind oder noch promoviert werden, dürfen und können an allen Orten und in allen Ländern des Heiligen Römischen Reiches (vgl. Schmidt: 2012, 882 – 893) und in allen Landen frei und ungehindert alle Verrichtungen der Doktoren tun und ausüben: lesen, lehren, interpretieren und glossieren, auch sich aller und jeglicher Privilegien, Vor- und Ausnahmsrechte, Freiheiten, Bewilligungen, Ehren, Vorzüge, Begünstigungen und Indulte erfreuen und bedienen, deren sich die übrigen Doktoren, die in Bologna16, Siena17, Padua18, Pavia19, Perugia20, Paris21 und Leipzig22 und an anderen privilegierten (General-)studien23 promoviert und ausgezeichnet worden sind, erfreuen und bedienen, aus Gewohnheit oder von Rechts wegen. (Blaschka: 1952, 79).
Die Universität wird ausdrücklich berechtigt, mit Zustimmung des Herzogs Statuten, Satzungen und Ordnungen zu schaffen sowie den Rektor, Syndici und andere Universitätsbeamte (vgl. Gieysztor : 1993, 109 – 138, hier 118 – 126) zu wählen. Ferner gehört das Patent zur Eröffnung der Universität vom 24. August 150224 13 Das Birett war auch ein kirchliches Symbol; vgl. dazu Carlen: 1999, 170 f. 14 Zur Symbolik des Rings vgl. Becker : 1984, 1069 f; Lurker : 1991b, 619. Zum Ring als insignia doctoralia vgl. Ridder-Symoens: 1996, 139 – 179, hier 176. Im Zusammenhang mit der Promotion wird der Ring als „Symbol der Heirat mit den Musen“ gedeutet (Frijhoff: 1996, 287 – 334, hier 291). Zur Symbolik im kirchlichen Leben vgl. auch Carlen: 1999, 168 f. 15 Lurker : 1991c, 421; Moser : 1978, 1320 – 1322; Lück: 2013a. 16 Gegründet Ende 12. Jh. (diese und die folgenden Angaben nach Verger : 1993b, 70 f). 17 Gegründet 1245/1357. 18 Gegründet 1222. 19 Gegründet 1361. 20 Gegründet 1308. 21 Gegründet Anfang 13. Jh. 22 Gegründet 1409. 23 Zu den Generalstudien vgl. Verger : 1993b, 49 f. 24 Patent Kurfürst Friedrichs des Weisen und seines Bruders Herzog Johann zur Eröffnung der Universität Wittenberg am 18. Oktober 1502; Weimar, 24. August 1502. Äußeres (nach Blaschka: 1952, u. Autopsie durch H. L.): Papier ; 12 x 17 cm; Einblattdruck; einziges erhaltenes Original in Marienbibliothek Halle; eingeklebt in eine Luther-Bibel von 1541, erst zu Beginn des 20. Jh. entdeckt vom damaligen Direktor der Universitätsbibliothek Halle Carl
Rechtsgrundlagen und Rituale der theologischen Promotionen
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zu den Rechtsgrundlagen für die Doktorpromotionen, da Studier- und Promotionswillige mit der Zusicherung der gebührenfreien Promotion nach Wittenberg gelockt wurden: und verorden uß vergunst und erlaubnus der oberhant, in den freien künsten, der heiligen schrift, geistlichen unde werntlichen rechten, erznei, poeterei und andern künsten uff itzund Luce des heiligen evangelisten fest25 anfenglich zu lesen und exerciren, auch in denselben künsten zu promoviren. und haben uß sundern gnaden verordent, das diejhenen, die da studiren söllen in berürten faculteten, drei jare die nechsten nach einander volgend frei promovirt werden. (Friedensburg: 1926, Nr. 2, 3 – 4, hier 4).
Als drittes Dokument, das zu den Rechtsgrundlagen Wittenberger Promotionen zählt, ist die päpstliche Bestätigung des königlichen Stiftungsbriefs durch Kardinallegat Raimund Peraudi, ausgestellt in Magdeburg am 2. Februar 1503, zu nennen.26 Die Urkunde sanktionierte den Stiftungsbrief König Maximilians I. Mit Raimund Peraudi27 weist sie einen interessanten Aussteller auf. Auf einer seiner zahlreichen Reisen, eben auch durch Nord- und Mitteldeutschland, stellte er die hier in Rede stehende Urkunde aus.28 Des Weiteren erteilte der Kardinallegat, wohl auf Wunsch der jungen Universität, ein besonderes Privileg über das Promotionsrecht in der Theologie und im Kirchenrecht (Landau: 2012, 1821 – 1826). Die Urkunde wurde ebenfalls unter dem 2. Februar 1503 in Magdeburg vollzogen.29 Der Herzog und Kurfürst machte unmittelbar nach der königlichen Privilegierung von seinem Satzungsrecht Gebrauch, indem er Statuten erließ bzw. bestätigte.30 Als älteste Statuten haben sich jene für die Artistische Fakultät aus
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Wendel (1874 – 1951). Text bei IsraÚl: 1913, 99 – 100; Friedensburg: 1926, Nr. 2, 3 – 4; Blaschka: 1952 , 84. 18. Oktober. Pergamenturkunde, beschädigt, Siegel verloren, rote Seidenschnur noch vorhanden; Original im UAH; Text bei IsraÚl: 1913, 100 – 102. Der 1435 in Südfrankreich geborene Augustiner studierte seit 1470 an der Universität von Paris. 1476 wurde er dort zum Magister der Theologie promoviert. Sogleich wurde er Domdekan der Diözese Saintes. 1479 wurde er Archidiakon der ehemaligen französischen Provinz Aunis. 1481 rückte er in die Position eines Apostolischen Protonotars an der römischen Kurie auf. Raimund genoss die Gunst der Könige und Kaiser Friedrich III. (1440/ 1452 – 1493) und Maximilian I. So ist wohl seine Ernennung zum Bischof von Gurk in Kärnten 1491 zu erklären. Daraufhin war er stark in diplomatischer Mission für Papst und Kaiser unterwegs. 1493 wurde Peraudi Kardinal. Seit 1500 organisierte er intensiv den Ablass. 1503 wurde er auch Bischof von Saintes. Er starb 1506 in Rom. Vgl. Tropper: 2003, 117 – 118. Zu den kaiserlichen, päpstlichen und landesherrlichen Dokumenten zur Gründung einer Universität allgemein vgl. auch Verger : 1993b, 57. Original im UAH. Textauszug in Friedensburg: 1926, Nr. 5, 5. Zum Verhältnis von autonomer Satzungskompetenz und Satzungsverleihung bzw. -genehmigung vgl. de Ridder-Symoens: 1996, 147, 150.
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dem Jahre 1504 erhalten (Friedensburg: 1926, Nr. 9, 7), die bekanntlich recht eng an die Statuten der Tübinger Artistischen Fakultät angelehnt sind. Dann aber folgten im Jahre 1508 ganz eigenständige Wittenberger Statuten: unter dem 1. Oktober 1508 jene für die Universität (Friedensburg: 1926, Nr. 22, 18 – 31); unter dem 15. November 1508 die für die Theologische Fakultät (Friedensburg: 1926, Nr. 23, 31 – 39); unter gleichem Datum für die Juristische (Friedensburg: 1926, Nr. 24, 39 – 45) und Medizinische Fakultät (Friedensburg: 1926, Nr. 25, 45 – 51) und unter dem 25. November 1508 für die Artistische Fakultät (Friedensburg: 1926, Nr. 26, 51 – 58). Sie alle wurden vom Kurfürsten verliehen. Im Jahre 1533 erhielt die Theologische Fakultät Statuten, deren Schöpfer Philipp Melanchthon war (Friedensburg: 1926, Nr. 171, 154 – 158). Zwölf Jahre später, 1545, wurden diese in revidierter Form bestätigt (Friedensburg: 1926, Nr. 272, 261 – 265). In demselben Jahr wurde auch die Artistische Fakultät mit Statuten aus Melanchthons Feder ausgestattet (vgl. Scheible: 2007, 35). Die Juristische Fakultät erhielt unter dem 1. September 1560 (Friedensburg: 1926, Nr. 310, 311 – 320) und die Medizinische Fakultät unter dem 11. Juni 1572 (Friedensburg: 1926, Nr. 351, 378 – 387) neue Statuten. Alle Fakultätsstatuten enthalten ein entsprechendes Kapitel „De promotionibus“. Hier wurden die Voraussetzungen und Inhalte der Doktorpromotionen geregelt, wobei bisweilen eine enorme Diskrepanz zwischen normiertem Sollen und tatsächlichem Sein geherrscht hat. Am Beispiel des Lehr- und Disputationsbetriebs der Juristischen Fakultät ist das jüngst gezeigt worden (Lück: 2013b, 443 – 467). Am 1. Januar 1580 kam noch die Große Kirchen- und Schulordnung (vgl. Junghans: 2007, 209 – 238) hinzu, welche in mehreren Kapiteln ausführlich das Studium und die Examina an allen Fakultäten der beiden kursächsischen Universitäten Leipzig und Wittenberg regelt (Lünig: 1724, 731 – 754). Auf diese normativen Vorgaben und die Abweichungen davon kommt es hier jedoch weniger an. Vielmehr soll der Blick auf die mit der Doktorpromotion verbundenen Rituale gerichtet werden, genauer auf die theologischen Doktorpromotionen am Ende des 16. Jhs. Die Frage, ob es sich dabei um „Rechtsrituale“ handelt (vgl. Ostwaldt: 2006, 125 – 152),31 muss nicht entschieden werden. Vielmehr soll eine Quelle zum Sprechen gebracht werden, welche einen repräsentativen Eindruck vom tatsächlichen Ablauf theologischer Doktorpromotionen im späten 16. Jh. vermittelt.
31 Zu den Ritualen an Universitäten der Frühen Neuzeit und der Gegenwart vgl. auch Bretschneider/ Pasternack: 1999; Füssel: 2006; Füssel: 2008, 39 – 43; Füssel: 2013, 138 – 139; Füssel: 2007, 411 – 450; „Wissenschaftsrituale“. Themenheft von Gegenworte. Hefte für den Disput über Wissen 24 (2010).
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2.
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Rituale
Grundlage der folgenden Ausführungen bildet ein Text, der sich im (erneuerten) Statutenbuch der Theologischen Fakultät befindet.32 Im Urkundenbuch von Walter Friedensburg wird er zum Jahr 1599 in Form eines Regests genannt (Friedensburg: 1926, Nr. 505, 615).33 Diese interessante Quelle, welche überschrieben ist mit DE PROMOTIONIBVS in Facultate Theologica almae Vniversitatis Wittebergensis, soll im Folgenden etwas näher vorgestellt werden. In deutscher Übersetzung34 heißt die Präambel: Promotionen nennen wir jene feierlichen und öffentlichen Zeugnisse, die im Namen der Fakultät denjenigen beigelegt werden, die aufgrund ihrer herausragenden Frömmigkeit, des erwiesenen Bekenntnisses der orthodoxen Lehre, der Kenntnis der Gegenstände der Theologie und ihrer außergewöhnlichen Erfahrung in die Zahl der Doktoren der heiligen Theologie kooptiert werden. In dieser so feierlichen Handlung also gibt es drei Dinge, die beachtet zu werden pflegen. Am Anfang nämlich betrachtet man das Bekenntnis und die Bildung sowie den Lebenswandel und die Sitten desjenigen, der so hohe Ehren in der Kirche Gottes zu erlangen sucht. Dann, da die öffentlichen Zeugnisse seiner Lehre und Ernsthaftigkeit durch die gemeinsame Anstrengung und Beschäftigung derer, die in den Universitäten lehren, verglichen werden, ist es billig, dass sie für ihren Fleiß einen Lohn erhalten; daher ist es nach dem lobenswerten Brauch der Vorfahren festgelegt, dass diejenigen, die mit Titeln und Insignien (vgl. Lück: 2012b, 1255 f)35 eines Doktors geschmückt zu werden wünschen, eine bestimmte Geldsumme zahlen. Schließlich aber werden öffentliche Riten und Zeremonien angewendet (publici ritus & ceremoniae adhibentur), durch die die öffentliche Bekanntmachung ausgeschmückt wird. Darüber, was über die Einzelheiten, entweder durch die Gesetze festgelegt oder den Brauch und die alte Sitte unserer Universität üblich ist, ist nun in Kürze zu sprechen (quid vel legibus sancitum, vel consuetudine & inveterato Academiae nostrae more usitatum sit, dicendum est) (fol. 165rv). 32 UAH, Rep. 1, XXXXII, Nr. 4, 4588. Es handelt sich um eine Reinschrift, die sich über 19 Blätter erstreckt (fol. 165r – 185v). Sie stammt ziemlich eindeutig aus dem Jahre 1599. Da es sich um die Neufassung eines früheren Textes handelt, sind die meisten der dort dargestellten Sachverhalte mit Sicherheit älter. Eine vom Schreiber abweichende Hand erklärt (fol. 183v): „Haec statuta huc descripta sunt A8. 1599, ut ex ra[tion]ib[us] Die Lucæ redditis apparet.“ Auf fol. 220r befindet sich der Vermerk über die Kosten der Neufassung: „Außgab… 12 gr. pro describendis Statutis novis et rationibus fisci.“, datiert auf Lucae (18. Oktober) 1599. Auf fol. 221v ist zu lesen: „Anno 1599 / Am Tag Lucæ hatt D. Dauid Rungius [David Runge, 1564 – 1604, seit 1594 Prof. d. Theol. in Wittenberg – H. L.] seine Decanat Rechnung gethan nachfolgend gestallt…“. Am äußeren Erscheinungsbild ist bemerkenswert, dass die erste Zeile der Überschrift („DE PROMOTIONIBVS“), mehrere Versalien und römische Ziffern im Text in Goldbronze geschrieben sind. Das weist auf die besondere Dignität des Textes hin. 33 Einige Angaben halten der Autopsie u. gewissenhaften Lesung nicht stand. 34 Alle Übersetzungsvorschläge stammen von Dr. Stefan Weise. 35 Zu den Insignien der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Universitäten vgl. Gieysztor : 1993, 135 – 138; de Ridder-Symoens: 1996, 176 – 178; Frijhoff: 1996, 291 f.
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Der Text gliedert sich dann in 18 Kapitel unterschiedlicher Länge, die jeweils mit einer römischen Ordnungszahl überschrieben sind. Das 1. Kapitel nennt die religiös-konfessionellen Texte, zu der sich der Kandidat bekennen muss: Augsburger Konfession 1530 (vgl. Lohse/Immenkötter/ Sperl: 1979/1993, 616 – 639); Konkordienbuch 1580 (vgl. Koch: 1990/2000, 472 – 476; Wenz: 1996); Artikel der Visitation von 159236. Für das Konkordienbuch und die Visitationsartikel37 wird die Unterschrift des Kandidaten verlangt (vgl. Lück: 2004, 239). [2. Kapitel:] Diese Unterschrift ist dem Dekan der Fakultät vorzuzeigen und beim feierlichen Promotionsakt mit einem Eid (vgl. MunzelEverling: 2008, 1249 – 1261) zu bestätigen (was im Kapitel 17 über die Eidesleistung dann noch einmal näher ausgeführt wird). [3. Kapitel:] Nach Vorlage der Unterschrift beim Dekan wurde dem Kandidaten der Zeitpunkt benannt, in dem er sein Promotionsgesuch vor der Fakultät vorbringen soll. [4. Kapitel:] Mit Ehrerbietung gegenüber den Professoren und mit einer würdigen Rede soll der Kandidat seinen Entschluss, an der Theologischen Fakultät zu promovieren, begründen. [5. Kapitel:] Danach hatte der Kandidat den Raum zu verlassen. Nach einer Beratung in der Fakultät wurde dann dem Kandidaten der Beschluss mitgeteilt. [6. Kapitel:] In der Beratung wurde festgelegt, was der Kandidat alles von Theologie verstehen und beherrschen müsse, um zur Doktorpromotion schreiten zu dürfen. Neben dem Wissen um die Heilige Schrift wird auch auf die Sprachen (Griechisch, Lateinisch, Hebräisch) eingegangen. Des Weiteren sollte der Kandidat auch gut um die Abweichler Bescheid wissen – von den Arianern (vgl. Ritter : 1978/1993, 692 – 719; Seibt: 1996, 1077 – 1079) bis zu den Calvinisten (vgl. Nijenhuis: 1991/1993, 568 – 592; Wolgast: 2011, 23 – 45). Sodann wurden dem Kandidaten ein Thema38 und weitere Inhalte für die Disputation im Rahmen des Promotionsverfahrens mitgeteilt. [7. Kapitel:] Ein Theologieprofessor sollte den Kandidaten bei seinen Darbietungen, einschließlich der Lehrmethode, ganz genau beobachten und danach der Fakultät Bericht erstatten. Das 8. Kapitel macht dann eine Gebührenrechnung für den Kandidaten auf. Insgesamt hatte der Kandidat 46 Gulden und 3 Groschen39 zu entrichten,40 die 36 Vier Articul Der reinen wahrhafften Evangelischen Lehre, welche im gantzen Churfürstenthum Sachsen denen Geistlichen bey bevorstehender Visitation zu unterschreiben, und vier falschen Articuln derer Calvinisten zu renunciren, fürgeleget worden, de Anno 1592, in: Lünig: 1724, 763 – 766. 37 Zur Beeidung der Rechtgläubigkeit vgl. auch Hammerstein: 1996, 105 – 137, hier 109. 38 Zu 1587 heißt es: „In examine nimbt mahn ein schwere materiam fur sich ex textu bibliorum …“ (Friedensburg: 1926, Nr. 439, 530 – 549, hier 535). 39 Der Betrag ist von späterer Hand in 64 Gulden und 14 Groschen korrigiert worden. Hilfsweise sei zum Vergleich die maximale Promotionsgebühr für die phil. Magisterpromotionen
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nach ganz bestimmten Anteilen an Fiskus der Universität, Rektor, Universitätsdiener, an die Fakultätsmitglieder nach Billigkeit, an den Vorsitzenden der Disputation, an Dekan oder Vizekanzler, Fiskus der Theologischen Fakultät und schließlich an den Doktorvater zu verteilen waren. [9. Kapitel:] Die Prüfung sollte eine Zeitdauer von vier Stunden nicht überschreiten. Für jede einzelne Stunde wurden die Prüfer ausgelost. Langatmige Ausführungen oder Ermüdung der Prüfer sollten erst gar nicht aufkommen. [10. Kapitel:] Damit die Prüfung ordentlich leiblich und geistlich abläuft, hatte der Kandidat gesüßtes Brot (panem Sachariten, quem martium vulgo nominant)41 aus der Apotheke42 (e pharmacopolio) zu besorgen,43 des weiteren einen Krug mit kretischem Wein. War die Prüfung am Nachmittag, hatte der Kandidat außerdem noch einen Krug mit Rheinwein bereitzustellen. [11. Kapitel:] Die Disputation war durch öffentlichen Thesenanschlag44 allen akademischen Bürgern anzukündigen. Ein Professor führte den Vorsitz. Das Argumentieren und Opponieren oblag den Studenten. Doch sollte dies so organisiert werden, dass gegen Ende der Rektor und die übrigen Professoren mit wohlwollender Rede des Vorsitzenden zum Diskutieren eingeladen werden. Disputationen waren für den Sonntag vorgesehen, im Sommer um 6 Uhr, im Winter um 7 Uhr, bis 17 Uhr, mit einer Mittagspause zwischen 11 bis 13 Uhr. Die Disputation wurde mit einem Gebet des Vorsitzenden eingeleitet und auch be-
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im Jahre 1587 in Höhe von 12 Talern genannt (Friedensburg: 1926, Nr. 439, 539). Wer von den juristisch Promovierten in die Juristische Fakultät aufgenommen werden sollte, vorausgesetzt, dass dafür eine Stelle frei war, hatte um die gleiche Zeit (1587) 20 Goldgulden zu zahlen (Friedensburg: 1926, Nr. 439, 537). Luther schuldete für seine Promotion zum Dr. theol. 1512 50 fl. Zum Vergleich: In Leipzig kostete um 1575 ein Scheffel (140 – 160 Liter) Weizen 1 Gulden 15 Groschen; ein Pfund Rindfleisch 8 Pfennige; 1 Pfund Butter 2 Groschen; eine Kanne (ca. 1,3 Liter) Bier 5 Pfennige. Der Sommer-Tagelohn eines Zimmermanns betrug 3 Groschen und 6 Pfennige. Es galten: 1 Gulden = 21 Groschen = 252 Pfennige. Für unseren Wittenberger Doktoranwärter bedeutete das eine Summe von etwa 20 Leipziger Zimmermann-Monatslöhnen (nach Lück: 1998, 165). Die Promotion zum Doktor war generell eine überaus kostspielige Angelegenheit. Aus Frankfurt an der Oder sind zu 1611 Angaben zu einer theologischen Doktorpromotion überliefert, deren Kosten sich auf etwa fünf Jahresgehälter eines Pfarrers beliefen (622 Taler, 23 Groschen) – so Frijhoff: 1996, 295. Möglicherweise Marzipan. Zur Etymologie vgl. Pfeifer : 1997, 843. Nach Diefenbach: 1857, 409: „Panis marcius = martzepan“. Es könnten freilich auch andere Süßigkeiten (Konfekt) bzw. zuckerhaltiges Gebäck gemeint sein. Zur Vielfalt der Süßspeisen in Europa vgl. Moulin: 2004, 319 – 334. Zum Apothekenwesen in Wittenberg vgl. Böhmer : 2009, 62 – 66. Bemerkenswert ist, dass 1587 über die hohen Preise in den Apotheken geklagt wurde: „Uber die apotheca ist ein allgemeine clage, das dorinnen kein tax gehalten, sondern alles geduppelt musste bezahlt werden.“ (Friedensburg: 1926, Nr. 439, 537). Zucker war nur von den Apotheken zu beziehen; vgl. Moulin: 2004, 321. Dazu dienten vornehmlich die Kirchentüren; vgl. Lück: 2012c, 1787 – 1796, hier 1791 f; Lück: 2012d, 1812 – 1814, hier 1813.
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schlossen. Danach wurde dem Auditorium für seine geschätzte Anwesenheit gedankt. Damit war die akademische Zeremonie noch nicht zu Ende. Es folgten Essen, Trinken45 und die Übergabe von Geschenken. [12. Kapitel:] Der Kandidat hatte nach der Disputation ein Mahl (coenam) für alle Professoren auszurichten – an einem Ort, den er auswählen konnte. Weiter waren die Studenten, die mitdiskutiert hatten, und die Universitätsdiener einzuladen. [13. Kapitel:] Rechtzeitig waren diese Feier (festivitas) durch ein öffentliches Schreiben anzuzeigen und die Universitätsrepräsentanten einzuladen (von Universitätsdienern in ihrer Amtstracht und mit Voraustragung der Zepter46). [14. Kapitel:] Am Tag vor der Feierlichkeit legte der Dekan gemeinsam mit dem Kandidaten die Geschenke bereit für Rektor, die Professoren und die Gäste. Nach altem Brauch seien das folgende Geschenke: für Rektor, Professoren der höheren Fakultäten, Dekan der Philosophischen Fakultät – Tiarae (tiarae) (vgl. Brein/Kühnel: 1992, 263 f), in runder Form gewebt aus mittelmäßiger Wolle – wie sie einst die Scholastiker trugen (quales olim Scholastici gestarunt), heute aber bei den Theologen verblieben sind. Zu denken ist wohl an Mützen, die stumpfkegelförmig nach oben gearbeitet sind. Hinzu kommt ein Paar Lederhandschuhe (vgl. Hüpper : 2012, 749 – 751)47 für jeden. Sind mehrere Kandidaten zu den Geschenken verpflichtet, so können auch anstelle von Tiarae seidene Doktormützen oder seidener Stoff zur Herstellung einer solchen Mütze geschenkt werden (dem Doktorvater, den übrigen Professoren der Theologischen Fakultät, dem Rektor). Die Professoren der Philosophischen Fakultät und die Gastmahlsteilnehmer sowie die Gäste erhalten wenigstens ein paar Handschuhe. Herausragende Persönlichkeiten (etwa Gesandte von Fürsten und Adligen) werden außer mit Handschuhen auch mit Büchern und Handbüchern von eleganter Gestalt beschenkt. Der Dekan und die Kandidaten haben dafür Sorge zu tragen, dass die Geschenke ordentlich in Schalen gelegt und mit den Namen der Beehrten beschriftet werden. Es sollte bei der Überreichung der Geschenke keine Komplikationen oder Verwechslungen geben. [15. Kapitel:] Der Ablauf des Feiertages war an ein bestimmtes Zeremoniell48 45 Zur Funktion des Gelages aus rechtlicher Sicht vgl. auch Lück: 2008b, 103 – 126. 46 Die Rektorzepter der Wittenberger Universität aus dem Jahre 1509 haben sich bekanntlich erhalten. Vgl. Speler: 1994, 20 – 164, hier 22, 117. Zu den Wittenberger Fakultätszeptern vgl. Speler : 1994, 118. 47 Zur Symbolik im kirchlichen Rechtsleben vgl. Carlen: 1999, 171 – 173. 48 Vgl. dazu auch Vec: 1998, 1673 – 1677.
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gebunden. Der Kandidat und die übrigen eingeladenen Gäste trafen sich im Haus des Doktorvaters. Von dort gingen sie in die Schlosskirche Allerheiligen,49 die mit dem Schloss verbunden ist (in templum omnium Sanctorum, quod Arci adiunctum est). Dabei war eine bestimmte Reihenfolge zu wahren: allen voran gingen Knaben, die Fackeln trugen; es folgten ehrenhafte junge Männer (die die bereits erwähnten Geschenke tragen und zwar in die Höhe gehalten); Musiker mit ihren Instrumenten; der mit einem Mantel bekleidete Rektor ; der Dekan (welcher das Amt des Prokanzlers innehat)50 ; die übrigen Theologen; die Professoren der übrigen Fakultäten. Der Kandidat lief hinter dem Dekan der Philosophischen Fakultät. Die Ehrengäste wurden je nach Gelegenheit und ihrem Stand im Festzug plaziert. Das Zeichen zum Abmarsch war das Glockenläuten (vgl. Lück: 2012e, 403 – 408) in der Stadtkirche (Campana quoque in parochiali templo signum datur). [16. Kapitel:] Bei der Ankunft in der Schlosskirche sang der Chor. Nach Gesangsende begann die eigentliche feierliche Doktorpromotion. Der Doktorvater sprach zunächst ein Gebet und hielt dann eine lateinische Rede über eine fromme Fragestellung, die vorher mit der Fakultät abgestimmt worden war. Am Ende der Rede empfahl der Doktorvater, den Kandidaten mit der Würde und mit den Insignien eines Doktors der Theologie auszustatten. Dabei wies er noch einmal auf die Frömmigkeit, die Bildung, die Übereinstimmung des Kandidaten mit der orthodoxen Lehrmeinung, den Fleiß und die Bescheidenheit des Kandidaten hin. Dann wurde der anstelle des Kanzlers agierende Dekan unter Bezugnahme auf das Privileg des Kurfürsten und Herzogs von Sachsen gebeten, ihn „sich zum Kinde zu machen“. Auch die erfolgreiche Absolvierung von Disputationen, Probevorlesungen und Prüfungen wurde noch einmal aufgerufen. Der Dekan antwortete dann mit einer vorbereiteten Rede, mit welcher er seine Kompetenz in Promotionssachen bekräftigte. Die Rede schloss mit den Glückwünschen an den Kandidaten. Letzterer, der Kandidat, war inzwischen vor dem Dekan auf die Knie (Karg/Krey : 2012, 1911 – 1914) gefallen. [17. Kapitel:] Bevor dem Kandidaten der Titel und die Insignien eines Doktors der Theologie verliehen wurden, musste er noch den Eid leisten. Der Universitätsdiener legte dem Kandidaten die Eidesformel vor. Die Berührung eines Gegenstandes während der Eidesleistung wird nicht erwähnt. Von den philosophischen Magisterpromotionen ist aber überliefert, dass die Kandidaten während des Sprechens der Eidesformel zwei Finger auf das Rektorzepter leg-
49 Die Schlosskirche (ehemals Stiftskirche Allerheiligen) diente seit ihrer Fertigstellung und Inkorporation in die Universität 1507 auch als Universitätskirche. Die Promotionszeremonien waren auch ganz allgemein oft mit Prozessionen zur Universitätskirche und mit einem Gottesdienst verbunden (vgl. Frijhoff: 1996, 292). 50 Zur Funktion des Kanzlers allgemein vgl. de Ridder-Symoens: 1996, 157 – 160.
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ten,51 so, wie es etwa noch heute an der Karlsuniversität zu Prag zu beobachten ist. Die Eidesformel, welche inhaltlich ganz der Vorgabe in der Großen Schulund Kirchenordnung von 1580 (Lünig: 1724, 475 – 760) entspricht (Lünig: 1724, 749 f), enthält im Kern die Aufzählung der zentralen Glaubensbekenntnisse und lutherischen Glaubensschriften: das Apostolische (vgl. Vokes/Barth/Schröder : 1978/1993, 528 – 571), Nizäische (vgl. Hauschild: 1994/2000, 444 – 456; Gerber : 2000a, 885 f; Gerber : 2000b, 886 f), Athanasische Glaubensbekenntnis (vgl. Collins: 1979/1933, 328 – 333), Augsburger Konfession (vgl. Lohse/Immenkötter/Sperl: 1979/1993, 616 – 639), Schmalkaldische Artikel (vgl. Breuer : 1999, 214 – 221), Luthers Katechismus (vgl. Fraas: 1998, 710 – 722), Konkordienbuch (vgl. Koch: 1990/2000, 472 – 476; Wenz: 1996). Hervorgehoben wird, dass der Schwörende alle diese Schriften „mit Hand und Herz“ unterschrieben haben müsse (quibus Scriptis omnibus manu & corde subscripsi). Von besonderem Interesse für die Rituale dürfte das relativ lange Schlusskapitel 18 sein, welches noch einmal in 6 Abschnitte (Symbole) untergliedert ist: I. Lehrstuhl; II. Buch; III. Kappe; IV. Ring; V. Umarmung; VI. Gratulation und Gebet. [18. Kapitel:] Dieses Schlusskapitel wird eingeleitet mit dem Hinweis, dass jetzt die eigentliche Verkündigung (renunciatio) erfolge. Der Doktorvater sprach dann sinngemäß einen Text, welcher die Einweisung in einen Lehrstuhl (d. h. in die Gruppe der Lehrberechtigten der Fakultät) enthält. Ferner wurden dem Kandidaten bei Fortsetzung dieser Rede ein Buch, eine Kappe (pileus) (vgl. Gieysztor : 1993, 136) und ein Ring übergeben. Die Symbolik dieser Gegenstände wurde in der Rede ausführlich erläutert. Zum „Lehrstuhl“ (cathedra) heißt es: Zuerst aber überantworte ich Dir das Recht, den ehrwürdigsten Stuhl in der Kirche und der Schule zu haben, d. h. die Autorität zu lehren. Und durch die Versetzung auf diesen Stuhl der Lehrenden bezeuge ich, dass Du Dir nicht selbst diese Ehre geraubt hast, noch aus der Zahl derer bist, über die Gott bei dem Propheten schwer klagt mit den Worten „Sie liefen und ich habe sie nicht geschickt“ [~ Ier 23,21], sondern dass Du die rechtmäßige Berufung auf dieses Lehramt abgewartet hast.
Das Symbol „Buch“ (liber – hier Bibel) wird folgendermaßen beschrieben: Aber Du sollst Dich nicht ohne Buch mit so einem heiligen Ort verbinden. Denn Du weißt selbst, dass diese drei – Doktor, Lehrstuhl und Buch – immer verbunden sein sollen. Deshalb öffne ich Dir dieses Buch, das Alte und das Neue Testament, damit Du oft bedenkst, dass es Dir nicht gestattet ist, eine neue Art der Lehre hervorzubringen, sondern dass Du die von Gott in der Kirche durch sichere Zeugnisse überlieferte und eröffnete Stimme des Gesetzes und des Evangeliums getreulich wiedergibst und bei51 Zum Jahr 1587: Friedensburg: 1926, Nr. 439, 539. Vgl. auch Gößner : 2003, 191.
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behältst, wie geschrieben steht: „Wenn einer ein anderes Evangelium lehrt, soll er verflucht sein“, und da es notwendig ist, für die Ungebildeteren die Rede Gottes zu erklären und die Teile der Lehre der Reihe nach zu überliefern, will Gott, dass diese Bücher gelesen werden, die ich Dir öffentlich als Lektüre anempfehle nach dem äußerst wichtigen Gebot von Gottes Sohn ,Suchet in der Schrift‘ [Io 5,39]52 und der Mahnung des Heiligen Paulus ,Lies ihnen eifrig vor‘ [1 Tim. 4,13].
Zur Kappe (pileus = Birett) (Pochmarski: 1992, 198) heißt es: Ich setze Deinem Haupt auch die Kappe auf, das alte Kennzeichen der Lehrer in der Kirche: aber diese Kappe möge Dich erinnern an die göttlichen Versprechungen vom Schutz und der Verteidigung der fromm Lehrenden erinnern, wie sie Christus seinen Dienern verspricht mit den Worten: „Auch die Haare eures Kopfes sind alle gezählt. Fürchtet euch also nicht.“ [= Lc 12,7] Und an anderer Stelle: „Ihr werdet gehasset sein von jedermann um meines Namens willen. Aber ein Haar von eurem Haupt soll nicht umkommen.“ [Lc 21,17 f]. Mit der Kappe ist wohl der Doktorhut (vgl. Lück: 2012 f, 1167 – 1169) gemeint, welchen wir von Albrecht Dürers Lutherporträt gut kennen. Aber auch vom Grabmal des Johannes Teutonicus (Lück: 2012 g, 1379 – 1381) im Halberstädter Dom (Fuhrmann: 2010, 35 – 73) ist eine solche Gelehrten-Kopfbedeckung gut bekannt.
Schließlich wird die Bedeutung des Rings (annulus) beschrieben: Ich füge auch einen goldenen Ring hinzu, nicht nur wegen einiger bürgerlicher Privilegien, die auch diesem unseren Stand und denen, die rechtmäßig auf dessen Gipfel gestiegen sind, zurecht zugestanden worden sind, sondern viel mehr, dass Du Dich erinnerst, dass Du gleichsam nach Annahme des Unterpfands verpflichtet bist, treu in der beständigen Wahrung der Reinheit der Lehre zu sein und Dir Mühe beim Lernen und Lehren zu geben, nicht um den Applaus der Menschen zu erlangen, sondern um die Gott willkommene und der Kirche heilbringende Wahrheit weiterzugeben und zu verteidigen.
Es folgt die Umarmung (vgl. Schmidt-Wiegand: 1998, 419 – 421) (complexus) mit den entsprechenden Erklärungen: Mit dieser Umarmung ermahne ich Dich auch, dass Du die Verbindung der Kirche schützt und durch keine falschen Begierden, soweit es an Dir ist, zulässt, dass sie auseinander gerissen wird. Die Verdienste und Sorgfalt anderer sollst Du nicht schmälern, noch die von ihnen gemachten nützlichen Arbeiten abwerten und verschmähen. Nichts sollst Du zum Wettkampf oder aus eitler Ehre tun, sondern Du sollst aus Bescheidenheit nach Paulus’ Weisung andere für herausragender als Dich halten [vgl. Phil 2,3]. Du kennst genau die Geister einiger Spalter, von denen nichts für gut befunden wird außer die Erfindungen des eigenen Kopfes: Diese sollst Du zurückweisen. Dagegen sollst Du Freundschaft und Eintracht mit allen pflegen, welche die unverfälschte Lehre des Evangeliums bekennen, eingedenk jenes sehr schönen Psalms: 52 Diese und die folgenden Stellen aus dem Neuen Testament sind in der deutschen Übersetzung abgeglichen mit der durchgesehenen Lutherübersetzung in Nestle: 1916.
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Siehe, wie fein und lieblich ist’s, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen! Es ist wie das feine Salböl auf dem Haupte Aarons, das herabfließt auf seinen Bart (Lurker : 1991d, 77), das herabfließt zum Saum seines Kleides, wie der Tau des Hermon herabfällt auf die Berge Zions. Denn dort verheißt der Herr den Segen und Leben bis in Ewigkeit. [Ps 133].53 Du mögest schließlich alle Glieder von Christi Kirche mit wahrer und brüderlicher Liebe bedenken. „Denn Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott.“ [1 Joh 4, 16]54
Am Schluss stehen, wie allgemein üblich (vgl. Melanchthon 1842, 955 – 959), Gratulation und Gebet (gratulatio & precatio). Nach Beendigung dieser Zeremonie forderte der Dekan den frisch Promovierten auf, eine Kostprobe seiner Gelehrsamkeit zu geben. Ein Knabe legte daraufhin eine theologische Fragestellung vor, auf die der junge Doktor zu antworten hatte. Nach der Antwortrede wurden von den Magistern die Geschenke verteilt – und zwar mit kurzen, jeweils an den Beschenkten gerichteten Reden. Die Reihenfolge richtete sich nach der Sitzordnung. Im Anschluss an die Bescherung dankte einer der promovierten Doktoren, der von der Fakultät vorher ausgesucht worden war, der göttlichen Majestät, dem Magistrat, den Professoren, den geladenen Gästen und den Zuschauern mit einer gebührenden Rede. Indessen waren die neuen Doktoren von den Theologieprofessoren zum Altar55 geführt worden, wo sie während der Lobeshymne Te Deum laudamus niederknieten. Endlich sollten die einzelnen Personen in der Reihenfolge, in der sie in die Kirche eingezogen waren, hinausgehen und dann zum Gastmahl (ad convivium) schreiten. Letzteres richteten die Kandidaten an dem Ort aus, den sie sich dafür ausgesucht hatten. Die frisch promovierten Doktoren schritten als Begleiter neben dem Rektor und den darauf folgenden Personen aus der Kirche hinaus. So oder so ähnlich werden die feierlichen Promotionen auch an den anderen Fakultäten abgelaufen sein.56
53 Die Übersetzung des Psalms folgt der Übersetzung Luthers, siehe Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, hg. vom Bund der Evangelischen Kirche in der DDR und von der Evangelischen Kirche in Deutschland, Berlin/Altenburg 1986. 54 Vom traditionellen Doktorkuss, so, wie er auch im königlichen Gründungsprivileg genannt wird (…necnon per bireti impositionem et annuli aurei ac osculi traditionem…) (Friedensburg: 1926, Nr. 1, 2), ist wörtlich nicht die Rede. Wahrscheinlich war er aber Bestandteil der Umarmung (vgl. Melanchthon: 1842, 958 f; jetzt auch in deutscher Übersetzung vorliegend: Schmidt: 2013, 315 – 320, hier 318 f). 55 Zum Altar vgl. Beyer : 2008, 60 – 62; Kocher : 2008, 187 f. 56 Auf das Beispiel der Juristischen Fakultät ist anhand des von Melanchthon verfassten Textes über den Ritus juristischer Promotionen schon hingewiesen worden (vgl. Anm. 54). Bemerkenswert ist, dass der Kandidat (Johannes von Borcken) im Anschluss an seine feierliche Promotion nach Verlesung des Melanchthon-Textes durch Hieronymus Schurff in der Ma-
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Schluss
Die Aufzeichnung der bei den theologischen Doktorpromotionen zu beobachtenden Bräuche stellt eine aussagekräftige Quelle zum Promotionsgeschehen in Wittenberg in Ergänzung der normierten Regeln in den Statuten dar. Da der Doktorgrad generell „in einem … auf uralten Bräuchen beruhenden Zeremoniell“ verliehen wurde,57 darf angenommen werden, dass auch Martin Luther am 18./19. Oktober 1512 so oder ähnlich feierlich promoviert worden ist.58 Der Doktorgrad gestattete ihm, nicht nur Vorlesungen an der Universität zu halten, sondern auch den beiden Universalmächten seiner Zeit selbstbewusst, dezidiert und streitbar gegenüber zu treten (Frijhoff: 1996, 295 f).59 Sowohl die eindeutige Datierung der Niederschrift, ihr Charakter als erneuerte Verschriftlichung älterer Rituale und die zeitbedingt genannten Glaubensschriften machen den Entstehungskontext deutlich. Das mehrfach genannte Konkordienbuch zeigt den Bezug zu den Auseinandersetzungen um die rechte lutherische Lehre und die Überwindung des sog. Kryptocalvinismus unter dem Kurfürsten August (1553 – 1586) an. Hierher dürfte auch die Große Kirchen- und Schulordnung von 1580 gehören, die aber in dem Text nicht ausdrücklich genannt wird. Auf die Calvinisten wird, wie schon ausgeführt, in der Präambel ausdrücklich Bezug genommen. Die Erneuerung des älteren Textes im Jahre 1599 könnte mit der Zurückweisung der von Kurfürst Christian I. (1586 – 1591) betriebenen procalvinistischen Politik (vgl. Klein: 1962; Krell: 2006) in einem Zusammenhang stehen. Das Wittenberger orthodoxe Luthertum wurde fest zementiert (u. a. durch die Bezugnahme auf die Visitationsartikel von 1592, welche unmittelbar nach dem Tod Christians I. erlassen worden waren). Unter ritualtheoretischen Gesichtspunkten ist die hier vorgestellte Niederschrift ein eindrucksvolles Beispiel für einen Initiationsritus (Turner : 2012, 1219 – 1221), das sich mustergültig in das Theoriengebäude von Arnold van Gennep (2009), das in den 1980er Jahren von Victor Turner maßgeblich weiterentwickelt wurde (1989), einordnen lässt.60 Mit den Trinkgelagen in Form eines Zeremoniells wurde am Promotionstag der Abschied von den Kommili-
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rienkirche zu Frankfurt an der Oder sogleich vermählt wurde (vgl. dazu auch Schmidt: 2013, 315). Frijhoff: 1996, 291. Für die 50 Gulden Promotionsgebühren ist bekanntlich die kurfürstliche Kammer aufgekommen. Vgl. Schilling: 2013, 128; Leppin: 2006, 67. Ob Luther auf sein theologisches Doktorat „persönlich sehr stolz“ war, wie Frijhoff: 1996, 295 mitteilt, kann aufgrund der unzureichenden Quellenlage nicht belegt werden (vgl. dazu Leppin: 2006, 66 f). So etwa auch Frijhoff:1996, 293.
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tonen (Frijhoff: 1996, 287) und die Aufnahme in die Gelehrtengemeinschaft vollzogen. Dass bestimmte Teile des hier beschriebenen Brauchtums sehr lebendig waren, belegen zahlreiche Beschwerden der Wittenberger Bürger über ausschweifende Feierlichkeiten und die damit verbundenen Exzesse. Die mehr oder weniger erfolglosen Versuche der Landesherrschaft und der Universität, diese einzudämmen, sind bekannt. In welchem Verhältnis diese realen Vorgänge zu den Rechtsgrundlagen der Promotionen und zu den mit ihnen verbundenen Ritualen stehen, ist jedoch ein anderes Thema.
Anhang (Edition): Universitätsarchiv Halle, Rep. 1, XXXXII Nr. 4. 4588, fol. 165 – 18561 [fol. 165r]
DE PROMOTIONIBUS in Facultate Theologica almae Universitatis Wittebergensis. Promotiones nuncupamus solennes illas ac publicas testificationes, quae Facultatis nomine perhibentur iis, qui in Doctorum S. Theologiae numerum ob insignem pietatem, spectatam orthodoxae doctrinae Confessionem, rerumque Theologicarum scientiam & peritiam minimÀ vulgarem, cooptantur· In ea proinde tm solenni actione tria sunt, quae spectari soleant.
61 Die Orthographie des Textes wurde in dieser Abschrift leicht normalisiert (æ ! ae; œ ! oe; ij ! ii; ß ! ss; v einheitlich als v, u einheitlich als u), die Interpunktion und Akzentuierung jedoch beibehalten. Die Kürzel q; wurde stets zu que aufgelöst, das et-Kürzel (& ) dagegen wurde beibehalten. Andere Ergänzungen des Bearbeiters sind durch ‹› gekennzeichnet, Emendationen in den Anmerkungen vermerkt. Bibelzitate bzw. –anspielungen wurden außer bei den Graeca kursiv gekennzeichnet. m.a. (manus altera) bezeichnet eine vom Schreiber des Haupttextes offensichtlich verschiedene Hand, die einige ergänzende Anmerkungen angebracht hat. Auf sie gehen vielleicht auch mehrere An- und Unterstreichungen zurück. Die durch Größe und Fettdruck hervorgehobenen Buchstaben und römische Ziffern sind in Goldbronze geschrieben (1. Zeile der Überschrift, Kapitelanfänge und Numerierung der Symbole in Kap. XVIII).
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Principiý etenim confessio & eruditio illius, nec non vita & mores, qui tantos in Ecclesia Dei honores expetit, considerantur. Deinde c¾m eiusmodi publica doctrinae [fol. 165v] & sinceritatis testimonia communi labore & occupatione eorum, qui in Academiis docent, conferantur, aequum est, ut illi industriae suae aliquod praemium percipiant, sancitum proinde est laudabili maiorum instituto, ut certam pecuniae summam illi persolvant, qui titulis & insignibus doctoreis ornari cupiunt. Denique verý etiam publici ritus & ceremoniae adhibentur, quibus Renunciatio publica exornatur. De singulis brevissimÀ, quid vel legibus sancitum, vel consuetudine & inveterato Academiae nostrae more usitatum sit, dicendum est. [fol. 166r]
De exploratione doctrinae eorum qui honores doctoreos petunt. I. Cum igitur iuxta Pauli praeceptum 1. Tim. 5. nemini citý manus sint imponendae, priusquam eius pietas & docendi facultas probÀ innotuerit: Idcirco laudabili instituto Electorum Saxoniae decretum est, ut quicunque ad summum in Facultate Theologica gradum aspirat, coelestem doctrinam scriptis Prophetarum & Apostolorum traditam sincerÀ profiteatur, ut item Augustanam Confessionem illam incorruptam, sicut Anno Christi 1530 in Comitiis Augustani‹s› Imperatori Carolo Quinto exhibita est, toto pectore amplectatur, ad cuius rei testifica-[fol. 166v]tionem omni dubitatione carentem subscriptio quoque libri Christianae Concordiae, Anno 1580 conditae requiritur, & denique Articuli Visitationis Saxonicae, Anno 1592 peractae, qui peculiari mandato illustrissimi Principis ac Domini, Domini Friderici Wilhelmi, ProÚlectoris Saxoniae, Domini nostri clementissimi die sexta Martii, Anno 1594 promulgato omnibus, qui in hac Academia in quacunque Facultate promotionum honores assequi cupiunt, ad subscribendum commendati sunt.62
62 Der Text ist ab & denique Articuli Visitationis bis zum Ende des Kapitels (commendati sunt) in der Hs. durch eine Linie gerahmt.
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II. Subscriptionem autem hanc Candidatus [fol. 167r] praestat apud Facultatis Decanum, ubi simul admonetur, quod eandem postea in solenni promotionis actu religioso juramento publicÀ confirmare debeat, quod ipsum se libenter facturum pollicetur.
III. His eo modo apud Decanum transactis, dies & hora illi indicitur, quo coram Facultate comparere, suamque petitionem instituere debeat.
IV. Postquam in Facultatem conventum [fol. 167v] est, proponit ille oratione brevi, perspicua & negocio tm arduo, suaque erga Facultatis Professores reverenti digna, quibus causis impulsus testimonium eruditionis & confessionis suae publicum ab hac Academia petere constituerit.
V. Decanus nomine Collegarum respondet, intelligere sese, quid Facultate Theologica petat, Cum autem res sit maximi momenti, non aegrÀ laturum, si paululum secedere, & Collegio colloquendi deliberandique exiguum tempus dare iubeatur. Illo verý egresso voluntatem Collegarum Decanus exquirit, & quid [fol. 168r] ad petitionem respondendum sit, communi omnium voluntate percipit.
VI. Capita deliberationis, quae interim habetur, ea ipsa sunt, quae principio proposita fuerunt. Quod enim ad profectuum attinet explorationem, fit illa
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explicatione publica capitis alicuius aut plurium sacri codicis, examine item privato & disputatione publica, nec non aliquot concionibus63 ad populum. 64 Qua de re, quûve tempore cursoriam, uti vocant, lectionem habere debeat, À voluntate Collegarum, & cuiusque temporis conditione pendet. Ita tamen illa in[fol. 168v]stituitur, ut intra id tempus, quod Collegio pro ratione circumstantiarum placuerit, finiatur. 65 Disputationis themata Praeses, ea de re, quam Collegae quovis tempore ad instruendam juventutem utilem fore censuerint, maturÀ conficiet66, censurae Collegarum subiiciet, & Candidato tradet. 67 Concionum quoque materia & tempus arbitrio Collegii commissa est.68Examen ita comparatum est, ut in eo spectentur, quae in Theologiae Doctore praecipua sunt, illa verý in quatuor capita commodÀ redigi possunt. 69 Principio etenim necesse est Ecclesiae Doctorem in lectione sacrorum Bibliorum [fol. 169r] Veteris & Novi Testamenti probÀ versatum esse, ut & biblicae historiae seriem, Veteris Novique Testamenti harmoniam, & difficilium locorum veram explicationem, !mtikoci_m, item apparentium concinnam & perspicuam conciliationem, usum denique scripturarum in refutando & docendo, in obiurgando & consolando iuxta Pauli praeceptum 2. Tim. 3. perspectum sibique familiarem habeat. Atque huc etiam veteres respexerunt, qui primum gradum Biblicis, uti loquebantur assignarunt. 70 Deinde cum minister Ecclesiae custodire debeat rpot}pysim rciaim|mtym k|cym, ut Paulus 2. Tim. 1. scribit, necessarium omniný est, ut Ecclesiae Doctor phrasin Scripturae probÀ calleat, [fol. 169v] & proinde mediocrem notitiam ac usum linguarum graecae & sanctae hebraicae praeter latinam sibi comparaverit. 71 Tertiý id etiam vel inprimis spectandum est, ut qui tam augusto Doctoris titulo gaudere vult, omnia capita Religionis & locos doctrinae animo & intelligentia fidelique memoria complexus sit, deque singulis cuilibet poscenti rationem reddere, veram sententiam verbis Scripturae explicare, testimoniis biblicis confirmare, opiniones falsas earumque ratiunculas immotis rationibus À Prophetarum & Apostolorum monumentis refutare & reprimere queat, sicuti Paulus Episcopum paratum esse iubet 1. Tim. 3. Tit. 1. & veteres ea in classe quam sententiariis tribuerunt, idem spectasse videntur. 63 Unterstreichung in Hs. Am linken Rand sind die Begriffe mit den Ziffern 1, 2, 3 und 4 versehen. 64 In Hs. am linken Rand (rot) Cursoria Lectio. 65 In Hs. am linken Rand (rot) 2. Disputatio. 66 In Hs. zuerst conficiat. 67 In Hs. am linken Rand (rot) 3. Concio. 68 In Hs. am linken Rand (rot) 4. Examen. 69 In Hs. am linken Rand (rot) 1. Examen Biblicum. (m.a.) 70 In Hs. Am linken Rand (rot) 2. Examen linguarum, & phrasium Scripturae. (m.a.). 71 In Hs. am linken Rand (rot) 3. Examen de Locis doctrinae Christianae. (m.a.).
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[fol. 170r]72Tandem verý in hoc examine nequaquam negligendum est illud, quod ad certamina Ecclesiae & disputationes cum adversariis summoperÀ pertinent. Qui enim veteres illas Arianorum73, Manichaeorum, Euty¨chianorum, Nestorianorum, Pelagianorum & similium haereticorum fanaticas & blasphemas opiniones scire vult, ut sciri eas ab Ecclesiae doctoribus oportet, qui item fundamenta, quibus illi furores repressi fuerunt, perspecta habere cupit, ut equidem in oculis inque conspectu posita esse debent illis, qui easdem Diaboli machinationibus ‹s›ubindÀ ab orco repullulantes cavere, & in conflictu cum Pontificiis, Calvinianis aliisque nostrae aetatis pestibus destruere divinitus iubentur, illos profectý in historia Ecclesiae Novi Testamenti inde usque ab Apostolorum tempore non rudes & infantes, qui vix heri [fol. 170v] aut nudiustertius gesta norint, esse oportet. Quapropter videndum quoque est, quid Theologiae Candidatus À lectione Patrum & doctorum Ecclesiae, qui quovis tempore floruerunt, quid À conciliorum tomis, quid denique ex Eusebii, Nicephori & reliquorum historicorum Ecclesiasticorum libris observaverit. Neque enim de ea74 loquimur antiquae lectionis copia scientiaeque amplitudine, quasi immensum illud mare historiarum, vastissimumque Scriptorum Ecclesiasticorum Oceanum penitus exhauriri, tantaque t¾m memoriae, t¾m vitae humanae angustia comprehendi posse statueremus. Sufficere opinamur, si quis, quid ante haec tempora in Ecclesia actum, quid quo successu disputatum, quae Ecclesiae fuerint vel [fol. 171r] persecutiones vel etiam tranquillitas, non omniný ut hospes ignoret. Eandemque ob causam historia Augustanae Confessionis ab initio repurgatae doctrinae usque ad nostra tempora perspecta sit illis oportet, qui cum Jesuitis fortiter congredi, cumque Calvinianis viriliter dimicare volunt. Istas proinde operas examinis inter se Collegae partiuntur, proque arbitrio distribuunt, ita ut vel singuli singula, vel quilibet À singulis aliqua sibi in examine Candidato proponenda sumat. Quae ubi constituta sunt, tum verý Candidato per Decanum indicatur, quid in Scholis Theologicis, & qum longo temporis spacio interpretari, & quo de Religionis capite disputationem [fol. 171v] instituere debeat, & quod denique in examine fidei, inque studio Theologico profectuum rationem ipsum reddere deceat. Cumque omnia in se recepturum, & auxiliante Spiritu sancto conaturum pollicebitur, cum invocatione nominis divini dimittetur.
72 In Hs. am linken Rand (rot) 4. Examen de Certaminibus Eccle[siasticis] veteribus & recentioribus. (m.a.). 73 In Hs. zuerst Arrianorum. 74 In Hs. ea de.
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VII. Ad lectionem cursoriam semper unus À Professoribus Theologiae accedat, qui docendi methodum, rerum, quae proponuntur conditionem & docendi facultatem diligenter observet, ac Collegio fideliter referat, ut Candidatus admoneri, si opus sit, maturÀ possit. [fol. 172r]
VIII. Ad examen vocatus, pecunia fisco & facultati numeranda instructus veniat Candidatus. Solvit autem in universum 6475 florenos & 1476 gr. Ea summa hoc pacto postea distribuitur. Fisco Academiae cedunt Rectori Pedellis Collegis ex aequo Praesidi disputationis Decano siue Procancellario Fisco Facultatis Theologicae Promotori
26 fl 1 fl 6 gr 3 fl 20 gr 12 fl 1 fl 6 gr 1 fl 6 gr 2 fl 3 gr 1 fl 6 gr 12 fl77
IX. Examen tres vel quatuor horas non excedit. Itaque singuli examinatores [fol. 172v] singulas ferÀ horas sortiuntur, quae ne inutiliter effluant, absque omni tergiversatione À praedictis illis capitibus praecipua & tali examine dignissima quaestionibus, qum fieri potest brevissimis proponuntur, neque dec75 Später korrigiert (m.a.). Darunter durchgestrichen wohl die römische Zahl XLVI. 76 Später korrigiert (m.a.). Darunter durchgestrichen die arabische Ziffer 3. 77 Später hinzugefügt. Darunter : 53 thl. 14 gr / Item – 3 thlr. pro (?) panem (?) / Martium (?); darunter : 56 [dünn] thlr. [??? – verwischt, getilgt ?], darunter wieder kräftiger : „56 Rthlr. 64 fl. 14 gr.“; darunter „Ist (?) 14 gr.“; auf der Seite mittig über der nächstfolgenden Kapitelangabe „IX.“, wohl bezogen auf die darüber stehende Rechnung: „thutt 56 Rthlr 14 gr. / od. 64 fl. 14 gr“. Diese Rechnung diente offenbar der Korrektur des Gesamtbetrages in Höhe von 64 fl. und 14 gr. (an Stelle der durchgestrichenen 46 fl. und 3 gr.) im darüber stehenden Text des 8. Kapitels.
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lamatoriae, sed succinctae & nervosae saltem responsiones & explicationes admittuntur.
X. In more praeterea est, ut examinandus panem Sachariten, quem martium vulgý nominant, À pharmacopolio cum cantharo vini Cretici suo sumto comparet, & apponat. Quod si examen horis pomeridianis instituatur, cantharus vini Rhenensis etiam adiungitur. [fol. 173r]
XI. Disputatio Thesibus affixis denunciatur omnibus Academiae civibus, eidem verý praesidet aliquis À Collegis, quem circularis ordo tetigerit. Argumentandi seu oppenendi provincia Studiosis relinquitur, ita tamen, ut sub finem Magnificus Dominus Rector, & caeteri Professores eo ordine, quo assident, benevola Praesidis oratione ad arguendum invitentur. Tempus disputationi destinatum est feria in hebdomade sexta, ab hora matutina sexta78 aestivo, septimo verý hiberno tempore usque ad vespertinam quintam, excepto prandii spacio, quod ab undecima usque ad primam, non amplius, sese extendit. Initium disquisitionis illius fit precibus, quas Praeses recitat [fol. 173v] quemadmodum etiam idem pia precatiuncula concludit, posteaque toti auditorio pro honorifica praesentia & favore gratias agit.
XII. Coenam inde Candidatus ubicunque placuerit omnibus Academiae Professoribus exhibet, ad quam praeter Studiosos, qui in disputatione publica argumenta attulerunt, & Ministros Academiae, nemo invitatur.
78 Später eingefügt.
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XIII. Ad solennitatem publicam jam quod [fol. 174r] attinet, parasceve illius ita habet: quod dies Facultatis iudicio certus, quo celebrari commodÀ possit, constituitur, perorandi agendique partes singulis maturÀ tribuuntur, ornamenta & adiumenta tempestivÀ parantur, quae qualia sint, mox À singulorum descriptione apparebit. Die autem Dominico, qui Actum illum proximÀ antecedit, publico scripto ea festivitas significatur, perque Ministros Academiae consueto suo habitu indutos & sceptra praeferentes, duobus adhibitis Professoribus, & magistris aliquot spectatae pietatis ac modestiae Professores, D. Capitaneus Quaestor, Senatores, & alii qui de more & arbitrio Facultatis vocandi sunt, honorifice ad renunciationem & convivium invitantu‹r› [fol. 174v]
XIV. Proximo ante solennitatem publicae Renunciationis die, Decanus un cum Candidatis munera Rectori, Professoribus & hospitibus distribuenda concinnat, ut loco postea publico singula citra moram ad manum sint iis, qui ea depromere debent. Sunt autem munera veteri de consuetudine ista: Magnifico D. Rectori & caeteris superiorum Facultatum Theologicae, Juridicae, & Medicae Professoribus, nec non Decano in Facultate Philosophica dantur singulis singulae tiarae in planiciem orbiculatam textae, fili & lanae mediocris, quales olim Scholastici gestarunt, hodiÀ penes [fol. 175r] Theologos remansÞre. Additur cuique par chirotecarum À pelle confectarum. Quodsi plures fuerint Candidati, eorumque facultates tulerint, licitum illis est, ut exemplo nonnullorum, qui hactenus Doctoreo titulo apud nos ornati sunt, pro galeris seu tiaris laneis vel mitram doctoralem holosericam, vel tantum panni holoserici, quantum ad eiusmodi mitellam satis est, Promotori & caeteris Facultatis Theologicae professoribus & Rectori offerant. Professoribus Philosophiae, ut et convivis seu hospitibus singulis singula saltem chirotecarum paria donantur. Illustribus personis, Principum Legatis, Baronibus, Nobilibus, si ad Actum publicum venerint, prae[fol. 175v]ter manicarum par, libelli quoque & enchiridia elegantioris formae singulis offeruntur. Haec ut ordine in pelvim unam aut etiam alteram tertiamve, si opus fuerit disponantur, & singulorum, quibus illa postea tradi debent, nomina inscribantur Decano & Candidatis curae erit.
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XV. Die solennitatis Candidatus & caeteri invitati in aedibus Promotoris conveniunt, ind¦que hoc ordine in templum omnium Sanctorum, quod Arci adiunctum est progrediuntur. Primý [fol. 176r] pueri gestantes faces procedunt, hos sequuntur adolescentes aliquot honesti, munera uti supra dictum est disposita À sublimi gestantes. Post hos musici instrumentales incedunt, pompam exornantes: Ac tum subsequitur exomide indutus Rector, tum Decanus, qui hoc in Actu Procancellarii fungitur munere79, & sessionem habet inter reliquos Collegas primam, hunc reliqui Theologi, indeque caeterarum Facultatum Professores. Candidatus post Decanum Facultatis Philosophicae locum in processu habet. Honoratiores hospites pro cuiusque conditione & statu collocantur, Campana quoque in parochiali templo signum datur, & [fol. 176v]
XVI. In templo postquam chorus finem canendi fecerit, Promotor actum illum precatione auspicatur, & orationem ad praesentem coetum latinam de quaestione aliqua pia & loco ac tempori conveniente atque Collegio prius approbata instituit: sub finem autem orationis, pietatem, eruditionem in orthodoxa nostrarum Ecclesiarum doctrinae consensum, industriam & modestiam praesentis Candidati Decano vices Cancellarii gerenti80 commendat, ac rogat, ut ea potestate, qua nomine & privilegio Electorum Saxoniae fruitur, sibi liberum faciat, & concedat, istum virum honestum & eruditum, qui in disputatione [fol. 177r] publica, praelectionibus item eruditis, et examine exquisito suos in Theologia profectus Collegio abundÀ probaverit, titulo & honoribus exornare, quibus Theologiae Doctores in Academiis condecorantur. Decanus vel quicunque Cancellarii nomen sustinet oratione succincta respondet, qua facultatem eam Promotori tribuit, & omnia fausta ex animo precatur. Candidato interim coram Decano in genua procumbente.
79 Text ab tum Decanus bis munere in Hs. unterschlängelt (m.a.?) 80 In Hs. zunächst degerenti, später wurde de- gestrichen.
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XVII. Antequam Promotor Doctorum titulum & insignia Candidato impertit, sequentem illi formulam juramenti Minister Academiae proponit: [fol. 177v] Iuramentum praestandum in Theologia promovendis. Domine Doctorande, priusquam recipis gradum Doctoris, promittes bona fide: Ego etc. N. promitto Deo aeterno, Patri Domini nostri Jesu Christi, Conditori generis humani & Ecclesiae suae, cum Filio suo Domino nostro Jesu Christo, & Spiritu81 sancto, ME, Deo iuvante, fideliter serviturum esse Ecclesiae in docendo Evangelio, sine ullis corruptelis, & constanter defensurum esse Symbola, Apostolicum, Nicenum & Athanasianum, & perseveraturum esse in consensu doctrinae, comprehen-[fol. 178r]sae in Augustana Confessione, quae per hanc Ecclesiam exhibita est Imperatori Anno 1530, & latius explicatae, in eiusdem Confessionis Apologia, Smalcaldicis Articulis, Catechismis Lutheri, & libro Concordiae, Anno 1580, publicato, quibus Scriptis omnibus manu & corde subscripsi. Et cum incident controversiae difficiles & obscurae cum aliquibus senioribus, qui docent Ecclesias, retinentes doctrinam Augustanae Confessionis secundum normam & regulam verbi divini atque Christianae fidei pronunciabo. Ita me Deus adiuvet, Dicas: Ego promitto. [fol. 178v]
XVIII. Inde sequitur ipsa renunciatio, quae talibus ceremoniis plerunque peragitur, ita tamen, ut Promotor ad hanc formulam non ita praecisÀ sit astrictus. Promotor in hanc sententiam porro verba facit: Quod igitur institutum, inquiens, Deus aeternus, Pater Domini nostri Jesu Christi in Spiritu sancto clementer adiuvet & fortunet, Ego N.82 publica voce nostrae Ecclesiae & Collegii Theologici TE pietate, doctrina atque virtute ornatissimum Virum N. Theologiae Doctorem83 creo, creatum renuncio, & ab omnibus pro tali agnoscendum & habendum esse 81 In Hs. zuerst spiritui. 82 In Hs. nachträglich eingefügt. 83 In Hs. Licentiatum (m.a.) darüber geschrieben.
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publicÀ proclamo in nomine Patris, Filii & Spiritus sancti. Et quemadmodum clementissimus pater [fol. 179r] coelestis renunciationem, filii sui, summi Ecclesiae Doctoris voce sua de coelo sonante: Hic est Filius meus dilectus 1m è eqd|jgsa84, visibiliterque Spiritu sancto in specie columbae super ipsum descendente, praeclarÀ ornavit, commendavit & confirmavit ad Jordanem: ita ardentibus gemitibus aeternum Deum oro, ut publicum hoc testimonium tibi tributum & renunciationem factam invisibilibus donis, & arcana Spiritus sancti virtute, veluti cœlestibus insignibus confirmet, & consignet, nosque omnes faciat vasa gratiae sanctificata in honorem suum, accommoda usibus Ecclesiae, reique Christianae publicae & ad opus omne, bonum nobis ipsis, & aliis salutare, AMEN. Et quia sapiens vetustas, ut talis renunciatio esset celebrior, addidit signa [fol. 179v] quaedam, quae voluit esse non ineptos ludos, sed utiles commonefactiones consideranti, quid revera significent, in his quoque usitatum morem servabo.
I. Cathedra Prim¾m autem trado TIBI ius tenendae honestissimae cathedrae, in Ecclesia & in Schola, hoc est, authoritatem docendi. Et hac collocatione in hanc cathedram docentium testificor, te non tibi ipsi rapuisse hunc honorem, nec ex illorum numero esse, de quibus Deus apud Prophetam gravissimÀ conqueritur, inquiens: Currebant & non misi eos:85 sed legitimam vocationem ad hoc munus docendi expectasse.
II. Liber Sed sine libro loco tm sacro committere te nequaquam debes. Tria enim haec, Doctorem, Cathedram, Librum semper coniuncta esse debere ipse nosti. Itaque librum hunc Vetus & Novum testamentum tibi aperio, ut saepÀ cogites, tibi nequaquam concessum ut gignas novum doctrinae genus, sed vocem legis & Evangelii, Deo in Ecclesia certissimis testimoniis traditam & patefacta‹m› fideliter sones ac retineas: sicut scriptum est: Si quis aliud Evangelium docuerit, anathema sit,86 & quia necesse est rudioribus sermonem Dei interpretari, & 84 Lc 3,22; (Mt 17,5). 85 Vgl. Ier 23,21. Non mittebam prophetas et ipsi currebant. 86 Vgl. Gal 1,9. Si quis vobis evangelizaverit praeter id, quod accepistis, anathema sit.
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membra doctrinae ordine tradere, vult Deus hosce libros legi, quam lectionem tibi publicÀ commendo, iuxta gravissimum Filii [fol. 180v] filii Dei praeceptum: 9qeum÷te t±r cqav\r87, & paqa_mesim S. Pauli: pq|sewe t0 !macm~sei88.
III. Pileus Impono etiam capiti tuo pileum, vetus insigne docentium in Ecclesia: sed hic pileus te commonefaciat promissionum divinarum de protectione & defensione piÀ docentium, quam Christus pollicetur Ministris suis, inquiens: Vestri etiam capilli capitis omnes numerati sunt. Nolite ergo timere.89 Et alio in loco: Eritis quidem odio omnibus, propter nomen meum: sed capillus de capite vestro non peribit.90 [fol. 181r]
IV. Annulus Addo & annulum aureum, non sol¾m propter privilegia quaedam politica, quae etiam nostro huic ordini, & iis qui in eius fastigium ritÀ conscenderunt, legitimÀ sunt concessa: sed multý magis, ut memineris, te quasi accepta arrha91 obligari, ut fidelis sis in puritate doctrinae constanter servandae, & ut operam des in discendo & docendo, non ut hominum plausus captes, sed ut vera, Deo grata, & Ecclesiae salutaria tradas ac defendas.
V. Complexus. Hoc complexu te etiam admoneo, ut coniunctionem Ecclesiae tuearis, nec ullis [fol. 181v] cupiditatibus pravis, quantum in te est, eam distrahi patiaris. Meritis aliorum, diligentiaeque non detrahas, nec utiles ab iis praestitas operas extenues & abiicias. Nihil geras per contentionem, aut per inanem gloriam, sed ex mo87 Io 5,39. In der Hs. fehlt der Akzent bei cqav²r. 88 I Tim 4,13. 89 Vgl. Mt 10,30 f.; Lc 12,7. Bei Matthäus steht autem statt etiam. Bei Lukas heißt es: Sed et capilli capitis vestri omnes numerati sunt. 90 Vgl. Lc 21,17 f. et eritis odio omnibus propter nomen meum: et capillus de capite vestro non peribit. 91 Vgl. Ulp. D. 14,3,5,15 und D. 19,1,11,6.
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destia alios te, iuxta Pauli praeceptum, praestantiores92 existimes. Non ignoras dioqos|vym quorundam ingenia, quibus nihil probatur, nisi proprii capitis inventa – tales averseris: Tu verý amicitiam & concordiam alas cum omnibus, sinceram Evangelii doctrinam profitentibus, memor dulcissimi illius Psalmi: Ecce qum bonum & qum iocundum fratres habitare in unum. Est sicut unguentum optimum super caput, descendens super barbam, barbam Aaron, quod descendit super oram vestimenti ejus. Et sicut ros Hermon, qui descendit [fol. 182r] super montes Sion: Quoniam mandavit illic Dominus benedictionem & vitam usque in seculum.93 Omnia denique Ecclesiae Christi membra vera & fraterna dilectione prosequaris. Deus enim est dilectio, & qui in dilectione manet, in Deo manet.94
VI. Gratulatio & precatio Postremo gratulor ego TIBI publicÀ de hoc honore tuo & gradu honestissimo, & quia actiones nostras cunctas, nisi Deo fortunante felices esse non posse novimus: oro Deum aeternum, Patrem Domini nostri Jesu Christi, Conditorem visibilium & invisibilium, atque Ecclesiae suae [fol. 182v] Conservatorem cum Filio & Spiritu sancto, ut boni simus ministri, enutriti vobis fidei & doctrinae, & ut vitemus nos !mtih]seir t/r xeudym}lou95 cm~seyr96, exercentes nos ipsos ad pietatem, & attendentes nobis & doctrinae, utque hoc facientes, nos ipsos tandem salvemus, & eos qui nos audiunt, Amen. Finita solennitate iubet Decanus Candidatum specimen eruditionis suae edere. Itaque puer quidam quaestionem proponit Theologicam, ad quam promotus Doctor respondet: Si plures fuerint competitores, datur caeteris materia orationis de sententia Collegii. Illo perorante & ad propositum problema respondente, interim honoraria, duobus vel etiam pluribus, si opus fuerit, [fol. 183r] Magistris, addita brevi oratiuncula, privatim ad singulas instituta, Magnifico Rectori, Generosis Baronibus, Professoribus, & invitatis reliquis eo ordine, quo assident, distribuuntur. Qualia verý illa sint, supr significatum est. Postquam haec in consessu Procerum Academiae, spectatorumque corona decenter peracta fuerint, gratiae Divinae Maiestati, Magistratui, posteaque Professoribus & invitatis hospitibus ac spectatoribus ab uno À promotis Doctoribus, cui Collegio Theologico iniunctum fuerit, oratione decent‹i› aguntur, 92 93 94 95 96
In Hs. zuerst –em. Vgl. Ps 133 (132). Vgl. I Io 4,16. Deus caritas est: et qui manet in caritate, in Deo manet. In Hs. zuerst ohne -y-, nachträglich am Rand ergänzt. I Tim 6,20.
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posteaqum ad aram novi Doct‹o›res deducuntur Theologiae Professoribus, ubi in genua procumbunt, dum hy¨ mnus donokocij¹r TE DEUM LAUDAMUS cantatur. E templo denique eodem ordine, quo intrave-[fol. 185v]runt, singuli procedunt ad convivium, quod Candidati eo loco, qui ipsis est commodissimus, appararunt97. Eo autem in reditu Promoti Doctores dantur comites singuli singulis in ordine, Magnifico Rectore facto initio.98
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Sektion II: Perspektiven
Günter Frank
Philosophische Aspekte der Reformation
I. Das Thema dieses Symposiums legt es zweifellos nahe, genauer einige philosophische Aspekte der Reformation in den Blick zu nehmen. Diese Thematik habe ich historisch und quellenbezogen an anderer Stelle im sog. Neuen Ueberweg ausführlich darzulegen versucht (Frank: 2015). In diesem Beitrag verweise ich lediglich auf diese ausführliche Darstellung. Bei einem zweiten Blick auf die Fragestellung, die sich aus dem Tagungsthema ergibt, treten jedoch schon eine Fülle von Schwierigkeiten zu Tage, die sich aus dem zweiten Teil des Titels ergibt, nämlich aus der Frage, worauf sich die philosophischen Aspekte näherhin beziehen könnten, mithin auf das, was Reformation sei, und damit auf ein ganzes semantisches Feld, das in diesen Tagen der sog. Reformations-Dekade virulent diskutiert wird.1 Schon ein Blick in die philosophiehistorischen Darstellungen der vergangenen 150 Jahre offenbart ein erstaunliches Bild. Nach dem später in Königsberg lehrenden, aus einem lutherischen Pfarrhaus stammenden Philosophen Friedrich Ueberweg (1826 – 1871), dessen „Grundriss der Geschichte der Philosophie“ Generationen von Studierenden geprägt hatte, habe der „Protestantismus die mittelalterliche Hierarchie und die scholastische Rationalisirung des Dogmas“ verworfen, in dessen Konsequenz „die Aufhebung aller Philosophie zu Gunsten der Unmittelbarkeit des Glaubens“ gelegen habe. Nach der ersten Hitze des Kampfes war es dann „Luthers Genosse, Melanchthon, 1 Thomas Kaufmann hatte in seinem Beitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ am 14. 11. 2011 eine anhaltende Debatte in Gang gesetzt und das Identitätsstiftende des Protestantismus in seinem Antiromanismus und Antipapalismus festgemacht. Im Ankündigungsflyer zu diesem Symposium wiederum findet sich die Bemerkung: „Die reformatorische Bewegung ging mit ihm [M. Luther] und durch ihn zunächst von akademischen Anliegen (kursiv G.F.) aus, die auch von Anfang an das Verhältnis zwischen der Theologie und den anderen Wissenschaften betrafen. Die Europäische Melanchthon-Akademie in Bretten hatte dieser Fragestellung im März 2012 ein eigenes Symposium gewidmet. Die einschlägigen Beiträge erschienen in: Frank/Leppin/Selderhuis: 2013.
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[…] der die Unentbehrlichkeit des Aristoteles als des Meisters der wissenschaftlichen Form“ (Ueberweg: 1883, 19) erkannt habe. Nicht anders hatte dies der katholische Philosoph Johannes Hirschberger in seiner zweibändigen „Geschichte der Philosophie“ aus dem Jahr 1953 gesehen, die bis 1991 vierzehn Auflagen, zwei Lizenz-Auflagen im Jahr 2003 und 2007 sowie zwei digitale Fassungen 1998 und 2000 erleben sollte, die Luther einen kräftigen Widerstand gegen den Aristotelismus bescheinigte, „weil man hier den Glauben betont über das Wissen stellen möchte“ (Hirschberger : 1953, 19). Und ähnlich wie im Ueberweg wird Melanchthons Rolle für den nordalpinen Aristotelismus hervorgehoben (Hirschberger : 1953, 16). Wilhelm Weischedel wiederum (1905 – 1975), gebürtig aus einem pietistisch-schwäbischen Elternhaus, der in Marburg bei Rudolf Bultmann Theologie studiert und sich später bei Martin Heidegger in Freiburg promoviert hatte, wurde vor allem durch seine Existenzphilosophie bekannt. In seiner zweibändigen philosophischen Theologie aus dem Jahr 1971, die den Titel trägt „Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer Philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus“, kam er zu dem verständlichen, aber im Blick auf die Geschichte des Protestantismus doch überraschenden Ergebnis, dass im Ausgang des Mittelalters […] das Vertrauen auf die natürliche Vernunft zusammen [bricht]; am Ende beherrscht der Glaube fast ausschließlich das Feld. Das ist dann auch die geschichtliche Voraussetzung, unter der Luthers schroffe Verwerfung einer Philosophischen Theologie zugunsten des Glaubens möglich wird, die […] den späteren Protestantismus bis zur Gegenwart weithin beherrscht. (Weischedel: 1971, 145).
Verwunderlich ist dann nicht mehr, dass in der seit 1972 erschienenen, mehrfach neu aufgelegten Reihe von Josef Speck „Grundprobleme der großen Philosophen“ weder ein eigenständiger index rerum, noch ein index personarum erscheint, der auf die Reformation verweist. Ganz in dieser Perspektive, wenngleich in einer spezifischen, genauer geschichtsphilosophischen, steht die philosophische Deutung der Reformation bei dem lutherischen Philosophen Eric Voegelin. Dessen Deutung der religiösen Bewegungen, vorgelegt in den umfangreichen und in Deutsch noch nicht vollständig publizierten Studien „Order and History“, ist Teil seiner Geschichtsphilosophie die – im Gegensatz zu Max Weber – diese Bewegungen nicht als eine Zunahme an Rationalität [in der abendländischen Kultur], sondern als deren Verfall und ihre Ersetzung durch eine gnostisch-scientistische Gegenkultur [deutete], die […] die abendländische Zivilisation in einem Jahrtausende langen Prozess unterwandert und ihre geistigen Fundamente in weiten Teilen von innen her zerstört hatten. (Voegelin: 1994, 11). Voegelins Beitrag zur Reformation, kurz vor 1949 verfasst, trägt den bezeichnenden Titel „Luther und Calvin. Die grosse Verwirrung“ (Voegelin: 2011).
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Nach Voegelin war es Luthers „Anti-Intellektualismus“ (Voegelin: 2011, 26 f) und „Anti-Philosophie“ (2011, 26 f) – nicht anders übrigens als bei Johannes Calvin (2011, 67) –, die letztlich dazu geführt hätten, dass Luther […] grundsätzlich mit nichts anderem beschäftigt [war] als mit der Verbreitung seiner eigentümlich persönlichen Erfahrung, die er der gesamten Menschheit als Existenzordnung auferlegen wollte. Der Schatten egoistischen Obskurantismus – die stärkste Kraft der modernen Welt – begann sich auszubreiten. (Voegelin: 2011, 49)
Entfaltet hatte Voegelin diese Deutung übrigens an Luthers antiphilosophischen Polemiken des Artikels 25 seiner „Rede an den christlichen Adel deutscher Nation“ aus dem Jahr 1520 sowie – wesentlich kürzer – an Calvins Prädestinationslehre seiner berühmten „Institutio Christianae Religionis“ (Voegelin: 2011, 21 – 38, bes. 27 – 30). Es ist hier nicht der Ort, diesen philosophiehistorischen und geschichtsphilosophischen Darstellungen im Einzelnen nachzugehen.2 Bemerkenswert ist im Blick auf diese Darstellungen jedoch zunächst, dass das allgemeine Urteil über das Verhältnis von „Reformation und Philosophie“ (und damit eine der Philosophie entsprechende Rationalität) – wie schon die konfessionellen Hintergründe belegen – offenkundig konfessionsübergreifend gilt. Erwähnung verdient aber auch: Andere reformatorische Gelehrte wie Calvin, Zwingli, Vermigli – um nur einige zu nennen – geraten wenn überhaupt, so nur selten in den Blick. In diesen philosophiehistorischen Überblicksdarstellungen wird dann aber vor allem deutlich, dass das Thema „philosophische Aspekte der Reformation“ weitgehend als Thema „Luther und die Philosophie“ erscheint. Unter dieser Perspektive wurde dann wesentlich die Problematik der heftigen Aristoteleskritik Luthers der Ausgangspunkt und der Rahmen philosophischer Untersuchungen.3 Andere Reformatoren neben Martin Luther kommen dabei in der Regel – wie bereits erwähnt – nicht in den Blick. Natürlich legt sich hier sofort der Hinweis auf dessen Gefährten in Wittenberg, Philipp Melanchthon nahe, dessen philosophische, universalwissenschaftliche Bemühungen, die hier nicht näherhin bestimmt zu werden brauchen, gerade in den letzten Jahren in das Blickfeld der Forschung getreten sind.4 Aber auch andere Akteure der Reformation wären hier zu untersuchen, etwa Calvin in Genf. Auch wenn von ihm keine eigenständigen philosophischen Schriften überliefert sind, so finden sich 2 Zum Verständnis der Luther-Calvin-Studien sei nachdrücklich auf die Nachbemerkung „Das Ärgernis Luther. Anmerkungen zum Luther-Kapitel in Eric Voegelins ,History of Political Ideas‘ von Peter J. Opitz verwiesen, vgl. ebd. 91 – 114. 3 Zu den neueren Studien zu diesem Thema sind zu nennen: Dieter: 2001, sowie die Studie Frank: 2003, bes. 25 – 51. 4 Eine ausführliche Forschungsbibliographie findet sich in dem Beitrag in Anm. 1. Daneben sind grundlegend: Frank: 1995, 1497 – 1560; der Versuch einer Würdigung Melanchthons als Philosophen findet sich nun auch bei: Frank/Mundt: 2012.
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bei ihm vielfältige Anklänge an die Philosophie (Partee: 1977; Kaiser : 1988). Seine Überlegungen zu einer natürlichen Gotteserkenntnis weisen durchaus bestimmte Züge des Arguments des sog. intelligent designs, also der Physikotheologie auf.5 Wie schließlich die bahnbrechende Studie von Daniel Bolliger zeigen konnte, war die Theologie des anderen Schweizer Reformators Huldrych Zwingli stark von der spätscotistischen Philosophie bestimmt, genauer von dem metaphysischen Prinzip einer Improportionalität von Infinität und Finität, die Duns Scotus aus der Beschreibung der göttlichen Essenz als einer aktualen Unendlichkeit gewonnen hatte, die Zwingli wiederum zu seiner programmatischen Formel finitum non capax infiniti geführt hatte (Bolliger : 2003).
