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German Pages 458 [464] Year 1994
Reformation und Neuzeit 300 Jahre Theologie in Halle
Reformation und Neuzeit 300 Jahre Theologie in Halle Herausgegeben von
Udo Schnelle
Walter de Gruyter · Berlin · New York
1994
® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek —
CIP-Binheitsaujnahme
Reformation und Neuzeit : 300 Jahre Theologie in Halle / hrsg. von Udo Schnelle. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1994 ISBN 3-11-014588-X NE: Schnelle, Udo [Hrsg.]
© Copyright 1994 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz und Bauer, Berlin
Vorwort
Die in diesem Buch veröffentlichten Aufsätze sind ein Beitrag zur 300-Jahrfeier der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sie geben einen Einblick in die weitgespannte Forschungsarbeit einer Theologischen Fakultät in Mitteldeutschland. Dabei benennt der Titel des Buches die beiden Brennpunkte, welche die Geschichte der Hallenser Fakultät bestimmten und die auch bei vielen Beiträgen im Hintergrund stehen. Die Hallenser Fakultät gliedert sich heute dem klassischen Fächerkanon entsprechend in vier Institute: Bibelwissenschaften, Historische Theologie, Systematisch-Ökumenische Theologie, Praktische Theologie und Religionspädagogik. Das Institut für Bibelwissenschaften umfaßt die Seminare für Altes und Neues Testament sowie das Seminar für Spätantike Religionsgeschichte. Die Forschungsschwerpunkte am Seminar für Altes Testament liegen auf den Gebieten der Theologie und Hermeneutik des Alten Testaments, der Weisheitsliteratur, der Prophetie der nachexilischen Zeit sowie der Bedeutung des Exils für die Entstehung des Alten Testaments. Am Seminar für Neues Testament stehen die Erforschung der paulinischen und johanneischen Theologie sowie der Spätschriften des Neuen Testaments im Mittelpunkt. Dem neutestamentlichen Seminar zugeordnet ist das Seminar für Spätantike Religionsgeschichte, in dem u. a. das renommierte Hallenser Projekt .Corpus Iudaeo-Hellenisticum' weiterverfolgt wird. Ziel dieses Projektes ist es, die Bedeutung des hellenistischen Judentums für das Neue Testament umfassend zu erschließen. Zum Institut für Historische Theologie gehören das Seminar für Kirchengeschichte, das Seminar für Christliche Archäologie und Kirchliche Kunst sowie das Seminar für Konfessionskunde der Orthodoxen Kirchen. Die Forschungsschwerpunkte liegen entsprechend den Traditionen Halles in der Reformationsgeschichte und der Kirchengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, wobei der Pietismusforschung eine besondere Bedeutung zukommt. Als Spezialgebiet ist auch die Westslawische Kirchengeschichte zu nennen. Das Seminar für Christliche Archäologie und Kirchliche Kunst verfügt über eine Kunstsammlung und eine umfangreiche, auch Altbestände umfassende Diathek. Am Seminar für Konfessionskunde der Orthodoxen Kirchen werden Theologie
VI
Vorwort
und Geschichte der Orthodoxen Kirchen erforscht, darüber hinaus auch die Beziehungen des deutschen Protestantismus zu den altorientalischen, besonders zur Armenischen Apostolischen Kirche. Das Fach der Systematisch-Ökumenischen Theologie gliedert sich in die Bereiche Dogmatik und Ethik. Es untersucht in gedanklicher Verantwortlichkeit die christlichen Glaubenszusammenhänge in Vergangenheit und Gegenwart unter Berücksichtigung der Religionsphilosophie. Zum Institut gehört das Seminar für Ökumenik, Konfessionskunde und Allgemeine Religionsgeschichte. Forschungsschwerpunkte bilden hier christliche Sondergemeinschaften, neureligiöse und okkulte Bewegungen; zugeordnet ist eine Abteilung für Esoterikforschung mit einer umfangreichen Bibliothek. Das Institut für Praktische Theologie und Religionspädagogik setzt im Bereich der Praktischen Theologie, der kirchliche, christliche und religiöse Praxis der Gegenwart zum Thema hat, einen Schwerpunkt auf die Religionspädagogik als der Theorie religiöser Bildung. Ein zweiter Schwerpunkt der Forschung besteht in Bemühungen um Gemeindeaufbau in der (ostdeutschen) Diaspora. Für die Förderung dieses Bandes dankt der Herausgeber der Universitätsleitung, besonderer Dank für ihren Einsatz bei der Erstellung der Druckvorlage gebührt den Herren Assistenten M . LANG, TH. NEUMANN und Dr. K . ZOBEL. Halle, im Juni 1994
UDO SCHNELLE
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
V
Altes Testament A. MEINHOLD: Zur Anwendung der Metaphorik Töpfer und Ton auf das Kyros-Geschehen in Jes 41,25
3
G. WALLIS: Hans Schmidt (1877-1953) - Wesen und Weg
17
E.-J. WASCHKE: „Richte ihnen auf ihren König, den Sohn Davids" Psalmen Salomos 17 und die Frage nach den messianischen Traditionen
31
Neues Testament H. VON LLPS: Von den „Pastoralbriefen" zum „Corpus Pastorale". Eine Hallische Sprachschöpfung und ihr modernes Pendant als Funktionsbestimmung dreier neutestamentlicher Briefe
49
K.-W. NLEBUHR: Der Neutestamentier Gerhard Delling (1905-1986) als Erforscher des Frühjudentums
73
U. SCHNELLE: Der historische Abstand und der Heilige Geist
87
Kirchengeschichte H. GOLTZ: „Tilge meine Schmerzen". Zum biblisch-theologischen Spannungsbogen des russischen Gottesmutterbildes
107
E. PESCHKE: Das Collegium Pastorale August Hermann Franckes 1713
157
A. SAMES: Die „öffentliche Nobilitierung der Missionssache". Gustav Warneck und die Begründung der Missionswissenschaft an der Theologischen Fakultät in Halle
195
VIII
Inhaltsverzeichnis
U. STRATER: Gotthilf August Francke, der Sohn und Erbe. Annäherung an einen Unbekannten
211
Allgemeine Religionsgeschichte H. OBST: Der Reinkarnationsgedanke in christlichen Sondergemeinschaften der Neuzeit
235
Systematische Theologie U. BARTH: Kants Begriff eines Gegenstands der praktischen Vernunft und der systematische Ansatz der Religionsphilosophie
267
M. BEINTKER: Kann eine Minderheitskirche Volkskirche sein? Reflexionen zu ostdeutschen Erfahrungen und Perspektiven
303
N. MÜLLER: Luthers Gerechtigkeitsverständnis und die Problematik einer politischen Ethik
323
A. RADLER: Christliche Ethik und gesellschaftliches Subsidiaritätsprinzip
357
Praktische Theologie CHR. GRETHLEIN: „Die Praktische Theologie lechzt nach Tatsachen . . ." Eine praktisch-theologische Erinnerung an Paul Drews
377
E. WINKLER: Christen als Minderheit - bei August Hermann Francke und heute
399
Christliche Kunst CHR. MACHOLZ: Die „Verklärung Jesu" an der Westwand des Heiligen Grabes in der Stiftskirche zu Gernrode
421
Personenregister
435
Sachregister
442
Stellenregister
447
ALTES TESTAMENT
Zur Anwendung der Metaphorik Töpfer und Ton auf das Kyros-Geschehen in Jes 41,25* Arndt Meinhold, Halle/Saale
I.
Der nähere Zusammenhang des in Frage kommenden Verses ist das Gerichtswort 41,21-29. Es ist zweiteilig, und beide Teile sind ziemlich gleichmäßig aufgebaut. Nach einer Einleitung, in der eine mit „ihr" angesprochene Größe von Gott als dem „König Jakobs" aufgefordert wird, ihren Rechtsfall und die entsprechenden Beweise vorzubringen (V. 21), werden zwei Redegänge durchgeführt. Im ersten (V. 22-24) ist durchgängig eine negative Position herausgestellt, am Anfang des zweiten (V. 25-29) jedoch auch eine positive (V. 25). Worum es in der Sache geht und wer als ,Prozeßgegner' in Betracht kommt, erfahrt man wie beiläufig erst in V. 23 aß. Es geht darum, ob sich die Götter der Völker durch zutreffende Vorheransage von Geschichte - „(die Dinge,) die sich ereignen" (V. 22aß) - als das erweisen, was JHWH ist, nämlich als Gott. Es wird also eine verbale Beweisart festgesetzt: Vermeldet soll werden, 1 damit eine Wir-Größe erkennen kann.2 Da eine solche Vorheransage von (welt-)geschichtlichen Ereignissen - unter Einbeziehung der Weltschöpfung - nach deuterojesajanischer Sicht jedoch nur der eine einzige Gott vermag, 3 sind die Götter zu einer entsprechenden Antwort nicht fähig. Ihr Sprachlossein und Stummbleiben wird eigens festgehalten (V. 26b.28). Am *
1 2 3
Vorlesung an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg am 13. Januar 1993. Sie ist um Anmerkungen und am Ende des Textes um ein Literaturverzeichnis in Auswahl ergänzt, nach dem gegebenenfalls - abgekürzt mit Verfassernamen (und bei mehreren Arbeiten zusätzlich mit Titelstichwort) - zitiert wird. UJ Hif. (V. 22 [bisl.23a.26a; vgl. V. 26b). Π»-ΐ:ΐ (V. 22b.23a.26a). DTÒK (mit Artikel) für JHWH in 45,18; ohne Artikel und mit Bestreitung, daß es außer ihm überhaupt noch DTlbx gibt, in 44,6; 45,5.14.21; 46,9. Vgl. K. ELLIGER, Der Begriff „Geschichte" bei Deuterojesaja: TB 32, München 1966, 199-210.
4
Altes Testament
Ende jedes Teils ergeht in jeweils dreigliedriger Feststellung das Urteil, das beidemale mit der Partikel |Π beginnt, die völlige Nichtigkeit, Tatenlosigkeit und Verfehltheit der Götter festhält und dabei vom vorausgehenden Urteil (V. 24) zum endgültigen (V. 29) deutlich steigert: Verobjektivierend heißt es nun „sie alle" gegenüber „ihr", „Täuschung" 4 gegenüber „Nichts" 5 , „ihre Taten"^!.) gegenüber „euer Werk"(Sg.); 6 zwei Nichtigkeitsbezeichnungen bewerten „ihre (Götter-)Gußbilder" gegenüber der einen Qualifizierung der Götter als „Greuel", was man sich „an euch erwählen würde". 7
II.
Der Text von V. 25, der sich auf Kyros den Großen (559-530 v. Chr.) bezieht, weist zwei bedeutungsrelevante textkritische Probleme auf. Zum einen erweckt am Ende von Versteil a die Formulierung „er ruft meinen Namen an" den Eindruck einer ergänzenden Interpretation, 8 zumal im Kyros-Orakel 45,1-7 zweimal festgestellt wird, daß der achämenidische Herrscher JHWH nicht kennt (45,4bß.5b). Sie versucht Kyros als JHWH-Verehrer herauszustellen und aufzuwerten, 9 obgleich der Kyros-Zylinder folgende anderslautende Aussage im Hinblick auf Marduk macht: „Über meine (guten) Werke freute sich Marduk, der große Herr. Mich, Kyros, seinen Verehrer, und Kambyses, meinen leiblichen Sohn, (sowie) alle meine Truppen segnete er gnädig und wir (wandelten) in Frieden freudig vor ihm" 10 Für den ursprünglichen Text wird man in Parallele zum ersten Stichos eine Lesart anzunehmen haben, die analog zur Septuaginta - besagt: „... wird (oder wurde) er mit seinem Namen 4
6 7
Gegenüber den zahlreichen Vorkommen des leitwortartigen ·ρχ in diesem Abschnitt (V. 24.26 [ter],28 [bis]) erscheint j'K als eine bewußt verstärkende, religiös-moralische Abwertung (vgl. auch V. 24b). Die Konjektur nach der Peschitta (vgl. Targum) zu ·ρκ (dttgr.) dürñe berechtigt sein (vgl. pK in V. 29 und dazu Anm. 4). Jeweils Versteil a. Jeweils Versteil b.
8
V g l . KRATZ, 3 6 - 5 2 , b e s . 3 6 .
5
9 10
Vgl. 2Chr36,23;Esrl,2. TGI3, 84; vgl. auch R. KITTEL, Cyrus und Deuterojesaja: ZAW 18, 1898, 149-162. Die zahlreichen Versuche, Kyros an der JHWH-Verehrung beteiligt sein zu lassen, reichen vom Altertum (Flavius Josephus, Antiquitates XI 1,2) bis in die Neuzeit (s. z.B. DELITZSCH, 4 3 0 ; DUHM, 2 8 3 ; MARTI, 2 8 3 f . ; VOLZ, 2 6 ; MUILENBURG, 4 6 2 ; RIDDERBOS, 3 6 2 ; SAWYER, 6 2 ; KRAUS, 3 5 ) .
Zur Anwendung der Metaphorik Töpfer und Ton auf das Kyros-Geschehen
5
gerufen" 11 oder - in Anlehnung an das Targum mit JHWH als Subjekt „... rufe (bzw. rief) ich ihn" oder „... habe ich ihn gerufen" 12 . Für eine der letzteren Möglichkeiten spricht auch, daß JHWH sich im Kyros-Orakel als denjenigen bezeichnet, der „dich mit Namen ruft" (45,3b) 13 bzw. feststellt: „Ich habe dich mit deinem Namen gerufen,..., obwohl du mich nicht kanntest" (45,4b). Zum anderen wird das erste Wort von V. 25b „und er kommt" oft - mit dem Apparat der BHS 14 - als 03?"l bzw. 03·?] „und er zertritt" bzw. „... zertrat" konjiziert. Zwar scheinen der Sinn von V. 25b und Aussagen innerhalb der Kyros-Texte (vgl. 41,2f.; 45,1 aß) fur eine solche Deutung zu sprechen, und immerhin gibt es mit Sach 10,5 eine alttestamentliche Belegstelle, an der 013 Q. „zertreten" (KBL 3 ) zusammen mit einem auch hier eine Erdart bezeichnenden Wort vorkommt, nämlich Β"1®; aber XÌT1 ist weder unverständlich noch unmöglich. K13 mit dem Akkusativ der Person kann heißen: „an jemanden (heran-)kommen" 15 . Zudem begegnen K13 und OD") zusammen mit den Erdartbezeichnungen ~)ΟΠ und C^B, die dabei austauschbar sind, noch in Nah 3,14, und diese vier Wörter scheinen das Wortfeld eines terminus technicus16 für eine bestimmte Phase der Ton- bzw. Lehmzubereitung abzugeben. Der vorliegende Zusammenhang spricht außerdem für ein Beibehalten des MT, denn dadurch kommen Formen der beiden hebräischen Verben für „kommen" - ΝΊ3 und ΠΠΚ - in beiden Teilen dieses Gerichtswortes vor, und zwar in umgekehrter Reihenfolge, also chiastisch (V. 22bß.23aa zu V. 25aa.ba). Vor allem aber spricht der Aufbau von V. 25 selbst für den MT, denn der Versteil 25aa faßt das von JHWH ausgelöste und von Kyros vollzogene Geschehen ganz kurz zusammen: Ich erweckte (ihn) von Norden her, und er kam,
während der dreifach so lange Rest des Verses das Gleiche konkret erläutert: Vom Osten rufe (oder: rief) ich ihn mit Namen (cj.), und er kommt an die Statthalter (heran) wie an Ton, und wie ein Töpfer, der Lehm tritt.
11 12
13 14
15 16
Siehe App. BHS. Ν Ί Ρ Κ bzw. Ϊ Ο Ρ Χ ΐ oder τικπρ (vgl. ELLIGER, 1 7 3 ) . Vgl. ferner46,IIa. Unter etwas zweifelhafter Berufung auf das Targum, s. ELLIGER, 1 7 3 f. L A A T O , 1 7 2 - 1 7 7 , widmet diesem textkritischen Problem keine Beachtung. HITZIG, 491, hat unter Verweis auf Jes28,15 für K13 mit Acc. „an einen kommen" vertreten. Vgl. E.-J. W A S C H K E , 0 0 Ί : ThWAT VII, 532-534, bes. 532 f. (s. u. zu Anm. 24 f.).
6
Altes Testament
Wenn das unmittelbare Folgeleisten durch Kyros auf JHWHs Erwecken hin 17 in der überschriftartigen Kurzfassung mit „kommen" ausgedrückt wird, gibt es keinen ersichtlichen Grund, es in der erläuternden Fassung nicht auch zu tun. Damit werden Übersetzungen hinfallig, die in Analogie zu anderen Kyros-Worten bei Deuterojesaja 18 von „niedertreten", „zertreten", „zerstampfen" 1 9 u. ä. oder gar von „zertrampeln" 2 0 sprechen.
III.
Die Metaphorik Töpfer und Ton bringt für das Verständnis des zur Debatte stehenden Kyros-Spruchs einige Nuancen bei. Der Töpfer zertritt den Ton nicht, er tritt ihn, um ihn in eine bessere Knetbarkeit und Geschmeidigkeit zu bringen, und zwar nachdem das Material gewonnen, in einem ersten Arbeitsschritt mit Wasser „eingesumpft" 2 1 und je nach Fettigkeit des Materials auch schon gemagert worden ist. 22 Sir38,29 f. enthält dazu die aufschlußreiche Bemerkung, daß der Töpfer mit den Füßen die Härte des Tons beugt (V. 30). 23 Diese im Alten Testament eigens bezeichnete Tätigkeit 24 braucht einen beträchtlichen Krafteinsatz, und ihr eignet eine gewisse Gewaltsamkeit,
17
Hier ist ein Ansatzpunkt für allerlei typologische Deutung, vor allem auf Abraham (s. G.H. JONES, Abraham and Cyrus: Type and Anti-Type?: VT 22, 1972, 304-319, bes. 314), aber auch anders (vgl. U. SIMON, König Cyrus und die Typologie: Jud. 11, 1955,
18
In 41,2; 45,1 ist z. B. das Verb ΓΠΊ verwendet (s. dazu ThWAT VII, 351-358), vgl. aber jeweils die textkritischen Erwägungen im App. BHS; in 48,14b wird die gewaltsame Vollstreckung des JHWH-Willens an Babel mittels Kyros durch das Machtorgan i m r zum Ausdruck gebracht (vgl. auch hier wieder App. BHS).
19
Vgl.
8 3 - 8 9 , bes. 8 6 - 8 9 ) .
FOHRER,
44;
GRIMM -DITTERT, Trostbuch, 19; HALLER, Judentum, 3 0 ; KRAUS, 3 3 ; LAATO,
BUBER,
132;
DUHM,
173
(„tramples
59;
o n " ) ; LUBSCZYK,
283;
EHRLICH,
5 7 ; MARTI,
151;
ELLIGER,
2 8 4 ; MUILENBERG,
171; 462;
SAWYER,
WESTERMANN, 6 9 .
20 21 22 23 24
G. WALLIS, Deuterojesaja: Erfüllung und Erwartung. Studien zur Prophetie auf dem Weg vom Alten zum Neuen Testament, Berlin 1990, 5-33 (19). A. NEUBURGER, Die Technik des Altertums, Leipzig 1977 (Nachdruck der 4. Aufl. o. J.), 133-155, bes. 140. Vgl. z.B. W. HELCK-E. OTTO, Kleines Wörterbuch der Aegyptologie, Wiesbaden 2 1970, 385 f., bes. 385. G. SAUER, Jesus Sirach (Ben Sira) (JSHRZIII/5), Gütersloh 1981, 598. S. o. zu Anm. 16.
Zur Anwendung der Metaphorik Töpfer und Ton auf das Kyros-Geschehen
7
die auch sonst mit dem Wurzelbereich 00") verbunden ist, durchaus auch im übertragenen Sinn (s. z.B. Jes5,5; 10,6). 25 Dennoch kann kein Zweifel daran sein, daß es sich dabei um eine unerläßliche und produktive Tätigkeit handelt. Sie ist erforderlich, wenn das tönerne Werk überhaupt zustandegebracht werden soll. Allerdings war das Ton- bzw. Lehmtreten mit Schmutz verbunden. In talmudischer Zeit wurde es als so schmutzig angesehen, daß es nicht auf offener Straße getan werden durfte. 26 Was den Schmutz anbelangt, so verhielt es sich auch viel früher im Alten Ägypten kaum anders. In der glänzendsten Weisheitslehre Ägyptens, der Lehre des Cheti - er hat im Mittleren Reich 27 gewirkt - , findet sich innerhalb der Schmähungen aller sonstigen Berufe außer dem des Schreibers ein beredter Abschnitt über den Töpfer. Darin heißt es: „Der Töpfer (...) ist unter der Erde, obwohl er noch lebt. Er wühlt sich in den Sumpfboden mehr als ein Schwein, um seine Töpfe brennen zu können. Seine Kleidung ist steif von Dung, sein Gürtel nur ein Fetzen. Die (heiße) Luft bläst ihm ins Gesicht, die geradewegs aus seinem Ofen kommt. Er hat sich einen Stampfer an seine Füße gebunden, der Stößel daran ist er selber..." 2 8 Aus Ägypten sind mehrere Darstellungen der Töpfertätigkeiten 29 erhalten, darunter auch das Tontreten. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, daß dem Töpfer eine gewisse Ambivalenz eignet. Einerseits hat er die fur den Alltag unabdingbaren Keramikgefaße und -geräte -mit hergestellt. Das meiste für diesen Bedarf werden allerdings die altorientalischen Haushalte selbst erstellt haben, allen voran die Frauen. Der Bedeutung dieses Gewerks wird im Alten Testament auch dadurch Rechnung getragen, daß es einer der wenigen handwerklichen Gewerbszweige 30 ist, die überhaupt genannt werden, in J e r l 8 , l - 1 2 3 1 mit Werkstatt, 25
26 27 28 29
Vgl. WASCHKE (Anm. 16), 533 f. Von hier aus erklären sich die zu Anm. 19 f. genannten Übersetzungen, bei denen aus der erschlossenen Sinnebene in die Bildebene rückübertragen wird. Demgegenüber besteht HESSLER darauf, das Bild „immer genau zu beachten" (70); aber sie verbindet es zu Unrecht mit der Vorstellung von Jer 18,4, wenn sie die „Beamten" wie „ungeratene Figuren ein(ge)stampft" und „dadurch" (?) den Ton „gebrauchsfertig gemacht" findet (ebd.). S. KRAUSS, Talmudische Archäologie (GGJ) I, Leipzig 1910 (Nachdruck Hildesheim 1966), 15. Unter Sesostrisl. (1971-1929); die Chronologie folgt E. HORNUNG, Grundzüge der ägyptischen Geschichte (Grundzüge 3), Darmstadt 3 1988, 161. Η. BRUNNER, Altägyptische Weisheit. Lehren für das Leben (BAW.AO), Zürich-München 1988, 161. A N E P 2 , 3 7 , in Abb. 122; A . NEUBURGER ( A n m . 2 1 ) , 1 4 0 Abb. 198; F. NOTSCHER, B i -
blische Altertumskunde (HSAT.E III), Bonn 1940, Bildtafeln 71a.b. 30
S. KRAUSS ( A n m . 2 6 ) , II, 2 7 1 .
8
Altes Testament
Töpferscheiben und Gefäßen. Bei Sirach werden der Töpfer und andere Handwerker wegen ihrer Tüchtigkeit, Geschicklichkeit und Wichtigkeit für die Stadt gelobt (Sir 38,31 f.); jedoch bekommen sie keine führende Rolle in ihrem Gemeinwesen zuerkannt (V. 33 f.). An Letzterem zeigt sich andererseits ein gemindertes Ansehen auch des Töpfers. Das mag mit dem erwähnten Schmutz zusammenhängen, der seine Arbeit unablässig begleitete. Es war aber auch der geringe Wert seines zu verarbeitenden Materials, was sein Ansehen beeinträchtigt haben wird. Das Rohmaterial Ton bzw. Lehm war fast überall in den Bodenablagerungen und somit reichlich vorhanden, 32 hatte also keinen Seltenheitswert. Und selbst die Tatsache, daß mit Tonwaren mitunter rege gehandelt wurde, 33 machte nicht hinfällig, daß Lehm und Ton eben keinen Wertvergleich etwa mit Edelmetallen 34 oder auch nur mit Steinen 35 aushielten. -|J2 Π „Ton" gehört zu den irdenen Substanzen, und das läßt ihn im Bildbereich zu einem Ausdruck des Schwachen, Hinfalligen und Zerbrechlichen werden. 36 Das trifft vor allem bei Vergleichen des Menschen mit Gott zu, der in Souveränität über ihn verfügen kann. 37 So werden beispielsweise die Menschen in Hi 4,19 als Bewohner von Lehmhäusern bezeichnet, was sinnbildlich die der Erde entstammende 38 und ihr wieder zukommende 39 Materialität des 31 32 33
34 35
Vgl. G. WANKE, Jeremias Besuch beim Töpfer. Eine motivkritische Untersuchung zu Jer 18: F S G. FOHRER (BZAW 150), Berlin-New York 1980, 151-162. A. NEGEV (Hg.), Archäologisches Bibellexikon, Neuhausen-Stuttgart 1991, 240-248 (240). Wie petrographische Untersuchungen an Tongefäßen des frühbronzezeiüichen Arad gezeigt haben (Arad - eine 5000 Jahre alte Stadt in der Wüste Negev, Israel, Neumünster 1992, 78). Vgl. z.B. Thr4,2. Vgl. dazu J.HELLER, Ziegel oder Steine?: FS S. HERRMANN, Stuttgart u.a. 1991, 1 6 5 - 1 7 0 , bes. 167.
36
37
38 39
Vgl. Η. RINGGREN, ΊΟΠ: ThWAT III, 1-4, bes. 2 (siehe dort die Belege); A. W. SCHWARZENBACH, Die geographische Terminologie im Hebräischen des Alten Testaments, Leiden 1954, 132 f. Zu den wichtigen Stellen Jes 29,16; 45,9; 64,7; Jer 18,1-6 vgl. WANKE (Anm. 31); s. außerdem Sir33,10.13; Röm9,19-21. Der grundlegende Sachverhalt des göttlichen souveränen Verfügens über den Menschen aufgrund dessen ,Τοη- bzw. Lehmartigkeit' ergibt sich auch aus folgenden ägyptischen Äußerungen: „Der Mensch ist Lehm und Stroh, und Gott ist sein Töpfer. Er zerstört und erbaut täglich ..." (Lehre des Amenemope 24,13-15 [H. BRUNNER/Anm. 28/, 254]) oder „... möge doch Chnum kommen, der Töpfer des Heißmäuligen, und das Krankheit verbreitende Herz neu kneten!" (Lehre des Amenemope 12,15-17 [H. BRUNNER, 245]). Vgl. Gen 2,7. Vgl. Gen 3,19.
Zur Anwendung der Metaphorik Töpfer und Ton auf das Kyros-Geschehen
9
menschlichen Körpers meint.40 Oder es heißt z. B. in Hi 33,6: „Siehe, ich gelte für Gott ebensoviel wie du; auch ich bin vom Lehm abgekniffen worden." 41 Bei Β'Β dominieren die negativen Konnotationen noch stärker, so daß im Alten Testament Bedeutungen wie „Dreck, Kot, Schlamm" vorkommen.42 Allerdings haben die akkadischen Entsprechungen têtu, tettu, tîtu die Bedeutung „Schlamm, Lehm, Ton, nasse Lehmerde, Dreck" , 4 3 so daß - wie gesagt auch in Jes 41,25b und Nah 3,14 beide Erdartbezeichnungen wechselseitig und damit synonym fur das Töpfer- oder Lehmziegelmaterial gebraucht werden können.
IV.
Angesichts der hohen theologischen Würdetitel, die Kyros im Deuterojesajabuch - gewiß in einer Ergänzungsschicht44 - beigelegt bekommt,45 erscheint der Vergleich mit dem Töpfer, zumal bei dessen Ambivalenz, eher bescheiden.46 Aber er hat einen starken Realitätsgehalt. Er zeigt den angehenden Weltherrscher, dem gerade auch unterlegene Völker Anerkennung nicht versagten,47 bei der ,Dreckarbeit', die dem eigentlichen ,Töpfern' vorausgeht 40 41
F. HESSE, Hiob (ZBK.AT 14), Zürich 1978, 56. Übersetzung: F. HESSE (Anm. 40), 178. k/garäsu(m), haräsu „abkneifen" kommt in Bezug auf Lehm bei der Menschenschöpfung vor (z. B. BWL, 88 f. Z. 277; s. ferner A H W , 447).
42
S i e h e A . S. KAPELRUD, ETTP: T h W A T III, 3 4 3 f . ; v g l . SCHWARZENBACH ( A n m . 3 6 ) ,
43
1 3 1 f. A. S. KAPELRUD (Anm. 42), 343. Die akkadischen Wörter werden allerdings nicht für Tongefäße gebraucht, wohl aber für die Menschenschöpfung in den Mythen (AHw, 1 3 9 1 f.).
44
V g l . KRATZ, 1 7 5 - 1 9 1 .
45
JHWH-Verehrer (41,25aß), JHWHs Hirte (44,28aa), Gesalbter (45,laa) und Geliebter (48,14ba). HESSLER, 70, meint sogar, „der künftige Weltkönig selbst" könne damit nicht gemeint sein (vgl. aber u. Anm. 49 und zu Anm. 52-57!), sondern „ein gleichrangiger Helfer Jahwes" ; dadurch aber wird der Sinn verschoben. Zur Metaphorik allgemein und zu den altorientalischen Großmächten in dieser Hinsicht bei den alttestamentlichen Propheten im besonderen s. R. LIWAK, Die altorientalischen Großmächte in der Metaphorik der Prophetie: FS S. HERRMANN, Stuttgart u. a. 1991, 206-230. Die Priester Babylons betrachteten ihn als von Marduk erwählt (Kyros-Zylinder, TUAT 1/4, 408), und unter den Judäern wurde er wie kein anderer fremdländischer Herrscher gerühmt (vgl. 2Chr36,22f.; Esr 1,2). Selbst die Griechen sahen in ihm ei-
46
47
10
Altes Testament
und somit in sich produktive Züge aufweist: Zwar wird sehr wohl Gewalt eingesetzt, auch unterjocht und gedemütigt, aber nicht einfach zerstört, sondern etwas vorbereitet, was schließlich geformt wird.48 Im Vergleich mit den übrigen Kyros-Stellen bei Deuterojesaja tritt hervor, daß ihm in 41,25 eine größere und konkret-überschaubare Eigenwirksamkeit zuerkannt wird, die sich selbstverständlich auch hier göttlicher Anregung49 verdankt. Der Achämenide handelt als eigenes grammatisches und historisches Subjekt: Er „kam", „kommt" und „tritt". Die anderen Kyros-Stellen bei Deuterojesaja sagen entweder Weitergehendes oder verallgemeinern überhaupt. So wird in 41,1-4; 43,14 f. die Verursachung des Kyros-Erfolgs über Völker und Könige auf den Gott Israels zurückgeführt. Nach 45,1-7 vollbringt Gott sogar die einzelnen Machttaten, damit Kyros zugunsten Jakob-Israels Erfolg hat und alle Welt die Einzigkeit Gottes erkenne; 44,24-28 hebt dazu die weltschöpferische Grundlage und zionorientierte Ausrichtung hervor (ähnlich 45,9-13). In den gleichen Rahmen sind in 42,5-7 die göttliche Berufung, Beschützung, Erschaffung und universale Bestimmung des Kyros zur Erleuchtung und Befreiung der Völker gefaßt.50 Selbst in 48,14b. 15, wo Kyros die Ausführung des Gotteswillens gegen Babel zuerkannt bekommt, heißt es, daß das göttliche Ich ihn gebracht habe. Als lange gehegten Plan und Willen verwirklicht nach 46,10 f. JHWH selbst die gesamte mit Kyros zusammenhängende Geschichtet Dabei wird für JHWH mit dem Verb " I S ' ' 5 2 der Wurzelbereich herangezogen, dem auch "lav „Töpfer" zugehört. Auf Gott wird dieser Vorstellungsbereich im Deuterojesajabuch auch noch mit den Objekten Israel53, Ebed54, Mensch überhaupt55, Licht56, die Erde57 und Kyros58 angewendet.59
48 49 50
nen großen, ja idealen Staatsmann (vgl. DANDAMAEV, 68; KOCH, 24; M. ROAF, Mesopotamien [Weltatlas der Alten Kulturen], München 1991, 204). Raschi wies bereits darauf hin, daß das Tontreten fur ein tönernes Gefäß bestimmt ist. IIS Hif. mit JHWH als Subjekt und Kyros als Objekt bei Deuterojesaja 41,2.25; 45,13. Daß dieser Text zu einer nachexilischen Ergänzungsschicht gehört und sich auf Kyros bezieht, hat KRATZ, 141-144, plausibel begründet.
51
V g l . HERMISSON, 1 3 5 f.
52
B. OTZEN, Ί 3 \ ThWAT III, 830-839; W. H. SCHMIDT, i r : THAT I, 761-765; vgl. auch oben Anm. 37. Jes43,1.7.21; 44,2.21; 45,11. Jes 49,5.8. Jes 45,9. Jes 45,7. Jes 45,18.
53 54 55 56 57
Zur Anwendung der Metaphorik Töpfer und Ton auf das Kyros-Geschehen
11
Der Schöpfer der Welt und Herr der Geschichte, der selbst als der eigentliche ,Töpfer' des Ganzen alles wirkt (Jes 45,7), macht sich den achämenidischen König und nachmaligen Weltherrscher nicht als ein bloßes Werkzeug (vgl. 45,9-13), sondern wie einen selbstwirkenden, tatkräftigen Töpfer dienstbar, der „Statthalter" tritt 60 . Das dafür verwendete Wort ]3D ist ein Lehnwort aus dem Assyrischen 61 , das im Alten Testament in zwei markant unterschiedenen Verwendungen vorkommt: Zum einen bezeichnet es assyrische 62 , babylonische 63 oder medische 64 Würdenträger und Befehlshaber, zum anderen die Vorsteher der nachexilisehen jüdischen Volksgemeinschaft 65 . In 41,25 dürften in erster Linie die babylonischen Machthaber gemeint sein (vgl. 48,14b). Man wird fragen können, ob diese Bezeichnung so präzise als „Statthalter" zu verstehen ist, daß damit Bel-sar-usur, der erstgeborene Sohn Nabonids (555-539), der Belsazar von Dan 5, mit in den Blick käme, der seinen Vater während dessen wiederholten und langen Arabienaufenthalten als Vizekönig in Babylon vertrat 6 6 Während in den Kyros-Texten des Deuterojesajabuches mehrmals „vom Aufgang (der Sonne)" als Herkunftsrichtung des Kyros die Rede ist 67 , kommt nur in 41,25a zusätzlich die Angabe „vom Norden" vor. Dies wird mitunter geographisch näherungsweise auf die erfolgreiche Kriegführung des Kyros gegen Kroisos von Lydien 547/6 gedeutet 68 , obwohl Lydien von Babylon aus
58
59 60 61 62 63 64 65 66 67 68
Jes 42,6. Die Herleitung der Form - p s t o (ebenfalls Jes 49,8; vgl. 44,12) vom Verb "iir (und nicht von ist vor allem aufgrund von Jer 1,5 (vgl. Qere) naheliegend (s. auch GESENIUS - KAUTZSCH 2 8 § 7 1 ) . Jes 46,11. E. HESSLER, 97: „Er bearbeitet die CJJO" (sie). Von sakänu „(Personen) einsetzen" (AHw, 1135 f.). Der saknu ist der „Eingesetzte" und meint „immer so etwas wie den Stellvertreter des Großkönigs" (ELLIGER, 189). Ez23,6.12.23. Jer 51,23.57. Jer 51,28. Esr9,2; Neh 2,16 u. ö. Vgl. die Nabonidtexte in ANET3, 308-314; AOT2, 366-368; TGI1, 66-70; TGI3, 79-82; TUAT 1/4, 407; M. A. DANDAMAEV, 39-55; E. M. YAMAUCHI, 85-89. Jes41,2.25; 45,6; 46,11. Vgl. z.B. GRIMM-DITTERT, 128. SAWYER, 62, mutmaßt, den Sieg Kyros' über Kroisos hier indirekt angesprochen zu finden; aber es wäre die Fehldeutung des Delphischen Orakels durch den Lydier, die als Beleg für das Unvermögen einer zutreffenden Geschichtsvorheransage (vgl. V. 26 f.) - zu Unrecht - angenommen wird. Vgl. ferner O. KAISER, Einleitung in das Alte Testament, Gütersloh 5 1984, 277; W.H. SCHMIDT, Einführung in das Alte Testament, Berlin - New York 4 1989, 257;
12
Altes Testament
gesehen im Nordwesten liegt, Kyros aber aus Nordosten kommt.69 Wird mit Osten 70 ungefähr die Hauptrichtung angegeben, aus der er stammte - wobei sich die Persis allerdings südöstlich von Babylon befindet - , so weist Nordosten auf Medien71. Unweit zurückliegen dürfte somit der Sieg Kyros' über Astyages 550 72 . Selbst wenn man der Feststellung eingedenk ist, daß ein Plausibilitätszwang „für metaphorisches Reden nicht konstitutiv ist" 7 3 , ergibt sich aus dem bisher Gesagten: Der Vergleich des Töpfers für Kyros und die Anwendung der Töpfer-Ton-Metaphorik auf das Kyros-Geschehen mit ihrer Konkretheit, Bescheidenheit und Ambivalenz scheint auf eine frühe Phase der Bezugnahme Deuterojesajas auf den achämenidischen Herrscher hinzuweisen, wenn es sich in 41,25 nicht überhaupt um seine früheste Aussage zur Rolle des Kyros handelt. Sie wäre dann zwischen 550 und 547 zu datieren74. Die in Aussicht genommene Niederwerfung der babylonischen Machthaber, mit der Kyros erst R. SMEND, Die Entstehung des Alten Testaments (ThW 1), Stuttgart u.a. 4 1989, 151; J. A. SOGGIN, Introduction to the Old Testament, London 2 1980, 311. Undeutlich bleibt ELLIGER: „aus dem Norden" würde wahrscheinlich deshalb gesagt, „weil er dort seine letzten großen Erfolge errungen hat" (188). - PREUSS, 68, möchte in der Angabe „von Norden her" „eher Stilelement als genaue geographische Bezeichnung" erkennen und verweist dazu auf einen Exkurs bei WESTERMANN (73-75; die entsprechende Notiz steht vor dem Exkurs). 69
S o z. B . DELITZSCH, 4 2 9 ; MARTI, 2 8 3 ; MUILENBURG, 4 6 2 ; RIDDERBOS, 3 5 3 .
70
Die mythische Deutung des Ausdrucks „vom Aufgang der Sonne" (M. HALLER, Die Kyros-Lieder Deuterojesajas: Eucharisterion. FS H. GUNKEL I, Göttingen 1923, 261-277, bes. 269; K. KOCH, Die Stellung des Kyros im Geschichtsbild Deuterojesajas und ihre überlieferungsgeschichtliche Verankerung: ZAW84, 1972, 352-356, bes. 353-356) überzeugen auch wegen der Zusammenstellung mit anderen Himmelsrichtungsangaben in Kyros-Texten (41,25; 45,6) und auch sonst bei Deuterojesaja (43,5 f.) nicht. F. DELITZSCH, 429; J. RIDDERBOS, 353; KRATZ, 52, findet - wie in 41,2f.; 45,2f.; 46,11 - „einen Reflex auf die Nordfeldzüge (Medien, Lydien)". B. S. CHILDS, Introduction to the Old Testament as Scripture, London 1979, 330, verweist zur Verwendung des Verbs 115? Hif. in 41,25 auf die interessante Parallelstelle Jes 13,17, wo dieses Verb mit Gott als Subjekt verwendet ist und die Meder Objekt sind (vgl. ferner Jer51,ll). Vgl. ferner LAATO, 169-171.176.
71
72
M . A . DANDAMAEV, 18F.; E . M . YAMAUCHI, 8 0 F .
73
R . LIWAK ( A n m . 4 6 ) , 2 1 1 .
74
Diese Datierung unterstützt natürlich nicht die zeitliche Einordnung angeblicher ,eschatologischer' Worte Deuterojesajas durch BEGRICH, 76 f. Vgl. den ganz anderen und kaum überzeugenden Ansatz bei A. SCHEIBER, Der Zeitpunkt des Auftretens von Deuterojesaja: ZAW84, 1972, 242 f. Siehe ferner J. GEYER, ρ κ π MAP - Hellenistic?: VT 20, 1970, 87-90.
Zur Anwendung der Metaphorik Töpfer und Ton auf das Kyros-Geschehen
13
Weltherrscher wird, ist im Vergleich zu 48,14 sehr zurückhaltend formuliert. Daraus aber den Schluß ziehen zu wollen, es werde womöglich eine versteckte Anspielung auf die von Kyros begonnene persische Politik der kalkulierten Toleranz 75 gemacht, würde angesichts von Jes 47 entschieden zu weit gehen.
V.
Nicht nur von der Struktur her bildet der fragliche Vers die Mitte des Gerichtswortes 41,21-29, sondern auch von der Sache her, denn er präsentiert den weltgeschichtlichen Tatbeweis, daß allein JHWH Gott ist. Damit befindet man sich im Zentrum der Theologie Deuterojesajas. Sie ist bestimmt von der Kontinuität und Identität Gottes. Und diese wird im Klartext durch die beiden Wörter 'piCiXI „Und ich bin Gott" (43,12) zum Ausdruck gebracht oder formelhaft, - wie V O L Z es nannte - mit „einer Art Geheimwort" 7 6 , Κ1Π ^K „Ich bin es" bzw. wörtlich „Ich bin Er" 7 7 Auf die Ichhaftigkeit JHWHs wird schon bei der volksetymologischen Deutung des Gottesnamens in Ex 3,14 Π TIN "lttfK ΓΡΠΧ entgegen einer distanzierteren Identität Gottes, die in der 3. Person Sg. Ausdruck finden würde, entscheidender Wert gelegt. Bei Deuterojesaja werden beide Personalpronomina in Bezug auf Gott in eins gesetzt und damit dem Einen und Einzigen alles zugeordnet, Schöpfung und Geschichte, und zwar die Schöpfung als Bestandteil der Weltgeschichte. Er als Ich gestaltet sie, aber nicht wortlos oder automatisch, sondern indem er Ereignisse vorankündigt und dann auch eintreten läßt, 78 so daß er als einzig wahrer Gott erkannt werden kann. Die Bestätigung der tatsächlichen Unverrückbarkeit und Selbigkeit Gottes wird gerade am Eingetroffensein der vorexilischen Gerichtsprophetie in der Katastrophe von 587, die sein Volk ins Nichts gestürzt zu haben schien, festgemacht (42,18-25). Das ist im Hinblick auf die Vergangenheit in der Gegenwart nachprüfbar, und dadurch soll Zutrauen bei dem theologisch grundverunsicherten Volk geweckt werden, daß sich das neue Heilshandeln Gottes in absehbarer Zukunft genauso zuverlässig
75
Vgl. H. DONNER, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen 2 (GAT 4/2), Göttingen 1986, 393-397.
76
P. VOLZ, 16.
77
41,4; 43,10.13; 46,4; 48,12.
78
O. H. STECK, Deuterojesaja, 217.
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Altes Testament
erweisen wird. Manifest ist das für Deuterojesaja an Kyros, den er in 41,25 als Werkenden von JHWHs Gunst und Wirkung auf der weltgeschichtlichen Bühne seiner Zeit agieren sah und damit Zion-Jerusalem (41,27) nicht weniger verkündete, als daß der König Jakobs (41,21) der einzige Gott überhaupt und der Herr der Welt ist. Das war im Alten Orient eine einzigartige Gottessicht. Im Deuterojesajabuch werden damit mehrfach hymnische Reflexe 79 verbunden, offenbar in der Überzeugung, daß auf das Handeln Gottes letztlich nur lobpreisend angemessen geantwortet werden kann. In der ersten dieser Kleinen ,Hymnen' (42,10-13), die bald auf das Gerichtswort 41,21-29 folgt, wird denn auch die ganze Weltbevölkerung - unter stillschweigendem Einschluß des zu besiegenden Babylon - aufgefordert, Gott freudig recht zu geben.
79
Die Kleinen ,Hymnen' 42,10-13; 44,23; 45,8; 48,20f.; 49,13; 51,3; 52,9f.; (54,1-3); vgl. dazu WESTERMANN, Sprache, 157; MATHEUS, 10-103.152-155.
Zur Anwendung der Metaphorik Töpfer und Ton auf das Kyros-Geschehen
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HANS SCHMIDT ( 1 8 7 7 - 1 9 5 3 )
- Wesen und Weg
Gerhard Wallis, Halle/Saale
Wer den Friedhof der St. Laurentius-Kirche am Neumarkt zu Halle betritt, stößt rechts neben dem Kirchenschiff in der Nähe des Nordostportals (Feld Π, Reihe 4) auf ein gedrungen wirkendes, roh behauenes Grabkreuz aus Porphyr, auf dessen rechteckigem, tabernakelförmigen Sockel, wenn nicht von dem üppig wuchernden Efeu des Grabhügels verdeckt, zu lesen steht: D. Hans Schmidt, Professor der Theologie, 1877-1953. Gerade die unpathetische Gestaltung des Grabmals weist auf ein Leben hin, das bei allen wissenschaftlichen Verdiensten ganz und gar als ein Auftrag der christlichen Verkündigung der evangelischen Kirche und ihrer Einrichtungen verstanden war, wie die zahlreichen Publikationen erkennen lassen. Er war auf Pfarrkonventen ebenso zu hören wie in Gemeindeveranstaltungen, im Hörsaal wie im Seminarraum. HANS SCHMIDT wurde am 10. Mai 1877 in Wolmirstedt in der preußischen Provinz Sachsen geboren, sechs Jahre nach der Begründung des Kaiserreiches, als Sohn eines Beamten, eines Kreisbaurates; und diese Welt hat nicht zuletzt sein Wesen und seinen Weg bestimmt. Seine Grundschulbildung erhielt er in Wolmirstedt. Das Gymnasium besuchte er in Seehausen in der Altmark, einer kleinen Lehranstalt. Es war die Zeit, als bei einer intensiven humanistischen Bildung und der Behandlung der deutschen Literatur an der damaligen Schule die gesinnungsbildenden Fächer nicht zuletzt auch durch bestimmtes Liedgut geprägt waren. So legte man den Kindern ans Herz: „Vor allem eines mein Kind, sei treu und wahr, laß nie die Lüge deinen Mund entweihn!" Die Heranwachsenden lehrte man dem Zeitgeist entsprechend Lieder wie die Wacht am Rhein: Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Bogenprall: Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein, wer will des Stromes Hüter sein? v o n MAX SCHNECKENBURGER ( 1 8 4 0 ) u n d d a s L i e d v o n ERNST MORITZ ARNDT ( 1 8 1 5 ) :
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Altes Testament Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte, drum gab er Säbel, Schwert und Spieß, dem Mann in seine Rechte, drum gab er ihm den kühnen Mut, den Zorn der freien Rede, daß er bestände bis aufs Blut, bis in den Tod die Fehde.