II. Ist schon die Perspektive philosophische Aspekte der Reformation im Blick auf die verschiedenen Akteure komplex, so wird diese noch komplizierter hinsichtlich der Sachfrage „Was heißt eigentlich Reformation?“ Was soll hier also näherhin auf seine philosophischen Aspekte hin untersucht werden? Neben vielem anderen war die Reformation – wie mir scheint – zunächst und vor allem ein religiöses Ereignis. Sie ging zumindest in Wittenberg bekanntlich auf das sog. Turmerlebnis Luthers zurück, dessen Datierung zwischen 1512 und 1518 schwankt, in dem Luther der Sinn der Glaubensgerechtigkeit im Diktum des Römerbriefs „Der Gerechte lebt aus dem Glauben“ (Rom 1, 17b) erschlossen worden war und in dessen Folge er eine Relektüre aller biblischer Schriften vorgenommen hatte. Modern gesprochen handelte es sich bei dieser Entdeckung also um eine Erschließung der religiösen Existenz des Menschen, die als solche zunächst auch gar kein Thema philosophischer Erörterungen sein kann. Dies gilt zumindest unter den philosophischen Konstellationen des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Neben dem durchaus wirkmächtigen Platonismus (Philosophia perennis, prisca philosophia), auf den ich hier lediglich hinweisen kann, war diese wesentlich vom aristotelischen Wissenschaftsideal bestimmt, wie es in den Zweiten Analytiken entfaltet wurde. Wissenschaft im eigentlichen Sinn (Apodeixis) war nach Aristoteles ein propositionales Wissen, das sich eines wissenschaftlichen Beweises bedient, der letztlich identisch ist mit der Ableitung aus ersten Prinzipien, die immer notwendiger und bekannter sein müssen als das daraus zu Beweisende.6 In diesem Sinn kann Gott niemals Gegenstand eines 5 Vgl. hierzu bereits Dowey : 1952. Die Zusammenhänge zwischen Calvin/Calvinismus und der sog. scientific revolution werden in unterschiedlichen Studien von Dieter Groh diskutiert: Groh/Groh: 1991; Groh: 2003; Groh: 2010. Vgl. darüber hinaus den Beitrag Frank: 2010, 215 – 240 (Wiederabdruck in: Reformationen am Oberrhein, 39 – 66.) 6 An. Post. I, 2, 71b 9 – 12.
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propositionalen Wissens und damit einer aristotelischen Rationalität sein. Das Neue in Luthers Glaubenserkenntnis war nicht – wie immer wieder einmal behauptet wird – die Befreiung religiösen Wissens oder auch der Theologie aus einem solchen aristotelischen Rationalitätsverständnis und – damit eng verbunden – die Rückführung auf die eigentümlichen Quellen in den Heiligen Schriften. Auch für die mittelalterlichen Theologen stand die Superiorität der Heiligen Schriften in Fragen des Glaubens und der Theologie außer Frage, wie schon ein Blick in die Prologe zu den Sentenzenkommentaren eines Petrus Lombardus, die Luther selbstverständlich kannte und über die er 1509/11 in Erfurt Vorlesungen gehalten hatte (Wieneke: 1995), oder den Summen der Theologie deutlich macht, in denen diese epistemologischen Fragen diskutiert wurden. So hielt Wilhelm von Auxerre (gest. 1231) im Prolog seiner einflussreichen „Summa aurea“ in programmatischer Weise fest: „Daher ist nichts gewisser als der Glaube. Und so kann der Glaube nicht bewiesen werden, da es nichts Gewisseres gibt.“7 Alexander von Hales (gest. 1245) ging in seinem einleitenden Traktat zur „Summa theologica“ sogar so weit zu behaupten, „da […] die Lehre der Theologie als solche von Glaubbarem handelt […], ergibt sich folglich, dass die Annahme der Lehre der Theologie nicht Wissenschaft ist“ (Niederbacher/Leibold: 2006, 83), d. h. kein propositionales Wissen im Sinne der aristotelischen Apodeixis sein kann. Im ersten Jahrtausend wie auch im frühen Mittelalter bestand die selbstverständliche Aufgabe vornehmlich der Mönche in der Auslegung der Heiligen Schriften. Um deren rechte Auslegung, vor allem wenn es sich um offenkundig dunkle Stellen handelt, wurde freilich schon in der frühen Kirche gestritten (Ohst: 1999, 412 – 417; Walter : 2000, 256ff). Die patristische Überlieferung religiösen Wissens findet sich häufig in Sammlungen von Florilegien, in denen Zitate und Fragmente der Heiligen Schriften und der Kirchenväter tradiert wurden, die als Hilfsmittel in den dogmatischen Debatten der frühen Konzilien beliebt waren (Grillmeier : 1991, 58 – 89). Schon die sacro-profane FlorilegienSammlung von Pseudo-Maximus Confessor werden dabei „Loci communes“ genannt, eine Sammlung von Zitaten aus den Heiligen Schriften und den Kirchenvätern, die um bestimmte theologische Grundfragen geordnet sind.8 Im Studium der Kirchenväter, die in der Zeit der sog. Gregorianischen Reformbe-
7 Eine Reihe solcher Prologe liegt nunmehr in einer lateinisch-deutschen Ausgabe vor: Niederbacher/Leibold: 2006, 15. 8 Vgl. hierzu die Edition von Ihm: 2001. Als Florilegien-Sammlungen einflussreich waren im Mittelalter aber auch der „Liber de fide ad Petrum“ des Fulgentius von Ruspe (467/468 – 532/ 533) sowie die „Summa sententiarum“ des Gennadius von Marseille (5. Jh.). Vgl. hierzu ausführlich: Grillmeier : 1975, 585 – 679.
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wegung des 11. Jh. einen neuen Aufschwung erlebte,9 wurde jedoch nicht selten deutlich, dass Aussagen der Kirchenväter im Blick auf die Heiligen Schriften nicht immer miteinander übereinstimmten. Diese Beobachtung konnte sich bereits auf Augustinus stützen, der in seinen „Retractationes“ darauf hingewiesen hatte, dass selbst in seinem eigenen Werk „verschiedene und unter sich gegensätzliche“ (diversa atque inter se adversa) Positionen auftreten könnten.10 Als eine Lösung solcher Konflikte galt etwa die Überzeugung, dass solche Quellen zwar verschieden (diversi) sein konnten, nicht jedoch gegensätzlich (adversi)11. Und auch im 12. Jh., das heute als eine für die lateinische Rationalität grundlegende Zeit verstanden werden muss,12 wurde religiöses Wissen nicht im Kontext der aristotelischen Wissenschaftslehre der Zweiten Analytik begründet. Der Versuch der Magister, den Glauben wissenschaftlich zu begründen, wie er sich im Zusammenhang der Herausforderungen der damaligen Ketzerbewegungen, aber auch aus den Standards von Wissenschaft, wie sie die neuen, aufstrebenden Regionalwissenschaften (Medizin, Jurisprudenz) der werdenden Universitäten ergab, wurde im Zusammenhang der aristotelisch-ciceronischboethianischen Topik unternommen. So kühn diese Versuche im Umkreis der sog. Schule von Chartres auch gewesen waren,13 sie waren doch immer begleitet von beträchtlicher Kritik, die die Superiorität der Glaubenserfahrung gegenüber allen rationalen Versuchen der Glaubensbegründung gefährdet sahen. So hatte etwa Bernhard von Clairvaux jene Wissenschaft kritisiert, die um ihrer selbst willen betrieben wird (Speer : 1995, 296).14 Auch Richard von St. Viktor bedachte jene „Pseudo-Philosophen, die Fabrikanten der Lüge, die Neues zu erfinden suchten, um sich einen Namen zu machen“15, mit heftiger Kritik. Dass im hohen Mittelalter dann auch versucht wurde, das Programm einer Superiorität der heiligen Schriften mit dem aristotelischen Wissenschaftsideal zu verbinden, soll hier keinesfalls bestritten werden (Lohr: 1985, 127 – 144). Bei Martin Luther findet sich jedoch ein neuartiges Verständnis der Schrift 9 Zur Gregorianischen Refom vgl. allgemein: Laudage: 1993; Tellenbach: 1985; Schieffer : 1995, 1030 – 1033. 10 Augustinus, Retractationum libri duo. Prologus 2: „Magistros autem plures tunc fieri existimo, cum diversa atque inter se adversa sentiunt.“ 11 Vgl. hierzu die Hinweise bei Häring: 1979, 520 f. Hier findet sich etwa auch der Hinweis auf Alanus von Lille, dass die Griechen in der Frage des Filioque zwar diversos, jedoch nicht adversos seien. Vgl. darüber hinaus Morrison: 1969, 300 – 1140. 12 Für die mediävistische Forschung richtungsweisend: Weimar : 1981. 13 Ausführlich hierzu der Beitrag Frank: 2014. 14 Vgl. hierzu auch Wieland: 1985, 610 f. 15 Benjamin maior II, 2 (MPL 196, 80 D): „Etiam temporibus nostris insurrexerunt quidam pseudophilosophi, fabricatores mendacii, volentes sibi nomen facere, studuerunt nova invenire. Nec erat eius cura tam ut assererent vera, quam putarent invenisse nova. Praesumentes itaque de sensu suo, putaverunt se posse facere sibi sapientiae arcam […]“ (zit. nach und übersetzt von Speer : 1995, 296).
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und ihrer Autorität. In ihr erfährt er – existenziell verdichtet – das rettende Gotteswort. In diesem findet er zu einem neu zentrierten Gesamtverständnis der Schrift, das nicht nur in seiner Überzeugung von den verba divina als „Christianorum prima principia“16, sondern auch der Selbstevidenz der Schrift (sui ipsius interpres)17 zum Ausdruck kommt. D.h., die Kriterien für die sachgemäße Schriftauslegung sind nicht von anderen Autoritäten zu gewinnen, sondern allein aus der Schrift, von der Luther zudem überzeugt war, dass nicht die Schrift dunkel und vielgestaltig sei, sondern die vielgestaltigen Väterzeugnisse müssten von der Schrift her gedeutet werden.18
III. Genau diese beiden Perspektiven – die Glaubenserfahrung als Erhellung der eigentlichen religiösen Existenz des Menschen und die neue Autorität der heiligen Schriften, beides ureigene theologische Fragestellungen – wurden nun jedoch, überraschenderweise fast unbemerkt von der philosophiegeschichtlichen Wahrnehmung, richtungsweisend für die Philosophie im 20. Jahrhundert. Im Wintersemester 1923/24 wurde Martin Heidegger nach Marburg berufen, nachdem er für die gleiche Stelle mehrfach zurückgestellt worden war. An seinem neuen Wirkungsort entwickelte sich eine tiefe Freundschaft mit dem Neutestamentler Rudolf Bultmann.19 Ausschlaggebend für diese Berufung – so berichtet der Gadamer-Schüler Otto Pöggeler – sei ein Manuskript gewesen, in dem Heidegger von seinem Versuch berichtete, Aristoteles wieder als grundlegenden Lehrer des Abendlandes darzustellen, und zwar genau in jener Perspektive, in der Luthers Widerspruch gegen diesen gerade zum Ausgangspunkt seiner gesamten Rezeptionsgeschichte gemacht werde (Pöggeler : 2009, 34). Schon vor der Begegnung mit Bultmann hatte sich Heidegger in seiner Freiburger Zeit, so in seiner Vorlesung über Phänomenologie der Religion im Winter 1920/21, auf die Eschatologie der Paulus-Briefe als Model einer faktischen Lebenserfahrung bezogen. In den Vorlesungen des folgenden Semesters über 16 Hier: WA 7, 98, 4 – 6: „Sint ergo Christianorum prima principia non nisi verba divina, omnium autem hominum verba conclusiones hinc eductae et rursus illuc reducendae et probandae.“ 17 WA 7, 97, 20 – 24: „Oportet enim scriptura indice hic sententiam ferre, quod fieri non potest, nisi scripturae dederimus principem locum in omnibus quae tribuuntur patribus, hoc est, ut sit ipsa per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans, sicut scriptum est psal. c.xviii.“ Vgl. hierzu auch die Hinweise bei Steiger : 2004, 1008; darüber hinaus: Scholder : 1966, 124 f; Rothen: 1990. 18 Vgl. hierzu auch die Hinweise bei Ohst: 1999, bes. 417 – 419. Ausführlich: Rothen: 1990, bes. 83 – 95. 19 Vgl. zum Folgenden: Pöggeler : 2009.
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Augustinus und den Neuplatonismus bezog sich Heidegger auf die Heidelberger Disputationsthesen Luthers, um die faktische Lebenserfahrung des christlichen Glaubens, wie sie in den Paulus-Briefen vorzufinden ist, vom griechischen Denken zu trennen.20 Welche Rolle spielte Martin Luther in jenen Fragestellungen, die Heidegger in dieser Zeit entwickelt und die ihn zu seiner hermeneutischen Philosophie geführt hatte? Im Wintersemester 1920/21 hielt der junge Privatdozent in Freiburg die Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion.21 Heidegger entwickelt hier sein Programm, Religion von der Selbständigkeit des religiösen Lebens her zu begreifen. So kann Religion weder durch außerreligiöse, noch durch wissenschaftliche Methoden begriffen werden. In seiner eigenen Auslegung des Galaterbriefes, den Heidegger im Zusammenhang mit Luthers Kommentar las,22 hielt er fest: „Vielmehr muß die religiöse Grunderfahrung herausgestellt werden und in dieser Grunderfahrung verbleibend muß man den Zusammenhang aller ursprünglichen religiösen Phänomene mit ihr zu verstehen suchen.“23 Aristoteles bescheinigte er dagegen eine naturalistisch-theoretische Seinsmetaphysik, der die „Scholastik innerhalb der Totalität der mittelalterlich-christlichen Erlebniswelt gerade die Unmittelbarkeit religiösen Lebens stark gefährdete und über Theologie und Dogmen die Religion vergaß.“ (Pöggeler : 2009, 71). Als elementare Gegenbewegung erscheint ihm die Mystik. Heidegger zitiert hier Begriffe wie Steigerung der inneren Lebendigkeit, Schweigen, überschwängliche Verwunderung, mystische Stille, Begriffe, die auch Johannes Ficker in seiner Einleitung zur Römerbriefvorlesung Luthers verwendet hatte,24 wie sie auch in dessen „Magnificat“ anklingen „Gott widerstehet den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade“25. Mit diesen Anleihen aus der Mystik gab Heidegger die metaphysische Theologie auf, welche von Aristoteles bis Hegel geherrscht hätten. In diesem Sinn schrieb Heidegger in seinen eigenen kritischen Nachkriegsjahren an seine Ehefrau Elfriede: Die Zeiten der Ver-lassenheit und scheinbaren Gottferne sind echtgelebte nur, 20 Die Quelle für Heideggers Luther-Lektüre scheint die Ausgabe des Leipziger Theologen Johannes Fickers (1861 – 1944) „Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515/16“ gewesen zu sein, die im Jahr 1908 erschienen war und die Heidegger als Student der katholischen Theologie in Freiburg 1909 – 1911 benutzt hatte, ehe er das Theologiestudium abbrach. Vgl. hierzu Pöggeler : 2009, 58 f; Pöggeler: 2004, 185 ff. Mit der Herausgabe der Vorlesungen Luthers zu den Paulusbriefen begründete Ficker wiederum die beginnende Luther-Renaissance etwa Karl Holls. Vgl. hierzu BBKL 2 (1976) 29 f. 21 In: Heidegger: 1995, 3 – 156. Vgl. zum Folgenden ausführlich die Darlegungen von Pöggeler : 2009, 56 – 77. 22 WA 2, 436 – 618. 23 Heidegger : 1995, 73. 24 Vgl. hierzu die einleitende Auslegung von Johannes Ficker, in: Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516 bes. LXXXII – LXXXV. 25 Ebd. LXXXIII.
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wenn sie solche sind der vertrauenden Gelassenheit – das ist der starken Gottsicheren Meisterung des Lebens. Seit ich Luthers Römerbriefkommentar gelesen, ist mir vieles vordem Quälende und Dunkle hell und befreiend geworden – ich verstehe das Mittelalter und die Entwicklung der christlichen Religiosität ganz neu; und es haben sich mir ganz neue Perspektiven der religionsphilosophischen Problematik ergeben – mir scheint, Otto z. B. (gemeint ist: Rudolf Otto, Das Heilige) – was ich im Felde noch ganz verworren spürte – auf falscher Fährte zu sein. (Heidegger : 2005, 64 f, 85 f, 100). In der Vorlesung „Grundprobleme der Phänomenologie“ aus dem Jahr 1919/ 20 will Heidegger zum Ursprung des Lebens zurückführen, der selbst begrifflich nicht gewonnen, sondern stets historisch erlebt und damit in stetiger Erneuerung aufgenommen werden muss. Hier verweist er auf die große Revolution gegen die antike Wissenschaft, die jedoch wiederum Aristoteles habe obsiegen und zum Philosophen des offiziellen Christentums werden lassen. Ein verwickelter Prozess, der immer wieder von Ansprüchen der echt urchristlichen Grundstellung unterbrochen wird, bald elementar umfassend wie ein Augustin, bald vereinzelt in der Stille und der praktischen Lebensführung (mittelalterliche Mystik: Bernhard von Clairvaux, Bonaventura, Eckhard, Tauler, Luther). (Heidegger : 1993, 61 f). Was Heidegger also im Blick hat, ist eine Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie, der er eine Verunstaltung der christlichen Existenz vorwarf. Es ist – wie er ergänzt – „ein Abfall vom eigentlichen Verstehen“, wenn „Gott primär als Gegenstand der Spekulation“ gefasst werde. Das ist nur einzusehen, wenn man die Explikation der begrifflichen Zusammenhänge durchführt. Dies ist aber niemals versucht worden, weil die griechische Philosophie sich in das Christentum eingedrängt hat. Nur Luther hat einen Vorstoß in diese Richtung gemacht und von daher ist sein Hass gegen Aristoteles erklärlich. (Heidegger : 1995, 97). Otto Pöggeler berichtet, dass nach der Wahrnehmung des späten Heideggers gerade seine Fragestellungen des Buches „Sein und Zeit“, das 1927 erschien und die Fundamentalontologie begründen sollte, und der in diesem Kontext entfaltete Existenzbegriff sowie die existenziale Interpretation Bultmanns neue Theologie ermöglicht hätten (Pöggeler : 2009, 13 f). Bultmann selbst hatte bekanntlich als ersten Schritt seines Programms der Entmythologisierung nach seiner Wende von der liberalen zur dialektischen Theologie das christliche Existenzverständnis entfaltet. Ausgehend von Begriffen des Neuen Testamentes unterschied er zwischen dem „Sein außerhalb des Glaubens“ (die materielle Welt in ihrer Vergänglichkeit) und dem „Sein im Glauben“ (Sünde, Fleisch, Sorgen) (Nüssel: 2002, 70 – 89).26 Wie immer auch das Ableitungsverhältnis zwischen 26 Vgl. zur Würdigung der Existenztheologie Bultmanns auch Schnackenburg: 1963, 27 – 30.
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Bultmann und Heidegger zu sehen ist: Die existenziale Interpretation der Bibel, wie Bultmann sie seit den 40-er Jahren entwickelt hatte, steht in unverkennbarer Nähe zu Heideggers Fragestellungen, die er bereits in den vorausgehenden Freiburger Jahren entwickelt hatte. Jedenfalls schrieb sich Heidegger sogleich mit seinem Antritt in Marburg im Wintersemester 1923/24 in Bultmanns Seminar über die Ethik des Apostels Paulus ein. Davon berichtete dieser am 23. Dezember 1923 an den Marburger Theologen Hans von Soden, und später auch an Karl Barth: Das Seminar ist diesmal besonders lehrreich, weil unser neuer Philosoph Heidegger, ein Schüler Husserls, daran teilnimmt. Er kommt aus dem Katholizismus, ist aber ganz Protestant, was er neulich, in der Debatte nach einem Vortrag Hermelinks über Luther und das Mittelalter bewies. Er hat nicht nur eine vortreffliche Kenntnis der Scholastik sondern auch Luthers, und brachte Hermelink einigermaßen in Verlegenheit; er hatte offenbar die Frage tiefer erfasst als dieser. (Pöggeler : 2009, 33).27 Am 14. und 21. Februar hielt Heidegger sein Referat über „Das Problem der Sünde bei Luther“, das u. a. von Heinrich Schlier protokolliert worden war.28 Unter „Sünde“ versteht Heidegger einen „Existenzbegriff“, nicht eine Anzahl von Fehlern. „Je mehr die Radikalität der Sünde verkannt wird, desto mehr wird die Erlösung herabgemindert, desto mehr verliert Gottes Menschwerdung an Notwendigkeit.“ (Pöggeler : 2009, 96). Heidegger zitiert auch Luthers 50. These der Heidelberger Disputation „Der ganze Aristoteles verhält sich zur Theologie wie die Dunkelheit zum Licht“, um den Unterschied zwischen der Theologie der Herrlichkeit, die von der Scholastik mit den Griechen gesucht werde, und der Theologie des Kreuzes deutlich zu machen. Wenn Bultmann später in seinem Aufsatz „Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament“ die Sünde als Empörung gegen Gott versteht, die dazu führe, dass der Mensch nicht von sich aus zu seiner Eigentlichkeit gelangen kann, stimmt dies mit den Überlegungen überein, die Heidegger in seinem Seminar 1923/24 vorgetragen hatte.29 Beide verstehen darunter existenziale Strukturen des Menschseins. Für Heidegger scheinen diese Überlegungen aber auch Anlass gewesen zu sein, die existenziale Struktur der Angst, wie er sie in „Sein und Zeit“ ausgeführt hatte, begrifflich stärker zu fassen (Heidegger : 1977, 247 f). Im Gegensatz zur Furcht, die sich immer auf etwas Bestimmtes richtet, fehlt der Angst ein bestimmendes Objekt. Die Angst ist nach Heidegger grundlos, aber dennoch von kaum zu überbietender Totalität. Denn mit ihr wird nicht irgendeine Seite des menschlichen Daseins beschrieben, sondern das ganze Sein des Menschen wird in all seinen 27 Pöggeler bezieht sich auf die Dokumentation von Jaspert: 1996, 26 ff. 28 Vgl. zum Folgenden ausführlich Pöggeler : 2009, 96. 29 Zum Folgenden Pöggeler : 2009, 105 – 118.
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Beziehungen zur Welt in Frage gestellt. Alles Glauben und Wissen brechen zusammen. Es bleibt nur das Dasein in einer absoluten Einsamkeit und Trostlosigkeit. Später wies Heidegger selbst darauf hin, dass Augustinus und Luther, mehr noch Kierkegaard angeführt werden [können] für Erfahrungen, die dem leitenden Daseinsphänomen der Angst zugrunde liegen. Die Angst verweist auf jenes Entgleiten alles Seienden, das die Frage nach dem ,Warum‘ des Seienden und so nach dem Sein weckt. (Pöggeler : 2009, 112) Die weitere Entfaltung von Heideggers Fundamentalontologie soll und kann hier nicht weiter verfolgt werden. Es sollte aber deutlich geworden sein, wie stark Luthers Glaubenserfahrung, seine Erhellung der religiösen Existenz des Menschen, geradezu ein wesentliches Stimulans der Philosophie im 20. Jh. wurde, die – so Günter Figal – ohne Heidegger nicht vorstellbar wäre (Figal: 2000, 1511).
IV. Neben dieser Perspektive der Erhellung der existenzialen Struktur des Menschen, wie sie über Luther und Paulus zu Heidegger und Bultmann geführt hat, wurde auch die zweite Perspektive, ebenfalls eine originäre theologische Fragestellung, und zwar die neue Autorität der Heiligen Schriften nach Luther, zum Ausgangspunkt der neueren Hermeneutik als einer bestimmenden Philosophie des 20. Jh. Als Begründer der neueren Hermeneutik gilt nach Wilhelm Diltheys Preisschrift Friedrich Schleiermacher.30 Dilthey hatte mit seiner Schrift „Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen Hermeneutik“31, die aus Anlass eines Preisausschreibens der Schleiermacher-Gesellschaft 1860 entstanden war, in nuce aber erst durch seine kleine Schrift aus dem Jahr 1900 „Die Entstehung der Hermeneutik“ allgemein bekannt wurde, die zentrale These entfaltet, dass erst Schleiermacher im frühen 19. Jh. eine „wahre, allgemeine Hermeneutik“ entwickelt habe, sofern er hier eine „definitive Begründung einer wissenschaftlichen Hermeneutik“ vorgelegt habe.32 Dilthey war klar, dass es vor Schleiermacher durchaus wissenschaftliche Textinterpretationen etwa in der Antike und in der Patristik, ja sogar Versuche zur Begründung der Hermeneutik gegeben habe, die gleichwohl bis dahin [Schleiermacher] im besten Falle ein Gebäude von Regeln gewesen […] Hinter diese Regeln ging nun Schleiermacher zurück auf die Analyse des Verstehens, also auf die Erkenntnis der Zweckhandlung selber, und aus dieser 30 Vgl. zum Folgenden ausführlich: Scholtz: 2011, 471 – 493. Zu Schleiermachers Hermeneutik nun auch Danneberg: 2009, 211 – 275. 31 Veröffentlicht erst in den Gesammelten Schriften 14/2. 32 Ebd. 5.327.
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Erkenntnis leitete er die Möglichkeit allgemeingültiger Auslegung, deren Hilfsmittel, Grenzen und Regeln ab.33 Wichtig für unseren Zusammenhang ist Diltheys Feststellung, dass in aller Problematik „die hermeneutische Wissenschaft […] erst mit dem Protestantismus“34 beginnt, die er als eine Kunst oder Wissenschaft der Textauslegung begriff. Als Kronzeuge für diese Entwicklung galt ihm Matthias Flacius Illyricus, dessen „Clavis sacrae scripturae“ aus dem Jahr 1567 ihm als erste bedeutende und vielleicht sogar tiefgründigste der protestantischen Schriften zur Bibelinterpretation galt.35 Flacius und auch die anderen Vertreter dieser Frühgeschichte der Hermeneutik seien nach Dilthey jedoch noch ganz in den Bahnen der klassischen und biblischen Hermeneutik verblieben. Der entscheidende Durchbruch zu einer allgemeinen Hermeneutik, der es um die Bedingungen der Möglichkeit von Verstehen überhaupt geht, sei jedoch erst mit der transzendentalen Wende im deutschen Idealismus vollzogen worden. Gegen dieses klassische Bild Diltheys, das also als eine Aszendenzgeschichte gezeichnet ist, beginnend bei der protestantischen Schriftinterpretation bis hin zu Schleiermachers „definitiver Begründung einer wissenschaftlichen Hermeneutik“, ist durch die materialreichen Studien Henry-Evrard Hasso Jaeger in Frage gestellt worden.36 Die These, die Hasso Jaeger anhand umfangreichen Materials, das Dilthey unbekannt bliebt, vortrug, besteht – kurz formuliert – darin, dass der ursprüngliche Ort der Hermeneutik nicht das Schriftprinzip, d. h. die protestantische Dogmatik war, sondern die Logik des Aristoteles. Hasso Jaegers Argumentation war begriffsgeschichtlich orientiert, d. h. er ging der Frage nach, wo der Begriff Hermeneutik erstmals historisch begegnet. Und dies war nachweislich bei dem Straßburger Philosophen und lutherischen Theologen Johann Conrad Dannhauer, dessen Schrift „Idea boni interpretis et maligniosi calumniatoris“ 1630 erschienen war. Die vornehmliche Aufgabe der Hermeneutik, die Dannhauer und andere ihm folgende Autoren verfolgten, war grundverschieden von derjenigen Diltheys, die – wie erwähnt – auf eine allgemeine Theorie des Verstehens ausgerichtet war. Nach Dannhauer erfüllt der gute Interpret dann seine Aufgabe […], wenn er nicht einsichtige Sätze auf ihre logischen Voraussetzungen reduziert und auf Grund dieser Reduktion den wahren vom falsch gedachten Sinn unterscheidet. Die hermeneutica besteht in dem dabei angewendeten analytischen Reduktionsverfahren, das die dunklen Schriftsätze in den Bereich der Erkennbarkeit hinaufführt. Daher hat die hermeneutica mit Deutung oder Verstehenskunst nichts zu 33 34 35 36
Ebd. 5.327. Ebd. 597. Ausführlich hierzu nunmehr: Vanek: 2011, 89 – 122. Studien zur Frühgeschichte der Hermeneutik, in: Jaeger : 1974, 35 – 84.
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tun. Sie ist auch kein ,Vorgang‘, denn sie interessiert sich nicht für einen Denkakt […], sondern nur für den gedachten Sinn. (Jaeger : 1974, 57).
Diese Hermeneutik versteht sich danach nicht wie bei Dilthey als eine hermeneutica sacra, sondern als eine hermeneutica generalis, welche die geeigneten Mittel und Regeln zur Interpretation jeglicher Art von Texten bereitzustellen beansprucht. Jaeger stellte damit der Aszendenzgeschichte der Hermeneutik, wie sie Dilthey gezeichnet hatte, eine andere Hermeneutik gegenüber, die im frühen 17. Jh. als logische Analyse entwickelt worden war, die jedoch schon bald ihr jähes Ende gefunden habe. Auf Hasso Jaegers These (1977, 7 – 16) hatte Hans-Georg Gadamer in einem Aufsatz mit dem Titel „Logik oder Rhetorik?“ geantwortet. Nach Gadamer stehe sowohl hinter Dannhauers Ansatz wie auch hinter der „Clavis Sacrae scripturae“ nicht die Tradition der Logik, sondern die der Rhetorik, wobei hier nun wiederum insbesondere Philipp Melanchthon eine besondere Rolle zukommt. Grundsätzlich folgte Gadamer jedoch der Einsicht Wilhelm Diltheys, dass die hermeneutische Fragestellung als Folge der Neuorientierung der theologischen Dogmatik zu interpretieren ist, die ihren Grund im sogenannten protestantischen Schriftprinzip oder dem „sola-scriptura“-Prinzip besitzt. In seinem grundlegenden Aufsatz „Rhetorik und Hermeneutik“ aus dem Jahr 1976 hatte er diesen Ansatz erneuert und die „Geschichte der hermeneutischen Theorie […] als Abwehr des gegenreformatorischen, tridentinischen Angriffs auf das Luthertum“ gedeutet (Gadamer : 1976, 149). In den vergangenen Jahren haben sich die Forschungen zur Frühgeschichte der Hermeneutik vor allem in der Frage, wie die Hermeneutik in die Logik gelangt ist, nicht zuletzt durch die materialreichen Studien Lutz Dannebergs intensiviert.37 Die Europäische Melanchthon-Akademie in Bretten hatte im Jahr 2006 ein Forschungskolloquium veranstaltet, in dem diese verschiedenen überlieferten und neuen Ansätze der Hermeneutik-Forschung umfangreich diskutiert wurden.38 Wenn man jedoch mit Gadamer daran festhält, dass es „protestantische Theologen waren, die zuerst zu einem gewissen Bewusstsein des hermeneutischen Problems vorstießen“, muss man nach den Ursachen dieses Bewusstseins suchen. Die Antwort auf diese Frage führt zu den zentralen theologisch-dogmatischen Streitfragen der Reformation. Von entscheidender Bedeutung war in diesem Zusammenhang das sog. protestantische Schriftprinzip, d. h. die Überzeugung, dass jegliche Dogmatik ihre Grundlage in den Heiligen Schriften findet. Wenn aber allein diese Schriften unter Ausschluss der Tradition Grundlage und Norm 37 Danneberg: 2001, 75 – 131; 2003, 644 – 711; 1997, 253 – 316; 2005b, 281 – 363; 2005a, 435 – 563; 2006, 11 – 297; 2010, 231 – 283; 2011, 161 – 179. 38 Die einzelnen Beiträge sind dokumentiert in den MSB 11 (wie Anm. 58).
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für die Dogmatik sein sollen, dann muss vorausgesetzt werden, dass diese Schriften aus sich selbst heraus auch verständlich sind. Das war auch die Auffassung, die Luther in die Formel gebracht hatte, dass die Schrift „ihre eigene Interpretin“ sei.39 Wenn die Schrift – wie Gerhard Ebeling darlegte – „durch sich selbst die sicherste, leichteste, offenkundigste Interpretin ihrer selbst [ist], die alles beweist, richtet und erleuchtet“ (Ebeling: 1959, 251), dann ist das hermeneutische Prinzip, dass sich die Schrift selbst auslegt, bzw. dass die Schrift sui ipsius interpres ist, die unmittelbare Konsequenz des dogmatischen sola-scriptura-Prinzips. Sie richtete sich zugleich gegen die Entscheidungsgewalt der römischen Kirche hinsichtlich der Interpretation der Heiligen Schriften: Diese selbst, und nicht ein kirchliches Lehramt, sind das Maß ihrer richtigen Interpretation. Das Tridentinum reagierte auf diese dogmatischen Überlegungen auf seiner 4. Konzilssitzung am 8. April 1546 mit seiner Betonung, dass es allein in die Kompetenz der Kirche falle, über den wahren Sinn und die richtige Interpretation der Heiligen Schriften zu richten (mater Ecclesia, cuius est iudicare de vero sensu et interpretatione Scripturarum sanctarum). Gleichzeitig wurde der Väterkonsens (consensus Patrum) als Interpretationsnorm an die Seite gestellt.40 Begründet wurden diese antireformatorischen dogmatischen Positionen durch Robert Bellarmin41 und andere einflussreiche Theologen des 16. Jh. mit Hinweisen darauf, dass etwa die masoretischen Zeichen (Vokalisation des Hebräischen) erst später hinzugefügt worden seien. Auch fehlten in älteren Handschriften wichtige neutestamentliche Stellen. Darüber hinaus seien die Griechisch-Kenntnisse, über die noch die Kirchenväter verfügt hätten, verloren gegangen. D.h., wenn von römischer Seite die Notwendigkeit der Tradition mit der philologischen Unsicherheit der Heiligen Schriften begründet wurde, so wurde von protestantischer Seite aus die Lehre von der Tradition durch das Prinzip der hermeneutischen Suffizienz der Schrift abgelehnt. Aufgrund der allerdings unbestreitbaren Schwierigkeiten, die ein Verständnis der Schriften 39 Vgl. Anm. 17. 40 DS 1507. 41 Disputationes de controversiis christiane fidei adversus huius temporis haereticos, I – III, 1586 – 1593. Die Analyse der einschlägigen Passagen in Bellarmins Kontroverstheologie durch Thomas Dietrich zeigt gleichwohl, dass dessen Argumentation komplexer war. Auch für Bellarmin war klar, dass nur der sensus literalis mit Sicherheit als sensus Spiritus Sanci gelten könne und von diesem Geist aus die Schrift ausgelegt werden müsse. Wie jedoch die zeitgenössischen Kontroversen mit den Wiedertäufern und Schwärmern deutlich gemacht hatten, reichte eine Berufung auf die Geistbegabung eines Einzelnen nicht aus, die Schrift auf ein unumstößliches Fundament zu stellen. Deshalb wechselte bei ihm der Akzent von der Schriftauslegungs- zur Urteilskompetenz, vom interpretare des Einzelnen zum iudicare der Kirche. Am Ergebnis – hier die Suffizienz, dort die Insuffizien der Schrift – änderte sich damit freilich nichts. Ausführlich hierzu: Dietrich: 1999, 164 – 174.
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nicht selten offenbarte, konnte eine solche Argumentation jedoch nicht einfachhin postuliert werden. Es musste dargelegt werden, durch welche Interpretationsmittel und -regeln diese Schwierigkeiten zu beheben sein könnten. Genau dies ist dann der historische Ort, an dem Flacius Illyricus in seiner „Clavis scripturae“ philologische, historische, rhetorische und logische Hilfsmittel zur Beseitigung der Dunkelheit der Schrift zur Verfügung stellte.42 Damit ist jedoch eher der historische Kontext beschrieben, in den hinein sich die hermeneutische – auf Textverstehen zielende – Rhetorik entfaltet hatte als ihren Ursprungsort oder – wie Gadamer behauptet hatte, bei Melanchthon wie bei dem ersten Begründer der protestantischen Hermeneutik, bei Flacius Illyricus, bildet überhaupt die theologische Kontroverse über die Verständlichkeit der Heiligen Schrift die motivierende Grundlage. Insofern kann die Frage gar nicht aufkommen, ob die Kunst des Verstehens etwa auch den wahren Sinn eines falschen Satzes aufzuschließen berufen sei. Das wird erst mit dem steigenden Methodenbewußtsein des 17. Jahrhunderts anders – wobei Zabarella wohl Einfluß ausübte –, und damit verändert sich auch die wissenschaftstheoretische Anlehnung der Hermeneutik. Das werden wir bei Dannhauer beobachten, der die Rhetorik in den Anhang verweist und die neue Hermeneutik aus der Anlehnung an die Aristotelische Logik zu begründen sucht. Das bedeutet freilich nicht, dass nicht auch er inhaltlich von der Tradition der Rhetorik ganz abhängig bliebe, die eben das Vorbild der Auslegung der Texte bildet. (Gadamer : 1976, 153).
Damit kommt nun – worauf schon Gadamer hingewiesen hatte (1976, 153) – Melanchthons Theorie der Rhetorik, vor allem der bedeutsamsten Neuerung der rhetorischen Theorie eine besondere Rolle zu, und zwar der Einführung des genus didaskalicon als des Lehrvortrages.43 Schon in seinem sog. Hermeneutikkapitel der Tübinger Rhetorik aus dem Jahr 1519 hatte Melanchthon in dem Kapitel „Über die auslegende Gattung“ (de enarratorio genere) eine umfassende Theorie des Verstehens von Texten entwickelt und als dessen doppeltes Verfahren die Explikation des Textinhaltes sowie der Gattungsspezifica vorgeschlagen.44 Während das erste Verfahren in der Paraphrasierung von Textinhalten besteht, wird das zweite als Methode zu kommentieren (De commentandi ratione) beschrieben. Dieses Verfahren ordnet Melanchthon vier Texttypen zu, expositorischen, narrativ-historischen, rhetorisch-argumentativen und poetisch-verschlüsselnden, die entsprechend entweder fürs lehrhafte Erklären, fürs Erzählen, fürs Überzeugen oder fürs Allegorisieren angelegt sind. Die Analyse dieser vier Texttypen und der diesen entsprechenden Interpretations42 Diese Regeln diskutiert Vanek: 2011, 90 – 99 (mit ausführlicher Literatur). 43 Neuere Studien hierzu bei: Leiner, 1997, 468 – 487; vor allem: Knape: 1999, 123 – 131. Zu den antik-mittelalterlichen Voraussetzungen und zur Wirkungsgeschichte: Classen: 2003, 325 – 373. 44 ausführlich hierzu Knape: 1999, bes. 125 – 129.
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verfahren kann man mit Joachim Knape (1999, 129) zu Recht als Melanchthons hermeneutisches Topik-Verfahren bezeichnen, welches das Verstehen von Texten von der Analyse des jeweiligen Redezieles (intentio, scopus orationis)45 sowie den Umständen des jeweiligen Textes (quaerendae circumstantiae)46 abhängig macht. Melanchthon hatte dieses hermeneutische Topik-Verfahren seiner Rhetorik später zweifellos auf die Interpretation biblischer und theologischer Texte, aber auch auf die Predigtlehre angewandt. Historiographisch von Bedeutung ist jedoch, dass er dieses schon in seiner Tübinger Zeit entwickelte Verfahren auf seine erste, protestantische Dogmatik, die „Loci communes“ von 1521, angewandt hatte. Denn bei der Arbeit an dieser Dogmatik bekennt er die Anleihen aus der Rhetorik in einem Brief vom 27. April 1520 an seinen Freund Johannes Heß.47 Für die Frühgeschichte der Hermeneutik bedeutet diese Notiz und die Tatsache, dass die sog. Tübinger Rhetorik, die im Januar 1519 gedruckt wurde, im Wesentlichen schon vollendet war, bevor Melanchthon im August 1518 nach Wittenberg übergesiedelt war und mit den theologischen Ideen Luthers in Berührung kam. Dann verdankt sich diese Frühgeschichte der Hermeneutik nicht erst dem Impuls des protestantischen Schriftprinzips, sondern schon dem neuen Konzept der Rhetorik Melanchthons, das aber unverkennbar in besonderer Weise dafür geeignet war, dieses Schriftprinzip wissenschaftlich zu explizieren. Dabei kann man unterstellen, dass die Heiligen Schriften nach Melanchthon, zumal auch die dogmatischen Kerntexte wie die Paulusbriefe nach genau jenen rhetorischen Regeln verfasst sind, die Melanchthon unter Rückgriff und der Erneuerung der Tradition der Rhetorik vorstellt. Das aber heißt auch, dass die Heiligen Schriften zwar ein rhetorisch vollkommener, eindeutiger und klarer Text ist. Nicht selbstverständlich ist jedoch, dass jeder diesen lesen kann und richtig versteht. Denn nur unter Anwendung des rhetorischen Instrumentariums erschließt sich ihr wahrer Sinn.
V. Am Ende dieser mitunter kursorisch dargelegten Überlegungen steht ein überraschendes, ambivalent scheinendes Bild: Auf der einen Seite scheinen Philosophen – so legt es jedenfalls die gängige philosophiehistorische Wahrnehmung nahe – der Reformation kaum innovative Ansätze von Rationalität, wie immer diese auch zu bestimmen sind, zubilligen zu können. Auf der anderen Seite sind es gerade die beiden originären theologischen Fragestellungen, und 45 CR 13, 423. 46 CR 13, 468. 47 MBW.T 84, 70 – 74.
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zwar die Erhellung der religiösen Existenz des Menschen bei Luther und die neue Stellung der Heiligen Schriften in der Reformation, die in der existenzialen Interpretation bei Martin Heidegger und in dessen Fundamentalontologie sowie in der Hermeneutik als einer universalen Theorie des Verstehens philosophische Wirkung entfaltet haben, welche die Philosophie des 20. Jh. überhaupt bestimmt.
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Michael Weichenhan
Reformation, Rationalität und die Erneuerung der Wissenschaften Mathematische Suche in sich selbst hebt den menschlichen Geist näher an das Göttliche heran, als dies durch jedes andere Medium möglich wäre.1
1 Über Melanchthons Einstellung zu Astronomie und Astrologie, der Naturphilosophie des Aristoteles und zu den Einflüssen Platons, seine Rolle bei der Formung einer „Wittenberger Interpretation“ insbesondere des systema Copernicanum,2 die Verbindung zwischen Naturphilosophie und Protestantismus sind bereits Tausende von Seiten geschrieben worden. Es wäre deshalb vermessen, dem etwas hinzufügen zu wollen, was beanspruchen könnte, etwas prinzipiell Neues zu bringen. Die Gründe für das Interesse an Melanchthon als Naturphilosophen bzw. -theologen sind vielfältig. Auf der einen Seite dominieren theologiegeschichtliche Perspektiven, die sich darauf konzentrieren, die systematischen Zusammenhänge zwischen der Naturphilosophie, wie Melanchthon sie verstand und in Wittenberg etablierte, auf dem Hintergrund der reformatorischen Theologie, spezieller noch der Unterscheidung von Evangelium und Gesetz zu interpretieren.3 Interesse weckte darüber hinaus auch der Nexus, der über Georg Joachim Rheticus zwischen Melanchthon als dem Zentrum der wissenschaftlichen Studien an der Leucorea einerseits und dem Astronomen hergestellt wurde, dessen Hauptwerk zu einer Zäsur in der Astro1 Hermann Weyl, zitiert bei Pickover : 1999, 15. – Lateinische Zitate werden orthographisch stillschweigend normalisiert, Zitate aus klassischen Autoren nach den gängigen Ausgaben, ggf. mit Angabe des Herausgebers, nachgewiesen. 2 Vgl. die Darstellung des Forschungsstandes mit bibliographischen Angaben bei Donahue: 2006, 573 – 581; jüngst ausführlich Westman: 2011, 109 – 179; zur Astrologie insbesondere Caroti: 1986; Rutkin: 2006. 3 Vgl. die beiden in diesem Sinne angelegten ausgreifenden Studien von Kusukawa: 1995 und Bellucci: 1998, vgl. auch Methuen: 1996, 1998, bes. 61 – 106. Der Vergleich von Natur- und Gesetzeserkenntnis in CR XIII, 198. Sachlich bedeutet diese Ausdrucksweise die Unterscheidung von natürlicher und Offenbarungserkenntnis.
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nomie- und Kosmologiegeschichte wurde und dessen Titel die Bezeichnung tiefgreifender Veränderungen als „Revolution“ mindestens mitbestimmt hat, Nicolaus Copernicus’ De revolutionibus. Trotz der wohlbekannten Ablehnung nicht nur durch Luther, dessen gelegentliche Äußerungen sachlich kein Gewicht besaßen, sondern auch durch Melanchthon (CR XIII, 216 f), dessen Urteil schon schwerer wog, ist die Frühgeschichte der Copernicusrezeption mit der Wittenberger Universität und der kirchlichen Reformation verbunden. Neben Rheticus’ Narratio prima, die dem Melanchthon nahestehenden Astronomen Johannes Schöner gewidmet war, und der aus seiner Feder stammenden Abhandlung zur Vereinbarkeit von Schriftzeugnis und copernicanischem System, die 1984 von Hooykaas publiziert und der Vergessenheit entrissen wurde (Rheticus: 1982; Hooykaas: 1984, 43 – 64),4 ist es das später wohl eher missverstandene Vorwort des Nürnberger Pfarrers Andreas Osiander, das für eine günstige Aufnahme der Revolutiones sorgen sollte (Copernicus: 1543, iv–ijr).5 In den Prutenischen Tafeln verwendete der Wittenberger Astronom Erasmus Reinhold Parameter des Copernicus (Reinhold: 1551), und sein im Jahre 2002 edierter Commentarius in opus revolutionum Copernici stellte den ersten astronomischen Kommentar zu dem 1543 erschienenen Buch dar (Reinhold: 2002),6 das damit behandelt wurde wie sein Vorbild, der sogenannte „Almagest“ des Klaudios Ptolemaios. Zwei Erscheinungen des 16. Jahrhunderts, die auf sehr unterschiedliche Weise die folgende Zeit prägten, traten somit nicht lediglich synchron auf, und es bedeutet nicht zu übertreiben, wenn man behauptet, dass die Universität Wittenberg und insoweit mindestens indirekt Melanchthon in der Rezeptionsgeschichte des Copernicus faktisch eine entscheidende Rolle spielte, unabhängig davon, inwieweit dies den Intentionen Melanchthons entsprach oder nicht. Daher legte sich nahe, eine gewisse Konvergenz zu vermuten zwischen dem Anspruch, das Christentum in authentischer Gestalt wiederherzustellen, und einer Sternkunde, die zu einer grundlegenden Veränderung des „Weltbildes“ aus dem Interesse daran führte, die ursprüngliche, d. h. physikalisch korrekte Astronomie zu erneuern, die ausschließlich gleichförmige Kreisbewegungen verwendet, um die Erscheinungen aus ihnen abzuleiten. Hans Blumenberg hat sich – vorgeblich – erstaunt darüber gezeigt, daß die Reformation sich das kopernikanische „Zeichen“ nicht zu eigen gemacht hat. 4 Beide Texte sind, neben anderen, auch in Band VIII/1 der Copernicus-Gesamtausgabe ediert. Zu Rheticus’ Beziehungen zu Melanchthon und zu Copernicus vgl. Danielson: 2006, 42 – 107. 5 In der Ausgabe erschien das Vorwort anonym. 6 Der Kommentar bezieht sich nicht allein nicht auf den gesamten Text, sondern ist darüber hinaus fragmentarisch. So ist bspw. der im Manuskript vorgesehene Platz für Vorbetrachtungen (pqoheyq¶lata) „quomodo videatur [sol] aequabiliter progredi, terra circa ipsam quiescentem mota“, frei geblieben: Reinhold: 2002, 196. Die einflussreichsten einleitenden Kapitel waren offenbar zur Kommentierung gar nicht vorgesehen.
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War hier nicht die prägnanteste Instanz gegen den mittelalterlich-katholischen Anspruch auf Übereinstimmung des Sichtbaren und des Unsichtbaren, auf Kongruenz der Naturordnung und der Heilsordnung gegeben? (Blumenberg: 1975, 374) Der Faden, den er mit der Frage aufnahm, reichte unter anderem zu Wilhelm Dilthey. Dieser hatte, konform der liberaltheologischen Interpretation der lutherischen Reformation, die Verinnerlichung des Glaubens als konstitutiv herausgestellt, wodurch auf die „metaphysischen Schauspiele von Trinität, Weltschöpfung und Menschwerdung“ verzichtet werden konnte (vgl. Dilthey : 1914, 221).7 Dilthey hat Melanchthon freilich nicht im Zusammenhang der Genesis der copernicanischen Welt gesehen. Seine Abhandlung zur Bedeutung Melanchthons für die Entstehung eines „natürlichen Systems“ in Recht und Religion, unverkennbar von tiefer Sympathie geprägt, suchte nicht nach Konvergenzen, die zwischen dem Werk des „praeceptor Germaniae“ und den buchstäblich weltanschaulichen Folgen eines astronomischen Handbuches hatten bestehen können. In all ihrer hermeneutischen Sensibilität verdeutlicht die Studie hingegen wie kaum ein anderer Text, der über Melanchthon geschrieben worden ist, was diesen auch dann attraktiv sein ließ und lässt, wenn seine Auffassungen, etwa auf naturphilosophischem Gebiet, der Sache nach als überholt und damit letztlich als irrig angesehen werden müssen. Dass Dilthey über all dies weitgehend hinwegsah, war selbstverständlich der Hermeneutik selbst geschuldet, die als Historiographie den Fortschritt in den Wissenschaften zu rekonstruieren unterlässt. Deshalb spielte es um so weniger eine Rolle, dass Melanchthon, im Unterschied zu Platon, Aristoteles, Nicolaus Cusanus, Bruno, Leibniz oder Schelling, nicht zu den Philosophen gehörte, die selbst innovative wissenschaftliche Ideen formulierten oder auf aktuelle Entwicklungen reagierten. Melanchthons naturphilosophische Schriften erweisen sich über weite Strecken als ziemlich konventionell, und Dilthey hob diesen Zug zu Recht hervor, wenn er ohne jede negative Konnotation vom Fehlen eines „schöpferischen Vermögens“ sprach und seinen philosophischen Schriften sogar attestierte, kein „neuer Lebensatem“ ginge von ihnen aus (Dilthey : 1914, 162, 187). Mit der Feststellung dieses Defizits aber dürfte Dilthey mehr behauptet haben als er tatsächlich darzustellen beabsichtigte. Verfolgte das Kapitel über den intellektuellen und feinsinnigen Reformator doch das Ziel, folgendes zu zeigen: So treten in Melanchthon die zwei großen geschichtlichen Gewalten, auf denen die geistige Kultur der Zeit beruhte, das wiederentdeckte Altertum und die wiederverstandene Offenbarungsreligion in eine Verbindung, durch welche die geschichtliche Erfassung ihres Verhältnisses in Leibniz und Lessing vorbereitet wird. Und selbst die 7 Zu Diltheys Melanchthoninterpretation vgl. Blum: 2003.
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dritte Macht, die eben erst sich zu entfalten begann, Erfahrungswissenschaften und Naturerkenntnis, machte sich schon Raum in diesem universalen Kopf, als Liebe zu der Astronomie und den geschichtlichen Studien. (Dilthey : 1914, 170).
Gottes- und Welterkenntnis mit „gläubiger Innerlichkeit“ verbunden zu haben erwies sich, wie das Zitat zeigt, also auch aus Diltheys Perspektive als durchaus zukunftsweisend.8 In weniger ergriffenheitsgesättigter Sprache als der des ausgehenden 19. Jahrhunderts ausgedrückt: Melanchthons Leistung bestand darin, Antike und Naturwissenschaft nicht nur christlich zu interpretieren – auch Dilthey räumte ein, dass das viele andere auf vielfältige Weise bereits getan hatten –, sondern sie auf eine bestimmte und neue Weise zu einem Teil der christlichen Lehre zu machen. Konkret hieß das, ihnen zwar eine gewisse Selbständigkeit gegenüber der Theologie zu belassen, sie aber als Äußerungsformen einer wohltätigen Wirksamkeit Gottes aufzufassen. Diese providentielle Aktivität manifestiere sich in Ideen, über die die Seele verfügte, ohne dass diese erst erworben werden. Denn die „angeborenen“ und der gesamten Menschheit eigenen Begriffe müssen jeder konkreten Erfahrung mit der Welt vorausgehen, da sie diese allererst ermöglichen. Dilthey identifizierte genau das als den Kern des Denkens Melanchthons: Das Wissen um die Natur war in einer natürlichen Ordnung verankert, die dem Menschen stets bereits eigen und insofern „innerlich“ war (Dilthey : 1914, 170 f).9 Wobei es sich bei dieser „natürlichen“ Ordnung um eine solche handelte, die der Schöpfer seinem Werk eingeschrieben hatte, zu der eben nicht nur die äußere Natur, sondern auch der Mensch als deren 8 Dass dies alles andere als neu ist, verdeutlicht nicht nur Nicolaus Cusanus, sondern bspw. auch der ab 1564 indizierte Prolog der zwischen 1434 und 1436 entstandenen Theologia naturalis des Raimundus Sabundus, die von Nicolaus, Faber Stapulensis u. a. geschätzt und ab 1484 häufig aufgelegt und übersetzt wurde, vgl. Raimundus Sabundus: 1966, 4*f. Zur Verbindung von Gottes-, Welt- und Selbsterkenntnis bes. 26*f.: „ad utilitatem et salutem omnium christianorum sequitur Scientia libri creaturarum sive libri naturae, et Scientia de homine, quae est propria homini, in quantum homo est. Quae est necessaria omni homini, et est ei naturalis et conveniens. Per quam illuminatur ad cognoscendum se ipsum et suam conditorem, et omne debitum, ad quod homo tenetur, in quod homo tenetur, in quantum homo est, et de iure naturae. (…) Et non solum illuminabitur ad cognoscendum; immo per istam scientiam voluntas movebitur et excitabitur cum laetitia et sponte ad volendum et faciendum et operandum ex amore.“ 9 „Melanchthon führt nun aber den Zusammenhang der Wissenschaften, den geschichtlichen Verlauf der Offenbarung in der Menschheit und die Aneignung dieser Offenbarung im Glauben auf gemeinsame Voraussetzungen in der Menschennatur zurück. Diese ermöglichen eine evidente Verbindung der Erfahrungen in den Wissenschaften (…). Diese Voraussetzungen liegen vornehmlich in dem lumen naturale, dem natürlichen Lichte. Die Lehre vom lumen naturale ist die fundamentale philosophische Lehre im Gedankenzusammenhang Melanchthons.“ Wenige Seiten später (179) erklärt er, es bestünde eine Übereinstimmung des Gottesbewusstsein Melanchthons mit Aristoteles, Cicero, Kant, Humboldt, Schiller, Schleiermacher und Sigwart, nämlich: „Das Bewußtsein Gottes beruht auf dem gedankenmäßigen Zusammenhang des Universums und dem Sittengesetz in der Brust des Menschen.“
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Betrachter gehört. Dilthey lenkte den Blick somit auf die charakteristische Färbung von Melanchthons und seinem Umkreis entstandenen Schriften, die ihre späteren Leser an die hernach „physikotheologisch“ genannte Auffassung von der Natur als weise geordnetes Gebilde, als Kunstwerk und wohltätige Ordnung erinnern.10 Diesen ansprechenden Zug in Melanchthons Schriften hat Dilthey fokussiert. Und auf ihm scheint die dauerhafte Attraktivität der Melanchthonschen Naturphilosophie zu basieren.11 In der Tat haben Melanchthon, seine Schüler und Kollegen vor allem in akademischen Reden, in Einleitungen und Vorworten einem solchen Blick nachdrücklich und beredt Ausdruck verliehen. Es waren Texte, in denen gattungsbedingt intrikate Argumentationen und Details darzustellen sich verbietet. Vielmehr haben sie die Aufgabe, „den Geist der Hörer vorzubereiten, (…) um sie geneigt, aufmerksam und lernbereit zu machen“, wie Melanchthon in der Rhetorik traditionskonform zur Aufgabe des Exordiums äußerte (vgl. CR XIII, 431). Dass Bücher lieber gelesen werden, wenn der Leser über den Sinn der aufzuwendenden Mühe in Kenntnis gesetzt wird, wurde dort nicht nur erwähnt, sondern generell von ihm berücksichtigt (CR XIII, 417).12 Es sind diese programmatischen Texte, die Hörer bzw. Leser davon zu überzeugen suchten, die Bedeutung von Mathematik und Astronomie einzusehen, den Wert von Medizin und Botanik zu schätzen und die Größe klassischer Autoren wie Aristoteles, Galen, Ptolemaios oder Albatenius zu bewundern, in denen all die Topoi begegnen, die den Sinn des jeweiligen Studiums zum einen in seiner Anwendbarkeit auf die Regelung des Lebens sehen. Andererseits, und das betrifft die theologische Dimension, bedeutet intellektuelle Betätigung stets, aufmerksam zu sein auf den, der die Welt geschaffen hat. Angesonnen wird die Haltung, die Welt als Geschenk zu betrachten und dem Geber die schuldige Beachtung entgegenzubringen. Dieser Blick galt und gilt weithin als neu, insofern er mit den oft als ermüdend empfundenen Subtilitäten eines traditionellen Aristoteleskommentars verglichen wird. Dabei gerät freilich aus dem Blick, dass eine Reihe von Unterschieden eben daraus resultieren, dass es sich um rhetorisch gestaltete Einführungsschriften handelte, die entweder zur Lektüre eines bestimmten Werkes oder generell zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der Materie einluden. Ähnliches gilt für die doctrina physica, die durch den Zusatz initia sich als erster Überblick über die verschiedenen Bereiche naturwissenschaftlichen Wissens zu erkennen gab. Dass die dort vorgetragenen Auffassungen trotz der häufigen 10 An Stelle vieler Belege sei lediglich der Anfang eines Gedichts von Melchior Acontius angeführt, der in zwei Versen das Gemeinte verdeutlicht: „Esse rerum autorem, pulcherrima mundi, / si tamen attendis, machina tota monet“ (Melanchthon: 1540, O2v). 11 Dilthey hat die Beziehung zu Deismus und Rationalismus explizit hergestellt (1914, 186). 12 „Legent enim libentius, ubi cognoverint, quam inde auferre debeant utilitatem.“
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Absicherung bei der doctrina bzw. ratio ecclesiae oder bei der göttlichen Ordnung selbst in dem vergleichsweise ausführlichen astronomischen Abschnitt des ersten Buches lediglich ein vages Bild vom eigentlichen Gegenstand und all seinen Problemen erzeugen konnten und ihn deshalb auch nicht ersetzten oder „transformierten“, wusste Melanchthon genau. Der astronomische Teil endete daher mit dem Hinweis auf eine Vorlesung über den Almagest (CR XIII, 292).13 Der folgende Beitrag, in dessen Zentrum die Astronomie als mathematische Disziplin steht, wird auf die hinreichend bekannten Topoi bei Melanchthon selbst nur am Rande eingehen. Stärker richtet er den Blick auf Autoren in seinem Umfeld, Gelehrte also, die sich in erster Linie auf den Gebieten der Philologie und Astronomie betätigten. Er konzentriert sich dabei auf das epistemologische Feld, das in deren Vorreden markiert wird, d. h. beschäftigt sich mit dem Rahmen, in dem Wissen erworben und entwickelt, wissenschaftliche Techniken praktiziert, Texte studiert und kommentiert werden.14 Man könnte ihn als „Wittenberger Interpretation“ der mathematischen Disziplinen bezeichnen. Der Ausdruck wurde, entsprechend der weit verbreiteten Perspektive auf das Innovative sowohl des Copernicus als auch der Reformation, geprägt, um die vorsichtige und allmähliche Öffnung gegenüber der neuen Astronomie zu kennzeichnen, die sich zwar kaum bei Melanchthon selbst, aber in seinem Umfeld feststellen lässt. Hier wird er in einem weiteren Sinne verwendet: Er kennzeichnet dann die hohe Wertschätzung der mathematischen Wissenschaften als eines bedeutsamen, gleichwohl nicht zureichenden Weges der Gotteserkenntnis im Umkreis Melanchthons. Diese Ausweitung erweist sich als sinnvoll insofern, als sie den Blick nicht von vorn herein auf die Rezeption des Neuen fokussiert. Denn es ist Ptolemaios, nicht Copernicus, der den Rationalitätsrahmen der im Netzwerk um Melanchthon betriebenen Astronomie dominiert, und seine Rezeption erfolgt innerhalb dessen. Die bspw. später von Bruno gezogenen kosmologischen Schlussfolgerungen im Blick auf die Vielzahl der Welten und die Unendlichkeit des Universums spielten zunächst weder bei der Aufnahme, noch bei der Ablehnung des systema copernicanum eine Rolle. Jener Rahmen weist, wie sich zeigen wird, u. a. Affinitäten auf zu platonistischen Auffassungen, wie sie im lateinischen Raum seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhun13 Die Lehre der Kirche wird bspw. für die Nichtnotwendigkeit der Himmelsbewegungen in Anspruch genommen, die „libere et contingenter“ geschieht (S. 207). Entsprechend müssen dann die Finsternisse auf das ’mirandum consilium’ Gottes zurückgeführt werden (S. 249). Welche Bedeutung Mond- und Sonnenfinsternisse für Melanchthon und die Gelehrten in seinem Umkreis besaßen, verdeutlicht eine Sammlung entsprechender lateinischer und griechischer Gedichte: Melanchthon: 1540. 14 Zu entsprechenden methodischen Reflexionen zur Historizität von Rationalität in der Wissenschaftsgeschichte vgl. Krafft: 1982, 27 – 32; Daston: 2001, 7 – 27; Rheinberger : 2007, 9 – 13; Breidbach: 2011, 176 – 179.
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derts an Bedeutung gewonnen hatten.15 Bereits hier traten mathematische Disziplinen und Theologie in eine enge Beziehung. Weiterhin schließt sie an die Topik von Vorreden zu insbesondere astronomischen Werken des 15. Jahrhunderts an. Darauf hinzuweisen bedeutet nicht in Abrede zu stellen, dass Melanchthon die Pflege der quadrivialen Fächer theologisch untermauerte und dies mit großer Intensität tat. Gegenüber dem interpretatorischen Ansatz, dies als Resultat der Aneignung der theologischen Einsichten Luthers anzusehen, woraus sich die Umgestaltung der tradierten Naturphilosophie in eine reformatorisch-lutherische ergäbe, wird freilich auf die Linien hingewiesen, die in die Vergangenheit zurückreichen. Dies wird in zwei Abschnitten erfolgen: Zunächst wird von Melanchthons De artibus liberalibus ausgehend der platonistisch Hintergrund skizziert, wobei sich als Leitmotive die Nobilitierung der mathematischen Künste als natürlicher Theologie, der Gedanke der Einheit und der Restauration einer ebenso verlässlichen wie alten Philosophie erweisen. Der folgende Abschnitt wird zu zeigen versuchen, inwieweit Regiomontan und das Prooemium zum Almagest die Auffassungen von der Bedeutung der Astronomie als ein Weg zur Gotteserkenntnis bestimmten und wiederum mit platonistischen und christlichen Gedanken verbunden wurden.
2 Es ist bekannt, dass Melanchthon, Schüler des Astronomen Johannes Stöffler, nicht nur ein Liebhaber, sondern auch ein Kenner und Förderer der Astronomie gewesen ist. Die Vorreden zu astronomischen Werken, akademische Reden und nicht zuletzt die Initia doctrinae physicae legen davon Zeugnis ab. Sein Freund und Biograph Joachim Camerarius hat hervorgehoben, welche Bedeutung der mathematische Zweig der artes liberales als Inbegriff und Grundlage sicheren Wissens für ihn hatte (Camerarius: 1655, 70).16 Die Ausführungen sollen von einem frühen Text ihren Ausgang nehmen, der seinem Lehrer gewidmeten Rede De artibus liberalibus von 1517. In diesem rein humanistischen, vorreformatorischen Text finden sich eine Reihe von Argumenten, die in dieser Weise zwar 15 Das starke Interesse an Platon und neuplatonischen und ihnen nahestahenden Autoren wie Jamblich, Proklos und Macrobius zeigt sich bereits an der Fülle der Editionen, die während des 16. Jahrhunderts v. a. in Basel, Nürnberg, Straßburg erschienen sind; vgl. Varani: 2008, 50 f. FN 44. 16 „Quia vero sciebat omnem humanae scientiae veritatem mathematicis disciplinis contineri, neque sine his aut doctrinam certam, aut stabilem cognitionem esse ullam, quibuscunque modis poterat ad has colendas studia iuventutis invitabat et alliciebat.“ Zitiert auch bei Weidler : 1741, 352.
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beim späteren Melanchthon nicht mehr auftreten, ohne dass er aber die Wertschätzung der mathematischen Wissenschaften bzw. des „Quadriviums“ aufgegeben hätte. Melanchthons prächtiges Encomium der Bildung bietet insofern einen Einblick in einen bestimmten Deutungsrahmen der mathematischen Wissenschaften um 1500, der an dieser Stelle zwar nicht eingehend analysiert, aber mit einigen Punkten wenigstens umrissen werden soll. Melanchthon stellte die Astronomie traditionskonform an die Spitze der septem artes liberales.17 Es war nicht nur wegen des Schwungs der Rede, dass neben ihr auch die Musik, verstanden als Lehre der den Kosmos strukturierenden Proportionen, eine überragende Stellung eingeräumt bekam (CR XI, 11).18 Die Astronomie setze zwar alle übrigen Künste einschließlich der Musik voraus, aber von dieser hieß es, sie sei die einzige, die nicht nur den Blick des Geistes zum Himmel aufrichte, sondern das Himmlische auch wieder auf den Menschen hinabführe: Erigunt aliae ad coelestia mentes nostras, haec una coelo superos ad humana deducit (CR XI, 11). Letztlich lässt sich das bis auf Platons Bemerkung über die Verwandtschaft der harmonischen Bewegungen mit denen unserer Seele und der mäßigenden Wirkung des Rhythmus zurückführen.19 Dem humanistisch gebildeten Melanchthon dürfte bei dieser Bestimmung der Musik allerdings auch die Bemerkung Ciceros über die Bedeutung des Sokrates für die Geschichte der Philosophie im Gedächtnis gewesen sein: Sokrates, der das philosophische Denken vom Himmel in die Städte und Häuser herabgerufen (devocavit) habe, stand am Anfang der Reflexion über die Sitten.20 Dass Musik und „Ethos“ miteinander verbunden sind, ergab sich zwar sachlich aus Platon. 17 Vgl. z. B. Boethius, De institutione arithmetica I 1 (Friedlein, 12); Reisch: 1504, Rvir. Systematisch sind Musik und Astronomie gegenüber dem Paar Arithmetik-Geometrie dadurch verbunden, als sie bewegte Größen behandeln. Zu den unterschiedlichen Serien der mathematischen Künste insbesondere der Antike vgl. Hübner : 1990, bes. 36 f. Aus der Übersicht ergibt sich, dass die Astronomie bereits in der Antike meist die Endposition innehat. Ohne auf mittelalterliche Beispiele näher einzugehen sei nur auf Campanus’ Theorica hingewiesen. Die Astronomie steht an der Spitze der 4 mathematischen Disziplinen, wobei auf eine eingehende Begründung in Form einer praeteritio verzichtet wird: „cuius quanta sit nobilitas et quanta sit pulchritudo, ne fiat sermo concepta mensuratione prolixior, omittamus“ (1971, 138,23–25). 18 „in colophone ac fastigio artium musica et astronomia locantur“. 19 Platon, Timaeus 47d, in der Übersetzung Ficinos: „Atqui et harmonia, quae motiones habet animae nostrae discursionibus congruas atque cognatas (succeme?r 5wousa voq±r ta?r 1m Bl?m t/r xuw/r peqiºdoir), homini prudenter Musis utenti non ad voluptatem rationis expertem, ut nunc videtur, est utilis […] Rhythmus quoque ad hoc videtur esse tributus, ut habitum in nobis immoderatum gratiaque carentem aptissime temperemus.“ Die seit alter Zeit bekannte mäßigende und heilende Funktion der Musik, die Faber Stapulensis in die Wendung zusammenfasst, „est enim musica ut quadam moderationis lex et regula“, wird von ihm am Anfang seiner Elementa an Beispielen illustriert (1514, f. 1r). Vgl. Boethius (Friedlein, 185 – 187); Melanchthon CR XI, 11. 20 Cicero, Tusculanae disputationes V 4, 10.
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Melanchthons Formulierung griff aber unmittelbar auf Boethius zurück. Es war Boethius, der unter Hinweis auf die beim Hörer ausgelösten Affekte die Musik von den anderen mathematischen Künsten so unterschieden hatte, dass diese das Ziel hatten, die Wahrheit zu erforschen, während jene nicht nur einen theoretischen, sondern darüber hinaus auch einen „moralischen“ Aspekt aufweise. Melanchthon hat dazu nicht Boethius selbst lesen müssen: Die Margarita philosophica des Gregor Reisch zitierte diese Aussage.21 Ein zentrales Motiv von De artibus liberalibus lieferte also die Musik, und zwar insofern, als sie weniger zwischen der äußeren Welt und dem Menschen, als vielmehr zwischen der oberen Welt, dem „Himmel“, und dem im Kosmos unten angesiedelten Menschen vermittelt. Versucht man, die Rede philosophiehistorisch zu verorten, so zeigt sich ihr Zusammenhang mit philosophischen Entwicklungen, die Einheit der Welt, den Zusammenhang ihrer Teile untereinander und wiederum diese mit dem göttlichen Schöpfer zu artikulieren. Im 15. Jahrhundert hieß das unter anderem, gegenüber Aristoteles auf ältere philosophische Konzeptionen zurückzugreifen, speziell selbstverständlich auf Platon, darüber hinaus aber auf Pythagoras. Zu erinnern ist beispielsweise an Ficino und, was dem jungen Melanchthon selbstverständlich näher lag, an De arte cabbalistica Reuchlins, der im 2. Buch die Konvergenz zwischen Kabbalah und pythagoreischer Lehre und wiederum deren Vereinbarkeit mit der christlichen aufzuzeigen unternahm (Reuchlin: 2010, 30ff).22 Stets spielten Mathematik, Zahl und Harmonie terminologisch eine konstitutive Rolle – dass die Musik bei Melanchthon jene Funktion der Vermittlung zwischen dem himmlischen und dem irdischen Bereich besaß, resultierte ja aus deren Mathematizität in Gestalt von zahlhaften Verhältnissen. Nun verbindet menschliche Seele und die physische Welt nicht nur die Musik, sondern auch die Astronomie. Platon hatte im Timaeus darauf bestanden, dass beim Anblick der Umläufe am Himmel diese für die Regelung unserer eigenen Vernunft konstitutiv sein sollten.23 An der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert hatte dieser „moralische“ Gesichtspunkt der Beschäftigung mit den Bewegun21 Boethius, De institutione musica I 1 (Friedlein, 179): „Unde fit ut, cum sint quattuor matheseos disciplinae, ceterae quidem in investigatione veritatis laborent, musica vero non modo speculationi, verum etiam moralitati coniuncta sit.“ Daraus zitiert Reisch am Anfang von Buch V (1504, Or). 22 Sowie im gesamten zweiten Buch (170 – 348); vgl. Schmidt-Biggemann: 2003, 35 – 38, Idel: 2008; zu Pico della Mirandolas Kabbalah-Studien vgl. weiterhin Wirszubski: 1967, Wirszubski: 1974; Scholem: 1984, 7 – 18. Melanchthon hegte gegenüber Paolo Ricci zeitweise gewisse Sympathien, die sich allerdings v. a. auf dessen Gegnerschaft zu Johannes Eck beschränkte; vgl. dazu Roling: 2007, 465 – 471. Leinkauf hat auf die philosophiehistorischen Wurzeln des Strebens nach Einheit aufmerksam gemacht: Leinkauf: 2005, 3 – 7, Leinkauf: 2009, 135 – 140. 23 Vgl. Timaeus 47b; 90c – d.
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gen der Gestirne zwar eine etwas andere Bedeutung als bei Platon, gewiss aber nicht an Relevanz und Plausibilität eingebüßt. Wenn Melanchthon sich auf Boethius’ Charakterisierung der Musik bezog, so war ihm klar, dass auf dem Feld der Astronomie ebenfalls ein geistiger Aufstieg und eine sich von oben nach unten entfaltende Dynamik kombiniert sind. Denn der Astronom studiert nicht nur die regelmäßigen Bewegungen der Gestirne, sondern sucht – was wir terminologisch mittlerweile als „Astrologie“ davon allzu scharf unterscheiden – nach deren Zusammenhang mit irdischen Prozessen.24 Diesen Zusammenhang als einen physischen „Einfluss“ der sich regelmäßig bewegendenden Himmelskörper auf die komplizierten Vorgänge in der sublunaren Region zu erfassen war Aufgabe der Sterndeutung. Freilich handelt es sich dabei zunächst nur um die Entfaltung einer physischen Kraft, die sich auf materielle Gegenstände erstreckte. Die Beschränkung des influxus caelestis auf Körperliches galt geradezu als Bedingung dafür, dass die Astrologie überhaupt tolerabel erschien, da sie nur dann die Freiheit des Willens nicht in Frage stellte.25 Weil aber dieser Einfluss quasi physikalisch ist, erreicht er den Geist nur insoweit, als er in bestimmter Weise gewusst wird. Im Unterschied zu den musikalischen Klängen, die die Seele ergreifen und unter Umständen das Verhalten von Individuen beeinflussen, wie das oft angeführte Beispiel des von Davids Saitenspiel beruhigten Königs Saul illustriert, affizieren die stellaren Kräfte beim Menschen nach der gängigen Auffassung zwar seine Dispositionen, rufen aber keine Handlungen oder ein bestimmtes Verhalten hervor. Der Entfaltung der himmlischen 24 Die Durchsetzung der terminologischen Unterscheidung, derer wir uns heute bedienen, dürfte sich erst im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts vollzogen haben; nicht ohne Einfluss wird das weitverbreitete Buch von Reisch gewesen sein, das wie der moderne Sprachgebrauch unterschied (Reisch: 1504, lib. VII tr. 1 und tr. 2). Reinhold gibt eine – nicht ganz zutreffende – Begriffsgeschichte, die (a) terminologisch genau jene Unterscheidung bietet und begriffsgeschichtlich nicht ohne Einfluss gewesen sein dürfte, (b) erkennen lässt, dass Astrologie und Astronomie als klar unterschieden, aber als zusammengehörig verstanden werden. Reinhold: 1551, 1: „Vetus nomen est astrologiae, qua intelligebant olim doctrinam non solum de viribus seu effectibus, verum etiam de motibus siderum ac corporum caelestium. Posterior autem aetas eam doctrinam, quae rationem motus stellarum contemplatur ac numeris persequitur, astronomiam consuevit dicere et astrologiae nomen accomodavit ad solas praedictiones de eventibus, qui astrorum motibus et positu efficiuntur aut significantur in hac inferiori natura.“ Ähnlich Peucer : 1563, A9r – B1r. Das Monumentalwerk des Riccioli definierte ein Jahrhundert später in diesem Punkte ebenso (Riccioli: 1651, 2a): „Astronomia est scientia physico-mathematica de caelestium corporum quantitate terminata et eorum accidentia sensibilia terminante […]. Astrologia est ars divinandi effectus naturales ex astrorum positu et revolutionibus atque adeo pars quaedam est astronomiae practicae.“ Auf die wissenschaftstheoretischen Aspekte ist hier nicht einzugehen. Zur Begriffsgeschichte Hübner : 1990, insbes. 10 – 22 zur Antike. 25 Die beiden Formeln dafür lauten im Anschluss an den 5. Aphorismus des pseudoptolemaiischen Centiloquium: „sapiens dominabitur astris“ und „astra inclinant, non necessitant“. Vgl. Pierre d’Ailly : 1490, a3v : „Inquantum (ut dictum est) constellatio aliqualiter disponit et inclinat humanam voluntatem (…)“. Vgl. Weichenhan (i. Dr.)
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Kräfte korrespondiert deshalb bei einer solchen Betrachtung auf Seiten des Menschen noch keine adäquate Einstellung: Er wäre deshalb den Sternen hinsichtlich seiner körperlichen Ausstattung lediglich unterworfen. Wenn Astronomie und Musik gemeinsam die Spitze des Quadriviums bilden, muss der Zusammenhang zwischen dem Menschen und den Sternen enger sein als dies der nur physische Einfluss bewirken könnte. Eine solche Verbindung zwischen Sternen und dem menschlichen Geist dürfte Melanchthon aus dem Astronomicon des Manilius bekannt gewesen sein. Bei dem astrologischen Lehrgedicht, entdeckt von Poggio Bracciolini und 1473 durch Regiomontan in Nürnberg ediert, handelte es sich um einen ausgesprochen beliebten Text. Bereits bis 1500 erschienen insgesamt sechs Editionen und ein Kommentar (Vgl. Cramer : 1893, 7 – 14; Housman: 1903, I, xi–xii).26 Manilius begann sein großes astrologisches Lehrgedicht mit dem Versprechen, die göttliche Kunstfertigkeit, das Werk der himmlischen Vernunft, also die Gestirne, vom Himmel auf die Erde herabzubringen: Carmine divinas artes et conscia fati sidera diversos hominum variantia casus, caelestis rationis opus, deducere mundo aggredior (…).27
Bereits der Anfang signalisiert, dass es Manilius nicht nur um die erstmalig in lateinischer Sprache erfolgende Darstellung der unterschiedlichen Kräfte ging, die sich von den Sternen in den sublunaren Raum entfalten. Die himmlischen Kräfte nämlich bräuchte man nicht erst auf die Erde herabzuführen, da sie sich auch ohne den Gesang des Dichters in die Welt des Menschen hinein erstrecken. Vielmehr geht es um die Beziehung des Menschen zum Kosmos: Eine Beziehung, die nicht lediglich dargestellt wird, sondern die in seiner Dichtung geradezu Gestalt gewinnt,28 eine Beziehung, die so eng ist, dass der Mensch sich als Teil, ja als Abkömmling der göttlichen Sterne begreift: 26 Der Kommentar stammt von Lorenzo Bonincontri und ist 1484 in Rom erschienen. Dass im Umkreis Stöfflers Manilius bekannt war, erweisen bspw. die Verse aus dem Gedicht von Georg Simler: „Sydera scrutaris humani conscia fati/ Stellarumque vias quaeque sit hora nocens“, die sich auf Manilius I, 1 beziehen (Stöffler : 1513, IIv). Melanchthon hat zu diesem Werk ebenfalls einige Verse beigesteuert, die allerdings einen Einfluss Manilius’ nicht nachweislich erkennen lassen, wenngleich sie selbstverständlich den dort geäußerten Vorstellungen ähneln (a. a. O., XIIv). 27 Manilius I, 1 – 4. Dieser Abwärtsbewegung korrespondiert in II, 135 – 144 die Aufwärtsbewegung von der Erde zum Himmel: „haec ego divino cupiam cum ad sidera flatu ferre“. 28 So insbesondere Manilius II, 60 – 66 und 136 – 149. Vordergründig handelt es sich an beiden Stellen um den Nachweis der Legitimität und die Überlegenheit des Dichters über die Menge (turba), bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass das „göttliche“ Wirken in seiner Dichtung sich manifestiert, so dass sogar die Sterne zu Adressaten seiner Mitteilung werden: „caelo noscenda canam mirantibus astris“ (II, 141).