Es soll hier verzichtet werden, alle Strophen dieses Liedes zu zitieren. Sie zeigen gemeinsam an, in welcher Weise sich im öffentlichen Bewußtsein nationalreligiöse Vorstellungen mit vaterländisch-ethischem Gedankengut vermischten. Auf dem Gymnasium in Seehausen erwarb er im Jahre 1896 die Universitätsreife und ließ sich noch im gleichen Jahre in Tübingen für Theologie einschreiben, in Berlin studierte er von 1897 bis 1900, wo er in besonderem Maße von HERMANN GUNKEL und REINHOLD SEEBERG beeinflußt wurde. 1900 studierte er noch ein Semester in Halle. Dem damaligen Brauche entsprechend, diente er zwischendurch als Einjährig-Freiwilliger 1896/7, wurde nach weiteren Übungen 1898 zum Unteroffizier und 1899 zum Vizefeldwebel, 1901 zum Leutnant befördert. Als solcher trat er in den ersten Weltkrieg ein. Diese Laufbahn ließ nicht allein auf seine von Haus aus geprägte Frömmigkeit sondern auch auf seine vaterländische Gesinnung und christliche Lebensauffassung schließen, eine zu jener Zeit ganz normale Entwicklung! Nach seiner ersten theologischen Prüfung in Halle und seinem zweiten Examen in Magdeburg besuchte er das evangelische Predigerseminar in Wittenberg, in dem er schon damals mit dem für ihn später noch bedeutsam werdenden PAUL KAHLE zusammentraf. Im Jahre 1904 promovierte er zum Licentiaten der Theologie über: „Die literarkritische und religionsgeschichtliche Untersuchung zum Buche Jona", teilweise veröffentlicht 1905 und 1906 1 , überarbeitet herausgegeben im Jahre 1907 2 . In den Jahren 1904 bis 1907 war er Inspektor des Predigerseminars in Naumburg am Queis (Schlesien), anschließend in den Jahren 1907-1914 Pfarrer an der Haupt- und Pfarrkirche St. Maria-Magdalena in Breslau, an einer innerstädtischen Gemeinde. Hier lernte er die Kehrseite der sogenannten „Gründeijahre" kennen, die vormals so hoch gepriesen wurden, das Großstadtelend und den Alkoholmißbrauch. 1 2
Die Komposition des Buches Jona: ZAW 25, 1905, 285-310; Absicht und Entstehung des Buches Jona (ThStKr 79), 188-199. Jona. Eine Untersuchung zur vergleichenden Religionsgeschichte (FRLANT H. 9), 1907.
HANS SCHMIDT ( 1 8 7 7 - 1 9 5 3 ) - Wesen und Weg
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Von da an hat er sich dann besonders dem Kampf gegen den Alkoholmißbrauch gewidmet, was ihn dann mit dem Guttemplerorden in Verbindung brachte, der auch späterhin sein sozial-humanitäres Interesse bestimmte. In dieser Zeit - ab 1909 - war er nebenher Privatdozent an der Theologischen Fakultät in Breslau, wo er auch seine Beiträge zu den Religionsgeschichtlichen Volksbüchern erarbeitete3. In der Zwischenzeit habilitierte er sich in Tübingen mit seiner Arbeit über: „Die großen Propheten und ihre Zeit" 4 , und erhielt im Jahre 1910 die Ehrendoktorwürde. Seine Berufung als außerordentlicher Professor in Tübingen 1914 wurde unterbrochen durch seine Einberufung zum Kriegsdienst im ersten Weltkrieg. Am Kriegsende finden wir ihn in der englischen Gefangenschaft in Wakefield, wo er eine Kriegsgefangenenhochschule in Lofthouspark gründete. In diesem Offiziersgefangenenlager hat er dann eine rege Lehr- und Predigttätigkeit geübt 5 . Hier klingen all die Themen an, die ihn in der Situation der Gefangenschaft nach der Niederlage Deutschlands beschäftigten. Hier werden die Predigttexte homiletisch, überwiegend aus dem Neuen Testament, nur selten aus dem Alten, ausgelegt, wobei das Umfeld der Gottesdienste deutlich erkennbar wird. Er versucht in der gedrückten Situation der Gefangenschaft, Zuversicht im Glauben auszustrahlen, Mut zu verbreiten, auch hier im christlichen Gehorsam zu leben. Selbst da scheint die Warnung vor dem Alkoholmißbrauch nicht entbehrlich gewesen zu sein. Im Gottesdienst, Januar 1919, mußte dieses Thema in einer Predigt besonders behandelt werden. Ein anderes Thema, das die gefangenen Offiziere bewegt haben mag, war die Abdankung des Kaisers und seine Niederlassung in Doorn in Holland. Dieses Thema beschäftigte ihn am 27. Januar 1919, dem Geburtstag des Kaisers, unter dem Text vom Zinsgroschen mit dem Skopos: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!" Hier wie in allen Predigten verspüren wir das aufrichtige Bemühen, selbst in dieser Situation seinem Auftrage in der so kritischen Lage treu bleiben und den Belastungen mutig ins Auge sehen zu wollen. Nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft im Jahre 1920 nahm HANS SCHMIDT seine Lehrtätigkeit an der Theologischen Fakultät in Tübingen als außerordentlicher Professor auf, allerdings nur fur eine relativ kurze Zeit, denn
3 4 5
Die religiöse Lyrik im alten Testament, II. Reihe, 13. Heft, 1910; Die Geschichtsschreibung im alten Testament, II. Reihe, 16. Heft, 1911. Die großen Propheten übersetzt und erklärt. Mit Einleitung von Hermann Gunkel (SATII/2) 1915, 2 1923. Aus der Gefangenschaft. Predigten von Hauptmann Hans Schmidt, Göttingen 1919.
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im Jahre 1921 erhielt er den Ruf als ordentlicher Professor an die Universität Gießen, als Nachfolger seines Lehrers HERMANN GUNKEL, dem er seit seiner Studienzeit tief verbunden gewesen ist. In diese Zeit fallen wichtige Veröffentlichungen aus seiner Feder über: „Gott und das Leid" 6 , „Hiob" 7 , das „Gebet der Angeklagten" 8 . Daneben stehen religionsgeschichtliche Themen wie: „Der Mythos des wiederkehrenden Königs im Alten Testament" 9 und die „Thronfahrt Jahwes am Fest der Jahreswende im Alten Israel" 10 . Letzteres Thema ist wohl ausgelöst durch SIGMUND MOWINCKELS Psalmenstudien Π 1 1 . In diesen Gießener Jahren hat HANS SCHMIDT eine wesentliche Aktivität gegen den Alkoholismus entfaltet. Zusammen mit dem Osnabrücker Superintendenten D. E. ROLFFS gab er Reden und Studien unter dem Titel: „Die Alkoholfrage in der Religion" (Bd. 1 1926, Bd. 2 1927) heraus. Den ersten Beitrag lieferte er selbst unter dem Thema: „Die Alkoholfrage im Alten Testament" . Der praktische Theologe D. F. NIEBERGALL steuerte: „Seelsorge und Alkohol" (H. 2) bei, der damals in Greifswald lehrende D. Dr. JOHANNES HEMPEL geht auf: „Mystik und Alkoholekstase" (H. 3) ein; HANS SCHMIDT kommt noch einmal zu Worte unter dem Gesamtthema: „Vom inneren Vorhof' (Drei Guttempler-Predigten, H. 4), deren mittlere er schon einmal im Offiziersgefangenenlager im Januar 1919 gehalten hatte. Zum zweiten Band gewann HANS SCHMIDT Beiträge von D. Dr. JULIUS BOEHMER über: „Wein im heiligen Abendmahl" (H. 1); ELLEN ZURHELLEN-PFLEIDERER über: „Die Alkoholfrage in Orthodoxie, Pietismus und Rationalismus" (H. 3); D. E. ROLFFS: „Die Alkoholfrage in der evangelischen Kirche Deutschlands" (H. 4), Prof. HERMANN HOFFMANN: „Die Alkoholfrage in der katholischen Kirche" (H. 5). Die Alkoholproblematik hat HANS SCHMIDT offensichtlich nicht losgelassen, daß er ein so bedeutendes Aufgebot an Fachgelehrten zusammengebracht hat, die sich alle mit dieser Problematik unter ihrem Fachthema befassen wollten, vielleicht in den Jahren der Inflation eine die Öffentlichkeit stark beunruhigende Tatsache. Wichtig war ihm in dieser Zeit die Zusammenarbeit mit dem Mediziner EMIL ABDERHALDEN. 6
Gott und das Leid im alten Testament (Vorträge der theologischen Konferenz zu Gießen, F. 42), Gießen 1926. 7 Hiob. Das Buch vom Sinn des Leidens. Gekürzt und verdeutscht, Tübingen 1927. 8 Das Gebet der Angeklagten im Alten Testament (BZAW 49), Gießen 1928. 9 Der Mythos vom wiederkehrenden König im alten Testament (Aus der Welt der Religion, Bibl. R. H. 10), Gießen 2 1933. 10 Die Thronfahrt Jahwes am Fest der Jahreswende im alten Israel (Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften 122), Tübingen 1927. 11 S. MOWINCKEL, Psalmenstudien I-IV, 1921-1924; Bd. II 1922/1961.
HANS SCHMIDT
(1877-1953) - Wesen und Weg
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sieht im Alkoholmißbrauch zweierlei menschliche Gefahren: der Alkoholgenuß, gerade im Übermaß, läßt die Empfindlichkeit, die Sensibilität für den Mitmenschen abstumpfen und setzt unkontrollierbare Kräfte gegen andere frei, eine Not, die seinerzeit weithin beklagt wurde! Ferner wird der Alkoholmißbrauch als*Mittel verstanden, sich über Nöte und Probleme hinwegzusetzen, als Tröster in allen Sorgen, die gerade auf minderbemittelte Kreise zukam. Dies aber ist eine Flucht vor den Realitäten des Lebens, denen man eigentlich tapfer und im Glauben entgegentreten sollte. Darunter leidet die Volksgemeinschaft! Andererseits endet diese Flucht in der psychischen Katastrophe, in die der Alkoholiker nun hineingerissen wird. Der Wurzel dieses Übels gilt es mit allen Mitteln zu begegnen. Noch einmal wechselt HANS SCHMIDT seine Wirkungsstätte, wiederum als Nachfolger seines hochverehrten Lehrers HERMANN GUNKEL nach Halle, bei dessen Emeritierung im Jahre 1928. Hier wirkte er dann neben seinem zehn Jahre jüngeren Fachkollegen OTTO EISSFELDT, der bereits im Jahre 1922 von Berlin hierher gekommen war. Beide unterschieden und ergänzten sich in der Weise, daß OTTO EISSFELDT als letzter großer Vertreter der literarkritischen Schule, von JULIUS WELLHAUSEN und RUDOLF SMEND herkommend, stärker den semitischen Sprachen und der syrischen Religionsgeschichte zugewandt war. Da er zu seinem Kollegen im Fachbereich Semitistik HANS BAUER von der Sache her stets enge Beziehungen unterhalten hatte, konnte er Anteil haben an seiner Entzifferung der seit 1928 in Ras Schamra, dem antiken Ugarit, gefundenen Tontafeln mit einer alphabetischen Keilschrift, die weithin religiöskultische Texte fixierten, deren Inhalt bislang nur aus griechischen Überlieferungen bekannt gewesen ist. HANS SCHMIDT waren diese Arbeiten seines Kollegen wohl alle bekannt; an der Interpretation dieser neuen Entdeckungen hat er aber keinen aktiven Anteil genommen. Seine Stärke beruhte auf seiner wesentlich unmittelbareren Kenntnis des Landes und dem eher emotionalen Erleben der Bevölkerung des Landes der Bibel. Als Stipendiat des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes weilte er in den Jahren 1910/11 sieben Monate in Palästina, später noch einmal im Jahre 1931, um Erzählungen der Araber außerhalb von Bir Zeit zusammenzustellen und sie mit dem ihm vom Predigerseminar in Wittenberg her bekannten PAUL KAHLE herauszugeben unter dem Titel: „Volkserzählungen aus Palästina, gesammelt bei HANS SCHMIDT
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Bauern von Bir Zeit und in Verbindung mit Dschirius Jusif in Jerusalem" 12 . Den ersten der beiden Bände widmete er seinem Lehrer und Förderer D. Dr. GUSTAF DALMAN, der ihm den Aufenthalt im Lande Palästina ermöglicht und ihn zu der Sammlung dieser Erzählungen angeregt hatte. Von besonderem Interesse für seine Arbeit ist das für den letzteren Band angefertigte Vorwort, das deutlich erkennen läßt, wie intensiv, fast emotional sich HANS SCHMIDT in diese Aufgabe hineingekniet hat. In diesem Sinne hat er wohl auch die Exegese des Alten Testaments lebendig gestalten und auf Leser wie Hörer einen tiefwirkenden Eindruck ausüben können. Gerade diese Fähigkeit wie auch die gattungsgeschichtliche Methode, die ja an den „Sitz im Leben", somit den Ursprungsort der Texte heranzukommen versuchte, hat seinen Vortrag bisweilen sogar spannend gestalten können. Einer seiner früheren Hörer berichtete mir einmal, daß HANS SCHMIDT die Texte, insonderheit der Psalmenliteratur, so lebhaft hatte auslegen können, daß man fast meinte, bei den berichteten Vorgängen selbst zugegen gewesen zu sein (OKR Dr. HEINRICH AMMER). Herr Prof. Dr. FRITZ MAASS bestätigte mir dies ebenfalls. Schriftlichen Niederschlag haben alle diese Bemühungen in dem Psalmenkommentar gefunden, der in dem Handbuch zum Alten Testament (1. Reihe, Bd. 15) von OTTO EISSFELDT herausgegeben wurde 1 3 , wie überhaupt seine Psalmenexegese besonders unter dem Einfluß seines Lehrers HERMANN GUNKEL gestanden hat. In der Hallenser Zeit entstanden Beiträge aus anderen Gebieten: „Das Bodenrecht im Verfassungsentwurf des Esra" 14 , „Der Heilige Fels in Jerusalem" 15 . Eine besondere Verehrung hegte er für den von ihm als genial empfundenen Übersetzer und Ausleger des Alten Testaments, insbesondere der Psalmen, den Reformator MARTIN LUTHER, dem er einen besonderen Beitrag widmete: „Luther und das Buch der Psalmen" 16 . Dem Leser aller dieser Dar-
12 Η. SCHMIDT und P. KAHLE, Volkserzählungen aus Palästina. Gesanunelt bei Bauern von Bir-Zeit in Verbindung mit Dschirius Jusif in Jerusalem (FRLANT H. 17), Göttingen 1918; 2. Bd. 1930 (FRLANT I. Folge, H. 18, der gesamten Reihe H. 47). 13 O. EISSFELDT, Handbuch zum Alten Testament, I. Reihe, Heft 15, Tübingen 1934. Vgl. auch: Psalmen deutsch, im Rhythmus der Urschrift, Göttingen 1917. 14 Das Bodenrecht im Verfassungsentwurf des Esra. Sein Sinn, seine Entstehung, seine Geschichte (Hallesche Universitätsreden 56), Halle 1932. 15 Der heilige Fels in Jerusalem. Eine archäologische und religionsgeschichtliche Studie, Tübingen 1933. 16 Luther und das Buch der Psalmen. Ein Beitrag zur Frage der Wertung des Alten Testaments (Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Aufsätze 167), Tübingen 1933.
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bietungen wird deutlich, daß sie insgesamt oder in einzelnen Teilen ursprünglich als Vorträge vorgebracht worden sind, wobei die aktuellen Gegenwartsfragen bzw. die Anlässe zu diesen Ausführungen nicht unbenannt blieben. Die persönlich erlebte Welt des Vorderen Orients, in die er alle Texte einzuordnen versuchte, fanden bei seinen Hörern stets ein offenes Ohr. So vermochte er es, auch komplizierte Vorgänge klar und durchschaubar vorzutragen und zu deuten. In allen diesen Jahren seiner Lehrtätigkeit in Halle steuerte er eine Fülle von kleinen Aufsätzen bei, die kaum ein Gebiet der alttestamentlichen Wissenschaft auszuschließen, aber wegen ihrer Vielzahl hier nicht eigens berücksichtigt werden können. OTTO EISSFELDT würdigt dies in der Gedenkrede zu seinem Tode: „... so erkennt man alsbald, daß - zum Unterschied von anderen Vertretern seines Faches - Hans Schmidts Aufmerksamkeit weniger abstrakten Begriffen und formulierten Lehren als vielmehr den lebendigen, anschaulich gewordenen und so greif- und darstellbaren Äußerungen der Frömmigkeit gegolten hat" 17 .
Hiermit gibt OTTO EISSFELDT wohl auch den Unterschied an, der ihn von dem Verstorbenen trennte. In bemerkenswerter Weise hat HANS SCHMIDT in administrativen Fragen
über den Rahmen der eigenen Theologischen Fakultät in Halle hinausgewirkt. Mit dem Jahre seiner Berufung nach Halle wurde er als Präsident des Evangelischen Fakultätstages in Deutschland gewählt. Er hat dieses Amt sechzehn Jahre während einer sehr unruhigen, gespannten Zeit ausgeübt. Seine Arbeit in dieser Funktion wird allgemein als zuträglich und förderlich gewertet. Belastet wurde sein Schaffen jedoch dadurch, daß er im Jahre 1933 Mitglied der NSDAP wurde. Wie kam er zu diesem Schritt? Wir sehen ihn zusammen mit den Guttemplern den Alkoholmißbrauch bekämpfen. Seine pfarramtliche Tätigkeit in Breslau hat ihn diese Not in seiner Seelsorge erkennen lassen. Allerdings ist in seiner wissenschaftlichen Arbeit nur wenig von diesen Erfahrungen zu erkennen, auf welchem wirtschaftlich unheilvollen Boden diese Pflanze gewachsen ist; welche wirtschaftliche Komponente dazu geführt hat, hat er nie zu klären versucht. Die Lösung dieses Problems hat er, wie wohl damals viele andere, darin gesehen, die auf diese Abwege Geratenen wieder in die Strukturen wohlanständiger Bürgerlichkeit zurückzufuhren. Auf jeden Fall bestach ihn die nationale Sinngebung der sozialen Frage, wie es ja im Namen dieser Partei ausgewiesen war, um von ihr die Gesundung des
17 O. EISSFELDT (Anm. 20), Sp. 379.
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Volkskörpers zu erhoffen. In dem propagandistisch vorgetragenen Tugendbild des jungen Mannes werden Alkohol- und Nikotingenuß förmlich ausgeblendet. So hat er sich dieser Partei anschließen können. Von allen Massenorganisationen hatte er nur der NS Volkswohlfahrt beitreten mögen. Ein tieferer Grund für seine Entscheidung ist wohl auch darin zu suchen, daß der in obrigkeitlichen Denkstrukturen aufgewachsene Mann, nach der Abdankung des deutschen Kaisers in der Weimarer Republik mit ihrem unübersichtlichen Parteiwesen und dem für ihn nicht mehr durchschaubaren Parlamentarismus bei keiner Partei heimisch werden konnte. Wie er hofften viele Gleichgesonnene, in der Konzentration der politischen und gesellschaftlichen Kräfte in einer repräsentativen Obrigkeit alte Ideale wieder erstehen zu sehen. Nach allem vorhandenen Aktenmaterial hat er sogar 1934 bis 1936 den deutschen Christen nahegestanden. Hat er sich nach seinen eigenen Angaben von diesen auch wieder gelöst, so blieb er seinem Entschluß der parteilichen Bindung jedoch treu, selbst da, wo die Doppelbödigkeit, ja der Zynismus ihrer Propaganda vielen bereits bewußt geworden war und auch ihm nicht mehr verborgen geblieben sein konnte. Schwerer als der Alkoholismus wog jetzt der Antisemitismus, schwerer das Euthanasieprogramm und die Vernichtungslager für politisch und völkisch Mißliebige. Die durchsickernden Nachrichten erhitzten die Gemüter angesichts einer solchen grausamen Wahrheit, selbst wenn noch nicht alle Tatsachen an das Licht des Tages gekommen waren. Dies waren bei weitem nicht mehr die von manchen so bezeichneten Übergangserscheinungen oder die Späne, die beim Hobeln nun einmal zu fallen pflegen. In dieser Zeit versuchten die Offiziersvereine der traditionellen Regimenter, die Reserveoffiziere wieder zusammenzuscharen, und sprachen sie auf ihre Fronterfahrungen an. Dies geschah natürlich von Anfang an in der Absicht, die Hunderttausend-Mann-Regelung der Reichswehr im Vertrag von Versatile zu unterlaufen. Gerade aber die, die unter der deutschen Niederlage mit dem Verlust der Monarchie gelitten hatten, hofften darin eine Bestätigung ihrer Opfer finden zu können. Im Jahre 1935 wurde die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt, zum Unmut der jüngeren Generation, die an Militärdienst nicht mehr zu denken pflegte. Im gleichen Jahr stimmte das Saarland für die Eingliederung in das Deutsche Reich ab. Ebenfalls im Jahre 1935 wurde mit der jungen Armee die entmilitarisierte Zone des Rheinlandes wieder besetzt, ohne daß Widerstand geleistet wurde, wie weite Kreise der Bevölkerung befürchtet hatten. Der Ausbruch eines neuen Krieges wurde allen Ernstes angenommen. In den Augen eines Mannes mit der Genesis eines HANS SCHMIDT mußte dies als Zeichen für ein Wiedererstarken des deutschen Selbstbewußt-
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seins wirken. Die Einnahme Österreichs und das Münchener Abkommen vom Jahre 1938 schienen diese Vorstellung noch zu bestätigen und den hochfliegenden Hoffnungen trotz aller Befürchtungen in weiten Teilen der Bevölkerung Recht zu geben. Es fällt auf, daß HANS SCHMIDT trotz seiner Einstellung das Vertrauen seiner Kollegen in Halle und in Deutschland in dieser Zeit nicht eingebüßt hat. Seit dem Jahre 1928, dem Jahr seiner Berufung nach Halle, war er Präsident des Fakultätentages der evangelischen Fakultäten in Deutschland und hat dieses Amt 16 Jahre lang innegehabt. Wenn man bedenkt, daß besonders die Jahre nach 1933 mit den kirchenpolitischen Machtakten der Nationalsozialisten, die ja gerade die Mitglieder dieses Gremiums und die von ihnen vertretenen Fakultäten spaltete, so daß der Fakultätentag gänzlich auseinanderzubrechen drohte, so ist es doch erstaunlich, daß HANS SCHMIDT immer wieder die auseinanderfliehenden Kräfte zusammenfuhren konnte. Man denke hier an das Ereignis der Sportpalastkundgebung am 13. November 1933 mit den antisemitischen und auch antialttestamentlichen Ausfällen, sowie an das Rücktrittsersuchen an den von der Partei und den deutsch-christlichen Helfern gestützten Reichsbischof LUDWIG MÜLLER; so ist die hier zu beobachtende Kontinuität der sachlichen Arbeit an den gestellten Ausbildungs- und fakultätsleitenden Aufgaben durchaus beachtlich. Jedenfalls ist aus den Akten des Fakultätentages nicht zu erkennen, daß diese Institution zum Leitungsorgan der Partei geworden wäre. Diese sehr umfangreichen Akten des Fakultätentages können in diesem Zusammenhang nicht untersucht werden, sondern sind an anderer Stelle und von einem anderen zu behandeln. Immerhin ist zu bemerken, daß HANS SCHMIDT 1929, ein Jahr nach seiner Berufung nach Halle zum Dekan gewählt worden ist und dieses Amt bis 1931 ausgeübt hat und von der Fakultät in gleicher Weise im Jahre 1937 wieder das Amt des primus inter pares übertragen bekam. Er muß das Vertrauen seiner Kollegen genossen haben. Er übte dieses Amt dann aktiv bis zu seiner Einberufung zum Heeresdienst 1941 aus. Die oberste Leitung der deutschen Wehrmacht griff mit der Ausweitung des Krieges und besonders nach dem Beginn des Rußlandfeldzuges stärker auf die älteren Reserveoffiziere des ersten Weltkrieges zurück, die dann teilweise noch in die Ränge der Stabsoffiziere aufstiegen. Diese Einberufung ist beachtlich, da HANS SCHMIDT sich nunmehr schon im 64. Lebensjahr befand. Während der Zeit seiner Wirksamkeit in Halle hat HANS SCHMIDT weit über die Grenzen seines Landes hinaus gewirkt. Im September 1935 nahm er an der Tagung der europäischen Sektion des Weltbundes gegen den Alkoho-
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lismus in Montreux teil, im September 1937 am Weltkongreß des Weltbundes gegen Alkoholismus in Warschau, woran anschließend er noch einen Vortrag in Posen hielt. Im Juli 1939, also kurz vor Ausbruch des Krieges, nahm er am Kongreß des Weltbundes gegen den Alkoholismus in Helsinki, in Finnland teil. Er galt dort auch international als eine integere Persönlichkeit. Ferner wurde auch er zur 400-jährigen Feier des Bestehens des St. Mary Colleges der Universität St. Andrews in Schottland 1937 eingeladen, ebenso im Jahre 1938 zur Feier des 400-Jahresfestes der Gründung des Reformierten Kollegs in Debrecen. Diese Teilnahme an Kongressen und Tagungen, die ja noch nicht den Umfang und die Anzahl gegenwärtiger derartiger Veranstaltungen gehabt haben, spricht dafür, daß er ein international geschätzter Gast gewesen ist. Daß er dort als auffälliger Exponent Nazi-Deutschlands erschienen sei, wird nirgends vermerkt, wenn ihm seine Einstellung zum Staate vielleicht auch bei diesen Reisen nützlich gewesen sein sollte. Nach der Entlassung aus dem Heeresdienst im Range eines Majors (1942) wurde er auch von der Universität Halle emeritiert, zumal er 1944 das 68. Lebensjahr erreicht hatte. Sein Lehrstuhl blieb für lange Zeit unbesetzt, während sein jüngerer Kollege OTTO EISSFELDT das Fach Altes Testament weiter allein vertrat und auch noch sein Nachfolger, der Autor dieser Skizze, ohne einen zweiten Fachvertreter gewirkt hat. Aus den letzten Jahren des Lebens von HANS SCHMIDT sind nur noch wenige Arbeiten zu nennen, so sein Beitrag: „Ein Psalm im Buche Habakuk" 1 8 , daneben Beiträge zur Person ALFRED WIESENHÜTTERS, seines ehemaligen Gießener Kollegen. Der Besprechungen und Wörterbuchartikel soll hier nicht ausführlich gedacht werden. Die Ursache für sein Zurücktreten in der literarischen Schaffenskraft mag darin gesehen werden, daß in diesen Jahren nach dem Krieg überhaupt wenig veröffentlicht werden konnte, ferner darin, daß er unter dem Datum 30.12.1945 vom Präsidenten der Provinz Sachsen ein kurzes, wenig stilvolles Schreiben des Inhalts erhielt, daß er wegen seine Zugehörigkeit zur NSDAP entlassen worden sei. „Irgendwelche Gehalts- und Versorgungsansprüche stehen Ihnen nicht zu." Dies trifft den Emeritus hart, denn er steht nun unerwartet völlig mittellos da. Ein Beamtenverhältnis gab es ja nicht mehr. Dies war das Ende einer immerhin Jahrzehnte währenden aufopferungsvollen Tätigkeit. Öffentlicher Dank wurde ihm nicht zuteil. Die Theologische Fakultät hat sich um eine Wiederberufung im Jahre 1949 bemüht, aber sie nicht erreicht; sie wurde aus Altersgründen abgelehnt. Der spätere Dekan D. A. LEHMANN hat
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Ein Psalm im Buche Habakuk: ZAW 62, 1948/50, 52-60.