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[…] nostrumque parentem pars sua perspicimus genitique accedimus astris.29
Den Himmel so zu betrachten, heißt nicht nur zu ihm aufzublicken, sondern sich in ihn „zu versenken“ (descendere), in seine Tiefen hinab- bzw. hinaufzusteigen. Die Erkenntnis des Himmels und seiner Gaben, der munera caeli, ist deshalb nicht auf den Vorgang des Ansehens beschränkt, sondern bedeutet die Einsicht in die Herkunft der Seele, die dabei zu ihrem himmlischen Ursprung zurückkehrt.30 Der Kosmos erweist sich auch hier als einer, durchzogen vom göttlichen pmeOla.31 Deshalb wiederum erscheint die Verschränkung zweier Bewegungsrichtungen als konstitutiv, derjenigen nach oben und nach unten, aber auch nach außen und nach innen. Für Manilius rekapituliert der betrachtende Aufstieg zum Himmel den Abstieg der Seelen von den Sternen zur Erde, wird deshalb die Betrachtung des Kosmos zur Besinnung auf die eigene Herkunft. Das hat zur Folge, dass die Bestimmung des persönlichen Schicksals durch die – ja nur vermeintlich äußeren – Sterne die Verantwortung für das verdienstvolle oder frevlerische Handeln auch nicht aufhebt, sondern sie vielmehr verstärkt.32 In De artibus liberalibus hat Melanchthon freilich auf Manilius und die stoische Sympathielehre nicht ausdrücklich zurückgegriffen. Grund dafür ist, dass es die Zahlen und Proportionen waren, die als Leitfaden der Darstellung dienten. Dass in Astronomie und Harmonik bzw. Musik die Einheit des Kosmos artikuliert wird, die die Verschiedenheit der einzelnen Dinge und Klassen von Gegenständen umgreift, ist nichts anderes als der Wiederschein der mathematischen Struktur des Kosmos. Auch wenn Manilius und Platon hinsichtlich der himmlischen Herkunft der Seelen ähnliche Auffassungen hatten, war es Platon, auf den sich Melanchthon berief. Und zwar unter dem Aspekt einer mathematischen, also einer Spielart der pythagoreischen Philosophie, der zufolge göttlicher und menschlicher Geist in der mathematischen Tätigkeit einander gleichen. In dieser Weise verstanden wurde sie vom jungen Melanchthon empfohlen (CR XI, 11).33 Die Kombination philosophischer Ideen, auf die Melanchthon sich in De artibus liberalibus bezog, weist insoweit Berührungspunkte mit denjenigen auf, die bei Pico della Mirandola34 begegnen und einige Jahre später dann Francesco 29 30 31 32 33
Manilius IV, 884 f. Vgl. insbes. Manilius IV, 876 – 896, auch II, 105. Vgl. die bei Housman: 1903, IV, 118 f. angeführten Stellen. Vgl. Manilius IV, 108 – 118. „Sic Plato !qihle?m philosophari, et he¹m !e· ceoletqe?m commodum afficta notatione dixit, id est semper aeternam veri naturam intelligendo versare.“ Die Bedeutung, die Platon bzw. der Platonismus für Melanchthon besaßen, ist insbesondere durch das opus magnum von Maurer : 1967 herausgestellt worden. 34 Pico spricht in dem Geleitwort zu seinen 900 Thesen, der Oratio de hominis dignitate, von
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Giorgio an den Anfang seiner Harmonia mundi gestellt hatte (vgl. SchmidtBiggemann: 1998, 485 – 503).35 Diesem zufolge hatte die Philosophie seit Pythagoras weitgehend einhellig – interessanter Weise fehlte neben Epikur und den Skeptikern kein Geringerer als Aristoteles – die Auffassung vertreten, wonach die verschiedenen Teile der Welt geeint sind durch das Strukturprinzip der Zahl (Giorgio: 1525, †iiir).36 Es ist die Zahlhaftigkeit, die die Erkennbarkeit der Welt sichert, wobei sich Giorgio vor allem auf den Zusammenhalt, die Proportionalität bzw. den Einklang aller Dinge konzentriert. Denn ist es die zahlhafte Ordnung, also die sich vervielfältigende Einheit, die die Welt buchstäblich strukturiert, so erweisen gerade Zahlen sich als ein verlässlicher Weg zu dem einen Prinzip, das als der göttliche Schöpfer interpretierbar ist. Epistemologisch besitzt die Zahl eine doppelte Funktion. Zum einen ermöglicht sie, das, was sinnlich erfasst wird und somit keine zuverlässige Erkenntnis zulässt, intelligibel zu machen. Bezogen auf die konfuse Vielzahl von Einzelnem, die sich den Sinnen erschließt, stellt die Zahl eine übergeordnete Ordnung dar ; gibt es für die Sinne nur unmittelbar Einzelnes, so ordnet die Zahl einer Vielzahl von Einzelnem einen Wert zu, d. h. bringt sie zur Einheit. Zum anderen erlaubt sie, alles zu homogenisieren. Durch Zahlen wird alles kompatibel bzw. proportionabel. Deshalb ermöglicht die Zahl die Strukturierung der Welt: Sie vereinheitlicht das Verschiedene und macht es zugleich identifizierbar. Dieser zweifachen epistemologischen Funktion entspricht ihr ontologischer Status: Zahlen stehen zwischen noetischer Einheit und der Vielheit der Dinge.37 Philosophiegeschichtlich bewegt man sich damit auf dem Boden des Platonismus: Pico, Giorgio oder Melanchthon verwiesen unter anderem auf die
der ebenso neuen wie auch altehrwürdigen Methode des Philosophierens durch Zahlen, (1557, 326): „Est autem et praeter illam alia, quam nos attulimus, nova per numeros philosophandi institutio, antiqua illa quidem a priscis theologis, a Pithagora praesertim, ab Aglaopheno (d. h.: Aglaophamo), Aphilao (d. h.: a Philolao), a Platone prioribusque Platonicis observata.“ 35 Yates hat Giorgio v. a. im Hinblick auf Einflüsse auf die Philosophie der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts untersucht (1991, 33 – 41). 36 „Si tamen aliqua ratione ex visibilibus istis ad penetralia coelestia et supermundana sublevari cupiemus, illud erit nobis (errore posthabito) unicum iter per numeros, quibus haec inferiora cum superioribus connexa ex harmonica ipsorum proportione se praebent contemplantibus suavissima et ex mutua correspondentia atque vi sibi insita operantibus facillimam viam praestant: Numeris enim omnia disposita sunt, et inde adeo domestici omnibus, ut eis nihil obstet: nam cognati superis ad coelestia familiariter conscendunt: rursusque cum sensibilibus domestice agunt et inde diversas naturas diversosque modos induunt.“ Dies entspricht der Komprimierung der sehr differenziert ausgearbeiteten Lehre von den Zahlen bei Proklos, Theologia platonica IV 29 (Saffrey IV, 87,5–7): „%myhem to¸mum %wqi t_m 1sw²tym B t_m !qihl_m v¼sir di¶jei, p²mta diajosloOsa ja· sum´wousa to?r oQje¸oir eUdesi.“ 37 Dies entspricht in Grundzügen der bei Valla: 1501, I c. 14, referierten Auffassung.
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Platon zugesprochene Epinomis (Giorgio: 1525, †iiir).38 Würde man dem Menschen die Zahl nehmen, so hieß es hier, wäre das Erreichen von wahrer Einsicht ausgeschlossen.39 Es war gerade die Epinomis, die die Kompetenz der mathematischen Disziplinen sehr weit ausdehnte – weiter jedenfalls als die Platonischen Dialoge, in denen sie der Dialektik deutlich untergeordnet war.40 Denn es ist die Sternkunde als höchste der mathematischen Wissenschaften, in der das menschliche Erkennen kulminiert. Nach der platonistischen Schrift galt deshalb der Astronom als der weiseste Mensch.41 Wer die Einheit, das alle mathematischen Disziplinen verbindende Band erfasst hat, dessen „Erkenntnis führt ihn zum edelsten und am meisten glückseligen Leben, nach dem Tode aber in die für die Tugend vorgesehenen Orte.“42 Wahre Einsicht ist somit Einsicht in die Einheit: der lah¶lata und damit auch der des Kosmos als eines beseelten und darum geordneten Wesens. Der Autor der Epinomis, bereits laut Diogenes Laertius Philipp von Opus, der auch an der Redaktion der Nomoi beteiligt gewesen sein soll, ließ die „Dialektik“ damit faktisch von den vier mathematischen
38 „(…) ut perhibet Avenzoar Babylonius, ille omnia rite novit, qui bene scit numerare. Cui Plato adstipulatur dicens in Epinomide, si quis ab hominum natura numerum auferre velit, nullatenus prudentes eos aut scientificos relinquit. Nam anima nihil percipiet sine ratione.“ Dies bezieht sich auf Epinomis 977c. Der Hinweis auf Abenzoar (vermutlich ist der Andalusische Mediziner Abu¯ Marwa¯n ûAbd al-Malik ibn Zuhr, ca. 1094 – 1161, auch transkribiert als „Abumaron“, gemeint, vgl. Giorgio: 2010, 2589 Anm. 16) begegnet in diesem Zusammenhang auch bei Melanchthon: „Abenzoar nosse, inquit, omnia, qui sciat numerare“ (CR XI, 10). Die Quelle, die Abenzoar mit dem pythagoreischen Gedanken in Verbindung brachte und dies außerdem auf ein Zeugnis Albumasars (ca. 787 – 886) zurückführte, dürfte Picos Oratio (Pico: 1557, 327) sein; vgl. auch die vier Thesen „secundum Abumaron Babylonium“ a. a. O., 71, die aber nichts Mathematisches berühren. Noch Pietro Bungo hat aus ihr geschöpft: „Avenzoar Babylonii verbum fuisse scribit Albumasar, omnia scire eum, qui noverit numerare. Quod etiam divinum Platonem respondisse refert Aristoteles, quaerenti Neocli, quare homo sit animal sapentissimum ac prope divinum (…) quia videlicet numeros noverit, quos, inquit, a natura hominis si removeris, etiam ratio perpetuo perierit. (…) De hac re longo sermone in Epinomide Plato, cum asserit inter omnes liberales artes ac scientias contemplatrices praecipuam maximeque divinam esse numerandi scientiam (…).“ (Bungo: 1618, 1 f). Abumaron wird am Anfang von Reuchlins De arte cabalistica als einer der arabischen Philosophen angeführt, die in einer (nicht recht deutlichen) Verbindung mit Pythagoras stehen, so (2010, 40,6 f). Bei Faber Stapulensis wird der Spruch Pythagoras zugewiesen (1514, aiv): „Pythagoras enim sine numerorum praesidio nihil posse sciri contendebat“, so etwa auch bei Apian: 1540, Aiiira. –– Ficino hat die Epinomis als eine Schatzkammer platonischen Denkens bezeichnet (1576, 1525). 39 Vgl. Epinomis 977c–d: eUpeq !qihl¹m 1j t/r !mhqyp¸mgr v¼seyr 1n´koilem, oqj %m pot´ ti vqºmiloi cemo¸leha. Oq c±q #m 5ti pot³ xuwµ to¼tou toO f]ou p÷sam !qetµm k²boi swedºm, ftou kºcor !pe¸g. […] Ovtyr !qihl¹m l³m !m²cjg p÷sa rpot¸heshai. 40 Diese v. a. in Respublica eingenommene Position ist bspw. auch für den mittelplatonischen Didascalicos des Albinos (cap. 7) charakteristisch; vgl. Dillon: 1993, 86 – 90. 41 Epinomis 990a. 42 Epinomis 986c – d.
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Disziplinen absorbieren.43 Als Weg zur Erkenntnis des einen Prinzips besaßen sie damit so etwas wie eine „theologische“ Funktion, und in der Epinomis selbst wurde nicht unterlassen, diese religiöse Komponente herauszustellen. Es versteht sich, dass Leser wie etwa Bessarion, Ficino oder Giorgio auf diese Dimension aufmerksam machten.44 Bereits Gemistos Plethon hatte dem Gedanken der Einheit der Philosophie gegenüber ihrer disziplinären Organisation bei Aristoteles den Vorzug gegeben und sich dabei auf Platon berufen (Masai: 1956, 170).45 Sein Schüler Bessarion verknüpfte in seiner Verteidigung Platons diesen vereinheitlichenden Aspekt der platonischen Philosophie mit dessen Wertschätzung der lah¶lata. Es fiel Bessarion leicht, darauf hinzuweisen, dass Platon in seinen Dialogen der Mathematik generell große Aufmerksamkeit gewidmet und sich somit auch auf diesem Gebiet als kompetent erwiesen hatte (Bessarion: 1503, 11r/v).46 Philosophisch erheblicher ist, dass mit Plethon und Bessarion eine Auffassung vom Status der Mathematik wieder ans Licht trat, die ihre außerordentliche philosophische bzw. theologische Bedeutung zu begründen vermochte. Dass Mathematik oder speziell Astronomie geradezu als Gottesdienst (um eine Formulierung Keplers aufzugreifen) gelten konnte (vgl. Krafft: 1988; Knobloch: 1995), setzt ja voraus, dass es sich bei ihr nicht nur um Operationen im Rahmen von Abstraktionen handelt, die der menschliche Geist vornimmt, sondern um einen Umgang mit einer Realität, die derjenigen der Dinge mindestens gleichkommt. In dem auf Einheit angelegten Platonismus konnten weder die Tugenden je für sich ohne Bezug auf das, was Tugend insgesamt ausmacht, abgehandelt werden, noch ließen sich die Beschäftigung mit Figuren, Zahlen, Proportionen und den sich bewegenden Himmelskörpern lediglich als eine Art Propädeutikum oder intellektuelle Gymnastik für die Philosophie verstehen. Bereits Plethon hatte 43 Zur modernen Diskussion um die Verfasserschaft und einen Überblick über die Lehren vgl. Krämer : 2004, 81 – 93; Napolitano Valditara: 1988, bes. 223 – 226. 44 Bessarion: 1503, 11v, führt die „religio erga Deum immortalem“ an, die in Wendungen des Textes einen gewissen Anhalt hat, vgl. 987a, 989b, 990a. Obwohl Bessarion von der neuplatonischen Interpretation des Einen, das jenseits von Geist und Sein steht („omni mente, omni ente superius“, 14v) und programmatisch von Nähe und Vereinbarkeit platonischen und christlichen Denkens ausgeht, liegt ihm die direkte Verchristlichung Platons fern; vgl. 15r–20r, 66r. Entscheidend in der Auseinandersetzung mit Georg von Trapezunt ist lediglich der Nachweis der gegenüber Aristoteles besseren Vereinbarkeit Platons mit der christlichen Lehre; z. B.: 20r, 39r, vgl. knapp und differenziert Kristeller : 1974, 168 – 171. – Ficino: 1576, 1527, erklärt mit Bezug auf 980d: „Finis hic legum tibi propositus est, ut Dei cultu et vitae puritate optimum atque pulcherrimum exitum consequaris. Mox repetit tria pietatis capita. Primum, ut Deum esse credas. Secundum, ut maximorum simul et minimorum curam habere confitearis. Tertium, ut nullis precibus aut dolis inique flecti eum existimes.“ 45 „Pour Pl¦thon, l’erreur fondamentale d’Aristote est son pluralisme m¦taphysique“. 46 Die Schrift ist 1469 publiziert worden.
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diese Spezifikation nach Gegenstandsbereichen, wie sie für den Aristotelismus, wie er ihn kannte, charakteristisch war, denn auch energisch getadelt. Seine Schrift über die Differenzen zwischen Platon und Aristoteles setzte nicht von ungefähr mit dem Unterschied zwischen aristotelischem und platonischem Gottesbegriff ein, natürlich ohne sich um die Belange der theologischen Orthodoxie besorgt zu zeigen: Der Gott des Aristoteles war lediglich das, was den sichtbaren Fixsternhimmel in Bewegung versetzt – kein Schöpfer der intelligiblen und mittelbar der sichtbaren Welt wie bei Platon. Was jener Kosmologie deshalb fehlte, war ein einheitliches Prinzip, und dieses Fehlen zeigte sich darin, dass für jede der Himmelssphären ein solcher bewegender Geist angenommen werden musste, wobei Plethon dezent darüber hinwegging, dass im Grunde nicht nur 8, sondern bei Aristoteles insgesamt 55 derartige Beweger erforderlich waren.47 Auch wenn die Kritik an Aristoteles an dieser Stelle rein philosophisch war, so nahm sie sachlich einen für die Diskussion des copernicanischen Systems entscheidenden Gesichtspunkt vorweg, womit sich deren verstörende Kontraintuivität kompensieren ließ: Die Kritik an dem beziehungslosen Nebeneinander von Einzelbewegern bzw. für jeden Planeten gesondert zu bestimmende Parameter ohne Rücksicht auf eine Ordnung ihrer siderischen Perioden, die für die traditionelle Astronomie charakteristisch war. Brachte Bessarion die Sprache auf die mathematischen Disziplinen, so ließ sich deren quasi theologische, einheitstheoretische Funktion leicht durch solche Sentenzen eher postulieren als belegen, Gott treibe stets Geometrie oder habe alles nach Maß, Zahl und Gewicht geschaffen. Deren philosophische Bedeutung freilich erschließt sich daraus, dass bei der mathematischen Erkenntnis sich die Seele vom Materiellen gewissermaßen abwendet und in sich selbst zurückkehrt.48 Mathematische Gegenstände sind platonisch interpretiert ja keine Abstraktionen von materiellen Dingen,49 sondern Abbilder der schlechthin einfachen intelligiblen Gegenstände und stehen somit zwischen den einfachen Ideen und den materiellen Dingen.50 Sind sie in der menschlichen Seele bereits in die 47 Plethon, PG 160, 891 – 893. 48 Vgl. Proklos, In primum Euclidis elementorum librum, prol. 1 (Friedlein, 18,17–19): B d( aw lahglatijµ t/r l³m !malm¶seyr 5nohem %qwetai, tekeutø d³ eQr to»r 5mdom kºcour. 49 Dazu insbesondere Proklos, a. a. O., 14,24–17,14. 50 Proklos, a. a. O., 5,11–14, spricht von der lesºtgr t_m lahglatij_m cem_m, und zwar zwischen den pamtek_r !leqisto· oqs¸ai und den peq· tµm tkgm leqista· cimol´mai. Aufgenommen bei Bessarion: 1504, 80v : „in media natura constitutae, partim materiales, partim immateriales sunt“. Gemistos Plethon, De differentiis c. 20 (PG 160, 921 A), in der interpretierenden Übersetzung von Woodhouse: 1986, 208: „And from these Forms the soul derives its enlightenment and apprehends the full extent of mathematical number and mathematical magnitudes, which are the shadows and reflections of intelligibile things according to Plato, who establishes an analogy between them and the intelligible reality similar to that between reflections in water or the shadows of objects of sense in this world to the objects of sense
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Vielheit entfaltet, so existieren sie hingegen in einfacher Form im Geist des Demiurgen. Damit wird nicht nur deutlich, was jenes „Geometrisieren“ Gottes bedeutet – das Denken der idealen und einfachen mathematischen Begriffe –, sondern auch die gerade angeführte Kritik Plethons an der schier prinzipienlosen Kosmologie des Aristoteles verständlich. Die mathematischen Gegenstände, die im göttlichen Geist einfach, ungeteilt und unausgedehnt existieren, sind selbst die Ursachen ihrer Vervielfältigung, die in der menschlichen Seele sich beispielsweise als das Vorstellen eines ausgedehnten Kreises, einer bestimmten Menge von Einheiten manifestiert.51 Auf Grund dieser Beziehung auf den Geist, an der die Seele Anteil hat, insofern sie in sich mathematische Figuren vorstellt und wiederum denkend zurückführt, bedeutet genau letzteres den Weg zum göttlichen Geist.52 Und gerade darin besteht die gewissermaßen „anagogische“ Funktion der Mathematik (Bessarion: 1503, 80v).53 Proklos’ Gebet am Ende der 1. Vorrede des Euklidkommentars macht deutlich, in wie hohem Maße Gottesverehrung und Mathematik miteinander verschränkt waren.54 Sie erschöpft sich folglich nicht darin, das Paradigma methodischen Vorgehens zu sein: Rückführung der Theoreme auf Axiome und einfache Begriffe, des Komplexen auf das Einfache mittels Analysis, umgekehrt Ableitung des Komplexen
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themselves.“ Das kryptisch-knappe Original lautet: )vû ¨m tµm xuwµm 1kkalpol´mgm t¹m lahglatij¹m !qihl¹m ja· lahglatij± lec´hg 1jt²dgm rpod´weshai sji²r te ja· eUdyka mogt_m aQshgt_m pq¹r aqt± t± aQshgt². So auch Bessarion: 1503, 80v : „Enimvero mathematicae res quasi imagines quaedam rerum vere intelligibilium esse videntur, eo fere modo, quo naturalium rerum imagines umbris aut aquis aut speculis representari videmus.“ Dies bezieht sich auf Respublica VI, 509dff., vgl. dazu insbesondere Proklos, a. a. O., 11,5–7: B di²moia t±r t_m mogt_m eQjºmar heyqe? t±r !p¹ t_m pq¾tym ja· "pk_m ja· !leqist_m eQd_m eQr pk/hor ja· dia¸qesim rpob²sar. Ähnlich in Proklos, Theologia platonica I 20 (Saffrey I, 96,7), wo von den t_m mogt_m eUdyka gesprochen wird. Auch Aristoteles kennt die mittlere Position von mathematischen Gegenständen, weist sie freilich, wenn sie als Bestimmung einer Seinsweise verstanden wird, energisch zurück, vgl. Metaphysica I 6, 987b14-29 ; I 9, 992b13–16 ; VII 2, 1028b18–27; sowie die großangelegte Kritik von Ideenlehre und platonischer Mathematikphilosophie in XIII 3 – 9. Vgl. Proklos, In primum Euclidis elementorum librum, prol. 1 (Friedlein 16,27–17,22). Laut Platon handelt es sich um einen Zug vom Werdenden zum Seienden (bkj¹m !p¹ toO cicmol´mou 1p· t¹ em), Respublica 521d, ähnlich 524d – e, 527b, von der Betrachtung des Seienden (B toO emtor h´a) ist die Rede in 525a. „Mathematicis autem, quae in media natura constitutae, partim materiales, partim immateriales sunt, confidunt effici posse, ut mens quo tendit pervenire facilius possit. Quippe triangularem figuram, aut lineam, aut punctum contineri in materia necesse est, constat autem mente abstrahi posse ad usum mathematicae rationis sine ulla materiae praescriptione. (…) solo animi iudicio de iis rebus agunt, quas intelligibiles mathematicas dicimus, hoc est substantiam illam omnino immaterialem atque aeternam, cuius cognitio pietatem affert, religionem, virtutem, felicitatem perfectam, qua una homo vere divinitus ac Deus appellari potest.“ Proklos, In primum Euclidis elementorum librum, prol. 1 (Friedlein 46,15–47,8). Der Gottheit, der der gesamte Kommentar gewidmet ist, wird u. a. dafür gedankt, die Seele wieder zu ihrem Ursprung im MoOr zurückzurufen.
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aus dem Einfachen mittels Synthesis. Sie ist auch Rückkehr des Geistes in seinen Ursprung. Von den hier genannten Texten Plethons, Bessarions oder Proklos’ Kommentar zu Euklid hat Melanchthon, als er in Tübingen die freien Künste feierte, nichts gewusst: der Prokloskommentar wurde erst reichlich 15 Jahre später von seinem Freund Simon Grynaeus ediert. Bekannt ist ihm hingegen Reischs Margarita philosophica gewesen, die unter Hinweis auf die Kirchenväter, vor allem aber die Docta ignorantia des Nicolaus Cusanus, die Relevanz mathematischen Wissen für die Philosophie und Theologie hervorhob (Vgl. Reisch: 1504, lib. VI, tr. 1, P8r).55 Ob er auch die gewaltige Enzyklopädie von Valla kannte, ist ungewiß. Zum mindesten dürfte er mit dessen Ziel sympathisiert haben, alles Wissbare zu umfassen (wobei Metaphysik und Theologie freilich fehlten), und dies nicht nur der Anhäufung von Wissensschätzen wegen, sondern von dem Bewusstsein getragen, der Erwerb von sicheren Kenntnissen sei der Weg, um wahre Einsicht zu erlangen und sich damit Gott zu nähern (Valla: 1501, I ar).56 Melanchthon beschränkte sich in De artibus liberalibus darauf, diesen Hintergrund aufzurufen und so die Bedeutung namentlich des mathematischen Zweiges der freien Künste zu unterstreichen. Sie bestand nicht lediglich darin, den Geist zu üben, sondern ihn empfänglich zu machen für eine göttliche Ordnung. Im engeren Sinne theologische Gedanken spielten hier allerdings, vergleicht man den Text mit denen der erwähnten Autoren, eine eher marginale Rolle. Stärker tritt die Verbindung zwischen dem im Rahmen der artes liberales erworbenen Wissen und der Erkenntnis Gottes in den Werken auf, die nach der Berufung nach Wittenberg entstanden sind, so etwa in der 1521 entstandenen 55 „uti in Ptolemaei cosmographia videre est: omnium corporum caelestium orbium scilicet et stellarum magnitudines per geometriam demonstrantur, ut claret in Almagestis Ptolemaei. Et quod omnibus longe praepono, per ipsam geometricam disciplinam theologiae ac primae philosophiae profundiora rimantur secretius atque contemplantur altius, sicut luce clarius patet in libro, quem vir apprime doctus Nycholaus de Cusa Cardinalis de docta ignorantia scripsit. Et columnae ecclesiae profunda quaedam sacrosancti evangelii mysteria et numeris et mathematicis figuris pandere neglexere minime, pleni sunt illis, quos conscripserunt, commentarii et homiliae“ (Hervorhebung M.W.). Zur frühen Cusanusrezeption vgl. MeierOeser : 1989, 43 – 52, 402; Imbach: 1983, 467, 475 f, zur Klassifikation der Theologie Nicolaus’ als „theologia geometrica“ durch den Albertisten Heymericus de Campo, was sich insbesondere auf das 1. Buch der Docta ignorantia stützt. –– Außerhalb der Betrachtung bleibt an dieser Stelle der Paduaner Aristotelismus, der stark mathematisch und naturwissenschaftlich orientiert war, vgl. Garin: 1981, 13 – 17, und bei Biagio Pelacani da Parma zu einer Unterordnung von Theologie und Metaphysik unter die Mathematik auf Grund ihrer unübertroffenen Genauigkeit geführt hatte, vgl. Federici Vescovini: 2002, 93 – 95, Federici Vescovini : 2003, 332 – 333; in (2002) stellt sie den Einfluss des Paduaner Aristotelismus auf Nicolaus Cusanus heraus. 56 „qui ergo sapientiam aemulatur quique in constantiam fugit, is Deo propinquior accedit.“ Die Gedanken der Mathematikphilosophie des Cusanus sind auch Valla bekannt, vgl. 1501, X, c. 1, nr.
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Rede De studiis theologicis (vgl. CR XI, 41 – 50).57 Hier begegnet jener Komplex von Gedanken, an dem Melanchthon zeit seines Lebens im Grunde festhalten sollte: Das Wissen, das im Quadrivium erworben wird, basiert auf der Einrichtung der Welt, die Gott zu erkennen gibt. Denn sie gilt als „ewiges, erstaunliches und unzerstörbares Bild, in dem Gott und seine Werke wahrgenommen werden“ (CR XI, 46).58 Die Welt als Bild zu bezeichnen heißt, sie als Kunstwerk aufzufassen, das dem geistigen Entwurf des Autors entspricht, dem es seine Existenz verdankt. Diese Einsicht schließt Auffassungen aus, die die Welt, wie laut atomistischer Theorie, zum Erzeugnis von zufälligen Prozessen machen. Demgegenüber eröffnet bereits die Wahrnehmung der Welt, mehr noch das in den artes erworbene Wissen eine wahre und zuverlässige Erkenntnis Gottes. Zugleich markiert die Bezeichnung der Welt als eines Bildes (pictura) weniger eine Nähe zu platonisch-platonistischen Konzeptionen als eine bedeutsame Differenz. Denn der Ausdruck des Bildes als pictura steht metonymisch für das Ergebnis einer kunstvollen, einer überlegten Tätigkeit, besagt also nicht das gegenüber einem „Original“ bzw. einem archetypus metaphysisch schwächere „Abbild“. Der Bezug auf jene Passage des Römerbriefes, die eine indirekte Erkenntnis Gottes aus der sichtbaren Welt postulierte, verdeutlicht, dass die „Zeichen und Spuren“, aus denen auf den Schöpfer geschlossen werden soll, unter denen Melanchthon die Schönheit der Dinge und nicht zuletzt die für den Menschen wohltätige Einrichtung verstand, als Hinweise aufzufassen waren, durch die Gott dem Geist sein unsichtbares Wesen enthüllte. Eine solche Erkenntnis war trotz des Sündenfalls in einem bestimmten Rahmen möglich, ja ihr Erwerb geboten. Es bedarf keines Nachweises, mit welchem Nachdruck Melanchthon auf der Pflege von Wissenschaften und Künsten bestand (vgl. CR XI, 48).59 Freilich, und genau dies steckte die Grenze zu dem antiken Platonismus ab, ließ sich durch den Erwerb von Wissen nur der kognitive Zustand vor dem 57 Zuvor, im März 1519, hatte Melanchthon in einem Schreiben, das 1521 als Vorwort zu Luthers Operationes in Psalmos gedruckt wurde, die rhetorische Frage gestellt, „quid enim prodest scire mundum a Deo conditum esse, ut Genesis iudicat, nisi conditoris misericordiam et sapientiam adores?“ Aus der Akzentuierung von Weisheit und Barmherzigkeit Gottes ergibt sich, dass diese Einsicht den Rahmen philosophischer Erkenntnis überschreitet und dem Christentum vorbehalten bleibt (CR I, 73). 58 „Nam haec pulcherrima rerum machina in hoc condita est, ut sit aeterna, mirifica et indelebilis pictura, in qua Deus et opera eius cernantur, ut Paulus ad Romanos 1 dicit.“ Melanchthon bezieht sich damit auf den locus classicus der natürlichen Theologie, Rom 1, 19 f. 59 „Proinde cum nulla sit philosophia excellentior, nulla sapientia sublimior aut praestantior, quam Deum et opera eius cognoscere, omnes homines sullo studio adniti, et in hoc incumbere debent, ut quamvis iuris scientia, medica arte et similibus haec vita carere non possit (…) et totum vitae cursum eo institutum et eo directum habeant, ut per studium verae religionis (…) ad hanc primae creationis et coelestis generositatis redeant originem.“ Weiterhin bspw. XI, 294; 542; 932; 942.
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Sündenfall näherungsweise wiederherstellen. Nach platonischer Ansicht bedeutete hingegen die Erhebung der Seele zu den sich harmonisch bewegenden Gestirnen, sie auf ihren himmlischen und insofern göttlichen Ursprung zurückzuführen, wie dies Platon im Timaeus formuliert hatte.60 Gott war dann der Grund und das Prinzip all dessen, was die intellektive Seele als geordnet erkennt und die sich bei diesem Erkennen, gemäß der charakteristischen Kreisgangsimagination, selbst ordnend erfährt.61 Der Mensch als Geschöpf hingegen war bei Melanchthon zum ehrfürchtigen Betrachten des exklusiv göttlichen Werkes bestimmt. Er blieb, um die tropische Ausdrucksweise aufzugreifen, Betrachter eines Bildes, glich sich aber nicht dessen Maler an. Dem Quadrivium, insbesondere der Astronomie, kam damit die Funktion der „natürlichen“ Theologie zu, indem sie den Menschen auf den weisen Schöpfer hinwies. Insoweit der Kosmos als Summe von Zeichen auf ihn verwies, trug er einen quasi anagogischen Charakter. Aber die Einsichten in die Ordnung der Welt waren auch, wie etwa bei Eusebios in direktem Bezug auf die mathematischen Künste62 oder bei Augustinus die theologia naturalis der Platoniker,63 mit einer gewissen Ambivalenz behaftet, insofern sie zur adäquaten Gotteserkenntnis nicht hinreichten. Die erhabene Ordnung namentlich der Gestirne ließ sich bestaunen, tatsächlich erschließen aber erst im Lichte der Offenbarung. Ein Unterschied, der eine trennende Linie zu den Auffassungen zog, denen Melanchthon nicht gänzlich fernstand, eben jenen Strömungen pythagoreisch-kabbalistischer Platon- und auch Aristotelesinterpretationen, die sich in Italien im 15. Jahrhundert entwickelt hatten. Melanchthons Lehrer Stöffler hatte die Astronomie ausdrücklich als „theologia naturalis“ bezeichnet, da die Himmelskörper auf Grund ihrer regelmäßigen Bewegungen am meisten geeignet seien, zu Erkenntnis und Bewunderung 60 Timaeus 90a: […] pq¹r d³ tµm 1m oqqam` succ´meiam !p¹ c/r Bl÷r aUqeim. 61 Vgl. bspw. Boethius, Consolatio philosophiae III m. 9, v. 16 f.: „In semet reditura meat mentemque profundam / circuit“. Vgl. Baltes: 1999, 56 – 61. 62 Vgl. Praeparatio Evangelica XIV 10,11 (Lras Bd. II, 288,20–24). Eusebios weist hier genau die platonistische Auffassung zurück, zur Erkenntnis der Wahrheit und damit Gottes sei die Beherrschung der mathematischen Disziplinen unabdingbar. Denn während die Barbaren ohne diese eine fromme und philosophische Lebensweise entwickelt hätten, zeigten die Griechen, dass sie trotz ihrer Mathematik weder über die Erkenntnis des einen Gottes, noch zu einer weisen Lebensführung in der Lage seien (b d³ luq¸our l³m Pam´kkgmar, luq¸a d³ ja· baqb²qym c´mg, to»r l³m s¼m to?r eQqgl´moir lah¶lasim oute he¹m oute s¾vqoma b¸om ouh’ fkyr ti t_m bekt¸stym ja· sulveqºmtym 1picmºmtar !pode¸nei, to»r d³ t_m lahgl²tym 1jt¹r p²mtym eqsebest²tour ja· vikosovyt²tour cecom´mai). Zuvor hatte Eusebios freilich bereits in Abrede gestellt, dass den Griechen die Kenntnis der Mathematik vorbehalten sei. 63 Vgl. Augustinus, Civitas Dei VIII 10: „Deus illis manifestavit intellectu conspicienda invisibilia sua“. In diesem Kapitel markiert Augustinus bei aller Reserviertheit gegenüber der heidnischen theologia naturalis (vgl. VII 5) die Nähe insbesondere der Platoniker zur christlichen Wahrheit.
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Gottes zu führen (Stöffler : 1534, 2).64 Damit schloss der Tübinger Astronom unmittelbar an eine mittelalterliche Tradition an. Für Pierre d’Ailly galt die Sternkunde als natürliche Theologie, die insbesondere unter dem Aspekt der Rhythmisierung der Geschichte durch die Konjunktionen von Jupiter und Saturn sein Interesse fand (Pierre d’Ailly : 1490, a2v).65 Was die Beschäftigung mit den Bewegungen der Gestirne dazu qualifizierte, als Weg zur Erkenntnis und Bewunderung Gottes zu dienen, bestand mit andern Worten darin, was nach moderner Terminologie eher als „Astrologie“ zu bezeichnen ist. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass mathematisch-kinematische Sternkunde und divinatorische Sterndeutung weniger scharf voneinander getrennt waren als das insbesondere seit dem 17. Jahrhundert üblich wurde (vgl. Pedersen: 1978, 303).66 Der Bischof von Cambrai setzte nun nicht allein die Kombination von Himmelsbewegungen und der Entfaltung astraler Kräfte voraus. Wenn die „astronomia“ als eine natürliche Theologie bezeichnet wurde, so war es das Wissen um künftige Zustände, was dafür ausschlaggebend war : Seine „astronomia“ bedeutete eine auf natürlichen Körpern basierende Form prognostischen Wissens. Sie setzte zunächst die Kenntnis um den Zeitpunkt des Eintritts einer Planetenkonjunktion als sicher voraus, also dasjenige Wissen, was auf rein mathematischem Wege mit Hilfe astronomischer Tafeln zu erlangen war. Wissen um die Einflüsse von Aspekten auf das irdische Geschehen hingegen war mit Unsicherheiten behaftet. Denn auch dann, wenn bestimmte Aspekte als Ursachen bestimmter Wirkungen anzusehen waren, führten sie diese nicht in jedem Fall herbei, da ihr Eintreten durch gewisse verborgene Parameter im sublunaren Bereich verhindert werden konnte. Das Vorliegen einer bestimmten Stellung der Planeten war somit keine hinreichende und notwendige Bedingung für das Eintreten von gewissen Effekten, sondern nur eine notwendige (Pierre d’Ailly : 1490, a3v).67 Auf rein mathematischer Ebene erwiesen sich die astronomischen 64 „(…) quod caelestium corporum formas investigantes ad Deum propius accedunt, hac via prima causa potissimum et facilius dignoscitur“; „in Dei cognitionem et admirationem maxime nos inducunt (sc.: corpora caelestia)“; „astronomia haud indigne naturalis theologia nominatur“. Den Einfluss Stöfflers auf Melanchthon hat dargestellt Maurer : 1967, 129 – 170; vgl. Scheible: 1997, 21 – 23. 65 „astronomia non inconvenienter naturalis theologia nominatur, quia sicut superior theologia ad dei cognitionem per supernaturalem fidem inducit, sic ista tamquam inferior ancilla eiusdem subserviens ad divinae cognitionis introductionem per naturalem rationem manuducit.“ Stöffler dürfte sich auf diese Bemerkung direkt bezogen haben. Zur theologischen Bedeutung der Konjunktionenlehre und der damit verbundenen Hochschätzung Albumasars als eines Zeugen der Geburt Christi vgl. Smoller : 2007. 66 „the Middle Ages were imbued with the idea that astronomy, more than any other science, was of immediate relevance to the human situation.“ 67 „Quaedam vero sunt, quae habent causam determinatam, sed tamen fallibilem sicut illa, quae sunt secundum inferiorem naturam, quae ideo habet causam determinatam, quia intentio naturae movet determinate ad unum. Et ideo fallibilem, quia multiplex potest occurrere
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Voraussagen als gewiss, da die Ursachen für einen Zustand vollständig bekannt waren und sie ihn unfehlbar herbeiführten, auf der Ebene der Prognose irdischer Zustände hingegen waren sie mindestens weniger gewiss, weil eben die Wirkung auch nicht auftreten konnte. Was sich dem Astronomen hingegen gänzlich entzog, war ein Wissen um Handlungen, die ihre Ursache im freien Willen und nicht in den Gestirnen hatten. Von ihnen konnte nur durch Offenbarung und Prophetie gewusst werden (Pierre d’Ailly : 1490, a3v).68 Von der Ordnung, die sich im Kosmos manifestiert, war bei Pierre d’Ailly nicht ausdrücklich die Rede. Nicht die Ordnung, sondern das, was sie impliziert, die Voraussagbarkeit, qualifizierte somit die Astronomie bzw. Astrologie als eine natürliche Theologie. Anders bei Stöffler : Auf den Sternen basierte nicht ein Wissen um die Zukunft,69 das sich gegenüber der Prophetie als begrenzt erwies und insoweit nur natürlich war, sondern Erhabenheit und Schönheit des Gegenstandes lenkten den Blick auf den, der dies geschaffen hatte. Dieser Blick erfasste sowohl die mathematische Ordnung wie auch die ordnende Kraft, also etwas eher Physisches. Der eine Aspekt betraf die mathematische, der andere die divinatorische Sternkunde. Zu den Charakteristika der im Umkreis Melanchthons favorisierten Auffassungen über deren Grund und Nutzen gehörte, dass sich der Zusammenhang zwischen beiden ausgesprochen eng gestaltete. Sie schlossen einander nicht nur nicht aus – wie etwa bei Ptolemaios –, sondern gingen in gewisser Weise ineinander über. In beiden vom Menschen unterscheidenen Zweigen des Umgangs mit dem Sternhimmel und dem, was er von ihm wußte, zeigte sich Ordnung, die die gesamte Welt umfasste. Spricht man von der erhabenen Schönheit des Sternhimmels, so darf dies nicht mit demjenigen Verständnis assoziiert werden, das auf den überwältiimpedimentum (…). Et ista potest astronomus aliquo modo scire, non tamen ita certitudinaliter sicut praedicta.“ 68 „Alia vero sunt, quae habent causam indeterminatam et fallibilem, sicut sunt ea, quae procedunt libere ex voluntate humana, quae indeterminata est (…). Et ideo talia non possunt certitudinaliter sciri astronomica seu alia scientia humana, sed solum revelatione divina. Unde, si de talibus sint aliquae theologicae prophetiae, non possunt eis aptari astronomica iudicia.“ 69 Selbstverständlich heißt das nicht, dass Stöffler die astrologische Prognose abgelehnt hätte, ganz im Gegenteil, sondern nur, dass sie an dieser Stelle keine Rolle spielte. Vgl. bspw. nur die berühmte Ankündigung für den Februar 1524 in Stöffler/Pflaum: 1499: „In mense enim Februario 20 coniunctiones, cum minimae, tum magnae, accident, quarum 16 signum aqueum possidebunt. Quae universo fere orbi climatibus, regnis, provinciis, statibus, dignatibus, brutis, beluis marinis cunctisque terrae nascentibus indubitatam mutationem, variationem ac alterationem significabunt, talem profecto, qualem a pluribus saeculis ab historiographicis aut natu maioribus vix percepimus. Levate igitur, viri christianissimi, capita vestra.“ Vgl. Zambelli: 1986, 240 – 242. Durch den Schluss, eine Anspielung auf das apokalyptische 21. Kapitel des Lukasevangeliums (v. 28), wird klar eine endzeitliche Szenerie in den Blick genommen, auch wenn Stöffler dies später angesichts der sogenannten „Sintflutpanik“ relativierte.
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genden Eindruck des nächtlichen Himmels abzielt, der dem Betrachter eine ungleichmäßige Verteilung von Lichtpunkten bietet und ihn insoweit gerade etwas Unfassbarem konfrontiert. Eine solche Einstellung, für die in der Antike gerade ein Atomist, Lucretius, empfänglich gewesen zu sein scheint,70 ist nicht gemeint. Im Blick stand vielmehr der durch Großkreise gegliederte Himmel der Astronomen, der 1022 Sterne in 48 Sternbildern und sieben Planeten enthielt, die sich durch 12 Tierkreiszeichen zu je 308 bewegten, die mit den gleichnamigen Sternbildern nicht identisch waren. Also die Ordnung, die sich der unmittelbaren Wahrnehmung des gestirnten Himmels ebenso wie die unhörbare musica mundana entzieht und allererst dem Auge des Geistes sichtbar wird. Bei dieser Ordnung handelt es sich um die des sichtbaren Kosmos selbst, nicht um eine lediglich konstruierte. Wie weit der Realitätsanspruch tatsächlich reicht, ob er auch hinsichtlich des Modells der astronomisch leistungsstarken exzentrischen Deferenten und Epizykel zu halten sei, das zur Wiedergabe der Planetenbewegungen zwar tauglich war, aber naturphilosophisch mindestens als problematisch galt, war bereits heftig diskutiert worden und ließ nach philosophisch besser fundierten Lösungen suchen.71 Unterhalb der Auseinandersetzung um derartige Modelle erzeugte mindestens Plausibilität, dass jene Ordnung, die die Astronomen auf der Basis mathematischer Parameter errechneten, 70 Vgl. Lucretius II, 1030 – 1037. 71 Das Problem der Divergenz zwischen zur Rettung der Erscheinungen tauglichem Modell und dem, was naturphilosophisch laut Aristoteles erforderlich wäre, hat Fracastoro am Anfang des zuerst 1538 publizierten Homocentricorum liber knapp so formuliert, (1555, Av): „Si enim homocentricis uterentur, apparentiam non demonstrabant, si vero eccentricis, melius quidem demonstrare videbantur, sed inique et quodammodo impie de divinis illis corporibus sentiebant situsque illis ac figuras dabant, quae minime caelum deceant. (…) Ita nullo hac in re (quod dignum esset) invento monstrosa quidem hactenus et magna ex parte imperfecta permansit astronomia (…).“ In einer freundlichen Reaktion erklärt Contarini ihm gegenüber, sich ebenfalls nie von dem Modell des Ptolemaios habe überzeugen können, (1571, 238): „nunquam potuit a gravissimis etiam auctoribus persuaderi eam esse figuram eosque motus caelestium corporum, quales Ptolomaeus caeterique astrologi prodiderant nobis“. Versuche, die Theorien Ptolemaios’ den Anforderungen der aristotelischen Physik entsprechend zu revidieren und homozentrische Sphären zu verwenden, sind seit al-Bitru¯gˇ¯ı ˙ (Alpetragius), dessen astronomisches Werk Kita¯b al-hay’a zunächst durch Michael Scotus aus dem Arabischen, 1528 nochmals durch Calo Calonymos aus dem Hebräischen übersetzt und 1531 publiziert wurde, wiederholt unternommen worden; sie dokumentieren philosophiehistorisch den Einfluss des AverroÚs, vgl. Kren: 1968, Sabra: 1984, Knobloch: 1996. Vgl. AverroÚs: 1562, 118G/H : „(…) apparet esse impossibile epicyclum esse. Impossibile enim est, quod corpus, quod circulariter movetur, moveatur nisi in circuitu centri. Et similiter impossibile est de eccentricis, nisi esset possibile, quod inter corpora coelestia esset aut vacuum, aut corpora replentia, non rotunda naturaliter, neque mota (…)“. Melanchthon hielt es wohl nicht nur aus didaktischen Gründen für angezeigt, die berechtigten Einwände des AverroÚs als Ausdruck von „perversitas et petulantia“, generell als „calumnia“ und „argumenta b²mausa“ zu verunglimpfen: CR XIII, 232. Zur Epistemologie astronomischer Modelle vgl. Knobloch: 2008, Weichenhan: 2008, bes. 105 – 110 zu AverroÚs.
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am sichtbaren Himmel bestätigt fanden, sie also nachrechneten, den Deus geometer erahnen ließ, der alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet hatte. Das konnte nicht nur mit Worten der Bibel, sondern auch mit Argumenten aus Platon und dem frühen Platonismus gestützt werden. Hatte Gott dem Menschen doch das Gesicht gegeben, um den Himmel zu betrachten und darin die Bewegung des Geistes zu erkennen, wie es im Timaeus hieß.72 Einer der Gründe, so Platon in den Nomoi, die zum Glauben an die Götter führen, bestehe in der Ordnung der Umläufe der Gestirne und alles dessen, was von der Vernunft beherrscht wird.73 Und schließlich ließ sich aus der Epinomis sogar der nicht nur bei Melanchthon des Öfteren begegnende Gedanke herleiten, dass bestimmte kosmologische Einsichten dem Menschen nicht nur gegeben, sondern ihm „gezeigt“ seien (5deinem ja· de¸jmusim).74
3 Wertschätzung der Mathematik bzw. der mathematischen Disziplinen prägte die Wittenberger Universität, vor allem war sie charakteristisch für Melanchthon selbst und eine durch persönliche Kontakte zusammengehaltene Gruppe humanistischer Gelehrter. Freilich erweist sich der Ausdruck „Wertschätzung“ als zu blass. Wertschätzen konnte man die Mathematik ja auch dort, wo man ihr unbeschadet der operationalen Sicherheit ihrer Beweisverfahren den Charakter einer Wissenschaft absprach, da ihr Gegenstand allein das Akzidenz der Quantität darstelle.75 Sie galt vielmehr als theologisch relevanter Weg zur Gotteserkenntnis, wobei nicht zuletzt aus der traditionell antiken Klassifikation nach der Natur des Wissensobjektes die Überordnung von „erster Philosophie“ bzw. „Theologie“ über die Mathematik resultierte. Die Unterscheidung der theoretischen Wissenschaften in eine erste Philosophie, deren Objekt das unveränderliche und damit „göttliche“ Sein darstellt, Mathematik und Physik war das nicht zuletzt durch Aristoteles sanktionierte und weitgehend akzeptierte Muster zur Einteilung von Wissenschaften und dem jeweiligen Habitus entsprechenden Objekten. Freilich ließ sich diese Klassifi72 Timaeus 47b. 73 Leges 966d – e. 74 Epinomis 978c; vgl. 976e. Vgl. Grynaeus’ Vorrede zu Ptolemaios: 1538, der den Zusammenhang zwischen Offenbarung und wissenschaftlichem Wissen stark hervorhebt (a3r – a4r passim), auch Reinhold: 1549, A5r/v : „sapientia monstratrix Dei“; Reinhold: 1551, a4r : „homines docti (…) excitantur, primum ut celebrarent Deum conditorem huius mirandi operis, deinde ut gratias agant, quod monstravit motus (…)“. 75 Diese Auffassung begegnet bspw. bei Velcurio: 1540, 6: „Mathematica solam quantitatem continuam vel discretam tractat a subiectis et corporibus abstractam, non quidem revera, sed imaginatione tantum“.
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kation in dieser und jener Weise modifizieren. Und zwar beispielsweise derart, dass die Astronomie unmittelbar als der Mathematik zugehörig und auf Grund ihres Bezugs auf die unvergänglichen, „göttlichen“ Himmelskörper an deren Spitze stand, eine Positionierung, wie sie im Grunde etwa der Epinomis entsprach. Als einflussreich und für die Hochschätzung der Sternkunde konstitutiv erwies sich das Prooemium, das Ptolemaios seinem „Almagest“ vorangestellt hatte, in dem er mit wenigen knappen Strichen die epistemologische Position der Astronomie umriss. Ausgehend von Aristoteles unterschied er jene drei theoretischen Wissenschaften mit der Mathematik zwischen erster Philosophie bzw. Theologie und Physik.76 Der Unveränderlichkeit ihres Objektes wegen verfügte sie dieser gegenüber über einen Vorzug, den sie prinzipiell mit den Gegenständen der ersten Philosophie teilte.77 Freilich war deren eigentliches Objekt, der unsichtbare und unbewegte Gott, der menschlichen Erkenntnis derart entzogen, dass von ihm alles andere als eine sichere Erkenntnis möglich zu sein schien, vielmehr ein unentwirrbares Durcheinander von Meinungen herrschte. In beiden Fällen gab es, freilich aus verschiedenen Gründen, kein sicheres Wissen: Auf der einen Seite verhinderte das die Bindung des physischen Objekts an die veränderliche Materie, auf der entgegengesetzten die Ferne gegenüber der Wahrnehmbarkeit. Gewißheit, wie sie für wissenschaftliches Wissen charakteristisch ist, vermochte demzufolge im Grunde allein die Mathematik zu bieten. Letzteres stellt eine Auffassung dar, die sich aus Aristoteles selbst nicht belegen lässt. Die folgende Synopse erfasst den wissenschaftstheoretisch bedeutsamen mittleren Teil zur Mathematik und ihren für Ptolemaios wichtigsten Teil, die Astronomie, in den drei Übersetzungen, die um 1500 zur Verfügung standen: zunächst die aus dem Arabischen gefertigte Übersetzung von Gerhard von Cremona, die im lateinischen Raum dominierte; der gedruckte Text der Einleitung basiert auf der Übersetzung des Bagdader Gelehrten Al-Hagˇgˇa¯gˇ.78 Die ˙ 76 Vgl. Aristoteles, Metaphysica VI 1, 1026a19–32. 77 Vgl. Aristoteles, Metaphysica I 2, 982a25f. , hier allerdings nicht mit Bezug auf die Mathematik ausgesagt, sondern analog zur Empfehlung der Mathematik/ Astronomie bei Ptolemaios auf die erste Philosophie bezogen. Unabhängig von der Zuweisung einzelner Auffassungen zeigt sich bei paralleler Lektüre des Prooemiums des Almagest und jenes Kapitels der Metaphysik (982a4 – 983a23) entscheidende Gemeinsamkeiten: (a) die jeweilige Wissenschaft wird ihrer Sicherheit wegen geschätzt, hat (b) einen konstitutiven Bezug zum Göttlichen und ist (c) im strengen Sinne selbstzwecklich. Eine noch höhere Erkenntnis ist (d) nicht möglich. Ptolemaios gab darüber hinaus noch zu verstehen, dass die Mathematik auch eine moralische Bedeutung hatte; vgl. Almagest I 1 (I, 7,17–24 Heiberg). 78 Editio princeps ist Ptolemaios: 1515, nach der hier zitiert wird. Burnett: 2010, 131 – 139, bietet eine Synopse beider lateinischer Versionen nach al-Hagˇgˇa¯gˇ (H’ und H) sowie nach der ˙ ibn Qurra. Der Text der editio Übersetzung von Hunain ibn Isha¯q, überarbeitet von Ta¯bit ¯ ˙ Version H,˙ weist aber einige Abweichungen princeps gehört zur auf; der hier gebotene
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zweite Spalte bietet den Text, den Gregor von Trapezunt aus dem Griechischen übersetzt und 1451 fertiggestellt hatte; publiziert wurde sie 1528 freilich erst, nachdem die astronomiegeschichtlich bedeutende Epitome des Johannes Regiomontan erschienen war.79 Dessen Übersetzung des einleitenden Kapitels erfolgte ebenfalls direkt aus dem Griechischen.80
Gerhard von Cremona (1) Speciem vero indicantem demonstrationem specierum formarum et motus eorum, quae localiter moventur et qualitatem et magnitudinem et tempus et figuram et quae his similia existunt, sigillatim ponam et vocabo eam proprie nomine scientiae.
Gregor von Trapezunt Quod autem formarum progressivorum motuum naturam ostendit, figurae insuper ac magnitudinis et haec multitudinis, loci, temporis atque similium scientia scrutatur. Id doctrinae genus mathematicum esse definiet.
Regiomontan Id autem, quod species motusque locales qualitatis manifestat, figuram ac quantitatem tum discretam tum continuam, item locum et tempus et similia quaerit, mathematicum iuste appellabit.
(2) Et haec quidem natura quasi medium tenet inter illas duas naturas, non tantum quoniam possibile est, ut intelligatur secundum sensum, sicut species comprehenditur naturalis, et absque sensu etiam, quemadmodum species comprehenditur theologica. Verum etiam quia cum in omnibus essentiis existit actu, ipsa etiam temperantia communiter existit in omnibus essentiis mortalibus et immortalibus et quae corrumpuntur et non corrumpuntur.
Quippe res istae inter duas superiores consistunt. Non solum, quia et sensu et absque sensu percipi possunt. Verum etiam quia omnibus simpliciter rebus tam mortalibus quam immortalibus accidunt.
Quod vero inter duo praedicta locum habet, non solum quoniam et per sensum et absque sensu percipi potest, sed etiam quoniam omnibus simpliciter entibus accidit, tum mortalibus, tum immortalibus.
Auszug entspricht den Abschnitten (9)–(16) bei Burnett. Zur Übersetzung vgl. Kunitzsch: 1974, 83 – 99. 79 Editio princeps der Übersetzung von Georg von Trapezunt (Ptolemaios: 1528), nach der hier zitiert wird; Regiomontan kritisierte sie scharf, der Versuch, sie zu ersetzen, konnte allerdings nicht realisiert werden. Allerdings wurde 1496 in Venedig die Epytoma Ioannis de Monte Regio in Almagestum Ptolemaei gedruckt, die teilweise eine neue Übersetzung bot, zum größeren Teil aber eine Überarbeitung des Textes Gerhards darstellt; hier nach der zweiten Auflage 1543 zitiert. Zur historischen Bedeutung der Epitome vgl. Swerdlow/ Neugebauer: 1984, 50 – 54; vgl. auch Pedersen: 2011, 19 – 22. 80 In der Ausgabe von Heiberg entspricht der Auszug S. 5,25–7,10. Zum Prooemium vgl. Boll: 1894, 69 – 76; Pedersen: 2011, 26 – 32.
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(Fortsetzung) Gerhard von Cremona (3) In eis autem, quae corrumpuntur, existit cum alteratione formae, quae non separatur a materia. Sed in eis, quae non corrumpuntur sive in natura caelesti remanet in forma sua absque alteratione. (4) Quapropter dico, quod dua reliqua genera divisionis theoricae sola estimatione cognoscuntur et non scientiae veritate comprehenduntur, theologicum videlicet, quia nunquam videtur neque comprehenditur, naturale vero propter motionem materiae et levitatem eius cursus et velocitatem suae alterationis et parvitatem suae more. Quare convenientia sapientium nunquam in eis expectatur. (5) Genus vero doctrinale ipsum solum replet eum, qui ipsum studiose reponit. et vehementi investigatione inquirit, scientia permanente vera absque alteratione et contrarietate, quoniam demonstrationes, quae in ipso sunt, secundum vias sunt in quibus non est ambiguitas, cum assumantur ex scientia numeri et mensurae.
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Gregor von Trapezunt Cum in iis quidem, quae semper mutantur, secundum separabilem formam commutentur, in iis vero, quae perpetuae naturae ac aetereae sunt incommutabilem formae immobilem sevent. Quia igitur hinc intelleximus duo speculationis genera coniecturae. Magis quia certioris scientiae nomine appellari posse, cum theologicum incomprehensibile sit. Naturale autem propter instabilitatem materiae vix percipi possit atque propterea nunquam de ipso convenire posse philosophantes arbitremur.
Regiomontan Nam illis, quae semper mutantur, communicatur secundum motum localem, aeternis vero secundum immobilitatem atque immutabilitatem formae suae.
Solum vero mathematicum (siquis recte ipso utatur) firmam et immutabilem scientiam afferent, quoniam demonstratio arithmetica geometricaque via et ratione procedit, quibus dubitatio longe abest.
Solam autem mathematicam signis attentis accedendo ad eam certam et indelebilem scientiam studiosis suis generare confitetbitur. Siquidem eius probationes per certissimam arithmeticae geometriaeque scientiam fiant.
Quo fit, ut alia duo speculationis genera coniecturam potius quam scientiam aliquis nominabit, theologiam quidem propter eius nimiam obscuritatem et incomprehensibilitatem, naturalem quidem propter continuum et incertum materiae fluxum, propter quod neque speculari quis possit philosophos de ea concordes esse futuros.
144 (Fortsetzung) Gerhard von Cremona (6) Nos autem volumus, ut in tota hac scientia, inquantum possumus, desudemus et praecipue in scientia corporum caelestium. In hac namque scientia semper fit investigatio et consideratio de rebus, quae semper sunt uno modo. Quapropter possibile est, ut haec scienta per seipsam comprehendatur propter sui declarationem et sui ordinis bonitatem, uno modo semper existentis, quod quidem proprium est scientiae verae. (7) Haec quoque non parum valet ad reliquorum duorum modorum scientiae et praecipue scientiae dei excelsi. Ipsa namque est scientia et via ad sciendum deum altissimum propter rationem cum perscrutatione et intellectu, quae et eis similia vere et manifeste significant deum, qui non alteratur et non movetur neque est accidens neque est factus, quia ipsa est semita ducens ad eum.
Michael Weichenhan
Gregor von Trapezunt Placuit huis generi pro viribus maxime subvenire ac praecipue illi eius parti, quae de divinis atque caelestibus corporibus est. Sola enim haec de perpetuis (quae semper eodem modo se habent) considerat. Et propterea ipsa quoque potest sine confusione semper eodem se modo habere ac percipi, quod proprium scientiae est.
Regiomontan Ob quas res nos etiam compulsi sumus, quo fieri possit omnem quidem speculationem, sed eam praecipue, quae circa ea, quae semper et eodem modo se habeant, consideret, et ideo possibilis sit primo quidem in sui ipsius comprehensione, cum nihil obscurum, nihil inordinatum ibi sit semperque et eodem modo se habeat, quod proprium est scientiae,
Ad cetera quoque genera (non minus quam illa) ipsa conferre videtur. Haec enim ad theologicum genus viam maximam praeparat.
deinde etiam ad aliarum intelligentiam non minus quam ipsimet cooperetur. Nam et ad theologiam scientiam haec maxime nos ducit,
(in margine:) Nam et ad theologicam scientiam haec maxime nos ducit, quum sola possit recte considerare immobilem et inseparabilem substantiam ab earum vicinitate, quae sensibilibus quidem moventibusque ac motis, aeternis vero et impassibilibus substantiis accidant, tum circa ordines motuum.
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(Fortsetzung) Gerhard von Cremona (8) Ipsa namque sola tamen de rebus semper permanentibus perseveranter inquirit et est de rebus, quae sunt ex genere considerationis eius, quod non alteratur et aestimatio ipsius absque opere vicinatur accidentibus, quae sunt in revolutionibus et ordinibus motuum, qui sunt in substantiis sensibilibus moventibus et motis sempiternis, in quibus non existit diversitas.
Gregor von Trapezunt Nam sola recte propinquitatem accidentium sensibilibus substantiis et moventibus quidem motisque. Perpetuis vero atque impassibilibus, motibus quoque ipsi motuumque ordinibus, immobilem et separatum actum intelligere quodammodo potest.
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Regiomontan cum sola possit recte considerare immobilem et inseparabilem substantiam ab earum vicinitate, quae sensibilibus quidem moventibus ac motis, aeternis vero et impassibilibus substantiis accidant, tum circa ordines motuum.
Bereits auf den ersten Blick fällt der Unterschied in der Länge der Abschnitte (2) und (7) ins Auge. Ptolemaios hatte, ganz im Rahmen der Mittelstellung des c´mor lahglatijºm, das er in seiner Einleitung thematisierte, die Verbindung zu dem Gegenstand der philosophischen Theologie lediglich gestreift. Ohne dass an dieser Stelle auf den arabischen Text eingegangen werden könnte, verstärkte der lateinische an beiden Stellen unübersehbar die gleichsam „theologische“ Funktion der mathematischen Gegenstände. Sie seien „actu“ in allen Wesen enthalten, sowohl den vergänglich-materiellen wie den unvergänglichen. Sie bilden eine ontologische Ebene, die beide Existenzweisen miteinander verbindet. Das Ziel des Ptolemaios, die Mathematik gegenüber den beiden anderen theoretischen Wissenschaften aufzuwerten (so in [2] und [3]), wird dadurch noch einmal unterstrichen. Die Mathematik abstrahiert nicht nur von der Materie der körperlichen Dinge, was hinsichtlich der individuellen Materie ja bereits die Physik tut, sondern ihr Objekt ist unvergänglichen und vergänglichen (physikalischen) Gegenständen gemeinsam. Dies erweist sich insbesondere im Blick auf die Astronomie, die die zwar bewegten, gleichwohl unvergänglichen Himmelskörper betrachtet, als hilfreich. Denn diese verliert damit den Status einer teils physikalischen, teils mathematischen (insoweit nach mittelalterlicher Terminologie „mittleren“) Wissenschaft.81 Die Abschnitte (3) und (4) zeigen, 81 So bspw. Thomas von Aquino: 1959, q. V, a. III ad 6 et 7, S. 188 f. Eine solche Auffassung begegnet noch bei Riccioli, dessen Almagestum novum sich an diesem Punkt deutlich vom Almagest unterscheidet. Riccioli (1651), 2a : „Astronomia est scientia physico-mathematica de caelestium corporum quantitate terminata et eorum accidentia sensibilia terminante. Subalternatur enim physicae, quatenus caelorum ac siderum mutationes sensibiles aut sensibilium in illis accidentium varietatem considerat; cuiusmodi sunt figura, color, lumen, umbra, locus, situs, ordo, distantia motusque. Sed mathematicae potissimum subalterna est,
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dass die Mathematik als Ganze, also im Sinne der Behandlung kontinuierlicher und diskreter Größen,82 vermittels der Sternkunde eine Mittelposition erhält, insoweit sie zwischen dem Unveränderlichen, also dem Göttlichen, und dem veränderlichen Materiellen steht. Da die Veränderlichkeit abgesehen von der Ortsveränderung auf die Materie zurückgeführt wird, die laut Ptolemaios wiederum eine gewisse Erkenntnis nicht zulässt, erweisen sich die mathematischen Objekte wie abgetrennt. Dies würde der von Aristoteles kritisierten platonischen Auffassung nahestehen und in diese Richtung scheinen die über den originalen Text des Ptolemaios hinausgehenden Bemerkungen bei Gerhard jedenfalls zu tendieren.83 Aus Ptolemaios selbst lässt sich gegenüber Aristoteles freilich ein Unterschied, aber sicher kein Gegensatz entnehmen, da er zu diesem Problem keine Position bezog. Denn hier sprach ein Astronom, der sich, anders als der Philosoph Aristoteles, nicht in einer Auseinandersetzung um konkurrierende Auffassungen um zentrale Lehrstücke der Alten Akademie befand. Sein Problem war nicht die metaphysische Frage, ob die mathematischen Gegenstände real abgetrennt existieren. Die herausgehobene Stellung, die der Mathematik zukommt, war getragen von der geradezu selbstverständlichen Annahme, dass mit den Himmelskörpern solche Entitäten im Blick stehen, die auch nach Aristoteles unveränderlich waren, bei denen von einer veränderlichen Materie gar nicht mehr abstrahiert zu werden brauchte. Die Gestirne genügten als solche der mathematischen Darstellung. In ähnlicher Weise hob der Zusatz im Abschnitt (7) die Nähe der unveränquia praedicta accidentia non considerat praecise, ut affectiones naturales aut sub quaecunque alia ratione, sed quatenus sub certam ac terminatam quantitatem cadunt, sive illa continua, sive discreta sit, et sive permanens sive succesiva“ (Hervorhebungen getilgt). Riccioli favorisierte gegen Clavius somit (a) den wissenschaftlichen Vorrang der Physik gegenüber der Mathematik, die lediglich Akzidentien verwende und deshalb keine streng beweisende Wissenschaft wie Metaphysik und Physik sei, (b) die Konzeption der Astronomie als einer scientia media. 82 Der Mathematik in diesem Sinne entspricht bei Aristoteles die „Mathematik allgemein“, die sich nicht auf ein bestimmtes Gebiet von Dingen bezieht, Metaphysica VI 1, 1026a27, B jahºkou pas_m joim¶, genannt werden hier Astronomie („!stqokoc¸a“) und Geometrie. Das Paar Geometrie – Astronomie (bzw. Astrologie) begegnet in der griechischen Literatur wiederholt, u. a. bei Platon (vgl. Hübner : 1990, 46 f), und hat hier offenbar den Sinn, das Umgreifende der ,Mathematik allgemein‘ zum Ausdruck zu bringen, deren Objekte von den Dingen abstrahiert sind. Nach der in XIII 3 gegen die Auffassung von der abgetrennten Existenz der lah¶lata vorgebrachten Ansicht besteht das Allgemeine der Mathematik (t± jahºkou 1m to?r lah¶lasim) in Größen und Zahlen (t± lec´hg ja· oR !qihlo¸), die an wahrnehmbaren Dingen vorkommen, aber praktisch wie selbständige Objekte behandelt werden, und zwar so „wie man eben von ihnen spricht“, toiaOt² ce oXa k´cousi (1077b17 – 1078a5). Vgl. Bechtle: 2007, 132 – 136; auf die Auseinandersetzung mit den sehr weitreichenden Thesen einer „mathesis universalis“ als alle Wissenszweige umfassende Disziplin in der Antike, wie sie Napolitano Valditara (1988) vorgetragen hat, ist hier nicht einzugehen. 83 Vgl. Metaphysica I 6, 987b14–18 ; XIII 9, 1086a10f.; XIV 3, 1090b35f.
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derlichen mathematischen Gegenstände zu denen der ersten Philosophie hervor, insbesondere zu Gott, der wiederum durch die Attribute „excelsus“ und „altissimus“ nicht nur als ein unbewegt Bewegendes, sondern als ein Gott von religiöser Relevanz identifizierbar war. Mathematik auszuüben, ganz besonders die Astronomie, bedeutete somit einen Weg zu Gott zu beschreiten, wie gleich zweifach hervorgehoben wird. Sowohl bei Georg von Trapezunt wie bei Regiomontan „fehlte“ diese Passage selbstverständlich, mit denen zwar der Text des Ptolemaios zwar nicht inhaltlich verfälscht, aber doch anders akzentuiert und vor allem in die Welt des Islam bzw. des Christentums eingepasst wurde. Luca Gaurico, Herausgeber der Ausgabe von 1528, hat freilich auf diesen Akzent nicht verzichten wollen: Die Marginalie, die sich direkt auf die Abschnitte (7) und (8) bezieht, konzentrierte den Leser der gesamten Einleitung auf die Funktion der Astronomie, zur „theologica scientia“ zu führen.84 Und zwar genau in dem Sinne, dass das Unsichtbare aus dem Sichtbaren und dessen mathematisch erfassbarer Ordnung erkannt werden konnte, die sich in den regelhaften Bewegungen manifestiert. Dieser weit verbreitete Gedanke begegnete bspw. in seiner 1507 in Ferrara gehaltenen Rede zum Lobe der Astronomie, die am Beginn der Werkausgabe von 1575 steht (Gaurico: 1575, 7 f).85 Zuvor hatte den Topos bereits Regiomontan aufgegriffen. In dem der Epitome vorangestellten Schreiben an Bessarion, der einst eine Neuübersetzung des Almagest angeregt und mit dem er in Rom bis 1463 daran gearbeitet hatte (vgl. Regiomontan: 1543, 2 f), empfahl er die Astronomie mit dem Argument, ihr Gegenstand, der Himmel, sei einem „Spiegel“ vergleichbar, in dem die unermessliche und bewundernswerte Macht des Schöpfers sichtbar werde (Regiomontan: 1543, 1 f).86 Es erscheint bemerkenswert, wenn der große Astronom hier den doppeldeutigen Ausdruck des Spiegels verwendete. Denn „speculum“ besagte einerseits die Darstellung, hatte aber auch den Sinn, etwas Defizitäres bei der Erkenntnis zu kennzeichnen. Denn laut Paulus sehen wir Gott vorläufig nur „in speculo in aenigmate“. Was sichtbar ist wie der Himmel, gibt als Abbild 84 Sie ist dann auch in die kommentierten Edition der Übersetzung des Georg von Trapezunt durch Schreckenfuchs übernommen worden, Ptolemaios: 1551, 1b. In Reinholds zweisprachiger Ausgabe des ersten Buches hingegen fehlt ein entsprechender Hinweis, vgl. Ptolemaios: 1549, 46r/v. 85 „Omnibus igitur liberalium artium professionibus constat utilem esse astronomiam. Manca quidem est omnis ars omnisque scientia, ubi mathematicarum disciplinarum cognitio defuisse invenitur. (…) Haec est, qua caelestium corporum formas investigamus. Haec est, quo propius ad Deum ipsum accedimus. (…) Si dialectici (sc.: estis), ingenii vestri acumen acuet certissima et dignissima matheseyn astronomia, si philosophi naturalium rerum, primas causas effectusque demonstrabit astronomia, si divini, hoc est theologi, divinitatem vobis potissmum divina patefacit astronomia“ (Hervorhebung M.W.). 86 „Habet profecto praestans haec atque insignis disciplina excellentiam quandam materiam ac scitu perdifficilem, caeleste videlicet corpus, in quod, si tanquam in speculum direxeris aciem, immensam quandam et vere admirandam creatoris virtutem intuebere.“
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etwas zu verstehen – es veranschaulicht das Unsichtbare. Die Formel, die Nicolaus Cusanus dafür 1460 gefunden hat, lautet: mundus igitur revelat suum creatorem, ut cognoscatur, immo incognoscibilis Deus se mundo in speculo et aenigmate cognoscibiliter ostendit.87 Aber es dürfte nicht nur die Mittelbarkeit dieser Einsicht gewesen sein, die für die Wahl des Wortes ausschlaggebend war. Anders als Ptolemaios selbst hob Regiomontan die enormen Schwierigkeiten hervor, die die Astronomie bereithält. Und zwar einerseits in der Form, die sie im Almagest gefunden hat, als äußerst kompliziertes mathematisches Handbuch, das seinen Lesern intellektuell viel abverlangt. Andererseits aber auch, weil das, worauf sich die mathematischen Modelle bezogen, selbst nicht ohne weiteres gewusst wurde. Die Bemerkung, die Astronomie habe ein Objekt, das zu erkennen äußerst schwierig sei (materia scitu perdifficilis) signalisiert das Wissen um die Differenz zwischen dem mathematisch Erfassten und den bewegten Himmelskörpern. Regiomontan, der die Geschichte der arabischen Astronomie und ihre kritische Aneignung der ptolemaiischen Theorie gut kannte, darüber hinaus ein gewandter beobachtender Astronom war, wusste um die zahlreichen Probleme, die die Sternkunde seiner Zeit aufwies. Zwar gibt sich, so lässt sich deshalb wohl interpretieren, in den Sternen die Macht des Schöpfers zu erkennen, aber es ist kein klares Bild, das der Spiegel bietet. Anders als bei Ptolemaios ist es deshalb nicht das formale Objekt der mathematischen Astronomie, das an dieser Stelle den Hinweis auf den göttlichen Schöpfer trägt, sondern die Sterne selbst. Freilich bedeutete das keine ausschließende Alternative, sondern lediglich eine unterschiedliche Nuancierung. In der Vorrede zur Epitome schloss sich eine nahezu hymnisch gestaltete Passage mit einer Anspielung auf Manilius an, die den Menschen, positioniert in der Mitte des Kosmos, als Betrachter des Himmels vergegenwärtigte. Gepriesen wurde freilich nicht der Mensch, sondern das, was sich seinem Blick darbot. In der 1464 in Padua gehaltenen Rede über den Wert und Nutzen der Mathematik, die eine Vorlesung über die Rudimenta astronomica des Alfarganus einleitete,88 wurde jene hochgestimmte Passage wieder unmittelbar auf die Astronomie selbst bezogen. Es waren nicht die Gestirne, sondern die Sternkunde, die als „immortalis Dei nuncia“ bezeichnet wurde (vgl. Regiomontan: 1537, b4v).89
˘
87 Trialogus de possest n. 72 (Opera omnia XI/2, 84 f.) mit Bezug auf 1. Cor. 12,13. 88 Der Kita¯b fı¯ gˇawa¯mi ilm al-nugˇu¯m des al-Farg˙a¯nı¯ wurde von Johannes von Sevilla übersetzt und 1537 von Melanchthon erstmals ediert. 89 „Tu es procul dubio fidelissima immortalis Dei nuncia, quae secretis suis interpretandis legem praebes, cuius gratia caelos constituere decrevit omnipotens, quibus passim ignes sidereos, monimenta futurorum impressit. Tales spectare iussit astrorum choros, dum mortalibus ora daret sublimia rerum conditor, dignum profecto arbitratus quae universis praefecerat creaturis medium medium inter eas considere, ut pede quidem calcante terrenis imperare videtur, fronte autem surgente atque erecta divinis frueretur deliciis. Quid enim iucundius? Quid amoenius? Quid denique suavius afficere oculos potest, quam illa tot
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Auch an diese auf Ptolemaios’ Einleitungskapitel fußende Tradition des engen Bezuges von Sternhimmel bzw. Astronomie und Theologie knüpfte Melanchthon an, und zwar, soweit dies überhaupt möglich ist, weitgehend nahtlos. Freilich waren derartige explizite theologische Bezüge bei Regiomontan äußerst selten, nicht zuletzt wohl deshalb, weil er die Beschäftigung mit Mathematik und Astronomie nicht erst begründen musste. Im Vorwort zu einer seiner wissenschaftshistorisch wichtigsten Publikationen, der Edition der Rudimenta Alfrargani (sic) und De motu stellarum des Albatenius90 samt Anmerkungen Regiomontans sowie dessen Paduaner Rede, stellte Melanchthon explizit den Bezug zu dessen Arbeiten her.91 Wenn er in der Vorrede das Argument brachte, dass mathematische Fähigkeiten, die sich in Chronologie und mathematischer Astronomie äußerten, den Menschen von den wilden Tieren unterschieden, so nahm das unmittelbar eine Wendung aus Regiomontan auf. Selbstverständlich ging es nicht um die Unterscheidung von den vernunftlosen Lebewesen, sondern darum, dass die Vernunft, die die regelmäßigen, also „gesetzmäßigen“ Bewegungen der Himmelskörper erfasste, damit schließlich auch an Gott und die eigene Unsterblichkeit erinnert wurde (Melanchthon: 1537, a3r ; CR III, 404).92 Johannes Schöner, durch Melanchthons Vermittlung seit 1526 Lehrer am Aegidianum, verband Wittenberg mit Nürnberg als derjenigen Stadt, in der Regiomontan mit dem Aufbau eines Zentrums astronomischer Forschung begonnen hatte.93 Aus Regiomontans Nachlass gab er 1533 dessen Dreieckslehre
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tantorum luminum venustissima atque ordinatissima series? Eo quippe si rapiaris animo experieris nihil te unquam sensisse in omni vita delectabilius. Per hanc disciplinam angelicam non minus immortali deo propinqui reddimur, quae per caeteras artes a beluis segregamur.“ (Hervorhebung M.W.) Die kursiv gesetzte Passage entspricht Regiomontan (1543), 2. Das „mortalibus ora daret sublimia rerum conditor“ bezieht sich auf Manilius I, 715 (resupina facit mortalibus ora), wo freilich Subjekt der das Erstaunen erregende Regenbogen (Iris) ist. Die lateinische Übersetzung des Kita¯b al-zı¯gˇ des al-Batta¯nı¯ stammte Platon von Tivoli. Zur Bedeutung des Albatenius für die Astronomiegeschichte vgl. Hartner : 1968, II, 201 – 210. Melanchthon (1537), a2r, CR III, 400. Eine ähnliche Widmungsvorrede hatte Melanchthon ein Jahr zuvor an Johannes Schöner gerichtet, die dessen Tabulae astronomicae, 1536 in Nürnberg erschienen, vorangestellt wurde; vgl. CR III, 115 – 119, hier zitiert nach der Wittenberger Ausgabe von 1587 als Schöner (1587). „Quid enim distaret hominum vita a beluina, si non anni et temporum iustam descriptionem teneremus, si nullas motuum leges intelligeremus, quae ob hanc causam etiam praepositae sunt, ut nos de Deo opifice et de nostra immortalitate admoneant“. Im Hintergrund von Regiomontans und Melanchthons Unterscheidung des Menschen von den Tieren steht Ovid, Metamorphosen I, 84 – 86. Zur Interpretation im Sinne des Menschen als „contemplator caeli“ vgl. Sabinus: 1589, 7: „(figura hominis) documentum est finis, ad quem homo creatus est: nempe ad agnitionem Dei et contemplationem rerum caelestium, quarum spectaculum ad nullum aliud genus animalium pertinet“. Vgl. Melanchthons Lobgedicht auf Schöners Bild am Anfang der Werkausgabe (Schöner : 1561, bivv ; CR X, 586), das ihn als jenem anderem fränkischen Astronomen ebenbürtig preist.
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heraus; der repräsentative Druck, der auch die Auseinandersetzung Regiomontans mit Nicolaus’ Arbeiten zur Kreisquadratur umfasste, gehörte zu den Werken, die Joachim Rheticus bei seinem Besuch in Frauenburg Copernicus schenkte (Regiomontan: 1533; vgl. Rheticus: 1982, 251 FN 4). Schöner war, wie Melanchthon bereitwillig anerkannte, ein mathematisch sehr versierter Astronom, darüber hinaus von ausgeprägtem Interesse an der Astrologie. Bezog sich Melanchthon auf Regiomontan als den überragenden Astronomen des 15. Jahrhunderts, so bedeutete das nicht nur, einen großen Namen zu nennen. Zusammen mit Schöner und Joachim Camerarius, Rektor des Aegidianums, setzten sie in gewisser Weise in der Tat dessen Arbeiten fort, beispielsweise in Form von Editionen wie die erwähnte der Werke der beiden arabischen Astronomen und Regiomontans Einleitung in Alfarganus. Wie bei Regiomontan selbst erstreckte sich das Interesse nicht allein auf den mathematisch-kinematischen Zweig der Sternkunde, sondern auch auf die divinatorische Astrologie. Im Jahre 1535 erschien in Nürnberg, wiederum gestützt auf dessen Nachlass, die erste griechische Ausgabe des wichtigsten Werkes der Astrologie, des Opus quadripartitum bzw. der Tetrabiblos des Ptolemaios, die Camerarius herausgegeben und mit einer Übersetzung versehen hatte (Ptolemaios: 1535).94 Gewidmet war sie dem Markgrafen Albrecht von Brandenburg-Ansbach und Herzog von Preußen, der der reformatorischen Bewegung und besonders mit Nürnberg auf vielfältige Weise verbunden war. In seiner Vorrede unterstrich Camerarius die hohe Bedeutung von Kunst und Wissenschaft für eine wohltätige Regierung, nicht ohne schmeichelnd die Verdienste des Fürsten zu erwähnen, und kontrastierte sie der unkultivierter Gewalttätigkeit, die monströsen Figuren wie den Kyklopen glichen. Jene wilden Einsiedlern an dieser Stelle ins Feld zu führen hieß selbstverständlich zu verstehen geben, wie nahe Barbarei und Gottesleugnung, Bildung und Gottesverehrung je einander standen: Camerarius führte in Übersetzung jene Verse an, in denen Polyphem seine Missachtung der Götter kundtut (Ptolemaios: 1535, iijr).95 Auch Melanchthon liebte es, an Epikureern und Kyklopen diejenige Einstellung zur Welt zu exemplifizieren, die sich vorsätzlich blind stellte gegenüber der planvollen Gestaltung der Welt. Die Suche nach Weisheit kulminiere, wie Camerarius unter Hinweis auf die Epinomis 94 Die Ausgabe enthält neben dem Text der Tetrabiblos noch die Ptolemaios zugeschriebene Aphorismensammlung Jaqpºr, Fructus, eine vollständige Übersetzung der ersten beiden Bücher zur Universalastrologie, auszugsweise Übersetzungen aus den der Individualastrologie gewidmeten Büchern 3 und 4 sowie textkritische Anmerkungen durch Camerarius, die Übersetzung des Fructus durch Giovanni Pontano, eine Schrift des mittelalterlichen Astrologen Matthaeus Guarimbertus „de radiis et aspectibus planetarum“ sowie die astrologische Aphorismensammlung eines gewissen Ludovicus de Rigiis. Die Tetrabiblos war bereits 1484 (zusammen mit dem Fructus, versehen mit dem Kommentar, der unter dem Autornamen Haly lief) in einer lateinischen Übersetzung gedruckt worden. 95 Odyssee 9, 273 – 278.
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feststellte, in der Beschäftigung mit den Sternen, die zu betrachten Gottes Willen entspreche (Ptolemaios: 1535, iijv).96 Am Anfang seiner Tabulae, die im ersten Teil eine einführende Darstellung in die mathematischen Verfahren enthielten, um Planetenstände zu berechnen, betonte Schöner nicht nur die Erkennbarkeit Gottes aus den Werken seiner Schöpfung im allgemeinen, sondern auch, dass die Ordnung der Himmelsbewegungen den Menschen in die Lage versetze, Zustände im sublunaren Bereich zu prognostizieren (Schöner : 1587, 1).97 Hier war zwar nicht der Gedanke maßgebend, dass die mathematische Astronomie auf Grund der Gewissheit, die ihr Gegenstand verbürgte, den mathematisch exakt modellierbaren Bewegungen der Gestirne, einen Eindruck von der Natur des Göttlichen vermittelt, sondern er betonte die Geordnetheit der Welt insgesamt, die sich in der Beeinflussung des Sublunaren durch die Gestirne manifestiert. Beide Aspekte, die die beiden Bereiche der Sternkunde betrafen, sind verklammert durch den Gedanken der Ordnung. Einer Ordnung, die sich von oben nach unten, von den unveränderlichen Sternen in die sublunare Welt erstreckt, und die so in der Lage war, die Weisheit zu illustrieren, die Gott bei der Schöpfung hatte walten lassen. Diese charakteristische Affinität von Sterndeutung und Sternkunde belegt nicht nur Melanchthons mit einem ausführlichen Vorwort versehene Übersetzung der Tetrabiblos des Ptolemaios, sondern auch eine in Paris erschienene Anthologie, die Gervasius Marstaller herausgegeben hat: Sie enthielt überwiegend Material, das von Melanchthon selbst oder aus dem Nürnberger Umfeld stammte (Ptolemaios: 1553; Marstaller : 1549). Enger an die Einleitung des Almagest schloss Schöner in seiner Widmungsvorrede zu einem Sammelwerk vorwiegend astrologischen Inhalts an die Brüder Johannes und Christoph Geuder an, merkwürdiger Weise ohne den Namen des Ptolemaios zu nennen. Er berief sich auf Aristoteles, als er die Wissenschaften nach dem Grad der Gewissheit des Wissens und dem Rang ihres Gegenstandes klassifizierte. Wenn er aber die Astronomie auf Grund dieser beiden Kriterien an die Spitze der Wissenschaften stellte, so war dies erkennbar eine Reminiszenz an 96 „Ea est observatio et cognitio caelestium corporum naturae, motus, virium, quae homines, nisi intelligere voluisset Deus, nunquam ad talem statum formamque corporis composuisset, ut recte ingredientes ora oculosque sursum in caelum haberent erectos. Nihil enim frustra ille a sensibus nostris comprehendi, quodque non ad rationis iudicium referretur percipi voluit a nobis, sicut bruta animalia faciunt. Quam quidem rem, cum primum otium tempusque ac vires suppetent, disseremus copiosius, interpretantes Platonis hac ipsa de re eximium librum et plane colophona quendam sapientiae illius, qui inscriptione habet 1pimol¸dor.“ 97 „Voluit enim Deus gloriosus et sublimis (…) quidquid natura occulte operatur et intrinsece per signa patefacere exteriora. Caelo igitur tot fulgentia impinxit sidera, ut rationalis creatura ad divinae Trinitatis exemplar facta in ipso cuncta futura legeret atque eo ordine venientia intelligeret.“
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den Alexandrinischen Astronomen. Die darauf unmittelbar folgenden Sätze artikulieren auf exemplarische Weise die christliche Aneignung des Ptolemaios, wie sie für den Kreis um Melanchthon charakteristisch war. Die Astronomie hat nämlich den Himmelskörper zum Gegenstand, den kein anderer an Würde und Schönheit übertrifft. Denn da der Himmel unzerstörbar ist, vergrößert er sich nicht durch Ausdehnung, noch verkleinert er sich durch Zusammenziehen, noch erfährt er eine andere Veränderung, sondern er bleibt stets in dem ihm eigenen Maß seiner Natur und nimmt seinen oberen und dem ersten Prinzip (wie man sagt) benachbarten Ort ein (…). Außerdem verfügt die Astronomie über einen unübertrefflichen Grad der Gewissheit. Daher muss die menschliche Seele in die verschiedenen Lichter des Himmels eintauchen, um gleichsam am sichtbaren Bild zur Schau des oberen und unsichtbaren Lichtes aufzusteigen und aus der Betrachtung der Sterne Gott, den Schöpfer aller Dinge, allererst im Glauben zu erfassen und ihn schließlich selbst zu besitzen. (Schöner : 1539, A2r).98
Dass die Astronomie auf Grund der Mathematizität ihres Gegenstandes ein Höchstmaß an wissenschaftlicher Gewissheit ermöglichte, insofern sie die erscheinenden Bewegungen mit Hilfe mathematischer Modelle erklären konnte, war der zentrale Gedanke in der Vorrede des Almagest. Zwar sprachen weder er noch andere Astronomen von einem „Modell“, der Sache nach dürfte dies aber ziemlich genau das Gemeinte treffen. Ein Modell entspricht dem, dessen Modell es ist, nicht in allen Punkten: Beispielsweise sah die Astronomie von den unterschiedlichen Farben der Gestirne ab und bildete die Gestirne als Punkte ab. Deshalb konnten die aus der Größe der Epizykelradien zu erwartenden beträchtlichen Größenveränderungen vernachlässigt werden. Mit Hilfe der arithmetischen und geometrischen Verfahren aber, die verwendet wurden, ließen sich die erscheinenden Bewegungen als bewegte Punkte auf Kreisen darstellen, was wiederum praktisch bedeutete, sie zu erklären, d. h. zu beweisen. Ob dies den Kriterien eines wissenschaftlichen Beweises im Sinne der Ableitung eines Sachverhalts aus wahren und unmittelbaren Ursachen genügte, war eine besonders von Philosophen oft aufgeworfene Frage. Unter Astronomen unstrittig aber war die Auffassung, dass sich der unveränderliche Himmel, für den ausschließlich kreisförmige Bewegungen zugelassen waren, grundsätzlich für eine solche erklärende Darstellung eignete. Das heißt, die Gewissheit der Mathematik 98 „Habet enim subiecti vice, corpus caeleste, quo nihil est nobilius, nihil pulcherius. Caelum enim incorruptibile cum sit, neque extensione accrescit neque contractione minuitur neque variatione permutationem recipit, sed semper in propria naturae suae virtute consistens locum sibi altiorem ac primo (ut vocant) principio proximiorem vindicavit. (…) Habet enim astronomia certitudinis suae gradum irrefragibilem. Quare animus humanus omnino caelestium varietate luminarium imbuendus erit, ut velut exemplo quodam visibili ad supernae et invisibiblis lucis contemplationem ascendat ac ex siderum inspectione rerum omnium opificem, Deum, fide primum apprehendat ac tandem revera ipsum etiam possideat.“
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ließ sich auf die Astronomie übertragen. Es handelte sich dabei um eine exklusive Übertragbarkeit, denn nur die Bewegungen der Sterne sind im Prinzip vollständig mathematisierbar. Daran erwies sich auch für Ptolemaios deren Göttlichkeit. Was bspw. in der Passage Schöners über Ptolemaios hinausgeht, besteht deshalb nicht in dem Gedanken einer Nähe zwischen (dem) Gott und den Sternen, die sich auf einer epistemologischen Ebene „anagogisch“ verwenden lässt, sondern nur darin, dass der antike Astronom mindestens an keiner Stelle zu erkennen gab, selbst ein Interesse an einer Theologie zu haben, nicht an einer philosophischen, geschweige denn einer solchen, die mit Glauben verbunden war. Für die Leser des Ptolemaios im 16. Jahrhundert wäre eine solche Feststellung freilich kaum von Bedeutung gewesen. Dass der Astronom selbst von dem geoffenbarten Gott wenig wusste, eben nur insoweit, als er auf seine Weise die Ordnung namentlich in der oberen Welt wahrnahm und daran etwas Göttliches erahnte, stand für sie fest. Aber da es sich ja der Sache nach um die Ordnung des Geschaffenen handelte, konnte unabhängig von dessen eigenen Intentionen die Sternkunde gleichsam als eine „Leiter“ verwendet und im Sinne des platonischen Aufstiegs des Geistes verstanden werden. Dieser Aufstieg wiederum führte geradezu selbstverständlich zu Gott, der nach christlichem Glauben als Schöpfer bekannt war. Eine Stütze für diese Lesart bot das Epigramm, das in den meisten Handschriften des Almagest enthalten war und deshalb unter anderem in den Almagestausgaben erschien, die die Übersetzung des Georg von Trapezunt enthielten.99 Es lautet in der Übersetzung von Franz Boll: Sterblich wohl bin ich, ich weiß es, des Tages Geschöpf. Doch begleit’ ich Wandelnde Sterne im Geist, wie sie umkreisen den Pol, Rührt nicht mehr die Erde mein Fuß. Zeus selber zur Seite Teil’ ich das Mahl, des Kraft Götter unsterblich erhält. (Boll: 1950, vii, 155).100
99 So in Ptolemaios: 1528 und Ptolemaios: 1551, jeweils dem Haupttext mit drei verschiedenen lateinischen Übersetzungen vorangestellt, in der Ausgabe von Reinhold ist es unübersetzt der lateinischen Übersetzung vorangestellt (Ptolemaios: 1549, 44v), in der Ausgabe von Grynaeus fehlt es (Ptolemaios: 1538) und war ebenfalls in der Übersetzung von Gerhard von Cremona nicht enthalten (Ptolemaios: 1515). 100 Der griechischer Text lautet: oWd( fti hmgt¹r 5vum ja· 1v²leqor7 !kk( ftam %stqym Qwme¼y jat± moOm !lvidqºlour 6kijar, oqj´t( 1pixa¼y ca¸gr pos¸m, !kk± paq( aqt` Fgm· heotqev´or p¸lpkalai !lbqos¸gr. Zum Epigramm vgl. Boll: 1950, 143 – 155. Boll grenzte sich deutlich gegen eine mystische und religiöse Interpretation ab, so 150: „Nichts steht auch nur zwischen den Zeilen von der Verwandtschaft der Seele mit den Sternen (…), nichts von einer mystischen Vereinigung des Menschen mit der Gottheit, nichts vom Außersichselbstsein des Geistes. Die Göttergleichheit, an die der Dichter denkt, ist keine andere als die von Aristoteles gepriesene, die
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Es erscheint sicher, dass der Gedanke des ascendere ad supernae et invisibiblis lucis contemplationem bei Schöner direkt, mindestens aber indirekt auf dieses Epigramm verwies. Die Erhebung des Betrachters auf die Höhe dessen, was er im Geiste erfasst, war hier in das Bild der Teilnahme am Mahle des Zeus gekleidet. Es umschließt die beiden Aspekte, zum einen den der adäquaten Erkenntnis und zum anderen des daraus folgenden Ruhmes, der unsterblich macht. Für Schöner bildete es zusammen mit dem Prooemium des Almagest einen Hinweis auf die Funktion der Astronomie für die angemessene, die gläubige Gotteserkenntnis. In welchem Maße das Epigramm des Ptolemaios mit einer sowohl platonischen wie wiederum christlichen Interpretation der am Himmel „sichtbaren“ Ordnung konvergierte, veranschaulicht Erasmus Reinholds zweisprachige Edition des ersten Buches des Almagest, das über die kosmologisch im sechsten Jahr nach Publikation der Revolutiones brisant gewordenen Beweise für die Lage der Erde auch die mathematischen Grundlagen der Astronomie bot, angefangen von der Bestimmung von Sehnen bis zu den Beziehungen von Winkeln und Seiten rechtwinkliger sphärischer Dreiecke. Nicht das Epigramm des Ptolemaios selbst stellte Reinhold seinem griechischen Text voran, sondern ein neun elegische Distichen umfassendes, ebenfalls griechisches aus der Feder Melanchthons, dem in der Übersetzung das Distichenpaar Ptolemaios’ korrespondierte. Melanchthon akzentuierte darin die Absichtlichkeit der im Kosmos waltenden Ordnung, die dem blinden Zufall gegenübergestellt war, das Werk also, das auf den wohltätigen Schöpfer verwies. Was über diese geläufigen Gedanken hinaus Ptolemaios’ und Melanchthons Verse überhaupt in eine nähere Beziehung brachte, war das mittlere Verspaar, das gewissermaßen auf den Sinn der vor den Blicken des Menschen ausgebreiteten Ordnung einging, dass die, die seine Werke betrachten, den Schöpfer erkennen und ehren mit frommer Gesinnung. Denn über der Erde erbaute er den Himmelskreis dem Menschengeschlecht als eine Bühne, oder als eine Leiter. (Ptolemaios: 1549, A1v ; CR VII, 405).101
Nur die Verwendung des Wortes sj¶mg erlaubt es, zwei an sich ganz verschiedene Assoziationsreihen miteinander zu verbinden: Zum einen das Bild vom Himmel als Zelt, das aufgespannt wird,102 um die Macht nach Art eines orientalischen Vaters oder Herrschers zu illustrieren. Zum andern aber das Bild der Ein- und Vorrichtung, die etwas zu betrachten auffordert. Indem das alttestaSeligkeit der Vita contemplativa des Forschers, die an die Seligkeit der Götter reicht und den sterblichen Menschen über sich selbst hinaushebt.“ 101 „ja· cm_mai pk²samta t± aqtoO 5qca Qdºmtar, / ja· aqt¹m til÷m eqseb´essi vqes¸m. / dr c´mei !mhq¾pym ¢r sj¶mgm oQjodol¶sar / b²hqom rp³q ca¸ar t¹m j¼jkom oqq²miom.“ In CR fehlt im 3. hier angeführten Vers „¢r“. 102 Als „t¹ sj¶myla“ (für das die \;Wohnung“ bezeichnende @8û*4) in X 18,5; die Vorstellung des Aufspannens (b tam¼sar t¹m oqqamºm) bspw. in Job 9,8.
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mentliche „Himmelszelt“ mit den Konnotationen sowohl von Vorläufigkeit wie auch von Schutz mit dem Blick des griechischen bzw. römischen Zuschauers auf ein spectaculum verknüpft wird, das ihm dargeboten wird, sind gewissermaßen die Brennpunkte der Ellipse markiert, die im Umkreis Melanchthons die Beschäftigung mit Astronomie und Sternenhimmel umschließt. Es war der Himmel der Astronomen und der der Psalmen. Dieser Himmel aber war nicht nur „Zelt“ und „Bühne“, sondern er war das Instrument, um auf ihm zu Gott zu gelangen, die auf der Erde verankerte „Leiter“ (b²hqom). Auf dem Weg zur Erkenntnis Gottes musste sie erklommen werden. Den antiken Astronomen hatte der Vollzug geistiger Einsicht selbst in die Höhen des Zeus erhoben, von Aufstieg und mystischem Erleben verriet er jedenfalls nichts. Durch die Beziehung aber, die Reinhold mittels der Positionierung zwischen jenem Epigramm und Melanchthons Dichtung herstellte, rückte Ptolemaios in einen Zusammenhang platonischer und anderer antiker Texte, die, christlich interpretiert, vom Aufstieg per visibila ad invisibile sprachen. Ganz in diesem Sinne hat sich Reinhold in Anlehnung an platonische Vorstellungen in der Vorrede geäußert: Welch eine Süße besteht doch darin, die erstaunliche Sicherheit der Lehre von den Zahlen und der Geometrie zu sehen und zu bedenken, wie die Größenverhältnisse der Himmelskörper, der Erde und die Abstände der Umläufe und vieles andere in Zahlen und Maßen, den Zeichen von Proportionen, aufgefunden werden. Sie erschließen sich freilich nicht der sinnlichen Wahrnehmung. Vielmehr dringt der Geist dorthin vor. Wie Platon sagte, dem menschlichen Geist seien in Form der Wissenschaft von den Zahlen und den Figuren zwei Flügel verliehen worden, die ihn in den Himmel erheben. Sie aber führen uns nicht nur zur Betrachtung der Sterne und ihrer Bewegungen, sondern sind auch leuchtende Zeugnisse Gottes und eröffnen innerhalb des Himmels eine gewisse Erkenntnis Gottes. (Reinhold: 1549, A6r).103
Reinhold bezog sich hier auf jenes Bild von der Seelenfahrt aus Platons Phaedrus.104 In einer an den Dichtern orientierten und deshalb tastenden Redeweise hatte er das Wesen intellektualer Einsicht als Betrachtung des wahrhaft Seienden umschrieben. Eine solche Betrachtung ist über die bunte Vielfalt der Dinge erhaben: was im Geist geschaut wird, ist farb- und gestaltlos und unberührbar. 103 „Quanta vero dulcedo est, videre mirandam certitudinem doctrinae numerorum et geometriae, et considerare, quomodo magnitudines corporum caelestium et terrae et motuum spatia et alia multa in numeratione et mensuris, proportionum vestigiis reperiantur, quae non sunt pervia sensui. Sed mens eo penetrat, ut Plato dixit, duas alas, numerorum et figurarum scientiam additas esse menti humanae, quae eam in caelum subvehat. Nec vero tantum deducunt nos ad aspiciendas stellas et motus, sed illustria testimonia sunt etiam de deo et intra caelum patefaciunt aditum ad aliquam dei agnitionem (…).“ Die „dulecedo“ weist auf den „dulcis sonus“ aus Ciceros Somnium Scipionis (18), wo der „concentus“ der Planetenumläufe thematisiert wird. 104 Phaedrus 246a – 247e.
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Um dorthin zu gelangen, bedarf die Seele der Flügel, wodurch sie, bevor sie des wahren Seins ansichtig wird, an dem geordneten Umschwung des Himmels teilnimmt. Beim Himmel, der sich bewegt, handelt es sich um eine noch „farbige“ und gestalthafte Welt, wenngleich von einem Höchstmaß an Ordnung geprägte. Es ist der Ort innerhalb des Himmels: 1mt¹r oqqamoO, intra caelum. Hält sich die Seele hier auf, so ist sie dem Wahren zwar nahe, aber schaut sie auf ihn, betrachtet sie noch immer etwas anderes. Erst der von den Erscheinungen des Himmels abgewandte Blick auf den „überhimmlischen Ort“, auf das, was in einer wiederum Räumlichkeit assoziierenden Sprache „außerhalb des Himmels“ ist, sieht sie auf das, was in dem platonischen Sinn das Wahre ist.105 Da es in unseren Zusammenhang gehört, sei darauf hingewiesen, dass die Seele dann, wenn sie von dieser mystischen Schau „zurückgekehrt“ ist, sich von Nektar und Ambrosia nährt.106 Erkenntnis bedeutet auch dann, wenn sie sich nicht aktuell als Schau des Wahren vollzieht, bei Platon wie bei Ptolemaios, sich der Göttlichkeit so weit wie möglich anzugleichen. Reinhold hat sich diesen antiken Vorstellungen recht weit genähert. Sie als lediglich rhetorische Versatzstücke aufzufassen, mit denen der Wert der eigenen Disziplin hervorgehoben werden sollte, griffe zu kurz. Sicher wurde die Auffassung, dass der Geist im Erkennen vergöttlicht wird, nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Der exzeptionelle Wert der mathematischen Astronomie aber, der in dieser Vorrede artikuliert wurde (die im übrigen all die Topoi enthielt, die in entsprechenden Werken aus Melanchthons Hand begegneten), basierte auf der Annahme, dass in der Mathematik, derer sich ein Astronom bedient, eine Realität ergriffen wird und nicht nur eine sinnvolle Konstruktion vorliegt. Darauf wird noch einzugehen sein. Begonnen wird mit einem kurzen Blick auf die platonische Passage unter dem Gesichtspunkt, in welcher Weise sie die Auffassung von der Funktion der Mathematik als einer natürlichen Theologie stützte. Als hilfreich erweist sich dabei, auf Ficinos Kommentar zu verweisen, den Reinhold möglicherweise gekannt hat. Ficino hatte hier den Himmel der Astronomen, also den zwar sichtbaren, aber zugleich auf die Regelmäßigkeit seiner Bewegungen hin durchschauten Himmel, deutlich von dem supramundanen abgegrenzt. Die auch der Wahrnehmung des Menschen zugänglichen Himmelskörper stellten gewissermaßen die untere Außenseite einer Region oberhalb des sichtbaren Himmels dar. Die „göttlichen Lebewesen“, die weltlichen Götter, waren Grund der Vernünftigkeit der Bewegungen, indem sie selbst nach oben blickten. Dies hervorzuheben war 105 Phaedrus 247c: aR d³ heyqoOsi t± 5ny toO oqqamoO, was als rpeqouq²mior tºpor bezeichnet wird. Bei Plotin ist an einer Stelle die Betrachtung der schönen und erhabenen Gegenstände bereits Betrachtung im Geist (Enn. VI 7, 22: 1±m d³ l´m, 1m m`, jak± l³m ja· selm± he÷tai, oupy lµm, d fgte?, p²mtg 5wei), was der bei Reinhold angedeuteten Auffassung entspräche. 106 Vgl. Phaedrus 247e.
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notwendig, um den Irrtum zu vermeiden, bereits der Anblick des gestirnten Himmels selbst könne eine Seligkeit im philosphisch qualifizierten Sinne vermitteln. Denn diese besteht in der Angleichung von Betrachtendem und Gegenstand, die in dessen Verinnerlichung, ja deren Verschmelzung kulminiert. Was aber sichtbar ist, ist als solches stets etwas dem Betrachter Äußeres. Insoweit hielt sich Reinhold innerhalb des platonischen Rahmens, wenn er nicht nur die sichtbaren Gestirne, sondern auch die geistig erfassten Gründe von deren Bewegungen nur als Hinweise auf eine andere Wirklichkeit deutete, diejenige Gottes (Ficino: 1576, 1373).107 Mathematische Astronomie ermöglicht deshalb eben nur eine eingeschränkte Gotteserkenntnis. Dabei handelte es sich um eine genuin platonische Einsicht, die völlig unabhängig war von je aktuellen theologischen Ansichten. Dass die demgegenüber als wahr angenommene sich auf andere Quellen als diejenigen der Betrachtung der Natur, insbesondere der supralunaren Region bezog, nämlich auf eine in der Bibel dokumentierte Offenbarung, warf nicht nur für Reinhold noch keine Probleme auf. Problematisch wurde die gegenseitige Stützung von christlicher und natürlicher Theologie erst im Zuge der Historisierung sowohl der Philosophiegeschichte als auch der Bibel, die beide zunehmend weniger allgemeine Wahrheiten als vielmehr partielle und schwer kompatible Weltsichten zum Ausdruck brachten.108 Davon war am Anfang des 16. Jahrhunderts in Deutschland noch nichts zu spüren. Wie im Umkreis von Melanchthon üblich, galten Gestirne und deren Bewegungen als deutlichster Ausweis der Weisheit dessen, der die Welt geschaffen hatte (vgl. Reinhold: 1551, a3r).109 Bemerkenswert erscheint an dieser Passage, dass sie bereits für die vorcopernicanische Astronomie etwas postulierte, was sich streng genommen mit ihr nicht einlösen ließ. Zwar gewährte die mathematische Modellierung der Planetenbewegungen jenen einzigartigen Grad an Gewißheit, dass aber das komplizierte Gebilde aus Bewegungskomponenten mindestens den Vorstellungen von göttlicher Einfachheit nicht entsprach, hatte bereits Ptolemaios gesehen, eingeräumt und den Einwand mit dem Hinweis auf deren göttliche Natur neu-
107 „Neque vero putandum est caelum illud, cuius contemplatione Iupiter magnus ducesque mundi reliqui beati sunt, cultores suos beatos efficiunt, esse hoc nobis sensibile coelum, quando neque nos sola huius inspectione felices efficeremur. Dii profecto mundani animaeque divinae hoc coelo praestantiores sunt, neque convertuntur ad hoc praecipue contemplandum (…). Cognoscunt vero caelestia haec oculis manifesta in causis rationibusque suis, non quidem ad haec, sed ad se ipsos, vel ad superius mente conversi.“ Die astronomische Erkenntnis entspräche daher derjenigen „intellectu cum ratione“ (1372). 108 Zur kritischen Behandlung insbesondere der platonischen Philosophie im konfessionalistischen Luthertum seit dem 17. Jahrhundert vgl. bspw. Varani: 2008, 82 – 205. 109 „(…) sapientiae divinae radios transfusos in hominum mentes et illustria ac firma testimonia de Deo et providentia“.
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tralisiert.110 Von einem systematischen Aufbau des Kosmos, geschweige denn der genauen numerischen Bestimmung der Planetenabstände konnte nicht zuletzt wegen der Schwierigkeiten mit der Entfernungsbestimmung nicht die Rede sein.111 Copernicus selbst und Rheticus legten deshalb zu Recht Wert auf die Feststellung, dass erst das heliozentrische System die Umlaufzeiten direkt mit der Position zu verknüpften vermochte: Die Umlaufzeiten um den Zentralkörper nehmen nach außen hin ab und endeten bei der unbewegten Fixsternsphäre. Und Kepler löste im Mysterium cosmographicum, später durch das Flächengesetz ein, was Reinhold hier offenbar vorschwebte, die mathematische Rekonstruktion des systema mundi. Dieser epistemische Optimismus basiert nicht nur auf der Ansicht, dass Gott dem Menschen die Welt zur Entdeckung der in ihr waltenden Vernunft vor Augen stelle oder sie ihm gar zeige,112 sondern hat einen Anhalt auch in dem Gedanken der kosmischen Harmonie. Reinhold hatte durch die Verwendung des Wortes „Süße“ am Anfang des Zitats den Leser an das Somnium Scipionis erinnert, und auch dessen monumentale Kommentierung durch Macrobius wird ihm bekannt gewesen sein. Den beliebten Text hatte u. a. Camerarius ediert (Macrobius: 1535). Macrobius’ Kommentar war eine Fundgrube pythagoreischer und platonischer Gedanken, bspw. für die Auffassung von den Proportionen, die den Himmel strukturieren. Freilich spielte dabei weniger die quantitative Fixierung der Planetenabstände selbst eine Rolle als vielmehr die Ansicht, sie folgtem einem Muster, das sich in ganzzahligen Verhältnissen ausdrücken ließ. Dies verdeutlicht eine von Macrobius unter Berufung auf den bis auf einige Fragmente verlorenen Timaeus-Kommentar des Porphyrios angeführte Abstandsbestimmung der Planeten in platonischer Abfolge. Dem Mond folgt also an zweiter Stelle die Sonne, darauf Venus, Merkur, Mars usw. Bezeichnet man den Abstand Erde–Mond als a, so werden die Entfernungen von der Erde als Vervielfältigung des jeweils vorangehenden Abstandes mit den aus der Seelenteilung in Platons Timaeus bekannten Potenzen zur Basis 2 und 3 110 Vgl. Ptolemaios, Almagest XIII (Heiberg II, 532 f.). 111 Dies berührt einen schwierigen Komplex astronomischer Probleme, der sich an dieser Stelle nicht in Kürze darstellen lässt; eine ebenso brillante wie anspruchsvolle Darstellung bietet Hartner : 1968, I, 319 – 348. Rein qualitativ ausgedrückt verfährt die traditionelle Astronomie so, dass die Planeten in einander anschließenden Zonen sich bewegen, deren Ausdehnung die Größe des Epizykels bestimmt. Für die „oberen“ Planeten lässt sich aus der siderischen Periode die Reihenfolge leicht bestimmen, nicht aber für die der Sonne gleichläufigen „inneren“ Planeten. 112 Vgl. Ptolemaios (1549), A5v : „Nec vero dubium est magnas esse causas, cur Deus tantum artis in fabricando ordine motuum adhibuit, nec dubium est velle eum aspici haec pulcherrima corpora et hunc mirandum ordinem, quod quidem in libris divinis expresse scriptum est motus ordinatos esse, ut annum, menses et tempora discernant et sint signa.“ Dies bezieht sich auf Gen. 1.
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multipliziert.113 Es ergeben sich demzufolge von der Erde bzw. dem Mond bis zum Saturn der Abstand von 26 x 36a und im Einzelnen die folgenden Werte, wobei jeweils das musikalische Intervall zwischen den benachbarten Himmelskörpern hinzugefügt wird: Erde-Mond Erde–Sonne
20 x 30 = 1a 1a x 21 = 2a
1 : 1 Prime 1 : 2 Oktave
Erde–Venus Erde–Merkur
2a x 31 = 6a 6a x 22 = 24a
2 : 6 Duodezime 1 : 4 Doppeloktave
Erde–Mars Erde–Jupiter
24a x 32 = 216a 216a x 23 = 1728a
1 : 9 Drei Oktaven + Ganzton 1 : 8 Drei Oktaven
Erde–Saturn
1728a x 33 = 46656a
1 : 27 Vier Oktaven + Quinte + Ganzton
Erkennbar nimmt diese Reihe, die für den supralunaren Raum, aber ohne Fixsternhimmel, den fantastischen Umfang von 15 Oktaven und einem Ganzton umspannen würde,114 keinerlei Rücksicht auf die siderischen Perioden der Planeten. Dennoch, so Macrobius, handele es sich um deren Abstände, die wiederum die harmonischen Verhältnisse veranschaulichen, nach denen die Weltseele geordnet ist.115 Ausschlaggebend scheint allein, dass die Weltseele überhaupt proportioniert ist, denn dies wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass die menschliche Seele sich kognitiv auf sie beziehen kann. Indem sie erkennt, erkennt sie sich in ihr als geordnet, eine gemeinplatonische Auffassung, die für Porphyrios insoweit eine besondere Rolle gespielt zu haben scheint, als Proklos in seinem Timaeus-Kommentar ausdrücklich erwähnte, dass für diesen die Verklammerung mit der Behandlung des Gemeinwesens am Anfang des platonischen Dialogs belege, dass dem Verstehen des Kosmos die Formung der Seele durch eine entsprechende Lebensführung unabdingbar vorausgehe.116 Für 113 Macrobius, In Somnium Scipionis II 3, 14 (Willis 106,22-31); vgl. Timaeus 35b – c. 114 Dies scheint selten übernommen worden zu sein, immerhin umfasst in einem Gedicht des Radbold von Utrecht (+917) die „musica omnicanens“ drei- oder viermal die Doppeloktave, was gegen Macrobius dennoch gering bemessen ist; vgl. Bernhard: 1990, 90 f. 115 Macrobius, In Somnium Scipionis II 3, 15 (Willis 107,3–8): „ait [sc.: Porphyrius] eos [sc.: Platonicos] credere ad imaginem contextionis animae haec esse in corpore mundi intervalla, quae epitritis, hemicoliis, epogdois, hemitoniisque complentur et limate, et ita provenire concentum cuius ratio in substantia animae contexta mundano quoque corpori, quod ab anima movetur, inserta est.“ Die angeführten Proportionen (4:3, 3:2, 9:8, 256:243) sind diejenigen, die sich aus der Verbindung der Reihe zur Basis 2 mit der zur Basis 3 und der Zwischenschaltung arithmetischer und harmonischer Mittel ergeben, wie in Timeus 36a/b beschrieben, wobei eine Differenzierung zwischen Halbton (9:16) und Leimma (256:243=28 :35) keinen Sinn hätte, die hier aber wohl angenommen wird. 116 Dies ist eingebettet in die Reflexion über die Reihenfolge der Dialoge Respublica – Timaeus – Critias; vgl. Proklos, In Platonis Timaeum commentaria, lib. I (Diehl I, 200,4 – 202,14); die Betonung des Ausbildens einer angemessenen Lebensführung (Ghor) vor dem Beginn der
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das Problem der Planetenabstände ist dies freilich ohne Belang. Zumeist wurden die Abstände der Planetensphären in kleineren Intervallen erfasst, so dass der weltharmonische Ambitus nur Oktave oder Doppeloktave umfasst, abgesehen davon, dass sich die „chaldäische“ Reihenfolge mit der Sonne in mittlerer Position durchsetzte.117 Dies wiederum verdeutlicht, dass dann, wenn bspw. unter Berufung auf den Timaeus von Planetenabständen die Rede war, zunächst eine zahlhafte Ordnung überhaupt, nicht aber die quantitative Bemessung von Interesse war. Das war auf dem Gebiet der Astronomie selbst zwar anders, da mit Hilfe der Radien je bestimmter Größen von Epizykeln und Deferenten ja die Bewegungen der Planeten in der Ekliptikebene möglichst genau abgebildet werden mussten. Die angenehme Empfindung von Schönheit aber, die dulcedo, auf die sich Reinhold an der zitierten Stelle seines Vorworts bezog, beinhaltete zunächst nicht mehr als die allgemeine Voraussetzung, dass sich im Bereich des Himmmels alles in Zahlen erfassen ließ.118 Das konnte an dieser Stelle auch genügen. Von einem Geleitwort, in diesem Fall gerichtet an Christoph von Carlowitz, war zu erwarten, dass es die Bedeutung des Textes herausstellte, und diese Aufgabe absolvierte Reinhold unter ausgiebigem Gebrauch der einschlägigen theologischen Gedanken. Freilich kann der Leser jener Vorrede nicht davon absehen, dass der Verfasser jenes so eng an den Duktus Melanchthons angelehnten Textes eben derjenige Astronom war, der neben Rheticus über die besten Kenntnisse von Copernicus’ Hauptwerk verfügte, in den zu Ehren des Herzogs Albrecht als „Prutenisch“ bezeichneten Tafeln auf dessen Beobachtungen zurückgriff und seine meisterhafte Beherrschung der Mathematik herausstellte. Jene Passage artikulierte nicht nur Schönheit und Wohlordnung des Himmels im Allgemeinen, sondern Reinhold dürfte damit indirekt auch Position zur Kosmologie des Copernicus bezogen haben. Dieser hatte an den tradierten Mitteln, die astronomischen Erscheinungen zu retten, getadelt, mit ihnen das Ziel der Astronomie nicht erreicht zu haben, die „Gestalt der Welt und die bestimmte Symmetrie ihrer Teile“ darzustellen und darauf hingewiesen, dass erst die Erdbewegung „die ordentliche Reihenfolge und Größe der Sphären in wunderbarer Harmonie und bestimmter Symmetrie Beschäftigung mit dem Kosmos a. a. O. 202,5–8. Nur dadurch ist sichergestellt, dass die Seele sich dem angleicht, was sie erkennt (floiom cm t` jatamooul´m\) und zur Erkenntnis der Wahrheit befähigt ist. Den Kommentar des Proklos zum Timaeus hat Grynaeus 1534 im zweiten Band seiner griechischen Platon-Ausgabe ediert. 117 Vgl. Boethius, De institutione musica I 27 (Friedlein 219); Ficino: 1576, 1529 f. 118 Insofern sich etwas als Proportion ausdrücken lässt, kann von Symmetrie gesprochen werden, so Proklos In primum Euclidis elementorum librum commentarii, praef. II (Friedlein 60,28 – 61,3 : „di¹ ja· t± s¼lletqa to¼t\ taOta !voq¸fetai, fsa kºcom 5wei pq¹r %kkgka, dm !qihl¹r pq¹r !qihl¹m ¢r t/r sulletq¸ar pqogcoul´myr 1m !qihlo?r rvistal´mgr. fpou c±q !qihlor, 1je? ja· t¹ s¼lletqom, ja· fpou t¹ s¼lletqom, ja· b !qihlºr.“
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miteinander verknüpft“ (Copernicus: 1543, iijv).119 Eine Formulierung, die auf den platonischen Gedanken der Wohlordnung des Alls verwies, wie ihn bspw. Proklos unter Bezugnahme auf den Timaeus im Euklid-Kommentar hervorgehoben hatte, dessen Edition ebenfalls zu den Büchern gehörte, die Rheticus mit nach Frauenburg gebracht hatte (vgl. Euklid: 1533).120 Nach Proklos bestand der Wert der Mathematik für die Betrachtung der Natur darin, die Wohlordnung der Verhältnisse sichtbar zu machen, der gemäß das All hergestellt worden ist, und die Analogie, die, wie Timaios an einer Stelle sagt, alles im Kosmos miteinander verbindet. (…) Sie zeigt die einfachen und ersterzeugenden Elemente auf, die ganz und gar von Symmetrie und Gleichheit zusammengehalten werden, durch die auch der gesamte Himmel zur Vollendung gebracht wurde, der in seinen Teilen die ihm entsprechenden Formen annahm. Außerdem erforscht sie die Zahlen, die jedem der gewordenen Dinge, ihren Umläufen und ihren Rückkehren eigen sind, durch welche es möglich ist, gute Nachkommen und widrige Entwicklungen zu berechnen.121
Ordnung und Analogie sind also verknüpfendes Band und somit Grund des Zusammenhaltes des gesamten sichtbaren Kosmos, und speziell den Himmel zeichnen kommensurable Verhältnisse aus. Nach ihnen gesucht hatten alle Astronomen, aber, so Rheticus im Blick auf das heliostatische System, tatsächlich entdeckt hatte sie erst sein Lehrer. Erst dessen System trage der wunderbaren Symmetrie und der Verbindung der Planetenumläufe untereinander Rechnung. Nur dieses sei deshalb des göttlichen Schöpfers und der göttlichen Natur der Himmelskörper angemessen (Rheticus: 1985, c. 10, 59, 54–56).122 Das bezog sich unmittelbar auf eine Formulierung des Copernicus, der mit Stolz über die Entdeckung des ordo sphaerarum verkündete:
119 Die Hauptaufgabe bestünde darin, „mundi formam ac partium eius certam symmetriam (…) invenire“; V1, 113v : „Aggredimur modo quinque errantium stellarum motus, quorum orbium ordinem et magnitudines ipsa terrae mobilitas consensu mirabili ac certa symmetria connectit, ut in primo libro summatim recensuimus, dum ostenderemus, quod orbes ipsi non circa terram, sed magis circa solem centra sua haberent.“ 120 Vgl. Euklid (1533). 121 Proklos, In primum Euclidis elementorum librum commentarii, praef. I (Friedlein 22,18–23,2): „(…) t¶m te t_m kºcym eqtan¸am !mava¸mousa, jah( Dm dedglio¼qgtai t¹ p÷m, ja· !makoc¸am tµm p²mta t± 1m t` jºsl\ sumd¶sasam, ¦r pou vgs·m b T¸laior (…), ja· t± "pk÷ ja· pqytouqc± stoiwe?a ja· p²mtg t0 sulletq¸ô ja· t0 Qsºtgti sumewºlema de¸nasa di( ¨m ja· b p÷r oqqam¹r 1teke¾hg, sw¶lata t± pqos¶jomta jat± t±r 2autoO leq¸dar rpoden²lemor, 5ti d³ !qihlo»r to»r oQje¸our 2j²st\ t_m cicmol´mym ja· ta?r peqiºdoir aqt_m ja· ta?r !pojatast²sesim !meuqoOsa, di( ¨m t²r te eqcom¸ar 2j²stym ja· t±r 1mamt¸ar voq±r sukkoc¸feshai dumatºm (…).“ 122 „Porro quamquam admiranda et haud indigna tum opifice Deo tum quoque divinis his corporibus motuum et orbium symmetria et nexus, quae praedictis hypothesibus assumptis conservantur (…)“.
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Wir haben also in dieser Anordnung der Sphären die bewunderswerte Symmetrie und die bestimmte harmonische Verbindung von Bewegung und Größe der Himmelskreise gefunden. (Copernicus: 1543, I 10, 10 f).123
Dieses harmonische Verhältnis der Größe der Himmelskreise zueinander nannte Rheticus „System“, das sich dadurch auszeichnet, dass kein Teil entnommen werden kann, ohne die Ordnung des Ganzen zu zerstören (Rheticus: 1985, c. 10, 60, 99–103).124 Es handelt sich also nicht lediglich um eine Kombination, wie bspw. bei der gebräuchlichen Bestimmung des Kosmos als „System“ von Himmel und Erde, sondern um einen organischen Zusammenhang. Begriffsgeschichtlich steht letztlich vermutlich wiederum die Epinomis im Hintergrund, wobei der dort für einen arithmetischen Sachverhalt gebrauchte Ausdruck auf die Astrononomie übertragen wird.125 Unmittelbar dürfte freilich der aus der Musiktheorie bekannte Begriff von Bedeutung gewesen sein, und es ist nicht ohne eine gewisse Ironie, dass Rheticus’ polemisch gebrauchter Begriff seinen Ursprung ausgerechnet bei Ptolemaios hatte. System, grundlegend das, „was aus mehr als einem Intervall besteht“ (Valla: 1501, VII c. 1, givr)126, besagte im engeren Sinne, wie Giorgio Valla angab, nach der Auffassung des Ptolemaios eine bestimmte Zusammenstellung mehrerer konsonanter, melodisch verwendbarer Intervalle. In diesem Sinne ließ sich System als „Konsonanz von Konsonanzen“ begreifen. Ein System war als vollständig bzw. vollendet nur zu bezeichnen (s¼stgla t´keiom), wenn ihm keines der konsonanten Intervalle (Oktave, Quinte, Quarte, Ganzton) fehlte (Valla: 1501, VII c. 1, givv).127 An diesen 123 „Invenimus igitur sub hac ordinatione admirandam mundi symmetriam ac certum harmoniae nexum motus et magnitudinis orbium.“ 124 „a praedictis sex orbibus mobilibus harmonia coelestis perficiatur, ubi orbes omnes sibi eo pacto succedant, ut (…) si quemcunque loco movere tentes, simul etiam totum systema dissolvas“. Vgl. auch c. 8, 56,54f. : „ordinem et motus orbium coelestium absolutissimo systemate constare admonet (sc.: Copernicus)“; c. 13, 69,61-63 : „(…) si aut ad principalem astronomiae finem et systematis orbium rationem ac consensum aut ad facilitatem suavitatemque (…) respicere quis velit (…)“. 125 Epinomis 991e: „Jede geometrische Figur, jedes System der Zahl (d. h. jedes Verhältnis von mehr als 2 Zahlen) und jede harmonische Zusammenfügung der Umläufe der Gestirne muss dem methodisch Lernenden die Übereinstimmung, die eine für alle Dinge ist, zum Vorschein bringen.“ (p÷m di²cqalla !qihloO te s¼stgla ja· "qlom¸ar s¼stasim ûpasam t/r te t_m %sqym peqivoq÷r tµm blokoc¸am owsam l¸am "p²mtym !mavam/tai de? t` jat± tqºpom lamh²momti). 126 „systema igitur est, quod ex pluribus quam uno constat intervallis“. Dies ist die genaue Übersetzung der Definition am Anfang der zuweilen Euklid zugeschriebenen Introductio harmonica (s¼stgla d´ 1sti t¹ 1j pkeiºmym C 2m¹r diastgl²tym sucje¸lemom, Heiberg 186), die Valla unter dem Titel Cleonidae harmonicum introductorium in Übersetzung 1497 zusammen mit Vitruv publiziert hatte. 127 „systema absolute Ptolemaei vocatur sententia ex consonantiis conflata magnitudo, sicut ex emmeliis constructa magnitudo consonantia nominatur. Estque systema tanquam consonantiarum consonantia. Perfectum autem systema dicitur, quod cum singulis speciebus
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Begriff von System waren also Vollständigkeit und „Einklang“ (sulvym¸a) bzw. „Konsonanz“ geknüpft, zwei Gesichtspunkte, die sich für Rheticus als konstitutiv erwiesen. Harmonie beim Umlauf der Gestirne bedeutete nun die Anordnung der Planeten nach der Länge der siderischen Periode, während die synodischen Perioden, bei denen die charakteristischen Vor- und Rückläufe der Planeten auftraten, als aus dem Erdumlauf resultierend erklärt wurden. Wenn der von Rheticus verwendete Terminus in die spätere Unterscheidung verschiedener Weltsysteme und die Diskussion ihrer Vor- und Nachteile einging, verschwand selbstverständlich der mit ihm verbundene Exklusivitätsanspruch.128 Von einem solchen Anspruch wollte Reinhold erkennbar nichts wissen. Die Bewegungen der Planeten berechnen zu können genügte, um die Weisheit Gottes zu bewundern und den zu dieser mathematischen Rekonstruktion befähigten Geist als „Abdruck“ des göttlichen zu verstehen (Ptolemaios: 1549, A6v). Weder in seiner Vorrede zu Ptolemaios, noch in der zu den Prutenischen Tafeln gab er zu verstehen, daran interessiert zu sein, das Weltsystem im Sinne Rheticus’ wiederzugeben. Allerdings wird auf Grund der Schätzung des mathematischen Aspektes der Astronomie auch verständlich, weshalb unter Ausblendung der physikalischen und kosmologischen Aspekte, die die Bewegungen der Erde problematisch erscheinen ließen, Copernicus’ Revolutiones rezipiert werden konnten. Darauf aber soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Bislang wurde thematisiert, wie die Affinität zwischen Theologie und Astronomie sowohl mit dem Argument der Erhabenheit des Objektes als auch dem methodischen der Gewissheit begründet wurde. Die Sternkunde vermittelt eine Ahnung vom Göttlichen insoweit, als sie sich der mathematischen Verfahren bedient, die streng beweisend sind. Und sie kann dies wiederum, da die Region jenseits des Mondes derjenige Teil der sichtbaren Welt ist, der sich mathematisch auch erfassen lässt. Abschließend soll kurz auf zwei Texte geblickt werden, in denen der „anagogische“ Charakter einer mathematischen Disziplin nicht an einen Gegenstandbereich wie eben den der Gestirne geknüpft ist, sondern aus dem beweisenden Verfahren der Mathematik selbst. Im dem Jahr, in dem Reinholds erstes Buch des Almagest erschien, publizierte Rheticus eine lateinische Übersetzung der ersten sechs Bücher von Euklids Elementen, und auch sie war Christoph von Carlowitz gewidmet. Das Prooecunctas complectitur consonantias, quod perfectum id iure dici possit, quod in totum suas omnes complectitur partes seu a quo nihil, quod ad peculiare pertineat complementum, prorsus abfuerit.“ Das entspricht Ptolemaios: 1682, II c. 4, S. 105. Die Verbindung des vollständigen Systems mit der Astronomie, wie sie in III c. 8, S. 250, vorgenommen wurde, die auf dem Gedanken der unendlichen Wiederholbarkeit in Analogie zu den Kreisbewegungen der Himmelskörper abzielt, erscheint bei Valla nicht. 128 Vgl. bspw. die Unterscheidung von sechs Systemen bei Riccioli: 1651, 101 – 103.
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mium (Rheticus: 1549),129 das die außerordentliche Gelehrsamkeit seines Verfassers zu erkennen gab und somit natürlich auch als Spiegel der Bildung des Adressaten diente, empfahl das Studium des grundlegenden Buches der Geometrie und damit die Pflege der Mathematik der Aufmerksamkeit einer Person, die für die Geschicke der Leipziger Universität von großer Bedeutung war. Jenseits dieser gewissermaßen wissenschaftspolitischen Absicht, die insbesondere am Ende spürbar wird (vgl. Rheticus: 1549, A9r/v), ist es bemerkenswert als Dokument einer Auffassung von Mathematik, die im Unterschied zu den bisher behandelten Texten die Geometrie als eine Fundamentalwissenschaft behandelte. Rheticus knüpfte an die platonische und neuplatonische Konzeption von der Mathematik an, die sich ja darin von der des Aristoteles unterscheidet, dass den mathematischen Gegenständen ein gegenüber den Einzeldingen selbständiges Sein zugesprochen wird. Sie sind somit nicht nur Ergebnisse eines Abstraktionsvorganges.130 Vielmehr sind sie eine eigene Realität, die zugleich im Geist jedes Menschen verankert ist (Rheticus: 1549, A5v).131 Diese Annahme erwies sich deshalb als bedeutsam, weil auf diese Weise die Mathematik als Geometrie sich nicht nur auf einen bestimmten Bereich bezog (Rheticus : 1549, A6v),132 sondern zum Inbegriff beweisender Wissenschaft überhaupt wurde. Denn was Beweisen bedeutet, die Herleitung eines Sachverhaltes aus den wahren und nächsten Ursachen, vollziehe die Geometrie an Linien und Figuren. Entscheidend ist, dass dies eben nicht auf das Gebiet der Geometrie beschränkt bleibt, sondern sich auf alles anwenden lässt, was wissenschaftlich und somit sicher überhaupt gewußt werden kann. Nur mit Hilfe der Geometrie lassen sich schwankende Meinungen und Ungewissheit ausschließen (Rheticus : 1549, A2v).133 Auch wenn Rheticus den Ausdruck „mathesis universalis“ nicht ver129 In der Auflage von 1577 erscheint die Vorrede unter dem Namen Joachim Camerarius, ohne dass daran gedacht worden ist, auch den Hinweis auf den persönlichen Freund und Bewunderer der Mathematik Joachim Camerarius zu tilgen: vgl. Rheticus: 1549, A9r, und Euklid: 1577, 7v. 130 Prägnante Fassung dieses Gedankens am Anfang von De communi mathematica scientia, Iamblichos: 2006, 496: (t± lah¶lata) 5sti !s¾latata ja· jah( 2aut± rvestgjºta, t_m te !leq¸stym oqsi_m ja· t_m peq· t± s¾lata leqist_m l´sa. Vgl. Rheticus: 1549, A6r. 131 „Affirmamus igitur hanc scientiam non inventam neque de iis, quae postea extiterunt excogitatam, sed cum ipsa natura extitisse et omnium mentibus insitam et cum omnibus hominibus cognatam esse.“ 132 „secundum nostram collectionem omnia, quae mathematum nomine comprehenduntur, ad geometriae principia et fundamenta reducuntur“. 133 „Ea (scientia) causarum demonstrationibus continetur, quae mirifica consensione et serie communi ordinis et rationis per lineas descriptiones et figuras tota explicatur atque perficitur, easque Graeci cqallij±r !pode¸neir nominant, quarum scientia, quidquid est certum et notum et immutabile in terris, sola et deprehendi et comprehendi potest. (…) hoc agens atque efficiens, ut mens et intelligentia humana reperiat et habeat, quo subsistat et nitatur in hac vita neve aut opinionem vanitate aut errorum falsitate circumventa intereat.“
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wendete, steckte das Vorwort zu Euklid aber das Programm einer allgemeinen, nicht auf einzelne Bereiche beschränkten mathematischen Wissenschaft ab.134 Rheticus war nicht der erste, der sich im Umkreis von Melanchthon intensiv mit Euklid beschäftigte; bereits 1533 hatte Grynaeus nicht nur die ersten 6, sondern die überlieferten 15 Bücher der Elementa wie auch den Kommentar von Proklos zum ersten Buch ediert und mit einem Vorwort versehen, in dem grundsätzliche philosophische Probleme erörtert wurden. Empfänger war der englische Bischof, Jurist und Mathematiker Cuthbert Tonstall, auf dessen zuerst 1522 publizierte De supputandi libri er sich bezog. Tonstall hatte, zweifellos beeinflusst von der Wertschätzung der Mathematik in Padua, wo er zeitweilig studiert hatte, der Arithemetik als der für alle mathematischen Disziplinen grundlegenden eine Schlüsselfunktion eingeräumt. Eröffnet sie doch einen sicheren Weg zu höheren Einsichten, u. a. derjenigen der Astronomie (Tonstall: 1538, 6).135 Auch wenn Grynaeus die Ausrichtung auf die Arithmetik nicht übernahm, so wird ihm dennoch die hier geäußerte Verbindung zwischen der Konzentration des Geistes auf sich und dem Erwerb einer bestimmten Haltung, die gegenüber den sinnlich erfahrbaren Dingen Distanz schaffte, zugesagt haben. Mathematik lehrte nicht nur, in die Tiefe zu dringen, sondern auch eine gewisse Bescheidenheit (vgl. Tonstall: 1538, 6).136 Freilich kam erst dann, wenn sich der Mensch unter anderem seine niedrige kosmische Position und seine ungeheure Entfernung von den Sternen klargemacht und die Mühen absolviert hatte, die zur Beherrschung der Mathematik erforderlich waren, deren Stärke recht zur Geltung.137 Bereits für Grynaeus im Vorwort zu Euklid bestand Geometrie nicht nur in der Behandlung der geometrischen Entitäten vom Punkt bis hin zum Körper und ihren Beziehungen. Euklids „Elemente“ erwiesen sich vielmehr als grundlegend für alle mathematischen Disziplinen; um eines der im Platonismus 134 Der gesamte Problemkreis der Diskussion um die Wissenschaftlichkeit der Mathematik und die Entstehung der mathesis universalis muss hier ausgeblendet werden; vgl. dazu bspw. Rabouin: 2009, 216 – 244, der allerdings weder Grynaeus noch Rheticus erwähnt. 135 „cognitionem vero caelestium, quae sola ratione sectanda sunt, maxime petamus: cum mathematicae disciplinae medium inter utraque gradum teneant, ad caelestium cognitionem nulla re melius exercitamur, quam animum a terrenis tantisper abstrahendo, dum mathesibus intenti sumus, quas nimirum hominibus ipsa rerum natura videtur edidisse, ut esset quo se ad caelestium meditationem exercerent. Quod quum omnes disciplinae mathematicae, tum longe omnium maxime arithmetica, quae nullis adiuta corporum imaginibus mente sola se colligente nititur.“ 136 Zu den Argumenten, die die Beschäftigung mit der Arithmetik als sinnvoll erscheinen lassen, zählt, dass sie unter den mathematischen Disziplinen die „pars humillima“ ist. Dieser Gesichtspunkt wird freilich äußerlich noch unterstrichen durch das Signet von Robert Estienne, das einen von einem Baum abbrechenden Ast zeigt und mit dem Spruch kombiniert „noli altum sapere (sed time)“, so auch in der Ausgabe Paris 1529. 137 Vgl. Grynaeus (1533), a2r/v, ähnlich in der Vorrede Ptolemaios: 1538, a5r.
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verwendeten Bilder aufzugreifen, könnte man von dem „Band“ (s¼mdeslor) sprechen, das sie untereinander verknüpft.138 Dieser Zusammenhang ermöglichte es, nicht nur Größen zu messen und zu berechnen, sondern auch die Erde zu kartieren, kunstvolle Apparate zu ersinnen und den Regeln der Perspektive entsprechende zweidimensionale Abbilder der dreidimensionalen Realität herzustellen, sondern auch geradezu bis in den Himmel aufzusteigen. All diese verschiedenen Leistungen konnten auf den unterschiedlichsten Gebieten mit diversen Arten von Gegenständen vollbracht werden kraft eines einzigen Faches, disciplinae unius vi.139 Aber Grynaeus griff nicht nur den Gedanken einer allgemeinen Mathematik auf, sondern betrachtete diese wiederum als Inbegriff bzw. Muster (formula) methodischen Vorgehens überhaupt.140 Gerade dies hob dann auch Rheticus als konstitutiv heraus. In der Geometrie waren alle übrigen Wissenschaften und Künste verwurzelt, also auch die Naturwissenschaft (Physik), Ethik, Politik und Rhetorik. Alles also, was zur Erhaltung eines guten menschlichen Lebens erforderlich war, ließ sich schließlich auf sie zurückführen (Rheticus: 1549, A7v).141 Es versteht sich, dass Rheticus nicht versäumte, die propädeutische Funktion zu unterstreichen, die sie für die Erkenntnis Gottes sowohl im platonischen wie im christlichen Sinne besaß (Rheticus: 1549, A5v–A6r).142 Auf das wissenschaftstheoretische Potential einzugehen, das in den hier erwähnten Vorreden zu Euklid von Grynaeus und Rheticus lag, würde an dieser Stelle zu weit führen. Das Netzwerk um Melanchthon, das vor allem Wittenberg, Nürnberg und Basel umspannte, schöpfte in Vorreden und Einleitungen aus einem Fundus von Topoi bzw. Gemeinplätzen, die es als solches identifizierbar machen. Explizite Bezugnahmen insbesondere auf die Epinomis, den Timaios und das Prooemium des Almagest, Stellen aus Ovid und dem Astronomicon des Manilius,143 begleitet 138 Grynaeus (1533), a2v : „Atque haec hactenus stoiwe¸a rerum sunt mathematicarum omnium, ut quorum vis in omnibus certa versetur.“ 139 Grynaeus (1533), a2v. 140 Grynaeus (1533), a4v : „Ut si quis mentis humanae morem, simulacro quodam expressam velit, nullo possit melius quam geometriae, quae methodi totius absoluta et perfecta formula est, domestica insuper luce sua mirabiliter fulgens. Ergo disserendi vis penes dialecticen est quidem, sed obscura tantisper, dum mathematicarum disciplinarum claritate iuvetur.“ 141 „Siquidem et fundamenta scientiarum et explicatio artium omnisque sapientiae et doctrinae humanae veritas et tot communis vitae adminicula, commoda, ornamenta, denique ipsius naturae et generis humani in terris conservatio, ad hanc unam primam et solam scientiam referuntur.“ 142 „praeparari etiam haec scientia animos ad cognitionem illius, ut Plato suspicatus fuit de eo, quod celebrat saepe disputationibus suis ¢r emtyr em.“ 143 Eine aufschlussreiche Zusammenstellung einschlägiger Passagen bietet die Vorrede von Johannes Hagius zu Schöner : 1587, A2r – A4r. Eine umfangreiche Zusammenstellung derartiger Passagen bietet Cumont: 1909, 262 – 278.
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von einem unübersehbaren Interesse an der neuplatonischen Mathematikphilosophie, die bereits die enzyklopädischen Werke Giorgio Vallas und Gregor Reischs beeinflusst hatte, brachten die Astronomie als mathematische Disziplin mit der „Theologie“ in eine enge Beziehung. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Welt der Gestirne erschien auf dem Hintergrund des Römerbriefes als propädeutische natürliche Theologie, die dem Menschen den Urheber aller Ordnung vor die Augen des Geistes stellte. Dies ermöglichte sowohl die gegenüber der mathematischen Sternkunde nicht geringere Wertschätzung der divinatorischen Astrologie, als auch die Aufnahme der copernicanischen Astronomie, freilich zunächst und zumeist noch ohne deren kosmologische Implikationen. Fortgesetzt wurde ein auf den Humanisten Regiomontan zurückgehendes Programm, astronomische und astrologische Texte der Antike, aber auch ursprünglich in arabischer Sprache verfasste Werke einem größeren Kreis von Gelehrten zugänglich zu machen und das Studium des Himmels auf ein höheres Niveau zu heben. Und das bedeutete nicht zuletzt voranzuschreiten auf dem Weg zur Erkenntnis Gottes.
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Peter Opitz
Humanistische „Rationalität“ und evangelische Theologie in den Anfängen der Zürcher Hohen Schule
1.
„Ratio“ und „Rationalität“ in der Zürcher Reformation
Die Frage nach dem Zusammenhang von Reformation und Rationalität legt nahe, zunächst nach der Verwendung des Begriffs der ratio in der Reformation, in unserem Fall in den ersten Jahrzehnten der Zürcher Reformation, zu fragen. Bei Zwingli etwa wird der Ausdruck in der Regel nicht zur Bezeichnung der menschlichen Vernunft gebraucht, sondern dann, wenn es darum geht, eine Sachlogik zu beschreiben oder zu erläutern. Entsprechend heißt seine Rechenschaftsablage des Glaubens von 1530 „Fidei Huldrychi Zvinglii ratio“ (1905ff, Z VI.2, 753 – 817; 1995, ZS IV, 99 – 131). In den seltenen Verwendungen von ratio als menschlicher Eigenschaft wird sie als dem Glauben gegenübergestellte Größe negativ qualifiziert (vgl. Zwingli: 1905ff, Z III, 900, 19). Heinrich Bullinger hingegen bezieht die traditionelle Bestimmung des Menschen als anima rationalis stärker in seine Theologie ein.1 Der Mensch ist wesenhaft vernunftbegabt und es gibt sogar so etwas wie einen gesunden Menschenverstand (vgl. Bullinger : 2008, 987, 9).2 Im Blick auf Gott allerdings ist die menschliche ratio sehr deutlich beschränkt.3 Orientiert man sich hingegen weniger am Begriff der ratio oder dem Gebrauch aristotelischer Logik, wie er gegen Ende des 16. Jahrhunderts in der protestantischen Theologie zunehmend an Bedeutung gewann, sondern bestimmt das hier zu bearbeitende Themenfeld breiter, etwa im Sinne eines natürlichen Verstandesgebrauchs und weltlichen Wissens- und Kompetenzerwerbs im Raum der reformierten Reformation, stößt man sogleich auf die 1 So trägt die zehnte Predigt der vierten Dekade, Bullingers „Anthropologie“, den Titel: De anima hominis rationali, Bullinger: 2008, 701. 2 (in deutscher Übersetzung: Bullinger: 2004 – 2007, Bd. 5, 428). Zu Bullingers Lehre von der Gotteserkenntnis aus der Schöpfung: ebd., 563, 18 – 22 (Bullinger : 2004 – 2007, Bd. 4, 391 f). 3 Zu den Grenzen der menschlichen „ratio“ im Blick auf die Gotteserkenntnis vgl. etwa Bullinger: 2008, 586, 31 – 36. Aber auch die ratio der Schöpfung kann von der menschlichen ratio letztlich nicht verstanden werden, vgl. ebd. 590, 29 f.
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Peter Opitz
konstitutive Stellung der humanistischen Bildung. Der Gebrauch des menschlichen Erkenntnis- und Denkvermögens im Dienst der Erkenntnis von rationalen, göttlich geordneten Sachverhalten als schöpfungstheologisch begründeter, integraler Teil dessen, was den Menschen zum Menschen erst wirklich werden lässt, erhält hier, vornehmlich im ethisch-theologischen Kontext, eine hohe Bedeutung. Deutlich zum Ausdruck kommt dies durch die zentrale Stellung, welche die schulische Bildung und insbesondere die Bildung der Pfarrerschaft von den Anfängen der Reformation an besaß. Hatte man der römischen Tradition und Religiosität vorgeworfen, dass sie zu guten Teilen im Rezitieren unverstandener und unverständlicher Worte bestand, so ging es nun darum zu verstehen, was es zu glauben galt, was die Aufgabe implizierte, diese Inhalte verständlich zu machen. Mit diesem theologisch begründeten Ziel war man bemüht, die beste Weltweisheit, in humanistischer Tradition unter besonderer Gewichtung der Literatur der Antike, mit der religiös motivierten Reformation von Kirche und Gesellschaft zu verbinden, in der Überzeugung, dass in der Bildung des Menschen, auch und gerade in der reformierten Kirche, beides notwendig zusammengehört. Zwei sehr unterschiedliche Bereiche seien im Folgenden exemplarisch vorgestellt. Im Blick auf die Integration und Institutionalisierung dieser Art von Rationalität in die reformierte Reformation spielte Heinrich Bullinger zweifellos eine Pionierrolle. Zwar gehörte er selber nie dem Lehrkörper der Zürcher Hohen Schule (Schola Tigurina) an, die, mit der vornehmlichen Aufgabe der Ausbildung evangelischer Pfarrer, aus der sogenannten Prophezei (oder Lectorium) hervorgegangen ist. Als Nachfolger Zwinglis und erster Pfarrer am Großmünster seit 1532 war er aber für die Entwicklung dieser Einrichtung in entscheidender Weise verantwortlich und tätig. Dass angesichts der zentralen Bedeutung der Bibelauslegung die Philologie und die ihr verwandten Disziplinen großes Gewicht erhielten, kann nicht verwundern. Etwas ferner lag die Förderung einer Weltweisheit, die nicht direkt mit dem Verkündigungsauftrag der Kirche zu tun hatte. Auch auf diesem Feld wurden aber früh an der Zürcher Hohen Schule Anfänge gemacht, deren bemerkenswerte Qualität und europaweite Ausstrahlung allerdings eher einer herausragenden Forscherpersönlichkeit, dem Stadtarzt und Naturforscher Conrad Gessner, zu verdanken ist, als dass sie auf ein ausgearbeitetes, auch die Naturforschung umschließendes reformatorisches Rationalitätskonzept zurückgeführt werden könnte. Immerhin verstand sich Gessner als Schüler Zwinglis und Bullingers und wusste seine Arbeit entsprechend theologisch zu legitimieren, wobei er umgekehrt durchaus auch Förderung von theologischer Seite in seinem Bereich erfuhr.
Humanistische „Rationalität“ und evangelische Theologie
2.
177
„Studiorum ratio“ – humanistische Rationalität im Rahmen der Schola Tigurina4
Bullinger selber kann als Vorreiter in Sachen Integration humanistischer Rationalität in die reformatorische Theologie oberdeutscher Prägung bezeichnet werden: Nach der Rückkehr aus Köln wirkte er seit 1523 – mit 19 Jahren – als Klosterlehrer am damals noch in der Zisterziensertradition geführten Kloster Kappel. Noch vor der Eröffnung der Zürcher Prophezei begann er dort exegetische Vorlesungen über neutestamentliche Schriften zu halten. Zugleich verfasste Bullinger verschiedene Schriften, die sich genuin hermeneutischen Fragen zuwendeten. So beispielsweise ein Buch mit dem Titel: „De propheta libri duo“, das bis heute nie in den Druck gelangte. Dann aber auch eine umfangreiche Schrift mit dem Titel: „Studiorum ratio“ (Stotz: 1987). Diese zunächst zu Übungszwecken abgefasste umfassende Studienanleitung in humanistischer Tradition wurde von dem noch nicht 24-jährigen Bullinger 1528 handschriftlich aufgesetzt; auch sie kam allerdings zu seinen Lebzeiten nicht in den Druck. An dem engen Zusammenhang von humanistischen Studien und reformatorischer Theologie lässt er dort keinen Zweifel: Da also die menschlichen Wissenschaften in Wahrheit Menschen aus uns machen, da wir ohne sie schwerlich gut sein können, da sie in nicht geringem Maße zur Deutung und zum wahren Verständnis der Heiligen Schriften beitragen, sollen alle Edlen und wahrhaft Wissensbeflissenen sie billigerweise nicht vernachlässigen, sondern vielmehr mit größter Aufmerksamkeit sie durch Lernen sich aneignen.5
Auch wenn Bullinger schließlich weder zu den führenden griechischen Philologen noch zu den führenden Hebraisten seiner Zeit gerechnet werden kann, waren seine frühen Versuche doch von großer Tragweite. Dies soll an drei Punkten ansatzweise erläutert werden: An Bullingers Verwendung der Rhetorik in der Exegese, in der sich die Verschmelzung von reformierter Theologie und Humanismus und deren innovatives Potenzial zeigt, an Bullingers Entdeckung und Betonung der hebräisch-biblischen Tradition in der Exegese und an seinem Verständnis der exegetischen Arbeit als solcher. Als Quelle sollen Bullingers Vorrede zum Römerbriefkommentar von 1533 und
4 Die Gedanken des folgenden Abschnitts greifen auf Thesen zurück, die bereits in einem anderen Kontext vorgetragen wurden, vgl. Opitz: 2010, 754 – 764. 5 „Cum ergo humanae literae vere homines ex nobis ipsis efficiant, cum boni absque istis aegre simus, cum non modice ad sacras literas interpretandas ac vere intelligendas conferant, debent nimirum ab omnibus ingenuis et vere studiosis non negligi, sed maxima diligentia addisci.“ Stotz: 1987, Bd.1, 58, Übersetzung ebd. 59. Zu den von Bullinger schon dort benutzten Werken des Erasmus vgl. ebd., Bd. 1, 321.
178
Peter Opitz
diejenige zu seinen neutestamentlichen Briefkommentaren von 1537 dienen (Bullinger : 1539).6
2.1
Die neue Funktion der Rhetorik in der Verbindung von Reformation und Humanismus
Im Vorwort zum Römerbriefkommentar an Berchtold Haller hebt Bullinger zwei Gedanken hervor: Zunächst thematisiert er ausdrücklich die „Schwierigkeiten der Schrift(interpretation)“.7 Gleichzeitig spricht er sich für die reformatorische Behauptung der Klarheit der Schrift aus. Und dies mit einem dem Gottesgedanken entnommenen Argument: Gott, die Wahrheit und das allerhellste Licht selber, kann nicht Ursprung von etwas Dunklem sein (Bullinger : 1539, fol. ar). Der Grund des Nichtverstehens liegt demzufolge bei den Menschen. Mit diesem reformatorisch-theologischen Argument geht Bullinger nun aber gerade nicht über die Probleme der Schriftauslegung hinweg, um dann seine eigene, subjektive Auslegung für die theologisch Verbindliche zu deklarieren. Vielmehr ist diese Feststellung der Ansatzpunkt für weitere hermeneutische Überlegungen. Anerkennt man etwa den Apostel Paulus als göttlich beauftragten Zeugen und Verkündiger, durch dessen Wort das göttliche Wort uns erreichen will, dann ist er zunächst als Redner zu lesen, der sich verständlich machen will. So gilt es, auf seine Sprache als Rhetor zu achten, auf deren Eigenart, deren rhetorische Figuren, deren Kontext, deren Duktus, um so dasjenige zu verstehen, was Paulus sagen will und in dem ihm eigenen Redestil sagt, in der menschlichen Sprache seiner Zeit, und mit dem Ziel, verstanden zu werden.8 Damit plädiert Bullinger gegen eine vorschnelle dialektisch-logische Verwendung biblischer Sätze und erst Recht gegen die Suche nach verborgenen theologischen Bedeutungen hinter dem grammatischen Textsinn. Die rhetorische Methode ist dasjenige Werkzeug, das die menschliche Sprache als lebendige, gestaltbare und dennoch zielgerichtete Rede zu verstehen sucht. Das Ge6 (zu den vorhandenen Drucken vgl. Heinrich Bullinger Bibliographie, 84 – 98). Über VD 16 zugänglich ist zur Zeit lediglich der Druck Zürich 1539, dessen Paginierung im Blick auf die hier angeführten Stellen aber mit dem Erstdruck übereinstimmt. Er wird an dieser Stelle als Referenztext verwendet: Bullinger : 1539. Zu Bullinger als Römerbriefexeget vgl.: Opitz: 2008, 148 – 165. 7 Das Marginal lautet: „Difficultas scripturae“, Bullinger: 1539, fol. ar. 8 „Obscuritas enim omnis et divinarum rerum difficultas e nobis, hoc est ex socordia nostra, deine ex idiomatum et schematum neglectu, postremo ex non observato orationis contextu enascitur … Caeterum si non teneatur orationis filium, nihil mirum est, si et prophetarum et apostolorum imo Rhetorum quoque disertissimorum scripta miscellaneae quaedam et phanaticorum hominum videantur esse commenta, ad quorum sensum nemo penetrare possit.“ Bullinger: 1539, fol. ar.
Humanistische „Rationalität“ und evangelische Theologie
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heimnis der biblischen Texte als Gottes eigenes Wort findet sich nicht durch das Verlassen der natürlichen menschlichen Sprache, sondern umgekehrt durch deren Erforschung. Es gibt nach Bullinger einen abergläubischen Umgang mit dem biblischen Text, der diesen in seiner Intention gerade verfehlt. Der zweite von Bullinger erläuterte Gedanke knüpft hier an: Ist beispielsweise der Römerbrief als Rede des Paulus zu verstehen, so geht es nun darum, ihn als solche zu analysieren, und dies in Bezug auf seine Form wie auf seinen Inhalt.9 Dabei geht es nicht darum, dem Brief bestimmte rhetorische Schemen überzustülpen, sondern umgekehrt ihn in seiner menschlichen Sprachbewegung zu erkennen.10 All dies entspricht Bullingers humanistischen Studien. Bereits während der Zeit seines Magisterstudiums in Köln hatte er ja die Römerbriefauslegung des Phrissenius gehört, der sich wiederum stark an Agricola orientierte. Voraussetzung für eine erfolgreiche Anwendung dieser Methode ist allerdings das, was Bullinger selber schon in seiner Studiorum ratio empfohlen hatte: Das intensive Studium von Texten klassisch-heidnischer Autoren im Dienst der Förderung von sprachlich-philologischen Kompetenzen, die auch für die Bibelauslegung notwendig sind (Stotz: 1987). Die philologischen und rhetorischen exegetischen Mittel, die Bullinger erwähnt, finden sich auch bei Erasmus und bei anderen Humanisten der Zeit. Die Verbindung dieser Methoden mit der Überzeugung, dass Gott in der Bibel als Redner auftritt, der sich in menschlicher Sprache verständlich machen will, und dass dies infolgedessen für die von Gott beauftragen biblischen Autoren ebenfalls gilt, führt demgegenüber nicht zu einer Ausscheidung der humanistischen Rationalität, wohl aber zu einer hermeneutischen Umorientierung. Denn nun wird die menschliche, kulturell kontingente Umgangssprache das Medium, in dem Gott begegnet, und erhält damit ein ganz neues Gewicht. Bullinger gehörte zu den ersten Exegeten der Reformationszeit, die eine philologische Exegese, wie sie Erasmus vorbildlich betrieb, mit einem rhetorischen Zugang zu den biblischen Texten, wie ihn im Bereich der Reformation Melanchthon geöffnet hatte, zu verbinden suchte.
9 Das Marginal lautet: „Orationis dispositio et phrasis“, Bullinger : 1539, fol. ar. 10 „Sed non vident superstitiosi, loquendi rationem et consuetudinem non esse petitam ex rhetorum praeceptis, sed praecepta ex diligenter observato naturali dicendi more. Id enim si viderent, mox intelligerent eos, qui in sacris contextum observant orationis, non Canones observare, sed nativum loquendi morem; sine quo nemo foeliciter in authoribus com prophanis tum sacris versabitur“, Bullinger: 1539, fol. ar.
180 2.2
Peter Opitz
Der Einbezug der hebräisch-biblischen Tradition
Es ist eine Eigenart der Zürcher Reformation, die bis in die Aufklärungszeit hinein ihre Wirkung zeitigte, dass der Geschichte eine besondere Aufmerksamkeit zugewendet wurde. Diese Aufmerksamkeit erstreckte sich auch auf die Bibel als Dokument, in dem sich Traditionsgeschichte widerspiegelt. In einem programmatischen Brief aus dem Jahre 1523 über das reformatorische Schriftprinzip konnte Bullinger formulieren: Das Neue Testament ist nichts anderes als die „Auslegung des Alten“.11 Das Schriftprinzip, dem gemäß die Bibel für sich selber spricht und biblische Texte mit biblischen Texten auszulegen sind und nicht mittels äußerer Instanzen wie Konzilien oder Päpste, führte Bullinger dazu, in besonderem Maße darauf zu achten, in welcher Weise das Neue Testament immer wieder mit Bezug auf das Alte Testament, die Hebräische Bibel, argumentiert. Wenn Paulus beispielsweise im ersten Vers seines Briefes an die Römer von Christus spricht, welcher der Sohn Gottes und zugleich der von den Propheten verheißene Messias aus dem Geschlecht Davids ist, dann spricht er nach Bullinger nicht nur inkarnationstheologisch, sondern nimmt auch auf die Traditionsgeschichte Bezug. Denn die neutestamentliche Botschaft wird von Paulus, nicht anders als von anderen neutestamentlichen Schriftstellern, mit der hebräischen Bibel bekräftigt, ja sie ist im Blick auf das Denk- und Sprachmaterial wesentlich aus ihr geschöpft.12 Entsprechend legte Bullinger stets großes Augenmerk auf die paulinische Argumentation vom Alten Testament her. Paulus, selber ein pharisäischer Jude, argumentiert aus der jüdischen Tradition heraus. Sein Evangelium ist nicht neu, sondern knüpft an die prophetischen Verheissungen und an die davidische Königstradition der hebräischen Bibel an und bezieht aus ihr auch einen guten Teil seiner Autorität.13 Damit wird zwar einerseits ein fester, heilsgeschichtlicher Rahmen konstruiert. Andererseits eröffnet dieser Rahmen Raum für die Entdeckung von kulturellen und sprachlichen Unterschieden innerhalb der einen Bibel und damit für die Frage etwa nach der Bedeutung von Begriffen und sprachlichen Wendungen in der Zeit und Tradition, in der sie geäußert wurden. Dies hat auch sachlich-theologische Konsequenzen, beispielsweise auf das Abendmahlsverständnis: Hat Jesus sein letztes Mahl mit den Jüngern nach dem Zeugnis der Evangelien im Horizont des Passahmahls gefeiert und diese Tra11 „novum testamentum aliud non esse quam veteris interpretationem“, Bullinger: 1991, 25. 12 „… Evangelium roborari propheticis scripturis, imo ex iis esse petitum …“, Bullinger : 1539, fol. 4 f. 13 Bullinger : 1539, fol. 4 (zu Rom 1,1 f).
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181
dition auf sich umgedeutet, ist das Abendmahl, abgesehen vom Messopferdiskurs, zunächst im Licht dieser Traditionsgeschichte zu interpretieren: Das est, das Jesus nach Matt 26,28 mit Blick auf das „Blut des Bundes“ spricht, ist im Licht des est zu lesen, das Mose gemäß Exod 24,8 über das „Blut des Bundes“ gesprochen hatte. Ein anderes Beispiel ist Bullingers Auslegung von Rom 9 – 11. In langer theologiegeschichtlicher Tradition wurden diese Kapitel als göttliche Lehre über die Erwählung und Vorherbestimmung der einzelnen Menschen verstanden. Damit stand die Frage der göttlichen Verwerfung zur Debatte. Noch Calvin und nach ihm verstärkt Beza haben dies so getan. Bullinger hingegen versteht Rom 9 – 11 nicht als Mitteilung über ein vorzeitiges göttliches Dekret, sondern als Verkündigung des Paulus (wieder kommt die Rhetorik entscheidend ins Spiel), die zwar auf das drohende und sehr ernst zu nehmende göttliche Gericht hinweist, insgesamt aber Gottes universalen und unverrückbaren Heilswillen ins Zentrum stellt. Rom 9 – 11 ist als Anrede Gottes an sein Volk in einer ganz bestimmten geschichtlichen Situation zu lesen und nach Bullinger ohne diesen (heils-) geschichtlichen Kontext nicht angemessen zu interpretieren.
2.3
Auslegung als Interpretationsvorschlag im Kontext einer Fachdiskussion
Schliesslich sei noch ein auf den ersten Blick unscheinbarer, aber überaus wichtiger Zug von Bullingers Schriftauslegung genannt: Für ihn ist Exegese stets ein in ein Kommunikationsgeschehen eingebundener Interpretationsvorschlag. Der Grund ist auch hier ein theologischer : Ist das Schriftprinzip wirklich ernst genommen, kann letztlich nur die ausgelegte Schrift selber entscheiden, ob eine Auslegung sachgemäß ist oder nicht. Entsprechend ist es weit mehr als nur eine humanistische captatio benevolentiae, wenn Bullinger immer wieder seine Leserschaft zu kritischer Prüfung seiner Kommentare auffordert. So beginnt er etwa seine Vorrede zur Gesamtausgabe seiner Auslegung der paulinischen Briefe mit dem Satz: Als erstes wollen wir darauf hinweisen, lieber Leser, dass wir keine Gesetze, sondern Kommentare geschrieben haben, die man prüfen muss und nicht für göttliche Orakel halten darf. Die Bibel allein ist der einzige Massstab der Wahrheit. Wo du also siehst, dass ich ihr in meiner Auslegung nicht ganz gerecht geworden bin, so lass meinen Kommentar liegen und folge der Bibel. (Bullinger : 1539, fol. aaa2r)14
Die Folgen sind weit reichend, denn damit kann jede als christliche Wahrheit vertretene Behauptung nur ein begründetes und zur Diskussion gestelltes Sich14 Übersetzung vom Verf.
182
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Annähern an den Sinn oder die Konsequenzen biblischer Texte sein. Ihre Überzeugungskraft liegt in dem Maße an Evidenz, die sich bei anderen Lesern des Bibeltextes einstellt. Jede unhinterfragbare oder durch religiöse Autoritäten legitimierte theologische Rede ist so im Prinzip ausgeschlossen. Und weiter bedeutet es, dass sich Schriftauslegung nur kommunikativ, als gemeinsames Bemühen um das rechte Verstehen eines biblischen Textes vollziehen kann. Bullinger selber wusste sich eingebunden in entsprechende Kommunikationsnetze, zunächst innerhalb der Zürcher Gelehrtenwelt und der Schola Tigurina, wo er regelmäßig alttestamentliche Vorlesungen als Hörer besucht hat, dann aber auch mit Mitstreitern im gesamten oberdeutschen, ja europäischen Raum. Mit Kollegen in Bern, Basel, Strassburg, Ungarn, England usw. wurden auch exegetische Probleme diskutiert. Entsprechend kann er seine Gesprächspartner im Bemühen um die Auslegung der Bibel in seinen Kommentaren dankend erwähnen. Bereits seine Lehrer Zwingli und Oekolampad hatten ihm dies vorgemacht. Gelehrtenkommunikation mit paritätischer Beteiligung hat für die Entwicklung von Rationalität also fundamentale Bedeutung, auch wenn die Konsequenzen dieser Einsicht im 16. Jahrhundert längst nicht so gezogen worden sind, wie sie sich für spätere Epochen präsentiert haben: Die Verbindung von humanistischem Bildungsverständnis mit einem Gottesverständnis, das Gott der kirchlichen wie der individuell-subjektiven Verfügungsgewalt entzieht und ihm die Freiheit zu wahren versucht, von sich selber zu reden, führt dazu, dass die Frage nach der Wahrheit tendenziell in ein Kommunikationsgeschehen einer Forschungsgemeinschaft mündet, in der das bessere Argument zählt und nicht eine höhere hierarchische Stellung oder ein größeres religiöses Ansehen.
3.