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im Jahre 1 9 5 2 den gleichen Versuch erneut unternommen, mit eben d e m Ergebnis. D i e Fakultät hatte ihm noch einen Lehrauftrag für hebräische Sprache und einen Forschungsauftrag erteilt, in deren Rahmen er noch an der Fakultät wirken konnte, eine Rückkehr konnte dies aber nicht bedeuten! In dieser Zeit nahm er die pfarramtliche Vertretung in den Orten Brachwitz, Gimmritz und in Friedrichschwerz, nördlich vor den Toren Halles, wahr, die er bis zu seinem T o d e betreute. Hier hat er auch wesentlich diakonisch gewirkt. D a s Vertrauen der Fakultäten war gegenüber d e m Entlassenen indessen ungebrochen. In einem Schreiben v o m
12. April 1946 teilt der D e k a n D . G. HEINZELMANN
HANS SCHMIDT folgendes mit: „Die Abgesandten der sechs Theologischen Fakultäten der östlichen Zone lassen Ihnen durch mich ihren herzlichen Dank aussprechen fur die außerordentlich wertvolle Führung während der 16 Jahre, in denen sie den Fakultätentag geleitet haben. Sie haben sich für Studenten und Kollegen mit der Ihnen eigentümlichen Hingabe an die Ihnen gewordene Verpflichtung eingesetzt und bis zur Bedrohung Ihrer persönlichen Sicherheit für jeden in Gefahr geratenen, ganz gleich, ob sie in den Gegensätzen, die aufgebrochen waren, mit ihm übereinstimmten oder auf der anderen Seite standen, wirklich aufgeopfert." Eine Eintragung in das Sitzungsprotokoll der Fakultät v o m 9. Juli 1945 hatte bereits festgestellt: „D. Schmidt führt das Amt des Präsidenten des Fakultätentages fort, bis eine Neuregelung im Benehmen mit anderen Fakultäten möglich ist." M a n sah sich d a n a c h nicht g e n ö t i g t , HANS SCHMIDT u n m i t t e l b a r d e r P r ä s i d e n t s c h a f t zu entheben. Zu seiner Rehabilitierung schreibt ihm D . G. DEHN unter dem 22. Juli 1948, der ja im Jahre 1 9 3 1 / 3 2 seines A m t e s als Ordinarius für Praktische T h e o l o g i e auf die harten Proteste nationalsozialistischer Studenten hin enthoben w e r d e n mußte, um später aus Staatsdiensten entlassen zu werden: „Während dieser ganzen Zeit hatte ich im Grunde nur einen Kollegen, nämlich Herrn D. Schmidt, an den ich mich jederzeit und mit allem Vertrauen wenden konnte. Ich habe ihn damals oft besucht, um über meine Angelegenheit mich beraten zu lassen, und konnte immer nur feststellen, daß Herr D. Schmidt sich meiner in kollegialster Weise, stets bereit, mir zu helfen, annahm. Man wird das umso höher schätzen dürfen, als ich von früher her keinerlei Verbindung mit Herrn Schmidt gehabt habe, und er politisch und theologisch in einem anderen Lager stand als ich. Mancherlei Verdächtigungen und Angriffe, die er meinetwegen ertragen mußte, haben ihn nicht veranlaßt, seine Haltung mir gegenüber zu ändern. Er hat sich, als ich schon beurlaubt war, auch noch um einen anderen Lehrstuhl für mich bemüht. Besonders hervorheben möchte ich, daß Herr D. Schmidt, als ich im Jahre 1942 nach einjähriger Gefangenschaft we-
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Altes Testament gen .staatsfeindlicher Betätigung' ins Κ. Z. zu kommen drohte, sich in einer Eingabe an das Ministerium fur mich verwendet hat. Ich habe seit 1933 keinerlei persönliche Verbindimg mit Herrn Prof. Schmidt unterhalten und kann über seine politische Haltung kein Urteil abgeben. Damals war er jedenfalls in keiner Weise ein politischer Fanatiker. Aus der Tatsache, daß er sich noch 1942 für mich eingesetzt hat, scheint mir hervorzugehen, daß er auch in jener Zeit den politischen Ideologien des Nationalsozialismus nicht blindlings ergeben war, sondern sich seine innere Selbständigkeit bewahrt hatte. Ich kann nur sagen, daß Herr Schmidt sich mir gegenüber immer als das erwiesen hat, was man einen grundanständigen Menschen nennt."
So hat D. GÜNTHER DEHN das auf den Punkt gebracht, was alle, mit denen HANS SCHMIDT ZU tun hatte, an ihm empfunden und geschätzt hatten. Trotz dieser und noch vieler anderweitiger Bemühungen haben solcherlei Unternehmungen um seine Rehabilitation damals keinen Erfolg gehabt. Er selbst hatte für sich in Anspruch genommen, daß er mit seiner Einberufung zum Militär im Jahre 1941 seine Parteimitgliedschaft ohnehin hatte ruhen lassen müssen und sich nicht mehr als Parteimitglied empfunden habe, da nach preußischem und deutschem Rechtsempfinden Militärs unpolitisch zu sein hatten, sich also parteilich nicht binden durften, was nach der Wiedereinführung der allgemeinen deutschen Wehrpflicht ohnehin nicht mehr unbeschränkt in Geltung war. Mit diesem Hinweis hatte er sich damals offenbar keinen guten Dienst geleistet. Nach dem lateinischen Sprichwort: Incidís in Scyllam, cupiens vitare Charybdin,19 Nach dem Willen der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland galt die Reinigungsaktion nicht allein den Angehörigen der Partei und ihrer Gliederungen, sondern auch dem deutschen Militarismus. Als Major der Reserve und Träger des EK II und des ΕΚ I des ersten Weltkrieges, die im zweiten erneuert wurden, sowie als Träger des Ritterkreuzes des Königlichen Hausordens von Hohenzollern mit Schwertern, war er nunmehr als überzeugter Militarist einzustufen. Da halfen ihm auch Würdigungen seiner Kollegen nicht, aber auch nicht die des Bischofs von Berlin-Brandenburg D . D r . OTTO DIBELIUS.
Am 20. Januar 1953 starb HANS SCHMIDT in Halle. Der Senat der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg versandte unter der Leitung seines Stellvertretenden Rektors Prof. Dr. LEO STERN die Trauernachricht an alle deutschen Universitäten und erhielt Kondolenzschreiben von den Universitäten in Frankfurt, Hamburg, Jena, Kiel, Köln, Mainz, München, Münster und Würzburg; diese zumindest sind nachweisbar. Der Hallenser Fachkollege 19
„Während du wünschest, die Charybdis zu meiden, verfällst du der Scylla."
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OTTO EISSFELDT hielt zum Gedenken an den Verstorbenen eine Würdigung seiner „Stelle in der Forschung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts" 2 0 , indem er seine Wirkung, seine Forschung und Lehre in ebenso sachlicher wie auch persönlicher Art herausstellte. Damit ging ein Leben zu Ende, das bei allen so hoffnungsvollen Anfangen und würdevollen Ansätzen, bei allen offenen und ehrlichen Bemühungen um die Sache der Bibel und um die Menschen, die die Botschaft ausrichten und empfangen sollten, durch menschliche Irrtümer und Schwächen unter den obwaltenden Umständen doch sehr stark belastet erschien, so daß es im Schweigen zu bleiben drohte. Der Autor dieses Berichtes über HANS SCHMIDT hat eines mit ihm gemeinsam, er unterscheidet sich von ihm aber auch in bestimmter Weise stark. Er entstammt wie jener einem preußischen Beamtenhause und kennt dieses Umfeld zur Genüge, gehörte aber in der Zeit des Nationalsozialismus zu den Benachteiligten, weil zu den rassisch Verfolgten. Da er, nach allem, was über HANS SCHMIDT gesagt worden ist, davon ausgeht, daß er auch für seine Situation Verständnis gehabt hätte, wie auch seine vertrauensvolle Haltung zu den Zionisten erkennen ließ, wagt er es aber um der Ehrlichkeit willen, das Schweigen um ihn zu brechen, um der Wahrheit und Treue willen, in denen dieses Leben zu gestalten versucht wurde. HANS SCHMIDT ist einen Weg gegangen, den nicht alle mitvollziehen konnten, der aber in seinem Wesen begründet war. Er hat Opfer nicht gescheut, auch für die, die nicht auf seiner Seite standen. Vielleicht ist es nicht einmal ein typisch deutsches Schicksal gewesen, sondern eher ein preußisches, mit seinen Größen und seinen Grenzen.
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O. EISSFELDT, In memoriam Hans Schmidt (10.05.1877-20.01.1953): Hans Schmidts Stelle in der theologischen Forschung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: T h L Z 7 8 , 1 9 5 3 , Sp. 3 7 9 - 3 8 2 .
„Richte ihnen auf ihren König, den Sohn Davids" - Psalmen Salomos 17 und die Frage nach den messianischen Traditionen Ernst-Joachim Waschke, Halle/Saale
I. Problemanzeige Die Diskussion um die messianischen Traditionen im Alten Testament wird noch immer von zwei Problemkreisen beherrscht. Der eine betrifft die Definition dessen, was im Alten Testament unter „Messias" bzw. unter „messianisch" zu verstehen ist und der andere ergibt sich aus der Frage nach der Bedeutung eschatologischer Erwartungen für den alttestamentlichen Messianismus. Beide Problemkreise sind eng aufeinander bezogen und stehen letztlich im Gesamtkontext der Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament.1 In jüngster Zeit hat MAGNE S.£B0 einen erneuten Versuch der Klärung unternommen. Dabei stellt er zu Recht heraus, daß „das Problem der Terminologie" auch immer „ein Problem des richtigen Ausgangspunktes (ist), denn das Ergebnis hängt sehr davon ab, wo der den weiteren Weg bestimmendein) Startpunkt liegt" 2 Wie für den Begriff Eschatologie fordert er auch für die Frage nach dem alttestamentlichen Messianismus bei „der einschlägigen hebräischen Terminologie" und nicht „mit den schweren Fragen wie etwa der nach dem .Königtum' oder gar der .Königsideologie' oder der Spätphase des Messianismus" 3 einzusetzen. Wählt man diesen Weg, dann stellt sich die Frage nach dem Messias im Alten Testament zuerst dar als Frage nach jenen Traditionen, die durch den Titel Messias bestimmt sind. Schon die Streuung des Titels innerhalb des Alten Testaments ist an dieser Stelle aufschlußreich. Er findet sich als Titel für einen König konzentriert in
1 2 3
VgJ. VERF., Die Frage nach dem Messias im Alten Testament als Problem alttestamentlicher Theologie und bibilischer Hermeneutik, ThLZ 113, 1988, 321-331. Zum Verhältnis von .Messianismus' und ,Eschatologie' im Alten Testament. Ein Versuch terminologischer und sachlicher Klärung, JBTh 8, 1993, 25-55, 36. M . S/EB0 ( A n m . 2), 43.
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den Überlieferungen des deuteronomistischen Geschichtswerkes (DtrG) und in den Psalmen 4 , während er, von wenigen Ausnahmen abgesehen 5 , in den Texten der prophetischen Überlieferungen fehlt. Aufgrund der Gleichsetzung von Prophetie und Eschatologie einerseits sowie Eschatologie und Messianismus andererseits hatte dieser Befund zu der These gefuhrt: ,JCeine der Messias-Stellen des Alten Testaments kann messianisch gedeutet werden. Sicher aber ist in manchen dieser Aussagen das sogenannte messianische Verständnis angelegt; deutlicher tritt dies allerdings an Stellen zutage, an denen der Terminus rptpD nicht gebraucht wird." 6
Kaum anders wird das Problem von HANS STRAUSS zu lösen versucht. E r deklariert die „messianischen Weissagungen" der prophetischen Überlieferung als den „kleinsten gemeinsamen Nenner" an Texten, von denen aus sich im Alten Testament der Messianismus bestimmen läßt, der von ihm dann konsequent als ein Messianismus „ohne Messias" gedeutet wird. 7 In beiden Fällen handelt es sich um ein Resultat, das nur aus der Wirkungsgeschichte zu begründen ist. Vorausgesetzt wird nämlich, daß sich der alttestamentliche Messianismus von Anfang an mit einer eschatologischen Erwartung verbunden hat und daß er diese allein aus der Prophetie des Alten Testaments gewonnen haben kann. Zu rechtfertigen wären derartige aus der Wirkungsgeschichte herrührende Prämissen allerdings nur dann, wenn sich 1. der Titel Messias im Alten Testament nicht einem fest umrissenen Vorstellungsbereich zuordnen ließe, und wenn 2. die im Alten Testament mit dem Titel Messias verbundenen Traditionen für die spätere Entwicklung messianischer Vorstellungen tatsächlich bedeutungslos gewesen wären. Der erste mögliche Einwand kann schon allein deshalb nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden, weil der Titel ΓΡΒΟ nach der Mehrzahl der Belege am davidischen Königtum haftet. 8 Auch an den Stellen, an denen er fur Saul 4
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Von den insgesamt 39 Belegen des Titels fallen 18 auf 1/2 Sam und 10 auf den Psalter; vgl. hierzu E. KUTSCH, Salbung als Rechtsakt (BZAW 87), 1963; K. SEYBOLD, Art.: ΓΚΡΟ mäsah, ThWAT V, 1986, 46-59. Jes 45,1 für Kyros und Hab 3,13 innerhalb eines Psalms. F. HESSE, Art.: χρίω κτλ Β. Πt2D und MRP ΓΡΒΟ im Alten Testament, ThWNT IX, 1973, 485-500, 494. Messianisch ohne Messias. Zur Überlieferungsgeschichte und Interpretation der sogenannten messianischen Texte im Alten Testament (EHS.T 232), 1984, 15 f. E . KUTSCH ( A n m . 4 ) , 5 3 , r e c h n e t h i e r z u : (par.
Thr
Ps 18,51); 4,20; 2
Chr
23,1; 6,42.
Hab 3,13;
Ps 2,2;
1 Sam 2,10.35; 20,7;
28,8;
16,6; 2 Sam 19,22;
84,10;
89,39.52;
22,51
132,10.17;
„Richte ihnen auf ihren König, den Sohn Davids" - Psalmen Salomos 17
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verwendet wird, ist er im Munde Davids belegt und fügt sich dabei ein in die theologische Auseinandersetzung um das saulidische und davidische Königtum. 9 Der Titel wird an keiner Stelle absolut, sondern stets in Verbindung mit JHWH gebraucht. 10 Diese Zuordnung ist wenigstens nach zwei Seiten hin auslegbar. Sie bringt nicht nur in möglicher Abwehr altorientalischer Königsideologie, wie meist betont wird 11 , eine Unterordnung des Königs unter den Gott Israels zum Ausdruck, sondern gleichzeitig gilt der als m r p ΓΡΒ70 bezeichnete König der profanen Welt entzogen, er ist in seiner Person unantastbar und somit sakrosankt. 12 Letzteres lassen schon die vielleicht ältesten Belegstellen für den Titel in der sog. Aufstiegserzählung Davids (1 Sam 6 , 1 4 - 2 Sam 5) erkennen. David lehnt hier mehrfach den Rat, Saul zu töten, mit der Begründung ab: „Denn der Gesalbte JHWHs ist er" (1 Sam 24,7.11; vgl. 26,9.11.16.23). Die Vorstellung der Unantastbarkeit des Königs als JHWHs Gesalbter scheint auch hinter der Aussage von Ps 20 zu stehen, die im Anschluß an die Fürbitte für den König formuliert ist: Jetzt weiß ich, daß JHWH seinem Gesalbten hilft; Er antwortet ihm aus seinem heiligen Himmel mit hilfreichen Taten seiner Rechten (V. 7).
In jedem Fall ist der Titel von theologischer Relevanz. Nur so wird verständlich, daß der Beter des 89. Psalms mit dem Untergang des davidischen Königtums den Verlust des heilvollen Wirken JHWHs beklagt: Aber du (JHWH) hast verworfen und verstoßen, hast gezürnt mit deinem Gesalbten. Du hast entweiht den Bund deines Knechtes, hast geschändet zur Erde sein Diadem (V. 39 f.).
Insgesamt ist für die Verwendung des Titels ΓΡϋΟ signifikant, daß er nur in den Königspsalmen mit den Grundaussagen der Davidtradition wie der Erwählung Davids, der göttlichen Adoption des davidischen Königs, der Weltherrschaft des Jerusalemer Königtums und der Verheißung einer ewigen Dynastie korrespondiert (Ps 2; 89; 132; vgl. auch 110).
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1 Sam 24,7.11; 26,9.11.16.23; 2 Sam 1,14.16. Entweder durch Beifügung des Gottesnamens oder durch Suffix.
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V g l . M . SJEB0 ( A n m . 2), 4 5 .
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Vgl. F. CRÜSEMANN, Der Widerstand gegen das Königtum. Antikönigliche Texte des Alten Testaments und der Kampf um den frühen israelitischen Staat (WMANT 49), 1 9 7 8 , 137.
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In den eindeutig deuteronomistischen Stücken des DtrG (vor allem 2 Sam 7) wie auch in jenen Texten der Schriftprophetie, die in sehr verschiedener Weise die Bedeutung Davids und seines Königshauses reflektieren, scheint der Titel dagegen bewußt vermieden zu sein. An Stelle des Titels IVTCO werden "PJ313, ~Ι3ΰ 1 4 und K ^ J 1 5 verwendet, die wahrscheinlich
deutlicher als der Titel RPTTFÖ die Abhängigkeit des Königs von JHWH zum Ausdruck bringen. GERHARD VON RAD hatte im Anschluß an HUGO GRESSMANN die These formuliert: „Keiner der Königspsalmen ist messianisch...; nichts weist auf die eschatologische Erwartung eines Erretterkönigs. Und doch ist der Hofstil ... die Brücke zum Messiasglauben." 1 6
Diese These wird mißverstanden, deutet man sie ausschließlich dahingehend, daß ein weit übersteigertes königsideologisches Ideal angesichts katastrophaler Gegenwart an den Horizont der Geschichte projiziert worden ist. 17 Ihre Begründung ist viel eher darin gegeben, daß aus dem „Hofstil" jenes sakrale Verhältnis zwischen JHWH und dem Jerusalemer König erwachsen ist, auf Grund dessen an dem davidischen Königtum als unaufgebbarer Heilsgröße festgehalten werden mußte. Für die Frage nach dem Titel IT tí? O und der mit ihm verbundenen Tradition kann jedenfalls nicht übersehen werden, daß im Alten Testament nur in der Gebetssprache der Psalmen die Davidtradition durch den Titel selbst als messianisch definiert worden ist. Von daher kann ausgeschlossen werden, daß sich der Titel ΓΡΒ/0 keinem fest umrissenen Vorstellungsbereich zuordnen läßt. Im folgenden soll deshalb am Beispiel von PsSal 17 untersucht werden, inwieweit die in den Königspsalmen des Alten Testaments überlieferte Davidtradition die weitere Entwicklung messianischer Erwartungen geprägt hat. PsSal 17 erweist sich für eine solche Untersuchung insofern als geeigneter Bezugspunkt, als dieser Psalm in der Forschung den einen „als ein Dokument
13 14 15
16 17
2 Sam 7,8; lKön 14,7; 16,2; 2Kön 20,5; Jes 55,4; vgl. dazu W. DIETRICH, Prophetie und Geschichte (FRLANT 108), 1972, 86. 138 mit Anm. 115. 2Sam 7,5.8; lKön 3,6; 8,24ff.; 11,13.32 u.ö.; vgl. T. VEIJOLA, Die ewige Dynastie (AASF.B 193), 1975, 127 ff. Terminus Ezechiels bzw. seiner Schule für den erwarteten David (Ez 34,24; 37,25; 44,3; 45,16 u.ö.), vgl. S. HERRMANN, Die prophetischen Heilserwartungen im Alten Testament (BWANT 5), 1965, 277. Art.: βασιλεύς Β. -[^O und π ο ' ρ ο im Alten Testament, ThWNT I, 1933, 563-569, 565. S o F. HESSE ( A n m . 6), 4 9 6 A n m . 61.