Enzyklopädische „Rationalisierung“ der Wirklichkeit am Beispiel von Conrad Gessner
3.1
Der erste Einbezug der Naturforschung in die Hohe Schule
Auch wenn Heinrich Bullinger selber Pfarrer und Bibelexeget blieb, umfasste sein Humanismus das Bewusstsein der Notwendigkeit einer umfassenden Bildung, welche die rein exegetischen Zwecke und damit die Philologie – über die auch Erasmus kaum hinausgelangt war – weit überstieg. Wo immer der Zürcher Antistes in den biblischen Texten dazu auch nur geringen Anhalt fand, betonte er die hohe Bedeutung christlicher Schulen und Bildungseinrichtungen (vgl Göjing: 2007, 437 – 458). Im Unterschied etwa zu Calvins „Institutio“ behandelt Bullinger in den „Dekaden“ nicht nur das Amt des Lehrers, sondern weist
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nachdrücklich auf die Notwendigkeit von Schulen in der Kirche hin, mit Belegen aus dem Alten Testament, aber auch aus der „heidnischen“ Antike: Die Ägypter, Plato, Babylonier, Meder, Perser, Griechen, Römer bezeugen den Gewinn von Schulen, ja Jesus selber und die Apostel haben Schulen gestiftet und so die Notwendigkeit der Bildung in der Kirche bezeugt (vgl. Bullinger : 2008, 1042 – 1045).15 Bullinger selber hat sich bekanntlich auf dem Gebiet der Geschichte in außerordentlicher Weise hervorgetan, ohne dass dieses Gebiet ein eigenes Fach am Lectorium geworden wäre (Moser : 2007, 459 – 491). Anders verlief die Entwicklung eines noch weiter vom Umkreis der Bibelexegese entfernten Forschungsbereichs. Entsprechend der Aufgabe der Pfarrerausbildung besaß die Zürcher Hohe Schule zunächst vier Professuren: Konrad Pellikan und Theodor Bibliander als professores theologici vertraten das Alte Testament, Rudolph Collin als professor graecus das Neue und Johann Jakob Ammann als professor latinus die Fächer Dialektik und Rhetorik. Unter Heinrich Bullingers Aufsicht wurde allerdings bereits 1540 eine weitere, „naturphilosophische“ Professur eingerichtet. Diese fünfte Professur mit dem Titel „Professio physica“ oder „philosophica“ sollte sich einerseits der „praktischen Philosophie“ (Ethik), andererseits der Naturkunde widmen. Sie wurde zunächst von Otto Werdtmüller besetzt, ab 1541 dann von Conrad Gessner, der diese Stelle bis zu seinem Tod an der Pest 1565 innehatte (vgl. Bächtold: 1999, 38 – 41). Auch Conrad Gessner kam von der Philologie her. Er wurde zuerst von Zwingli gefördert, promovierte dann aber in Medizin und wirkte in Zürich, wo er eng mit Heinrich Bullinger befreundet war, hauptamtlich als Arzt. Im Rahmen seines Lehrauftrags an der Zürcher Hohen Schule zwischen 1541 und 1565 hielt Gessner neben Vorlesungen zur Ethik, wo er sich vornehmlich auf Aristoteles’ Nikomachische Ethik stützte, an vier Wochentagen jeweils eine Stunde solche zur Naturphilosophie (vgl. Leu: 1990, 53).16 Status und finanzielle Ausstattung dieses von Gessner eingenommenen ersten Nicht-theologischen Lehrstuhls an der Hohen Schule sind eher als bescheiden zu bezeichnen. Immerhin erhielt er ab 1558 eine Chorherrenpfründe (Fischer : 1967, 227). Gessners Vorlesungen waren die einzigen, deren Besuch fakultativ war, und als Stadtarzt verdiente er derart wenig, dass sich seine reiche Publikationstätigkeit auch daraus erklären lässt. Dessen ungeachtet gelangte Gessner innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem gesamteuropäischen, auch die Konfessionsgrenzen überschreitenden Ruf, der zahlreiche Gelehrte aus ganz Europa veranlasste, nach Zürich zu pilgern, und der ihn als herausragenden Naturbeobachter und Enzyklopädisten seiner Zeit in die Wissenschaftsgeschichte eingehen ließ.17 Wenige Jahre nach 15 Bullinger : 2004 – 2007, Bd. 5, 526 – 530. 16 Zu Gessners enger Beziehung zu Zwingli und Bullinger vgl. Fischer : 1967, 218.227.234. 17 Gessners Gästebuch enthält 227 Autographen von Besuchern aus ganz Europa (Fischer :
184
Peter Opitz
der Etablierung eines geregelten Curriculums an der jungen Zürcher Theologenausbildungsstätte war mit Gessners Wirken ein erster Schritt zur Integration der „Weltweisheit“ in den theologischen Lehrbetrieb vollzogen. Damit wurde eine Tradition der Naturforschung und Wissenssammlung ins Leben gerufen, deren Kontinuität sich bis ins 19. Jahrhundert erstreckt und die schließlich in die Universität einging (Leu: 1990, 50 f). Kann es an dieser Stelle nicht um eine Darstellung des facettenreichen und immensen Oeuvres Conrad Gessners gehen, so ist ein kurzer exemplarischer Einblick in sein Werk für die vorliegende Fragestellung doch sinnvoll.
3.2
Enzyklopädische Rationalisierung des menschlichen Wissens in seiner Gesamtheit
Man könnte Gessners Arbeit als Versuch einer umfassenden enzyklopädischen Rationalisierung des gesamten verfügbaren menschlichen Wissens, und hier insbesondere der „Weltweisheit“ charakterisieren. Dies wird etwa deutlich auf dem Gebiet der literarischen Wissensübermittlung. Hier hat Gessner versucht, in Gestalt einer mehrbändigen, letztlich nicht ganz vollendeten Bibliotheca universalis, erschienen zwischen 1545 und 1549, die gesamte gedruckte gelehrte Literatur seiner Zeit zu erfassen (Gessner : 1966). Er klassifizierte sie zu diesem Zweck zunächst nach ihrer Sprache: hebräische, griechische und lateinische Werke. Der volle Titel gibt bereits Auskunft über das Unternehmen und lautet in deutscher Übersetzung: Universalbibliothek oder reichhaltiges Verzeichnis aller in den drei gelehrten Sprachen, das heisst Lateinisch, Griechisch und Hebräisch, abgefassten Schriften, sowohl der uns überlieferten wie der verlorengegangenen, der antiken wie der neueren bis auf die Gegenwart, der gelehrten und der ungelehrten, der veröffentlichten wie derjenigen, die noch ungedruckt in den Bibliotheken verborgen liegen. Ein neuartiges Werk, das nicht nur notwendig ist zum Aufbau öffentlicher und privater Bibliotheken, sondern äusserst wertvoll für Beflissene jeder Kunst oder Wissenschaft, um ihre Studien nutzbringender zu gestalten. (Fischer : 1967, 86)
Die Bibliotheca universalis umfasst rund 2‘700 Autoren und ca. 15‘000 Werke. Sie ist aber weit mehr als eine bloße Auflistung aller bekannten Bücher : Neben einer möglichst genauen Buchbeschreibung, bestehend aus Angaben zum Titel, zum Verfasser, zum Druckort, zum Erscheinungsjahr und Verleger, enthält sie auch Kurzbiographien: Angaben über Leben und Bedeutung der Autoren in alphabetischer Abfolge. Der zweite und dritte Band der Bibliotheca universalis 1967, 228). Zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung und Würdigung Gessners vgl. Friedrich: 1995.
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185
ordnet unter dem Titel „Pandectae“ die aufgelisteten Titel nach Wissenschaften. Dabei werden 21 Wissensgebiete genannt, die jeweils wieder mehrfach untergliedert sind (Gessner : 1966). Über 30‘000 Schlagwortbegriffe nehmen Bezug auf Autoren des ersten Bandes. Seinem Selbstverständnis nach, alles Wissen über die Wirklichkeit in gesammelter, geordneter und lexikalisch erschließbarer Weise zur Darstellung zu bringen und zugänglich zu machen, steht das Werk im Dienst der Förderung der Bildung auf allen Gebieten der Wissenschaft. Dazu gehörte nach Gessner, um ein Beispiel zu nennen, auch und vorrangig die Theologie. Seine Bestimmung der theologischen Disziplinen in den Partitiones theologicae (Gessner : 1549), wie sie sich ihm im Horizont einer reformierten theologischen Ausbildung aufdrängten, ist in wesentlichen Teilen bis heute gültig. Sie war allerdings der zeitgenössischen Realität an der Zürcher Hohen Schule weit voraus. Gessner unterscheidet – nach einer einführenden Orientierung für die Studenten (Isagogicum) – erstens die Bibelwissenschaften des Alten und Neuen Testaments einschließlich der jüdischen Studien (Biblicum), zweitens die metaphysische Theologie (Metaphysicum vel de substantiis incorporeis), in der die Gotteslehre, die Christologie, die Pneumatologie und die theologische Anthropologie untergebracht sind – in etwa der heutigen Dogmatik entsprechend; drittens die Ethik (Ethicum) und viertens die Ekklesiologie (Ecclesiasticum, vel circa ecclesiam integram, vel personas religiosas, vel vel ceremonias), die den Bereich abdeckt, der heute wohl der praktischen Theologie zugerechnet wird. Als Fünftes kennt Gessner, im Konfessionellen Zeitalter nicht verwunderlich, eine polemische Theologie (Polemicum) und schließlich die historische Theologie (Historicum) (Fischer : 1967, 74).18 Alle Bereiche werden wiederum fein untergliedert. Wohl nicht zu Unrecht wurde Gessner schon als Vater der Bibliographie bezeichnet (Fischer : 1967, 31 – 37).
3.3
Enzyklopädische Rationalisierung der Natur
Weit über den Schweizer und über den theologischen Raum hinaus berühmt geworden ist Gessner durch seine enzyklopädischen Werke zur Tier-, Pflanzenund Mineralienwelt. So verfasste er eine große, mehrbändige Tiergeschichte (Historia animalium), in welcher der erste Band den Säugetieren, der zweite den Amphibien und vierfüssigen Reptilien, der dritte den Vögeln und der vierte den Fischen und im Wasser lebenden Tieren gewidmet ist. Erkenntnisquelle der mit vielen bewundernswürdig genauen Skizzen versehenen Bände ist einerseits die eigene Beobachtung, wesentlich und unabdingbar sind allerdings auch Tierbeschreibungen aus der überkommenen entsprechenden Literatur, die ja bis auf 18 Vgl. die „tabula“ in Gessner : 1549, fol. a5.
186
Peter Opitz
Aristoteles zurückgeführt werden kann. Ein analoges Werk verfasste Gessner für das Feld der Botanik und der Mineralien und Fossilien – verstanden als alle aus der Erde gegrabenen Gegenstände, deren Gestalt an Tiere, Pflanzen oder Artefakte, oder Teile davon, erinnerte. Als Stadtarzt wesentlich an Gedanken des medizinisch-therapeutischen Nutzens seiner Naturstudien orientiert, sammelte Gessner darüber hinaus vielfältige anatomische, medizinische, therapeutische und chemische Erkenntnisse und formulierte und skizzierte Beobachtungen und Experimente. Während einige Werke schon zu seinen Lebzeiten erscheinen konnten, etwa 1555 ein Buch über die Chirurgie, wurden manche erst nach seinem Tod 1565 herausgegeben.19 Zahlreiche seiner Schriften dokumentieren seine Verwurzelung in der hippokratisch-galenischen Tradition.20 Dabei trat Gessner sowohl als Kommentator wie als Editor von Galens Schriften hervor (Gessner : 1562; vgl. Fischer : 1967, 110 – 114). Ein Buch über die Milch und deren Verarbeitung (Gessner : 1541) enthält einen berühmt gewordenen Brief „über die Bewunderung der Gebirgswelt“: Vielleicht erstmals und das 18. Jahrhundert vorwegnehmend wird hier, in einem Zeitalter, in dem die Natur weithin als Bedrohung wahrgenommen wurde, die Schönheit der Bergwelt als Ganzes, natürlich in schöpfungstheologischem Rahmen, beschrieben. Gessner selber bestieg später den Pilatus und verfasste eine 1555 gedruckte Beschreibung seiner Exkursion auf einen Gipfel der Pilatuskette. Sie gilt als die „erste wissenschaftliche Monographie über einen Schweizer Berg und eines der wichtigsten Dokumente über die Geschichte des Alpinismus“ (Fischer : 1967, 208). Ohne die „utilitas“-Argumentation zu vergessen, hebt Gessner die wohltuende Wirkung der Gebirgswelt auf Körper und Geist des Menschen hervor, beschreibt aber auch die Pflanzenwelt auf verschiedenen Vegetationsstufen. Die zeitgenössische Angst vor den Bergdämonen gerade im Pilatusgebiet wird von Gessner in diesem Zusammenhang explizit mit Hinweis auf den reformatorischen Glauben an Gott den Schöpfer und Lenker aller Dinge als Aberglaube zurückgewiesen. Deutlich im Hintergrund steht dabei Zwinglis Schöpfungs- und Vorsehungstheologie mit ihrer klaren Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf einerseits, mit ihrer 19 Übersichten über die gedruckten Werke Gessners, deren Titel hier nicht im vollen Wortlaut aufgelistet zu werden brauchen, finden sich bei Leu: 1990, 301 f; Braun: 1990, 156; Fischer : 1967, 71. Eine ausführliche Beschreibung bieten Fischer : 1967, und Braun, 1990. 20 Als Beispiel sei angeführt: Compendium ex Actuarii Zachariae libris de differentiis urinarum, iudiciis & praevidentiis: Universalis doctrina Claudii Galeni Pergameni de compositione pharmacorum secundum locos affectos a capite ad calcem, particularibus medicamentis remotis: opus medicum, practicum, vere aureum & postremae lectionis. Sylvula Galeni experimentorum, et aliorum aliquot / Omnia per Conradum Gesnerum medicum Tigurinum in studiosorum gratiam congesta, Tigurini: apud Christophorum Froschouerum, [1541] (VD 16 A 164, Vischer C-297). Einen Eindruck von Gessners wissenschaftsgeschichtlicher Verankerung vermittelt bereits ein Blick in seine Bibliothek: Leu / Keller / Weidmann: 2008.
Humanistische „Rationalität“ und evangelische Theologie
187
Betonung der in allem, auch in allen Naturphänomenen wirkenden göttlichprovidenziellen Güte andererseits, die nicht ernsthaft durch teuflische Gegenkräfte konkurrenziert wird (vgl. Leu: 1990, 97 f). Auf dieser Grundlage kann Gessner an die Stelle der Dämonenfurcht seiner Zeitgenossen die Bewunderung der Schönheit der Schöpfung setzen und die Bergwelt auf ihre therapeutischmedizinischen Wirkungen hin reflektieren (vgl. Fischer : 1967, 208).
3.4
Zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung Conrad Gessners
Udo Friedrich stellt in seiner Untersuchung zu Gessners „Historia animalium“ nicht nur die offensichtlichen Kontinuitäten zur Wissenschaftstradition der Antike, aber auch des Mittelalters heraus, sondern betont zugleich die Distanz von Gessners Verfahren zur antiken und mittelalterlichen Naturenzyklopädik. Sie ergibt sich wesentlich dadurch, dass Gessner sich der Kategorisierungsmittel der zeitgenössischen humanistischen, an der Literatur orientierten artes bediente und diese seinem Gegenstandsbereich anpasste (Friedrich: 1995, 11. 247 – 250). Zwar haben sich in Gessners Augen die ratio als Weg der Deduktion und die experientia als Weg des induktiven Fortschreitens von der Einzelbeobachtung zur Erfassung des Ganzen wechselseitig zu ergänzen, und er kann von einer notwendigen Harmonie von ratio und experientia sprechen (vgl. Leu: 1990, 78); auch deckt sich sein experientia-Begriff nur sehr begrenzt mit dem neuzeitlichen-wissenschaftlichen Verständnis dieses Ausdrucks (Friedrich: 1995, 47 – 53). Trotzdem ist, vor allem gegenüber dem überkommenen, den Universitätsbetrieb der Frühen Neuzeit noch stark prägenden wissenschaftlichen Umgang mit der Natur, Gessners neue Gewichtung, seine Zuwendung zum konkreten Stoff und Einzelphänomen schwer zu übersehen. Auch wenn der überkommene ontologische Rahmen und die vom Ganzen zu seinen Teilen fortschreitende enzyklopädische Darstellungsweise beibehalten werden, sind Gessners Werke ein sprechender Ausdruck für die steigende Bedeutung des genauen Beobachtens der Details und des minutiösen Abbildens der konkreten Phänomene der Natur. Beobachten, Sammeln und Beschreiben erhalten ihren eigenen Wert, demgegenüber Gessners „utilitas“-Argumentation gelegentlich eher sekundär wirkt.
188 3.5
Peter Opitz
Rationale Erfassung der Schöpfung auf dem Boden reformatorischer Schöpfungstheologie
Wichtiger als die Frage der wissenschaftsgeschichtlichen Verortung Gessners ist für unseren Zusammenhang, dass dieser seine enzyklopädisch-rationalisierende und naturforschende Tätigkeit im Rahmen des neuen, reformierten Wirklichkeitsverständnisses ausübt und legitimiert sieht, wie es an der Zürcher Hohen Schule auf der Grundlage von Zwinglis Schriften vertreten wurde. Zwar war im zeitgenössischen Diskurskontext mit der fundamentalen Konzentration auf die Bibel als Quelle nicht nur eines erneuerten Christentums, sondern der Gottesund menschlichen Selbsterkenntnis überhaupt die vornehmliche Zuwendung zu den schriftbezogenen Disziplinen wie der Philologie und der Rhetorik gegeben. Zugleich hatte der Reformator Zwingli aber auch die Schöpfungstheologie keineswegs vernachlässigt. Diese ist bestimmt von einem theologischen und einem anthropologischen Leitgedanken. Ersterer beinhaltet Gott als einzige Quelle alles Guten und Wahren, der, ungeachtet seiner kategorialen Differenz von der Welt in der Geschöpfwelt, unablässig aktiv und fürsorglich am Werk ist.21 Letzterer geht davon aus, dass der nach dem Bild Gottes geschaffene Mensch dazu bestimmt ist, im rechten Gebrauch seiner geistigen Fähigkeiten ebenso wie im ethischen Lebensvollzug dieses Bild zu realisieren. Allerdings legte Zwingli hier den Akzent deutlich auf die Ethik.22 Dennoch war damit die Türe offen zu einer neuen, mit rationalen Mitteln in Angriff zu nehmenden Würdigung der Geschöpfwelt in ihrer Vielfalt und in ihrem Reichtum, unter Einbezug auch dessen, was Philosophen in der ihnen zuteil gewordenen Weisheit über Phänomene und Wesen der Natur bereits gesehen und formuliert hatten.23 Zwar ist für Zwingli, der soteriologisch streng den unfreien Willen vertrat, Gotteserkenntnis und damit auch die Einsicht in das Wesen der geschöpflichen Wirklichkeit und ihrer Bestimmung nur über das göttliche Wort zu finden, konkret in der biblisch bezeugten Gottes- und Christusoffenbarung.24 Zugleich aber konnte der Zürcher Reformator, unter dem Vorzeichen seiner Gottes- und Vorsehungslehre dem Vorbild des Lukanischen Paulus folgend (Acts 17), auch antik-naturphilosophische Gedanken, kritisch am Prüfstein Christus geprüft, in sein biblischtrinitarisch begründetes Schöpfungsverständnis integrieren. Auch „heidnische“ Erkenntnis der Geschöpfwelt steht bestimmungsmäßig im Dienst des christli21 Als Ganzes zu konsultieren ist hier natürlich die klassische Schrift Zwinglis Sermonis de providentia dei anamnema, insbesondere Zwingli: 1905ff, Z VI.3, 64 – 150. 22 Vgl. etwa Zwingli: 1905ff, Z I, 349 – 353 (Zwingli: 1995, ZS I, 114 – 118). 23 Natürlich ist hier vor allem zu denken an Zwingli: 1905ff, Z VI.3, 118 – 120. Bullinger: 2008, Dec. 4,4, S. 591,2 – 20. 24 Vgl. z. B. Zwingli: 1905ff, Z I, 338,22 – 25; 344,6 – 345,33; 365,24; Z III, 654,28 – 656,5; 643,1 – 34.
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189
chen Staunens über die Naturwelt, das, zum Lob des Schöpfers und im Dienst einer Vertiefung der Gottes- und Selbsterkenntnis, das Bestreben einer genaueren Wahrnehmung der Phänomene aus sich heraussetzt. Gessners beschreibende und klassifizierende Naturgeschichte ist auf dieser theologischen Grundlage entwickelt. Denn alles Geschöpfliche „besteht in seiner Ordnung und Klasse“, wie Zwingli in seiner Providenzschrift erläutern konnte, und dazu illustrierend zwölf auf dem Land, in der Luft und im Wasser lebende Tierarten anführt – den Schöpfungsbericht Gen 1 mit der wohl auf Hippokrates zurückzuführenden allgemeinen antiken Anschauung verbindend (Zwingli: 1905ff, Z VI.3, 126). Heinrich Bullinger hat diesen Gedankenstrang Zwinglis nicht ins Zentrum seiner Schriften gestellt, ihn aber doch klar fortgeführt. In seinen „Dekaden“25 weiß er staunend den vielfachen Nutzen der Schöpfung für den Menschen zu preisen und hebt zugleich die hervorragende Stellung des Menschen, gleichsam Stellvertreter Gottes innerhalb der Schöpfwelt, hervor : Gott hat ihn „wie in einen großartigen und mit allem Hausrat prächtig eingerichteten Palast hineingeführt und ihm alles unterworfen.“ (Bullinger : 2004 – 2007, Bd. IV, 443; Bullinger : 2008, Dec. 4,4, S. 592,38 – 592,2). In verschiedenen Vorreden zu seinen Werken rechtfertigt Gessner seine Beschäftigung mit der Natur in analoger Weise schöpfungstheologisch: Gott hat dem Menschen in Gestalt der Natur eine Wohnstätte eingerichtet und will nicht nur im Himmel, sondern auch in der Geschöpfwelt anerkannt, verehrt und geliebt werden. Hat er seinen expliziten Willen im Dekalog, also im Wort mit eigener Hand den Menschen überliefert (vgl. Exod 31,18), so ist seine Schöpfung gleichsam die „andere Hand“ bzw. der „andere Finger“ Gottes: Darstellungen und Bilder seiner Macht, Weisheit und Güte, um die Menschen zu seiner Verehrung anzuregen (vgl. Rom 1,20).26 In diesen doxologischen Rahmen ordnet Gessner letztlich auch die „utilitas“ (Leu: 1990, 79)27 ein; Ist die Schöpfung, wie die Bibel lehrt, dem Menschen untertan und diesem zum Nutzen gemacht, so gehört ein entsprechender Umgang mit ihr zur geschöpflichen Bestimmung des Menschen, was Gessner in verschiedener Hinsicht konkretisiert: Eine bessere Kenntnis der Tiergeschichte nützt der Medizin und damit der Therapie von Krankheiten von Menschen, das Studium der Tiere als Mitgeschöpfe dient dem besseren Verständnis verschiedener menschlicher Tätigkeiten im Umgang mit 25 Vgl. für Bullinger : Bullinger : 2008, Dec. 4,4, S. 591,2 – 20. 26 Vgl. etwa Gessners Vorrede zu: Ailianou ta euriskomena apanta: Claudii Aeliani praenestini pontificis et sophistae, qui Romae sub Imperatore Antonio Pio vixit, meliglossus aut meliphthongus ab orationis suavitate cognominatus, opera, quae extant, omnia Graece Latineque e regione, uti versa hac pagina commemoratur / partim nunc primum edita, partim multo quam antehac emendatiora in utraque lingua, cura & opera Conradi Gesneri, Tiguri [1556] (VD 16 A 320, Vischer K 42). 27 „ad usum hominis“, vgl. Zwingli: 1905ff, Z VI.3, 118.
190
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der Natur wie Ackerbau, Tierzucht, Jagd und Handwerk. Darüber hinaus lässt sich die Tierwelt unter moralischen Gesichtspunkten betrachten als Exempelsammlung von Tugenden und Laster (Friedrich: 1995, 38 – 40). Und schließlich ist die Natur dem Menschen auch als Spiegel der Selbsterkenntnis gegeben, die nicht zuletzt seine Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit beinhaltet (Leu: 1990, 84 – 86). All dies wird von Gessner ausführlich biblisch begründet mit Berufung auf schöpfungstheologische biblische Texte wie Ps 148 oder Job 38 – 39, oder auch mit Hinweisen auf die in der Bibel begegnende Verwendung von Tieren in ethischen oder theologischen Argumentationszusammenhängen: Lämmer und Böcke, Tauben und Schlangen, Ochsen, Esel und Schweine werden in biblischen Wendungen der menschlichen Selbsterkenntnis vor Gott dienstbar gemacht, aber auch als Gleichnisse in Anspruch genommen für die göttliche – auch und gerade den Menschen zugewendeten – Providenz.28 Im Blick auf eine Charakterisierung dieser Argumentation Gessners als „natürliche Theologie“29 ist allerdings Vorsicht geboten. Auch für Gessner ist, wie für die Zürcher Reformatoren, die Natur ein Spiegel, in dem derjenige göttliche Wille wiedererkannt werden kann, der dem Christenmenschen erst durch das geisterleuchtete göttliche Wort eröffnet worden ist.30 Gessner bleibt somit im Blick auf die theologische Funktion der Schöpfung und ihrer Erforschung durchaus innerhalb der Grenzen, die ihm von Rom 1 und dessen reformatorischer Auslegung her vorgegeben sind.31 Andererseits kann Gessner über Rom 1 hinaus schöpfungstheologische biblische Texte heranziehen, denen von den Reformatoren selbst, wohl aufgrund ihrer anders gelagerten Diskurse, weniger Beachtung zuteil wurde. Die angezeigte theologische Nähe von Gessners Argumentation zu Zwingli ist kein Zufall, war ihm doch Zwingli, der ihm 1531 durch ein Stipendium den 28 Vgl. etwa Gessners Epistola nuncupatoria zum ersten Band der Historia animalium (Conradi Gesneri medici Tigurini historiae animalium lib. I. de quadrupedibus viviparis : opus philosophis, medicis, grammaticis, philologis, poÚtis & omnibus rerum linguarumque variarum studiosis, utilissimum simul iucundissimumque futurum, Tiguri: apud Christ. Froschoverum, anno 1551 [VD 16 G 1723, Vischer C 433]); dazu Leu: 1990, 89. 29 So Leu: 1990, passim. 30 Dies gilt auch für Zwinglis Umgang mit der „natürlichen“ Erkenntnis der Schöpfung und deren Zeugnis etwa bei Seneca ungeachtet dessen, dass sich dabei verschiedene gedankliche Traditionen und Motive finden lassen. Zum Ganzen dieses Themenkomplexes, der an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden kann vgl. immer noch Pfister: 1952. In eigenständiger Weise Zwinglis Erbe aufnehmend, ordnet dann Bullinger die „historia … naturalis“ (Bullinger : 2008, Dec 4,3, S. 577,12) in die Betrachtung der Werke des Gottes ein, des Gottes, der sich zunächst in seinen Namen und somit in der biblischen Geschichte offenbart hat; vgl. Bullinger : 2004 – 2007, Bd. IV, 389 – 426; Leu: 1990, 88 f. 31 Vgl. Zwinglis Auslegung von Rom 1,19: Zwingli: 1905ff, Z III, 641,10 – 642,37 (Zwingli: 1995, ZS III, 55 – 58).
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Besuch des Carolinums ermöglicht hatte (Egli: 1973, Nr. 2003), sein geistlichtheologischer Vater. Auf die enge Verbindung zu Bullinger wurde bereits hingewiesen. Während die wahre Philosophie sich der Theologie als dem Haupt aller Wissenschaften unterordnet, wie Gessner selbstverständlich betont, so weist andererseits die sachgemäße, Gottes Wirken in seiner Schöpfung und Bestimmung des Menschen zum „Bilde Gottes“ würdigende Theologie die Philosophie, zu der die enzyklopädische Erfassung der Weltweisheit wie die Naturkunde gehört, nicht zurück, sondern gibt ihr den rechten Platz – zwar vorerst nur am Rande der reformierten Theologenausbildung, aber immerhin doch bereits innerhalb der Hohen Schule.
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Peter Opitz
[Gessner, Conrad] (?1549?), Partitiones theologicae: pandectarum universalium Conradi Gesneri liber ultimus: Ad lectorem. Pandectis nostris sive secundo Bibliothecae tomo, cuius libri XIX nuper editi sunt, sacrosanctam theologiam … totius operis colophonem hic adiungimus, medicinales etiam partitiones quae solae restant, alias seorsim, si Deus annuerit, locupletissimas edituri, Tiguri: Christophorus Froschouerus excudit, anno 1549 (VD 16 G 1700, Vischer C 406). Gessner, Konrad (1966), Bibliotheca universalis und Appendix, [Faks.], Osnabrück. Göjing, Anja (2007), Schulausbildung im Kontext der Bibel. Heinrich Bullingers Auslegung des Propheten Daniel (1565), in: Emidio, Campi / Peter, Opitz (Hg.), Heinrich Bullinger : life – thought – influence, Zurich, Aug. 25 – 29, 2004, International Congress Heinrich Bullinger (1504 – 1575), Zürich, Bd. 1, 437 – 458. Leu, Urs Bernhard (1990), Conrad Gesner als Theologe: Ein Beitrag zur Zürcher Geistesgeschichte des 16. Jahrhunderts, Bern. Leu, Urs Bernhard/Keller, Raffael/Weidmann, Sandra (2008), Conrad Gessner’s private library, Leiden. Moser, Christian (2007), die Evidenz der Historie. Zur Genese, Funktion und Bedeutung von Heinrich Bullingers Universalgeschichtsschreibung, in: Emidio, Campi / Peter, Opitz (Hg.), Heinrich Bullinger : life – thought – influence, Zurich, Aug. 25 – 29, 2004, International Congress Heinrich Bullinger (1504 – 1575), Zürich, Bd. 1, 459 – 491. Opitz, Peter (2008), Bullinger on Romans, in: Reformation Readings of Romans, Kathy Ehrensperger/Ward Holder (Hg.), New York (Romans through History and Cultures series), 148 – 165. Opitz, Peter (2010), Reformation im Dienst der Förderung der „bonae litterae“ am Beispiel hermeneutischer Grundentscheidungen zu Beginn der Zürcher „Hohen Schule“, in: Hubertus Busche/Stefan Hessbrueggen-Walter (Hg.): Departure to Modern Europe – Philosophy between 1400 and 1700, Hamburg, 754 – 764. Pfister, Rudolf (1952), Die Seligkeit erwählter Heiden bei Zwingli, Zürich. Stotz, Peter (Hg.) (1987), Heinrich Bullinger – Studiorum ratio, 1. Teilband: Text und Übersetzung; 2. Teilband: Einleitung, Kommentar, Register, Zürich. Zwingli, Huldreich (1905ff), Sämtliche Werke (Corpus Reformatorum 88 – 101), Berlin, Leipzig, Zürich (Sigel: Z). Zwingli, Huldrych (1995), Schriften, IV Bde., Brunnschweiler, Thomas/Lutz, Samuel (Hg.), Zürich (Sigel: ZS).
Gijsbert van den Brink
The Reformation, Rationality and the Rise of Modern Science
1.
The Reformation and the Making of Modernity – Some Historiographical Observations
The question to what extent the magisterial Reformation contributed to processes of modernization in early modern Europe has received much scholarly attention throughout the 20th century. Without making a claim to exhaustiveness, German sociologist Hans Joas (Joas: 2012, 86 – 105; 2013) recently distinguished six different “Thesen” (theses) that posit a decisive impact of Protestantism on the rise of some modern cultural phenomenon. Naming each of them after one of its most prominent advocates, Joas offers the following survey. First of all, the Jellinek-thesis claims that the notion of human rights did not originate in the French Revolution or in the religion-critical atmosphere of the Enlightenment, but in the struggle for religious freedom by North American Protestants, such as Roger Williams (1603 – 1683), the founder of Providence (Rhode Island) (Jellinek: 1901). Second, the Weber-thesis – no doubt the most famous of all – assumed a very important contribution of Protestantism, and more particularly its Puritan variety, to the rise of the spirit of capitalism. Third, the Hintze-thesis traced the origins of the modern bureaucratic state to the influence of Calvinism, especially in Prussia and the Netherlands (Hintze: 1975).1 Fourth, what Joas dubs the Troeltsch-thesis argues for a strong influence of Protestantism on processes of religious and cultural individualization. Fifth, according to the “Dewey-thesis” the modern Western democratic state finds its origins in, again, Puritan strands of Calvinism (Perry : 1944).2 And sixth, the
1 Hintze: 1975. Hintze was well aware of the ideas of Jellinek, Weber and Troeltsch, and considered his own thesis of “…Calvinism as midwife in the establishment of the modern political and social order” (91) to be in line with theirs: “May we not, then, establish something similar regarding the influence of Calvinism and the stricter, more ascetic forms of Protestantism in general on modern raison d’¦tat of the seventeenth century?” (92). 2 This thesis was indeed endorsed by John Dewey, but especially elaborated by Perry.
194
Gijsbert van den Brink
Merton-thesis holds that the ethos of Protestantism highly facilitated the emergence of modern science (Merton: 1970).3 According to Joas, apart from the Jellinek-thesis all other theories have largely been discredited upon further research. It has become clear that the heated debates which each of the theories engendered were often deeply affected by confessional and/or political motives. In retrospective, it looks as if one was committed to a specific stance by the bare fact of being a Catholic or Protestant, a French or an American citizen. Quite often such theories and discussions had triumphalist overtones, and served to corroborate the idea that one’s own tradition was superior to others in terms of its contribution to modernity and its many blessings. The same must of course be said of those theories which attributed all real “progress” to secular Enlightenment thinking. Joas is definitely right that suspicion of such “grand narratives” has led many historians today to a much more modest attitude, which eschews the making of any exclusive connections between particular religious traditions and the emergence of specific characteristics of Western modernity. The scholarly eye for the sheer complexity of the historical processes which gave rise to modernity has been sharpened, and rightly so. At best, correlations between confessional traditions and cultural changes can be investigated in highly circumscribed small-scale historical constellations. But unlike what often happened in the past, conclusions drawn from such small-scale research should not be generalized; they apply to this or that specific spatio-temporally localized context, but may be quite different in other times and places.4 Clearly, there is much wisdom in such scholarly restraint. We might ask, however, whether this means that hardly anything at all can be said as to how various confessional traditions contributed to more comprehensive developments such as the rise of Western modernity. Given the pervasive role played by religion in pre-modern and early modern times that would be very strange. As John Henry argues, “before secularism became the norm in the West, God and religion were so pervasive in social, political and intellectual life that it seems fair to say that all but very few thought in a religious way.” (2010, 39). When monocausal interpretations and facile generalizations are avoided, it might still be possible to consider the results of small-scale investigations as building blocks which help us to gradually discover more large-scale patterns and correlations. This may be done in an atmosphere of scholarly curiosity rather than being motivated by ideological or apologetical considerations of whatever sort. In the end, revisiting the issues in such a way may enable us to see how particular 3 First published in 1938 in Osiris as volume IV, part 2. For responses to Merton’s claim, see e. g. Cohen: 1990. 4 See for (a broader elaboration of) the paragraphs above Van den Brink: 2014, 216 – 220.
The Reformation, Rationality and the Rise of Modern Science
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religious convictions or theological assumptions helped shape a climate within which crucial developments could take place. Focusing in this paper on the rise of modern science, such a claim seems far from outrageous. For example, although Hans Joas may be right that the Mertonthesis has not stood up to further scrutiny, it is equally true “that variants of it have survived intense criticism”, as John Brooke observes (1991, 111). Also, new theories have emerged on the ways in which the rise of modern science was fuelled by a variety of religious assumptions, at least some of which can be attributed with some precision to distinctively Protestant proclivities. In this paper, we will look more closely at some of such newer theories, especially those which make a connection between the magisterial Reformation and its heirs on the one hand and the rise of modern science on the other. In section 2 I will mainly focus on the Lutheran branch of the Reformation, especially in connection with Copernicanism, and in section 3 I will discuss theories which mostly have Reformed Protestantism as their background. In section 4 I draw some conclusions.
2.
The Lutheran Reformation and Copernicanism “Modern discussions of the relationship between science and theology demonstrate increasing interest in investigating the ways in which the emergent natural sciences, rooted as they were in an intellectual culture which was dominated by theological concerns, were not only hindered but informed and stimulated by theology, particularly by Protestant theology.” (Methuen: 2008, 1).
This opening sentence of Charlotte Methuen’s book on Science and Theology in the Reformation stands in stark contrast with popular conceptions of the relationship between science and religion (and theology) during the past centuries. As the popular image has it, the development of the modern sciences was all but hindered and repressed by the traditional religious institutions of the time; and it was only as a result of a growing trust in the powers of reason that these backward forces could finally (and happily) be overcome. The Protestant Reformations hardly did a better job in this popular image than the Roman Catholic Church. Indeed, according to past interpreters such as Andrew Dickson White, the spirit of Reformation thought was inimical to the newly arising scientific endeavor. White considered Luther and Calvin as being relentlessly opposed to new developments in the study of the natural world; and as he saw it, due to the negative influence of Protestant theology the German universities of the post-Reformation era were imbued with “an anti-scientific spirit” (1896, 126). Obviously, the alleged rejection of Copernicanism by Luther
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and Calvin and many of their followers played an important role in such assessments. Later research on the reception of Copernicanism, however, has led to much more nuanced conclusions. The only sentence in which John Calvin explicitly mentioned and condemned Copernicus – “Who will venture to place the authority of Copernicus above that of the Holy Spirit?”, with reference to Psalm 93:1 – turned out to be entirely fictitious, and was erroneously attributed to Calvin by White (as well as by numerous later authors, including Bertrand Russell) (White: 1896, 127; cf. Russell: 21961, 515).5 As to Luther, his only acclaimed reference to Copernicus did not come from his own hand but from a student who ate with him and who much later reported a disparaging comment on “the fool” who wanted “to turn the whole art of astronomy upside-down” in the Table Talks – the scholarly value of which is questionable anyhow.6 Still, it cannot be denied that both Luther and Calvin seem to have dismissed Copernicanism, which, however, is not at all strange since it was almost the only response they could reasonably be expected to give to what by then was only an idiosyncratic hypothesis. It required quite some proficiency in mathematics to appreciate the arguments in its favour. John Brooke (1991, 90) has pointed out that between 1543 and 1600 only ten real Copernicans have been identified – real Copernicans meaning those who advocated the earth’s physical motion. So it is hard to see an anti-scientific mentality reflected in Luther’s remark; he just voiced the opinion of the majority (also of scholars) at the time. In this light it may even be seen as quite remarkable that Lutherans in Wittenberg belonged to the first groups who were open to at least important parts of Copernicus’ new theory. In what has become known as the “Wittenberg interpretation of Copernicus”, followers of Melanchthon such as Erasmus Reinhold and Caspar Peucer rejected Copernicus’ cosmology, but eagerly accepted his conclusions as far as they concerned mathematical astronomy (Barker : 2005, 33; cf. Westman: 1974). They saw the advantages of Copernicus’ mathematical models, but did not share his confidence that these models reflected physical reality as such, arguing instead that they were just tools to predict the planetary motions. The connection between Copernicus and Wittenberg is even stronger, 5 Neither White nor Russell provided a source of their Calvin-quote. The myth that the sentence showed up in the work of Calvin was deconstructed by Reijer Hooykaas (cf. Hooykaas: 1956). See further McGrath: 1998, 14 – 18, and Van den Brink: 2009, 217 – 219. 6 Luther, WA TR 4, nr. 4638; the date reported is June 4, 1539, but the comment was written down only in 1566. Notice that Copernicus’ name is not mentioned, so that even if the reference is correct it cannot be excluded that Luther had in mind someone else. Cf. Hooykaas: 1972, 120 – 121, 154 – 155, and Barker : 2005, 34 – 35, who has pointed out that the cosmic arrangement attacked by Luther in this quotation, rather than being Copernican, should be traced to the views of Celio Calcagnini (1479 – 1541), which may have been publicly known in Wittenberg at the time.
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however : Lutherans such as the theologian Andreas Osiander, the printer Johannes Petreius but especially the astronomer Georg Rheticus were instrumental not only in helping Copernicus to publish his De Revolutionibus (On the Revolutions, 1543) but also in rescuing him out of personal troubles, especially his being harassed by the Bishop of Warnia (Barker : 2005, 37 – 42). Now such historical facts can still be seen as accidental. Peter Barker has recently suggested, however, that the strong interest in astronomy at Wittenberg cannot be seen in isolation from Melanchthon’s high appraisal of natural philosophy in general and astronomy in particular. Natural philosophy, as the knowledge of causes and effects in the natural world, uncovers the laws and arrangements made by God, and especially the laws of astronomy are evidence of God’s existence and providence. Melanchthon also engaged in writing on astronomical issues himself, and reported in 1549 that he had “begun to admire and to appreciate Copernicus more” (cf. Barker : 2005, 49).7 Melanchthon was followed in this attitude by the Wittenberg astronomers Reinhold and Peucer (Barker : 2005, 44 – 48.). Again, one might argue (over against Barker) that Roman Catholic scholars at the time would not have had a lower view of the natural world as reflecting God’s providential order (cf. Van den Brink: 2011, esp. 289 n.66). But then there are indications that the need for reform which Melanchthon saw in the church as well as in the German universities in his view also extended to astronomy, where the Ptolemaic system had been heavily criticized for centuries already. So there may have been a common mentality from which both Melanchthon’s commitment to a reformation of the Church and his openness to seriously consider proposals for a reformation of astronomy can be explained. In any case, it is remarkable that, although for biblical reasons Copernicus’ cosmological claims were rejected, his mathematical work was received with some enthusiasm in Lutheran circles. Moreover, it has been established that even Copernicus’ heliocentrism was more easily accepted in Protestant regions than in Roman Catholic ones. For example, in Copernicus’ native Poland, a sun-centered cosmology was taught in Protestant schools many years before it was taught to Catholics (Brooke: 1991, 83). Whereas most Protestant countries swung to Copernicanism in the course of the 17th century, in Spain, for example, resistance to Copernicanism continued at least up to the end of the 18th century.8 And from the ten known Copernicans until 1560, seven were Protestants and three Catholics (Brooke: 1991, 90). In general, for Catholic authorities a Copernican cosmology (as defended e. g. by Galileo) was more difficult to assimilate than for Protestants. It is telling that one 7 “… Copernicus magis admirari et amare coepimus”; Melanchthon, CR, xi 839. 8 David Goodman, ‘Iberian Science: Navigation, Empire and Counter-Reformation’, in: Goodman & Russell: 1991, 143; quoted in Gaukroger: 2006, 125 n.129.
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of the earliest Dutch Copernicans, Philip van Lansbergen (1561 – 1632) was criticized by Catholic opponents for endorsing the “Calvinistic-Copernican” system. So apparently a clear connection between religious and scientific reform was also seen by those who were opposed to both. All this is not to say, however, that a causal connection can be made between the Reformation on the one hand and the rise of modern science on the other. Contemporary literature abounds with warnings against such too simple generalizations. Especially John Hedley Brooke has forcefully argued (in what has become known as the “complexity thesis”) that things aren’t as easy as that. First of all, given the fact that in-between options such as the cosmological system of Tycho Brahe (1546 – 1601) were available in the early seventeenth century, it is impossible to divide the intellectual world of the time into pro- and anti-Copernicans. Second, to become an astronomical realist, even when rejecting Copernicus’ cosmology, might be seen as a much more important renewal than to accept Copernicus’ mathematical models in a non-realist, purely instrumental way. Third, quite a few Protestants vigorously promoted the use of experimental methods in the study of nature (i. e. what anachronistically might be called the natural sciences), but equally vehemently rejected Copernicanism: Peter Ramus, George Hakewill and Francis Bacon are well-known examples here (Brooke: 1991, 89 – 94). Fourth, of course the condemnation of Galileo made it harder for Catholic scholars to embrace Copernicanism; it has become clear in contemporary research, however, that many non-religious factors played a role in the famous Galileo affair, even to such an extent that it can no longer be considered as a textbook example of the conflict between science and religion. According to John Henry it is obvious that (…) complex institutions [such as the Catholic Church, GvdB], widely interconnected with other social and political institutions, must respond to many pressures, and try to anticipate a bewildering range of possible developments which might result from innovation. It is hardly surprising, therefore, that the churches sometimes acted against innovations in the sciences and in philosophy ; but this should not be taken to mean that religious belief and the scientific enterprise are inherently inimical to one another. (Henry : 2010, 41).9
Henry even adds to this that there is evidence that protestant churches might have adopted the same attitude if they had also had a central administration which could prohibit books etc. Moreover, relatively few scientific books were placed on the Index, and after the condemnation of Galileo (1633) Catholic scholars continued to be active in many branches of science, often in highly creative and innovative ways (Brooke: 1991, 109). All in all, the theory that the 9 It can be debated whether it is correct to speak of ‘science’ or ‘the sciences’ when referring to the study of the natural world in the early modern period.
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reception history of Copernicanism illustrates the superiority of Protestantism in paving the way towards modern science does not bear close scrutiny.
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Again, however, this is not to say that no correlations can be found. One very famous proposal in this connection was put forward in 1938 by the aforementioned American sociologist Robert Merton, and especially concerned the Calvinist wing of the Reformation. Drawing on Max Weber’s thesis that the growth of capitalism was considerably stimulated by ascetic strands of Calvinism, Merton (1970) argued that a devout involvement in the affairs of the world would also encourage the growth of science. Already before Merton it had occurred to observers that Protestants seemed to outnumber Catholics in the ranks of European scientists during the late 16th and 17th centuries, although there were many more Catholics than Protestants in Europe (Henry : 2010, 44). Merton himself appealed to similar data, as well as to the flourishing of practical science and technological innovations during the period of Puritan domination in England, and he proposed a religious explanation for this remarkable phenomenon: Puritan values contributed to the rise of an atmosphere in which programs for the improvement of man’s state were elaborated. Merton was sophisticated enough as a scholar to avoid any mono-causal connections; rather, he saw an interplay between religious values (such as diligence in pursuing one’s earthly calling, the need not to waste one’s time etc.) and practical attitudes that contributed to the development of the sciences. It seems that Francis Bacon’s injunction was taken to heart: Bacon had argued that the “rule of religion that a man should justify his faith by works applies also in natural philosophy ; knowledge should be proved by its works”. Indeed, Bacon alludes to an important Reformed theological notion here, viz. the so-called syllogismus practicus: the certainty of one’s salvation can be read off from the outward fruits of one’s faith (cf. Muller : 1985, 293).10 However, the suggestion that a strong parallel between religious and scientific reforms might be demonstrated here has been seriously challenged. Roman Catholics criticized the lists that counted a high preponderance of Protestant ascetics in early modern European science and came up with alternative catalogs; or they rightly argued that in some situations the fear of censorship may have led Catholic natural philosophers to pursue their activities in relative anonymity, though with no less zeal or success. Also external social-economic 10 This assumption can e. g. be found already in the Heidelberg Catechism (1563), the Lord’s day 32 (answer 86).
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pressures may have played a role that has been concealed by the prominence of religious explanations (as has been suggested with regard to expanding British towns such as Manchester). Next, it is not so clear what should count as Puritan values. Puritan divines such as William Perkins and William Pemble were not so enthralled by the book of nature. It was not self-evident to them that the works of science were good works in a religious sense, especially since knowledge of the natural world cannot at all set straight our distorted relationship with God (Brooke: 1991, 112 f). As Brooke argues: “For puritan divines, the salvation of the human soul was of overriding importance, which suggests that some readjustment of priorities might be necessary for those who valued the study of nature.” (1991, 114). As compared to this ordering of values, the emphasis on moderation and toleration in religious issues which was prevalent within mainstream (“latitudinarian”) Anglican circles should not be underestimated as a factor which may have stimulated people to focus on the natural world; the early Copernican John Wilkins is a case in point here (Brooke: 1991, 115). Despite all such counter-examples and criticism, variants of the Mertonthesis continue to be put forward and elaborated until the present day – so something might still be in it after all. For example, in 1975 Charles Webster published a work of more than 600 pages in which he made plausible that especially millenarian strands of spiritual thinking within Puritanism were responsible for the promotion of scientific and technological endeavors. For clearly, if history will end up in a period of thousand years of extreme prosperity and wealth, it is important to create the conditions within which this development might take place. This may even be seen as implied in the biblical admonition to be prepared for the new era of Christ’s second coming. Webster’s theory has been found convincing when it comes to all kinds of technological innovations, e. g. in agricultural life; but such innovations do not always coincide with interest in the more theoretical (or less practical) dimensions of the study of the natural world; and it is precisely the latter which have become conducive in the rise of modern science. Moreover, whereas Merton limited his perspective to English Puritanism, Webster’s focus was even smaller (since by no means all Puritans were millenarianists). What happened in England can hardly explain the ways in which science and religion have interacted in Europe at large. Therefore, the latest turn in research on the theme of “Protestantism and the rise of modern science” is directed to much more general considerations which might explain why on average both in the Anglosaxon countries as well as on the European continent Protestants were more pioneering in science (or, rather, natural philosophy) than Catholics. Two of the most fascinating theories of this type have recently been elaborated by Peter Harrison. First of all, Harrison investigated the way in which the famous metaphor of nature and Scripture as being the two books of God underwent a significant change of interpretation
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from the outset of the Reformation. Not only were lay people stimulated by Protestant theologians to read the Bible for themselves, but also were allegorical interpretations of the Bible as they abounded during the patristic and medieval eras rejected in favor of more literal readings. Instead of superimposing meanings on the text, the text itself had to be carefully studied, and this attitude influenced the way in which that other book, the book of nature, came to be read. According to Harrison, “the modern approach to texts, driven by the agenda of the reformers and disseminated through Protestant religious practices, created the conditions which made possible the emergence of modern science” (1998, 266).11 It has been countered that surely the more classical hermeneutics acknowledged a literal interpretation of Scripture as well (Miller : 2006, 59 n.5). True as this may be, this explains why the watershed was not tight, and Roman Catholics could also easily adopt a similar attitude of careful examination of nature; it does not discredit Harrison’s point that a shift of emphasis took place which stimulated a more down-to-earth and careful attitude to interpreting natural phenomena. Secondly, and perhaps even more intriguingly, in his latest book Harrison has fleshed out the crucial role played by the doctrine of the human Fall into sin as it was revitalized in Reformation theology and also in Jansenist circles. Whereas in more mainstream Catholic accounts, drawing on Thomas Aquinas, it was argued that Adam’s Fall only deprived the human race from its supernatural gifts (such as original justice, immortality, etc.), the more radical Augustinian view was that original sin had also affected the natural human capacities such as the powers of reason. The extent to which this was the case was heavily debated since, starting with John Calvin, Protestant thinkers began to retrieve this Augustinian view. In his carefully researched study Harrison provides a wealth of primary sources which show that this more pessimistic anthropology led to a distrust of a priori reasoning and to a growing emphasis on the need to carefully investigate by means of the senses (and their possible extensions, such as microscopes) how things are – Francis Bacon being one of his most prominent examples. Aristotle and his followers had given pride of place to logic as the surest help to the sciences, but according to Bacon this remedy was altogether too weak for the disease which had inflicted human nature. The human intellect left to its own cannot be trusted (Harrison: 2007, 173). Instead, it is only by the painstaking labor of careful and organized observation (including experimentation) that the noetic effects of sin can gradually be overcome. As is well-known, it was this attitude – sometimes 11 Harrison’s thesis has been endorsed by Simon Gaukroger in his impressive synthesis of recent work on the role of religion in the formation of our scientific culture: Gaukroger : 2006, 507. Cf. Henry : 2010, 47. For an application of Harrison’s thesis on Melanchthon’s natural philosophy, see Methuen: 2008, 98 – 101.
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epitomized in the slogan “Don’t think, look!” – which was instrumental in the crucial shift of natural philosophy towards empirical methods that paved the way towards modern science. So here we find a surprising but largely convincing perspective on the question which is implicit in our title: how are the Reformation, rationality and the rise of natural science related? The answer is: the Reformation contributed to the rise of natural science by its very sober and modest assessment of human reason. Or in Harrison’s words: “The birth of modern experimental science was not attended with a new awareness of the powers and capacities of human reason, but rather the opposite – a consciousness of the manifold deficiencies of the intellect, of the misery of the human condition, and of the limited scope of scientific achievement” (2007, 258). Now no doubt like all alternatives this theory as well has to be carefully nuanced and qualified – which is exactly what Harrison does. The primary contrast is not between Protestant and Catholic spirituality, but between a Thomistic view of human nature on the one hand and Post-Reformation anthropological pessimism (coinciding, by the way, with the strands of skepticism in early modern Europe which have been illuminated by Richard Popkin) on the other. Moreover, highly innovative scholars can be found also in the ranks of those who thought that human reason had remained in part – and most particularly when it concerned mathematical truths – unaffected by the Fall and original sin, such as Melanchthon, Kepler and Galileo (Harrison: 2007, 102 – 103, 106, 252). According to them, fallen humanity still retained enough of the divine image to guarantee the veracity of mathematics, and science could still achieve certainty through a priori demonstration in this way. Also, there are questions which Harrison leaves unattended, such as how the idea that the original perfect knowledge of Adam (or its future restoration in the world to come) can be attained in this life by human endeavors fits in with the sola gratia of the Reformation. So again it would be misguided to frame Harrison’s thesis as a monocausal theory which excludes all others. At the same time, however, it seems uncontrovertible that next to other typically Protestant preoccupations, such as the importance of our earthly vocation, the propensity to prefer literal interpretations of texts, and (especially in Calvinism) the duty to transform society, also the notion of the Fall and its consequences contributed to the emergence of a scientific culture.
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Conclusions
Let us draw together the various strands of this paper by ending up with a fivefold conclusion. 1. No sweeping statements can be made as if one and only one tradition (theological or otherwise) was responsible for the rise of natural science as we now know it. The early modern period displays a complex mixture of religious and non-religious factors which interacted with each other in often subtle ways. It has become more and more clear, however, that in this amalgam religious ideas and theological convictions played a role which cannot be ignored if we want to understand anything at all of the rise of modern science. 2. It is important to go back and forth from the study of very specific social and geographical situations to the sketching of more general scenario’s. This is painstaking labor, of course, and the pitfalls are many, but we need both in order to develop a reliable and more or less complete picture of the overall story. 3. Although it is extremely hard to make sharp distinctions between various streams in (and beyond) the magisterial Reformation, it seems clear that Protestantism as a whole stimulated active engagement in the study of the natural world and in that way helped paving the way towards modern science. More work should be done, however, on the differences and similarities between Lutheran, Calvinist and Catholic approaches to natural philosophy, the need for observation, et cetera. 4. According to one of the most convincing theories as to how this process took shape, it was especially as a result of its low estimation of human reason and rationality, along with its pessimistic Augustinian anthropology, that Protestantism contributed to the development of the natural sciences. 5. The conflict thesis, according to which the relationship between science and religion is, was, and ever shall be antithetical, has become all but falsified as a result of careful historical investigations into the manifold (and often mutually stimulating) relations between science and religion in early modern Europe.12
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Sektion III: Auswirkungen
Aza Goudriaan
Augustinus und die Vernunft der reformierten Orthodoxie
Das 1610 erschienene Syntagma theologiae christianae des Amandus Polanus von Polansdorf enthält ein Kapitel „De anima hominis“, über die Seele des Menschen, in dem auch der menschliche Intellekt zur Sprache kommt. Der Intellekt ist ein wesentliches Vermögen der menschlichen Seele, das intelligible Dinge erkennt, begreift und beurteilt, und das auch einen reflexiven Akt hat (d. h. seine eigene Tätigkeit erkennt und beurteilt) und das dazu dient, den ganzen Menschen zu regieren und zu lenken … (von Polansdorf: 1610, 2102).1
Es gibt zwar, räumt Polanus ein, nur einen einzigen Intellekt im Menschen, aber in diesem einzigen Intellekt sind nach verschiedenen Gesichtspunkten besondere Merkmale zu unterscheiden. Der Intellekt ist sowohl intellectus agens wie auch intellectus possibilis, sowohl ein intellectus theoreticus wie auch ein intellectus practicus, intellectus simplex oder intellectus compositus, wobei letztere sich entweder als intellectus noeticus oder als intellectus dianoeticus manifestiert. Gott hat den menschlichen Intellekt zudem versehen mit einer recta ratio und mit einem Gewissen, conscientia (von Polansdorf: 1610, 2102 f). Diese Unterscheidungen Polans sind offenkundig Teil der scholastischen Tradition und ihre Verwandtschaft mit dem aristotelischen Denken ist evident. Ob der Kirchenvater Augustin etwas mit diesen Unterscheidungen zu tun hat, ist weniger offenkundig. Einige Dezennien später meint der reformierte Theologe Gisbertus Voetius dass „Aristoteles cum suis, der als Philosoph nichts ohne Prüfung akzeptierte, kein geringerer oder schlechterer Theologe als Platon sei; im Gegenteil stellt er sich heraus wie ein viel besserer Theologe als Platon.“ (Voetius: 1668, 33)2 1 Über die Vernunft in der frühneuzeitlichen reformierten Theologie, siehe u. a. Muller : 2003, 388 – 405. 2 „Quicquid ex principio luminis naturalis cognosci et probari potest, id recte ex testimoniis Gentilium probari dicendum est, tum quia eorum consensum ostendat in communi veritate, quodque sapientes eorum ab ea non defecerunt: tum quia rationes continent, quibus Gentiles
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Aristoteles liefert nämlich die besseren Denkformen und Argumente für die Verteidigung des christlichen Glaubens. Auch die aristotelische Lehre von der Abstraktion bringe der Theologie keine Schwierigkeiten. Das aristotelische Diktum, wonach nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu bedeutet nach Voetius keineswegs dass auch die Erkenntnis Gottes ihren Ort in den Sinnen haben müsse oder könne. Vielmehr wollte Aristoteles dieses Prinzip nur anwenden auf die Erkenntnis „endlicher und körperlicher Dinge“. Der aristotelische Ausgangspunkt, wonach etwas zuerst durch die Sinnen erfasst wird, könne sehr wohl eine „mittelbare und indirekte“ Erfassung indizieren, in dem Sinne dass Gott via die sinnlich wahrgenommenen Geschöpfe erkannt wird (Voetius: 1648 – 1669, 5:524).3 Diese kurzen Verweise auf Polanus und Voetius könnten den Eindruck ergeben als ob „die Vernunft der Reformierten“ sich kaum von derjenigen der Aristoteliker – im Sinne der breiten europäischen Tradition des Aristotelismus oder des aristotelisch geprägten Eklektizismus – unterscheidet. Damit ließe sich die Frage verbinden, ob in der Vernunfttheorie reformierter Orthodoxie eigentlich in signifikanter Art und Weise augustinisches Erbe angetroffen werden kann. Die reformierte Orthodoxie ist, wie die lutherische, stark vom Augustinus der Gnadenlehre geprägt worden. Benjamin B. Warfield aus Princeton hat bekanntlich gesagt, dass in der Reformation die augustinische Gnadenlehre über die augustinische Ekklesiologie gesiegt hat.4 Diese These variierend, könnte hier die Frage gestellt werden, ob es dann so sei, dass die augustinische Gnadenlehre „gesiegt“ hat ohne Einbeziehung der augustinischen Erkenntnistheorie? Gnadenlehre und Epistemologie scheinen immerhin einander gegenseitig zu bedingen. Man kann die Frage auch anders formulieren: Hat in der reformierten Orthodoxie die aristotelische Erkenntnis- oder Vernunfttheorie über die augustinische5 gesiegt und damit zugleich auch die konsequente Verarbeitung der augustinischen Gnadenlehre gehindert? Die Frage ist viel zu umfassend. In der Kürze dieses Aufsatzes werden nur einige Gedankenlinien gestreift, die je für sich eine tiefere und breitere Untersuchung verdienen. Vier Gesichtspunkte kommen zur Sprache, von denen zwei dem knappen Überblick entnommen werden, in dem Gareth B. Mathews in der jüngsten Ausgabe von The Cambridge History of Medieval Philosophy augusticonvenienter principiis a natura insitis veritatem illam recte collegerunt, et sibi aliisque persuaserunt. Et hic Aristoteles cum suis, qui nihil recipiebat nisi examinatum, tanquam Philosophus, non minor aut deterior, immo longe melior theologus deprehenditur, quam Plato cum suis.“ Siehe auch Voetius: 1668, 133, sowie, über Voetius’ Präferenz für die aristotelische Philosophie gegenüber dem Platonismus: Goudriaan: 2006, 34 – 36. 3 Mit Verweis auf De anima 3.9 n. 39 and Analytica posteriora I, n. 182. 4 B.B. Warfield, quoted in MacCulloch: 2004, 111: „The Reformation, inwardly considered, was just the ultimate triumph of Augustine’s doctrine of grace over Augustine’s doctrine of the Church“. 5 M. Enders: 2001, 764 f.
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nische Themen analysiert, die in der mittelalterlichen Philosophie fortgewirkt haben. Diese sind zum einen die Illumination und zum anderen das Verhältnis zwischen Glauben und Wissen.6 Die Auffassung, wonach die Dinge nur aufgrund einer inneren intellektuellen Erleuchtung Gottes erkannt werden können, konkurrierte im Mittelalter mit der aristotelischen Abstraktionstheorie, welche der menschlichen Vernunft die Gottgegebene natürliche Fähigkeit zumisst, die intellektuelle Erkenntnis zu erreichen via einer Abstraktion, die bei einem sinnlichen Erfassen konkreter Dingen anfängt (vgl. Noone: 2010, 378, 382).7 Außerdem konkurrierte im Mittelalter – Matthews zufolge – Augustins Überzeugung, dass der Glaube dem Erkennen vorangehen muss, mit der thomanischen These, wonach die praeambula fidei der Erkenntnis der natürlichen Vernunft zugänglich sind, ohne dass irgendein Glaube vorangehen sollte (Matthews: 2010, 88 f). Wir werden also über Illumination (§1) reden müssen sowie über Glauben und Wissen (§4). Zwei andere Gesichtspunkte kommen hinzu, die deshalb im Zusammenhang der gestellten Frage von Interesse sind, weil sie in besonderem Maß mit dem Augustinus der Gnadenlehre verbunden sind. Sie entsprechen so einem bedeutsamen Anliegen der reformatorischen Augustinus-Rezeption. Ein großes Thema des pelagianischen Streits ist die Erbsünde. Eine Antwort auf die Frage nach dem augustinischen Erbe in der reformierten Vernunftlehre wird die Tatsache einbeziehen müssen, dass nach reformierter Überzeugung die Vernunft durch die Erbsünde lädiert worden ist. Ferner haben Augustin und andere in der Debatte gegen die pelagianische Anthropologie öfters die Paulinische Stelle aus dem 2. Korintherbrief 3,5 herangezogen: „Nicht, daß wir tüchtig sind von uns selber, etwas zu denken als von uns selber ; sondern daß wir tüchtig sind, ist von Gott“ (Luther Bibel 1912). Hier wird das menschliche Denken als ein Gottgegebenes bestimmt. Welche Bedeutung hatte dieser paulinische Text für Reformiertes Denken über die Vernunft? Der Ausgangspunkt dieses Aufsatzes ist also, dass nicht etwa nur die berühmte Illuminationstheorie, sondern auch die Bedeutung der Erbsünde (§2) sowie die Gottgegebenheit der Fähigkeit zum Denken (§3) Berücksichtigung verdienen, wenn der Versuch unternommen wird, augustinisches Erbe in orthodox reformierten Vernunftlehren zu würdigen.8 6 Matthews: 2010, 86 – 98, hier 88 f über die Illuminationslehre, und 89 f über Glauben und Wissen. 7 Vgl. Noone: 2010, 369: „prior to the thirteenth century, one might speak of the theme of divine illumination, but not a theory of divine illumination.“ Über Illumination, siehe Schumacher: 2011; Nash: 1999, 438ff; Veuthey : 1971, 1330 – 1346. 8 Eine umfassendere Untersuchung könnte etwa auch das Thema der Neugierde berücksichtigen. Über Augustins Kritik der curiositas und die reformierte Theologie siehe Meijering: 1980, sowie Meijering: 1991, 361 – 366.
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1.
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Oft wird von einer „Illuminationstheorie“ des Augustinus gesprochen. Timothy Noone hat jedoch argumentiert, dass Augustin keine Illuminationstheorie hatte (die erscheint erst im Mittelalter), sondern dass er in verschiedenen Formen die Überzeugung äußerte, dass die intellektuelle Erkenntnis der Universalien, ewiger Wahrheiten und moralischer Prinzipien auf ein zugrunde liegendes göttliches Licht, eine göttliche Erleuchtung zurückgehen muss und ohne diese nicht zu erklären ist (Noone: 2010, 370 f). Diese Illumination ist im Mittelalter zu verschiedenen Illuminationstheorien ausgewachsen, die jedoch seit dem 13. Jahrhundert meistens auch wieder aufgegeben worden sind. Was die reformierte Orthodoxie angeht, kann man vielleicht sagen, dass sie jener Tradition folgt, welche die göttliche Illumination im Sinne eines Grundsteines der generellen Erkenntnistheorie naturalisiert hat. Die Illumination ist zum lumen naturale geworden. Es handelt sich nunmehr um eine normale Verfassung menschlichen Erkenntnisvermögens, die zwar von Gott gegeben und von seiner Providenz abhängig ist, wobei aber das natürliche menschliche Erkennen nicht gedacht wird als durch göttliche Erleuchtungsakte konstituiert. Daneben kennen die Reformierten eine göttliche Erleuchtung im Bereich der besonderen Gnade. Drei Fälle können dies illustrieren. Interessant ist erstens Polans Umschreibung der natürlichen Prinzipien des Verstandes. Von der recta ratio, die er definiert als das von Gott im Intellekt gepflanzte Wissen um den Willen Gottes (von Polansdorf: 1610, 2103),9 sagt er, sie wird normiert von „natürlichen Prinzipien“ welche, nach der Definition von Philipp Melanchthon Erkenntnisse sind die von Gott in der natürlichen Seele des Menschen gepflanzt sind wie Strahlen des Lichtes und der göttlichen Weisheit, wie zum Beispiel die Zeugnisse über Gott und seinen Willen, die uns von den Tieren unterscheiden, und die angesehenen Künste, Wissenschaften und Disziplinen zu Stande bringen deren Gebrauch im Leben notwendig ist. (von Polansdorf: 1610, 2103 f)10
Die Metapher der Lichtstrahlen wird hier von Polanus zwar gebraucht, aber auf die natürliche intellektuelle Anlage des Menschen bezogen: die Strahlen sind in der Seele gepflanzte Erkenntnisse. 9 „Recta ratio hominis est vera notitia voluntatis et operum Dei, ut et ordinis judiciique divini, a Deo menti humanae inscripta …“ 10 „Forma ac norma ejus sunt principia naturalia, quae sunt, definitore Philippo Melanchthone, notitiae a Deo naturae mentis humanae insitae, veluti radii lucis et sapientiae divinae, ut sint testimonia de Deo et eius voluntate, et discernant nos a bestiis, et regant vitam et gignant honestas artes, scientiis disciplinas , quarum usus in vita necessarius est.“
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Ein zweiter Fall, Voetius, zeigt, dass die Illumination nicht im natürlichen Bereich, sondern gerade für das Leben eines Christen notwendig ist. Subjekt der natürlichen Theologie, sagt Voetius, ist jeder Mensch. Es ist die übernatürliche Theologie, deren Subjekt nur derjenige Mensch ist, „der mit der äußerlichen Gnade der übernatürlichen Offenbarung und mit der inneren Gnade der Illumination begabt worden ist“ (Voetius: 1668, 31).11 Also bleibt auch für die Illumination durchaus eine dezisive Funktion übrig, freilich mit Hinblick auf die übernatürliche Gnade. Allerdings braucht diese Erleuchtung nicht notwendigerweise mit dem wahren Glauben verbunden zu sein, der zur Seligkeit führt. Voetius spricht auch von einer mehr allgemeinen Erleuchtung („einer bestimmten allgemeinen Gnade des erleuchtenden und überzeugenden Geistes“), die zwar auf die Wahrheit der übernatürlichen Offenbarung der Bibel bezogen ist, aber die in einem breiteren Kreis gefunden wird als dem der Gläubigen allein.12 Dritter Fall: Johannes Calvin. Calvin verweist in der Institutio einmal auf Augustin und die Illumination: Augustin wusste, dass die Unzulänglichkeit unseres Verstandes [ratio], um die Sachen Gottes zu verstehen, so groß ist, dass er meint, die Gnade der Erleuchtung sei für die Seelen ebenso notwendig wie das Licht der Sonne für die Augen. Damit nicht zufrieden, hat er die Korrektur hinzugesetzt, dass, obwohl wir selber die Augen öffnen, um das Licht zu sehen, die Augen der Seele [oculi mentis] geschossen bleiben, wenn sie nicht vom Herrn geöffnet werden.13
11 „Specie tamen distinguuntur [theologia naturalis et supernaturalis], siquidem objective et in abstracto eas consideres, quia illius principium formale et proprium est lumen seu revelatio naturalis; hujus revelatio supernaturalis: objectum illius est veritas aliqua Theologica; hujus omnis veritas Theologica ad salutem ordinata, et signanter veritas de Trinitate, de tota doctrina Evangelicam deque liberatione per Christum, veritas totius doctrinae de cultu instituto: Subjectum illius est quilibet homo; hujus nemo, nisi qui externa revelationis supernaturalis, et interna illuminationis gratia dotatus est.“ 12 Voetius: 1649, 9, wo Voetius auf die Frage „An intelligentia Scripturae etiam non conversis seu irregenitis contingat?“ die folgende Antwort gibt: „De intelligentia sanctificante et salutari: Neg. De tantum seu simpliciter et theoritice illuminante, ac convincente de veritate Euangelii, aliorumque dogmatum fidei, Aff. Sed non nisi per auxilium aliquod generale; aut gratiam quandam generalem Spiritus illuminantis ac convincentis.“ Vgl. Pannenberg: 1988 – 1993, 1: 46 f über lutherische Parallelen sowie die spätere Idee einer Theologie der Wiedergeborenen. 13 Institutio 2.2.25; CO 1: 206. de Niet: 2009, 283, verweist auf De peccatorum meritis et remissione 2.5.5, wie auch Smits: 1957 – 1958, 2: 33; siehe CSEL 60, S. 75: die göttliche Hilfe ist notwendig um dasjenige zu tun was nach den Maßstäben der Gerechtigkeit Gottes gut ist; „Ad peccandum namque non adiuuamur a deo“ (75,10). Die Hilfe der Erleuchtung, von der hier die Rede ist, ist mithin nicht eine generelle Tatsache jeder denkerischen Tätigkeit des Menschen, sondern gehört zum Bereich der Gnade. Calvin spricht auch in Institutio 1.7.3 über Augustin und die Illumination.
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Hier wird die Illumination Augustins immer noch für notwendig gehalten, allerdings nicht im Hinblick auf die Erkenntnis generell, sondern spezifisch ad intelligenda quae Dei sunt – um die göttlichen Dinge zu verstehen. Die reformierte Orthodoxie hat ebenso immer noch über die Notwendigkeit der besonderen Erleuchtung des Verstandes durch Gott geredet, aber dabei handelt es sich um einen Bereich der besonderen Gnade, nicht um das alltägliche Erkennen. Die Annahme einer bestimmten göttlichen Erleuchtung ist also in frühneuzeitlichen reformierten Schriften belegt zum einen in der Form einer Gottgegebenen natürlichen Anlage des Menschen, und zum anderen mit Bezug auf den Bereich der übernatürlichen Gnade. In beiden Fällen wird die Abhängigkeit von Gott anerkannt, aber in sehr unterschiedlichen Formen. Was in den Beispielen allerdings fehlt, ist die Theorie, wonach alles menschliche Erkennen als solches auf ein ständiges Eingreifen Gottes in der Form von Erleuchtungsakten zurückgeführt wird. Wäre eine solche Theorie genuin augustinisch gewesen? Augustins Aussagen über Erleuchtung sind im Laufe der Geschichte sehr unterschieden ausgelegt worden. Lydia Schumacher hat 2011 zwei Hauptgruppen von Interpretationen unterschieden, in denen die Erleuchtung entweder im Sinne eines „innerlichen kognitiven Vermögens“ oder im Sinne eines „äußerlichen Einflusses“ aufgefasst wird.14 Ihr eigener Interpretationsvorschlag ist, dass für Augustinus die Erleuchtung „die Quelle eines innerlichen kognitiven Vermögens ist“.15 Auf dieser Linie ließen sich auch etwa Polans Aussage über die im Verstand eingegebenen Strahlen des göttlichen Lichtes als im Grunde augustinisch begreifen. Im Hinblick auf die besondere Gnade ist die Erleuchtung der Reformierten jedoch bestimmt als extrinsisch gedacht. Im reformierten Bereich ist die Theorie einer generellen Illumination durch ein ständiges göttliches Eingreifen allem Anschein nach abwesend. Eine solche Theorie wäre auch schwer zu vereinbaren mit der reformierten Anerkennung der Sekundarkausalität der Geschöpfe. Noch im siebzehnten Jahrhundert hat Nicholas Malebranche die These avanciert, dass die menschliche Erkenntnis in den göttlichen Ideen gründet, in denen der Mensch die Dinge schaut (die vision en Dieu) (Kronauer : RGG, 713). Bei Malebranche geht mit dieser Theorie ein Okkasionalismus einher, nach dem Gott die wirkliche Ursache innerweltlichen Begebenheiten ist (ibid). Was der Okkasionalismus von Malebranche gemeinsam hat mit einer mittelalterlichen Illuminationstheorie auf der Linie von Avicennas Annahme der 14 Siehe Schumacher : 2011, 7 – 13. 15 Schumacher : 2011, 18 f: „… Augustine conceived the light as the source of an intrinsic cognitive capacity that the mind gradually recovers as it forms a habit of operating by faith in God – that illumination is not, therefore, some form of extrinsic intellectual conditioning.“ Siehe ferner ebd., Kap. 1.
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Einheit des Intellektes, ist das Fehlen einer im strengen Sinne eigenen Kausalität der Intellekte der Geschöpfe. Die Reformierten wollen aber, so könnte man sagen, die Sekundarkausalität auch der menschlichen Vernunft anerkennen. Illustrativ ist die Kritik des Utrechter Theologen Melchior Leydekkers an Malebranche. Den Gedanken, wonach Gott stets die Ideen in die menschliche Vernunft eingibt, qualifizierte Leydekker (1688, 227) als „Philosophischer Enthusiasmus.“16 Die reformierte Gnadenlehre oder Prädestinationslehre implizierte keineswegs eine göttliche Monokausalität. Wie Paul Helm lapidar gesagt hat: „Calvin ist kein Okkasionalist“ (2004, 101). Im Gegenteil haben reformierte Theologen im Allgemeinen die Sekundarkausalität der Geschöpfe verteidigt. So hat auf philosophischer Ebene etwa Gisbertus Voetius die causae secundae verteidigt gegen die frühneuzeitliche (cartesianische) Negation der Existenz von substantiellen Formen.17 Voetius hat den Einwand erhoben, dass die Leugnung substantieller Formen eine Negation der Sekundarkausalität impliziere: die natürlichen Dinge hätten selbst kein Prinzip des Wirkens. Da blieben nur eine Weltseele la Platon oder die Intelligenz oder die Atome usw. als mögliche Ursache innerweltlichen Wirkens übrig (Goudriaan: 2006, 145 f). Diese Verteidigung impliziert, dass nach reformierter Auffassung auch die Sekundarkausalität der menschlichen Vernunft Anerkennung verdient. Die reformierte Ablehnung einer Allkausalität Gottes kommt auch zum Ausdruck in dem reformatorischen Streit gegen den Enthusiasmus und Libertinismus (Wagner : TRE 10, 167). In seiner Summa controversiarum etwa hat Johannes Hoornbeek 1653 seine Kritik der Thesen von Libertinern wie folgt formuliert: Ob es nur einen einzigen Geist aller Lebewesen gebe, nämlich den überall verbreiteten Geist Gottes, der in den Geschöpfen ist und lebt, so dass auch unsere Seelen keine eigenen Substanzen sind oder ihre Unsterblichkeit eine andere als dieser unsterbliche Geist Gottes in uns? Es wird geleugnet. Ob alles, was der Mensch tut, auch diejenigen Dingen, die wir Übel und Sünde nennen, das Werk Gottes ist, und Gott die eigene und formale Ursache aller dieser Dinge ist? Es wird geleugnet. (1653, 417)
Die Fragestellung dieses Zitates ist natürlich eine andere als die der Erleuchtungslehre. Was die beiden Themen jedoch verbindet, ist die Frage der Sekundarkausalität: Wirkt Gott, was der Mensch tut oder hat der Mensch eine eigene Substantialität und Kausalität sowie eine Verantwortung für die eigene Tätig16 Leydekker : 1688, 227: „… Malebranchii opinio Enthusiastica, qua putet Philosophus, se habere suas Ideas immediate a Deo, ex ipsius visione vel patefactione per Divinitatis, omnia repraesentantis, illapsum in suam mentem, quando rem apprehendit, vel de ea fert judicium“; vgl. Leydekker : 1712, 133 f der Beilagen (die „Exercitatio de Ecclesiae Christianae per Judaismum et Gentilismum oppugnatione et corruptione“ ist eine der Beilagen mit eigener Paginierung). 17 Siehe van Ruler: 1995.
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keit? Bereits Calvin hat – etwa in seiner Schrift gegen die Libertiner – gesagt, dass Gott die Dinge gemäß ihrer eigenen Natur regiert.18 Demgemäß wurde später auf der Dordrechter Synode, mit calvinisch klingenden Worten, betont dass die Gnade Gottes nicht wirkt in Stangen und Holzstücken („stocken ende blocken“; „in hominibus tamquam truncis et stipitibus“), sondern in Menschen, die – unter Gott – eine eigene Verantwortung haben.19
2.
Vernunft und Erbsünde
Die reformierten Bekenntnisschriften reden – mit einem paulinischen Ausdruck – von einer Vernunft, die „verfinstert“ ist (Eph 4,18; vgl. Rom 1,21) (Rohls: 1987, 87).20 Diese Einsicht stellt zugleich auch ein sozusagen „augustinisches“ Moment der reformierten Vernunftlehre dar.21 Augustin nannte die menschliche Seele verwundet, geschwächt, verdorben und die Natur des Menschen „uitiata et deprauata“ (Harrison: 2007, 43).22 Bekanntlich spielt in Augustins Erbsündenlehre die Konkupiszenz eine wichtige Rolle. Spezielle Relevanz im Hinblick auf die Vernunft hat Augustins Auffassung, dass die Unwissenheit (ignorantia) eine Folge und Strafe der Ursünde ist (Harrison: 2007, 32; Löhr : 2007, 504; Gross: 1960, 357 – 360). Was die reformierte Orthodoxie mit Augustin verbindet ist, abgesehen von der Anerkennung der menschlichen Verdorbenheit, unter anderem dieses Thema der Unwissenheit als Artikulation und Folge der menschlichen Sündhaftigkeit.23 Vielleicht hat ein biblischer Text wie Epheserbrief 4,18 die Verbin18 Contre la secte phantastique et furieuse des libertins qui se nomment spirituelz (1545), c. 14; CO 7, 187: „Toutesfois ceste operation universelle de Dieu n’empesche point, que chacune creature, tant au ciel comme en la terre, n’ait et ne retienne sa qualit¦ et nature, et suyve sa propre inclination“; 188: „Car il ne faut pas imaginer que Dieu besonge par un homme inique, comme par une pierre ou par un tronc de bois: mais il en use comme d’une creature raisonnable, selon la qualit¦ de sa nature qu’il luy a donn¦e.“ On secondary causality in Calvin, see Helm: 2004, 101, 104, 120 – 127, 378 – 386. 19 Canones III/IV, Art. 16, in Bakhuizen van den Brink: 1976, 258 f. 20 Über die „noetischen Folgen der Sünde“ siehe, in religionsphilosophischer und historischer Perspektive, etwa Sudduth: 2009, Kap. 6. 21 Über Augustin, die Erbsünde und der menschliche Intellekt, sowie die frühneuzeitliche Debatten darüber, siehe u. a. Harrison: 2007, hier zu Augustin etwa 31 – 40, 43. 22 Mit Verweis auf De natura et gratia, 19,21 und 64,77 (CSEL 60, S. 246 f; 292). 23 Institutio 2.1.8; CO 2: 183: „Qui dixerunt esse concupiscentiam, non nimis alieno verbo usi sunt, si modo adderetur (quod minime conceditur a plerisque) quidquid in homine est, ab intellectu ad voluntatem, ab anima ad carnem usque, hac concupiscentia inquinatuum refertumque esse; aut, ut brevius absolvatur, totum hominem non aliud ex se ipso esse quam concupiscentiam.“ (Vgl. Übers. De Niet: 2009, Bd. 1, 253). Die Konkupiszenz wirkt eben auch in der Vernunft. Vgl. Pannenberg: 1988 – 1993, 2: 275 – 280, hier 276 über die Kontroversen des 16. Jahrhunderts bezüglich der Konkupiszenz.
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dung zwischen einer verfinsterten Vernunft und der Unwissenheit verstärkt. Dort spricht der Apostel von den Heiden, „deren Verstand verfinstert ist, und die entfremdet sind von dem Leben, das aus Gott ist, durch die Unwissenheit, so in ihnen ist, durch die Blindheit ihres Herzens“. Bei Thomas von Aquin ist die Ignoranz eine der „vier Wunden der Natur“ geworden. Diese Wunden sind nach Thomas in allen Seelenvermögen anzutreffen: in der Vernunft, im Willen und in den Affekten.24 Die Vernunft ist durch Unwissenheit verwundet, der Wille durch Bosheit, das zürnende Streben durch Schwäche sowie das begehrende Streben durch Konkupiszenz.25 Im Hinblick auf diese zentrale Stelle der Unwissenheit als eine auf die Vernunft bezogene Folge der Erbsünde ist es interessant, dass etwa Johannes Calvin, wenn er die Erbsünde in seiner Institutio erörtert, zwar auf die Ignoranz zu sprechen kommt, aber doch ohne dieser eine zentrale Stelle zu geben.26 Er erwähnt in der Institutio 2.2.12, dass der Sündenfall zwar nicht den Verstand als naturale donum ganz zerstört hat und der Mensch immerhin animal rationale geblieben ist, dass jedoch der Verstand „teils geschwächt, teils korrumpiert (partim debilitata, partim vitiata)“ worden ist, so dass ihr Licht in Unwissenheit (multa ignorantiae densitate) erlöscht ist.27 Andere Reformierten, wie etwa Andreas Essenius und Samuel Maresius, erwähnen die Ignoranz unter den causae internae der Sünde, keineswegs aber als die wichtigste Ursache – und bei Essenius ist neben der Unwissenheit auch die coecitas mentis faktisch direkt auf die Vernunft bezogen.28 Unbeschadet dieser Differenzierungen ist der zentrale – mit Augustinus gemeinsame – Punkt: die Vernunft ist durch die Erbsünde beschädigt worden. Dass reformierte Denker hier wesentlich in augustinischen Bahnen gehen, ist anscheinend unbestritten und braucht hier nicht weiter dokumentiert zu werden. Die Verderbtheit menschlichen Denkens lehrten im frühen 17. Jahrhundert
24 S. Theol. I/II q. 85, art. 3. Siehe Harrison: 2007, 32; Müller : 1858, 448 (Thomas von Aquin, Bellarmin). 25 Die Stelle ist später u. a. von Voetius herangezogen worden; siehe Goudriaan: 2006, 42. 26 Als locus über die Erbsünde gilt (Lane: 2009, 174) Institutio 2.1 – 2.3.5. Über Unwissenheit siehe hier (laut Brepols Library of Latin Texts, Suchbegriff „ignorant*“): 2.1.1; 2.2.12; 2.2.18; 2.2.22; 2.2.23; 2.2.24; 2.2.25; 2.3.1. 27 CO 2: 196; vgl. Übers. De Niet: 2009, , Bd. 1, 269. 28 Maresius: 1662,100 – 101, erwähnt folgende „causae peccati internae“: voluntaria electio, [i] psa naturae corruptio, [i]gnorantia, [c]oncupiscentia prava, mali habitus, amor pecuniae, infirmitas carnis et fidei imbecillitas. In möglicher Abhängigkeit von Maresius (dessen Collegium erstmals 1645 erschien, siehe Nauta: 1935, 11), erwähnt Essenius: 1659, 336, folgende causae internae: naturae corruptio congenita, pravi habitus acquisiti, ignorantia particularis, infidelitas, vacuitas reverentiae Dei, mentis coecitas, cordis durities, carnis infirmitas, inordinata concupiscentia, consilium et propositum tradendi sese in servitutem peccati.