„Richte ihnen auf ihren König, den Sohn Davids" - Psalmen Salomos 17
35
ersten Ranges für das fast unveränderte Fortleben der altisraelitischen Messiaserwartungen" 18 gilt, während andere dagegen in ihm den Beweis dafür sehen, daß hier überhaupt zum ersten Mal von einem messianischen Konzept gesprochen werden kann, das sich damit eindeutig als nachalttestamentlich erweist 19 .
II. PsSal 17 im Kontext der Sammlung PsSal 17 gehört zu einer Sammlung von achtzehn Gedichten. Die Sammlung selbst stammt aus der Mitte des 1. Jh. v. Chr., und Teile der Sammlung stellen nach allgemeiner Überzeugung ein Zeitdokument der Theologie und Frömmigkeit des frühen Pharisäismus dar. 20 Das heißt nicht, daß nicht einzelne Gedichte auf ältere Vorlagen zurückgehen könnten. Diese Schlußfolgerung legt sich schon deshalb nahe, weil es als gesichert gelten kann, „daß die einzelnen Psalmen primär überwiegend selbständig waren, bevor sie miteinander zu der jetzigen Psalmenschrift verbunden wurden" 2 1 . So lassen sich für die Stücke im einzelnen wie auch für die Sammlung insgesamt vielfältige Analogien formaler und inhaltlicher Art zu den alttestamentlichen Psalmen aufweisen. Das beginnt damit, daß PsSal 1 als einziges Gedicht keine Überschrift trägt und daß dieses Gedicht in sich so abgeschlossen wirkt, daß es als eine Art „Introduktion" zum folgenden PsSal 2 verstanden werden kann, was etwa der Stellung von Ps 1 im Psalter entsprechen würde. Auch die typischen Formen und Gattungen des Psalters lassen sich in dieser Sammlung wiederfinden: Klagelied (PsSal 4; 5; 7; 9; 12; 17), Danklied (PsSal 2; 13; 15; 16), Hymnus (PsSal 3; 6; 10; 11; 14; 18). Eine solche Zuordnung unterliegt allerdings der Einschränkung, daß „die wesentlichen Formen und Gattungen des Psalters ... hier überwiegend nur in Form kleinerer Teileinheiten" vertreten sind 22 .
18
So F. HAHN, Christologische Hoheitstitel (FRLANT 83), 1974, 149.
19
S o H . STRAUSS ( A n m . 7 ) , 9 8 f.
20
V g l . O . EISSFELDT, E i n l e i t u n g i n d a s A l t e T e s t a m e n t ,
21
troduction aux Pseudépigraphes Grecs d'Ancien Testament (SVTP 1), 1970,60 ff. J. SCHOPPHAUS, Die Psalmen Salomos. Ein Zeugnis Jenisalemer Theologie und Frömmigkeit in der Mitte des vorchristlichen Jahrhunderts (ALGHJ 7), 1977, 76.
22
J. SCHOPPHAUS ( A n m . 2 1 ) , 7 5 .
4
1 9 7 6 , 8 2 6 f f . ; A . - M . DENIS, I n -
36
Altes Testament
Versucht man den Aufbau der ganzen Sammlung näher zu bestimmen, dann könnte von thematischen Gesichtspunkten ausgegangen werden. Zwei Hauptgedanken stehen deutlich im Vordergrund: „die Gerechtigkeit Gottes und das Verhältnis zwischen Frommen und Gottlosen" 2 3 . Beide Themen sind aber oft derart eng miteinander verflochten und sie werden in so unterschiedlicher Weise verwendet, daß sich von hieraus nich mehr als eine leitende Grundidee und kaum ein differenzierter Aufbau der Sammlung ableiten läßt. Die Differenzen im Aufbau kommen erst dann in den Blick, wenn neben thematischen Gesichtspunkten auch formgeschichtliche Beobachtungen zur Geltung gebracht werden. Dies hat JOACHIM SCHÜPPHAUS versucht, und er ist zu folgendem Ergebnis gekommen: „Eine größere Gruppe von Psalmen, so Ps 3; 6; 10; 13; 14; 15; 16, befaßt sich mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Frommen, überwiegend im Gegensatz zum negativen Beispiel des Sünders." 2 4
Des weiteren stellt er heraus, daß PsSal 17 mit den Psalmen 1/2 und 8 zu einer anderen Gruppe „mit überwiegend und ausdrücklich historisch-geschichtlichen Bezügen auf die Pompeiuszeit" gehört. Diese Psalmen, zu deren erweiterten Kreis auch die PsSal 4; 7 und 12 gerechnet werden könnten, heben sich aber nicht nur thematisch aus der Sammlung heraus, sondern sie unterscheiden sich auch in formaler Hinsicht von den anderen Psalmen. „Sie weisen in ihrem Kern eine klagend-bittende Struktur auf, indem sie rückblickend bestimmte geschichtliche Vorgänge der Vergangenheit klagend vergegenwärtigen und von daher Gott unter verschiedener Begründung um ein helfendes Eingreifen bitten. Zugleich sind hier auch preisend-belehrende Passagen zu finden, die sich an einer zusätzlichen Wertung bzw. Interpretation des historisch-geschichtlichen Geschehens interessiert zeigen." 2 5
Erst über diese Wertung bzw. Interpretation gewinnen diese Psalmen eine deutliche Nähe zu jener größeren Psalmengruppe, die das Hauptthema der Sammlung, Gottes Gerechtigkeit und das Leben des Frommen im Gegensatz zum Sünder, reflektiert. JOACHIM SCHÜPPHAUS vermutet deshalb mit guten Gründen, daß diese drei bzw. vier Psalmen (PsSal 1/2; 8; 17) zusammen mit den PsSal 4; 5,5-7; 7; 9; 11; 12 eine ältere Vorlage fur die ganze Sammlung gebildet haben.26 Ist das richtig, dann gehört PsSal 17 zu den Psalmen, die auf jeder zu vermutenden Überlieferungsstufe als Rahmen und Grundgerüst der 23
S. HOLM-NIELSEN, Die Psalmen Salomos (JSHRZ 4/2), 1977, 56.
24
J. SCHÜPPHAUS ( A n m . 21), 76.
25
J. SCHÜPPHAUS ( A n m . 21), 77.
26
J. SCHÜPPHAUS ( A n m . 21), 7 9 f.
„Richte ihnen auf ihren König, den Sohn Davids" - Psalmen Salomos 17
37
Psalmen Salomos verstanden werden müssen. Aus dieser allgemeinen Kontextbeschreibung und ihrer überlieferungsgeschichtlichen Sicht lassen sich wenigstens drei Schlußfolgerungen für die inhaltlich-thematische Bestimmung dieses Psalms ziehen: 1. Die historisch-geschichtlichen Bezüge, die sich in Form einer Klage eingebunden in den V. 5-20 finden lassen, teilt PsSal 17 mit PsSal 2 und 8. 2. Den Bezug zum Gesamtthema der Sammlung gewinnt dieser Psalm durch eine „preisend-belehrende Passage" (V. 7-10), die in die Klage eingeschaltet ist, worin der Beter bekennt, daß Gott den Sündern nach ihren Taten vergelten wird. 3. Mit seinem Rückblick auf das davidische Königtum, mit seiner Vergegenwärtigung der Davidverheißung und mit der Bitte um das Kommen eines davidischen Königs (V. 4.21-43) wird dieser Psalm aber völlig aus der Sammlung herausgehoben. Dieses Thema wird in den vorausgehenden Gedichten weder vorbereitet noch angeschlagen.
III. Zum Inhalt und Aufbau von PsSal 17 PsSal 17 setzt nicht in medias res mit David als Thema ein. Der Psalm wird in den V. 1-3 hymnisch eröffnet und sein Bekenntnis lautet: „Herr, du selbst bist unser König für immer und ewig ..." Dem Preis über Gottes Königtum schließt sich in V. 4 die Erinnerung an die Davidverheißung an: „Du, Herr, erwähltest David zum König über Israel, und du schworst ihm für seinen Samen in Ewigkeit, daß sein Königtum vor dir nicht aufhöre." Die nachfolgende Klage (V. 5-20) schildert die gegenwärtige Not des Volkes. Die Verbindung zu dem vorausgehenden Stück ist ein sachliche. Eingangs (V. 5 f.) wird beklagt, daß sich infolge der Verfehlungen des Volkes Sünder erhoben, die mit Gewalt, ohne Verheißung, ein Königtum in ihrem Hochmut errichtet und in ihrem Übermut den Thron Davids verwüstet haben. Auf dem Hintergrund dieser Klage (vor allem V. 11 ff) wird in V. 21 die Verheißung von V. 4 wieder aufgenommen und zur Bitte umformuliert: „Siehe zu, Herr, und richte ihnen auf ihren König, den Sohn Davids, zu der Zeit, die du ausersehen, o Gott, über Israel, deinen Knecht, zu herrschen." Damit ist der Psalm bei seinem eigentlichen Thema. Die Bitte um sein Kommen (V. 21) wird in V. 22 erweitert: „und umgürte ihn mit Stärke." Von
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dieser mit dem Imperativ ύπόζωσον eingeleiteten Bitte sind die nachfolgenden Infinitive der V. 22-25 abhängig, und sie beschreiben die grundlegende Erwartung an sein Erscheinen: „zu zermalmen ungerechte Fürsten, zu reinigen Jerusalem von Heidenvölkern, ... die Sünder vom Erbe zu verstoßen, ... zu zerschlagen, ... zu vernichten gesetzlose Völkerschaften, ... den Feind in die Flucht zu schlagen ... und die Sünder zu züchtigen in ihres Herzens Wort". Die so beschriebenen Erwartungen an den davidischen König werden in den V. 26-28 im Blick auf sein Handeln an Israel und in den V. 29-31 im Blick auf sein Handeln an den Heidenvölkern noch näher ausgeführt. Ziel seines Wirkens ist die Verherrlichung Gottes (V. 31), indem er ein heiliges Volk versammelt (V. 26) und Jerusalem reinigt (V. 30). Hiermit scheint ein erster Höhepunkt markiert zu sein. Zwar sprechen auch die V. 32 ff. von dem erwarteten König, aber sie lassen eine auffallende Verschiebung der Blickrichtung erkennen. Ging es bisher um das Handeln und Wirken des davidischen Königs an Israel und der Welt, so steht in den V. 32-43 „ein königlicher Gesalbter ... in seiner Stellung vor Gott und seinem makellosen vollkommenen Wesen und Handeln im Mittelpunkt" 2 7 . Er selbst ist ein „gerechter, von Gott unterwiesener König", der „Gesalbte des Herrn" (V. 32). Seine Macht ruht nicht auf Kriegsgerät (V. 33). „Der Herr selbst ist sein König" (V. 34). „Er ist rein von Sünde..." (V. 36). „Gott hat ihn stark gemacht mit heiligem Geist..." (V. 37). „Sein Vertrauen ist auf den Herrn (gerichtet)" (V. 39). Er ist „mächtig durch Gottesfurcht" (V. 40). Die V. 42 f. charakterisieren zusammenfassend das Wesen und Handeln des Gesalbten: Dies ist die Majestät des Königs Israels, den Gott auserwählt, ihn zu setzen über das Haus Israel, um es zu leiten. Seine Worte sind geläuterter als das kostbarste Gold, in den Versammlungen wird er die Stämme eines geheiligten Volkes richten; seine Worte sind wie Worte von Heiligen inmitten geheiligter Völker.
Den Abschluß des Psalms bilden ein Makarismus über die, „die in jenen Tagen leben ..." (V.44) und die Bitte: „Es beeile sich Gott mit seinem Erbarmen über Israel ..." (V. 45). Der Schlußvers (V. 46) nimmt das Eingangsbekenntnis (V. 1-3) zu Gott als König wieder auf. Dieser Psalm ist nicht frei von Spannungen. Neben einer Anzahl von Dubletten (vor allem V. 21 ff.32ff.) wird von den Auslegern auch immer wieder auf inhaltliche Widersprüche hingewiesen. Dazu zählen u. a. das Nebeneinan-
27
J. SCHÜPPHAUS ( A n m . 2 1 ) , 7 1 .
„Richte ihnen auf ihren König, den Sohn Davids" - Psalmen Salomes 17
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der von Gottes Königsherrschaft (V. 1-3.46) und davidischem Königtum (V.4.2Iff.). Die Hoffnungen der V.22ff. richten sich auf einen König, der geradezu militärisch vorgeht; die Erwartungen der V. 32 ff. auf einen Gesalbten, der von allen militärischen Machtmitteln frei ist. Einerseits wird in diesem Psalm gesagt, daß er die Heidenvölker vernichten wird (V. 22-25) und andererseits kann davon gesprochen werden, daß er die Völker zum Zion fuhren wird (V. 31). „Universalismus und nationalistischer Partikularismus gehen hier durcheinander" , 2 8 So schlußfolgert auch JOACHIM SCHCJPPHAUS bei seiner Analyse der Psalmen Salomos: „So weist vor allem Ps 17 einen stark uneinheitlichen Charakter auf. Begünstigt durch Unklarheiten im Text sind einzelne Passagen oft mehrdeutig, bestimmte Psalmteile zeigen unterschiedliche Interessen und widerstreitende Blickrichtungen, so daß ein einheitlicher Gesamtzusammenhang nur sehr schwer zu erheben ist und alle Spannungen kaum aufzulösen sind." 2 9
Damit ist zweifellos die Frage nach der literarischen Integrität des Psalms aufgeworfen. Bevor man aber mit verschiedenen Überlieferungsschichten rechnet und nachträgliche, redaktionelle Gestaltung annimmt, sollte man auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß in diesem Psalm unterschiedliche und disparate Traditionsstoffe zu einem eigenen Ganzen geformt worden sind.
IV. Der traditionsgeschichtliche Hintergrund von PsSal 17
1. Zum Sprachgebrauch
In der Regel beschränkt sich die traditionsgeschichtliche Fragestellung allein auf die inhaltlichen Aussagen des Psalms. Seine Bezüge zu alttestamentlichen Texten scheinen allerdings uferlos zu sein und sind nur ganz selten sicher zu bestimmen. U L R I C H K E L L E R M A N N spricht von einem „messianischen Kompendium" ohne „ausgesprochene Systematik" , 3 0 Auch wenn häufig Texte wie 2 Sam 7 oder Jes 11 als besonders prägend herausgestellt werden, finden sich vielfaltige Beziehungen zu alttestamentlichen Psalmen und zu Texten aus pro-
28
So U. KELLERMANN, Messias und Gesetz. Grundlinien einer alttestamentlichen Heilserwartung (BSt 61), 1971, 101.
29
J. SCHÜPPHAUS ( A n m . 2 1 ) , 7 3 .
30
U . KELLERMANN ( A n m . 2 8 ) , 98.
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phetischer und weisheitlicher Überlieferung. Eine wirkliche Gewichtung nach bestimmten Textbereichen läßt sich dabei auf den ersten Blick kaum feststellen. Schon an V. 4, der zweifellos den umfangreichsten Traditionsbezug aufweist, läßt sich dies beispielhaft verdeutlichen. Σύ, κύριε, ήρετίσω τον Δαυίδ βασιλέα έπί Ισραήλ, καί σ ύ ώμοσας αύτω περί του σπέρματος αύτου εις τον αίωνα του μή έκλείπειν απέναντι σου βασίλειον αύτοδ. Du, Herr, erwähltest David zum König über Israel, und du schworst ihm für seinen Samen in Ewigkeit, daß sein Königtum vor dir nicht aufhöre.
Ein einzelner alttestamentlicher Text kommt ohnehin nicht als Grundlage in Frage. In 2 Sam 7, ein Text, der immer als Grundstelle angegeben wird, fehlen die hier wichtigen Verben „erwählen" (αίρετίζειν = 1Π3) und „schwören" (όμνύειν = JJ3S9). Überprüft man die wichtigsten Begriffe, so gelangt man zu folgender Übersicht: Von der Erwählung Davids mit dem Verb Ί Π 3 Kai bzw. den Nomina Τ Π 3 / Ί 1 Π 3 wird in 2 Sam 6,21; 1 Kön 8,16; 11,34; Ps 78,70; 89,4.20 gesprochen. Von einem Schwur JHWHs an David ist in 2 Sam 3,9; Ps 89,4.36.50; 132,11 die Rede. Der Ausdruck „Same" (σπέρμα = J71T) im Sinne der Nachkommenschaft Davids findet sich in 1 Sam 20,42; 2 Sam 7,12; 22,51 (= Ps 18,51), 1 Kön 2,33; Ps 89,5.30.37. Die Prädikation der Dynastie als „ewig" (είς τον α ι ώ ν α = bzw. begegnet außer in 2 Sam 7; Ps 89; 132 noch in 1 Sam 20,15.42; 2 Sam 3,8; 22,51 (= Ps 18,51); 1 Kön 2,33.45; 9,5. Für die Wendung „daß sein Königtum vor dir nicht aufhöre" (μή έκλείπειν = m D " Κ1?) könnte auf 1 Kön 2,4 (= 2 Chr 6,16) verwiesen werden. In den Dynastiezusagen des Alten Testaments ist diese Aussage positiv, meist mit dem Verb | 0 Hi oder Ni formuliert. Auch die Belege 1 Makk 2,57; Jes Sir 45,25; Sib 3,288 bieten keine wirklichen sprachlichen Parallelen zu Psalm 17,4. So spricht dieser Befund dafür, daß V. 4 aus der Fülle der alttestamentlichen Traditionen formuliert worden ist. Eine Abgrenzung läßt sich allenfalls in der Richtung treffen, daß wohl eher Formulierungen des Psalters als solche der geschichtlichen Überlieferungen im Hintergrund stehen. Jedenfalls lassen sich die einzelnen Formulierungen dieses Verses geschlossen nur im Kontext von Ps 89 nachweisen. 2 Sam 7 ist entgegen der gängigen Auffassung nur eine Sachparallele mit den wenigsten sprachlichen Berührungen. Zu dem Traditionshintergrund des Komplexes V. 21-43 vertritt S. HOLMNŒLSEN die A u f f a s s u n g :
„Richte ihnen auf ihren König, den Sohn Davids" - Psalmen Salomos 17
41
„Die folgende Schilderung des Messias beruht vor allem auf 2 Sam 7, entlehnt aber im übrigen die Ausdrucksweise aus mehreren ,messianisehen' Passagen, namentlich in der Prophetenliteratur." 3 1
Dieses Urteil ist ähnlich wie schon zu V. 4 nachdrücklich zu korrigieren. Innerhalb der Bitte um das Kommen des davidischen Königs (V. 21-25) lassen sich an erster Stelle wiederum Psalmenzitate feststellen. Die Wendung „umgürte ihn mit Stärke" (ύπόζωσον αύτόν ίσχύν) besitzt ihre nächste sprachliche Parallele in Ps 18,33.40: „Gott, der mich umgürtet mit Kraft" ( " r n •'nmran b x n , LXX: ό θεός ό περιζωννύων με δύναμνν, V. 33). Auf Ps 2,9 geht der Passus in V. 23b.24a zurück: „... des Sünders Übermut zu zerschlagen wie des Töpfers Geschirr; mit eisernem Stab zu zerschlagen all ihren Bestand." Gleich sind nach der LXX die Wendungen ώς σ κ ε ύ η κεραμεως und έν ράβδω σιδηρςί. Möglich ist, daß diese Aussage in PsSal 17 von Jes 11,4 her interpretiert worden ist. V. 24b belegt jedenfalls, daß das Handeln des davidischen Königs Kraft „des Wortes seines Mundes" (έν λόγω στόματος αύτου) gedeutet wird. Jes 11,4b lautet nach LXX: „Er wird schlagen die Erde mit dem Wort seines Mundes (τώ λόγω του στόματος αύτου) und mit dem Hauch der Lippen töten den Frevler." Mit Jes 11 teilt PsSal 17 auch die wesentlichen Charakteristika des künftigen Königs: Weisheit (σοφία) und Gerechtigkeit (δικαιοσύνη), sowie die grundsätzliche Erwartung, daß der König fur Israel eine heilvolle Zukunft herauffuhren wird, indem er „Jerusalem von Heidenvölkern reinigt" (PsSal 17,23) bzw., daß durch sein Wirken „nichts Böses und nichts Verderbliches auf Gottes heiligem Berg" geschieht (Jes 11,9). Schon dieser mehr ausschnitthafte Überblick erhellt, daß PsSal 17 seinen Einsatz fur die Bitte um den Messias aus der alttestamentlichen Davidtradition und hier vor allem aus den traditionellen Königspsalmen gewinnt. Auch wenn die Tradition dabei noch ausgebaut und teilweise mit andersartigen und disparaten TraditionsstofFen aufgefüllt worden ist, läßt sich nur schwer von einem völlig neuen Konzept sprechen. Es handelt sich eher um eine Erweiterung dieser Tradition. Daß PsSal 17 hier in einer festen und vermutlich auch kontinuierlich gewachsenen Tradition steht, läßt sich an einem Vergleich mit der Stellung und Funktion der Königsspalmen im Psalter erhärten.
31
S. HOLM-NIELSEN ( A n m . 2 3 ) , 101.
42
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2. Vergleich mit den Königspsalmen
Daß die PsSal 17 und 18,1-9 mit dem Rückgriff auf die Davidtradition und mit der Ewartung des Messias den Abschluß der Sammlung bilden, ist ganz sicher kein Zufall. Es entspricht genau der Stellung, die einige Königspsalmen in den Sammlungen des alttestamentlichen Psalters besitzen. CLAUS WESTERMANN hat darauf aufmerksam gemacht, daß durch die Ps 2 und 89 zwei größere Psalmensammlungen (Ps 3-41; 42-83) gerahmt werden und aus der Streuung der Königspsalmen im Psalter insgesamt den Schluß gezogen: „die Königspsalmen sind in einem bestimmten Stadium des Sammlungsprozesses einzeln aufgenommen und einzeln Sammlungen an- oder eingefugt worden; offenbar nicht mehr in ihrer ursprünglichen kultischen Bedeutung fur den jeweils regierenden König, sondern schon in der sekundären messianischen Deutung." 3 2 Desgleichen könnte auch im Blick auf Ps 132 gefragt werden, ob es Zufall ist, daß dieser Königspsalm auf die Ps 130 und 131 folgt, die „der Hoffnung auf eine Zukunft Israels die Tür öffnen (Ps 130,7 f.; 131,3)" und der dadurch an das Ende einer Sammlung von Wallfahrtsliedern (Ps 120-134) zu stehen kommt. 33 Eine vergleichbare Stellung läßt auch Ps 72 erkennen, der mit dem Hinweis schließt: „Beendet sind die Gebete Davids, des Sohnes Isais" (V. 20). ERICH ZENGER hat in einer Untersuchung dieses Psalms nicht nur auf die besondere Stellung der Königspsalmen, sondern auch auf den „strukturellen Zusammenhang" der Ps 2; 41; 72; 89; 106 und 145 aufmerksam gemacht. 34 Mit ODIL HANNES STECK35 sieht er in holistischer Lektüre dieser Psalmen einen Bogen gespannt, der von den Königen David (Ps 41) und Salomo (Ps 72) über die Klage des Verlustes des Königtums (Ps 89) und die Volksklage angesichts des Unterganges von Israel und Juda (Ps 106) bis hin zur Restitution des Gottesvolkes im Weltkönigtum JHWHs (Ps 145) reicht. Zum einen entspricht dieser redaktionsgeschichtliche Vorgang der hohen Wertschätzung Davids im Psalter überhaupt und zum anderen ist darin angezeigt, daß die mit David verbundenen Erwartungen auch nach dem Untergang
32
Zur Sammlung des Psalters, Forschung am Alten Testament (TB 24), 1964, 336-343, 342; vgl. auch G. H. WILSON, The Use of Royal Psalms at the .Seams' of the Hebrew Psalter, JSOT 35, 1986, 85-94.