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übrigens auch die Remonstranten. Die Remonstrantie von 1610 behauptete dass der Mensch im Zustand der Abirrung und der Sünden nichts Gutes, das wirklich Gut ist (wie insbesondere der seligmachende Glaube) aus und von sich selbst denken, wollen und tun kann29
Gutes zu denken, kann also der Mensch von sich aus nicht. Während der Synode von Dordrecht (1618 – 1619) wurde eingeräumt, dass die Remonstranten die Finsternis des Denkens (mentem tenebris obscuratam) lehrten, obwohl ihnen auch Inkonsistenz vorgeworfen wurde und die von einigen Remonstranten behauptete Möglichkeit, durch den richtigen Gebrauch des natürlichen Lichtes Gnade verdienen zu können, abgelehnt wurde.30 Das Denkens des Guten verdient übrigens eine besondere Erwägung, da es mit der Rezeptionsgeschichte des Paulustextes 2. Kor. 3,5 zusammenhängt.
3.
Die Fähigkeit zu Denken (2. Kor. 3,5)
Im 2. Korintherbrief (Kapitel 3, Vers 5) schreibt Paulus: „Nicht, daß wir tüchtig sind von uns selber, etwas zu denken als von uns selber ; sondern daß wir tüchtig sind, ist von Gott“ (Luther Bibel 1912). Diesem Text hat Augustin besondere Aufmerksamkeit gewidmet vor allem im pelagianischen Streit. Augustins lateinischer Text lautet: non sumus idonei cogitare aliquid sicut ex nobismetipsis, sed sufficientia nostra ex Deo est – wir sind nicht fähig, etwas zu denken wie von uns selber aus, sondern unsere Fähigkeit ist von Gott. Diese paulinische Stelle bringt eben ein Element der Gabe oder Gnade in die Diskussion, welches in dieser Form in der aristotelischen Auffassung der Vernunft fehlt. Wie hat Augustin diesen Text ausgelegt? Die idoneitas cogitandi ist für ihn die Fähigkeit, Gutes zu denken. Der Apostel redet Augustin zufolge „de bona et sancta cogitatione“ über gutes und heiliges Denken.31 Im Werk Contra duas epistulas Pelagianorum 2, 8 – 9, interpretiert Augustinus das cogitare als aliquid boni cogitare oder als eine bona cogitatio. Nicht einmal einen guten Gedanken hat der Mensch von sich selbst, viel weniger wird er in eigener Kraft das Gute wünschen oder sogar tun.32 In der Verhandlung De praedestinatione sanctorum 29 So der 3. Artikel der Remonstrantie; Hoenderdaal: 1970, 74. 30 Vgl. etwa Acta synodi nationalis: 1620, Teil 3, 239. Siehe Goudriaan: 2011, 90 – 93. 31 Augustinus, Contra Iulianum opus imperfectum, 1, 80; Teske: 2009, 109: „You understand that the will realizes the essence of either goodness or malice by thought alone. If you would realize in that way what the apostle says in speaking of a good and holy thought, namely, that we are not able to think anything as if from ourselves, but that our sufficiency comes from God, you will be able to be corrected.“ 32 Augustinus, Contra duas epistolas Pelagianorum, 2,8,18 – 2,9,19; CSEL 60, S. 480 – 481.
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wird der paulinische Text dann ein Zeuge gegen die Auffassung, wonach der Anfang des Glaubens aus dem Menschen selber herrühre. Augustinus zitiert den paulinischen Text, wonach gerade das Denken dem menschlichen Verfügen entzogen ist. A fortiori sollte klar sein, dass der Glaube und dessen Anfang nicht im menschlichen Vermögen liegt.33 Gott ist nach De dono perseverantiae derjenige, der „dem menschlichen Herzen fromme Gedanken gibt, durch welche es den Glauben hat, der in Liebe wirksam ist“. Der Apostel redet also Augustin zufolge nicht von Gedanken überhaupt, sondern spezifisch von Gedanken, die auf den „Weg der Frömmigkeit und den wahren Dienst Gottes“ bezogen sind.34 Der paulinische Text 2. Kor. 3,5 hat in der Theologiegeschichte nach Augustinus bleibend eine Rolle gespielt. So hat die Synode von Orange 529 ausgesprochen, dass richtiges Denken (recte cogitare) ein Geschenk Gottes ist und dass es unmöglich ist, „durch die Kraft der Natur etwas das zur Seligkeit des ewigen Lebens gehört zu denken [cogitare]“ – mit ausdrücklichem Zitat aus 2. Kor. 3,5 (Passmore: 1970, 99; Denzinger/Hünermann: 1991, Nr. 379, bzw. 377). Im reformierten Protestantismus spielt der Text eine Rolle auf der Dordrechter Synode, wo er unter anderen von Abgeordneten aus Hessen, Genf sowie aus Süd Holland, Utrecht, Overijssel, Groningen und Drente angeführt wird.35 Gutes Denken verdankt der Mensch nicht eigener Kapazität, sondern der Gnade Gottes, wie etwa die Confessio Belgica (Art. 14) und die zweite Helvetische Konfession (IX, 3) mit Zitaten aus dem 2. Korintherbrief 3,5 aussprechen (Beeke/Ferguson: 1999, 56).36 Wenn Gisbert Voetius in seinem Katechismus die Frage stellt, ob der Mensch wohl einen „guten Gedanken (een goede gedachte)“ von sich aus haben kann, ist seine kurze Antwort: „Nein“. Damit setzt auch er die augustinische Linie fort (Kuyper : 1891, 170). In De dono perseverantiae zitiert Augustin auch Ambrosius, der – ganz auf der Linie dessen was Paulus in 2. Kor. 3,5 ausspricht – bemerkt hatte, dass „unser Herz und unsere Gedanken (nostrae cogitationes) nicht in unsere Macht seien“. Augustin fügte hinzu, dass ein demütig frommer Mensch damit einstimmen wird.37 Diese Überzeugung des Ambrosius und Augustinus teilten im Laufe des 17. Jahrhunderts auch diejenige reformierten Theologen, die sich der von Ren¦ 33 Augustinus, De praedestinatione sanctorum, 2,5; PL 44, Sp. 962 – 963. 34 Augustinus, De dono perseverantiae, 8,20; PL 45, Sp. 1004. 35 Acta synodi nationalis: 1620, Teil 2, 186 (Hessen; zum paulinischen „etwas denken“ erläutert die Hessische Delegation: „scilicet boni spiritualis“), 202 (Genf); Teil 3, S. 228 (Süd Holland), 254 (Utrecht), 274 (Overijssel), 285 (Groningen), 296 (Drente). 36 Vgl. für die Confessio Belgica, Art. 14: Bakhuizen van den Brink: 1976, 95: „In summa, quis vel ullam cogitationem in medium proferat, cum intelligat: Nos non esse idoneos ex nobis ipsis ad cogitandum quicquam veluti ex nobis ipsis, sed quod idonei simus ex Deo esse? … Nulla enim intelligentia nec voluntas conformis est diviniae, nis quam Christus in illis fuerit operatus“. 37 Augustinus, De dono perseverantiae 8,19; PL 45, Sp. 1003.
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Descartes im Discours de la m¦thode vertretenen Auffassung widersetzten, dass „nichts außerhalb unserer Gedanken absolut in unsere Macht sei“.38 Zu diesen Theologen gehörte Jacobus Revius, der Descartes’ Behauptung als eine pelagianische kritisierte (Goudriaan: 2012, 196, bes. Anm. 61). Dass man sich gegen Descartes auf römisch-katholischer Seite gerade auch auf Ambrosius und Augustin berufen konnte, zeigt Marin Mersenne, der Freund Descartes’, der bereits kurz nach der Erscheinung des Discours de la m¦thode behauptet hatte, der Mensch habe seine Gedanken eben nicht in der eigenen Macht.39 Descartes reagierte mit einer erfindungsreichen Auslegung, wonach die Kirchenväter eben nur von dem sensitiven Teil der Seele geredet hätten, in dem von Außen her Sinneseindrücke empfangen werden, so dass in dieser Hinsicht die Gedanken in der Tat nicht in der eigenen Macht seien. Descartes selber habe jedoch mit den Gedanken, die absolut in unserer Macht seien, jene Gedanken gemeint, „die vom Willen und von der Wahlfreiheit herkämen, und mit Hinblick darauf wiedersprechen sie (d. h. die Kirchenväter Augustin und Ambrosius) mir keineswegs“.40 Der Leser von De dono perseverantiae wird sich über diese Cartesische Interpretation gewundert haben: Augustins Intention war es gerade klarzulegen, dass der Anfang jedes guten Gedankens nicht aus der eigenen menschlichen Macht herrührt, sondern aus Gottes Gnaden.
4.
Glauben und Wissen
Augustin hat oftmals ausgesprochen, dass der Glaube der Einsicht vorangehen muss. Ein biblischer Schlüsseltext dafür war Jesaja 7,9 (Vetus Latina): „Si non credideritis, non intelligetis“ (Geerlings: 1987, 5; te Stelle: 1996 – 2002, 116 – 119). Den Manichäern etwa, die mit Geringschätzung für die kirchliche Glaubensforderung („das Joch des Glaubens“) ihren Anhängern vielmehr eine vernünftige Einsicht versprachen, hielt Augustinus entgegen, dass der Glaube auf diese Einsicht vorbereitet. Erst auf dem Weg der glaubenden Unterwerfung an der Autorität kann Einsicht erreicht werden.41 Trifft auf die reformierte Orthodoxie die Analyse zu, dass etwa ihre Annahme einer nicht durch einem vorangehenden Glauben vermittelte natürliche Gotteserkenntnis ein Bruch darstellt mit Augustins Auffassung über das Nacheinander von Glauben und Wissen?42 Eine differenzierte Antwort auf diese Frage 38 39 40 41
Descartes, Discours de la m¦thode, Kap. 3; AT 6: 554,23, 25 f, 29 – 32. Siehe Descartes an Mersenne, 3. Dezember 1640, AT 3: 248 – 252, hier S. 248,18 – 249,13. Ebenda, 3: 249,7 – 8. Augustinus, De utilitate credendi, 21 – 36. Hoffmann: 1992, hier schreibt Augustin c. 21 (S. 137) den Gegnern der Kirche den Ausdruck „Joch des Glaubens“ zu. 42 Vgl. Matthews über Thomas von Aquin; Matthews: 2010, 89: „An opposed view…“.
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wird vermutlich gestehen müssen, dass in der reformierten Theologie das Thema „glaubt, damit ihr erkennt!“ weniger als bei Augustin als solches ausdrücklich thematisiert wird. Das bedeutet aber nicht, dass der Kern der augustinischen Auffassung aufgegeben worden ist. Im Gegenteil hat die frühneuzeitliche protestantische Theologie durch ihr Bekenntnis zur Autorität der Schrift die Glauben verlangt, den Kern von Augustins Überzeugung ins Zentrum der Theologie gerückt. Auch jene reformierten Theologen, welche die Heilige Schrift als Autorität auch in Fragen des allgemeinen Wissens betrachteten (physica sacra, philosophia sacra, usw.), hielten eine im Grunde augustinische Reihenfolge von Glauben und Wissen aufrecht. Dort, wo die Philosophie gegenüber der Schrift verselbständigt wurde und die Philosophie von der Theologie strikt getrennt wurde, ist das Motto „crede ut intellegas“ in der Tat nicht länger wirksam. Überdies besteht im Hinblick auf die natürliche Erkenntnis Gottes kein großer Gegensatz zu Augustin. Erstens wusste Augustinus selber auch von einer Vernunfteinsicht, die dem Glauben vorangeht: die Einsicht nämlich, dass der Glaube vorangehen muss. Darüber schrieb Augustin im 120. Brief, wo er zugesteht, dass daher „ein bisschen Verstand“ dem Glauben vorangeht (Geerlings: 1987, 8 f; te Stelle: 1996 – 2002, 117 f). Wenn es die Vernunft selber ist, die dem Glauben den Vorrang zu geben gebietet, ist die Priorität des Glaubens keine absolute. Außerdem hat Augustin faktisch dem paganen Menschen im Bereich der Gotteserkenntnis ziemlich viel zugeschrieben, ohne dass diese Erkenntnis als durch einen vorangehenden Glauben vermittelt erscheint (vgl. Gross: 1960, 360).43 Allerdings ist zweitens auch im reformierten Denken über die natürliche Theologie ein Gedankengang zu erwähnen, der dieses im Grunde als augustinisch qualifiziert. Gisbertus Voetius hat zwei Prinzipien natürlicher Theologie unterschieden: die Heilige Schrift und die natürliche Vernunft. Zwar ist die Natur oder die Vernunft für Nicht-Christen das Prinzip der natürlichen Theologie. Für Christen jedoch ist die Schrift das erste Prinzip gerade auch der natürlichen Theologie. Für sie ist die Natur deren zweites Prinzip (Goudriaan: 2006, 75 f). Diese Denkfigur ist natürlich nicht einfach eine Wiederholung von Augustins Vorordnung des Glaubens vor dem Wissen. Aber die von Voetius anerkannte Priorität der Schrift als Prinzip der natürlichen Theologie der Christen beinhaltet eine glaubende Unterwerfung an der Autorität Gottes, die Augustin seinerseits anvisierte, wenn er dem Glauben den Vorrang vor dem Wissen gab.
43 Sowie dort Anm. 86.
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5.
Aza Goudriaan
Schluss
Bekanntlich waren die reformierten Theorien über die Vernunft zum Teil sehr stark scholastisch-aristotelisch geprägt. Dennoch sind wichtige augustinische Themen präsent geblieben. Die unterschiedlich interpretierte augustinische Illumination als Bedingung des Erkennens hat in reformierten Texten einerseits Parallelen im natürlichen Bereich, etwa in der Form einer Gottgegebenen Anlage des Verstandes oder eines lumen naturale.44 Im übernatürlichen Bereich gibt es die spezielle innere Erleuchtung der Gläubigen, die eine augustinische Gnadenlehre indiziert. Eine generelle Erleuchtungslehre, die annimmt, dass Gott ständig Gedanken im menschlichen Denken eingibt, wäre mit der reformierten Würdigung der geschaffenen Sekundarkausalität inkompatibel. Die Opposition von Calvin und anderen gegen den Libertinismus, Leydekkers Ablehnung des „philosophischen Enthusiasmus“ von Malebranche, Voetius’ Kritik an die Cartesische Leugnung substantieller Formen sind Indizien für das reformierte Interesse, die Sekundarkausalität zu wahren. Wie Augustin nehmen auch Reformierte an, dass die Erbsünde die Vernunft geschwächt und korrumpiert hat, wie unter anderem in der Unwissenheit sichtbar wird. Im reformierten Bereich ist die augustinische Interpretation von 2. Kor. 3,5 aufgenommen und fortgesetzt worden: Die Fähigkeit, Gutes zu denken, rührt von Gott her, nicht vom Menschen selbst. Die augustinische These von der Priorität des Glaubens vor dem Erkennen ist in der protestantischen Orthodoxie vor allem durch die Schriftlehre wirksam geblieben.
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Die Metaphysik der lutherischen Orthodoxie
1.
Einleitung
Es ist bekannt, dass Luther in den frühen Jahren der Reformation Aristoteles aus der Universität verbannen wollte. Dieses Verdikt betraf insbesondere die Metaphysik. Ebenso ist bekannt, dass es am Ende des 16. Jahrhunderts zu einer Wiederkehr der aristotelischen Metaphysik an die protestantischen Universitäten und Schulen gekommen ist. Was waren die Gründe hierfür? Wenn man die alte Königin, die lutherische Metaphysik, biographisch darstellen wollte, müsste man auf die Gattung der Tragödie zurückgreifen. Denn die Geburt war mit einer Vertreibung verbunden, und die erfolgreiche Rückkehr auf die neuerrichteten Lehrstühle der Metaphysik Anfang des 17. Jahrhunderts hat nicht den Verfall und Untergang der scientia regina am Ende desselben Jahrhunderts vermeiden können. Sie, die Metaphysik, hat – wie Agamemnon – zu viel gewollt und zu wenig vermocht. Luther sah bekanntlich die Metaphysik nicht nur als problematisch für die zukünftigen Studenten der Theologie an, sondern er beurteilte sie vielmehr als das Problem für die Reformation. Sie war die angebliche Ursache der Vermischung von Philosophie und Theologie in der scholastischen Theologie. Der wissenschaftliche Umgang mit der Metaphysik war mit der höchsten Gefahr verbunden, nämlich Christus selbst zu leugnen und die christliche Wahrheit zu unterdrücken. Die auf der Metaphysik basierende Anthropologie war nicht im Stande, das Dilemma des Menschen abzubilden. Luther sieht in seinem großen Galaterbriefkommentar darin die eigentliche Problematik: Wenn die Sophisten sich auf den metaphysischen Begriff der Sünde stützen, nämlich als eine Qualität der substantia, eine Farbe an der Wand, dann versuchen dieselben „Sautheologen“ diese Tatsache mit einer Gegenbewegung hinwegzuwaschen, nämlich mit der caritas. Die metaphysische Denkfigur verhindert nach Luther also nicht nur die Vergebung der Sünde durch den Glauben, sondern führt die Kinesis von
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Aristoteles in die Anthropologie ein, eine Bewegung die, theologisch gesehen, eine Hybris ist.1 Das Hauptproblem für Luther aber war die mit der Metaphysik verbundene speculatio maiestatis, ein Problem, das vielleicht eher mit der platonischen theoria (contemplatio) als mit dem aristotelischen Bewegungsprinzip verbunden ist. Die wirkliche Tragödie des Menschen, seine faktische Situation als unterworfen unter das Gesetz der Sünde und des Todes, wird durch das Spekulieren unterdrückt. Der Mensch versteht sich dabei selbst als ein Akteur, der alles in der Hand hat. Diese Kritik ist vielleicht am deutlichsten in De servo arbitrio zu finden. Luther meinte, dass Erasmus die Gottesspekulation in seiner Diatribe so weit getrieben hatte, dass die gnädige Zuwendung des Deus praedicatus völlig unter die Ambivalenz des Deus absconditus geraten war. 150 Jahre später widerfuhr der Metaphysik erneut etwas Tragisches: Die einmal so große Realwissenschaft wird jetzt ganz tabellarisch und ohne jeglichen Inhalt als ein Begriffslexikon aufgefasst. Leibniz’ vielleicht wichtigster Lehrer, Jacob Thomasius, historisiert die Metaphysik in einem Grad, dass der Bezug zur Wirklichkeit fast nicht mehr existiert. Seine tabellarische Auflistung von metaphysischen Termini spiegelt möglicherweise die Ergebnisse der großen Entwürfe von sogenannten strengen Lutheranern wie Abraham Calov und Georg Gutke, die sehr skeptisch gegenüber der philippistischen Tradition der stoischen notitiae communes waren. Es gibt keine guten Gründe, diese Entwicklung als ein Ergebnis der alten lutherischen Metaphysik zu verstehen, aber man kann sagen, dass die fast empiristische Konzentration auf das äußerliche Ding, die immer kritisch gegenüber einer Behauptung, dass es eine von der Erfahrung unabhängige Quelle des Wissens gäbe (gegen bspw. den reformierten Clemens Timpler), in Thomasius radikalisiert wurde (Wundt: 1992, 261). Die Lutheraner wollten vor allem die Vernunft auf ihren rechtmäßigen Platz festhalten, damit sich nicht die notitia, eine Gefährdung der Verankerung der Wirklichkeit, erheben konnte.2 Aber zwischen Luthers Verbannung und Thomasius Entlassung kam es zu
1 Neque enim aliter potest Sophistica Theologia considerare peccatum quam metaphysice, nempe sic: Qualitas haeret in substantia vel subiecto; Sicut ergo color in pariete, ita peccatum in mundo, carne vel conscientia haeret. Igitur eluendum est per contrarios motus, scilicet per charitatem. Vera autem Theologia docet, quod nullum peccatum amplius sit in mundo, quia Christus in quem Pater coniecit peccata totius mundi, Esa. 53. Cap., vicit, delevit et occidit illud in corpore suo. Is semel mortuus peccato, resuscitatus vero ex mortuis, amplius non moritur. Ubicunque igitur est fides in Christum, ibi re vera peccatum abolitum, mortuum et sepultum est. WA, 40 I, 445. 2 Man kann eine analoge Kritik der Lutheraner an der cartesianischen Lösung beobachten, obwohl diese Kritik fast unerforscht ist. Als eine Ausnahme gilt die Begründung von Musäus und Buddeus. Nüssel: 1996, 286 – 301.
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einer wissenschaftlichen Blütezeit unter dem Dach der Metaphysik.3 Jakob Martini scheute sich nicht in seinem Vernunfftspiegel (1618) zu behaupten, Luther war selbst zwar „kein Philosophus, vnd in specie ein Metaphysicus, er hette dasselbige Buch wol vngeschrieben gelassen /derhalben es auch keiner verstehen kan /es sey denn / dass er Metaphysicam gründlich verstehe.“ Das Buch, auf das Martini hier anspielt, ist ausgerechnet De servo arbitrio (Sparn: 1976, 5). Man kann sich fragen, warum die einmal so gefährliche Metaphysik nun, 100 Jahre nach Luthers Warnung vor der aristotelischen Philosophie, nicht nur als ein mögliches Zurückgreifen auf das Vergangene, sondern geradezu als der Inbegriff lutherischer Wissenschaftskultur verstanden werden konnte. Wie hat man in dieser Tradition die Vernunft verstanden? Ist „die Hure Vernunft“ durch die Konkurrenz von Papistae und Calvinistae nun so teuer geworden, dass man sich auf dem Marktplatz der opiniones nicht scheut, ein Fremdelement, nämlich die aristotelische Metaphysik, zu inkorporieren? Oder kann man trotzdem von einer Kontinuität zwischen dem Vernunftgedanken der frühen Wittenberger Reformation und ihrer Entfaltung im 17. Jahrhundert sprechen?4
2.
Methode: Die Universitätskultur Luthers
Um zu verstehen, was Luther mit ratio meint, macht es noch heute Sinn, genau 500 Jahre zurückzugreifen und das Medium der Rationalität in den Blick zu nehmen. Denn Luther war in der Disputationskultur der damaligen Universität nicht nur promoviert, er hatte auch seine akademische Methode darin gefunden. Man könnte vielleicht sagen, dass die kommunikative Form des akademischen Austausches gerade zum Vollzug des Doctor Bibliae wurde. Erst hier prüft man – coram doctores, also eine Art kollegiale Öffentlichkeit – was Wahrheit ist. Die Schritte von einer Thesenreihe oder propositiones, durch die persönliche probatio – wo die auctoritae sichtbar dargestellt werden können – zur assertio, diese Schritte stellten ein bestimmtes Wissenschaftsideal dar (Kerlen: 1976). Aber damit war auch eine bestimmte Kommunikationskultur impliziert, eine Kultur, die auf die politischen und sozialen Ereignisse der 1520er Jahre zugrunde ging. 3 Vor allem Sparn: 2001, 475 – 587. 4 Als eine Vorbemerkung ist es – jedenfalls für mich – erstaunlich wie verschieden die Fundamentalpositionen innerhalb derselben Fakultät sein konnten, ohne dass es damit zu persönlichen Kontroversen kam. Mit der Einführung von Zabarallas analytischer Methode, nach der die Theologie als eine scientia practica verstanden wurde, hatte Meisner seine wissenschaftliche Position gefunden. Sein Kollege, Jakob Martini, erwehrte sich gegen die neue utilitaristische Zweckregulierung der Wissenschaft, ohne dass ihre kollegiale Gemeinschaft zerstört wurde. Appold: 2008, 98 – 99.
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Eine umsichgreifende (Früh-) Konfessionalisierung isolierte die Theologen in verschiedene kirchliche Gruppen. Diese Entwicklung hatte fatale Folgen für die assertio, weil dabei fundamentale Voraussetzungen verändert wurden. Luthers assertio war nämlich selbst mit einer bestimmten Auffassung der claritas Scriptura verbunden. Inge Lønning hat in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, dass claritas als „Lichtkraft“ und nicht als „Klarheit“ zu übersetzen wäre. Für Luther ist die „Lichtkraft“ der Schrift so riesig und gewaltig, dass man sich einfach davor beugen muss. Warum? Weil daraus die Sache selbst, Christus, das Licht der Welt strahlt. Sie leuchtet ein, ist sozusagen evident nach ihrer Kraft.5 Es gibt also bei Luther ein dynamisches Element der Schrift, das nicht einfach in einer abstrakten Methode umzusetzen ist, sondern eine lebendige Öffentlichkeit impliziert, die nach der Spaltung der Kirche und den damit verbundenen politischen Folgen im Reich zum Schweigen gebracht wurde. Die Verschiebung von Luther’s claritas scripturae zu perspicuitas scripturae bei Calvin und den späteren lutherischen Orthodoxen bezeugt die Institutionalisierung der Öffentlichkeit.6 Man kann diese Verschiebung mit der Luther-Renaissance zwar beklagen – „Das Geschrei der Barmherzigkeit Gottes verstummt“, wie Ratschow einmal formulierte – (Ratschow: 1999, 424 f), aber die Verschiebung vom unmittelbaren Geist zum Buchstaben, doctrina, systema, usw. ist nach meiner Meinung auch ein Reflex der veränderten Öffentlichkeit. Man musste einfach unter neuen kommunikativen Bedingungen die causa Lutherii gestalten. Das heißt: Eine neue Methode ausarbeiten. Betrachten wir seine Angriffe „wider die Schleicher und Winkelprediger“ von 1532, so ist es bemerkenswert, wie lebendig die alte Vorstellung von der Kommunikation bei Luther ist. Die Täufer „schleichen“ im Wald und in den Häusern herum, in der Finsternis, wie die Schlange um den Paradiesbaum. Dort, in der Finsternis, verbreiten die Täufer ihr Gift. Die Taube, das neutestamentliche Bild für den Heiligen Geist, dagegen „fliegt“. Sie kommt vom Himmel herab, öffentlich, sichtbar, von Gott. Nach Luther muss man die verborgenen Täufer an „das Licht“ ziehen, um die dämonische Botschaft zu entlarven.7 Für Luther heißt das, den öffentlich eingesetzten Pfarrer um Erlaubnis zu bitten, dass die Täufer 5 Nach Lausberg ist die rhetorische Grundfigur evidentia (Quintillian) das Vermögen, ein „Gleichzeitigkeitserlebnis des Augenzeugen“ zu erwecken. Dieser optischen Gleichzeitigkeit liegt die ganze juridische Tradition im Mittelalter zugrunde, nach der man den Augen eine besonders wichtige Rolle vor Gericht zutraute. Lausberg: 1960, 400. 6 Für die angebliche Passivität, die für die perspicuitas charakteristisch sei, siehe Rothen: 1990, 19. 7 Nach Luther sollte man die Winckelprediger fragen: „Wo sind deine wunderzeichen, das dich Gott gesand hat? Worumb gehestu nicht zu unserm Pfarher? Warum schleichestu so heimlich zu mir und kreuchst jnn die winckel? Warumb trittestu nicht offentlich auff ? Bistu ein kind des liechts, warumb schewestu das liecht?“ WA, 30 III, 519.
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sich am foro, öffentlich, darstellen müssen. Die Wahrheit wird durch das Licht klar. Ansonsten werden die Kinder des Lichtes durch den Schandtaten der Finsternis geopfert.8 Bernt Oftestad hat gezeigt, wie diese Art von „Öffentlichkeit“ eng mit der reichsrechtlichen Tradition verbunden ist. Die praeambula der Goldenen Bulle von 1356, ein für die politische Kultur ganz wichtiges Dokument, spielt mit derselben Metaphorik: Es gibt Fürsten, die Feinde des Reiches sind, weil sie vom Geist der Finsternis geleitet werden. Man muss sie aufhalten, sonst verschwindet der Tag und die Taten der Finsternis brechen hervor: Mord, Diebstahl und Aufruhr. Für diese Kultur war es klar, dass die Tugend dagegen zum Licht des Tages gehörte (Oftestad: 1995, 90 – 102). Schon das öffentliche Auftreten selbst war ein Zeichen, dass man tugendhaft war (Hölscher : 1979, 30). Es ist verlockend, auch Luthers Theorie der Rationalität im Licht der Öffentlichkeit zu betrachten, weil schließlich dort, vielleicht nur dort, die Wahrheit zu finden ist. Die radikale Lehre von der Sünde, etwa, dass „der Mensch von Natur unausweichlich böse und von verderbter Beschaffenheit“ sei, wie es in der Disputatio contram scholasticam von 1517 heißt, machte die Fixierung der Wahrheit auf bestimmte Ämter oder Personen problematisch.9 Wo konnte man nun die Wahrheit finden? Durch die herkömmliche Öffentlichkeitstheorie bekam Luther vielleicht nicht eine Methode, aber eine Möglichkeit, wie die Sache der Schrift auszulegen war. Hier findet man auch eine mögliche Antwort auf die Frage, warum die Lutheraner, die ständig so kritisch gegenüber dem Vermögen der Vernunft in Glaubenssachen waren, letztendlich die Metaphysik in ihren Universitäten einführten. Man glaubte, es läge im korrekten Umgang mit der Vernunft, die Grenzen der verschiedenen Wissenschaftsgebiete zu respektieren. Oder vielleicht korrekter : Es liegt in der (sokratischen) Vernunft selber, ihre Grenzen zu respektieren. Die späteren Lutheraner warfen den „Papisten“ und den Calvinisten immer vor, falsche philosophische Prämissen in die Glaubenssachen eingetragen zu haben. Durch die Überlieferung der Schriften des Aristoteles bekam man wieder ein Instrumentarium für einen regulativen Umgang mit der Vernunft in der 8 Für Luther ist die Kommunikationssituation apokalyptisch fundiert: „Die Schleicher und Winckelprediger sind des Teuffels Apostel, Da Sanct Paulus allenthalben uber klagt, wie sie durch die heusser lauffen und die selbigen verkeren, leren jmer, und wissen doch nicht, was sie sagen odder was sie setzen. Darumb sey gewarnet und vermanet Geistlich ampt, Sey gewarnet und vermanet Welltlich ampt, Sey gewarnet alles, was Christen und unterthan sein sol, das man sich fuer jn huete und hoere sie nicht, Odder wer sie leidet und hoeret, der wisse, das er den leidigen Teuffel leibhafftig selbs hoeret, nicht anders, denn wie er aus einem besessen menschen redet.“ WA, 30 III, 527. 9 These 9: Est tamen naturaliter et inevitabiliter mala et vitiata natura. WA, 1, 224.
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Theologie, also eine Möglichkeit zwischen Philosophie und Theologie zu unterscheiden und dadurch das proprium der Theologie stark zu machen.10 Aber wenn die claritas die zugeordnete Öffentlichkeit nicht mehr findet, sondern nur die tragische frühabsolutistische Abgrenzung aller Art, musste die damit verbundene evidentia auch verschwinden. Blicken wir in die philosophische Tradition zurück, war die reformatorische Theologie durch ihre eigene nominalistische Prägung vor eine besonders große Herausforderung gestellt. Man musste mit den epistemologischen Schwierigkeiten des radikalisierten Augustinismus der Franziskaner wie Scotus und Occam zurechtkommen. Schon bei Heinrich von Ghent merkt man wie Thomas Aquinas’ Wissenschaftsmodell nicht Heinrich von Ghents Forderung der certitudo entspricht. Er verlangte, dass die scientia in striktem Sinne nicht irgendeine gewisse Erkenntnis vermittelt, sondern allein eine solche, deren Wahrheit dem Intellekt aus der Evidenz der Sache (ex evidentia rei) einleuchtet.11 Wie kann man die Evidenz der Theologie wissenschaftstheoretisch sichern? Heinrich wendet sich Augustin zu und stellt die göttliche sapientia über die scientia, weil die sapientia im strikten Sinn größere Evidenz besitzt. Er setzt aber ein besonderes lumen theologicum, eine Geistesbegabung der Theologen, voraus (Speer : 2007, 78 – 83). Dazu kam auch der neue Seinsbegriff, der nicht mehr – wie bei Thomas Aquinas – analog, sondern univok zu verstehen war. Gott und seine Wirklichkeit waren kategorial unter dem Dach des Existierenden zu fassen (Dumont: 1998, 313). Diese transzendentale Wendung verstärkte die Ausbreitung der natürliche Theologie, weil Gott und Welt jetzt im gleichen konzeptionellen Rahmenwerk zu verstehen waren: Unter der Kategorie ens. Für Thomas dagegen war essentia immer das „Frühere“ und „Einfache“, ens das „Spätere“ und „Zusammengesetzte“, weil er die Wahrheiten oder tode ti des abgetrennten Dinges als wesensprimär verstand (Rombach: 1965, 13).
10 Markus Friedrichs bemerkt, dass Daniel Hofmann während seines Streits mit den Kollegen in der Academia Julia weit über „die bloße Analogisierung seiner eigenen Situation mit der biblischer Gestalten“ ging und „Züge echten Prophetentums“ annahm. Was Hoffmann gegen den metaphysikfreundlichen Philosophen gesagt hatte, „es hats der Heilige Geist geredet“, zeigte die modus loquendi Hoffmanni. Dabei wird es auch klar, wie begrenzt die intellektuelle Tragfähig des Arguments sein konnte, obwohl es vielleicht rhetorisch als prophetisch verkauft werden würde. Friedrich: 2004, 118. 11 Non quaecumque certa notitia, sed solummodo eorum quorum veritas intellectui ex rei evidentia apparet. Heinrich von Ghent, Summa quaestionum ordinariarum, a. 6, q. 1. Speer : 2007, 80.
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3.
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Drei Optionen
Obwohl beide führenden Reformatoren in Wittenberg unter dem Dach des Skotismus zu finden sind, wurde die Unterscheidung zwischen Philosophie und Theologie nicht in ähnlicher Weise vollzogen. Bei Luther wurde vor allem der Abstand zwischen Vernunft und Glaube betont. Seine Inkarnationstheologie hat er fast außerhalb der Grenzen des Vernünftigen lokalisiert. Seine Auffassung von Christus, die nicht in das herkömmliche wissenschaftliche System zu integrieren war, stand der These von der duplex veritas sehr nahe. Statt der alten Formulierungen, wollte Luther eine neue Sprache für die Offenbarungsrealität finden. Er war zwar in der Hauptsache mit Leuten wie William von Occam und Robert Holcot einig: Es gibt syllogistische Formen, die nicht passend sind für Propositionen, die trinitarische oder christologische Termen beinhalten. Aber Luthers Erklärung, warum die Syllogismen nicht den Offenbarungsrealitäten gemäß sind, ist weit von Occam und Holcot entfernt. Die mittelalterlichen Autoren haben sich nie von der universalen Gültigkeit der Logik abgewandt. Luther hielt dagegen an der fundamentalen Inkommensurabilität zwischen weltlich-rationaler Sprache und theologisch-religiösen Sachverhalten fest. „Wir bestreiten die Wahrheit der dialektischen Prinzipien in diesem Sachverhalt, und halten daran fest, dass derselbe nicht wahr ist in Theologie und Philosophie“, so Luther in der Disputatio „Das Wort ward Fleisch“ von 1539 (Knuuttila: 2003, 121 – 142). Aber wie war dieser Wahrheitskonflikt zu verstehen? War es nur für einige christologische Aussagen gemeint oder waren größere Wissenschaftsfragen dabei involviert? In Letzterem war vielleicht Daniel Hofmann in Helmstedt Luthers engster Nachfolger. Sein Widerstand gegen die systemischen Folgen des korrigierten Melanchthonismus war ein Versuch, die Wissenschaftsgrenzen im Dienst der pura evangelia radikal auseinander zu halten. Als Professor für Logik und Dialektik an der neu gegründeten Academia Julia war Hofmann philosophisch gebildet, bevor er an die theologische Fakultät kam, und er verschärfte die strukturellen Implikationen seiner These, nämlich die der „doppelten Wahrheit“. Die Folgen von Jacob Andreaes Christologie wurde als eine gefährliche Rationalisierung des Glaubens beurteilt, weil die württembergische Unterscheidung zwischen persona und natura letztendlich zu einer Vergöttlichung des Menschen führte (Hofmann: 1588, A3a–A4b). Luthers christologisches iudicium von 1539 hat Hofmann an der Schwelle des Jahrhunderts zu einem methodischen Sortierungsprinzip erhoben: Die neue Sprache, die lingua nova, macht das ganze philosophische Kategorisierungsprojekt problematisch. Es geht Hofmann vor allem darum, die Mysterien als Mysterien zu bewahren, und diese nicht per tropum reduci ad Logicas (Haga: 2012, 199, n. 347). Hofmann sah diese vermeintliche tragische Rationalisierung
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der Mystik in der neuen Philosophie bei seinen Kollegen, vor allem bei Cornelius Martini und seiner Metaphysik. Ironisch ist aber, dass Hofmann in seiner Distanzierung von Melanchthon’s Enkelkind (Martini war nämlich in Rostock unter dem Melanchthonschüler David Chyträus groß geworden) die philippistischen Kategorien benutzte: Die Aussagen, die gegen Rationalisierung geschützt werden müssen, sind selbst inusitata praedicatio. Vielleicht kann man auch die hervorragenden Köpfe der Tübinger Christologie um 1620, wie Theodor Thumm, als radikale Lutheraner ansehen. Diese haben nicht die abstrakte Grenze zwischen den Wissenschaftsgebieten gezogen, sondern inhaltlich einige Implikationen von Luthers Christologie neu gedacht. Durch die Verteidigung der praesentia als (metaphysische) Grundstruktur in der Christologie, wurde das implizierte Bewegungsprinzip in actio Christi – wie es in Giessen hieß – gründlich kritisiert. Die Tübinger wollten die Bewegung als communicatio idiomatum innerhalb der Person Jesu verstehen, als praesentia, nicht als früh-pietistisches, kausales Wirkungsprinzip in den Frommen. Mit andere Worten: Aus Sicht der Tübinger konnte man nicht einfach unpassende philosophische Kategorien wie das kausale Bewegungsprinzip in theologische Kernfragen importieren.12 Auf der anderen Seite des wissenschaftstheoretischen Spektrums des 16. Jahrhunderts ergab sich die enzyklopädische Lösung des Petrus Ramus.13 Freilich, es waren auch andere homogenisierende Lösungen auf dem Markt (z. B. die platonisierende Naturhermetik, Böhme und Arndt), aber Petrus Ramus war für die orthodox-protestantische Mentalität eine besonders verlockende Alternative. Der Ramismus war, im Vergleich mit den Universitäten lutherischer Prägung in Deutschland, in Skandinavien, besonders in Schweden erfolgreicher. An der Universität Uppsala wurde die Dialectica des Ramus 1611 zum Hauptlehrbuch in Logik gemacht, gefördert durch die Staatsideologie von Johan Skytte und Laurentius Gothus. Aber nach Skytte’s Tod gab es keine Befürworter für Ramus mehr, und die anti-ramistischen Institutiones logicae vom Wittenberger Johannes Scharf wurden in Schweden um 1650 als Logik-Lektüre empfohlen (Knuuttila: 2003). In Kopenhagen gab es nur eine kurze Blütezeit des Ramismus unter den beiden wichtigsten Männern an der Universität, Niels Hemmingsen und Hans Resen. Die Relation zwischen Religion und Rationalität wurde schließlich weder durch Abspaltung und Isolation noch durch völlige Harmonisierung festgelegt. Die Mitte – das gilt also nicht nur für politische Parteien in der spätmodernen Gesellschaft – gehörte Melanchthon und seiner Vermittlungstheorie. Vielleicht
12 Siehe die neue, sehr gründliche, Darstellung: Wiedenroth: 2011. 13 Siehe die klassische Studie von Ong: Ong: 2005.
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kann man sagen, dass er die lutherische Kultur vor einer einseitigen Tragödie gerettet hat. Zwar ist seine Gesamttheorie von der den Menschen eingeborenen notitiae etwas neuplatonisch eingeschätzt (Frank: 1995, 112ff), aber Melanchthons Theorie von der Unterscheidung und dem Zusammenhang von Glauben und Wissen hat die lutherische Wirkungsgeschichte, jedenfalls an den Universitäten, fast völlig beherrscht. Das hängt mit seiner Idee der Universalität zusammen: Er wollte das neue reformatorische Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu seiner Welt plausibel erklären, und zwar plausibel von der weltlich-rationalen als auch von der christlich-religiösen Perspektive aus (Sparn: 2012, 17 f). Das macht er allerdings unter veränderten politischen Voraussetzungen, die einer Obrichkeitstreue bedurften. Zentral für seine Wissenschaftsorganisation war die Sorge, die spezifische Eigenart der verschiedenen Fächer zu bewahren, und gerade nicht alles unter einen tabellarischen Systemzwang zu bringen. Dieses Organisationsprinzip wurde allerdings ganz beweglich von Melanchthon selbst interpretiert und mit Inhalten gefüllt: Nimmt man den berühmten, antischolastischen Satz aus der ersten Ausgabe der Loci von 1521, „wir sollten die Geheimnisse der Gottheit lieber anbeten als sie erforschen“, repräsentiert dieser auf der einen Seite die Konzentration und Abgrenzung, nämlich beneficia Christi cognoscendi, als Hauptaufgabe der Theologie. Es ist ein Beispiel für die typische „normative Zentrierung“ der Reformation, um es mit Bernd Hamm zu sagen (Hamm: 1999, 163 – 202). Ziel ist (nur) ein praktischer Jesus. Auf der anderen Seite wurden tatsächlich die in der Ausgabe von 1521 verbotenen trinitarischen und christologischen Fragen in der Ausgabe von 1535 behandelt. Und schließlich wurde die philosophische Erweiterung derselben Fragestellungen in der Ausgabe von 1543 eingetragen, die Melanchthons Beschäftigung mit Aristoteles in den späten 30er Jahren reflektiert. Die Organisation der Wissenschaft war für Melanchthon topisch, also eine didaktisch angelegte Struktur nach den Hauptpunkten des Inhalts. Anders als bei den späteren Enzyklopädisten spürt man Melanchthons grundsätzlich instrumentale Einschätzung der Dialektik. Rhetorisch gesagt: Die dispositio ist der inventio nachgeordnet, man könnte fast sagen, die Ordnung kommt von der Sache her. Man ordnet das Gewusste, weil die Natur selbst auch geordnet ist. Nach seiner Rede de Philosophia von 1536 ist Philosophie eine propädeutische Wissenschaft für die Theologie, weil sie der Theologie einen notwendigen methodus beibringt. Sonst werden die Theologen inerudita, und etwas Schlimmeres ist für den Humanist Melanchthon fast nicht denkbar. Von ungebildeten Theologen entsteht eine obskure Lehre, eine confusanea doctrina. Das ist die tragische Geschichte:
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Die Hauptsachen werden nicht klar dargestellt. Das was zu trennen ist, wird vermischt, was zusammengehört, wird getrennt (Melanchthon: 1600, A3b).
Als Medizin gegen eine solche mögliche Tragödie wird eine ordentliche Einübung des methodus und der forma orationis vorgeschrieben. Melanchthon genügt es nicht, sich nur mit grammatica und dialectica zu begnügen. Zukünftige Theologen brauchen auch Naturwissenschaft und Moralphilosophie. Man kann aber sagen, dass sich Melanchthons Wissenschaftsmodell in seinen letzten Lebensjahren von der theologischen Gewissheitsfrage hin zu einer mehr allgemeinen Wissensfrage verschiebt, wo vor allem Kohärenzaspekte wichtiger werden. In seinem Kommentar zum Kolosserbrief behauptete Melanchthon zum Beispiel, dass der auferstandene Christus jetzt in einem räumlich abgegrenzten Himmel sitze, und damit die lutherische Ubiquitätslehre als unwahr gelten könnte. Die Übertragung des aristotelischen Prinzips, ein Körper müsse auf einen Ort begrenzt sein, in die Theologie, zeigt, dass für Melanchthon, die Grenze zwischen den Wissenschaftsgebieten nicht völlig festgelegt war. Das gilt auch für seine Theologisierung der Philosophie, zum Beispiel in seinen zwei Kommentaren über Aristoteles’ Psychologie. Hier hat er einfach die aristotelische Bewegung, die kinesis, als eine Art perpetuum mobile in die Form der Seele eingeschoben. Warum? Damit konnte Melanchthon die sterbliche Seele für die christliche Unsterblichkeit als offen interpretieren und so Aristoteles gegen sich selbst lesen (Salatowsky : 2006, 69 – 131). Im Vergleich mit Luthers rechtstheoretischer Einrahmung der theologischen assertio ist Melanchthons methodus auf mancherlei Weise verschieden. Aber ich möchte für unser Thema die unterschiedlich imaginierte Situation der Theologie unterstreichen. Für Luther ging es in der Theologie vor allem um die tragische Situation des Menschen, nämlich desjenigen Menschen, der sich nicht durch Buße selbst erlösen konnte. Methodisch war es wichtig, den Trost auf sicheren Boden zu gründen, nämlich auf die Evidenz des schriftbezeugten Christus. Für Melanchthon gilt es dagegen, vor allem die chaotische Situation der ineruditio zu vermeiden. Der Theologe muss sich um die Ganzheit des Wissens kümmern, weil er nur so die doctrina – wie es jetzt heißt – richtig einstufen kann. Unter Melanchthons Flügeln arbeiteten fast alle, die zur lutherischen Metaphysik gehörten. Die aristotelische Wende, die Hofmann vergeblich bekämpfte, führt zwar dazu, dass die neuplatonischen Elemente der melanchthonischen Synthese bei den sogenannten „strengen“ Lutheranern abgemildert wurden, oder vielleicht richtiger : aristotelisch abgeschwächt wurden. Selbst Abraham Calov, der „lutherische Papst“, war auf der methodischen Linie Melanchthons und räumte Luthers Lehre von der doppelten Wahrheit sehr begrenzt Gültigkeit ein. Nur theologische Sätze, die der reinen Philosophie völlig unverständlich
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sind, wie „Das Wort ward Fleisch“, werden als Konfliktpunkte interpretiert. Die topische Methode wird mit einem System ersetzt, aber mit derselben Begründung: Die Philosophie ist für die Theologie nützlich. Durch das skotistische System (Honnefelder ; 1990) wollten die orthodoxen Lutheraner wichtige Aspekte aus der Perspektive des lutherischen Glaubens bewahren, besonders die äußeren Dinge wie Sakrament und Amt.
4.
Epilog: Jacob Thomasius
Dass die Geschichte der lutherischen Metaphysik eine Tragödie war, wurde bei Jacob Thomasius, Lehrer der Philosophie in Leipzig, schon angedeutet. Er sah die Metaphysik aller Art – auch die der Lutheraner – als eine unzulässige Verschmelzung der fundamentalen Dualität von Wissen und Glauben. In seiner sehr lesenswerten Schrift Schediasma Historicum von 1665 identifizierte er die verkehrte Entwicklung, das Syncretismum Ethnicae Christianaeque als eine Tradition, die bis zu Simon Magus zurückführt. Dieser Proto-Gnostiker ist der Pater Syncretistarum, weil er und seine Nachfolger Jesu Idee mit den Ideen von Aristoteles, Pythagoras und Aristoteles zu kultivieren versucht haben.14 Das Problem liegt dabei nicht nur auf der Seite des Christentums, sondern auch auf der der Philosophie. Nicht nur Christen, sondern auch Platoniker hätten gegen den drohenden Synkretismus gekämpft. Der Grund für Thomasius, dass er den Gegensatz zwischen Philosophie und Kirche hervorhob, lag in dem von ihm behaupteten fundamentalen Unterschied zwischen der Christlichen Lehre creatio ex nihilo und der philosophischen Lehre des nihil ex nihilo fiat. Mit der Anpassung an die pagane Philosophie wurde „Gottes Allmacht beseitigt, in einer simulierten Ewigkeit der Materie unterworfen“, meinte Thomasius. Trotz der großen Unterschiede zeigt die Geschichte, dass der tatsächliche Synkretismus stattgefunden hat, und dies ein paar Jahrhunderte vor Nietzsche und Harnack. Der Fall Jacob Thomasius zeigt die von der Theologie emanzipierte Philosophie, die schon mit Piccolomini und Zabarella in Italien anfing. Thomasius weist auf den zweiten Auszug des Aristoteles aus der lutherischen Rationalität hin. Vielleicht war die Metaphysik der lutherischen Orthodoxie eine Tragödie. Man kann aber mit Aristoteles’ Erklärung der Tragödie sagen, dass es nicht nur eine mögliche Geschichte war, sondern auch eine Erfahrung der Reinigung, eine Katharsis der Gefühle, für diejenigen, die sich damit auseinandersetzen. 14 §37. Quod ipse [Simon Magus], ejusque successores, quos constat juxta cum Jesu imagine Platonis quoque, Pythagorae & Aristotelis imagines coluisse […] Thomasius: 1665, 28.
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Tarald Rasmussen
Rationalität und Bibelauslegung in Niels Hemmingsens De Methodis (1555)
1.
Niels Hemmingsen als Melanchthonschüler
Die 1477 gegründete Universität Kopenhagen war seit den 1550er Jahren ein nordisches Epizentrum der Wittenberger Reformation.1 Johannes Bugenhagen hatte 1536 – 37 mit seiner ganzen Familie mehr als ein Jahr dort gewohnt, um bei der Ausarbeitung der neuen protestantischen Kirchenordnung und der Organisierung der neuen lutherischen Kirche zu helfen. Melanchthon hatte hohe Erwartungen an Kopenhagen als Hoffnungsträger der reformatorischen Bewegung,2 und ließ sich laufend über die Entwicklungen in Dänemark informieren. 1 Die Kopenhagener Universität gehörte zu den wichtigen Epizentren der Wittenberger Reformation, weil diese Universität schon früh im Geist der Reformation reformiert und konsolidiert wurde. Wie die Wittenberger Universität war sie eine junge Universität, und das hat vielleicht auch dazu beigetragen, dass sie für die neue Theologie offen war. Vor allem wurde sie aber von einem König getragen und unterstützt, der sich schon seit 1536 für die Reformation entschieden hat, und dessen Nachfolger die folgenden Jahrzehnte auch nie von der theologischen Linie der Reformation abwichen. Im Laufe der Jahrzehnte nach der Reformation hat diese Universität ihr eigenständiges theologisches Profil gefunden, und insofern die theologische Entwicklung nicht nur im dänischen Reich, sondern auch darüber hinaus beeinflusst. Der Begriff Epizentrum könnte dazu beitragen, daran zu erinnern, dass man im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert nicht nur mit den drei großen theologischen Zentren Wittenberg, Genf und Rom zu tun hatte, neben denen alle anderen wichtigen Zentren im Vergleich als Peripherie eingeordnet werden sollten. Neben diesem Denkmodell könnte man auch von eigenen regionalen konfessionellen Kulturen reden, die ihre eigenen theologischen Zentren hatten. Ein Interpretationsmodell dieser Art würde ein Stück weit dem entsprechen, was Peter Brown für die Spätantike vorgeschlagen hat: er möchte da eine Sichtweise korrigieren, wo das ganze römische Reich im Vergleich zu Rom als Peripherie angesehen wurde. Brown ersetzt dieses Interpretationsmodell durch ein flexibleres Modell, in dem gerade die Epizentren eine wichtige Rolle spielen. Vgl. Brown: 1996. 2 Vgl. seine Bemerkungen in der Vorrede zum Gedichtband Bucolica, vgl. Glad:1560. Hier wendet sich Melanchthon an den neuen dänischen König, Friedrich II (1559 – 1588), der ein Jahr zuvor Christian III (1536 – 1559) nachgefolgt war, und ordnet die beiden in eine Ahnenreihe hervorragender Herrscher ein, die alle zu dieser Aufgabe besonders von Gott berufen worden waren: Von David, Josaphat, Ezechias, Josias und Kyros geht die Reihe weiter über Konstantin und Theodosius zu Friedrichs Vater Christian III, der die Reformation in
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Die Kontakte zwischen der Universität Wittenberg und der Universität Kopenhagen waren auch ziemlich eng, und die wichtigsten dänischen Gelehrten der 1540er und 50er Jahre hatten alle in Wittenberg studiert. Zu diesen Gelehrten gehörte in einer besonderen Weise Niels Hemmingsen. Er war zweifellos – und ohne ernsthafte Herausforderer – der einflussreichste skandinavische Theologe der Reformationszeit.3 Er wurde 1513 in Lolland in Dänemark geboren. Nach Studien in Wittenberg 1537 – 1542, wurde er 1542 – 29 Jahre alt – als Lehrer für Griechisch an der Kopenhagener Universität angestellt. Drei Jahre später übernahm er eine Lehrstelle für die Fächer Dialektik und Hebräisch, und 1553 – mit vierzig – wird er schließlich als Professor für Theologie angestellt. Erst drei Jahre später erwirbt er dann auch seinen theologischen Doktortitel. Zur Professur in Theologie gehörte auch ein gut dotiertes Domherrenamt im Dom zu Roskilde. Zwischen 1553 und 1579 hat Niels Hemmingsen mit sehr viel Erfolg als akademischer Lehrer und Verfasser an der jungen Kopenhagener Universität gewirkt. Er hat eine erstaunlich große literarische Produktion hinterlassen, pflegte viele internationale Kontakte und seine lateinischen Werke wurden weit über Dänemark hinaus verbreitet und gelesen. Viele seiner Werke wurden auch in verschiedene europäische Sprachen übersetzt. Sein literarischer Einfluss war nicht auf den lutherischen Konfessionskreis beschränkt: besonders im reformierten aber auch im katholischen Europa wurden einige seiner Werke verbreitet und gelesen.4 In seiner Heimatuniversität in Kopenhagen wurde er viermal zum Rektor gewählt: 1550, 1558, 1571 und 1572. 1572 wurde er auch Vizekanzler der Universität. Das reformatorische Anliegen der Rationalität spielte in seinen Schriften eine sehr wichtige Rolle. Am Anfang ließ er sich dabei vor allem von Melanchthon Dänemark eingeführt hatte. Deshalb sieht er auch Dänemark als einen Zufluchtsort der wahren Kirche in der Welt und zugleich als wahre Heimat der frommen Gelehrten und der Musen. Vgl. dazu näher bei Karen Skovgaard-Petersen: 1998, 113 – 136. Vgl. Auch Jensen: 1993, 136 – 144. 3 Näheres zu Niels Hemmingsen liegt vor allem in Dänischer Sprache vor: vgl. zuletzt Martin Schwarz-Lausten: Niels Hemmingsen. Storhed og fald. Kopenhagen 2013. Vgl. auch auf Schwedisch. Kjell Barnekow: Niels Hemmingsens teologiska skdning. En dogmhistorisk studie, Lund 1940. 4 Zum Beispiel erschien seine Evangelienpostille, auf Latein 1561 gedruckt, 1569 auf Englisch: A Postill, or Exposition of the Gospels that are vsually red in the churches of God, vpon the Sundayes and Feast dayes of Saincts, and in the 1570 it was reprinted in several editions. Sein Handbuch für Pfarrer (Pastor sive pastoris optimus vivendi agendique modus, Erstdruck 1562) erschien1574 erstmals auf Englisch mit dem Titel The preacher, or Methode of preachinge, with later reprints. Der Dänische Text von Livsens vej erschien 1578 auf Englisch als The vvay of lyfe. Darüber hinaus wurden auch einige von seinen anderen Bibelauslegungen ins Englische übersetzt. Noch früher wurden die Postille, der Pastor und Liffsens Vey (1570) ins Deutsche übersetzt. Liffsens Vey wurde früh auch ins Isländische und ins Tschechische übersetzt.
Rationalität und Bibelauslegung in Niels Hemmingsens De Methodis (1555)
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anregen, dessen Loci er für eine vorbildliche Zusammenfassung der Theologie hielt. Allmählich wurde er aber auch immer stärker von Calvin beeinflusst, obwohl dies im strengen lutherischen Dänemark gar nicht gestattet war. Auf Grund dieser persönlichen theologischen Entwicklung musste er 1579 schließlich sein Amt an der Kopenhagener Universität niederlegen, durfte aber trotzdem weiterhin Bücher herausgeben. Hemmingsen hinterließ sehr viele Texte, und zwar innerhalb der typischen protestantischen Schriftgattungen: viele Bibelkommentare, eine Menge von Disputationsthesen, aber auch Gelegenheitsschriften und theologische Traktate. Sein bekanntestes Werk ist wahrscheinlich sein Enchiridion theologicum, in der ersten von vielen Auflagen bereits 1557 in Wittenberg gedruckt.5 Der Enchiridion war jahrelang ein zentrales Einführungsbuch an der Kopenhagener Universität, und ein Blick auf die erhaltenen Exemplare der nordischen Hauptbibliotheken bezeugt die große Verbreitung dieses Buches. Es ist in der Forschung wenig über dieses Buch geschrieben worden, aber in den spärlichen Detailstudien, die es gibt, wird vorausgesetzt, dass das Werk im engen Anschluss an Melanchthons Loci geschrieben worden ist. Dieser enge Anschluss an Melanchthons Werk wird auch im Enchiridion vom Verfasser selbst ausdrücklich hervorgehoben. Ob dieser Zusammenhang tatsächlich auch durch nähere Textuntersuchungen bestätigt werden kann, ist aber eine umstrittene Frage.6 Wenn ich im Zusammenhang mit dem Thema Reformation und Rationalität auf Hemmingsen als einen interessanten nordischen case hinweisen möchte, ist aber ein anderes Buch noch wichtiger für eine nähere Untersuchung: nämlich sein De Methodis Libri duo, in der Erstauflage in Rostock gedruckt, und zwar 1555, zwei Jahre vor der Erstauflage des Enchiridions. Danach erschien das Buch bis 1586 in mindestens sechs weiteren Auflagen, in Wittenberg, in Leipzig und in Genf.7 Dieses Buch ist in unserem Zusammenhang deswegen interessant, weil es nicht nur ein Einführungsbuch in die Dialektik oder die Rhetorik ist, sondern zugleich eine Einführung in die Theologie, und insbesondere in die Schriftauslegung. Der vollständige Titel des Buches lautet demgemäß: Zwei Bücher über die Methoden, deren erstes eine kurze und erhellende Erklärung von allen Methoden, die in der Philosophie benutzt werden, enthält; also sowohl von den
5 Einige Beispiele der vielen Ausgaben des Werkes: Das Buch wurde in Wittenberg im Laufe der 1550er und 1560er Jahre mehrmals herausgegeben, dann ab 1562 mehrmals auch in Leipzig. Auch in London erschienen ab den 1570er Jahren mehrere Ausgaben des Werkes. 6 Vgl. dazu die interessanten Aufsätze von E. Munch Madsen (1942). Madsen zeigt nach, wie Hemmingsen schon in seinem Enchiridion deutlich auch von Calvin beeinflusst ist. 7 Vgl. die entsprechenden Ausgaben, die in http://www.prdl.org/ (Post-Reformation Digital Library) zugänglich sind.
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allgemeinen als auch von den besonderen – während das zweite in der Tat das Buch des Predigers ist, und die theologische Methode der Auslegung und Verkündigung enthält.8
Diese Zusammenstellung ist bei Hemmingsen nicht nur eine äußerliche; die zwei Bücher sind argumentativ sehr eng miteinander verknüpft, indem die Exposition der Hauptinhalte des zweiten Buches schon im Rahmen der philosophischen Auslegungen des ersten Buches angekündigt ist, so dass eine weithin gemeinsame Terminologie für die Einführung in die philosophisch allgemeine und die theologisch besondere Methode benutzt wird. Wenn schon allgemein festgestellt werden kann, dass Hemmingsens Texte – trotz ihrer weiten Verbreitung, der vielen frühen Übersetzungen und des großen Einflusses – insgesamt wenig erforscht worden sind, so gilt diese Feststellung umso mehr für dieses besondere Werk. In der Forschung wird das Werk meistens nur kurz als eine Einführung in die Philosophie erwähnt, und auf den theologischen Teil des Werkes wird kaum geachtet. Einzige Ausnahme in dieser Hinsicht ist ein kurzer Aufsatz von Kenneth Hagen von 1990, wo auch auf die spezifische theologische Argumentation des Werkes näher eingegangen wird (vgl. Hagen: 1990). Eine dominierende Interpretationsfrage in der spärlichen Forschung zu Hemmingsen ist: Wie eng war auf der einen Seite der auch bei Hemmingsen selbst deutlich erklärte Melanchthon-Einfluss? Und wie groß war auf der anderen Seite der verdeckte Einfluss von Calvin, der aus konfessionspolitischen Gründen nicht zur Ausdruck gebracht werden konnte, der aber mindestens in Hemmingsens späteren Jahren unverkennbar vorhanden ist.
2.
De Methodis im Kontext der frühen Melanchthonrezeption
De Methodis ist ein Frühwerk, herausgegeben zwei Jahre nachdem Hemmingsen zum Professor der Theologie ernannt worden war. Vorher war er acht Jahre lang als Professor für Dialektik an der Kopenhagener Universität tätig gewesen. Schon diese biographische Auskunft ist für die Interpretation des Werkes relevant: Nachdem der sehr systematisch angelegte Hemmingsen jahrelang Dialektik und Philosophie unterrichtet hat, ist es ihm in seinem neuen Amt wichtig, den Zusammenhang zwischen der Dialektik und der Theologie möglichst deutlich darzustellen. Nachdem er diese Aufgabe zuerst 1555 in De Methodis in einer umfassenden und grundsätzlichen Weise in Angriff genommen hat, schreibt er unmittelbar danach auch sein Enchiridion, wo eine systematisch8 „De methodis libri duo, quorum prior quidem omnium methodorum uniuersalium & particularium, quarum usus est in Philosophia breuem ac dilucidam declarationem: Posterior uero Ecclesiasten siue methodum theologicam interpretandi, concionandique continet.“
Rationalität und Bibelauslegung in Niels Hemmingsens De Methodis (1555)
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inhaltliche Einführung in die Theologie gegeben wird. Die fundamentalen methodologischen Überlegungen im ersten Teil von De Methodis dienen somit weithin auch als Prolegomenon für das Enchiridion: der Grund ist in De Methodis philosophisch–methodisch vorbereitet, und die Fundamente der theologischen Wissenschaft können auf dieser Grundlage entfaltet werden.9 Hemmingsens Enchiridion steht ganz offensichtlich sowohl im Blick auf Gattung als auch im Blick auf Terminologie in der Tradition von Melanchthons Loci. Nicht so deutlich sind die Zusammenhänge, wenn es um De Methodis geht. Kenneth Hagen ist in seinem Aufsatz der Frage nach der Beziehung zu Melanchthon nachgegangen und kommt zu dem Ergebnis, dass Hemmingsen den Begriff methodus in Bezug auf die Theologie in einem ganz anderen Sinn als Melanchthon benutzt. Auch wenn es um die Frage der Gattung geht, findet Hagen keine deutliche Parallele zu Melanchthon. Es scheint nach Hagen eher, als ob Hemmingsen die Gattung der Dialektik-Einführungen erweitert oder weiterentwickelt hat, so dass die Theologie in einer anderen Weise als bei Melanchthon organisch aus der Dialektik herauswächst oder als eine organische Weiterentwicklung der Dialektik dargestellt wird.10 Aber auch wenn es zutrifft, dass De Methodis der Gattung nach keine direkte Entsprechung bei Melanchthon hat, ist das Werk trotzdem ganz im Sinne von Melanchthons topischer Methode aufgebaut: Im Rahmen der Dialektik werden zuerst die loci communes dargestellt, oder wie Hemmingsen es nennt: omnium methodorum universalium et particularium … brevem ac dilucidam declaratio. Danach folgen die loci praecipui, oder wie es bei Hemmingsen heißt: methodum theologicam interpretandi concionandique.11 Das Wort Methodus wird zwar 9 Das Werk erschien bis Ende der 1570er Jahre in mehreren Ausgaben, gedruckt vor allem in Wittenberg und in Leipzig. 10 „… Hemmingsen puts together method-exegesis-theology in such a way that neither Luther nor Melanchthon would be happy – i. e. independently. Luther, Melanchthon (at least in the preface to the third Edition), Hyperius and Flacius would not (in Luther’s case) or did not (in the other cases) want to talk about method, and certainly not from the dialectical tradition. They would rather talk about Scripture (Luther and Flacius) revelation (Melanchthon)…“ (Hagen: 1990, 187). Hagens Hauptanliegen ist es demnach, Hemmingsens De Methodis als eine innovative und eigenständige Leistung der exegetischen Methodologie zur Geltung zu bringen. 11 Dies ist die grundlegende Einteilung des Buches, wobei das Wort dialektisch dem „particularis methodus“ zugeordnet wird: Particularis Methodus est Ministra universalis Methodi, seu organon, seu via monstrans certam rationem tractandi et explicandi partes seu membra universalis Methodi. Hanc Dialecticam vocant Methodum…(Deutsch: „Die partikuläre Methodus ist eine Dienerin der universellen Methodus, und gibt ein Werkzeug oder einen Weg an die Hand, um auf eine bestimmte Art und Weise die unterschiedlichen Teile oder Glieder der universellen Methodus zu behandeln und zu entfalten. Sie wird die dialektische Methodus genannt.“) De Methodis, Liber Primus, B5r. (Aus der ersten Ausgabe, Wittenberg 1555 zitiert, digital zugänglich in der Post-Reformation Digital Library.) (http://www.prdl. org)
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nicht so oft bei Melanchthon benutzt, kommt aber in prägnanten Zusammenhängen schon vor (vgl. Berman: 2003, 114, 425; Frank: 2011, 67 – 88),und findet bei seinen Schülern zur Zeit Hemmingsens nicht nur im Rahmen der Theologie große Verbreitung, sondern auch in den Naturwissenschaften, in der Medizin (auch unter Einfluss von Galens Schriften) und nicht zuletzt in der Jurisprudenz. So publizierte z. B. Melanchthons rechtsgelehrter Kollege an der Wittenberger Universität, Johann Apel, 1535 dort sein Werk: Methodica dialectices ratio ad jurisprudentiam adcommodata. Apel hatte Wittenberg 1530 verlassen, um Kanzler in Königsberg zu werden, aber sein Werk Methodica war vor allem während seiner Wittenberger Vorlesungstätigkeit in den 1520er Jahren zu Stande gekommen, wo eben auch seine enge Kontakte zu Melanchthon von großer Bedeutung für sein Denken gewesen sind. Nach dem Urteil des amerikanischen Rechtshistorikers Harold Berman haben Apels Methodica und sein später herausgegebenes und mehr pädagogisch ausgerichtetes Werk Isagoge einen großen Einfluss gehabt: „These two books may be said to have founded modern German legal science.“ (vgl Berman: 2003, 114 + 425) Berman legt dabei entscheidendes Gewicht darauf, dass Apel und auch sein jüngerer Wittenberger Kollege Konrad Lagus das methodologische Erbe von Melanchthon weiterführen. Insgesamt geht es Berman darum, an Hand des Beispiels der Jurisprudenz nachzuweisen, wie Melanchthon in einer grundsätzlichen Weise zur Erneuerung der wissenschaftlichen Methodologie beigetragen hat. Dies erfolgte nach Berman vor allem dadurch, dass die Loci-Methode, die unter Humanisten auch vor Melanchthon üblich war, bei ihm nicht nur dazu benutzt wurde, das vorliegende Wissen an Hand von grundlegenden Begriffen zu ordnen und systematisieren. Die Methode diente auch der Beweisführung (iudicium) und der Wahrheitsfindung (inventio), und war also im Rahmen der Dialektik ein Mittel für beide. Gerade hier ist nach Berman die wichtigste Erneuerung in Melanchthons Wissenschaftstheorie zu sehen: Während bei früheren Humanisten die Methode nur der Wahrheitsfindung diente, sieht Berman – anders als Walter J. Ong12 – den Übergang zu einer Verwendung der Methode auch im Dienste der Beweisführung nicht erst bei Ramus (in einem calvinistischen Kontext), sondern schon bei Melanchthon. It was, in fact, Melanchthon, not Ramus, who first showed how „the most correct order of explanation“ could be at the same time a method of determining the validity or invalidity of propositions and arguments. He did this by drawing on the general part of method, the loci communes, to take specific items of knowledge out of their particular branches and to define their essential nature. For Melanchthon, the loci communes 12 Berman nimmt in einer umfassenden Anmerkung Stellung zu Ong, der viel über Petrus Ramus geschrieben hat. Berman: 2003, 423 – 424, Anmerkung 38.
Rationalität und Bibelauslegung in Niels Hemmingsens De Methodis (1555)
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(genus and species, causes and the like) were basic axioms applicable not only to language and philosophy, but also to theology and law. By combining them with praecipui loci of specific branches of knowledge, and thus to ask, in theology, such questions as What is the genus of „Sin“? What are its species? What are their causes?… was not only to facilitate explication, but also to arrive at truth (Berman: 2003, 112).
3.
De Methodis: Aufbau und Hauptthemen
De Methodis kann als ein interessantes Beispiel für das theologische Ringen mit dem Problem der Rationalität in der frühen reformatorischen Theologie gelesen werden. Die Frage, die anfangs gestellt wird, ist die Folgende: Wie entwickeln sich die Grundregeln für das höhere Studium der Theologie aus den allgemeineren Grundregeln der niedrigeren Studien der artes liberales, und vor allem der Dialektik? Der Verfasser legt also – ganz im Sinne des Denkens Melanchthons – grundlegendes Gewicht auf den engen Zusammenhang zwischen den dialektischen Prinzipien und ihrer Anwendung in den einzelnen Wissensgebieten. Die Theologie ergibt sich somit im zweiten Buch gar nicht als etwas ganz anderes oder neues. Sie geht methodisch aus der Dialektik logisch und rationell hervor. Der argumentative Zusammenhang zwischen den zwei Büchern wird dadurch ganz besonders hervorgehoben, weil die Hauptkategorien für die theologische Methode explizit schon im ersten Buch im Rahmen der allgemeinen Dialektik vorgegeben sind. Nach einer umfassenden Vorrede an den Dänisch-Norwegischen Reformationskönig, Christian III., erklärt Hemmingsen in seiner Praefatio zum ersten Buch ausdrücklich was er unter dem Wort Methodus versteht: Quid est methodus? Methodus, est uia docendi certa cum ratione, hoc est, Methodus est ratio docendi (Hemmingsen: 1555, A 4v). Das Wort wird also eng mit der ratio verknüpft, sie ist die Art und Weise, etwas nach der ratio zu lehren oder darzustellen. Wie im juristischen Hauptwerk des Melanchthon-Schülers Apel spielt also auch im großen Erstwerk des Melanchthon-Schülers Hemmingsen dieser Begriff eine ganz zentrale Rolle. Die Unterscheidung von Hemmingsens Werk in zwei Bücher entspricht der Unterscheidung des Begriffs methodus in eine universalis und eine particularis methodus. Die universalis methodus beschreibt Hemmingsen im ausdrücklichen Anschluss an Galen als eine dreiteilige: sie umfasst synthesis, analysis und diairesis. Dazu kommt auch – über Galen hinaus – apodeiksis. Die particularis methodus ist nach Hemmingsen als ministra universalis Methodi anzusehen und wird auch organon seu via monstrans certam rationem tractandi & explicandi partes seu membra universali Methodi genannt. Dabei besteht eine genaue Entsprechung zwischen der universellen und der partikularen Methode, indem
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auch der dialektische Teil der letzteren in den drei galenischen Unterkategorien differenziert wird: synthesis, analysis und diairesis. Zu dem dialektischen Teil dieser spezifischen Methode kommt schließlich der sogenannte compositam Methodum, als der andere Teil der spezifischen Methode (Hemmingsen: 1555, B 5r). Statt diesen allgemeinen philosophischen Voraussetzungen von Hemmingsens Methodologie näher nachzugehen, werde ich mich im Weiteren vor allem dem zweiten Teil des Werkes widmen, in dem das spezifische Gebiet der Theologie auf Grund der allgemeinen methodischen Prinzipien der topos-Lehre behandelt wird. Hier ist wahrscheinlich auch der originellste Beitrag des Werkes zu finden. Hemmingsen bietet hier nämlich, wie schon erwähnt, nicht eine systematische Theologie im Rahmen der topischen Methode im Sinne von Melanchthons Loci theologici, sondern eine Theorie der Schriftauslegung und der Predigt. Dies sind die ersten spezifisch theologischen Gebiete, die er auf der Basis der allgemeinen dialektischen Methode behandeln will, das erste theologische Gebiet, wo er seine methodischen Grundregeln anwenden will. Es ist an sich nicht überraschend, dass die Schriftauslegung als erstes spezifisch theologisches Gebiet für die Anwendung der allgemeinen philosophischen und rationell methodischen Prinzipien gewählt wird. Die Schriftauslegung steht ganz im Zentrum der lutherischen und protestantischen Theologie, ist so zu sagen ihr wissenschaftliches proprium. Dies hatten die lutherischen Theologen von Luther selbst gelernt. Luthers Schriftauslegung erfolgte nach hermeneutischen Grundregeln, aber er versuchte nie, diese Grundregeln an Hand der fundamentalen klassischen Prinzipien der Rationalität systematisch darzustellen. Melanchthon hat zwar eine systematische Darstellung der Theologie in diesem Sinne geschrieben, ohne diesen Ansatz jedoch für die Prinzipien der Schriftauslegung weiterzuentwickeln. Das könnte auch damit zu tun haben, dass Schriftauslegung nicht die Hauptaufgabe seiner Lehrtätigkeit war. Das war bei Hemmingsen in seinem neuen Amt aber schon anders. Es war seine Hauptaufgabe in Kopenhagen, Vorlesungen über die Bibel zu halten, nachdem er jahrelang Dialektik unterrichtet hatte. Sein Vorhaben in De Methodis ist somit durchaus verständlich. Aus einer allgemeinen theologiegeschichtlichen Perspektive könnte man sagen, dass Melanchthons Loci in gewisser Weise ein lutherischer Ersatz der Sentenzen von Petrus Lombardus sind (vgl. Kolb: 1997, 317 – 337). Man hat mit einem neuen dogmatischen Grundriss zu tun, in dem die reformatorischen Prinzipien der Konzentration auf das Wesentliche (und der Unterlassung alles Unnötigen) zur Geltung gebracht werden. Melanchthons Loci haben insofern auch Schule gemacht bei den Lutheranern, wenn auch nicht in demselben Sinn wie die Sentenzen im Spätmittelalter.
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Einen entsprechenden Ersatz von Nicolai von Lyras Postilla findet man im reformatorischen Lager nicht. In Lyras Postilla werden die Autoritäten zitiert und balanciert mit Hinblick auf eine abgewogene und maßgebliche Auslegung der Schrift im Kontext der früheren Auslegungen der Väter. Im Luthertum führt das Prinzip sola scriptura dazu, dass Luthers eigene Bibelauslegung schnell einen autoritativen Status bekommt. Die Väter, so wie sie durch Lyra zur Sprache kamen, werden durch Luthers Postillen und andere Lutherauslegungen ersetzt (vgl. Rasmussen: 2010, 143 – 158). Aber es wird keine neue maßgebliche Hermeneutik geschrieben. Die grundlegenden Prinzipien der Bibelauslegung muss man aus der Praxis lernen, mit Luthers Texten als Vorbild. Genau hier macht Hemmingsen den kühnen Versuch, in diesem Kerngebiet der lutherischen Theologie eine Methodenlehre zu schreiben. Der Versuch wird ganz im Sinn der melanchthonischen Methodenprinzipien unternommen, und das Vorhaben ist auch ganz logisch und verständlich: Warum sollte so ein Handbuch der methodisch-dialektischen Prinzipien für die Bibelauslegung nicht geschrieben werden können, wenn man gerade in Wittenberg in derselben Melanchthon-Schule ähnliches im Blick auf die Jurisprudenz gemacht hat? Es geht ja in beiden Fällen um Grundregeln für den Umgang mit autoritativen Texten vergleichbarer Art. Und die Bemühungen in diese Richtung sind innerhalb der Jurisprudenz erfolgreich. Ungefähr so könnte man sich Hemmingsens Überlegungen vorstellen, als er als neu ernannter Professor für Theologie/Schriftauslegung in Kopenhagen angefangen hat. De Methodis wurde nie in der Weise ein Erfolgsbuch, dass es mit Melanchthons Loci verglichen werden könnte. Nicht einmal im nordischen gebiet wurde das Buch ein Bestseller. Auch hier war Hemmingsens Enchiridion (nach Melanchthons Loci) viel mehr gelesen und häufiger gedruckt. Trotzdem ist Hemmingses Versuch einer Methodenlehre der Bibelauslegung ein interessanter Testfall für die allgemeine Fragestellung Reformation und Rationalität. Die Frage ist nun: Wie kann er seine allgemeine und von Melanchthon beeinflusste Methodologie im Bereich der Hermeneutik und Exegese zur Geltung bringen? Die theologische Methode, die er im zweiten Buch von De Methodis beschreiben will, umfasst zwei unterschiedliche Bereiche. Zum einen ratio interpretandi scripturam und zum anderen ratio formandi sacras conciones.13 Im Folgenden konzentriere ich mich auf die ratio interpretandi scripturam.
13 Hemmingsen: 1555, Praefatio in Librum Secundum, I 3r : Quapropter constitui Methodum Theologicam conscribere, in qua rationem & interpretandi scripturam, & formandi sacras conciones complectar, quorum prius faciet, ut facilius alios interpretes intelligamus , & ipsi interpretandi formas teneamus quas sequi utile erit. (Deutsch: „Deshalb habe ich mir vorgenommen, eine theologische Methodus darzustellen, die sowohl die Grundsätze der Schriftauslegung wie auch die Grundsätze der Predigt umfasst. Die Erstere verhilft uns dazu,
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Eine Voraussetzung von Hemmingsens Vorhaben hier ist die Überzeugung, dass die Schrift von einer grundlegenden und von Gott gewollten Ordnung geprägt ist. Gegen diejenigen, die glauben, dass in der Schrift citra humanem rationem, & ordinem in eo omnia misceantur stellt er fest: Cum tamen in omnibus rebus a Deo conditis admirabilem quandam oeconomiam & ordinem conspiciant.14 Diese Voraussetzung führt zu der Überzeugung, dass es sich lohne, die Bibel an Hand von genauer methodischer Überlegung statt zufällig zu lesen: Quare ut in omnibus rebus a Deo conditis ordinem videmus pulcherrimum, ita etiam in sacra Theologia eundem esse nequaquam dubitandum est, quem qui observat, multo celerius ad frugem perveniet, quam qui confuse omnia miscet & confundit. Porro haec ordinis observandi ratio, aptissima Metaphora Methodus dicitur. Quemadmodum enim qui viam certissimam sequitur, facilius pervenit quod vult, quam is qui per aquas, montes, saltus, praecipitia, magno ac difficili labore eodem contendit. Sic veluti in reliquis scientiis, ita & in Theologia citius peritiam consequetur qui Methodum tenet, quam qui magno labore citra ordinis rationem in lectione Bibliorum defatigatur.15 Die Bibel ist also von oeconomiam & ordinem durchdrungen, und die Methode verhilft nicht nur dazu, die Texte der Bibel zu ordnen und überschauen, sie verhilft auch dazu, ans Ziel zu kommen und die Frucht genießen zu können (ad frugem perveniet). Also nicht nur inventio, sondern auch iudicium, wie es Berman in seiner Analyse von Melanchthons methodologischer Bedeutung hervorgehoben hat. Nach der Einleitung diskutiert Hemmingsen zuerst die Einteilung der Schrift. Die erste Einteilung in Altes und Neues Testament wird nicht in Frage gestellt. Dabei wird aber innerhalb des Kanons zwischen Schriften unterschiedlicher Autorität unterschieden. Entscheidend für den autoritativen Status einer Schrift ist der Verfasser : Soli enim illi libri indubitatae sunt autoritatis, qui Mosi, Proandere Schriftausleger um so besser zu verstehen. Außerdem stehen uns dadurch Vorgehensweisen der Auslegung zur Verfügung, die nützlich anzuwenden sind.“) 14 Deutsch: „Denn in allen von Gott geschaffenen Dingen sehen sie eine erstaunliche Einteilung und Ordnung.“ 15 Deutsch: „So wie in allen von Gott geschaffenen Dingen eine sehr schöne Ordnung vorhanden ist, gibt es ohne jeden Zweifel auch in der heiligen Theologie eine entsprechende Ordnung. Und wer diese Ordnung wahrnimmt, kommt viel schneller zu den Früchten als derjenige, der planlos alles Mögliche vermischt und in Unordnung bringt. Sodann kann man die Vorgehensweise, die diese Ordnung berücksichtigt, mit einer sehr passenden Metapher Metodus nennen. Mit deren Hilfe kommt nämlich einer, der dem sicheren Weg folgt, leichter dorthin wo er will, als derjenige, der sich durch Wasser, über Gebirge und durch Schluchten und Abgründe mit großer und schwerer Mühe dorthin begibt. Demnach ist es in der Theologie wie in den anderen Wissenschaften auch: man kommt schneller zu Kenntnis wenn man der Methodus folgt, als wenn man mit großer Mühe ohne eine geordnete Vorgehensweise beim Studium der Schrift erschöpft wird.“ (Hemmingsen: 1555, I 2v–I 3r)
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phetis, Euangelistis, Apostolis vere tribuuntur.16 Im Kapitel Secunda divisio bietet er aber eine sehr kritische Diskussion der scholastischen Einteilung der Bibel in vier Schrifttypen: Gesetzesbücher, historische Bücher, Weisheitsbücher und prophetische Bücher. Diese Einteilung wird als absurd abgewiesen, und als Beispiel der unnützen scholastischen distinctiones charakterisiert. In der Tertia divisio wird sie durch eine Zweiteilung ersetzt: Die biblischen Bücher sollten in historiam und doctrinam eingeteilt werden: Universa Scriptura, si res subiectas consideres, commodissime dividitur in historiam & doctrinam, quae diligens lector studiose quaeret in sacrorum librorum lectione.17 Die historische Seite dieser Unterscheidung führt in Hemmingsens Diskurs sofort dazu, im Anschluss an Luthers Supputatio annorum mundi den genauen Zeitraum der Geschichte des Alten Testaments zu berechnen (vgl. Luther : 1541/ 45). Er kommt hier auf 3944 Jahre. Der Verlauf der Geschichte des Neuen Testaments ist viel einfacher zu überschauen, und wird nur ganz kurz erwähnt. Die doctrina lässt sich nicht in einer ähnlich übersichtlichen Weise wie die historia darstellen. Die doctrina ist nämlich überall in den Büchern des Alten und Neuen Testaments verbreitet und kann wiederum in zwei Kategorien verteilt werden: 1. Rerum doctrina (lex et evangelium) und 2. Signorum Doctrina (seremonias et sacramenta). Hemmingsens Interesse gilt vor allem der ersteren Kategorie. Er muss aber gestehen, dass die Anwendung die Distinktion zwischen historia und doctrina nicht einfach ist, weil die historia offensichtlich oft viel mehr als nur eine Chronologie ist: Verum usus huius distinctionis non est simplex. Historia enim sacra, speculum vitae Christianea esse debet. Nam continet plurima vere pietatis, confessionis, fidei, tolerantiae, vocationis etc exempla, recenset premia & poenas obedientiæ & inobedientiæ erga Deum, plurima testimonia de Deo continet.18 Die Quarta divisio wird nur kurz erwähnt. Sie hat mit unterschiedlichen Funktionen des Wortes Gottes zu tun: als Ermahnung, als Drohung, als Trost, als Unterricht und als Aufforderung zum Handeln: … nam cognitionem sequi oportet obedientiam cordis & vitæ innocentiam… – Nach dieser Übersicht der 16 Deutsch: „Nur diejenigen Bücher, die Mose, den Propheten, den Evangelisten oder den Aposteln deutlich zugerechnet werden können, haben eine unzweifelhafte Autorität.“ (Hemmingsen: 1555, I 5r) 17 Deutsch: „Es ist sehr angemessen, die ganze Schrift im Hinblick auf ihren Gegenstand in historia und doctrina aufzuteilen. Und der aufmerksame Leser wird während des Studiums der heiligen Bücher fleißig nach den beiden suchen.“ (Hemmingsen: 1555, I 5v) 18 Deutsch: „Aber die Anwendung dieser Unterscheidung ist nicht einfach. Die heilige historia sollte dabei ein Spiegel des christlichen Lebens sein. Sie umfasst nämlich viele Beispiele der Frömmigkeit, des Bekenntnisses, des Glaubens, der Geduld, der Berufung etc., erzählt von Belohnungen und Strafen für Gehorsam und Ungehorsam gegenüber Gott, und enthält viele Zeugnisse von Gott.“ (Hemmingsen: 1555, Tertia divisio, gegen Ende)
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wichtigsten distinctiones, auf die man im Bibelstudium achten muss, folgt die Übersicht De formis enarrationis, die wieder in vier Kategorien unterschieden ist. Bevor er zur Benennung der wichtigsten Distinktionen für die Methodologie der Predigtlehre übergeht, gibt er auch eine einleitende Übersicht über die vier wichtigsten „Interpretandi genera“: 1. Grammaticum interpretandi genus, 2. Dialecticum interpretandi genus (in vier canones aufgeteilt; wobei es Hauptanliegen ist, einen ordo zu finden und darzustellen), 3. Oratorium interpretandi genus (wo rhetorische Fragen eine wichtige Rolle spielen) und 4. Mixtum interpretandi genus.19
4.