33
S o U . KELLERMANN ( A n m . 2 8 ) , 90.
34
,So betete David fur seinen Sohn Salomo und fur den König Messias'. Überlegungen zur holistischen und kanonischen Lektüre des 72. Psalms, JBTH 8, 1993, 57-72, 70 f. Der Kanon des hebräischen Alten Testaments. Historische Materialien für eine öku-
35
m e n i s c h e Perspektive, F S W . PANNENBERG, 1 9 8 8 , 2 3 1 - 2 5 2 , 2 4 2 f. A n m . 3 5 .
„Richte ihnen auf ihren König, den Sohn Davids" - Psalmen Salomos 17
43
des Königtums als konstitutiv für die Geschichte Israels angesehen wurden. Ps 78 bietet das klassische Einzelbeispiel dafür, daß die Davidtradition als Summe geschichtlichen und vergegenwärtigten Heils am Ende eines Geschichtssummariums stehen kann (V. 70-72). Ganz sicher wird damit im Psalter noch nicht die Erwartung an eine irgendwie geartete Restauration des davidischen Königtums oder die Hoffnung auf die Wiederkehr eines neuen David ausgesprochen. In diesem Sinne sind die Königspsalmen in der Tat „unmessianisch". Vielmehr erweist sich in diesem Konzept die Davidtradition, einschließlich der untergegangenen Institution des Königtums, eingebunden in das alleinige Königtum JHWHs. Eine Spannung zwischen weltlichem und göttlichem Königtum ist hier insofern nicht mehr gegeben, als in der theokratischen Sichtweise, die weite Teile der exilisch-nachexilischen Überlieferungen auszeichnet 36 , sämtliche Funktionen des weltlichen Königtums auf andere Institutionen übertragen und letztlich dem Gott Israels als dem einzigen König der Welt unterstellt und somit in seinem Königtum verwahrt worden sind. Es ist deshalb geradezu konsequent, wenn in PsSal 17 die Bitte um die Wiederkehr Davids (V. 21) aus dem Bekenntnis erwächst: „Herr, du selbst bist unser König für immer und ewig" (V. 1.46). Diese Bitte besagt ja nichts anderes, als daß JHWH das bei ihm bewahrte Königtum wieder freigeben möge als sichtbares Zeichen seiner eigenen Gegenwart. Daß PsSal 17 hier deutlich in den Traditionen des alttestamentlichen Psalters steht, gibt auch ein Vergleich mit Ps 89 zu erkennen. Sicher lassen sich in PsSal 17 formale Brüche und inhaltliche Spannungen aufzeigen. 37 Sie können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß dieser Psalm durchaus formal gestaltet ist. Das Bekenntnis zu Gott als König bildet in den V. 1 - 3 und 44-46 den äußeren Rahmen des Psalms. Eingebunden darin sind die Rückerinnerung und Vergegenwärtigung der Davidverheißung in den V. 4 und 21 ff., die wiederum die Notschilderung des Volkes (V. 5-20) rahmen. Dieser Rahmen „zeigt einen klaren, fast chiastischen Aufbau" 3 8 . Gattungsgeschichtlich läßt sich diese Form nicht auf einen Begriff" bringen. Es handelt sich um eine Mischform aus Hymnus, Klage und Bitte. Erst aufgrund dieser eigenwilligen Komposition lassen sich neben den schon erwähnten sprachlichen Berührungen 39 weitere Beziehungen zwischen den beiden Psalmen ausmachen. An erster Stelle ist hier die Verwendung der Davidtradition zu nennen. 36 37
Vgl. J. BECKER, Messiaserwartung im Alten Testament (SBS 83), 1977, 42ff. 63 ff. S. o. unter III.
38
U . KELLERMANN (ANM. 2 8 ) , 9 8 .
39
S.o. unterIV. 1.
44
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Auch in Ps 89 bilden Davidtradition und Dynastiezusage (V. 4 £20 ff.) den Rahmen fur ein gattungsmäßig völlig anderes Stück, nämlich für einen eingeschalteten Schöpfungshymnus. Dabei lassen sich an beiden Stellen ähnliche Gewichtungen feststellen. Die erste Erwähnung Davids hat jeweils die Funktion eines Proömiums (Ps 89,4; PsSal 17,4 f.) und die Vergegenwärtigung der Davidverheißung (Ps 89,20-38) bzw. die Bitte um den davidischen König (PsSal 17,21-43) bilden den Hauptteil des jeweiligen Psalms. Auch das oft als Spannung empfundene Nebeneinander von Gottes Königsherrschaft und davidischem Königtum ist in diesem Psalm vorgeprägt. Der Schöpfungshymnus von Ps 89 endet in dem Makarismus: Glücklich das Volk, das den Königsjubel kennt! JHWH, im Lichte deines Antlitzes wandeln sie. Deines Namens freuen sie sich alle Zeit, in deiner Gerechtigkeit erheben sie sich. Denn JHWH ist unser Schild, des Heiligen Israels unser König (V. 16-19).
Diesem Bekenntnis folgt dann unvermittelt die Rückerinnerung und Vergegenwärtigung der Davdiverheißung (V. 20 ff.). Die einzelnen Stücke sind in den Psalmen jeweils anders geordnet, wodurch sich unterschiedliche Blickrichtungen ergeben. In Ps 89 handelt es sich um eine Rückerinnerung an die Davidverheißung, die durch den eingefugten Schöpfungshymnus als weiterhin gültig und unverlierbar erachtet wird. PsSal 17 blickt in die Zukunft und begründet die Bitte um das Kommen des davidischen Königs aus der Notsituation des Volkes. An eine direkte Abhängigkeit des PsSal 17 von Ps 89 muß deshalb nicht unbedingt gedacht werden. Aber die hier nur in aller Kürze beschriebenen Beobachtungen lassen doch die Frage stellen, ob PsSal 17 in seinem scheinbar unsystematischen Aufbau nicht eine Vorlage gehabt hat. In jedem Fall ist der formal gleiche Einsatz der Davidtraditionen in den beiden Psalmen auffallend und sicher nicht zufallig.
V. Ergebnis
Die Untersuchung hat gezeigt, daß die Davidtradition in PsSal 17 in ihrer messianischen Ausrichtung vor allem durch die alttestamentlichen Psalmen, insonderheit durch die Königspsalmen geprägt worden ist. Das weithin vertretene Urteil, daß die geschichtlichen Überlieferungen von 2 Sam 7 und die so-
„Richte ihnen auf ihren König, den Sohn Davids" - Psalmen Salomes 17
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genannten „messianischen Weissagungen" der Schriftprophetie den eigentlichen Hintergrund dieses Psalms bilden, war sowohl auf der sprachlichen Ebene als auch aufgrund des Vergleichs mit den Königspsalmen zu korrigieren. Das besagt nicht, daß die geschichtlichen und prophetischen Traditionen für die Ausprägung der messianischen Erwartungen bedeutungslos gewesen sind. Insoweit sie die Davidtradition aufnehmen und entsprechend ihrer Zeit theologisch reflektieren, teilen sie alle miteinander die Gültigkeit der einst an David und sein Haus ergangenen Verheißungen. Ihre Auslegungen allerdings sind verschieden. Sie reichen von der Integration der Davidtradition in gesamtisraelitische Zusammenhänge (DtrG), über ihre Uminterpretation auf Israel (Jes 55,3) bis hin zur völligen Auflösung in das Königtum JHWHs (Thr 5,20). 40 Der Versuch, hier zu systematisieren, erweist sich als wenig hilfreich, da es an dieser Stelle im Alten Testament noch nicht zu einer einheitlichen Ausgestaltung gekommen ist. Allein in der Sprache der Psalmen ist die Davidtradition in dem Verhältnis von „Davidsohnschaft" und „Gottessohnschaft" mit dem Titel IVtSD verbunden und in ihnen finden sich schon die wesentlichen Grundaussagen, die den Messianismus in seiner weiteren Entwicklung bestimmt haben, wofür PsSal 17 den entsprechenden Beleg bietet. Natürlich wissen wir nicht, in welcher Form und wie oft die Königspsalmen in der Zeit des Zweiten Tempels verwendet worden sind und auch nicht, welche Hoffnungen sich in der nachexilischen Gemeinde mit Psalmen wie Ps 2; 89; 110 oder 132 verbunden haben. Aber schon die Tatsache, daß sie im Gebrauch waren (vgl. 2Chr6,41 f.), 41 läßt davon abraten, in dieser Zeit mit einem Abbruch der Tradition oder mit einem „messianologischen Vakuum" 4 2 bis in das 2. Jh. v. Chr. zu rechnen. Vielmehr läßt die Bestimmtheit der kultischen Aussagen in der Einheit von Erfahrung und Erwartung vermuten, daß die im Kult tradierten Aussagen aufgrund ihrer liturgischen Wiederholbarkeit so etwas darstellen, wie den bewußten oder unbewußten Kontrapunkt einer Tradition und ihrer Überlieferung. Damit sollen keinesfalls die Unterschiede zwischen PsSal 17 und den alttestamentlichen Psalmen negiert werden. Was wir im Alten Testament noch nicht finden, ist die explizite Bitte um einen
40
Vgl. dazu VERF., Das Verhältnis alttestamentlicher Überlieferungen im Schnittpunkt der Dynastiezusage und die Dynastiezusage im Spiegel alttestamentlicher Überlieferungen, ZAW 99, 1987, 157-178.
41
Dazu P. WELTEN, Lade-Tempel-Jerusalem. Zur Theologie der Chronikbücher, FS E . WORTHWEIN, 1 9 7 9 ,
42
169-183.
S o J. BECKER ( A n m . 3 6 ) , 7 4 .
46
Altes Testament
neuen David. Aber hier wie dort ist es die Not des Volkes, die die Erinnerung an David und die Vergegenwärtigung seiner Verheißung wachhält, wodurch diese Bitte entweder implizit mitschwingt oder durch die sie allererst ermöglicht wird. Wenn die hier beschriebene Traditionsbindung von PsSal 17 an die alttestamentlichen Königspsalmen annähernd richtig beschrieben ist, dann bietet dieser Psalm den Beweis für die hiermit vorgelegte These.
NEUES TESTAMENT
Von den „Pastoralbriefen" zum „Corpus Pastorale". Eine Hallische Sprachschöpfiing und ihr modernes Pendant als Funktionsbestimmung dreier neutestamentlicher Briefe Hermann von Lips, Halle/Saale
1. Einleitung: Bezeichnungen für Paulusbriefe
Die Bedeutung der Briefe des Paulus innerhalb des Neuen Testaments war wohl zu keiner Zeit strittig. Die Evangelien berichteten die Geschichte von Jesus Christus als Grund und Inhalt des Glaubens, die paulinische Briefsammlung trat daneben - so ADOLF VON HARNACK - „als das große christliche Lehrbuch" sowie „Lebens- und Kirchenbuch" Die neuzeitliche Forschung brachte eine sich wandelnde Sicht der einzelnen Briefe, je nachdem wie die durch die historische Kritik aufgetauchte Frage ihrer Echtheit eingschätzt wurde. Im Wandel befinden sich auch die Bezeichnungen, durch die einzelne Paulusbriefe zu Gruppen zusammengefaßt werden. Nach Umfang und Bedeutung wird von den „Hauptbriefen"2 gesprochen: Rom, 1 Kor und 2 Kor, Gai. Mit Bezug auf die Lebenssituation des Paulus zur Zeit der Abfassung einiger Briefe wird von den „Gefangenschaftsbriefen"3 ge-
1 2
3
A. V. HARNACK, Die Briefsammlung des Apostels Paulus und die anderen vorkonstantinischen christlichen Briefsammlungen, Leipzig 1926, 25 und 26. Vgl. W.G.KÜMMEL, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 20 1980, 215. KÜMMEL verweist für die Verwendung des Begriffs auf F. C. BAUR und die Tübinger Schule. KÜMMEL (Anm. 2), ebd. Auch diese Bezeichnung ist jedenfalls seit dem 19. Jh. nachzuweisen. So spricht z. B. H. J. HOLTZMANN (Die Pastoralbriefe, kritisch und exegetisch behandelt, Leipzig 1880, 1) von den Gefangenschaftsbriefen im Gegenüber zu den Pastoralbriefen. In Meyers Kritisch-exegetischem Kommentar werden die vier Briefe erstmals 1897 gemeinsam unter dem Titel „Gefangenschaftsbriefe" bearbeitet (E. HAUPT).
50
Neues Testament
sprachen: Phil, Kol, Eph, Phlm.4 Doch ist dieser Begriff als Bezeichnung einer Briefgruppe gegenstandslos geworden, seit die paulinische Verfasserschaft von Kol und Eph unwahrscheinlich geworden ist. Dagegen hat sich eine Bezeichnung bis heute gehalten, die vom Inhalt her drei Briefe unter der Bezeichnung „Pastoralbriefe" zusammenfaßt: den ersten und zweiten Brief an Timotheus, den Brief an Titus. Von diesen soll hier die Rede sein. Die Bezeichnung der Briefe an Timotheus und Titus als „Pastoralbriefe" ist erstmals in Halle belegt und ist nach allem, was wir feststellen können, eine Hallische5 Sprachschöpfung. Der Hallische Theologieprofessor PAUL ANTON hat 1726/27 seine Vorlesungen über die drei Briefe unter diesen Titel gestellt. Die Entstehung der Bezeichnung „Pastoralbriefe" erweist sich bei genauerer Nachfrage als ein Stück der Universitätsgeschichte von Halle und hat so einen angemessenen Platz in der vorliegenden Festschrift zur 300-Jahrfeier dieser Universität. Der Blick ist aber zugleich auch weiter zu richten. Dem damals geprägten Begriff ist in der neuesten Zeit der Begriff des „Corpus Pastorale" gegenübergestellt worden. Damit wird dem Befund Rechnung getragen, daß die Pastoralbriefe in der heutigen neutestamentlichen Forschung als nicht von Paulus stammende pseudepigrafische Briefe eine ganz andere Wertung erfahren als zu Zeiten eines P A U L ANTON. Beide Bezeichnungen - „Pastoralbriefe" und „Corpus Pastorale" - sind aber als programmatisch anzusehen innerhalb der Auslegungsgeschichte der Briefe an Timotheus und Titus.
2. Die Bezeichnung „Pastoralbriefe" - erstmals in Halle belegt 2.1 Auslegungsgeschichtlicher Hintergrund Der Zusammenhang und die Besonderheit der drei Briefe an Timotheus und Titus wurden natürlich schon früh gesehen und haben deutliche Spuren in der Auslegungsgeschichte hinterlassen. Im Unterschied zum Großteil der Paulusbriefe handelt es sich hier nicht um Briefe an Gemeinden, sondern an Einzelpersonen. Zu unterscheiden sind sie auch vom Paulusbrief an Philemon: Ihr
4 5
Gelegenüich kann auch der 2 Tim dazu gerechnet werden, der aber andererseits ja zu den Pastoralbriefen zählt. Die Bezeichnungen „Hallische", „Hallesche" oder „Hallenser" werden offensichtlich heute ebenso wie schon früher promiscue verwendet. Vgl. z. B. W. SCHRÄDER, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, Berlin 1894, 50. 105. 136 f.
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Von den „Pastoralbriefen" zum „Corpus Pastorale"
Adressat ist zwar ebenfalls eine Einzelperson, die aber kein Funktionsträger in der urchristlichen Gemeinde war. Timotheus und Titus dagegen sind aus den unbestritten echten Paulusbriefen als Mitarbeiter des Paulus bekannt. Die an sie gerichteten Briefe stellen sie als Beauftragte des Paulus in den Gemeinden von Ephesus (so die Briefe an Timotheus) bzw. auf der Insel Kreta (so der Brief an Titus) dar. Sie haben die doppelte Aufgabe, dort selbst in gemeindeleitender Funktion tätig zu sein und zugleich für die Zukunft Leben und Organisation der Gemeinden im Sinne paulinischer Tradition zu gewährleisten. Das älteste erhaltene Kanonsverzeichnis, der sog. Canon Muratori (vermutlich Ende des 2. Jh.), spielt bereits darauf an, daß diese Briefe zwar an Einzelpersonen gerichtet sind, aber doch auch Bedeutung für die Kirche und ihre Ordnung haben: „... in ordinationem ecclesiasticae disciplinae sanctificatae sunt" 6 Konkret auf die Person des in der Kirche Lehrenden bezogen empfiehlt AUGUSTIN (De doctrina Christiana IV, 16) die Beschäftigung mit diesen drei Briefen: „Quas tres apostólicas epístolas ante oculos habere debet, cui est in ecclesia doctoris persona imposita".7
Entsprechende Bezüge der Briefe werden noch deutlicher - und wohl erstmals 8 mit dem Stichwort „pastoralis" - bei THOMAS VON AQUIN9 hervorgehoben. Nach dem Prolog zum 1 Tim instruiert Paulus mit diesen drei Briefen die „rectores Ecclesiae": „Quorum primum est, ut gubernet populum; secundum, ut pro populo subdito patiatur; tertium, ut malos coerceat".
Und im Blick auf den 1 Tim kann THOMAS formulieren: „Et est haec epistola quasi pastoralis regula, quam Apostolus tradit Timotheo, instruens de omnibus, quae spectant ad regimen praelatomm".10
6
Zitiert nach
7
WOHLENBERG ( A N M . 6 ) , e b d .
8 9
G . WOHLENBERG,
Die Pastoralbriefe
( K N T XIII),
Leipzig
1911,
68.
Vgl. P. N. HARRISON, The Problem of the Pastoral Epistles, Oxford 1921, 13. In omnes S. Pauli apostoli epístolas commentarla, Bd. II, Augustae Taurinorum (= Turin) 1891, 183 ff. 10 A. a. O. (Anm. 9), 184. Mit diesem Zitat kann übrigens ein modernes Beispiel für die Entstehung von Textvarianten gegeben werden. K. H. SCHELKLE, Paulus. Leben Briefe - Theologie (EdF 152), Darmstadt 1981 ( 2 1988), 141, zitiert ausschnittweise aber durch die Umstellung nicht korrekt - „quasi regula pastoralis". Dies nimmt W. SCHENK in seinem Literaturbericht [„Die Briefe an Timotheus I und II und an Titus (Pastoralbriefe) in der neueren Forschung (1945-1985)"] in: ANRWII 25.4, 1987, 3404-3438, dort 3404, in folgender Form auf: „quasi regula pastoris". Da so SCHENK
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Neues Testament
Und auch im Prolog zum 2 Tim taucht das Stichwort „pastoralis" auf, wo THOMAS auf die „cura pastoralis" und das „pastorale officium" Bezug nimmt. In Abgrenzung zum ersten Brief, der Timotheus „de ordinatione ecclesiastica" informiere, stellt er dann fest: „In hac autem secunda (sc. epistola) agit de sollicitudine tanta pastorali, ut etiam martyrium sustineat pro cura gregis ..." 11
In der Folgezeit nehmen dann in der Reformationszeit insbesondere evangelische Kirchenordnungen ausdrücklich auf diese Briefe Bezug, so z. B. in der Kalenberger Kirchenordnung von 1569: „Der Kirchendiener soll aufs fleißigste die epístolas Pauli ad Timotheum et Titum lesen, wiederlesen und oft repetieren, damit er daraus erlerne, wie er sich beide in Lehre und Leben halten ... soll". 12
2.2 Zeitgeschichtlicher und lokalgeschichtlicher Kontext Wenn die Bezeichnung „Pastoralbriefe" erstmals in Halle nachgewiesen ist und somit als Hallische Sprachschöpfung zu gelten hat, so ist dies nicht als zufallig anzusehen. Daß PAUL ANTON diese Bezeichnung für die Briefe an Timotheus und Titus prägte, steht im Kontext der theologischen und exegetischen Arbeit, wie sie für die Theologische Fakultät Halle in ihren Anfangen kennzeichnend war. Die Briefe an Timotheus und Titus waren, wie gezeigt, von ihrer Auslegungsgeschichte her bereits auf den Dienst in der Gemeinde hin akzentuiert worden. Die Theologische Fakultät Halle aber legte von Anfang an besonderen Wert darauf, die Ausrichtung auf den Dienst in der Gemeinde betont in das Theologiestudium einzubeziehen. Hierfür ist die Prägung der maßgebend e n e r s t e n P r o f e s s o r e n JOACHIM JUSTUS BREITHAUPT, PAUL ANTON u n d
AUGUST HERMANN FRANCKE durch den Pietismus von Bedeutung. Der aus
chronologischen 13 Gründen zuletzt genannte FRANCKE war dabei der fuhren-
11
das Stichwort „pastoralis" nicht liest, kann er gegen den „Halleschen Pietismus" polemisieren, dem allein die Begriffswahl „Pastoral-" in Verbindung mit den Briefen zuzuschreiben sei. A. a. O. (Anm. 9), 230.
12
WOHLENBERG ( A n m . 6 ) , 6 8 .
13
Als Professoren der Theologischen Fakultät waren tätig BREITHAUPT seit 1691, ANTON seit 1695, FRANCKE seit 1698 (aber bereits seit 1692 als Professor der hebräischen und griechischen Sprache innerhalb der Philosophischen Fakultät!).
Von den „Pastoralbriefen" zum „Corpus Pastorale"
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de Kopf. Er hat von Anfang an besondere paränetische Vorlesungen gehalten, deren Ziel es war, bei den „Studiosi Theologiae" auf die angemessene innere und äußere Vorbereitung zum Dienst als Pfarrer und Prediger in der Gemeinde hinzuwirken. Bemerkenswert, daß FRANCKE bereits in einer seiner ersten derartigen Vorlesungen Timotheus zum Thema macht. Im Jahre 1695 bringt er diese Vorlesung im Druck heraus: „Timotheus Zum Fürbilde Allen Theologiae Studiosis dargestellet". Die Mahnungen, die Paulus in den beiden Briefen an Timotheus richtet, überträgt er auf die Theologiestudierenden: als „Wort der Ermahnung (...) nicht allein an diejenigen / welche an disem Orte sich zum Dienste der Kirchen Gottes geschickt zu machen gedencken / sondern auch an alle / sie leben noch wircklich auf Universitäten oder nicht / so Studiosi Theologiae heissen." 1 4 Anhand einzelner Stellen aus den Timotheusbriefen mahnt FRANCKE ZU einem dem späteren Beruf angemessenen Lebenswandel (vgl. 1 Tim 3,10), zum intensiven Umgang mit der Heiligen Schrift (vgl. 2 Tim 3,15), zum regelmäßigen Gebet (vgl. 1 Tim 2,1) usw. Auch wenn er ausdrücklich die Theologiestudenten in ihrer jetzigen Situation anspricht, verweist er sie dabei doch immer wieder auf ihr Berufsziel im „Predigt-Amt" (S. 156), „in der Gemeinde (...) als öffentliche Lehrer" (161), im „Ampt eines Evangelischen Predigers" (166), als „Pfarrherren" (167). Er weist mehrfach auf negative Beispiele von Predigern hin und stellt dem immer wieder das „Exempel des Timothei" (S. 156, 161) gegenüber. Auch wenn der Begriff „Pastor" hier bei FRANCKE nicht fällt, wird doch die „pastorale" Anwendung der Timotheusbriefe sichtbar, an die dann später PAUL ANTON anknüpfen kann. Wie in dieser Vorlesung mit den Timotheusbriefen, so hat sich FRANCKE in späteren Lectiones paraeneticae auch mit dem Titusbrief befaßt. 1 5 Zum Titusbrief ist nun eine Veröffentlichung besonders herauszuheben, die diesen in der genannten Perspektive als „epistola pastoralis" kennzeichnet. Es handelt sich um eine exegetische Dissertation, die im Jahre 1703 in Halle abgeschlossen und dann veröffentlicht wurde: „Exercitatio theologica exegetica in Epistolam S. Pauli ad Titum", verfaßt von DAVID NICOLAS BERDOT aus Montbeliard. Der Verfasser bezieht sich in seinem Vorwort ausdrücklich auf die oben erwähnte Mahnung AUGUSTINS, die Briefe an Timotheus und Titus im
14 15
AUGUST HERMANN FRANCKE, Werke in Auswahl, hg. E . PESCHKE, Witten 1 9 6 9 , 1 5 5 . Darauf weist ANTON ebenso hin (Bd. I, 1 9 ) wie auf die Vorlesimg über das Vorbild des Timotheus (Bd. I, 16 f.).