Hemmingsens methodologische Leistung
Diese kurzen Beispiele tragen dazu bei, zumindest einen kleinen Eindruck von Hemmingsens Arbeitsweise zu vermitteln. Und das interessante ist, dass er hier nicht nur eine in der Melanchthon-Schule verwurzelte sehr ausführliche Methodologie für die Schriftauslegung (und für die Predigt) anbietet. Er bemüht sich in den folgenden Jahren intensiv darum, diese Methodologie auch in praktischer Schriftauslegung zu verwirklichen, durch eine Menge von Bibelkommentaren, und durch eine erhebliche Aktivität auch als Prediger. Die nähere Bewertung von Hemmingsens Werk in Bezug auf Rationalität und Schriftauslegung müsste sich mithin mit einem viel größeren Bestand von Quellen beschäftigen. Wissenschaftshistorisch wäre es interessant, dem näher nachzugehen.20 19 (Hemmingsen: 1555, K 2r–K 4v). Sein Kommentar zur vierten Kategorie, dem Mixtum interpretandi genus, ist dabei interessant: Mixtum interpretandi genus est cum interpres vel superiora omnia miscet, vel quaedam ex ipsis coniungit, quod non pauci nostro seculo magno cum fructu faciunt, in quorum numero facile princeps est Philippus Melanthon, hunc sequuntur praeclarissimi viri Bucerus, Calvinus, Brentius & alii multi. (Deutsch: „Die gemischte Art der Auslegung ist, wenn ein Ausleger entweder alle oben genannte Methoden mischt und zusammen benutzt, oder einige von ihnen verbindet. Das machen in unserer Zeit nicht wenige, und mit großem Gewinn. Unter diesen ist der zweifellos hervorragendste Philipp Melanchthon, und nach ihm seine glänzenden Nachfolger, wie Buzer, Calvin, Brentz und viele andere.“) (K 4r-v). 20 Dies gilt nicht nur in Bezug auf Hemmingsen-Texte verschiedener Gattungen, sondern auch in Bezug auf andere Quellen. Kenneth Hagen (Hagen: 1990) plädiert für den Gesichtspunkt, dass Hemmingsen in in De Methodis besonders im Blick auf die Methodologie der Schriftauslegung eine innovative Leistung gebracht hat. Diese Leistung müsste aber mit weiteren Werken des 16. Jahrhundert verglichen werden, um theologiegeschichtlich richtig eingeordnet zu werden. In Frage käme hier z. B. auch Johannes Wigand und Mattheus Judex: Syntagma, seu Corpus doctrinae Christi, ex novo testamento tantum, Methodica ratione singulari fide & diligentia congestum, Basel 1558; danach auch in mehreren Ausgaben. Robert Kolb analysiert dieses Werk in seinem Aufsatz „The First Protestant „Biblical Theology“. The Syntagma of Johannes Wigand and Mattheus Judex“, in: Thorbjörn Jo-
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Hier muss es reichen festzustellen, dass Hemmingsens kühnes Unternehmen im engeren Kontext seines Kopenhagener Lehrauftrags schon verständlich war. Er möchte die Rationalität der Loci-Methode, unter Einfluss von Melanchthon und den juristischen Weiterführungen seiner Methodologie im Hinblick auf die Gesetzestexte, für die Theologie im Hinblick auf die Bibeltexte weiterentwickeln. Die Juristen in Wittenberg waren hier vorangegangen, die Theologen sollten nachfolgen. Die Bibelauslegung, die dabei herauskommt, erfolgt schon im Sinne der reformatorischen Theologie. Schrift und Vernunft kommen hier zusammen. Aber das rationell-methodologische Rahmenwerk hat, im Vergleich zu Luther, zugenommen. Luther und seine Nachfolger hatten im theologisch-wissenschaftlichen Umgang mit der Bibel Lyra und seine Postille hinter sich gelassen, und wollten eine neue Tradition von Schriftauslegung anfangen, in der die Bibelkommentare der Väter als Kontext oft weiterhin eine große Rolle spielten. Das ist bei Hemmingsen nicht mehr der Fall. Er rät in De Methodis ausdrücklich davon ab, ältere Bibelkommentare bei der Auslegung der Schrift heranzuziehen.21 Die Ratio und der Text haben Priorität als Bausteine der Theologie. Diese Grundprinzipien möchte er im zweiten Buch von De Methodis zur Geltung bringen, und dabei zugleich die lutherische Bibelauslegung ein Stück weiter in eine rationell-wissenschaftliche Richtung verhelfen.
hansson, Robert Kolb, Johann Anselm Steiger (Hrsg.): Hermeneutica Sacra. Studien zur Auslegung der Heiligen Schrift im 16. Und 17. Jahrhundert (= Historia Hermeneutica. Series Studia. Hrsg.: Lutz Danneberg, Vol. 9), Berlin 2010, S. 189 – 206. Auch in dem Werk von Wigand und Judex geht es darum, im Rahmen der Loci-Tradition Melanchthons eine rationelle Methode für die Interpretation der Bibel zu beschreiben. Anders als Hemmingsen in De Methodis bemühen sich die beiden aber darum, eine systematische biblische Theologie im Sinne einer Erweiterung der vorwiegend paulinischen topoi von Melanchthons Loci aufzubauen. Die Rationalität, die dabei für die Wissenschaft der Bibelauslegung zur Geltung gebracht wird, entspricht eher der systematischen Rationalität der Sentenzen von Petrus Lombardus, die auch die späteren Ausgaben von Melanchthons Loci in einem höherem Maß prägt (vgl. Kolb S. 201). Die Rationalität, die Hemmingsen in seinem 3 Jahre früher herausgegebenen Werk zur Geltung zu bringen versucht, ist im Vergleich dazu eine ganz andere, viel deutlicher auf den direkten und detaillierten Umgang mit den biblischen Text ausgerichtet. 21 Vgl. die allgemeinen Warnungen gegen Kommentare in Hemmingsen: 1555, K 4v. Im Abschnitt Commentariorum usus heisst es: Multi abutuntur commentariis, dum perpetuo in illis desudant, parum aut nihil textum Biblicum morantes… (Deutsch: „Die Kommentare werden von vielen missbraucht, indem man sich dauerhaft mit ihnen anstrengt, aber nur wenig oder überhaupt nicht beim biblischen Text verweilt.“) Diese Haltung wird in Hemmingsens eigenen Bibelauslegungen durch einen sehr vorsichtigen Umgang mit altkirchlichen und mittelalterlichen Bibelkommentaren bestätigt.
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Andrs Szabû
Rationalität und Wissenschaft der Renaissance bei den ungarischen Reformierten Theologen um 1600
1.
Einführung
Die reformierten Theologen des 16. Jahrhunderts sind bereits europaweit für ihre theologischen Werke lateinischer Sprache bekannt. Die Autoren der populärsten, immer wieder aufgelegten Kompendien heißen Istvn Szegedi Kis (1505 – 1572) (Szegedi: 1585) und Izsk Fegyverneki L. (†1589) (Fegyverneki: 1586). Die jüngere Generation um 1600 schrieb eher Ungarisch, diese aber hinterließ schon sporadisch persönliche Aufzeichnungen, Ego-Dokumente (Schulze: 1996), Tagebücher und Autobiografien, welche es uns ermöglichen, ihre Mentalität deutlicher zu erfassen. Wie unterscheidet sich ihre Mentalität als Privatpersonen von den als reformierte Geistliche vertretenen Ansichten? Wie verhalten sich die damals übliche Denkweise der Renaissancezeit, in der sich die Wissenschaft im heutigen Sinne mit sog. Pseudowissenschaft mischten, und die rationalistische Orientierung helvetischer Theologie (in der reformierten Kirche) zueinander? Zwar bin ich mir im Klaren, dass Rationalismus zur philosophischen Terminologie gehört, und er in diesem Kontext, beziehungsweise seine Anwendung für diese Zeit gewissermaßen als Anachronismus gilt, trotzdem halte ich diese Bezeichnung für jene Bestrebung einzelner Theologen der Reformation in der Schweiz, welche im Zeichen der Vernunft und des christlichen Dogmas schon sehr früh gegen die hermetische (oder Renaissance-)Denkweise eintrat, für passend. Die Fragen sind angebracht, zumal die besprochenen ungarischen Theologen Absolventen der Universität Heidelberg waren. Beispielsweise war es der Hofprediger in Heidelberg, Abraham Scultetus, der sich 1608 bereits in zwei gedruckten Predigten gegen die Zauberer, Wahrsager und Sterndeuter wandte, und er führte – dem zur Mitte des 17. Jahrhunderts erreichten Entwicklungsstand der Wissenschaft weit voraus – eine scharfe Trennung zwischen der als lobenswert angesehenen Astronomie und der als verlogen geltenden Astrologie ein (Scultetus: 1608).
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2.
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Albert Molnár
Die Person, die ich im Folgenden in den Mittelpunkt stelle, heißt Albert Molnr (von Szenc) (1574 – 1634) (Szabû: 2001). Dieser lebte dreißig Jahre lang im Deutschen Reich, und von 1574 bis 1617 schrieb er sein Tagebuch über die wichtigsten Ereignisse seines Lebens. Die autographische Handschrift seines Tagebuches liegt heute mit einer Zitatensammlung in der Teleki Bibliothek in Marosvsrhely (Neumarkt am Mieresch, Tirgu Mures¸, Rumänien).1 Seiner Denkart eignen die Spezifika seiner Zeit, folglich darf man bei ihrer Besprechung nicht anachronistisch von unserem heutigen Selbstverständnis ausgehen. Ohne Zweifel besteht bei ihm (wie wohl bei den meisten Zeitgenossen desselben Berufs) eine unikale Dualität: In den im Druck erschienen, der breiten Öffentlichkeit bestimmten Werken, vertritt er nämlich den offiziellen Standpunkt seiner Kirche mit deren rationalistischen Denkweise. Ebenso gibt es zwar im der an das Tagebuch eng anknüpfenden Zitatensammlung Loci communes ein Kapitel Somnia et eorum interpretatio (Träume und ihre Deutung), aber in diesem werden hauptsächlich auf kausale Zusammenhänge zurückgeführte Meinungen angeführt, die jedwede hergebrachte Traumdeutung ablehnen.2 Von der anderen Seite betrachtet, kann man sehen, dass ein typisches Charaktermerkmal von Tagebüchern, die Aufzeichnung von Krankheiten und Träumen auch in dem von Molnr nicht fehlt. Diese Faktoren mögen ja unseren Alltag bedeutend beeinflussen, aber in eine retrospektive Autobiographie kommen diese Details erst mit Hilfe der Rohfassung eines Diariums. Wer kann sich ohne dieses an die Träume und Unpässlichkeiten vor Jahren erinnern? Molnr zeichnete erst in Straßburg einen drückenden Traum auf, in dem ihm zwei Zähne herausfielen, wobei er sich zu Hause aufhielt, und er, seinen Vater schützend, jemanden tötete. Ebenda träumte er im nächsten Jahr, dass ihm ein Zahn in zwei Teile zerfiel, und sein Vater mit einem katholischen Priester rang. Im italienischen Recanati zerstachen ihm Bienen das Gesicht, und in Heidelberg bedeckte ein hässlicher Warzen-Ausschlag seinen Körper, von dem er sich erst sehr mühsam erholte, und nachdem die aufgetragenen Heilsalben nichts geholfen hatten, wurde er mit Aderlass und Purgiermittel kuriert. Im Weiteren findet sich ein Nervenzusammenbruch in Heidelberg mit Symptomen wie Verfolgungswahn und Visionen und dessen entsetzliche Therapie: Die Fesselung. Dann in Frankfurt am Main versetzte ihm ein Pferd einen Fußtritt, in Marburg träumte er davon, dass er nach Gyo˝ r (Raab, Ungarn) umziehen müsse, 1 Tagebücher von Albert Molnr und Ferenc Ppai Priz, Trgu Mures¸ (Neumarkt, Marosvsrhely): Teleki Bibliothek, ToB3619b. Im Weiteren: Tagebuch. – Kritische Edition des Tagebuches: Szabû, Andrs, 2003. 2 Tagebuch f. 116v–117r.
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und im Anschluss daran fuhr er nach Hause. In Komrom (Komorn, Komarno) bekam er Fieber, und konnte nicht predigen; eigentümlicherweise ging es ihm besser, als er einen Ausflug nach Êrsekffljvr (Neuhäusel, Nov¦ Zmky – heute Slowakei) machte. Er wurde schließlich gesund, als er auf sein Priesteramt verzichtete (Szabû: 2003, 56, 62, 66, 69, 77, 85, 91 – 92).3 Die Träume waren offensichtlich bedeutend für ihn, und sie beeinflussten auch seine Entscheidungen.4 Den ungarischen Forschern wurde früh deutlich, dass manche Bilder unter den Kindheitserinnerungen in gewisser Weise auf eine imitatio Christi anspielen: Der Vater, der Müller ist, und der sogar eine Mühle zu bauen vermag (beinahe Zimmermann!) (Takts: 1915.), die allererste Erinnerung (kein Stern, sondern ein Komet aus dem Jahr 1577), der Nervenzusammenbruch in Heidelberg (als Anfechtung durch den Teufel). Hierher gehören der Blitzschlag in Straßburg und die Beschreibung des Donners nach der gescheiterten Brautwerbung in Heidelberg; das sind jene beiden Textstellen, wobei die Fakten von der Absicht, den Text möglichst professionell zu gestalten, konditioniert werden (Szentp¦teri: 1999, 143 – 144).5 Z.B. erwähnt so gut wie keine Quelle , dass der Kugelblitz 1596 während einer Predigt, die über die Calvinisten schimpfte, in das Straßburger Münster eigeschlagen ist (wie im Tagebuch beschrieben), und die Wahrscheinlichkeit, dass Molnr (um den Erfolg der Brautwerbung besorgt) jene Passage im Psalm 29 „Die Stimme des Herrn geht mit Macht“ las, als es gedonnert hat, scheint auch gering zu sein. Es ist evident, dass Albert Molnrs Denkungsart in vieler Hinsicht in der Mentalität der Renaissance verankert ist. Szentp¦teri schreibt mit Hinweis auf den Straßburger Blitz und den Donner von Heidelberg: „Szenci lebt zu einer Zeitwende zwischen wissenschaftlicher Revolution der frühen Neuzeit und einem der bedeutendsten semiotischen Umbrüche der europäischen Kulturgeschichte. Das ist der Punkt, als das Paradigma der hermetischen Zeichenfunktion mit dem der neuen, repräsentativen Bezeichnung noch wetteiferte. Ersteres baut auf die Ähnlichkeit, die natürliche und organische Verbindung zwischen Bezeichnenden und Bezeichneten, während Letzteres auf die arbiträre Konvention der Bezeichnung zielt. Im ersteren sind die Sym- und Antipathien zwischen Zeichen, Bezeichnendem und Bezeichnetem […] Diese Verhältnisse gestalten eine organische Welt, es kann alles mit allem zusammenhängen (nach den Regeln der hermetischen Zeichenfunktion: in einer anscheinend unendlichen Semiose lässt sich jedes Zeichen auf das Absolute zurückführen). Im 3 (2. November 1593, 18. August 1594, 29. September 1596, vom Anfang August bis 14. Oktober 1598, 17 – 28. Juni 1599, 15. März 1602, 24. Juli 1612, vom 13. August bis 7. Oktober 1614). 4 Siehe dazu: Gantet, 2010. 5 Es betrifft folgende Passagen: Szabû, Andrs, 2003. 53, 57 – 58, 69 (1574, 1577, 13. Juli 1596, 14. Juni 1599).
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Letzteren sind die Kontakte repräsentativ, die Welt kann eigentlich nach mechanischen Regeln modelliert werden. In der organischen Welt gibt es sinngemäß keine Unendlichkeiten, die Koinzidenzen von Zeit und Raum sind immer als Revelation irgendwelcher mystischen (göttlichen) Wahrheit zu deuten. Bezüglich der untersuchten Details in Szencis Tagebuch ist es angebracht, die Charakteristika der hermetischen Semiose heranzuziehen. Laut Foucault lebt diese hermetische Sichtweise, nachdem sich das mechanische Paradigma durchsetzte, in der modernen Welt in der Dichtung weiter.“ (Szentp¦teri: 1999, 146 – 147).6 Ich stimme nach dem oben zitierten Foucault-Text eher für eine allgemeine Denkweise des 16. Jahrhunderts (Foucault: 1966, 32 – 45.), als für eine hermetische Zeichenfunktion. Im wesentlichen bin ich aber mit dem Gedankengang einverstanden. Diese Mentalität schließt auch Elemente ein, die im europäischen Denken nach dem 17. Jahrhundert eindeutig als pseudowissenschaftlich galten. Das 17. Jahrhundert ist der Beginn des Paradigmenwechsels. Ein ansehnliches Beispiel hierfür liefert die 1655 in Utrecht erschienene, ungarische Enzyklopädie des reformierten Lehrers aus Siebenbürgen, Jnos Apcai Csere. Mal übersetzt er Descartes, mal Texte nach Johann Heinrich Alsted, Molnrs Freund über Einhorn und die Krokodilstränen (Bn: 1958, 181 – 192, 253 – 260). Es kann allerdings bereits festgestellt werden, dass sich in Molnrs Tagebuch auch noch weitere Passagen finden, welche auf diese Denkart hinweisen. Am 11. April 1605 begegnete Albert Molnr im Gasthof zum Bären in Augsburg einem tauben Physiognomen, der ihm wahrsagte, in zwei Jahren einen Fürsten oder tapferen Helden zuzusprechen. Der Verfasser schreibt nicht extra über die Erfüllung, aber laut der Aufzeichnungen überreicht er am 31. Mai 1607, also zwei Jahre später, Moritz, Landgraf von Hessen, der ihn nach dem Mittagessen empfangen hatte, das zum Teil ihm gewidmete Psalmenbuch. Der nachträgliche Eintrag von einer unbekannten Hand verdeutlicht den Zusammenhang, der im autografischen Text verborgen bleibt (Szabû: 2003, 80, 81, 150, 152). Es wäre verfehlt, diesen in allem Ernst aufgezeichneten Fall anachronistisch als Aberglauben zu beurteilen, und dies gilt auch für den späteren Eintrag vom Anfang 1617. Am ersten Januar, im ersten empfangenen Brief des neuen Jahres bittet ihn sein Freund, Istvn Varsnyi, um ein Trauergedicht zum Tode seines Vaters; und daraufhin begann er zu fürchten, dass es etwas Schlimmes bedeute. Auch da sagt er nicht, dass das üble Vorzeichen später in Erfüllung ging, aber kurz danach liest man, dass seine neugeborene Tochter am 10. März starb (Szabû: 2003, 102, 186 – 187.). Die Erklärung hat mit dem zu tun, was Foucault Signatur nennt
6 Der Verfasser hat in seiner später verteidigten PhD-Arbeit seinen Standpunkt in mancher Hinsicht modifiziert: Szentp¦teri, 2008.
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(1966, 42 – 43): Die zukünftigen Ereignisse haben Vorzeichen, welche ein guter Physiognome oder sogar eine erfahrene Person entschlüsseln kann. Ähnlich verhält es sich mit jenen Träumen, die zuerst erwähnt wurden. Offensichtlich ist er davon überzeugt, dass diese etwas bedeuten, deshalb werden sie aufgezeichnet. Als er zum Beispiel darüber grübelt, ob er mit seiner Familie zusammen heimkehren sollte, schreibt er am 24. Juli 1612 im lateinischen Text urplötzlich auf Ungarisch nieder : „es träumte mir, dass ich nach Gyo˝ r umsiedeln muss“ (Szabû: 2003, 85, 160). In Gyo˝ r (Raab) war die erste Schule außerhalb Szenc’, ein bedeutenden Schauplatz seiner Kindheit. Nach Gyo˝ r kehrte er zwar nie mehr zurück, aber am 15. August fährt er (indem er seinen neugeborenen Sohn zurückließ) nach Ungarn, um die Heimkehr vorzubereiten. Wiederum muss ich auf den bereits zitierten ungarischen Kollegen hinweisen, der auf ein Buchinventar mit dem Titel Autores insignes et libri praeclari in der Handschrift der Loci communes aufmerksam wurde (Szentp¦teri: 1999/2, 44).7 Da wird ein Buch über Traumdeutung von Synesios erwähnt. Der erste Übersetzer des platonischen Autors war Marsilio Ficino. Meine Lektüren in der von mir durchgesehenen Ausgabe belegen all das, was ich bisher behauptet habe. Laut Synesios haben die Fakten in den Träumen ihre Ebenbilder. Die der Vergangenheit erbleichen immer mehr, die der Gegenwart sind vital und glänzend, die der Zukunft hingegen unsicher und weniger differenziert. Bei einem wiederkehrenden Traum habe man zu beobachten, welches Ereignis ihm im realen Leben folgt, und dann könne man in gewisser Hinsicht die Zukunft voraussehen (Synesius: 1612). Mühsamer geht es mit jenen bereits erwähnten Träumen, die eine verborgenere Bedeutung tragen und welche selbst Albert Molnr nicht erklärt. Am 2. November 1593 träumte er, dass ihm zwei Zähne herausfielen, er war zu Hause und sehnte sich nach Straßburg, und indem er seinen Vater schützte, tötete er auch jemanden. Und am 18. August 1594 hatte er den Traum, dass ihm ein Zahn in zwei Teile zerfiel und sein Vater mit einem katholischen Priester rang (Szabû: 2003, 56, 110, 111). Zähne sind zum Beißen da, und die damit assoziierten Begebenheiten spielen darauf an, dass es hier um eine Art Aggression geht. Heutzutage gilt die Traumdeutung Carl Gustav Jungs als am ehesten akzeptabel. In diesem speziellen Fall hingegen sind sie wohl fehl am Platz. Die Traumbeschreibungen sind zu kurz, und das Wesen der Jung‘schen Methode ist es, dass es keine generell vorgegebenen Rezepte gibt (wie es sich die Traumbücher vorstellen), sondern die Persönlichkeit und die Kondition jedes Einzelmenschen determinieren den Sinn des jeweiligen Traumes.8 Der Traum ist nichts anderes als die Botschaft unseres Unterbewusstseins. Und es ist nun unmöglich, Albert 7 Tagebuch f. 485r. 8 S. n. Jung: 1958a.
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Molnr zur Therapie einzuweisen, damit wir heute eine Auslegung dieser seiner Träume erhalten. Jung wurde nicht von ungefähr erwähnt: Seine Erkenntnisse geben eine potenzielle (psychologische) Erklärung für die Mentalität der Renaissance. Ohne auf seine Lehren tiefer einzugehen, sagt er, dass die Denkart der Analogien, der Hermetik und der Alchemie ein Bild von unserem Unterbewusstsein abgeben. Das wird heute in der Regel im Namen der Kausalität und der Vernunft unterdrückt und abgelehnt (Jung: 1968). Als genuiner Wendepunkt gilt auch hier die Zeitperiode nach der Mitte des 17. Jahrhunderts, der spektakuläre Aufschwung der Philosophie und der Naturwissenschaften. Damit war sich die Forschung seit langem im Klaren, dass es in der unmittelbaren Umgebung von Molnr zahlreiche Personen gab, die sich ausgesprochen mit okkulten Wissenschaften beschäftigten (Szo˝ nyi: 1978; Vsrhelyi: 1985, 73 – 75). In Oppenheim arbeitete er mit Druckern und Buchverlegern zusammen, die selbst die Texte des berühmtesten Alchemisten der Zeit, Michael Maier, herausgaben (Szabû: 2003, 36 – 37). Ebenso kann der Pate seines Sohnes, der Alchemist Johann Hartmann als erster Professor für Chemie in Europa erwähnt werden, oder die ebenfalls in Marburg tätigen Rudolphus Goclenius der Jüngere und der Ältere (Szabû: 2003, 207 – 208). Die Janusköpfigkeit der Renaissance-Gelehrsamkeit war nicht nur in Prag, im Hofe der Kaisers Rudolf (wo er ebenfalls herumkam) präsent, sondern sie beherrschte auch die Umgebung seines Gönners, des Grafen Moritz von Hessen – dieser war von der Alchemie ebenso intensiv angetan (Moran: 1987; Burggrefe: 1997, 339 – 384). Dem entsprechend geriet der humanistische Gelehrte Albert Molnr mit dem reformierten Theologen in Widerspruch, so (wie schon darauf hingewiesen) äußert sich in den Druckwerken konsequent der Theologe und nicht der RenaissanceGelehrte. Eine interessante Analogie besteht hier zum Predigtbuch über den Propheten Daniel des reformierten Geistlichen im zeitgenössischen Ungarn, Jnos Kecskem¦ti Alexis (†1618/1619), der ein näherer Bekannter Molnrs war. Im erwähnten Werk lehnt der Verfasser Magie und Wahrsagerei ab, und bezüglich des Traumes von Nebukadnezar macht er einen Exkurs über die Spielarten der Träume und ihre Deutung. Verblüffend ist, dass die einschlägige Passage in einem Punkt wortgetreu mit der Textstelle über die Träume in den Loci communes übereinstimmt. Vermutlich hat Kecskem¦ti Alexis das Manuskript Molnrs herangezogen: Beide zitieren dasselbe Claudianus-Gedicht, und in der Folge erzählt der Verfasser des Predigtbuches auf Ungarisch (das in der Handschrift in Marosvsrhely lateinisch zu lesen ist)9, dass Träume Tageserlebnisse abbilden, und die diversen Persönlichkeitstypen auch unterschiedlich träumen. 9 Tagebuch 114v, 116v.
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Nach der Predigt gibt es Träume natürlicher Art, deren Deuter man nicht Glauben schenken darf, und es gibt von Gott gesandte Träume, die eine klare Erklärung haben, und es gibt Träume vom Teufel, in dem Zusammenhang auch an die Hexen erinnert wird (Kecskem¦ti Alexis: 1974, 137, 141 – 146).
3.
Péter Alvinci
Im auf Ungarisch erschienenen Band – und eben über den der Öffentlichkeit gedachten Standpunkt hinaus – mag eine weitere Person aus Molnrs nächstem Umkreis von Belang sein. Es geht um die historischen Aufzeichnungen eines anderen Studenten in Heidelberg, P¦ter Alvinci (1570 – 1634), deren autografische Handschrift sich in der Rday Bibliothek in Budapest befindet.10 Der Verfasser wurde als Hofgeistlicher von Istvn Bocskay zu einer bekannten Persönlichkeit und diente bis zu seinem Tod als Prediger in Kassa (Kaschau, Kosˇice – Slowakei). Neben den Predigten beteiligte er sich auch an der Abfasssung politischer Schriften, bzw. konzipierte er auch Disputationsliteratur gegen die Katholiken. In seinen Privaten Aufzeichnungen findet sich 1601 Folgendes: „Dieses Jahr waren mehrere Wunderzeichen zu sehen. So war in Hermannstadt (Szeben, Sibiu – Rumänien) dieses einzige Wort zu lesen“ (hier wird ein unentzifferbares Wort aus vier Buchstaben angegeben) (Benda: 1955, 10). Das ist eine zu jener Zeit übliche Verkündung von wunderlichen Zeichen; was aber daran befremdend wirken mag, dass es nämlich von Alvinci ernst genommen wird – er hält es für ein bedeutendes historisches Ereignis. Noch eigentümlicher klingen jene Nachrichten, die er in den Turbulenzen des Bocskay-Aufstandes niederschreibt. Im April 1605 beispielsweise Folgende: „Am 8. dieses Monats zeigte sich über Diûsgyo˝ r am Himmel etwas, einem brennenden Balken ähnlich, wie dieser sehr laut daherflog, und als er auseinanderfiel, ließ sich ein Knall wie Kanonendonner hören, welcher in einem Umkreis von fünf Meilen vernehmbar war.“ (Benda: 1955, 13) Und an anderer Stelle: „Den ersten Tag des Monats, nahe zu Kllû dröhnte ein Lärm und Kanonendonner vom Himmel, wie wenn zwei Regimente aufeinander losstürzten. Kurz darauf stieg Feuer nieder und es versengte einen Teil des Waldes neben Apagy. Als Istvn Bthory von Ecsed zur Besichtigung der Sensation hingehen wollte, haben die Teufel seinen Diener entrissen, die schleppten ihn hin und her, und dann ließen sie ihn unversehrt frei. Dieser hat dann viel Wundersames erzählt.“ (Benda: 1955, 14) Diese letzte Geschichte kennen wir auch aus den historischen Aufzeichnungen eines anderen reformierten Pfarrers, Mt¦ Lackû von Szepsi, der in Wittenberg studiert hat (G. Tûth: 2012, 134 – 135). 10 Rday Bibliothek, Budapest, Signatur : 0, 3810.
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Auch in diesem Fall gilt es auf Carl Gustav Jung hinzuweisen, der dem Problem zwei Bücher widmete; und wiederum fand er in der Psychologie des Unterbewussten, in dessen Symbolen die Erklärung (Jung: 1958b). P¦ter Alvinci scheint sogar archaischer gedacht zu haben als Albert Molnr. Denn auf seine historischen Aufzeichnungen folgt eine Arbeit, zum größten Teil mit seiner eigenen Handschrift. Diese ist ein lateinsprachiger Kommentar über einen wunderlichen und übernatürlichen Fisch, der in Schlesien gefangen wurde: lateinische Buchstaben, Sternzeichen, die Namen von sieben Planeten und die Ziffern des laufenden Jahres 1609 waren an ihm zu lesen.11 Die gelehrte Abhandlung führt zwar das Wunder auf Gott zurück, aber sie variiert mit der Methode der Magie, der Sterndeutung und der Alchemie, den am Fisch lesbaren Buchstaben (die ein Wort ohne Sinn ergeben: TILMIR). Es fand sich also auch ein reformierter Geistlicher aus Ungarn (sogar einer von Format!), welcher an der Universität des orthodoxen Calvinismus studierte und dessen Gelehrsamkeit alle Charakteristika der Spätrenaissance an sich trägt.
4.
Fazit
Was kann als Fazit der Untersuchung in Bezug auf Molnr festgehalten werden? Meines Erachtens vor allem das, dass er grundsätzlich mit einem gesunden Menschenverstand die Welt betrachtete, und damit zählte er zu denjenigen, die unter den Zeitgenossen den großen mentalen Paradigmenwechsel zur Mitte des 17. Jahrhunderts vorbereiteten. Selbst das nicht für das breite Lesepublikum bestimmte Tagebuch verweist nur sporadisch auf die hermetische Ideenwelt oder aber auf die unter dem Einfluss des Unterbewussten stehende Psyche. Es muss nun im vollen Bewusstsein von Obigem festgestellt werden, dass Molnr vor allem reformierter Theologe war. Seine literarischen Zielsetzungen waren auch von dieser Art: Übersetzung der Genfer Psalmen, Edition der Bibel, Gebetbuch, Predigten und die Übertragung von Calvins Institutio Christianae Religionis ins Ungarische. Das Gesamtbild des Tagebuches bestätigt dies. Aus diesem wird ersichtlich, dass die relevantesten Fanale seines Lebens nicht durch die sporadisch auftauchenden Wahrsagungen und Träume, sondern durch die Bibel, die Predigten und die gesungenen Psalmen beeinflusst worden sind. Im Deutschen Reich vor dem Dreißigjährigen Krieg kamen mehrere Tendenzen des Calvinismus zusammen. Albert Molnr hat keine Wahl getroffen: Er fühlte sich im orthodoxen Heidelberg, im ramistischen Herborn, in Marburg bzw. Kassel, wo die okkulten Wissenschaften gepflegt wurden, gleichfalls zu Hause. Sein Tagebuch ist zwar nicht frei von inneren Spannungen, aber diese hängen 11 Rday Bibliothek, Budapest, Signatur O, 3810. Nicht nummerierte Folien.
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zum größten Teil mit seiner Privatexistenz und nicht mit seiner Weltanschauung zusammen. Trotzdem dürfen wir nicht übereilt urteilen, dass er sich mit der Denkweise des europäischen Rationalismus zwischen Aufklärung und 20. Jahrhundert identifiziert hätte. Er gehört auch in der Forschung zu seinen Zeitgenossen, wie Abraham Scultetus, Jnos Kecskem¦ti Alexis, P¦ter Alvinci, Mt¦ Lackû von Szepsi und andere.
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András Szabó
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Andreas J. Beck
Rationalität und Scholastik in der reformierten Orthodoxie, insbesondere bei Keckermann, Voetius und Coccejus
1.
Einführung
Als Martin Luther in Wittenberg am 19. Oktober 1512 unter dem Vorsitz Andreas Bodensteins von Karlstadt zum Doktor der Theologie promoviert wurde, geschah dies ganz im Rahmen des damals üblichen scholastischen Wissenschaftsbetriebs. Am Vortag disputierten die Bakkalaurei und sodann der Promovend mit den Magistern während einer Vorfeier, die mehr als drei Stunden andauerte. Am 19. Oktober schließlich erhielt Luther die venia legendi und das Recht, Graduierungen vorzunehmen und Disputationen vorzusitzen (Brecht: 1983, I, 127). Zuvor durchlief er bekanntlich die übliche Karriere vom Magister artium (Erfurt 1505) über Baccalaureus biblicus (Wittenberg 1509) zum Baccalaurus sententiarius (Erfurt 1509) (Brecht: 1983, I, 96 – 103, 129). Anders als Karlstadt, der zehn Jahre später seinen Doktorgrad ablegte (und übrigens 1534 doch noch eine Professur in Basel annahm), behielt Luther seine Doktorwürde zeitlebens. Allerdings erging auch von Seiten Luthers schon bald eine „Kampfansage an die scholastische Theologe“, um eine Formulierung Martin Brechts zu verwenden (1983, I, 160). Am 4. September 1517 stellte Luther in seiner später als „Disputatio contra scholasticam theologiam“ bezeichneten Disputation dem verbreiteten Grundsatz „Ohne Aristoteles wird niemand ein Theologe“ diese prononcierte These gegenüber : „ein Theologe wird man nur ohne Aristoteles“.1 Etwa vier Generationen später präsidierte am 22. Februar 1640 der reformierte Theologe Gisbertus Voetius in Utrecht einer Disputation De theologia scholastica und nahm in den Korollarien die folgende Frage auf: „Kann man ein
1 These 44: „Immo theologus non fit nisi id fiat sine Aristotele. „WA 1,226,16. Die Überschrift wurde der Disputation erst im 18. Jahrhundert hinzugefügt; siehe Dieter: 2001, 31, Anm. 67.
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Andreas J. Beck
guter Theologe sein, ohne die Scholastik zu kennen?“ Seine eindeutige Antwort lautete: „minime“, keineswegs (Voetius: 1648, I, 28).2 Ist dies nun ein Kontrast, wie er größer kaum sein könnte, und begehen spätere Generationen einen rationalistischen Verrat an der Reformation oder zumindest deren Anfängen? Vor allem in der älteren Forschung schien oftmals eine bejahende Antwort naheliegend. So werde nach Hans Emil Weber in der „rationalen Konstruktion des Prädestinatianismus“ der Orthodoxie deren „eigenste[s] Anliegen“, nämlich die Ehre Gottes und die Heilsgewissheit, fragwürdig, was wiederum „das Gericht über das Denken, das sie schafft“ werde (Weber : 1951, 106). Und die natürliche Theologie etwa eines Franciscus Junius d.Ä. war für ihn nichts anderes als eine Erhebung der „Eigenmächtigkeit des Menschen […] auf den Thron“, eine „Theologie aus eigener Möglichkeit“, in der sich „der Mensch […] den Weg zu Gott schon [bahnt], indem er sich die Eigenerkenntnis erwirbt“ (Weber : 1966, II, 271 f).3 Weber war überzeugter Lutheraner, für den die reformierte Orthodoxie von vorneherein in weitaus größerem Maße unter Rationalismusverdacht stand als die lutherische Orthodoxie. Entscheidende Weichenstellungen hin zum Rationalismus sah er bereits bei Melanchthon. Über Martin Kähler war er ein Enkelschüler von August Tholuck, der die Orthodoxie als „Vorgeschichte des Rationalismus“ wertete.4 Umgekehrt las Gerhard Ebeling Luthers „Disputatio de homine“ aus dem Jahr 1536 als einen Widerspruch zu „der“ Scholastik oder dem „Gesamtphänomen scholastischer Theologie“.5 Wie Theodor Dieter in seiner wegweisenden Studie Der junge Luther und Aristoteles nachgewiesen hat, hält ein solches Verständnis des Verhältnisses Luthers zu dem vielschichtigen Phänomen der Scholastik einer genaueren Überprüfung nicht stand, zumindest was den jungen Luther bis 1520 betrifft. Auch andere Forscher haben auf eine deutliche Ambivalenz in Luthers Verhältnis zur Scholastik hingewiesen.6 Diese erschließt sich freilich erst bei genauer Kenntnis spätmittelalterlicher Theologie und Philosophie, so dass diese nicht lediglich durch die stark zeitgebundene Brille Martin Luthers wahrgenommen wird. Erst so wird eine historische Einordnung und Bewertung überhaupt möglich. In diesem Beitrag möchte ich einen kleinen Einblick geben in das Verhältnis von Rationalität und Scholastik in der reformierten Orthodoxie. Dabei werde ich 2 „An quis possit esse eruditus Theologus didacticus et elencticus, qui hospes sit, in Theologia scholastica? Resp[ondetur]. Minime.“ 3 Vgl. jedoch auch die Nuancierungen auf den Seiten 275 – 278. 4 Tholuck, Vorgeschichte des Rationalismus, 2 Teile in 4 Bd., Halle/Berlin 1853 – 1862. 5 Zitiert nach Dieter : 2001, 35, der hierfür auf LuSt: 1979-, II/3, 680, 367 f, 365 und das Sachregister s.v. „Scholastik“ und „scholastisch“ verweist. 6 Siehe etwa Frank: 2003, 25 – 51; Frank: 2012, 141 – 157; Leppin: 2005, 55 – 69; Kolb: 2009, 30 – 34.
Rationalität und Scholastik in der reformierten Orthodoxie
265
in einem ersten Schritt die Begriffe „Reformierte Orthodoxie“ und „Scholastik“ näher zu bestimmen suchen. Sodann werde ich auf Bartholomäus Keckermanns Thesen zum Problem der duplex veritas eingehen. Insbesondere soll die hiermit verbundene Frage des Verhältnisses von Philosophie und Theologie erörtert werden. In zwei weiteren Schritten gehe ich auf das Verhältnis von Vernunft und Glaube bei Gisbertus Voetius und Johannes Coccejus ein. Abschließend folgt ein knappes Fazit.
2.
Reformierte Orthodoxie und Scholastik
Den Begriff „reformierte Orthodoxie“ verstehe ich mit der jüngeren Forschung als Epochenbegriff: gemeint ist die Epoche von ca. 1565 bis ca. 1725 innerhalb der reformierten Theologie, also derjenigen theologischen Tradition, die sich an den Standard reformierter Bekenntnisse gebunden sieht. Daher orientiert sich der terminus a quo am Entstehungsdatum wichtiger reformierter Bekenntnisschriften wie der Confessio Gallicana (1559), des Schottischen Bekenntnisses (1560), der Confessio Belgica (1561), des Heidelberger Katechismus (1563) und der Confessio Helvetica posterior (1566). Dies ist zugleich die Periode nach dem Ableben vieler Reformatoren der zweiten Generation, wie Philip Melanchthon (†1560), Johannes a Lasco (†1560), Peter Martyr Vermigili (†1562), Wolfgang Musculus (†1563), Johannes Calvin (†1564), Andreas Hyperius (†1564) und Guillamme Farel (†1565). Der terminus ad quem ist weniger eindeutig zu bestimmen; Richard Muller etwa lässt die Spätorthodoxie erst 1770 enden. Die Forschung ist sich jedoch darin einig, dass innerhalb der reformierten Orthodoxie die Dordrechter Synode 1618 – 19 einen wichtigen Demarkationspunkt darstellt, der – je nach Einteilung – die Frühorthodoxie in ihre zweite Phase übergehen lässt oder den Übergang zur Hochorthodoxie bildet.7 Die reformierte Orthodoxie stellt ein hochkomplexes, internationales Phänomen dar mit überraschend vielen Differenzierungen. Zu den Gemeinsamkeiten gehört die Anwendung der scholastischen Methode im Bereich der akademischen Theologie.8 Die Scholastik ist nämlich nicht nur die wissenschaftliche Methode der mittelalterlichen Universität, sondern auch die Methode der frühneuzeitlichen Universität oder Akademie – freilich mit einigen Modifizierungen und humanistischen Einflüssen. So ist die entsprechende Definition des 7 Siehe zur reformierten Orthodoxie Muller: 2003b, IV, und zu dieser Einteilung Muller : 2003b, I, 30 – 32. 8 Dies ist somit auch eine Frage des jeweils verwendeten Genres. Siehe zum Verhältnis von Scholastik und Orthodoxie Muller: 2003a, 25 – 46, bes. 27 – 33, und zur Methode der reformierten Orthodoxie jetzt auch Te Velde: 2013, 77 – 108.
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Andreas J. Beck
Mediävisten Lambertus de Rijk auch auf die Schultheologie der reformierten Orthodoxie anwendbar : ,Scholastik‘ (ist) ein Sammelname für jede wissenschaftliche Aktivität in Philosophie und Theologie, die einer bestimmten Methode folgt. Diese Methode ist dadurch charakterisiert, dass in Forschung wie Lehre ein festes System von Begriffen, Unterscheidungen, Propositionsanalysen, Argumentationstechniken und Disputiermethoden verwendet wird (De Rijk: 1985, 20 f).9
In ähnlicher Weise definiert auch Richard Muller die reformierte Scholastik im Sinne einer wissenschaftlichen Methode (Muller : 2003b, I, 34).10 Dieser Methode haben sich nicht nur Theologen wie Theodor Beza in Genf, Girolamo Zanchi in Straßburg und Heidelberg, Franciscus Gomarus in Leiden und Groningen und Gisbertus Voetius in Utrecht bedient, sondern gleichermaßen auch Jacob Arminius (Leiden), Mose Amyrault (Saumur) oder Johannes Coccejus (Franeker und Leiden). Entgegen mancher Angaben in der älteren Sekundärliteratur arbeiteten auch ramistische, remonstrantische und Föderaltheologen mit der scholastischen Methode. Mit gewisser Vorsicht kann man sagen, dass die scholastische Methode als solche im Rahmen des Mittelalters und der frühen Neuzeit nicht notwendigerweise spezifische inhaltliche Positionen nach sich zieht. Ebenso wenig ist sie etwa an einen strikten Aristotelianismus gebunden – man vergegenwärtige sich lediglich die Pariser Verurteilung von 219 averroistisch-aristotelischer Thesen im Jahre 1277 (Denifle/Chatelain: 1889, I, 543 – 558 [Nr. 473]; vgl. Flasch: 1989; Aertsen/Kent/Speer, 2001), eine Verurteilung, die von späteren Theologen wie Duns Scotus und Wilhelm Ockham weitgehend nachvollzogen wurde, ohne dass dies den Gebrauch der scholastischen Methode beeinträchtigt hätte. Sofern die Anwendung dieser Methode direkte inhaltliche Konsequenzen hat, ist dies hauptsächlich darauf beschränkt, dass sie nach Konsistenz strebt und in stetiger Frageorientierung mögliche Lösungen und Antworten sucht. Die Frageorientierung der scholastischen Methode zeigt sich etwa in der sogenannten „Quaestio“-Technik, die nicht nur im 13. und 14. Jahrhundert eine 9 „Personnellement j’entends le term ,scholastique‘ comme un nom collectif d¦signant toute activit¦ scientifique, surtout philosophique et th¦ologique, qui suit une m¦thode d¦termin¦e. Cette m¦thode se caract¦rise par l’emploi, tant pour la recherche que pour l’enseignement, d’un systÀme fix¦ de notions, de distinctions, d’analyses des propositions, de techniques de raisonnement et de m¦thodes de disputation. A mon avis l’aspect didactique du terme est dominant. On peut penser ¦galement la d¦rivation du mot: scholastique = matre d’¦cole; ¦coltre; comme adjectif: ,scholastique‘, c.–.–d. selon les rÀgles didactiques.“ Vgl. de Rijk: 1985, 82 – 105, bes. 85. 10 „It is a theology designed to develop system on a highly technical level and in an extremely precise manner by means of the careful identification of topics, division of these topics into their basic parts, definition of the parts, and doctrinal or logical argumentation concerning the divisions and definitions.“
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wichtige Rolle spielte, sondern im 17. Jahrhundert insbesondere an den protestantischen Universitäten in den Niederlanden wieder auflebte. Hiermit verwandt ist die Topik, wie sie in der frühen Neuzeit eine Renaissance erfuhr ; man denke nur an die Loci communes Melanchthons oder des Dominikaners Melchior Cano, man denke aber, neben einer Vielzahl weiterer Loci communes und Traktate, auch an die sogenannten Systemata, etwa das Systema s[acro]. s[anctae]. theologiae (1602) des reformierten Universalgelehrten Bartholomäus Keckermann aus Danzig.11 Diese Systemata, wie auch die übrigen scholastischen Werke, sind jedoch keine Systeme im modernen Sinn. Sie folgen nicht einer Leitidee oder werden deduktiv aus Prinzipien entwickelt, wie wir dies bei theologischen Systemen im 19. Jahrhundert vorfinden. Vielmehr haftet der Topik, und noch stärker als dieser der „Quaestio“-Technik etwas nachgerade Fragmentarisches an. Auch das Streben nach Konsistenz führt an sich nicht zu einem Systemzwang. Zwar erfordert ein deduktives System auch dessen Konsistenz, aber das Umgekehrte ist nicht der Fall. Es wäre auch falsch, anzunehmen, dass die scholastische Methode an sich innerlich mit einer Substanzontologie im Unterschied zu einem relationalen Denken verknüpft sei. Allerdings ist zu bedenken, dass die scholastische Methode selbstverständlich ein zeitgebundenes, vormodernes Phänomen ist, wie jüngst Willemien Otten betont hat. Scholastik ist nicht rein abstrakt vorfindlich, sondern koexistiert jeweils mit den Inhalten, mit denen ihre Anwender sie besetzen. Diese wiederum sind, wie die scholastische Methode selbst, in einen konkreten historischen Kontext eingebettet mit allen dazugehörigen kulturellen und soziologischen Facetten (Otten: 2010, 55 – 73). So verstanden ist die Scholastik, ähnlich wie die Orthodoxie, auch ein Epochenbegriff. Interessanterweise haben bereits Vertreter der reformierten Scholastik die Vielschichtigkeit des Scholastikbegriffs ansatzweise empfunden. So unterscheidet etwa Gisbertus Voetius im Jahr 1640 in seiner Disputation De theologia scholastica die Scholastik im weiteren Sinn von der Scholastik im strikten Sinn. Im weiteren Sinn besagt „Scholastik“ die „in den Schulen Europas geläufige Form und Methode der Theologie“, deren Name darauf zurückzuführen ist, dass sie „in den Schulen überliefert wird und ihre Eigenart und Methode (ratio ac methodus) eine andere ist als die derjenigen Theologie, die in den Kirchen verkündet wird“ (Voetius: 1648, I, 13).12 „Scholastik“ ist, so verstanden, die gangbare wissenschaftliche Methode auch der frühen Neuzeit. Im strikten Sinn 11 Siehe hierzu Frank: 2011, 67 – 88. 12 „Late (sumi potest vox Theologiae Scholasticae) pro formula ac methodo illa Theologiae, quae in scholis Europaeis (…) obtinuit. Eam ita vocabant, tum quod in scholis traderetur et alia ejus ratio ac methodus esse, quam ejus quae in ecclesiis personaret: tum quod contra distincta esset a Theologia Ecclesiastica.“ Siehe hierzu Beck: 2007, 27 f.
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hingegen ist unter „Scholastik“ „diejenige Form und Methode der Theologie“ zu verstehen, die in den Sententiae des Lombarden, in der Summa theologiae des Aquinaten, in allen Sentenzenkommentaren „unmittelbar danach“, den Kommentaren der jüngeren Scholastikern zur Summe des Thomas und schließlich allen Autoren von Anthologien und Quodlibeta zu finden ist (Voetius: 1648, I, 13 f). Diese Scholastiker wollen, wie Voetius beanstandet, „allzu viele Fragen und Kontroversen erfinden und anhäufen“ und gar „unnütze, eitle, kuriose, gefährliche, absurde, ja, blasphemische Fragen“ behandeln (1648, I, 23).13 Sie unterscheiden sich „himmelweit“ von den Vertretern eines gesunden Gebrauchs der scholastischen Methode, zu den Voetius natürlich auch sich selbst zählt (1648, I, 14). Freilich war Voetius trotz dieser Beteuerungen in seinem Oeuvre in ständigem Dialog mit den erwähnten scholastischen Theologen und verlangte von seinen Studenten, dass sie deren Werke gründlich studierten.14 Wenngleich die so im methodischen Sinn verstandene Scholastik entgegen einer weitverbreiteten Annahme an sich nicht mit der aristotelischen Philosophie verknüpft ist,15 stellt sich dennoch die Frage nach der Rationalität scholastischer Theologie in der reformierten Orthodoxie und deren Verhältnis zur Philosophie. Ein Einblick in diese Fragestellung kann anhand einer interessanten Abhandlung des Danziger Gelehrten Bartholomäus Keckermann gewonnen werden.
3.
Keckermann und das Problem der duplex veritas
Obwohl es, wie überhaupt zur reformierten Orthodoxie, verhältnismäßig wenige Forschungsarbeiten zu Bartholäus Keckermann (1571 – 1608) gibt, ist die Bedeutung des vielseitigen Universalgelehrten schwer zu überschätzen.16 Seinem reichhaltigen philosophischen und theologischen Oeuvre liegen vor allem die in Danzig in den Jahren 1601 bis 1608 gehaltenen Vorlesungen zugrunde. Dabei behandelte Keckermann, wie auch die Herborner „Enzyklopädisten“ Jo13 „I. Quod quaestionibus et controversiis nimis multis inveniendis et coacervandis unice intenti sunt. 2. Quod nonnunquam, et ex professo nimis langueant circa quaestiones inutiles, vanas, curiosas, periculosas, absurdas, immo et blasphemas: (…).“ 14 Dies geht deutlich aus Voetius’ vielfach aufgelegten Exercitia et bibliotheca studiosi theologiae, in der er ein schwindelerregend anspruchsvolles Curriculum des Theologiestudiums entwarf, hervor. 15 Siehe zur Thematik Muller : 2003b, II, 360 – 382 und vgl. die vielzitierte Definition Brian Armstrongs, die die protestantische Scholastik als „invariably based upon an Aristotelian philosophic commitment“ charakterisiert (Armstrong: 1969, 32). 16 Siehe zu Keckermann vor allem Althaus: 1914, 11 – 13, 20 – 51, 77 – 85, 241 – 254; Van Zuylen: 1934; Freedman: 1997, 305 – 364; Muller : 2003a, 122 – 136; Frank: 2003, 175 – 208. Vgl. zum Kontext auch Hunter : 2006, 35 – 65, bes. 50 – 65.
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hann Heinrich Alsted und Johannes Bisterfeld, einen großen Teil des gesamten Curriculums der protestantischen Akademie.17 Nicht ohne Grund nannte Paul Althaus Keckermann den „begabtesten und selbstständigsten aller deutschen reformierten Philosophen“ (1914, 7), auch wenn der Superlativ wohl doch übertrieben sein mag. Für den reformierten Universalgelehrten stellte sich das alte Problem der duplex veritas aufgrund seiner Funktion als Rektor des Gymnasium Illustre in Danzig. Kann eine Aussage wahr sein secundum rationem und dennoch falsch secundum fidem? Diese Frage hatte eine lange Vorgeschichte. Auf jeden Fall sollten die wirkungsmächtigen Pariser Verurteilungen von 1277 erwähnt werden. Im Prolog zum Syllabus dieser 219 verurteilten Thesen charakterisierte Etienne Tempier folgendermaßen die Position der verurteilten Vertreter der Pariser Artistenfakultät, die die peripatetische Philosophie und den lateinischen Averroismus propagierten: Sie sagen nämlich, die Irrlehren seien wahr im Sinne der Philosophie, aber nicht im Sinne des christlichen Glaubens, als gäbe es zwei gegensätzliche Wahrheiten (due contrarie veritates) und als stehe gegen die Wahrheit der Heiligen Schrift die Wahrheit der gottverworfenen Heiden.18
Wie die neuere Forschung gezeigt hat, gab es im Mittelalter wohl keine Vertreter einer doppelten Wahrheit zweier kontradiktorischer Aussagen aus verschiedenen Bereichen. Allerdings griff die Verurteilung der 219 Thesen ein wichtiges Anliegen von Bonaventura und Heinrich von Gent auf und sollte verhindern, dass die Theologie seitens der Artistenfakultät aufgrund der wiederentdeckten aristotelischen Metaphysik untergraben wurde (vgl. Aertsen/Kent/Speer : 2001). Die Nachwirkung dieser Verurteilung im 14. und 15. Jahrhundert bis in die frühe Neuzeit ist kaum zu überschätzen; andererseits sympathisierte etwa der Renaissancephilosoph Pietro Pomponazzi mit der These von der doppelten Wahrheit.19 Der konkrete Anlass zu Keckermanns Beschäftigung mit dem Problem der duplex veritas ist wohl im Streit um Daniel Hof(f)mann zu sehen.20 Nachdem Keckermann im Jahr 1592, nach seinem Studium in Wittenberg, an die Universität Heidelberg gewechselt war, rehabilitierte Hofmann in Helmstedt die These von der doppelten Wahrheit, mit der er jedoch, ironischerweise, gerade 17 So auch Muller: 2003a, 124; vgl. Hotson: 2000. 18 Siehe Denifle/Chatelain: 1889, I, 543 – 558 (Nr. 473), hier 543: „Dicunt enim ea esse vera secundum philosophiam, sed non secundum fidem catholicam, quasi sint due contrarie veritates, et quasi contra veritatem sacre scripture sit veritas in dictis gentilium dampnatorum“; ich folge der deutschen Übersetzung bei Flasch: 1989, 93. 19 Siehe Pine: 1968, 163 – 176. 20 Siehe hierzu jetzt die grundlegende Arbeit von Friedrich: 2004.
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die Theologie vor der Philosophie, schützen wollte. Die Auseinandersetzungen an der Helmstedter Academia Juliana eskalierten, nachdem Hofmann 1598 seinen Schüler Caspar Pfaffrad einige Thesen hatte verteidigen lassen, mit denen er sich deutlich von der Philosophie distanzierte, wie sie etwa in die metaphysische Ubiquitätslehre eingeflossen sei. Dabei konnte er sich auf Martin Luther berufen, der ja bekanntlich seine Disputation vom 11. Januar 1539 über den Johannesprolog mit der These eröffnete, dass es Wahrheiten gibt, die nicht in allen Wissensgebieten gelten, auch wenn im Prinzip das Wahre mit dem Wahren übereinstimmt.21 Noch provozierender ist Hofmanns Vorwort gehalten, in dem er die Philosophie als von Paulus in Kolosser 2 verworfene Gefahr für die Theologie auswies. Die Philosophie sei unter die Werke des Fleisches und des Teufels zu rechnen, die Philosophen seien nach einem Diktum der frühen Kirche „Häretiker der Patriarchen“, und die Theologie sei nach dem Vorbild Luthers von diesen sowie vom „Sauerteig der Scholastiker“ zu befreien.22 Es ist wohl vor dem Hintergrund des Hofmannstreits zu sehen, dass Keckermann ein der frühneuzeitlichen Philosophia perennis nahestehendes Wissenschaftskonzept, das der Einheit von Theologie und Philosophie dienlich sein sollte, entwickelte.23 Demnach ist die Philosophie zwar als solche in der Anlage spekulativ, aber zugleich offen für die Gottesverehrung. Die Theologie hingegen ist eine praktische Disziplin, die der analytischen Methode folgt und ausgerichtet ist auf die fruitio Dei, die eschatologische Liebesgemeinschaft mit Gott als des summum bonum.24 Keckermann rezipiert hier, wie Günter Frank zu Recht betont, entscheidende Züge des scotistischen Theologieverständnisses, obgleich die Funktion der Metaphysik unterschiedlich bewertet wird (Frank: 2003, 181; vgl. Honnefelder : 1989, 22 – 29; Vos: 2003, 13 – 39, bes. 25ff). In seinen Philosophischen Vorüberlegungen ging Keckermann ausführlich auf 21 WA 39/2, 3: „1. Etsi tenendum est, quod dicitur : Omne verum vero consonat, tamen idem non est verum in diversis professionibus.“ Vgl. ebd.: „4. Sorbona, mater errorum, pessime definivit, idem esse verum in philosophia et theologia.“ Siehe hierzu Hofmann/Pfaffrad, Propositiones de deo, Helmstedt 1598, B2v (thesis 15) und B3r (thesis 20). Vgl. auch Hofmann, Pro duplici veritate Lutheri a philosophis impugnata, Magdeburg 1600. 22 Hofmann/Pfaffrad: 1587, A2r–A2v : „Unde Paulus ad Coloss. 2. Philosophiam depraedantem discipulos Apostolorum agnovit, et ad Gal. 5. inter opera carnis reiecit haereses, quod primitiva Ecclesia per experientiam edocta sic explicavit: Philosophos esse haereticorum patriarchas.“ Das Diktum findet sich bei Tertullian (PL 2,204C), wie Friedrich: 2004, 28, nachweist. Friedrich: 2004, 28 f beobachtet zutreffend, dass die These der doppelten Wahrheit am Anfang des Streites von der Einordnung der Philosophie unter die Werke des Fleisches überschattet wird. Wichtig ist auch der überzeugende Nachweis, dass Hofmanns Position nicht auf eine ramistische Vorliebe zurückzuführen ist (Friedrich: 2004, 26). 23 Siehe hierzu Frank: 2003, 198 – 204. Man beachte freilich, dass, wie auch Frank (2003, 197, Anm. 84) anmerkt, Keckermann selbst nicht die Bezeichnung „philosophia perennis“ für seine Wissenschaftskonzeption verwendete. 24 Siehe Beck: 2007, 184 f.
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das Verhältnis von Theologie und Philosophie ein (1607, II).25 Die Philosophie sei von höchstem Nutzen und größter Notwendigkeit für das Studium der Theologie: erstens im Hinblick auf die positive Lehre und die Regeln der Theologie, zweitens im Hinblick auf die elenchtische Theologe bzw. theologischen Disputationen und Kontroversen. (Keckermann: 1607, II, 35C).26
So seien in der Theologie etwa nicht nur „reine Schlussfolgerungen“, die allein auf der Theologie beruhen, legitim, sondern auch „gemischte Schlussfolgerungen“, bei denen der Mittelbegriff teils der Theologie, teils der Philosophie entstammt. Kurioserweise dienten solche conclusiones mixtae auch der Widerlegung der lutherischen Ubiquitätslehre, gegen die sich ja Hofmann ebenfalls wandte, indem er jedoch umgekehrt die Theologie von der Philosophie fernzuhalten versuchte (Keckermann: 1607, II, 37D–H).27 Ein grundlegender Unterschied zwischen der Philosophie und Theologie besteht nach Keckermann freilich darin, dass „das hauptsächliche Prinzip der Theologie die Offenbarung bzw. das Zeugnis Gottes“ sei, während die Prinzipien der Philosophie entweder „uns als Kenntnisse angeboren“ oder aber „die Natur der natürlichen Dinge selbst“ seien, „wodurch die philosophischen Folgerungen und Regeln bestätigt“ werden (1607, II, 48C–D).28 Keckermann hat den Philosophischen Vorüberlegungen einen Appendix hinzugefügt, worin er nochmals eigens Position zu der in seiner Zeit virulenten Kontroverse zum Verhältnis von Philosophie und Theologie beziehen wollte.29 Dabei überschrieb er seinen Standpunkt zu dieser Frage knapp und eingängig mit: „Die wahre Philosophie widerstreitet niemals der heiligen Theologie“ (Keckermann: 1614, I, 68b).30 Was die Theologie als wahr ausweise, so Keckermann, werde von der Philosophie keineswegs geleugnet. Auch gebe es in der Philosophie keine Prinzipien, Schlussfolgerungen oder Regeln, die der Theologie irgendwelchen Anlass zur Widerlegung böten. Die Wahrheit sei eine ein25 Auch abgedruckt in Keckermann: 1614, I, 1 – 68C (ich verwende diese Ausgabe). 26 „Ad studium Theologiae summa est Philosophiae tum utilitas, tum Necessitas: primo quoad ipsam Didasjaki\m, sive praecepta Theologiae: 2. quoad 5kemwom, sive disputationes et controversias Theologicas.“ Vgl. Muller : 2003a, 130 – 133. 27 Vgl. Althaus: 1914, 96 – 102, und zur Thematik Muller : 2003b, I, 402 – 405. 28 „Differt ergo Philosophia a Theologia, I. ratione principiorum, quia principale Theologiae principium est revelatio seu testimonium Dei; philosophiae autem principa sunt tum notitae nobiscum natae; tum vero ipsa rerum naturalium natura, ex qua Conclusiones et praecepta Philosophica confirmantur.“ 29 „Brevis et simplex consideratio controversiae hoc tempore a nonnullis motae, de pugna Philosophiae et Theologiae.“ Keckermann: 1614, I, 68D–74I. Siehe hierzu auch die Zusammenfassungen bei Muller: 2003a, 127 – 130 und Frank: 2003, 205 – 208, die jedoch den Gedankengang Keckermanns nicht immer erkennen lassen. 30 „Vera Philosophia cum S. Theologia nusquam pugnat.“
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zige, ob es nun um philosophische oder theologische Aussagen geht, und daher sei es unmöglich, dass eine theologische Wahrheit falsch sei in der Philosophie und umgekehrt (Keckermann: 1614, I, 68b).31 Keckermann begründet seine Position in einem ersten Schritt mit nicht weniger als zwölf Argumenten, die zumeist in syllogistischer Form präsentiert werden mit anschließender Begründung des Unterbegriffs. Das erste Argument stützt sich auf die formale und materiale Kompatibilität von Philosophie und Theologie. Die formale Kompatibilität ist dadurch gewahrt, dass die Philosophie als Methode ihren Einzeldisziplinen keine synthetische oder analytische Vorgehensweise vorschreibt und somit auch nicht der Theologie, die allerdings der analytischen Methode folgt, widerstreitet. In materialer Hinsicht ergänzen sich die jeweils eigenen Einzelbegriffe und Propositionen beider Disziplinen, soweit sie sich nicht sowieso überlappen, auf harmonische Weise (Keckermann: 1614, I, 68B–69 A). Das zweite Argument legt dar, dass auch die Prinzipien der Philosophie denen der Theologie nicht widerstreiten (1614, I, 69C–D). Drittens präzisiert Keckermann, dass natürlich die Philosophie durchaus der Theologie widerstreiten kann, sofern der Term „Philosophie“ im uneigentlichen Sinn (jatawqgstij_r) aufgefasst werde und man darunter etwa die Irrtümer individueller Philosophen, sei es nun Aristoteles oder Plato, verstehe (1614, I, 69E–G).32 Sofern jedoch der Term „Philosophie“ im eigentlichen Sinn als Tugend des Verstandes aufgefasst werde, ergebe sich kein Konflikt zur Theologie, die ja ebenfalls eine Verstandestugend sei. Viertens sei die Philosophie eine Gabe Gottes und könne daher nicht der Theologie, die gleichermaßen eine Gabe Gottes sei, widerstreiten (Keckermann: 1614, I, 69G).33 Es folgen acht weitere Argumente, die jedoch keine wesentlich neuen Gesichtspunkte hinzufügen (1614, I, 69H–70F). Allerdings schließt der Abschnitt mit einer thesenhaften Zusammenfassung der Position Keckermanns: In der Summe ist die natürliche Gotteserkenntnis der übernatürlichen nicht entgegengesetzt, widerstreitet die Naturerkenntnis nicht der Gnadenerkenntnis, und untergräbt das Buch der Natur nicht das Buch der Schrift. Folglich streitet die Philosophie auch nicht mit der Theologie (1614, I, 70F).34 31 „(…) atque adeo unica tantum et simplex veritas est Theologiae et Philosophiae, ut non statuenda sit veritas alia Philosophica, alia Theologica; nec credendum, aliquid posse esse verum secundum Theologiam, quod sit falsum secundum Philosophiam: et contra, esse aliquid verum in Philosophia, quod sit falsum in Theologia.“ 32 Keckermann bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Isa 5,20: „Sin posteriore acceptione summunt vocabulum philosophiae, nempe per catachresin quandam pro erroribus philosophorum, iam incurrunt in maledictionem istam Dei, quae extat apud Esaiam: Ve illis qui tenebras dicunt lucem et lucem tenebras.“ 33 Keckermann beruft sich hierfür auf Exod 31,3; Ps 94,10; Sir 1,1; 2Chron 1,11; Dan 2; Rom 1,19; Jak 1,17. 34 „In summa, cognitio Dei naturalis non contrariatur supernaturali, cognitio per naturam non
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In einem weiteren Schritt beruft sich Keckermann für seine Position auf fünf Autoritäten, die er allerdings nicht konsequent in chronologischer Reihenfolge anführt. So bezieht er sich zunächst auf Augustin, der in De Trinitate lehre, sowohl das Licht der Natur, also die Philosophie, als auch das Licht des Glaubens, die Theologie, rühren von Gott her, weshalb diese nicht miteinander in Streit sein könnten (1614, I, 70F–G).35 Zweitens zitiert Keckermann Clemens von Alexandrien, der die Philosophie positiv würdigte als Gehilfin der Wahrheit, die zwar die Wahrheit an sich nicht stärke, wohl aber den sophistischen Angriff auf die Wahrheit schwächen könne (1614, I, 70G–H).36 Bezeichnenderweise bezieht sich Keckermann drittens zustimmend auf das 5. Laterankonzil – er verwechselt es allerdings mit dem 3. Laterankonzil –, wo es heißt, dass das Wahre dem Wahren nicht widersprechen könne (1614, I, 70H).37 Viertens zitiert Keckermann den französischen Theologen und Staatsmann Philippe Du Plessis-Mornay (1549 – 1623), der im Vorwort zu seinem De Veritate Religionis Christianae Liber die Natur und deren Prinzipen auf Gott zurückführte. Ist Gott somit der Ursprung aller Wahrheit und Vernunft, kann niemals in der Theologie falsch und unvernünftig sein, was in der Natur wahr und vernünftig ist (1614, I, 70I–71 A).38 Als fünfte Autorität in dieser Frage führt Keckermann den Melanchthonschüler Zacharias Ursinus an. In den Prologemmona zu seinem Katechismuskommentar diskutierte Ursinus, der ja als Hauptautor des Heidelberger Katechismus gilt, die Frage, wie sich die Lehre der Kirche zur Philosophie verhalte. Wenngleich sich die Philosophie von der Kirchenlehre in verschiedener Hinsicht unterscheide, könne jene doch dieser keinesfalls widerstreiten, da sie, wie Keckermann korrekt zitiert, „die Wahrheit und gleichsam als gewisser Strahl
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repugnat cognitioni per gratiam, liber naturae non evertit librum scripturae, Ergo nec Philosophia pugnat cum Theologia.“ Keckermann zitiert Augustin, De Trinitate IV cap. 6 (PL 42, 894 f), wo Augustin zwar nicht explizit das lumen naturae vom lumen natura fidei unterscheidet, wohl aber die Bedeutung verschiedener Zahlenangaben in der Schrift mit Gründen, die er der Autorität der Kirche, der Vätertradition, der heiligen Schrift und der Natur (ratio) der Zahlen und Ähnlichkeiten entnommen habe, begründet. So kommt er zu diesem Schluss: „Contra rationem nemo sobrius, contra scripturas nemo christianus, contra ecclesiam nemo pacificus senserit“ (PL 42, 896). Clemens, Stromata I 99,3 – 100,1, ed. Stählin: 1906, 63 – 64. Keckermann zitiert eine lateinische Übersetzung. 5. Laterankonzil, 8. Sitzung (19. Dez. 1513), gegen die Seelenlehre der Neu-Aristoteliker (DH 1441): „Cumque verum vero minime contradicat, omnem assertationem veritati illuminatae fidei contrariam omnino falsa esse definimus.“ Diese Aussage soll dort jedoch, entgegen den Angaben Keckermanns, nicht nachweisen, dass „Sacra scriptura veritati naturae non repugnat“ (70H). Bezeichnenderweise übernimmt Lodewijk Meyer in seiner anonym herausgegebenen und umstrittenen Schrift Philosophia s. scripturae interpres, Eleutheropoli 1666, cap. 10, (S. 60) diese Fehlangaben Keckermanns. De Mornay (= Du Plessis-Mornay):, 1583, praef. **3r ; die Erstausgabe erschien 1581 in Antwerpen als De la verit¦ de la religion chrestienne.
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der Weisheit Gottes dem Geist des Menschen bei seiner Schöpfung eingedrückt“ sei (1614, I, 71 A–B).39 Ursinus führte, ganz melanchthonisch, die Philosophie auf das im Menschen widerstrahlende natürliche Licht (lumen naturalis) zurück. Darin ist die grundlegende Kompatibilität von Theologie und Philosophie begründet, von der selbstverständlich die Irrtümer individueller Philosophen, wie etwa „die Meinung des Aristoteles von der Ewigkeit der Welt“ oder „des Epikur von der Moralität der Seele“ ausgenommen sind, da es sich hierbei um „leere Sophistereien des menschlichen Geistes“ handele (1614, I, 71B–C).40 Nachdem Keckermann die Gründe und Autoritäten für seine Position behandelt hat, widmet er sich nun der Widerlegung der gegnerischen Meinung, indem er vier „Fundamente und Quellen der Lösungen“ entwickelt. Das erste Fundament lautet, dass nur dann ein Widerspruch zweier Propositionen behauptet werden darf, wenn dieses Urteil aufgrund der „Gesetze einer legitimen Entgegensetzung“ erfolgt. Konkret bedeutet dies, dass es sich bei beiden Propositionen um dasselbe Subjekt und Prädikat handeln muss und dass der Gegensatz sich auf dieselbe Sache, unter derselben Hinsicht und für denselben Zeitpunkt beziehen muss. Kann also, so präzisiert sich die Fragestellung, dieselbe Sache, die auf dieselbe Weise verstanden wird, für den Philosophen wahr und für den Theologen falsch sein (1614, I, 71E)?41 Der zweite Lösungsansatz behauptet, dass die menschlichen Dinge den göttlichen und die natürlichen Dinge den übernatürlichen nicht widerstreiten, sondern diesen untergeordnet sind (1614, I, 71F). Drittens gebe es viele Dinge, deren Wahrheit die Philosophie weder behandelt noch widerlegt, sondern stillschweigend anerkennt, sofern sie anderswo, etwa in der Theologie, behandelt werden. Das Umgekehrte gelte für die Theologie (1614, I, 71G–H). Viertens betont Keckermann nochmals, dass die Irrtümer der Philosophen keine philosophischen Dekrete sind: „Allgemein benennt man die pythagoreische, platonische, stoische oder aristotelische Lehre als Philosophie. Wir meinen jedoch, dass die Philosophie anders zu definieren ist, nämlich nicht nach Personen, sondern nach ihrer Natur und der Wahrheit der Dinge (1614, I, 71H–I).“42 Der fünfte Lösungsansatz schließlich warnt vor methodischen Grenzüberschreitungen: „Die philosophischen Aussagen sind philosophisch zu verstehen, das heißt, in Bezug auf diejenigen Dinge, die die Philosophie behandelt.“ Daher 39 „sed est veritas, et quidem quasi radius sapientiae divinae hominum mentibus in creatione impressus.“ Siehe Ursinus: 1598, prol. III, 5. 40 Wo Keckermann Ursinus: 1598, 6, zitiert. 41 „De duarum propositionum veritate et falsitate, atque adeo pugna et oppositione, iudicari nec debet nec potest sine legibus legitimae oppositionis, quae sunt quatuor : […].“ 42 „Vulgus Pythagoricam, Platonicam, Stoicam, Aristotelicam doctrinam vocat Philosophiam: at vero nobis aliter definienda Philosophia est non ex personis, sed ex ipsa natura sua et ex rerum veritate.“
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dürfen „philosophische Urteile und Axiomata“ nicht auf Gebiete außerhalb der Philosophie ausgeweitet werden (1614, I, 72 A).43 Mithilfe dieser fünf Lösungsansätze will Keckermann in einem letzten Schritt nicht weniger als elf Einwände widerlegen. Besonders interessant ist der erste Einwand, der sich auf die Warnung des Apostels Paulus, sich nicht „durch Philosophie und leeren Trug“ einfangen zu lassen, beruft. Daher sei die Philosophie, die dem Wort Gottes und dem Evangelium widerspreche, aus der Kirche zu bannen (1614, I, 71C).44 Keckermann beantwortet diesen Einwand mit einem langen Zitat aus Melanchthons Kommentar zum Kolosserbrief, nicht ohne zuvor darauf hinzuweisen, dass die deutsche Übersetzung ein empfehlendes Vorwort Martin Luthers enthält (1614, I, 72C–E).45 Tatsächlich begründet Luther dort, weshalb er die Bücher des Magister Philipp, und auch den vorliegenden „christlichen Schatz“, den eigenen Werken vorziehe.46 In dem von Keckermann zitierten Passus schreibt Melanchthon, bereits die Jugend wisse, dass Paulus nicht „die wahre Philosophie, die in ihren Grenzen bleibt“ verurteilt, sondern die Verwechslung der Philosophie mit dem Evangelium (Keckermann: 1614, I, 74D; CR XV, 1248 f). Die Philosophie spricht nämlich nicht „von der ewigen Gerechtigkeit, dem ewigen Leben und der Vergebung der Sünden“, wohl aber ist sie wie die anderen Künste auf die dem Geist des Menschen in der Schöpfung eingepflanzten Kenntnisse (notitae insitae) aufgebaut und gehört zu den „guten Dingen und Gaben Gottes“ (Keckermann: 1614, 74E; CR XV, 1249).47 Keckermann bezieht sich hier also bezeichnenderweise auf Melanchthons geistphilosophische Lehre von den „natürlichen Kenntnissen“ und begibt sich damit zugleich in die Nähe des neuplatonischen Innatismus.48 Er ergänzt das Melanchthonzitat mit einem treffenden Zitat des Melanchthonschülers Viktor Strigel, welches die Verwerfung der Philosophie mit der Verwerfung des Weins wegen dessen möglichen Missbrauchs vergleicht.49 Der zweite Einwand behauptet, die Philosophie sei menschlicher Herkunft und widerstreite daher der Theologie, die göttlichen Ursprungs sei. Im Gegen43 „Propositiones et axiomata philosophica non sunt extra philosophiam extendenda.“ 44 Wo Keckermann Kol 2,9 zitiert. 45 Mit Zitat aus Melanchthons Enarratio epist. Pauli ad Colossenses, 1559 (CR XV, 1221 – 1283, hier 1248 f). Siehe für die Vorrede Luthers die Übersetzung der 2. Aufl. der ursprünglich in Großenhain herausgegebenen Scholia in Epistolam Pauli ad Colossenses (StA IV, 209 – 303; hierzu Frank: 2003, 65 – 67): Melanchthon: 1529. 46 Vorrhede Martin Luther, in Melanchthon: 1529, Aiir. 47 Melanchthon bezieht sich hier auf 1 Tim 4,4. 48 Siehe hierzu Frank: 1995, 112 – 126, Frank: 2003, 207, und zur entsprechenden Rezeption bei Voetius Beck: 2005, 319 – 344. 49 Keckermann verweist auf „Strigelius in dialecticis suis, p. 738“, ich konnte dort das Zitat jedoch in den Ausgaben von 1579 und 1586 (jeweils Neustadt a. d. Hardt) von Strigels In Erotemata dialecticae Philippi Melanchthonis Hypomne-mata nicht verifzieren.
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zug führt Keckermann erneut an, dass die Philosophie, richtig verstanden, ebenfalls eine Gabe Gottes sei und beruft sich dabei erneut auf Clemens, der sich dagegen verwehrt, dass alles außer dem Glaubensgut überflüssig sei (1614, I, 72G–73 A).50 Nach dem dritten Einwand widerstreite die Philosophie der Theologie, da sie im Unterschied zur Theologie mit der Vernunft begriffen werden könne. Dagegen führt Keckermann an, dieses Argument setzte voraus, dass vernünftige Erkenntnis im Widerspruch stehe zu dem, was die Vernunft übersteigt, was jedoch falsch sei. So ist etwa der Vernunft einsichtig, dass zweimal drei sechs ist oder die Eltern geehrt werden sollen, was zugleich auch mit den Glaubensartikeln harmoniere. Außerdem bedürfe auch das korrekte philosophische Verständnis der Unterstützung des Heiligen Geistes (1614, I, 73B–C). Den vierten Einwand, nämlich dass die Philosophie der Theologie widerstreite, da sie soteriologische, christologische und eschatologische Themen nicht behandle, pariert Keckermann mit Hilfe des dritten Lösungsansatzes. Genauso absurd sei es zu behaupten, die Theologie widerstreite der Medizin, da sie Ursache und Behandlung der Krankheiten nicht thematisiere. Interessanter ist der fünfte Einwand, wonach die Philosophie der Theologie entgegenstehe, da philosophisch gesehen die Welt ewig sei, was jedoch theologisch gesehen falsch sei. Keckermann entgegnet, die These von der Ewigkeit der Welt sei nicht Teil der wahren Philosophie, sondern ein philosophischer Irrtum. Damit befindet sich Keckermann auf der Linie der Pariser Verurteilungen aristotelischer und averroistischer Thesen in den Jahren 1270 und 1277, die auch die Lehre von der Ewigkeit der Welt betrafen (1614, I, 73D–E).51 Die übrigen sechs Einwände führen konkrete Einzelaussagen an, die entweder in der Theologie oder Philosophie wahr seien, nicht aber in der jeweils anderen Disziplin, wie etwa die Jungfrauengeburt oder die Entstehung von Etwas aus dem Nichts (1614, I, 73E–74I). Keckermann pariert diese Beispiele hauptsächlich mit Hilfe der ersten beiden Lösungsansätze, also der erforderlichen Eindeutigkeit sich einander widersprechender Aussagen und der Unterordnung der natürlichen unter die übernatürliche Sphäre. So schließe etwa die Philosophie nicht aus, dass eine Jungfrau überschattet von der übernatürlichen Kraft des Allerhöchsten gebärt, während der Grundsatz, dass Nichts aus Nichts werde, philosophisch im Hinblick auf die natürliche Entstehung (generatio) gelte, jedoch nicht theologisch im Hinblick auf die Schöpfung (creatio) (1614, I, 73E–74B).52 50 Das Clemenszitat entspricht Clemens lib. 1, cap. 1, 18,2, ed. Otto Stählin: 1906, 13. 51 Ausführlicher in Keckermann: 1607, II, 43 A–C. Vgl. die verurteilten Thesen 5 (1270; Denifle/Chatelain: 1889, I, 486 – 487 [Nr. 432], hier 487) und 80 – 89 (1277; Denifle/Chatelain: 1889, I, 543 – 558 [Nr. 473], hier 548). Vgl. zur Thematik Flasch: 1989 und Wissink: 1990. 52 Siehe zu ex nihilo nihil fit ganz ähnlich auch Keckermann: 1607, II, 43B–D, und vgl. Frank: 2003, 206 – 207.
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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Keckermanns zentrales Argument zugunsten der Einheit von Philosophie und Theologie darin besteht, dass Gott die Quelle aller Wahrheit ist und damit sowohl der philosophischen als auch der theologischen Wahrheit, die letztlich beide auf göttliche Offenbarung zurückzuführen sind. Die Einheit von Philosophie und Theologie beruht also auf der Einheit der Wahrheit, und diese wiederum auf der Einheit ihres Ursprungs. Zugleich anerkennt Keckermann die disziplinäre Verschiedenheit von Theologie und Philosophie, die beide ihren jeweils eigenen methodischen Ansatz haben. Die wichtigsten Gewährsmänner für Keckermann in dieser Angelegenheit waren Zacharias Ursinus und dessen Lehrer Melanchthon, neben Kirchenvätern wie Clemens und Augustin. Keckermann wiederum war der Lehrer des polnischen Theologen Jan Makowsky oder Maccovius (1588 – 1644), der in Franeker wirkte und trotz der Angriffe seines Kollegen Sibrand Lubbertus großen Einfluss auf die reformierte Theologie des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden hatte. Auch Maccovius betonte in seinen Distinctiones et Regulae Theologicae ac Philosophicae (1652, posthum), dass Theologie und Philosophie einander nicht widerstreiten, wie auch die Kunst des Schusters und des Schneiders, obgleich sie verschiedene Objekte haben, einander nicht widerstreiten (Maccovius: 1656, cap. 1, th. 38).53 Diese Traditionslinie hat nach der Dordrechter Synode vor allem Voetius fortgesetzt.
4.
Vernunft und Glaube bei Voetius
Zu Gisbertus Voetius (1589 – 1676) könnte hier viel gesagt werden. Es ist kaum möglich, seinen großen Einfluss auf Theologie und Kirche in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts zu überschätzen. Er war einer der jüngsten Delegierten der Dordrechter Synode, auf der übrigens auch die causa Maccovii diskutiert wurde. Als Voetius 1634 in Utrecht zum Theologieprofessor an das neu gegründete Gymnasium Illustre berufen wurde, hatte er bereits 23 Jahre als Pfarrer gewirkt. An der Utrechter Akademie, die kurz danach 1636 zur Volluniversität erhoben wurde, hat er vierzig Jahre lang bis zu seinem Tod gelehrt und war insgesamt drei Mal für längere Zeit deren Rektor. Daneben blieb er zeitlebens Pfarrer der reformierten Kirche. Voetius war nicht nur der vielleicht bedeutendste reformierte Scholastiker des 17. Jahrhunderts, sondern auch theologisches Haupt der niederländischen Frömmigkeitsbewegung der Nadere Reformatie, die mit dem
53 Siehe Van Asselt: 2009, 78.
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englischen Puritanismus verwandt war und in nicht geringem Maße auf den deutschen Pietismus gewirkt hat.54 Die Verbindung von Wissenschaft und Frömmigkeit oder Gottseligkeit war für Voetius ein zentrales Anliegen, wie bereits seine programmatische Antrittsvorlesung mit dem bekannten Titel De pietate cum scientia conjungenda deutlich machte. Als Voetius wenig später am 13. September 1634 im Rahmen seiner Inaugurationsdisputation ein collorarium zum Sündenbegriff des Heidelberger Katechismus verteidigen lies, ergriff ein remonstrantischer Pfarrer das Wort und behauptete, diese Position würde zum Ausschluss jedweder Rationalität führen. Es gelang ihm jedoch nicht, seine Position auch überzeugend zu begründen, da er die Disputiertechnik unzureichend beherrschte. Wenige Wochen später erschien jedoch ein Examen accuratum zu Voetius’ Inaugurationsdisputation, das von dem Remonstranten Jacobus Batelier verfasst worden war und dem Utrechter Professor Novitäten, Paradoxien, Heterodoxien und Widersprüche vorwarf. Voetius reagierte, indem er noch im selben Jahr zusammen mit seinem Schüler Martin Schoock eine umfangreiche Verteidigungsschrift mit dem wenig schmeichelhaften Titel Thersites heautontimorumenos veröffentlichte: das Lästermaul (Homer) des Selbstpeinigers (Terenz) (Beck: 2007, 52 – 57; vgl. Beck: 2009, 71 – 83). In seinem Thersites spielte Voetius den vergleichsweise orthodoxen Arminius gegen die späteren Remonstranten und die von diesen favorisierten Sozinianer aus. Interessanterweise verteidigte er nicht nur die reformierte Position, sondern auch die lutherische und sogar die katholische Position gegen remonstrantische Angriffe. Dabei bemühte sich Voetius übrigens ausdrücklich um eine kirchliche Union mit den Lutheranern in Utrecht, was später tatsächlich auch zu vielversprechenden konfessionsübergreifenden Gesprächen führte, letztlich jedoch an der Intervention der deutschen lutherischen Synode scheiterte (1665) (Voetius: 1635, 67ff; Broeyer: 2005, 177 – 193). Der Thersites enthielt nun auch, und das ist hier wichtig, einen Abschnitt zum Verhältnis von Vernunft und Glaube (Voetius: 1635, 173 – 178). Hierin finden sich bereits die wesentlichen Gedanken einer ausführlicheren Disputation De ratione humana in rebus fidei, die Voetius zwei Jahre später am 17. Februar 1636 verteidigen ließ.55 Voetius will dort zeigen, dass die Vernunft unverzichtbar ist für die Theologie, ohne jedoch Prinzip des Glaubens zu sein. Hierzu unternimmt er zunächst eine begriffliche Klärung in der Form von sechs Vorannahmen (praecognita): 54 Siehe für Voetius Goudriaan: 2006, 7 – 14, 29 – 54, 145 – 155, und Beck: 2007, bes. 13 – 206, 426 – 443. 55 Respondent war Lucas Couterfelius. Die Disputation ist abgedruckt in Voetius: 1648, I, 1 – 12. Vgl. hierzu Beck: 2007, 198 – 200.
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Erstens kann die Vernunft im uneigentlichen oder metaphorischen Sinne bezeichnet werden. So gesehen ist die ratio das Licht der natürlichen Erkenntnis, welches äußerlich sein kann, nämlich das Buch der Natur, oder innerlich, nämlich der dem Menschen eingestiftete communis sensus. Davon ist zweitens die Vernunft im eigentlichen Sinn zu unterschieden, die ebenfalls differenziert zu betrachten ist: von ihr kann im abstrakten oder idealen Sinn gesprochen werden, aber auch im konkreten Sinn, sofern der Mensch in einem bestimmten Stand betrachtet wird. Im weiteren Verlauf der Disputation geht es um die Vernunft im eigentlichen Sinn, die sich im konkreten Stand der Korrumpierung durch den Sündenfall befindet, oder aber im Stand der Befreiung durch die Gnade (Voetius: 1648, I, 1 f). Drittens ist das Prinzip des Glaubens in einem doppelten Sinn zu verstehen: einerseits das äußere oder objektive Prinzip ex quo, nämlich das Wort Gottes, und andererseits das innere oder formale Prinzip per quod, nämlich die Illumination durch den Heiligen Geist. Alle Glaubenswahrheiten sind auf das Wort Gottes als das äußere Prinzip zurückzuführen. Viertens gilt es zu beachten, dass das Glaubensobjekt formal die Artikel des seligmachenden Glaubens betrifft, nicht aber solche Wahrheiten, die auch Teil der natürlichen Theologie sind. Fünftens ist die Vernunft das empfangende Subjekt des Glaubens. Und sechstens schließlich ist zu betonen, dass übernatürliche Wahrheiten nicht aus der Vernunft abgeleitet werden können. Dennoch ist die Theologie rational, sofern Schlüsse aus den in der Schrift offenbarten Wahrheiten gezogen werden können. Außerdem ist die Theologie zwar höher als die Vernunft, nicht aber wider die Vernunft.56 Aufgrund dieser Vorannahmen entwickelt Voetius nun die These, dass die Vernunft weder das principium quo ist, also das Prinzip, womit man glaubt, noch das principium ex quo, also das Prinzip, aufgrund dessen oder warum man glaubt. Diese These, die Voetius im Einzelnen mit neun Argumenten begründet, ist gegen die Sozinianer gerichtet – die Angstgegner dieser Zeit. Zwar anerkennt Voetius, dass einzelne Sozinianer gelegentlich unbestimmt bleiben in dieser Frage, aber insgesamt erheben sie doch die Vernunft zum Maßstab der Religion
56 Voetius: 1648, I, 2 f: „Hactenus ergo fides et Theologia nostra tota dici potest rationalis, non quod a priori veritatem suam rationibus necessario demonstret apud negantes principia religionis Christianae; sed quod demonstret conclusiones ex authoritate scripturae, et rationibus ex scriptura deductis, apud eos qui aliquid concedunt eorum, quae divinitus revelata sunt: et quod solvat saltem rationes eorum qui nihil concedunt, quibus illi contraditionis, et absurditatis fidem nostram arguunt, ut recte distinguit, Thomas. p. I. qu. 1. art. 8.“ Tatsächlich rezipiert Voetius hier wesentlich Gesichtspunkte des Gedankengangs des Aquinaten zum angegebenen Artikel „utrum sacra doctrina sit argumentativa“ in dessen Summa theologiae.
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und des Glaubens, etwa in ihren Angriffen auf die Trinitätslehre oder die Christologie (1648, I, 3 f).57 War dieser Abgrenzung gegen die Sozinianer der erste Teil der Disputation gewidmet, so grenzt sich Voetius nun in einem zweiten Teil auf der anderen Seite ab von einigen zeitgenössischen katholischen Theologen. Dabei hat er insbesondere die Jesuiten Jean Gontery und FranÅois V¦ron im Blick. V¦ron lehrte übrigens in La FlÀche Philosophie, als Ren¦ Descartes dort studierte (Voetius: 1648, I, 5 f).58 Wichtig ist nun, dass Voetius sich gegen deren Forderung widersetzt, wonach die Protestanten gegen die Katholiken lediglich Einwände vorbringen könnten, die expressis verbis in der Schrift zu finden sind. Voetius macht zunächst drei Vorbemerkungen. Erstens sei es falsch, dass die Reformierten mit ihrem Sola-Scriptura-Prinzip jedwede rationale Argumentation verneinten. Zweitens werde hier die Beweislast exklusiv den Reformierten aufgeladen. Und drittens arbeiten auch die Gegner mit Argumenten, die den Kirchenvätern und Konzilen entnommen sind (Voetius: 1648, I, 6 f). Als These arbeitet Voetius nun heraus, dass argumentative Theologie zu Recht diskursiv verfährt und Schlussfolgerungen zieht, die aus der Schrift abgeleitet werden können (1648, I, 7).59 Dabei rekurriert das syllogistische Verfahren auf die Axiomata und Prinzipien des natürlichen Lichts, was die Verbindung des Mittelterms mit dem Major angeht. Die Wahrheit der Mittelterms selbst und dessen Verbindung mit dem Minor hingegen sei aus der Schrift allein abzuleiten, sofern es nicht um Wahrheiten der natürlichen Theologie geht. Voetius führt hierzu neun Argumente an, worunter auch das Argument, dass Konzilsbeschlüsse und die mittelalterliche Theologie insgesamt kompromittiert
57 „[D]icimus nullam rationem humanam esse principium quo seu per quod, aut ex quo seu cur credamus, aut fundamentum aut legem, aut normam credendorum ex cujus praescripto judicemus: atque adeo falsum non esse habendum illud in rebus fidei e. g. trinitatem, peccatum originale, Christum he²mhqypom ejusque satisfactionem, quicquid lumen naturale aut ratio humana ex prioribus et notioribus non capiat, vel quod ad accuratam definitionem, vel quod ad demonstrationem, vel quod ad utrumque: sed contra resolvi fidem nostram, ut notat credenda, in S. Scriptura; ut notat actum credendi, in illuminationem Spiritus Sancti.“ Voetius bezieht sich insbesondere auf Christoph Ostorodt (ca. 1566 – 1611), die Catechesis Racoviana (1605 polnisch, 1608 lateinisch), Valentinus Smalcius (1572 – 1624) und – indirekt – auf Joachim Stegman d.Ä. (1595 – 1633). 58 Bedeutender als Gontery war V¦ron, einer der aktivsten französischen Kontroverstheologen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Voetius bezieht sich auf V¦ron, Methodus Veroniana; vgl. hierzu Dompnier : 1985, 179 – 184. 59 „Sententia nostra est, in Theologia Elenctica, seu in refutatione falsitatis e. g. purgatorii, indulgentiarum, etc. discursu, et consequentiis utendum esse, et siquidem praefractus adversarius eas neget, etiam probationibus consequentiarum, non tantum ex sacris litteris, sed etiam ex axiomatis et principiis luminis naturalis sive naturaliter sive technice ex Philosophia et Logica notis, ut appareat apta connexio medii termini cum majori extreme.“
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würden, wenn die argumentative Rolle der Vernunft in der Theologie verneint werde (1648, I, 7 – 12). Insgesamt lässt sich sagen, dass für Voetius die recta ratio durchaus eine unverzichtbare Funktion für den Glauben hat, jedoch im instrumentalen Sinn und nicht als autonome Erkenntnisquelle. Damit soll, trotz aller Einschränkungen, die Rationalität der Theologie gewahrt werden, ohne freilich einem philosophischen Rationalismus das Wort zu reden.
5.
Vernunft und Glaube bei Coccejus
Eine ähnliche Behandlung des Verhältnisses von Glaube und Vernunft findet sich bei Johannes Coccejus, der bekanntlich als der bedeutendste Föderaltheologe gilt und nacheinander in Bremen (ab 1630), Franeker (ab 1636) und Leiden (ab 1650) eine Professur bekleidete.60 Wie Willem von Asselt gezeigt hat, sind für die vorliegende Thematik insbesondere die Aphorismi per universam theologicam (ca. 1650) und die Summa theologiae ex Scripturis repetita (1662) von Interesse (Van Asselt: 2001a, 231 – 241). In den Aphorismi breviores handelt die erste Disputation von der Theologie und deren Prinzipien.61 Das heilbringende Prinzip der Theologie ist das Wort Gottes, nämlich das, was Gott ausdrücklich sagt oder was hieraus folgt.62 Durch dieses Wort Gottes wiederum wird „die (im Menschen verdunkelte) natürliche Theologie erhellt und von falschen Meinungen gesäubert“.63 So wird die Wahrheit im Ergebnis durch ein „doppeltes Prinzip“ erkannt.64 Coccejus distanziert sich dabei von Socinus, der die dem Menschen eingestiftete natürliche Gotteserkenntnis leugnete – dies war auch für Voetius ein wichtiger Kritikpunkt am Sozinianismus.65 Gegen die Sozinianer gerichtet ist wohl auch die grundlegende These, wonach die Vernunft der Theologie zu Hilfe kommt, ohne diese zu beherrschen. In diesem Zusammenhang kommen, ähnlich wie auch bei Keckermann, die „gemischten Propositionen“ zur Sprache: der Theologe „beurteilt“ diese „in verschiedener Hinsicht nach dem Wort Gottes, der Vernunft und der Erfahrung“.66 Somit „zerstört die Theologie nicht die Vernunft, sondern voll60 61 62 63
Siehe zu Coccejus Van Asselt: 2001b; Van Asselt: 2001a, 227 – 251. Coccejus, Aphorismi breviores, disp. 1 (Opera Omnia VI, 3 f). Ebd., disp. 1, §§ 16 f. Ebd., § 18: „Per verbum Dei Theologia naturalis (in homine obscurata) illustratur et a falsis opinionibus expurgatur.“ 64 Ebd., § 19. 65 Ebd., §§ 11 f. Vgl. Voetius: 1635, 179 – 185; Voetius: 1648, I, 140 – 166; Beck: 2007, 159 – 174. 66 Coccejus, Aphorismi breviores, disp. 1, § 20: „Ratio subservit Theologiae non imperat. De propositionibus mixtis Theologus sive fidelis judicat secundum verbum Die, rationem et experientiam, diverso respectu.“
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endet sie und überragt sie häufig.“67 Deshalb kann es auch einige Glaubenswahrheiten geben, die das menschliche Verstehen übersteigen.68 Insgesamt stellt Coccejus fest, dass philosophische Prinzipien in der Theologie verwendet werden können, ohne eine illegitime Grenzüberschreitung zu vollziehen, wobei jedoch die Vernunft sich nicht als Herrscherin der Theologie aufspielt.69 In den Aphorismi prolixiores, deren zweite Disputation von den Prinzipien der Theologie handelt, ergibt sich ein ähnliches Bild.70 Das Prinzip der Theologie ist weder die Autorität der Amtskirche, noch die menschliche Vernunft, sondern die göttliche Offenbarung, die gewöhnlich im Wort Gottes zu finden ist.71 Dennoch steht die Theologie nicht im Gegensatz zur gut informierten menschlichen Vernunft.72 Vielmehr soll die Vernunft solche „Termini, die dem menschlichen Wesen und der Vernunft entgegenstehen“, beurteilen.73 Die Warnung des Apostels in Kolosser 2,8 bezieht Coccejus auf Philosophen, die ohne „geistliches Licht“ auskommen und deren Maximen sich auf „Erfahrung allein und induktive Schlüsse aus körperlichen und endlichen Dingen“ stützen oder gar auf einer „Verblendung des Geistes“ beruhen.74 Auch hier gibt es keine wesentlichen Abweichungen zur entsprechenden Deutung bei Keckermann oder Voetius.75 Nicht wesentlich anders als in den Aphorismen bestimmt Coccejus in seiner Summa theologiae das Verhältnis von Glaube und Vernunft.76 Interessant sind besonders die Ausführungen im Kapitel „De Fide“, wo er unter anderem die Frage behandelt, inwiefern der Glaubensakt sich auch auf dasjenige erstreckt, was ohne Bezeugung der Sinne oder einer Autorität mit evidenter oder notwendiger Vernunftsbegründung gewusst werden kann.77 Coccejus bejaht die Frage mit einigen Nuancierungen und weist dabei auf den apostolischen Grundsatz, wonach der Glaube das Denken „in den Gehorsam gegen Christus“ stelle (2Kor 10,5). Dennoch „hebt der Glaube die Nüchternheit und das Licht des Geistes sowie die auf natürliche Weise gekannte Wahrheit nicht auf oder schließt
67 Ebd., § 21. Man beachte den Anklang an das bekannte Diktum bei Thomas, S.Th. I, q. 1, a. 8, ad 2: gratia non tollat naturam, sed perficit. 68 Ebd., § 22. Coccejus nennt als Beispiel den concursus divinus. 69 Ebd., § 24: „Igitur principiis philosophicis uti in Theologia non est let\basir eQr %kko c]mor, neque est rationem facere dominam Theologiae.“ 70 Coccejus, Aphorismi prolixiores, disp. 2 (Opera Omnia VI, 19 f). 71 Ebd., disp. 2, §§ 1 – 3, 7 f. 72 Ebd., § 4. 73 Ebd., § 5: „Itaque termini humani et rationi obvii per rectam rationem sunt dijudicandi.“ 74 Ebd., § 6. 75 Siehe oben zu Keckermann und vgl. Voetius: 1648, III, 751. 76 Coccejus, Summa theologiae, cap. 1 (Opera omnia VI, 5a–9b). 77 Ebd., cap. 46, § 6 (Opera omnia VI, 149b–150a).
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diese aus“. Vielmehr macht er sich diese zu Nutze. Der Glaube ist ein „vernünftiger Gottesdienst“, nicht unvernünftig.78 Insgesamt gilt auch für Coccejus, dass die Theologie ohne Anwendung der Logik unmöglich ist und diese daher auch keine metabasis eis allo genos mit sich zieht. Für Coccejus wie für Voetius sind Vernunft und Logik unverzichtbare Instrumente für die Theologie. Dies ist auch deshalb zu betonen, weil die ältere Forschung – man denke etwa an Charles McCoy (1956, 89 f, 136, 140, 246, 254, 356) und Heiner Faulenbach (1973, 179 f, vgl. jedoch 80) – einen Kontrast zwischen Voetius und Coccejus konstruiert hatte, wonach Voetius ein rationalistischer Scholastiker und Coccejus im Gegenzug ein antischolastischer Bibeltheologe gewesen sei. Diese ältere These ist in verschiedener Hinsicht eine starke Verkürzung.79 In diesem Zusammenhang ist auch erwähnenswert, dass, ähnlich wie Keckermann, sowohl Voetius als auch Coccejus die Theologie insgesamt als eine praktische und nicht theoretische oder spekulative Disziplin verstanden. Bei Voetius waren hier jedoch die Bezüge zu Duns Scotus wohl klarer ausgeprägt als bei Coccejus.80 Ein deutlicher Unterschied zwischen Voetius und Coccejus ist freilich in ihrer jeweiligen Beurteilung des Cartesianismus zu beobachten, aber auch hier stellt sich die Lage weitaus komplexer dar, als in der älteren Forschung angenommen wurde.81 Die Konvergenz zwischen Voetius und Coccejus im Verhältnis von Glaube und Vernunft ist vielleicht weniger überraschend, wenn man bedenkt, dass die von Voetius vertretene Verhältnisbestimmung zum Gemeingut in der reformierten Theologie des 17. Jahrhunderts wurde. So begegnen etwa bei Johann Heinrich Heidegger in Zürich (1700, loc. 1, th. 30 – 47 [9a–15b]; vgl. Te Velde: 2008, 242 – 253) oder FranÅois Turrettini in Genf (1679, I, loc. 1, q. 8 – 13 [I, 24 – 49]; vgl. Rehnman: 2002, 255 – 269) ganz ähnliche Formulierungen, jeweils mit Abgrenzungen gegenüber den Sozinianern einerseits und jesuitischen Kontroverstheologen andererseits.
78 Ebd., § 6 (Opera omnia VI, 150a): „Igitur fides vincit sane ratiocinationes et omnem rationem captivat in obedientiam Christi, sed tamen mentis sobrietatem et lucem et notam naturaliter veritatem non tollit, vel excludit, sed per eam ipsam vincit. Nam Deus sibi non est contrarius. Fides est kocijµ katqe_a rationalis cultus, non %kocor ratione carens.“ Hier klingt neben 2 Cor 10,5 auch Rom 12,1 an. Siehe ausführlich zu diesem Zitat Van Asselt: 2001a, 240 f. 79 Siehe insgesamt Van Asselt: 2001a, 227 – 251, und vgl. Beck: 2007, 91 – 96. 80 Siehe oben zu Keckermann und vgl. zu Voetius ausführlich Beck: 2007, 175 – 181, und zu Coccejus Van Asselt: 2001b, 28, 75, 102, 125, 134. 81 Siehe insgesamt Verbeek: 1992, 1 – 33 und Bac: 2010, 211 – 257, zu Voetius Goudriaan: 2006, 5 – 53 und Beck: 2007, 149 – 174, und zu Coccejus Van Asselt: 2001b, 79 – 94.
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6.
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Fazit – Rationalität versus Rationalismus
Zur Thematik wäre natürlich viel mehr zu sagen. So habe ich relevante Fragen in Bezug auf die theologia naturalis nur gestreift und bin etwa auch nicht auf das komplexe Verhältnis der reformierten Orthodoxie zum aufkommenden Cartesianismus eingegangen, da ich dies andernorts getan habe.82 Wir haben jedoch gesehen, dass die Verwendung der scholastischen Methode in der reformierten Orthodoxie nicht zu überraschen braucht, da diese, bei allen frühneuzeitlichen Neuerungen, bis zum Ende des 17. Jahrhunderts die an den Universitäten und Hohen Schulen übliche Methode blieb. Zugleich gilt es die Vielschichtigkeit des Begriffs „Scholastik“ zu beachten. Keckermann stand mit der Ablehnung einer duplex veritas und seiner Betonung der grundlegenden Einheit von Philosophie und Theologie, die auf der Einheit der von Gott herrührenden Wahrheit beruhte, in der Tradition der Pariser Verurteilungen von 1277. Voetius und Coccejus schließlich gewährten der Vernunft eine unverzichtbare argumentative Rolle in der Theologie und sicherten so deren Rationalität, ohne jedoch einem philosophischen Rationalismus das Wort zu reden. Zugleich wahrten sie das reformatorische sola Scriptura, indem sie eine Funktion der Vernunft als selbständige Erkenntnisquelle oder Prinzip des Glaubens ablehnten. Die Philosophie ist hier noch als unterstützend gedacht, sie ist ancilla theologiae. Keckermann, Voetius und Coccejus standen auf je eigene Weise auf dem Boden der Reformation und zugleich in der Tradition des fides quaerens intellectum.
Abkürzungen (nicht in RGG4) LuSt
Luther, Martin, Studienausgabe, hg. von Hans-Ulrich Delius in Zusammenarbeit mit Helmar Junghans, Berlin 1979-. Thomas, S.Th. Thomas von Aquin, Summa Theologiae. In: Opera omnia iussu impensaque Leonis XIII P. M. edita, Bd. 4 – 12, Rom 1888 – 1906.
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Developments in Structuring of Reformed Theology: The Synopsis Purioris Theologiae (1625) as Example
Abstract The Synopsis Purioris Theologiae (1625), an influential handbook of Reformed dogmatics, began as a cycle of disputations. A comparison of it with the cycles that were held previously in Leiden reveals some shifts in the structure of Reformed dogmatics. After introducing the Synopsis, this paper highlights the function of prolegomena, the place of predestination, and the relationship between the magistrate and eschatology. It concludes that the choices made in the Synopsis illustrate tensions in Reformed theology. After the conflict with the Remonstrants it became urgent to carefully define the character of theology in the prolegomena, to relate predestination to the person and work of Christ, and to connect the task of the magistrate to the doctrine of the church.
Synopsis The several editions of John Calvin’s Institutes show that the truly edifying manner of presentation (recte ordo docendi) was important to the Reformed tradition from the beginning (Muller : 2000, 118 – 139; Holder : 2009, 387). Other early structures which influenced Protestant dogmatics were the Loci Communes compiled by Phillip Melanchthon and Peter Martyr Vermigli. The structure of these three works, however, does not immediately flow from the practice of teaching. During the process of confessionalization, however, there were dogmatic textbooks that began as series of disputations held at the universities in Protestant countries. One of these textbooks, the Synopsis Purioris Theologiae, was published in the Dutch Republic shortly after the Synod of Dort, and the structure of this book reveals some of the tensions in Reformed theology, for instance, the debate on predestination and the church-state relationship. Before turning to the structure of the Synopsis, we shall first provide a short
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introduction of the work and four authors.1 In 1625, six years after the Synod of Dort (1618 – 1619), the theological faculty of Leiden University published an important summary of reformed theology, titled Synopsis of Purer Theology. The Synopsis had its origins in a series of public disputations that were held at Leiden from 1620 – 1624, and the arrangement of its chapters reflects the order of these disputations. Thus the structure of the Synopsis shows how the topics were arranged, not only systematically but also didactically. The preface of the Synopsis, from 28 December 1624, dedicates the work to the States-general of Holland and West-Friesland. The four authors hope that the book will be like the North Star for the students and claim that it shows the “total single-mindedness in what we believe and think, and that we share a consensus in all the headings of theology” (Te Velde: 2014, 27). After the controversy between Jacobus Arminius and Franciscus Gomarus in Leiden, the faculty wanted to display theological unity. Johannes Polyander Kerckhoven (1568 – 1646) was the only one of the four authors who had served as professor before the Synod of Dort. Previously he had studied at Heidelberg and Geneva. In 1591 he was called to minister to the Walloon church in Dordrecht, and in 1611 he was appointed as professor of theology in Leiden, and he occupied the chair Gomarus had vacated. He was known as a peaceable man and irenic theologian. He had to accept the Remonstrant Simon Episcopius as a colleague, but both were free to teach according to their own insights. In 1619 the States of Holland and West-Friesland reformed the university by removing Episcopius and appointing three new professors of theology. Antonius Walaeus (1573 – 1639) of Middelburg was asked to teach dogmatics. Walaeus was born in Ghent and had studied in Leiden. He had been a delegate to the Synod of Dort on behalf of Zeeland. He taught in Leiden for twenty years and founded a special seminary to train pastors for the West-Indies, the Collegium Indicum. The second new professor, Antonius Thysius (1565 – 1640) from Harderwijk, was appointed to teach Old Testament. He was born in Antwerp and had also studied Arts and Theology in Leiden. In 1601 he started as professor of Grammar and Logic in Harderwijk and he too had been a delegate to the Synod of Dort. In the fall of 1620 Andreas Rivetus (1572 – 1651) was added to the faculty. Rivet had served as a pastor in France and was expected to attract French students to the university. He remained there for twelve years, after which he worked for the stadholder Frederik Hendrik as a secretary and as the private teacher of his son. 1 For an extensive introduction, see Sinnema/van den Belt (2012). I thank Donald Sinnema for his permission to use this joint article as a basis for this short introduction. I thank Riemer Faber for some helpful comments and for proofreading my text.
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The Cycle The first nine disputations of the Synopsis were presided by Polyander, Walaeus, and Thysius in turn; when Rivetus joined the faculty he took the second place as presider after Polyander, and thus the colleagues presided in the order of Polyander, Rivetus, Walaeus, and Thysius. A publication of the orations of the first three professors contains a catalogue of the titles of 52 topics, or loci; a comparison of this list with the 52 disputations given in the table of contents of the 1625 Synopsis shows the topics are identical, though in some cases the titles of the disputations and of the chapters in the Synopsis differ slightly from those in the Catalogus (Sinnema/van den Belt: 2012, 516). The first disputation in the Synopsis cycle was defended by Johannes Swalmius (1596 – 1661) on 6 February 1620, with Johannes Polyander as presider. Swalmius was a senior student, a minister in Valkenburg, near Leiden, from 1621 – 1661. All the participating students about whom information could be traced left Leiden soon after defending disputations in the Synopsis series; this implies that the respondents in this series were senior students. The original disputation was titled “The First of the Theological Disputations: Concerning the Truth of Theology.”2 In the Synopsis the title changed into “Concerning the Most Sacred Theology” (Te Velde: 2014), and that is the same title as in the original catalogue: “De SS. Theologia” (Polyander : 1620, 3, cf. Sinnema/van den Belt: 2012, 532). Each disputatio bears the name The First [Second, Third, Fourth, etc.], of the Theological Disputations, followed by designation of the topic, and each consists of 30 to 60 theses, often supplied with proofs from Scripture, and occasionally supplemented with a corollary or an antithesis. One of the professors is the presider, and the theses are defended by a student, called the ‘respondent’, against the attacks of one or more fellow students, the ‘opponents’. Although in general little is known about the exact way in which theses were defended, in the case of the Synopsis we do have some information from the diary of Everhardus Bronchorst, professor in the law faculty from 1587. He served as an opponent in more than one of the Synopsis disputations, for instance, in the one on the authority Scripture presided by Walaeus. He argued that the authority of Scripture in some way depends on the church from 1 Timothy 3 where the church is called a pillar and support of the truth. “I insisted so vigorously on my opinion that the presider could not give me a sufficiently proper answer, as most 2 No copy of this disputation has been traced to date. The title, however, does occur in a nineteenth-century catalogue: “Polyander, J., De veritate theologiae (def. J. Swalmius). L.B. 1620. 12 pp. 48” (Muller/van Slee: 1868, 372).
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of the students can testify, for he stupidly explained it as a kind of announcement board attached to a pillar” (Bronchorst: 1898, 147 f). We do not know how this critical attitude relates to his own opinion; Bronchorst was a respected elder in the Reformed church of Leiden, but, of course, his personal diary was not written for publication and perhaps he merely brought these questions up for the sake of the discussion.
Structure The general structure of the Synopsis is not very surprising for those who are acquainted with Reformed theology. Starting with the prolegomena, the series then turns to the principia of Reformed theology : the doctrine of Scripture and theology proper, including the doctrine of the Trinity. After creation, the Law and the Gospel are discussed, while Christology, soteriology and ecclesiology follow; the series ends with eschatology. In greater detail, the structure consists of the following ten parts: 1) The nature of theology (1) and the doctrine of Scripture (2 – 5). 2) The essence of God and His attributes (6), and the Trinity (7 – 9). 3) Creation (10) and providence (11), including angelology (12) and anthropology (13). 4) The fall (14) and its consequences regarding sin (15 – 16), and the human will (17). 5) Law (18) – with a detailed discussion of its first table (19 – 21) – and Gospel (22), with a discussion of the two testaments (23). 6) Soteriology, from predestination (24) via the person and work of Christ (25 – 29) to the personal application in the call (30), faith (31), penance (32) justification (33), sanctification (34) and Christian liberty (35). 7) Some anti-Roman Catholic topics (36 – 39). 8) Ecclesiology (40), including Christ as the head of the church (41), the office of the ministers (42), the sacraments (43 – 46), and the five false sacraments (47), church discipline (48). 9) The relation between church and state as treated by the councils (49) and the magistrate (50). 10) Eschatology (51 – 52). It is interesting to compare the structure of the Synopsis with the structures of other series of disputations. One of the first cases in which the disputations in a publication were first held as a series and in which the recte ordo docendi relates to the practice of teaching are the Theses theologicae in Schola Genevensi, originally a cycle of 81 disputations presided over by Theodore Beza and Antoine
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de La Faye from July 1581 to June 1586 (Heyer: 1898, xxii, 9 – 20). The series opens with a discussion of theology proper (1 – 11), first offering some principia, then turning to the trinity and the attributes of God and ending with providence and predestination. The next section discusses anthropology (12 – 18), creation (12), free-will (16) and sin (17). Soteriology (18 – 40) starts with justification and ends with the Law and repentance. Then the series follows the Apostles Creed (41 – 51) from the conception of Christ to the communion of saints. Next come the Word of God (52), together with councils (53) and traditions (54), the sacraments (55 – 62) and prayer (63 – 71), including explanation of the Lord’s prayer. The series ends with the ministry and discipline (72 – 76), the magistrate (77), the remission of sins (78), the resurrection of the flesh (79) and eternal life (80). At present however we will focus on the relationship of the Synopsis’s structure of previous series of disputations held in Leiden. To understand the evolution of the ordo docendi it is important to realize that the Synopsis cycle continues a tradition of cycles of theological disputations that began in 1596. A comparison with the six cycles of disputations held prior to the Synod of Dort reveals some remarkable choices of the Synopsis.3 The first cycle, presided in 1596 and 1597 by Franciscus Junius (1545 – 1602), Lucas Trelcatius Sr. (1542 – 1602), and Franciscus Gomarus (1563 – 1641), opens with a disputation on The Authority of Holy Scripture and ends with the 36th disputation On the Magistrate.4 The general structure of this cycle is the doctrine of Scripture (1 – 5), the doctrine of God, including Christology, providence and predestination (6 – 10), the church (11 – 14), the nature of faith and justification (15 – 23), the sacraments (24 – 26), Roman Catholic errors (27 – 35), and finally the magistrate (36). Some of the titles expressly refer to positions held in the Roman Catholic church; for example, On the True Marks of the True and Visible Church of Christ on Earth (12), That the Roman Pope is not the Head of the Church (14), and Regarding the Adoration of the Eucharist (28). It is not clear if the professors planned the topics of the whole cycle beforehand. After this original cycle was completed, five repetitions (repetitiones) were held; the number of disputations and the topics in the later repetitiones vary from the original cycle and from each other. The first repetition ran from December 1597 to March 1601 and consisted of 63 disputations, again presided by Junius, Trelcatius, and Gomarus. This series was published ten years later in Hanover, under the title Compendium theologiae (Junius/Trelcatius/Gomarus: 3 For the details see Appendix A ‘The Structure of the Cycles of Disputations in Leiden (1596 – 1639)’. 4 For a complete list of the disputations see ‘Appendix A: List of the First Leiden Cycle of Theological Disputations’ in Sinnema/van den Belt (2012), 529 ff.
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1611) When one compares its structure to that in the original series, one observes some differences. Whereas the original cycle begins with a disputation on the authority of Scripture, this series starts with the prolegomena. The disputation On True Theology is defended under Junius by the student Antonius Walaeus, the later co-author of the Synopsis (Junius: 1597). The second disputation “Concerning the Natural and Revealed Knowledge of God” (Trelcatius: 1598) is remarkable because, according to Reformed orthodoxy, also the natural knowledge of God is revealed knowledge. It might be interesting to analyze how this disputation pertains to a discussion about the function of natural theology in the development of Reformed theology. Heinrich Heppe opens his survey of Reformed theology with an independent locus, titled “De theologia naturali et revelata” (Heppe: 1861, 1). According to some this is a fatal misunderstanding, because Heppe does not take into account that natural and revealed theology were treated within the broader epistemological framework of archetypal and ectypal theology (Van Asselt: 2004, 95). Karl Barth followed Heppe’s analysis and consequently misunderstood the Reformed orthodox view of natural theology as an independent forecourt of and preparatory step to real theology ; he therefore rejected natural theology altogether. Barth might have been misguided by Heppe, but at least the title of Trelcatius’ disputation shows that some Reformed ‘manners of presentation’ did contain a separate locus “De cognitione Dei naturali et revelata.” Although there are still some anti-Roman Catholic titles, the repetition covers the whole range of theology better than the first cycle. It discusses prolegomena and Scripture (1 – 7), theology proper (8 – 12), creation and providence (13 – 17), sin, the law and the gospel (18 – 23), Christology (24 – 30), soteriology, including justification, good works, predestination and eternal life (31 – 42), ecclesiology, including some of the anti-Roman Catholic topics (43 – 55), the sacraments (56 – 62), and finally the magistrate (63). A second repetition was much shorter, consisting only of 24 disputations, the first on the authority and perfection of the written Word, the last on the Lord’s Supper.5 Once again, these were presided by Junius, Trelcatius, and Gomarus. After Trelcatius sr. died in August 1602, the third repetition (46 disputations) was started by Junius and Gomarus in September 1602 and continued by Gomarus alone when Junius also died after presiding over the third disputation (Arminius: 2010, 592). When Lucas Trelcatius Jr. (1573 – 1607) and Jacobus Arminius (1560 – 1609) were appointed in May and July 1603, they joined the
5 The Leiden University library has these separately printed disputations bound in one volume, under the title, “Disputationes theologicae XXIV, sub praesidio F. Junii, L. Trelcatii et F. Gomari in Academia Lugd. Batava defensae.”
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cycle, which ended with a disputation presided by Trelcatius jr. on the magistrate (Trelcatius jr.: 1604). By this time the controversy between Gomarus and Arminius had come to the surface. Gomarus even organized a random disputation on predestination as a reaction to the views of Arminius, whose turn it was to preside over the public disputation on this topic (Stanglin: 2007, 26). The fourth and fifth repetitions follow the structure of the third one, with only small changes; the fifth repetition, for example, has two extra disputations on Scripture and two extra ones on good works, one regarding the first and one regarding the second table of the law. After the death of Arminius in October 1609 the fifth repetition ends abruptly with disputations On Predestination under Gomarus and On the Call of Human Beings to Salvation under Arminius.
Three Differences A comparison of the structure of the Synopsis with that of its predecessors reveals at least three remarkable choices. In the first place, only once before had the doctrine of Scripture been preceded by a more general introduction into theology, and that was by Franciscus Junius, the architect of the Post-Reformation distinction between theologia ectypa and archetypa. The fact that Polyander does not discuss archetypal theology in this first disputation has been interpreted as a sign that he was less ‘scholastic’ than some of his peers and emphasized the revealed character of our knowledge of God and the practical character of theology (van Itterzon: 1931, 70); but the fact that he started the series with a disputation concerning the nature of theology, on the contrary, indicates a strong emphasis on the prolegomena of theology. Polyander defines theology as the knowledge or wisdom of the divine matters that God has revealed to people in this world through ministers of his word inspired by the prophetic Spirit, and that He has adapted to their capability, to lead them to knowledge of the truth which accords with godliness and renders them wise unto their own salvation and God’s eternal glory (Te Velde: 2014, 35).
In this introduction theology is discussed according to the Aristotelian categories of cause. God is the efficient cause of theology. The instrumental cause is the Word of God, the form – or formal cause – is the truth and the goal or the final cause can be distinguished in a) that it offers knowledge of the truth b) that it renders people wise unto salvation and c) that it promotes the glory of God. A second remarkable change is the place of predestination in the series. In the original cycle the disputation on predestination follows immediately after the
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Trinity, Christology, and providence. Then, in the first repetition of the original series both Christology and predestination are moved backwards and predestination ends up in the last part of soteriology only followed by the call and eschatology. In the second repetition however it moves forward again and is joined with providence, although Christology does not move along with it. The third to the fifth repetitions move it backwards again to the end of soteriology. Not every published series of disputations was held in the order suggested by the index of the book in which they were published. The collected disputations of Junius in his Opera, for instance, do not resemble the order in which they were held in Leiden. The disputations on predestination are placed between those on the divine attributes and those on the Trinity, while that was not its place in the cycles in which he was a presider (Junius: 1607). The choice made in the Synopsis is interesting for two reasons. The authors do not connect predestination immediately with the doctrine of God or with Providence. The survey of Heppe suggests that this was its normal place in Reformed orthodoxy (Heppe: 1861, 110). This was the case in some instances, as the lists of Leiden disputations show, but the frequent shifts in the structure reveal a tension in Reformed theology on this specific topic. The Synopsis connects predestination with Christology. Before turning to Christ’s incarnation, offices, humiliation and exaltation, the Synopsis first explains for whom Christ did all his work. Or, as the opening thesis of the disputation on the incarnation says, having treated predestination, “it follows that we should next give separate treatments of what is the object of the Gospel and the basis for the new covenant, namely, the person of Christ, or the incarnation of the Son of God, and the personal union of the two natures of Christ” (Polyander/Rivetus/Walaeus/Thysius: 1881, 238, translation Riemer Faber). This choice is also interesting because the Synopsis dissolves the unity of the two disputations on predestination and the call (Van den Belt: 2012, 547 f). Prior to the synod, the disputations on the vocatio were placed between the disputations on divine predestination and on the resurrection of the flesh and everlasting life. The Synopsis, however, places five disputations on the work of Christ between predestination (disputation 24) and the call (disputation 30). The disputations on the vocatio before the Synod of Dort mostly open with a reference to the previous disputation on predestination, defining the call as the execution of predestination. The disputations after the Synod of Dort – not only in the Synopsis-cycle, but also other disputations – however, prefer to speak of the call as the execution of election rather than as the execution of predestination (Van den Belt: 2012, 548). On the other hand, in the Synopsis for the first time soteriology starts with the call and no longer with faith, which also indicates an important switch in emphasis: salvation starts with the effectual call through Word and Spirit.
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The third interesting difference is the end of the series. Whereas all its predecessors close with politics – except for the short second repetition that ends with the Lord’s Supper – the Synopsis closes with eschatology. The relationship between politics and the kingdom of God has always been full of tension in the Reformed tradition. Even in the subsequent editions of the Institutes this tension is an issue. Calvin ended the first edition with Christian liberty and the magistrate. In later editions he added paragraph on the meditation of the future life, but in the final edition he moves the paragraphs on Christian liberty and the future life to other parts of the Institutes and closes his magnum opus with politics, leaving next generations with the impression that the magistrate is one of the external means of grace. Maybe the structure of the final edition of the Institutes influenced the series prior to Dort. Possibly the Synopsis simply follows the order of the closing articles of the Belgic Confession, but the Synod of Dort might also play a certain role here. The fact that the disputation on the Magistrate is immediately preceded by one on the Church Councils – a novum in the series – implies that the authors of the Synopsis wanted to define the church-state relationship carefully. A closer study of the content of both disputations might make this connection clearer, but at least Polyander emphasizes the duty of the magistrate to take the lead in organizing a synod for a disrupted church (Polyander/Rivetus/Walaeus/ Thysius: 1881, 621). If the discussion of the magistrate is tied closely to ecclesiology, then eschatology naturally becomes the final theme of the series.
The Repetitions of the Synopsis Like the series before the Synod of Dort, the Synopsis series was repeated several times. The first repetition (1625 – 1628) is titled Disputationum theologicarum repetitarum prima, [secunda, etc.], with the subject as subtitle. Compared to the original Synopsis series, the disputations of the first repetition are much shorter, probably because the curators decided in 1625 that the theses published at the expense of the university had to fit on one printed sheet. Some of them consist almost exclusively of literal quotes and statements from the original, as if the professor or the student just summarized the argument. In other cases, however, the text is remarkably different (Sinnema/van den Belt: 2012, 525). In total there were four repetitions up to 1639. The greatest difference between these repetitions and the cycles prior to the Synod of Dort is that the list of subjects remained fixed. This fact alone testifies to the influence of the Synopsis on later theological instruction at Leiden. The influence of the Synopsis continued even after the repetitions were replaced by later cycles presided by other professors. According to Johannes Henricus Coccejus his father Johannes
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Henk van den Belt
Coccejus divided the theological topics with his colleagues and kept the order that was observed in the Synopsis – though with slight changes. (Coccejus: 1673, cf. Sinnema/van den Belt: 2012, 526).
Conclusion The development of the ordo docendi in Leiden implies that there always is a relationship between the order in which things are taught and their content and even their context. No doubt the discussions at the Synod of Dort influenced the content and structure of the cycle of disputations that were held after the synod. The Leiden professors to some extent felt the need to think in didactic terms about the alignment of the themes before starting with the course of pure or rather purer theology. The arrangement of teaching is essential for the right way of teaching. The choices of the Leiden professors illustrate the tensions in Reformed theology. Apparently, after the conflict with the Remonstrants, the Leiden theologians felt the need of a) carefully defining the character of theology in the prolegomena, b) relating predestination to the person and work of Christ, and c) connecting the task of the magistrate to the doctrine of the church. These tensions are still not solved today. But exactly these tensions make theology such a breath-taking endeavor.
Literature Arminius, Jacobus (2010), The Missing Public Disputations of Jacobus Arminius: Introduction, Text, and Notes, Keith D. Stanglin (ed.), Leiden: Brill. Beza, Theodore/Antoine de La Faye (1586), Theses theologicae in Schola Genevensi ab aliquot sacrarum literarum studiosis sub D.D. Theod. Beza & Antonio Fayo S. S. theologiae professoribus propositae & disputatae, Geneva: Vignon. Bronchorst, Everardus (1898), Diarium: sive Adversaria omnium quae gesta sunt in Academia Leydensi, 1591 – 1627, Jacob Cornelis van Slee (ed.), The Hague: M. Nijhoff. Coccejus, Johannes Henricus (1673), ‘Praefatio’ in Johannes Coccejus, Opera omnia theologica, exegetica, didactica, polemica, philologica: divisa in octo volumina, Amsterdam: Johannis a` Someren. Heppe, Heinrich (1861), Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche, Elberfeld: Friderichs. Heyer, Henri (1898), Catalogue des the`ses de the´ologie soutenues a` l’Acade´mie de Gene`ve pendant les XVIe, XVIIe et XVIIIe sie`cles, Geneva: Georg. Holder, R. Ward (2009), Calvin’s Theology : Tradition and Renewal, in: Herman Selderhuis (ed.), The Calvin Handbook, Grand Rapids: Eerdmans, 384 – 395.
Developments in Structuring of Reformed Theology
299
Junius, Franciscus (1597), Theologicarum disputationum repetitarum prima, de vera theologia, Antonius Walaeus respondent, Leiden: Joannes Patius. Junius, Franciscus/Lucas Trelcatius/Franciscus Gomarus (1611), Compendium theologiae thesibus in Academia Lugduno-Bat. […] publice propositis, Hanover: Guilielmus Antonius. Junius, Franciscus (1607), Opera theologica, Paullus Merula ed., Geneva: Caldorianis. Muller, F./J.C. van Slee (1868), Catalogus dissertationum et orationum theologicarum defensarum ab a. 1650 ad 1850 in academiis Neerlandiae, Germaniae, Sueciae collectarum a Fred. Muller, Amsterdam: F. Muller. Muller, Richard A. (2000), The Unaccommodated Calvin: Studies in the Foundation of a Theological Tradition, New York: Oxford University Press. Polyander, Johannes (1620), Orationes inaugurales a SS. theologiae professoribus, Leiden: J. Marci. Polyander, Johannes/Antonius Rivetus/Antonius Walaeus/Antonius Thysius (1881), Synopsis Purioris Theologiae, H. Bavinck (ed.), Leiden: Donner. Sinnema, Donald/Henk van den Belt (2012), The Synopsis Purioris Theologiae (1625) as a Disputation Cycle, CHRC 92, 505 – 537. Stanglin, Keith D. (2007), Arminius on the Assurance of Salvation: The Context, Roots, and Shape of the Leiden Debate, 1603 – 1609, Leiden: Brill. Trelcatius, Lucas (1598), Disputationum theologicarum repetitarum secunda, de cognitione Dei naturali et revelata, Gulielmus Coddaeus respondent, Leiden: Patius. Trelcatius jr., Lucas (1604), Disputationum theologicarum quadragesima-sexta et ultima de magistratu, Samuel Czaplinius respondent, Leiden: Patius. Te Velde, Dolf, Willem J. van Asselt, William den Boer (eds.) (2014) Riemer A. Faber (trans.), Synopsis purioris theologiae, Synopsis of a Purer Theology : Latin Text and English Translation, vol. 1, Leiden: Brill. Van Asselt, W.J. (2004), ‘Wees maar goed orthodox, dan word je vanzelf vrijzinnig’ Enkele opmerkingen en vragen bij Frans Breukelmans reconstructie van het Theologisch dualisme in de gereformeerde traditie, Kerk en Theologie 55, 93 – 108. Van den Belt, Henk (2012), The Vocatio in the Leiden Disputations (1597 – 1631): The Influence of the Arminian Controversy on the Concept of the Divine Call to Salvation, CHRC 92, 539 – 559. Van Itterzon, G.P. (1931), Het gereformeerd Leerboek der 17de Eeuw “Synopsis Purioris Theologiae”, Den Haag: Nijhoff.
Appendix A – The Structure of the Cycles of Disputations in Leiden (1596 – 1639)
2 De cognitione Dei naturali, et revelata Scripture Scripture
Franciscus Junius, Lucas Trelcatius Sr., and Franciscus Gomarus
Second repetition (1601 – 1602)
Scripture
Franciscus Junius, Franciscus Gomarus, Lucas Trelcatius Jr., and Jacobus Arminius
Third repetition (1602 – 1604)
3 De sacrae scriptur- 5 De perfectione ae perspicuitate sacrae scripturae
1 De sacrae scriptur- 3 De sacra scrip- 1 De auctoritate et 1 De scriptura (?)e) ae auctoritate tura, et partibus perfectione verbi eius divini scripti 2 De sacra scripturae 4 De authoritate 2 De scriptura (?) perfectio sacrae scripturae
Scripture
Franciscus Junius, Lucas Trelcatius Sr., and Franciscus Gomarus
Franciscus Junius, Lucas Trelcatius Sr., and Franciscus Gomarus
Prolegomenad) 1 De vera theologia
First repetitionb) (1597 – 1601)
First dogmatic cycle (1596 – 1597)a)
Scripture
Franciscus Gomarus, Lucas Trelcatius Jr., and Jacobus Arminius
2 De sacrae scripturae necessitate atque auctoritate 3 De libris canonicis & apocryphis
Scripture
Prolegomena 1 De ss theologia
Synopsis Purioris Theologiae and its repetitions (1620 – 1639)c) Johannes Polyander, Andreas Rivetus, Antonius Walaeus, and Antonius Thysius
3 De perfectione 4 De s scripturae sacrae scriptur- perfectione, & ae traditionibus
1 De sacra scrip- 1 De sacra tura scriptura et partibus eius 2 De sufficientia 2 De authoritate et perfectione et certitudine sacrae scriptur- sacrae scripturae, contra tradi- ae tiones
Scripture
Franciscus Gomarus, Lucas Trelcatius Jr., and Jacobus Arminius
Fourth repetition Fifth repetition (1604 – 1607) (1607 – 1609)
300 Henk van den Belt
First repetitionb) (1597 – 1601)
Christ
Creation
Creation
6 De persona Spini- 6 De Spiritu tus Sancti Sancto
11 De Deo Patre, et Filio 12 De Spiritu Sancto Providence
4 De attributis Dei 5 De persona Patris 5 De persona et Filii (?) Patris et Filii
10 De Trinitate personarum in unica Dei essentia
Creation
4 De perspicuitate et interpretatione sacrae scripturae
Fourth repetition Fifth repetition (1604 – 1607) (1607 – 1609)
Synopsis Purioris Theologiae and its repetitions (1620 – 1639)c) 5 De perspicuitate s scripturae & interpretatione
Creation
8 De Spiritu Sancto
6 De attributis divinis essentialibus secundi generis 7 De persona Patris et Filii
Creation
9 De divinite Spiritus Sancti
8 De divinitate Filii Dei
7 De Trinitate divinarum personarum
Theology proper Theology proper Theology proper Theology proper 3 De essentia Dei et 3 De essentia Dei 5 De essentia Dei 6 De essentia Dei attributis illius et eius attributis et attributis eiusque attributis primi generis
Third repetition (1602 – 1604)
3 De Filii, et Spiri- 4 De Trinitate per- 4 De Trinitate tus Sancti deitate sonarum in una Dei personarum in essentia una Dei essentia
Theology proper 2 De Deo essentia uno, et personis trino
Second repetition (1601 – 1602)
9 De idolis, et idololatria
Theology proper Theology proper 6 De Deo essentia 8 De essentia Dei uno et personis trino unica, et attributis illius
4 De sacrae scriptur- 6 De sacrae ae lectione scripturae perspicuitate, et interpretatione 5 De numero li7 De traditionibrorum sacrae scrip- bus turae, & apocryphis
First dogmatic cycle (1596 – 1597)a)
(Continued)
Developments in Structuring of Reformed Theology
301
13 De creatione mundi 14 De angelis bonis, et malis
7 De persona Christi mediatoris 8 De incarnatione Christi mediatoris
18 De prirno Adami lapsu
13 De iustitia et efficacia providentiae Dei in malo Sin
Providence 12 De providentia Dei
11 De creatione hominis ad imaginem Dei
14 De peccato 9 De lapsu homi- 12 De primo pecca- 12 De peccato nis, eiusque effec- to Adami, et peccato primo et peccato originali (?) to primarius pecoriginali cato originali
Sin
8 De creatione hominis ad imaginem Dei
11 De iustitia et ef- 11 De iustitia et ficacia providentiae efficacia proviDei in malo (?) dentiae Dei in malo Sin Sin
17 De efficacia, et iustitia providentiae Dei in malo Sin
Providence 10, De providentia Dei
9 De creatione hominis ad imaginem Dei
10 De divina praedestinatione
9 De creatione hominis ad imaginem Dei
10 De angelis bonis et malis
9 De creatione
Fourth repetition Fifth repetition (1604 – 1607) (1607 – 1609)
7 De creatione mundi 8 De angelis bonis et 8 De angelis malis (?) bonis et malis
7 De creatione (?)
Third repetition (1602 – 1604)
Providence 10 De providentia (?)
5 De providentia Die 6 De divina praedestinatione
Second repetition (1601 – 1602)
Providence Providence Creation 9 De providentia Dei 16 De providentia 7 De creatione Dei mundi
15 De creatione hominis ad imaginem Dei
First repetitionb) (1597 – 1601)
First dogmatic cycle (1596 – 1597)a)
(Continued)
14 De lapsu Adami
Sin
13 De homine ad imaginem Dei creato
12 De angelis bonis & malis
Synopsis Purioris Theologiae and its repetitions (1620 – 1639)c) 10 De mundi creatione 11 De providentia Dei
302 Henk van den Belt
First dogmatic cycle (1596 – 1597)a)
(Continued)
Christ
Christ
Christ
17 De legis et evangelii, huiusque diversorum statuum comparatione
Law & Gospel
23 De similitudine, et discrimine veteris, et novi testamenti
Law & Gospel
Law & Gospel
Christ
17 De legis et evangelii comparatione
15 De lege Dei 16 De evangelio
Law & Gospel
Christ
19 De legis et evangelii comparatione
17 De lege Dei 18 De evangelio
Law & Gospel
15 De peccatis actualibus 16 De libero arbitrio
Fourth repetition Fifth repetition (1604 – 1607) (1607 – 1609)
13 De peccatis in 13 De peccatis in universum universum 14 De libero arbitrio 14 De libero hominis arbitrio eiusque viribus
15 De lege Dei 16 De evangelio
10 De libero arbitrio
19 De peccato originali 20 De libero arbitrio
Third repetition (1602 – 1604)
21 De lege divina 22 De evangelio
Second repetition (1601 – 1602)
First repetitionb) (1597 – 1601)
Christ
22 De euangelio 23 De vetere & nouo testamento
21 De sabbato
20 De iuramento
18 De lege Dei 19 De idolatria
17 De libero arbitrio Law & Gospel
Synopsis Purioris Theologiae and its repetitions (1620 – 1639)c) 15 De peccato originali 16 De peccato actuali
Developments in Structuring of Reformed Theology
303
First dogmatic cycle (1596 – 1597)a)
(Continued)
29 De ascensu Christi in coelum, et sessione ad dextram Patris
28 De resurrectione Christi
26 De passione, et 13 De statu duplici morte Christi Christi theanthropou, humiliationis et exaltationis 27 De descensu Christi ad inferos
25 De officiis personae Christi
20 De incarnatione Filii Dei
24 De morte Christi eiusque beneficiis erga nos
21 De exaltatione 23 De exChristi altatione Christi
21 De exaltatione Christi
22 De merito Christi 22 De merito (?) Christi et efficacia eius
20 De perpessio- 22 De perpesnibus Christi sionibus Christi
19 De officiis Filii 21 De officiis Dei incarnati Jesu Christi domini nostri
18 De incarnatione Filii Dei
Fourth repetition Fifth repetition (1604 – 1607) (1607 – 1609)
20 De perpessionibus Christi
11 De unione dua- 18 De incarnatione rum naturarum in Filii Dei Christo hypostatike 12 De officiis Filii 19 De officio Christi Dei incarnati seu, Christi theanthropos
24 De incarnatione Filii Dei
Third repetition (1602 – 1604)
Second repetition (1601 – 1602)
First repetitionb) (1597 – 1601)
29 De Christi satisfactione
28 De statu exaltationis eiusdem
27 De statu humiliationis Iesu Christi
26 De Christo officio
25 De Filii Dei incarnatione & unione personali duarum naturarum in Christo
Synopsis Purioris Theologiae and its repetitions (1620 – 1639)c) 24 De praedestinatione
304 Henk van den Belt
Soteriology
27 De bonis operibus et meritis eorum
29 De bonis open bus et meritis eorum 30 De primae tabulae operibus
27 De bonis operibus, et meritis eorum
15 De pontifice romano an ullo modo sit norma fidei
35 De iustificatione hominis coram Deo 36 De bonis operibus, et meritis eorum
28 De indulgentiis pontificiis et purgatorio
26 De indulgentiis et 26 De inpurgatorio dulgentiis et purgatorio
26 De iustificatione hominis coram Deo
25 De fide
27 De resipiscentia
24 De iustificatione hominis coram Deo per solam fidem
23 De fide
Soteriology
Fourth repetition Fifth repetition (1604 – 1607) (1607 – 1609)
25 De poenitentia et 25 De repartibus eius sipiscentia
16 De oratione
23 De fide iustificante 24 De iustificatione hominis coram Deo per solam fidem
Soteriology
Third repetition (1602 – 1604)
33 De indulgentiis, et purgatorio 14 Romanum pontif- 34 De vita chrisicem non esse caput tiana ecclesiae
13 De legitima vocatione ministrorum
12 De veris verae & visibilis Christi in terris ecclesiae notis
14 De fide iustificante 15 De bonis operibus
Soteriology
Ecclesiology
31 De fide iustficante 32 De poenitentia, et partibus eius
30 De merito Christi, et beneficiis illius erga nos Soteriology
11 De ecclesia
Second repetition (1601 – 1602)
First repetitionb) (1597 – 1601)
First dogmatic cycle (1596 – 1597)a)
(Continued)
34 De sanctificatione & bonis operibus 35 De libertate christiana
33 De iustificatione hominis coram Deo
32 De poenitentia
31 De fide, & perseverantia sanctorum
30 De vocatione
Soteriology
Synopsis Purioris Theologiae and its repetitions (1620 – 1639)c)
Developments in Structuring of Reformed Theology
305
Soteriology 16 De natura fidei
First dogmatic cycle (1596 – 1597)a)
(Continued)
Ecclesiology 17 De ecclesia
31 De vocatione hominum ad salutem 32 De resurrectione carnis et vita aeterna
41 De vocatione hominum ad salutem 42 De resurrectione carnis, et vita aeterna
Ecclesiology 43 De ecclesia catholica, et partibus eius
30 De divina praedestinatione
40 De divina praedestinatione
31 De vocatione 35 De vocatione hominis ad salu- hominum ad tem salute 32 De resurrectione carnis et vita aeterna
Ecclesiology Ecclesiology 33 De ecclesia cath- 33 De ecclesia olica eiusque parti- catholica bus
Synopsis Purioris Theologiae and its repetitions (1620 – 1639)c) 36 De invocatione unius Dei per unicum mediatorem Iesum Christum 37 De ieiunio & eleemosynis
Ecclesiology 40 De ecclesia eiusque notis
33 De in38 De votis vocatione sanctorum 34 De praedesti- 39 De purgatorio natione & indulgentiis
29 De invocatione sanctorum
39 De invocatione sanctorum
29 De invocatione sanctorum 30 De aeterna Dei praedestinatione
32 De oratione
28 De cultu adorationis
28 De oratione
Fourth repetition Fifth repetition (1604 – 1607) (1607 – 1609)
38 De oratione
Third repetition (1602 – 1604) 31 De operibus secundae tabulae
Second repetition (1601 – 1602)
37 De libertate christiana
First repetitionb) (1597 – 1601)
306 Henk van den Belt
21 De ministerio 37 De capite eccleecclesiastico et le- siae gitima ministrorum vocatione 38 De potestate ecclesiae in fidei dogmatis, legibus ferendis et iure dicundo
46 De commu20 De lege et nione sanctorum evangelio
47 De vocatione, et ordine ministrorum in ecclesia
19 De originali peccato
20 De libero arbitrio
21 De Christi media- 48 Contra primatoris officio tum romani pontificis
36 De ministeriis ecclesiasticis
18 De vera pecca- 34 De ecclesia visitorum remissione, bili contra satisfactiones humanas et purgatorium 45 De discrimine 19 De resipiscentia 35 De ecclesiae disverae, et falsae crimine, hoc est, de ecclesiae veris et perpetuis verae et visibuis Ecclesiae notis
18 De sanctorum perseverantia
44 De ecclesia visibili
Third repetition (1602 – 1604)
17 Utrum vera fides in non renatis esse possit
Second repetition (1601 – 1602)
First repetitionb) (1597 – 1601)
First dogmatic cycle (1596 – 1597)a)
(Continued)
38 De potestate ecclesiae in fidei dogmatis, legibus ferendis, et iurisdictione
36 De ministeriis ecclesiasticis et ministrorum vocatione 37 De capite ecclesiae
35 De notis ecclesiae
34 De ecclesia visibili
Fourth repetition Fifth repetition (1604 – 1607) (1607 – 1609)
42 De vocatione & officio ministrorum ecclesiae
Synopsis Purioris Theologiae and its repetitions (1620 – 1639)c) 41 De Christo unico ecclesiae capite & de antichristo
Developments in Structuring of Reformed Theology
307
First repetitionb) (1597 – 1601)
24 De natura numer- 56 De sacraoque sacramentomentis in genere rum 25 De sacramento 57 De baptismo baptismi
Sacraments
55 De ministerio ecclesiastico Sacraments
53 De ieiunio 54 De votis
51 De potestate ecclesiae ferendis legibus, et iure dicundo 52 De disciplina ecclesiastica
49 De potestate ecclesiae in fidei dogmatis 23 De bonis operibus 50 De conciliis
22 De justificatione hominis coram Deo
First dogmatic cycle (1596 – 1597)a)
(Continued) Fourth repetition Fifth repetition (1604 – 1607) (1607 – 1609)
42 De baptismo
42 De baptismo et paedobaptismo
Sacraments
40 De ieiunio et votis
41 De sacramentis in genere
Sacraments
40 De ieiunio et votis
39 De disciplina ec- 39 De disciplina clesiastica ecclesiastica
Third repetition (1602 – 1604)
22 De sacramentis 41 De sacramentis in genere in genere
Sacraments
Second repetition (1601 – 1602)
44 De Bbaptismo
43 De sacramentis
Sacraments
Synopsis Purioris Theologiae and its repetitions (1620 – 1639)c)
308 Henk van den Belt
58 De paedobaptismo
59 De coena Domini
26 De sacra coena Domini
27 De transsubstantiatione et consubstantiatione
32 De purgatorio papistico
30 De cultu imag62 De quinque inum, crucis et refalsis sacramentis liquiarum sanctopontificiorum rum 31 De sanctorum invocatione
28 De adoratione eu- 60 De praesentia, charistiae et communicatione corporis, et sanguinis Christi in coena 29 De missa papali 61 De missa
First repetitionb) (1597 – 1601)
First dogmatic cycle (1596 – 1597)a)
(Continued)
24 De coena Domini
23 De baptismo
Second repetition (1601 – 1602)
Fourth repetition Fifth repetition (1604 – 1607) (1607 – 1609)
46 De falsis quinque sacramentis
45 De falsis quinque 45 De missa pasacramentis pali
43 De coena Domi- 43 De paedoni, et in ea corporis, baptismo et sanguinis Christi praesentia, et communicatione 44 De missa 44 De s coena Domini
Third repetition (1602 – 1604)
49 De conciliis
48 De disciplina ecclesiastica
47 De quinque falsis sacramentis
46 De missa
Synopsis Purioris Theologiae and its repetitions (1620 – 1639)c) 45 De coena Domini
Developments in Structuring of Reformed Theology
309
36 De magistratu
35 De precibus non Latine recitandis in ecclesia Magistrate
33 De coelibatu ministrorum ad erroris pontificii 34 De jejunio, delectu ciborum, et quadragesima
First dogmatic cycle (1596 – 1597)a)
(Continued)
63 De magistratu politico
Magistrate
First repetitionb) (1597 – 1601) Second repetition (1601 – 1602)
Magistrate 47 De magistratu
46 De magistratuf)
Fourth repetition Fifth repetition (1604 – 1607) (1607 – 1609)
Magistrate
Third repetition (1602 – 1604)
51 De Resurrectione carnis & Iudicio extreme
Eschatology
50 De magistratu
Magistrate
Synopsis Purioris Theologiae and its repetitions (1620 – 1639)c)
310 Henk van den Belt
First repetitionb) (1597 – 1601) Second repetition (1601 – 1602)
Third repetition (1602 – 1604)
Fourth repetition Fifth repetition (1604 – 1607) (1607 – 1609)
Synopsis Purioris Theologiae and its repetitions (1620 – 1639)c) 52 De consummatione seculi & vita aeterna
b)
For a complete list of the titles, the respondents, and the dates cf. Sinnema/van den Belt (2012), 529 ff. For the lists of the repetitions, see Arminius (2010), 589 – 596. For a more extensive list of the fourth repetition, see Stanglin (2007), 245 ff. c) For a complete list of the titles, the respondents, and the dates cf. Sinnema/van den Belt (2012), 534 ff. The TItlesmentioned here are those in the original Catalogus of 1620, Sinnema/van den Belt (2012), 532 f. d) The headings in italics are mine. e) The question marks indicate that the original disputations could not be located; the titles are conjectures of Stanglin, Arminius (2010), 589. f) In the list of Stanglin this disputation – Trelcatius jr. (1604) – is missing (Arminius: 2010, 594).
a)
First dogmatic cycle (1596 – 1597)a)
(Continued)
Developments in Structuring of Reformed Theology
311
Namensregister
Abealardus 51 Adam 201, 202 Agricola, Rodolphus 179 Ailly, Pierre d’ 137, 138 Al-Hag˘g˘a¯g˘ 141 ˙ Aland, Kurt 27 Albatenius 121, 149 Alexander VI, Papst 11, 18 Alfarganus 148, 150 Alsted, Johann Heinrich 256, 269 Althaus, Paul 269 Alvinci, P¦ter 259 – 261 Ambrosius 219, 220 Ammann, Johann Jakob 183 Amsdorff, Nicolaus von 46 Amyrault, Mose 266 Andreaes, Jacob 231 Apcai Csere, Jnos 256 Apel, Johann 244, 245 Aquinas, Thomas 201, 217, 230, 268 Aristoteles 51, 54, 95, 98, 101 – 104, 106, 117, 121, 129, 131 – 133, 136, 140, 141, 146, 164, 201, 210, 226, 229, 234, 235, 263, 264, 272, 274 Arndt, Johann 232 Arminius, Jacob 266, 278, 290, 294, 295 Asselt, Willem von 281 August, Kurfürst 73 Augustin(us) 50, 53, 100, 102, 136, 210 – 212, 214, 216, 218 – 222, 230, 277 Auxerre, Wilhelm von 99 Avicenna 214
Bacon, Francis 198, 199, 201 Barker, Peter 197 Barth, Karl 104, 294 Batelier, Jacobus 278 Bthory, Istvn 259 Bellarmin, Robert 108 Berger, Peter L. 44 Berman, Harold 244, 248 Bernhardi, Bartholomäus 46, 48 Bessarion, Basilios 131, 132, 134, 147 Beza, Theodor 181, 266, 292 Bibliander, Theodor 183 Biel, Gabriel 53 Bisterfeld, Johannes 269 Blumenberg, Hans 118 Bocskay, Istvn 259 Bodenstein, Andreas (Karlstadt) 33, 35, 49 – 54, 263 Boethius 125, 126 Böhme, Jakob 232 Boll, Franz 153 Bolliger, Daniel 98 Bonaventura 103, 269 Bracciolini, Poggio 127 Brahe, Tyco 198 Brandenburg-Ansbach, Markgraf und Herzog Albrecht von 150, 160 Brecht, Martin 263 Bronchorst, Everhardus 291, 292 Brooke, John 195, 196, 198, 200 Bruno, Giordano 119, 122 Bugenhagen, Johannes 239 Bullinger, Heinrich 175 – 183, 189, 190 Bultmann, Rudolf 96, 101, 103 – 105
314 Calov, Abraham 226, 234 Calvin, Johannes 97, 182, 195, 196, 201, 213, 216, 217, 222, 228, 241, 242, 260, 265, 289, 297 Camerarius, Joachim 123, 150, 158 Cano, Melchior 267 Carlowitz, Christoph von 160, 163 Carnificis, Paul 33, 36 Christian I, Kurfürst 73 Christian III, König 245 Chyträus, David 232 Cicero 124 Clairvaux, Bernhard von 100, 103 Claudianus 258 Clemen, Otto 46 Clemens (von Alexandrien) 273, 277 Coccejus, Johannes 265, 266, 281 – 284, 298 Coccejus, Johannes Henricus 297 Collin, Rudolph 183 Confessor, Pseudo-Maximus 99 Copernicus, Nicolaus 118, 122, 150, 158, 160, 161, 163, 196, 197 Courtenay, William 43 Cremona, Gerhard von 141 – 146 Cusanus, Nicolaus 119, 134, 148, 150 Danneberg, Lutz 107 Dannhauer, Johann Conrad 106, 107, 109 David 126, 180 Descartes, Ren¦ 220, 256, 280 Dieter, Theodor 264 Dilthey, William 105 – 107, 119, 120, 121 Dölsch, Johann 35 Ebeling, Gerhard 108, 264 Eck, Johannes 43, 49 – 54 Eckhard, Meister 103 Episcopius, Simon 290 Erasmus, Desiderius 179, 182, 226 Essenius, Andreas 217 Euklid 163, 165 Eusebios 136
Namensregister
Farel, Guillaume 265 Faulenbach, Heiner 283 Faye, Antoine de la 293 Fegyverneki, Izsk 253 Ferdinand, König 21 Ferdinand I 11 Ficino, Marsilio 131, 156, 257 Ficker, Johannes 102 Figal, Günter 105 Flacius Illyricus, Matthias 106, 109 Foucault, Michel 256 Frank, Günther 270 Frederik Hendrik, Stadholder 290 Friedenburg, Walter 27, 65 Friedrich, Kurfürst Johann 13, 22, 28, 29 Friedrich II, Kurfürst 12, 17 Friedrich, Udo 187 Gadamer, Hans-Georg 107, 109 Galen 121, 186, 245 Galilei, Galileo 198, 202 Gaurico, Luca 147 Gennep, Arnold van 73 Gessner, Conrad 176, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 188, 189, 190 Geuder, Johannes und Christoph 151 G(h)ent, Heinrich von 230, 269 Giorgio, Francesco 129, 131 Goclenius, Rudolphus 258 Gomarus, Franciscus 266, 290, 293, 294, 295 Gontery, Jean 280 Gothus, Laurentius 232 Grane, Leif 53 Grynaeus, Simon 134, 165, 166 Günther, Franz 52 Gutke, Georg 226 Hagen, Kenneth 242, 243 Hakewill, George 198 Hales, Alexander von 99 Haller, Berthold 178 Hamm, Bernd 233 Hanfried 22 Harnack, Adolf (von) 235
315
Namensregister
Harrisson, Peter 200, 201, 202 Hartmann, Johann 258 Hasso Jaeger, Henry-Evrard 106, 107 Hegel, G.W.F. 102 Heidegger, Elfriede 102 Heidegger, Johann Heinrich 283 Heidegger, Martin 96, 101 – 105, 111 Helm, Paul 215 Hemmingsen, Niels 232, 239 – 251 Henning, Ludwig 33, 36 Henry, John 194, 198 Heppe, Heinrich 294, 296 Hermelink, Heinrich 104 Herrgott, Johann 33, 35 Heß, Johannes 110 Hippokrates 189 Hirschberger, Johannes 96 Hofmann, Daniel 231, 232, 234, 269, 270 Holcot, Robert 231 Homer 278 Hoornbeeck, Johannes 215 Hooykaas, Reijer 118 Husserl, Edmund 104 Hyperius, Andreas 265 Iserloh, Erwin
55
Joas, Hans 193, 194, 195 Jonas, Justus 35 Julius II, Papst 18, 29, 34 Jung, Carl Gustav 257, 258, 260 Junghans, Helmar 38, 39 Junius, Fransiscus 264, 293, 294, 295, 296 Kähler, Ernst 50 Kähler, Martin 264 Karl IV, König 16 Karl V, Kaiser 21 Keckermann, Bartholomäus 265, 267 – 277, 281, 283, 284 Kecskem¦ti Alexis, Jnos 258, 261 Kepler, Johannes 158, 202 Kierkegaard, Søren 105 Knape, Joachim 110
Lackû, Mt¦ 259, 261 Laertius, Diogenes 130 Lagus, Konrad 244 Lang, Johann 39, 52, 54 Lansbergen, Phillip van 198 Lasco, Johannes a 265 Leibniz, Gottfried Wilhelm 119, 226 Leydekker, Melchior 215, 222 Link, Wenzeslaus 33, 35 Lombardus, Petrus 99, 246, 268 Lubbertus, Sibrand 277 Lucretius 139 Lupinus, Petrus 33, 35 Luther, Martin 20, 30, 33, 35, 39, 45 – 47, 49, 50, 52 – 55, 95, 97 – 105, 108, 110, 111, 123, 195, 196, 225 – 229, 231, 234, 246, 247, 249, 251, 263, 264, 270, 275 Lyra, Nicolai von 247, 251 Macrobius 158, 159 Magus, Simon 235 Maier, Michael 258 Makowsky, Jan (Maccovius) 277 Malebranche, Nicholas 214, 215, 222 Manilius 127, 128, 148, 166 Mantel, Johann 35 Maresius, Samuel 217 Marstaller, Gervasius 151 Martini, Cornelius 232 Martini, Jacob 227 Matthews, Gareth B. 210, 211 Maximilian, 11, 18, 20, 28, 29 Maximilian I, König 60 McCoy, Charles 283 Melanchthon, Philipp 13, 14, 20 – 22, 30, 31, 38, 64, 95 – 97, 107, 109, 110, 117 – 129, 134 – 136, 138, 140, 149 – 152, 154 – 157, 160, 165, 166, 179, 196, 197, 212, 232 – 234, 239 – 248, 250, 251, 264, 265, 267, 273, 275, 277, 289 Mersenne, Marin 220 Merton, Robert 199 Methuen, Charlotte 195 Miller, Johann 49 Moeller, Bernd 51, 54
316 Molnr, Albert (Szenci) 254 – 260 Moritz, Landgraf 256, 258 Moritz, Herzog 12, 13, 22 Muller, Richard 265, 266 Musculus, Wolfgang 265 Nebukadnezar 258 Nietzsche, Friedrich 235 Occam, Wilhelm von 230, 231, 266 Oekolampad 182 Oftestad, Bernt 229 Ong, Walter 244 Opus, Philipp von 130 Osiander, Andreas 118, 197 Ostermair, Wolfgang 33, 35 Otten, Willemien 267 Otto, Rudolf 103 Ovid 166 Paulus, Apostel 104, 105, 147, 178, 179, 180, 181, 188, 218, 219, 270, 275 Pellikan, Konrad 183 Pemble, William 200 Peraudi, Raimund 18, 63 Perkins, William 200 Petreius, Johannes 197 Peucer, Caspar 196, 197 Pfaffrad, Casper 270 Philipp, Landgraf 21, 22 Phrissenius 179 Piccolomini, Enea Silvio de 235 Pico della Mirandola, Giovanni 128 Plato(n) 117, 119, 124 – 126, 128, 130 – 132, 136, 140, 155, 156, 158, 183, 209, 215, 272 Plessis-Mornay, Phillipe du 273 Plethon, Gemistos 131, 132, 133, 134 Pöggeler, Otto 101, 103 Polanus, Amandus 209, 210, 212, 214 Pollich, Martin 33, 34, 37, 39 Polyander Kerckhoven, Johannes 290, 291, 295, 297 Pomponazzi, Pietro 269 Popkin, Richard 202
Namensregister
Porphyrios 158, 159 Proklos 133, 134, 159, 161, 165 Ptolemaios, Klaudios 118, 121, 122, 138, 141, 145, 146, 148 – 154, 156, 157, 162, 163 Pythagoras 125, 129, 235 Ramus, Peter 198, 232, 244 Ratschow, Carl Heinz 228 Regiomontan, Johannes 123, 127, 142 – 145, 147 – 150, 167 Reinhold, Erasmus 118, 154 – 158, 160, 163, 196, 197 Reisch, Gregor 125, 167 Remonstranten 218 Resen, Hans 232 Reuchlin, Johannes 125 Revius, Jacobus 220 Rheticus, Georg Joachim 117, 118, 150, 158, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 197 Rijk, Lambertus de 266 Rivetus, Andreas 290, 291 Rudolf, Kaiser 258 Russell, Bertrand 196 Sachsen, Kurfürst Johann von 28 Saul, König 126 Scharf, Johannes 232 Scheible, Heinz 27, 38 Schelling, Friedrich von 119 Scheurl, Christoph 38, 49 Schleiermacher, Friedrich 105 Schneider, Hans 30 Schöner, Johannes 118, 149, 150, 151, 153, 154 Schoock, Martin 278 Schumacher, Linda 214 Scotus, Johannes Duns 230, 266, 283 Scultetus, Abraham 253, 261 Skytte, Johan 232 Socinus, Faustus 281 Soden, Hans von 104 Sokrates 124 Spalatin, Georg 39, 51 Speck, Josef 96
Namensregister
Staupitz, Johann von 28, 33 – 35, 39 Stöffler, Johannes 123, 136, 138 Strigel, Viktor 275 Swalmius, Johannes 291 Synesios 257 Szegedi Kis, Istvn 253 Szentp¦teri, Mrton 255 Tauler, Johannes 103 Temmen, Hartwig 35 Tempier, Etienne 269 Terenz 278 Tholuck, August 264 Thomasius, Jacob 226, 235 Thumm, Theodor 232 Thysius, Antonius 290, 291 Timpler, Clemens 226 Tonstall, Cuthbert 165 Trapezunt, Gregor von 142 – 145, 147, 153 Trelcatius, Lucas 293, 294 Treu, Martin 27 Trutfetter, Jodocus 32, 33 Turner, Victor 73 Turretini, FranÅois 283 Ueberweg, Friedrich 95 Ursinus, Zacharias 273, 277
317 Valla, Giorgio 134, 162, 167 Varsnyi, Istvn 256 Vermigli, Peter Martyr 97, 265, 289 Verûn, FranÅois 280 Viktor, Richard von St. 100 Voegelin, Eric 96, 97 Voetius, Gisbertus 209, 210, 213, 215, 219, 221, 222, 263, 265 – 268, 277–281, 283, 284 Vogt, Johann 35 Walaeus, Antonius 290, 291, 294 Warfield, Benjamin B. 210 Weber, Hans Emil 264 Weber, Max 96, 199 Webster, Charles 200 Weischedel, Wilhelm 96 Weise, Friedrich der 12, 18, 21, 31, 33, 35 White, Andrew Dickson 195, 196 Wilhelm III, Herzog 12 Williams, Roger 193 Wilkins, John 200 Wriedt, Markus 27, 29 Zabarella, Giacomo 109, 235 Zanchi, Girolamo 266 Zedlitz, Peter (Fontinus) 36 Zwingli, Huldrych 97, 98, 175, 176, 182, 183, 188, 189, 190