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Neues Testament
Blick auf das Ministerium Pastoris immer vor Augen zu haben. Folgende kurze Inhaltsangabe des Titusbriefs läßt BERDOT dann folgen: „In hac itaque Epistola, quae Pastoralis est, primo ostendit, qualis Minister sit eligendus. cap. I. Secundo quid & quomodo docere debeat cap. Π. Tertio denique capite, ea quae cap. I & cap. II inculcata sunt, magis prosequitur" (S. 4).
Anders als in den paränetischen Vorlesungen FRANCKES handelt es sich hier tatsächlich um eine fortlaufende Exegese des Titusbriefs. Die durchaus auch philologisch differenzierte Auslegung hat aber zum Leitfaden, was mit der Bezeichnung des Briefs als „pastoralis" intendiert ist: Titus als Adressat wird von Paulus angesprochen auf sein pastorale munus (S. 5 u. ö.). Auch wenn hier Titus der Angeredete bleibt, wird in der Auslegung der Text doch transparent auch fur diejenigen, die gegenwärtig die „Ministri ecclesiastici officia" (S. 26) ausüben. Bleibt noch anzumerken, daß BERDOT dann auch die drei Briefe (an Timotheus und Titus) insgesamt unter der Bezeichnung „epistolae ministeriales" zusammenfassen kann (S. 13) - was der von ANTON gewählten
Bezeichnung ja doch sehr nahe kommt.
2.3 PAUL ANTONS Anliegen W i e FRANCKE m a ß auch PAUL ANTON ( 1 6 6 1 - 1 7 3 0 ) der V o r b e r e i t u n g der
Theologiestudenten auf das Pastorenamt große Bedeutung bei. Dies stellt gewissermaßen das hermeneutische Prinzip seiner Vorlesung über die „Pastoralbriefe Pauli an Timotheum und Titum" dar, die in den Jahren 1726 und 1727 gehalten wurde. Der einleitende Satz in dem -
1753-1755 von
JOHANN AUGUST MAJER v e r ö f f e n t l i c h t e n 1 6 - V o r l e s u n g s m a n u s k r i p t lautet: „Es sollen von nun an, mit der Hülfe GOttes, Lectiones pastorales gehalten werden, über die Epístolas Paulinas, und zwar insonderheit an den Timotheum und Titum" (S. 2).
16
Band 1: „B.D. Pauli Antonii Exegetische Abhandlung der Pastoral-Briefe Pauli an Timotheum und Titum, im Jahre 1726 und 1727 öffentlich vorgetragen, nunmehr ... mitgetheilet von Johann August Majer, I. Th. begreiffend die I. Epist. an Timoth., Halle, im Verlag des Waysenhauses, 1753". - Band 2: „B.D. Pauli Antonii Exegetische Abhandlung der Paulinischen Pastoral-Briefe. Zweiter Theil, begreiffend die 2. Ep. an Tim. u. die an Titum. Samt einem Anhang der Sieben Pastoral-Briefe Christi, an die Sieben Gemeinden in Asia, ... mitgetheilet von Johann August Majer, Halle, im Verlag des Waysenhauses, 1755". MAJER, als Pfarrer in Halle tätig, hatte zuvor schon andere Vorlesungen ANTONS (über die Evangelien und die Apostelgeschichte) im Druck herausgegeben. Vgl. seine „Vorrede" zu Bd. 1.
Von den „Pastoralbriefen" zum „Corpus Pastorale"
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Ausgangspunkt sind fur ihn, wie die folgenden Prolegomena dann verdeutlichen, die „Pastoralia" - ein Begriff, den ANTON nicht verdeutscht, wobei es sich offensichtlich um die Anleitung zum Pfarrberuf handelt. Den ausfuhrlichen Hinweis auf Schriften de cura pastorali (und deren Notwendigkeit) seit den Zeiten der Reformation (S. 3-10) schließt er mit dem Fazit ab: „die meiste Scripta pastoralia, die mir vorgekommen, sind, wie ich bereits gesagt, geflossen, nicht aus dem pruritu auch Bücher zu schreiben, sondern aus einer cura pastorali oder Hirtentreue. Die Auetores haben es mit Jammer angesehen, daß nicht alle wissen, was das Lehramt auf sich habe, und daß dasselbe doch bey aller Gefahr eine Würde sey" (S. 15).
Daran schließt er die Folgerung an, „wie eben deswegen sonderlich schon auf Universitäten müsse dafür ernstlich gesorget werden, das denen Studiosis Theologiae an ihr Hertz zu legen, und daß sie denn hernach GOttes Winck abzuwarten haben, wann sie sollen in seinen Weinberg eintreten. Und weil nun allerdings dafür muß bey zeiten auf Universitäten gesorget werden, so sind daher die Lectiones theologicae hauptsächlich zu richten auffuturos Ministros Ecclesiae" Diese Forderung ist gerade an der Universität Halle ernst genommen und erfüllt worden, wie im folgenden deutlich wird: „Indem ich aber etwas habe angefangen zu sagen de cura pastorali Académica, so habe ich mir reserviret, ihnen vorzustellen, wie ab initio dieser Universität bey den Lectionibus Theologicis alles sey auf usum ministeriellem gerichtet worden, bis auf diese Stunde" (S. 16).
Anhand von Vorlesungen und Schriften von FRANCKE und BREITHAUPT illustriert ANTON sodann die intensiven Bemühungen an der Fakultät. War bisher von den pastoralen Schriften und Vorlesungen die Rede, so stellt ANTON dem die Heilige Schrift als notwendige Grundlage gegenüber. So nämlich will er begründen, „was mich bewege, Lectiones pastorales über die Epístolas paulinas, insonderheit an den Timotheum und Titum, anzustellen: daß nemlich auch die beste Scripta Pastoralia müssen ihren Saft und Kraft haben aus der Heiligen Schrift selbst, und consequenter, daß einer, der sich in Pastoralibus will instruiren lassen, sich auch voran und continuirlich müsse in die heilige Schrift selbst weisen lassen" (S. 10). Aber nun kommt das Überraschende für uns Heutige, die wir mit dem Begriff der „Pastoralbriefe" längst vertraut sind:
56
Neues Testament „ein groß Theil der heiligen Schrift ist ja ein Pastorale. Denn nicht nur die zwo Episteln an den Timotheum und die an den Titum, sind ein Pastorale, sondern das diffiindirt sich durch die gantze heilige Schrift hindurch" (S. 11). 17
Ja, selbst „Pastoral-Briefe" sind nicht nur die drei genannten: „man dencke an die VII. Epístolas apocalypticas, welche der Sohn GOttes, da Er in den Stand der Erhöhung war eingetreten, an die Engel oder Boten der 7 Gemeinden in Asia durch Johannem hat schreiben lassen. Das sind ja Epistolae pastorales und auch Episcopales." (S. 23) Dann überrascht es nicht mehr, was im 2. Band der gedruckten Vorlesung steht. Er enthält die Auslegung der 2. Epistel an Timotheus und der an Titus „samt einem Anhand der Sieben Pastoral-Briefe Christi, an die Sieben Gemeinden in Asia". Der Untertitel im betreffenden Band lautet dann „... an die Sieben Gemeinden und Ihre Bischöfe in klein Asien" (Bd. II, S. 509). Indem ANTON die „Engel der Gemeinden" mit den Bischöfen bzw. Vorstehern identifiziert, findet er die Begründung, in den Sendschreiben „Pastoralbriefe" zu sehen und sie so zu auszulegen. Er geht auch der Frage nach, inwiefern es gerechtfertigt sei, diese Briefe als Teil eines prophetischen Buches so auszulegen: „weil nemlich die Pastores einen grossen Theil haben an allen judiciis, die hernach beschrieben werden (...). Oder, daß sie bey den Gerichten, die nun als künftig beschrieben sind, die gröste Verantwortung werden haben, und daß sie das eben soll erwecken, auf ihrer Hut zu seyn, daß sie zuerst ihre eigene Wächter seyn sollen, wie sie denn auch deswegen als Engel und Wächter werden beschrieben" (S. 515).
Es wird also deutlich, daß fur ANTON der uns geläufige Begriff „Pastoralbriefe" noch keine ausreichende Bezeichnung ist. Die Briefe an Timotheus und Titus sind die „Pastoralbriefe Pauli" (oder „Paulinischen Pastoralbriefe" ), die sieben Sendschreiben in der Offenbarung sind die „Pastoralbriefe Christi". Legt ANTON bei seiner Auslegung nun den Ton auf die pastorale Ausrichtung dieser Texte, so bleibt aber festzuhalten, daß er sich nicht mit einer nur aktualisierenden Auslegung zufrieden gibt. ANTON ist sehr wohl Exeget, und dies ist auch als wesentliches Element seiner Biografie hervorzuheben. Zusammen mit FRANCKE hatte er in Leipzig ein collegium philobiblicum begründet, dessen Anliegen die - im damaligen Universitätsbetrieb vernachlässigte18 - Lektüre der biblischen Texte im Urtext war. Daher ist
17 18
Vgl. ähnlich auch Bd. II, 513. Dazu E. BEYREUTHER, Geschichte des Pietismus, Stuttgart 1978, 132: „Die Arbeitsgemeinschaft erregt Aufsehen. Bisher waren exegetische Vorlesungen kaum an den Theologischen Fakultäten zu finden, völlig vernachlässigt unter den rein dogmatischen und kontroverstheologischen." Anregungen zur Arbeit des Kreises gab auch
Von den „Pastoralbriefen" zum „Corpus Pastorale"
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auch jetzt für ihn das erste eine genaue philologisch-exegetische Erklärung der jeweiligen Textaussagen. Seine Methode der Auslegung definiert er klar als eine zweistufige. „Und also nehme ich Gelegenheit auch noch von meiner Methode zu reden. Ich habe versprochen, daß ich erst wolle textum emiren, hernach dann Porismata 19 pastoralia geben" (S. 25). Konkret kann sich das dann so lesen: „Das ist die Exegesis. Morgen kommt applicatici pastoralis über diesen paradoxen Punkt..." (S. 345 zu 1 Tim2,8ff.).
Mit dieser Methode von Exegese und Applikation liest A N T O N also die Paulusbriefe an Timotheus und Titus als Briefe, die auch für die Prediger der Gegenwart pastorale Anweisungen und Empfehlungen enthalten, also „Pastoralbriefe" sind.
3. Aufnahme der Bezeichnung in der exegetischen Literatur
3.1 Die Verwendung des Begriffs Die Ausgabe der Vorlesung ANTONS durch MAJER - fast 3 0 Jahre später läßt erkennen, daß die von ANTON gewählte Bezeichnung der Briefe sich inzwischen bereits zu verbreiten begann. MAJER nimmt auf die Briefe Bezug als „die Pastoral-Briefe Pauli, (wie sie insgemein, und zwar mit Recht genennet werden)" 2 0 . Die weitere Verbreitung läßt sich an zwei literarischen Belegen verdeutlichen. In seiner „Einleitung in die göttlichen Schriften des Neuen Bundes", 3. Aufl. 1777, spricht J.D. MICHAELIS von den „sogenannten Pastorales" 21 . Auch J. A. L. WEGSCHEIDER fügt 1 8 1 0 - im gleichen Jahr begann er seine Tätigkeit an der Universität Halle - dem Buchtitel „Die Pastoral-Briefe des Apostels Paulus" dann im Vorwort noch das Attribut „sogenannt" bei. 22 Die Rezeption der Bezeichnung wird bei beiden Autoren ebenso deutlich wie deren noch empfundene Neuheit. Das ändert sich im Laufe der nächsten Jahr-
21
SPENER, der - seit 1686 Oberholprediger in Dresden - an einer der Sitzungen in Leipzig teilnahm. Vgl. auch SCHRÄDER (Anm. 5), Bd. 1, 20 f. Zur porismatischen Auslegung bei FRANCKE vgl. E . PESCHKE, August Hermann Francke und die Bibel, in: Pietismus und Bibel, hg. K . ALAND (AGP 9), Witten 1970, (59-88) 67. Vorrede in Bd. 1 (ohne Seitenzahl). Nach WOHLENBERG (Anm. 6 ) , 6 9 Anm. 3
22
HARRISON ( A n m . 8 ) , 14.
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Neues Testament
zehnte. Im Jahre 1 8 2 6 kann HEYDENREICH in seinem Kommentar „Die Pastoralbriefe Pauli" von den Briefen sagen, daß sie diesen Namen „von uralten Zeiten her" haben.23 Die Zeit der Entstehung der Bezeichnung war offensichtlich bereits nicht mehr bewußt. Das weitere 19. Jh. zeigt dann noch eine andere Linie. Die Bezeichnung Pastoralbriefe hat sich zwar durchgesetzt und bleibt allgemein üblich. Aber es tritt gleichwohl eine Problematisierung ein: SCHLEIERMACHER hat 1 8 0 7 in seinem „Kritischen Sendschreiben an J. C . GASS" 2 4 - als ein Ergebnis seiner (ab Wintersemester 1 8 0 5 / 0 6 ) in Halle gehaltenen Vorlesungen über die Paulusbriefe 25 - die Echtheit des 1 Tim in Frage gestellt. J. G . EICHHORN dehnt dann 1812 die Kritik auf alle drei Pastoralbriefe aus. 26 Danach kann nun nicht mehr ohne weiteres von den „Pastoralbriefen des Paulus" gesprochen werden. So wählt F. C . BAUR ( 1 8 3 5 ) wieder den Titel „Die sogenannten (!) Pastoralbriefe des Apostels Paulus, aufs neue kritisch untersucht" - jetzt aber, weil sie sogenannte und nicht wirkliche Briefe des Paulus sind.27 Auf der anderen Seite wird die Bezeichnung „Pastoralbriefe" festgehalten, aber der strittige Bezug auf Paulus bleibt eben weg. So H. J. HOLTZMANN 1 8 8 0 in seinem für die Folgezeit grundlegenden Werk „Die Pastoralbriefe, kritisch und exegetisch behandelt" . Damit ist freilich das eigentliche Anliegen von PAUL ANTON verlassen worden. Für ihn lag ja der Ton darauf, daß es die Pastoralbriefe des Paulus waren, neben denen es durchaus andere Pastoralbriefe gab. Jetzt aber
23
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25 26 27
A. L. CHR. HEYDENREICH, Die Pastoralbriefe Pauli erläutert, Bd. 1 (1 Tim), 1826, dort S. 7; Bd. 2 (2 Tim, Tit), 1828 [nach WOHLENBERG (Anm. 6), 69.79], Vgl. ähnlich bei A. BISPING, Erklärung des zweiten Briefes an die Thessalonicher, der drei Pastoralbriefe und des Briefes an Philemon (Exegetisches Handbuch zu den Briefen des Apostels Paulus, III/l), Münster 1858, 53: „Von Alters her nannte man drei Briefe Pauli, nämlich die beiden Briefe an Timotheus und den Brief an Titus, Pastoral- oder Hirtenbriefe." Der genaue Titel: „Ueber den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos. Ein kritisches Sendschreiben an J. C. Gass", Berlin 1807. Vgl. dazu: H. PATSCH, Die Angst vor dem Deuteropaulinismus. Die Rezeption des „kritischen Sendschreibens" Friedrich Schleiermachers über den 1. Timotheusbrief im ersten Jahrfünft, ZThK88 (1991), 451-477. - Erste kritische Anfragen an die Pastoralbriefe gab es schon bei J.E. CH. SCHMIDT (Historisch-kritische Einleitung ins NT 1, Gießen 1804), ohne daß es zur Bestreitung der Echtheit kam. Vgl. Art. Schleiermacher, in: ADB 31, Leipzig 1890, 435. 436 f. J. G. EICHHORN, Einleitung in das NT III/l. Leipzig 1812, 315-328. Auch SCHLEIERMACHER spricht ja vom „sogenannten (!) Brief des Paulos an den Timotheos" . So dürfte auch bei BAUR das „sogenannt" auf die nicht tatsächliche Verfasserschaft des Paulus bezogen sein und nicht auf die Betitelung als „Pastoralbriefe".
Von den „Pastoralbriefen" zum „Corpus Pastorale"
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gab es einfach „die Pastoralbriefe" - ob sie von Paulus waren oder nicht, war dabei nicht mehr entscheidend. Von nun an war der Begriff für diese drei neutestamentlichen Briefe reserviert. Insgesamt gilt für die Folgezeit im 19. und 20. Jh., daß die Bezeichnung „Pastoralbriefe" als selbstverständlich verwendet wird. Über den deutschen Sprachrautn hinaus wird sie auch im fremdsprachigen Bereich rezipiert 28 .
3.2 Die Frage nach der Angemessenheit der Bezeichnung Für PAUL ANTON war die Bezeichnung der Briefe als „Pastoralbriefe" klar begründet und bewußt gewählt. Trotz allgemeiner Übernahme der Bezeichnung wurde sie gleichwohl nicht für unproblematisch gehalten. Es gibt also durchaus differente Meinungen hinsichtlich der Eignung des Titels. Die Zustimmung beruht vor allem darauf, daß eine Bezeichnung gefunden wurde, die die schon immer empfundene Zusammengehörigkeit der drei Briefe deutlich macht. 29 So stellt HOLTZMANN30 fest: „Gemeinsamer Inhalt und gemeinsame Tendenz rechtfertigen die gemeinsame Bezeichnung."
Man kann auch sagen, daß im großen und ganzen der Inhalt getroffen werde, so WOHLENBERG31 trotz Einschränkungen: „Gleichviel, a parte potiori trifft jene nunmehr allgemein gewordene Bezeichnung die Sache, worauf es ankommt."
Im Detail wird aber immer wieder angemerkt, daß der Briefinhalt im einzelnen damit nicht voll getroffen ist. Selten freilich wird so pointiert Kritik geübt wie von MOFFAT, der die Bezeichnung als „misleading title" und somit als irreführend einstuft· 32 Die Einschränkungen im einzelnen sind unterschiedlich. Man kann, wie WOHLENBERG, wegen der Adressaten feststellen, daß „die Benennung Pastoralbriefe nicht ganz zutreffend ist" 3 3 . Denn es gehe konkret nicht 28
29 30
HARRISON (Anm. 8), 14: seit 1849 nachweisbar in Großbritannien. Für den französischen Bereich weist SPICQ den Titel erstmals für 1848 nach: S. F. GOOD, Authenticité des Épîtres Pastorales, Montauban 1848 (S. SPICQ, Les Épitres Pastorales, Tome I, Paris 1969, 22). Vgl. SCHENK (Anm. 10), 3404 f: „diese Bezeichnung hat sich wegen ihrer Griffigkeit durchgesetzt." H . J. HOLTZMANN ( A n m . 3), I.
31
WOHLENBERG ( A n m . 6), 70.
32
Nach HARRISON (Anm. 8), 15.
33
WOHLENBERG ( A n m . 6), 70.
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nur um Gemeindepastoren und Gemeindeleiter; „beide, Tim. und Tit., waren vielmehr apostolische Legaten mit außerordentlicher, vorübergehender Vollmacht" . Man kann aber auch an die Inhalte denken, die sich keineswegs insgesamt der pastoralen Aufgabe zuordnen. So schränkt ZAHN34 dahingehend ein, daß der Name Pastoralbriefe „einigermaßen nur auf 1 Tim und Tt, gar nicht auf 2 Tim" passe. HOLTZMANN bemerkt, „dass von eigentlicher Pastorallehre, d. h. von der Theorie der individuellen Seelsorge, unsere Briefe nichts oder nicht viel enthalten" 35 . Gleichwohl bleibt festzuhalten, daß sich bis zur Gegenwart auch immer wieder ganz zustimmende Voten zur Verwendung des Begriffs „Pastoralbriefe" finden.36
4. „Corpus Pastorale" als Kennzeichnung eines neuen Stadiums der Pastoralbrief-Forschung 4.1 Zuordnung der deuteropaulinischen Pastoralbriefe zu den anderen Paulusbriefen in der heutigen Forschung 1) Wandel in der Sicht der Pastoralbriefe Es ist klar, daß die Zuordnung der Pastoralbriefe zu den Paulusbriefen durch die Erkenntnis ihrer Pseudonymität eine grundlegende Wandlung durchgemacht hat. Für das traditionelle Verständnis standen die Briefe als Paulusbriefe nicht in Frage. Sie waren unstrittiger Teil der kanonischen Sammlung der Paulusbriefe, darin herausgehoben nur durch die individuelle Adressierung und die damit verbundene Thematik - die den Ausschlag für die Namensgebung „Pastoralbriefe des Paulus" gab.
34 35
36
TH. ZAHN, Einleitung in das Neue Testament, Bd. 1, Leipzig 3 1906, 447 Anm. 1 (vgl. 439). HOLTZMANN (Anm. 3), 282 Anm. 4. HOLTZMANN verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Verwendung der Pastoralbriefe in der Pastoraltheologie des 19. Jh. Fast entschuldigend vermerkt er dabei: „... so ist es wenigstens nicht Schuld des zu Grunde gelegten Textes gewesen, wenn die Predigt oft einen dem Leben so abgewandten Inhalt gewonnen hat" (282). Vgl. zuletzt J. ROLOFF, Der erste Brief an Timotheus (EKK XV), Zürich-Neukirchen 1988, 20: „... Anordnungen und Ermahnungen für die rechte Führung des kirchlichen Hirtenamtes. Diese inhaltliche Ausrichtung (...) kommt treffend zum Ausdruck in der (...) Bezeichnung Pastoralbriefe ... ".
Von den „Pastoralbriefen" zum „Corpus Pastorale"
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Die Kritik an der Echtheit der Briefe an Timotheus und Titus hatte hinsichtlich der Zuordnung zu den anderen Paulusbriefen zunächst einfach eine negative Konsequenz: sie wurden von den echten Briefen und damit von der Theologie des Paulus distanziert, erhielten damit eine eindeutige Abwertung. Ihre Stellung im Kanon wurde damit in Frage gestellt, ihre Bedeutung als urchristliches Zeugnis stand auf dem Spiel. Die Diskussion in den letzten Jahrzehnten stand lange Zeit unter dem Stichwort des „Frühkatholizismus" samt der innewohnenden Tendenz des Abstands zum eigentlichen Urchristentum. Wesentlich für die neuere Forschung an den Pastoralbriefen ist dies, daß versucht wird, die Pastoralbriefe von ihrem positiven Anliegen her zu verstehen. Das heißt, daß eine „theologische Deutung der Briefe unter Voraussetzung von deren Pseudonymität" 3 7 vorzunehmen ist. Das Anliegen der Briefe im Detail festzustellen, ist zwar nach wie vor strittig, weil noch zu viele Fragen der Entstehung offen sind. Eine gemeinsame Linie der neueren Forschung bahnt sich aber dahingehend an, daß die Pastoralbriefe sich bewußt als Vermittler, Wahrer und Aktualisierer von Paulustradition verstehen. Vor allem die Arbeiten von T R Ü M M E R 3 8 und W O L T E R 3 9 stehen für diese Sicht.
2) Das Verständnis der Pastoralbriefe als Briefcorpus Die Gemeinsamkeit der Pastoralbriefe aufgrund von Adressat und Thematik und damit eine gewisse Zusammengehörigkeit war durchaus traditionelle Sicht. Aber die drei Briefe waren kein selbständiges Briefcorpus, sondern Teil der im Corpus Paulinum gesammelten Paulusbriefe. Die spätere Heraushebung durch eine Sonderbezeichnung änderte daran nichts. Bemerkenswerterweise wurde der Zusammenhang der drei Pastoralbriefe gerade mit Beginn der kritischen Sicht fraglich. So begann die Kritik zunächst mit der Heraushebung des 1 Tim, indem S C H L E I E R M A C H E R nur ihn als unecht ansah. Zwar wurde die Kritik wegen der inneren Zusammengehörigkeit der drei Briefe von E I C H H O R N auf alle drei Briefe ausgedehnt. Doch stand in der weiteren Forschung immer wieder zur Diskussion, ob diese nichtpaulinischen Briefe von nur einem oder von mehreren Verfassern stammten. Strittig war auch, ob die Briefe tatsächlich entsprechend den vorausgesetzten unterschiedlichen Situationen auch zu verschiedener Zeit entstanden. War dies alles nicht 37 38 39
So N. BROX in seinem in dieser Hinsicht wegweisenden Kommentar: Die Pastoralbriefe (RNT 7/2), Regensburg 1969, Vorwort. P. TRÜMMER, Die Paulustradition der Pastoralbriefe (BET 8), Frankfurt u. a. 1978. M. WOLTER, Die Pastoralbriefe als Paulustradition (FRLANT 146), Göttingen 1988.
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klar, so blieb auch fraglich, ob man dann von einer Einheit dieser Briefe sprechen konnte. Durchgesetzt hat sich zweifellos die Sicht, diese Briefe als Einheit zu sehen, hinter der eine gemeinsame Konzeption steht. Das gilt, auch wenn die Fragen hinsichtlich Verfasser und Entstehungssituation nicht endgültig geklärt sind. Die gemeinsamen Linien sind aber so offensichtlich, daß von einer bewußten Gemeinsamkeit dieser Briefe auszugehen ist - anders gesagt, daß sie nicht nur als verwandte Einzelbriefe zu verstehen sind, sondern als zusammengehörige Briefgruppe oder Briefcorpus geschaffen wurden. Von da aus stellt sich in neuester Zeit wieder die Frage nach einer angemessenen Bezeichnung dieser drei Briefe. Denn die Verwendung der traditionellen Bezeichnung als Pastoralbriefe besagt nicht, daß noch die ursprüngliche Intention der Namensgeber vertreten wird. Zu nennen sind zwei neue Namensvorschläge, die kurz nacheinander veröffentlicht wurden. W. S C H E N K 4 0 möchte, um den für überholt gehaltenen Namen „Pastoralbriefe" zu vermeiden, die Briefe unter den Titel „Tritopaulinen" stellen - in Analogie zum Jesajabuch und im Blick darauf, daß die Past wohl schon deuteropaulinische Briefe wie Kol und Eph gekannt und als Paulusbriefe verwendet haben. „Als erklärungsadäquate Forschungsbezeichnung legt sich gegenüber den ,Paulinen' und .Deuteropaulinen' (Kol, Eph, 2Thess) die zusammenfassende Gruppenbezeichnung ,'Tritopaulinen' (analog zu .Tritojesaja') nahe". 41
Die Frage stellt sich freilich, ob dieser Begriff plausibel genug ist; denn im Unterschied zum Jesajabuch stellen die Paulusbriefe nicht gleichermaßen geschlossene Komplexe wie die Teile des Jesajabuches dar - es sind eben jeweils mehrere Briefe. 42 Auch wird mit dem vorgeschlagenen Begriff nur die Relation zu Paulus definiert, nicht die Zusammengehörigkeit als Briefcorpus verdeutlicht. 43
40 In seinem Forschungsbericht in ANRW II 25.4, 3404-3438. 41 A.a.O. (Anm. 40), 3405. 42 Zudem ist SCHENK offensichtlich selbst nicht entschieden hinsichtlich der von ihm gewählten Klassifizierung. In der Selbstanzeige seines ANRW-Forschungsberichts in IZBG 36 (1988/90), 234 erwägt er nun, die Bezeichnung „Tetrapaulinen" vorzuziehen! Was aber, wenn nicht alle Pastoralbriefe vom gleichen Verfasser wären, sondern man ζ. B. den 1 Tim von den beiden anderen abhängig sehen würde (vgl. SCHLEIERMACHER). Hätte man dann auch noch „Pentapaulinen"? 4 3 Die von SCHENK als Analogie herangezogenen drei „Deuteropaulinen" stellen ja kein geschlossenes Briefcorpus dar.
Von den „Pastoralbriefen" zum „Corpus Pastorale"
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Einen überzeugenderen Vorschlag einer neuen Bezeichnung hat P. TRÜMMER gemacht. 44 Er möchte die Pastoralbriefe als „Corpus pastorale" bezeichnen. Der Vorteil dieser Bezeichnung ist ein doppelter: Zum einen wird an die nun einmal traditionelle und allgemein verbreitete Bezeichnung „Pastoralbriefe" angeknüpft, und die Bedeutung der neuen Bezeichnung ist auf Anhieb verständlich. Zum anderen wird damit ernst gemacht, daß der Ausgangspunkt in der Bezeichnung „Pastoralbriefe des Paulus" so nicht mehr gilt, weil Paulus nicht mehr als Verfasser angesehen werden kann. 45 Deutlich wird vielmehr, daß es sich um ein Briefcorpus handelt, das nun zunächst den Paulusbriefen als eigene Größe gegenübersteht und erst in zweiter Linie in seiner Zuordnung zu diesen Briefen bestimmt werden kann. „Die Past sind nicht als einzelne pseudepigraphe Briefe entstanden und erst nachträglich gesammelt worden oder zusammengewachsen, sondern bereits ursprünglich als pseudepigraphes Corpus pastorale verfaßt, ediert und verbreitet worden".46
Von Bedeutung fur das Verständnis als Briefcorpus ist die Dreizahl der Briefe. War für SCHMITHALS die Dreizahl der Briefsammlung „typisch für frühchristliche Schriftensammlungen" 4 7 , so blieb die Frage, warum dann nicht alle drei Briefe an Timotheus gerichtet wurden. Andererseits könnte man fragen, warum die Briefe nicht an drei Adressaten gerichtet wurden. 48 Bedeutsam dafür ist sicher, daß die Briefe unterschiedlichen Charakter haben. Während 1 Tim und Tit den Charakter von Anordnungen für die Gemeinde haben (ohne doch nur das gleiche zu wiederholen), ist der 2 Tim nach Art eines Testaments konzipiert. Dann leuchtet ein, daß zwei Briefe verschiedenen Charakters an eine Person adressiert wurden. Daß überhaupt zwei Personen gewählt wurden, hängt sicher mit der beabsichtigten Geltung der Briefe zusammen: 49
44
45
P. TRÜMMER, Corpus Paulinum - Corpus Pastorale. Zur Ortung der Paulustradition in den Pastoralbriefen, in: K. KERTELGE (Hg), Paulus in den neutestamentlichen Spätschriften (QD 89), Freiburg u. a. 1981, 122-145. Im Vordergrund steht nicht mehr das pastorale Anliegen des Paulus im Blick auf seine Mitarbeiter und Gemeinden, sondern die z. T. anders gelagerte Intention des Pseudonymen Verfassers.
46
TRÜMMER ( A n m . 4 4 ) , 1 2 5 .
47 48
RGG3 V 147. Vgl. TRÜMMER (Anm. 44), 127: man hätte an einen dritten Paulusmitarbeiter adressieren können. Nicht einsichtig ist die These WOLTERS (Anm. 39), 202), daß die Zweizahl der Adressaten auf das Prinzip der paarweisen Sendimg im frühen Christentum zurückzuführen sei; denn Timotheus und Titus sind nach den Past ja gerade an getrennte Orte gesandt worden.
49
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Sie sollten für mehrere Kirchengebiete gültig sein, 50 für diese Gebiete die Wahrung paulinischer Tradition reklamieren. 51 Für den Charakter als Briefcorpus ist wichtig, daß die drei Briefe je ihre Eigenart haben und sich so insgesamt zu einem wohl konzipierten Ganzen zusammenfugen. Das soll nur exemplarisch verdeutlicht werden. Die vom Verfasser in seine Briefe aufgenommenen kerygmatischen Formeln - ob zitiert oder frei formuliert, ist dabei nicht entscheidend - sind in den drei Briefen auf unterschiedliche Schwerpunkte ausgerichtet. Der 1 Tim enthält vor allem grundlegende christologische Aussagen (1,15; 2,3-6; 3,16). Dabei ist denkbar, daß für den Verfasser gerade hier sein antignostisches Anliegen theologisch zum Zug kommt (2,4 Rettung für alle, 2,6 Tod Jesu für alle - also nicht nur für einen begrenzten Personenkreis wie in der Gnosis). Im 1 Tim steht deutlich im Vordergrund die Abwehr des έτεροδιδασκαλενν (1,3; 6,3), und nur in diesem Brief wird ausdrücklich die „Gnosis" erwähnt (6,20). Auch der 2 Tim enthält viele christologisch ausgerichtete Bekenntnisaussagen. Hier wird aber der Ton auf die eschatologische Perspektive gelegt (Parusie und Gericht 4,1.8), vor allem im Blick auf die durch die Auferstehung Jesu (2,8) begründete Hoffnung auf das Leben (1,9 f.; 2,11-13). Es paßt dazu, daß nur im 2 Tim eine falsche Lehre über die Auferstehung angesprochen wird (2,18). Der Aspekt von Tod und Leben aber fügt sich gut zu den Leidensmahnungen für den Verkündiger im 2 Tim. Wieder anders ist der theologische Charakter des Tit. Die beiden kerygmatischen Texte 2,11-14 und 3,4-7 enthalten soteriologische Aussagen, die jeweils auf Bekehrung und Taufe hin zugespitzt sind, samt den Konsequenzen für das christliche Verhalten. Der Brief mündet in der Mahnung zum Tun guter Werke (3,8.12). In diesem Brief steht also der ethische Aspekt im Vordergrund, wie schon der an einem paränetischen Schema orientierte Aufbau erkennen läßt. 52 So zeigen die drei Briefe beides: Das durchgehend erkennbare Grundanliegen (Betonung paulinischer Tradition gegen die Irrlehre) verbindet sie zu einer Einheit. Die erwähnten unterschiedlichen theologischen Schwerpunkte geben aber jedem Brief seine Eigenheit 50
51 52
Vgl. TRÜMMER (Anm. 44), 128. Daß damit letztlich ein „Corpus pastorale catholicum angestrebt" sei, schießt aber doch etwas über das Ziel hinaus. Denn der Verfasser wird nicht über den paulinischen Einflußbereich hinaus mit allgemeiner Akzeptanz rechnen können. Vgl. H. VON LIPS, Glaube - Gemeinde - Amt. Zum Verständnis der Ordination in den Pastoralbriefen (FRLANT 122), Göttingen 1979, 277. Vgl. dazu meinen Aufsatz: Die Haustafel als ,Topos' im Rahmen der urchristlichen Paränese. Beobachtungen anhand des 1. Petrusbriefes und des Titusbriefes, NTS 40 (1994), 261-280.
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und lassen so die bewußte Zuordnung von Verschiedenem zu einem Ganzen erkennen.
4.2 Bezug der Past auf die Paulusbriefe - literarkritisch gesehen Unstrittig ist, daß trotz der starken Differenzen zwischen den Past und den Paulusbriefen sich auch deutliche inhaltliche Berührungen finden. Parallele Formulierungen wurden schon in vielen Untersuchungen aufgelistet5·* - in der früheren Diskussion mit dem Argument, hier den echten Paulus zu finden,54 auf der Basis der Pseudonymität dann mit dem Hinweis, daß bewußt auf paulinische Formulierungen zurückgegriffen wird. Dabei ist die Frage strittig, inwieweit dies literarische Abhängigkeit zeigt oder auch durch Aufnahme mündlicher Paulustradition zu erklären ist, 55 Immerhin zeigen einige Textstellen so deutliche Übereinstimmung mit Paulusbriefen, daß in diesen Fällen jedenfalls eine literarische Abhängigkeit als Tatsache angenommen werden muß. D.h.: Der Verfasser der Pastoralbriefe hat mit Sicherheit Paulusbriefe gekannt. 1) Zunächst ist die Anlehnung der Präskripte und Postskripte an das Formular der paulinischen Briefe deutlich. Beim Präskript ist dies die zweigliedrige Form von Absender (Παύλος απόστολος κτλ.) und Adressat sowie Briefgruß (χάρις καί ειρήνη από του θεου πατρός καί Ι η σ ο ύ Χρίστου κυρίου, mit teilweisen Variationen). Im Postskript ist bestimmend die Formulierung ή χάρις μεθ' υμών, auch hier mit manchen Variationen. Diese Übereinstimmung ist nicht durch mündliche Tradition zu erklären, sondern doch durch die konkrete Kenntnis dieser Briefe. Daraus ist zu folgern, daß der Verfasser der Past jedenfalls einige der Paulusbriefe gekannt hat. Anzunehmen ist die Kenntnis der beiden Korintherbriefe, evtl. auch des Philipperbriefs. Denn hier werden Timotheus und Titus in einer Weise als Mitarbeiter des Paulus herausgestellt, die es erklärt, daß gerade diese beiden als
53
54 55
HOLTZMANN (Anm. 3 ) , 1 0 9 - 1 1 7 ; HARRISON (Anm. 8 ) , 1 6 7 - 1 7 5 ; A . E . BARNETT, Paul becomes a Literary Influence, Chicago 1 9 4 1 , 2 5 1 - 2 7 7 . Vgl. A. SCHLATTER, Die Kirche der Griechen im Urteil des Paulus. Eine Auslegung seiner Briefe an Timotheus und Titus, Stuttgart 3 1983, 15. Vgl. TRÜMMER (Anm. 44) 142; G. LOHFINK, Paulinische Theologie in der Rezeption der Pastoralbriefe, in: Paulus in den neutestamentlichen Spätschriften (QD 89), Freiburg u. a. 1981, 70-121; DERS., Die Vermittlung des Paulinismus zu den Pastoralbriefen, BZ NF 32 (1988), 169-188.
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Adressaten der Briefe ausgewählt wurden. 56 Für die Kenntnis dieser Briefe spricht, daß ja die Apg von der Person des Titus überhaupt schweigt, ihn also nicht kennt; es bleibt demnach fraglich, ob sich außerhalb der Paulusbriefe eine Tradition über Titus erhalten hat. 57 2) Der am meisten anerkannte Befund einer literarischen Abhängigkeit findet sich im Eingang des 2 Tim. Hier wird seit H O L T Z M A N N übereinstimmend die Verwandtschaft von 2 Tim 1,3-5 mit Rom 1,8-11 konstatiert: V. 3 enthält das Motiv des Dankes an Gott (// Rom 1,8); es ist der Gott, dem Paulus dient (τω θεω ω λατρεύω //Rom 1,9); Paulus spricht vom ununterbrochenen Gedenken an den Adressaten (ώς άδιάλειπτον ... μνείαν //Rom 1,9); dies geschieht in andauerndem Gebet (//Rom 1,10); V. 4a drückt die Sehnsucht des Verfassers nach dem Adressaten aus (έπιποθών σε νδεΐν //Rom 1,11); V. 5a nimmt Bezug auf den Glauben des Adressaten (// Rom 1,8). Darüber hinaus ist noch festzuhalten, daß im folgenden V. 6 von der Vermittlung der Gabe des χάρισμα gesprochen wird, was ebenfalls in Rom 1,11 seine Entsprechung hat. Der 2 Tim beinhaltet aber noch einen zweiten weithin anerkannten Bezug auf einen Paulusbrief: 2 Tim 4 enthält im Blick auf das dem Paulus vor Augen stehende Lebensende Parallelen zum Philipperbrief. Wie Phil setzt ja auch 2 Tim die Situation der Gefangenschaft voraus. Die Verse 4,6-8 und 4,16 f. des 2 Tim zeigen nun begriffliche Entsprechung zum Phil:58 V. 6 das Verständnis des Todes als Dahinscheiden (άνάλυσις = Auflösung, Ende //Phil 1,23) und Geopfertwerden (σπενδομαι //Phil2,17); V. 7 das Motiv der Vollendung (//Phil3,12) des Wettkampfes (άγων //Phil 1,30); V. 8 das Motiv des dafür wartenden Siegespreises (//Phil3,14). An der zweiten Textstelle in 4,16f. geht es um die Verteidigung (απολογία //Phil 1,7) vor Gericht, andererseits um die vom Herrn in dieser Situation verliehene Kraft (ένδυναμουν // Phil 4,13).
56
V g l . TRÜMMER ( A n m . 4 4 ) 1 2 8 f.
57
Hier wird davon ausgegangen, daß es beide Personen tatsächlich gegeben hat. Sollte BORSE mit seiner These recht haben, daß Titus nur eine verkürzte Namensform von Timotheus ist, dann würde die Kenntnis der Korintherbriefe überhaupt die einzige Erklärung dafür bieten, daß es zu den zwei Adressaten Timotheus und Titus kommt. Vgl. U. BORSE, Der Brief an die Galater (RNT), Regensburg 1984, 80-85 (Exkurs: Zur Person des Titus). Vgl. HOLTZMANN (Anm. 3), 115 f.; auch J. Α . T. ROBINSON, Wann entstand das Neue Testament?, Paderborn-Wuppertal 1986, 89 (aber mit anderer Konsequenz: daher auch 2 Tim von Paulus!).
58
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3) Festgestellt wurde auch schon, daß die Erwähnung der Bekehrung des Paulus in 1 Tim 1,12-16 deutlich Motive aus den Paulusbriefen aufnimmt: v. a. Gal 1,13-16, aber auch Anklänge an 1 Kor 15,9 f. Auffällig ist aber, daß die Entsprechung von 1 Tim 1 zu Gal 1 noch viel weiter reicht, nämlich die Grundstruktur der Argumentation des ganzen Kapitels betrifft. Bemerkenswert ist bereits im Präskript 1 Tim 1,1 die Rückführung des Apostolats auf Gott und Christus, was bei Paulus nicht üblich ist - ausgenommen in Gal 1,1. Gemeinsam mit diesem Brief ist ebenfalls, daß nach dem Präskript keine Danksagung folgt, sondern gleich das anstehende Problem angesprochen wird. Der Grundzug, den 1 Tim 1 mit Gal 1 gemeinsam hat, ist nun die Rückbindung der Abwehr falscher Verkündigung an die Bekehrung bzw. Berufung des Paulus. Der Abwehr des έτεροδιδασκαλειν in 1 Tim 1,3 entspricht in Gal 1 die Abwehr des ετερον εύαγγέλιον (1,6). In Gal 1 bindet Paulus sein Evangelium an die Berufung zum Apostel und die darin geschehene unmittelbare Offenbarung durch Gott bzw. Christus. Damit verleiht er seiner Forderung Nachdruck und Autorität, sich keinem anderen Evangelium zuzuwenden. In 1 Tim 1 wird die von Timotheus zu verteidigende Lehre an dem Evangelium orientiert, das Paulus anvertraut wurde (V. 11 f.). Die zugrundeliegende Bekehrung und Berufung hat im 1 Tim ihr Gewicht allerdings nicht im Offenbarungscharakter, sondern darin, daß sie in den Rang des Typischen und Urbildlichen im Blick auf die Erfahrung der Erlösung erhoben wird (V. 16). Insofern zeigt 1 Tim 1 neben der Anlehnung an Gal 1 zugleich eine eigenständige Weiterentwicklung. Die genannte Analogie aber ist nicht anders zu erklären als durch die Kenntnis des Galaterbriefes.
4.3 Das Corpus Pastorale und das Corpus Paulinum textkritische Beobachtungen Die These von TRÜMMER, wonach die Pastoralbriefe bewußt als Corpus Pastorale abgefaßt wurden, hat im Blick auf die Paulusbriefe eine spezielle Intention: „ein bereits im Wachsen begriffenes Corpus paulinum" ist die „eigentliche Bezugsgröße " des Corpus pastorale.59 Im Blick auf die mögliche Rezeption der Pastoralbriefe als Paulusbriefe folgert TRÜMMER: „Die Past konnten als pln Pseudepigrapha nur geschrieben und verbreitet werden im Zuge einer Neuedition des bisherigen Corpus".60
59
TRÜMMER ( A n m . 44), 123.
60
TRÜMMER ( A n m . 44), 133.
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Zu fragen ist: Muß dies eine bloße Hypothese bleiben, oder gibt es Indizien für den Zusammenhang zwischen Redaktion der Paulusbriefe und Entstehung der Pastoralbriefe? Die Textkritik kann dafür eine Hilfestellung leisten. Denn: wichtige textkritische Stellen der (echten und unbestrittenen) Paulusbriefe zeigen Berührungen mit den Pastoralbriefen. 1) Zur fraglichen Textstelle 1 Kor 14,34f. vom Schweigegebot der Frauen wird immer wieder auf die Analogie in den Pastoralbriefen hingewiesen. 1 Tim 2,11 f. bezeugt die gleiche Praxis, wonach die Frau von öffentlicher Verkündigungstätigkeit in der Gemeinde ausgeschlossen ist. Also spiegelt sich in beiden Texten offensichtlich die Praxis des gleichen Zeitraums. Die zur Erklärung des Textbefunds sich nahelegende Interpolation61 von 14,34 f. in den 1 Kor wäre dann etwa im Zeitraum der Past erfolgt. Daß dies in Verbindung mit der Redaktion der Paulusbriefe geschehen sein kann, ist jedenfalls als Möglichkeit zu erwägen. Zum Vokabular ist hinzuzufügen, daß έπιτρέπειν und μανθάνειν sowohl in 1 Kor 14 als auch in lTim2 verwendet werden. Daneben zeigen sich parallele Formulierungen mit ύποταγή bzw. ύποτάσσεσθαι sowie έν ήσυχία bzw. σιγά ν. 2) Noch deutlicher läßt sich für Rom 16,25-27 ein Zusammenhang mit den Pastoralbriefen aufzeigen. Dieser jetzige Abschluß des Römerbriefs erweist sich textkritisch als äußerst problematisch. Die in einzelnen Handschriften ganz unterschiedliche Stellung dieser Verse innerhalb des Rom 62 weist auf eine sekundäre Entstehung dieses Briefschlusses hin. Das in diesen Versen enthaltene sog. Revelationsschema hat wohl in 1 Kor 2,6 ff. seinen Ausgangspunkt, ist aber erst in deuteropaulinischen Briefen entfaltet worden (Kol, Eph, Past). Die hier in Rom 16,25-27 vorliegenden Formulierungen zeigen enge Berührung mit den Texten in 1 Tim 1,9 f. und Tit 1,2 f. Im Vokabular sind gemeinsam: χρόνοι αιώνιοι, φανεροϋν, κήρυγμα, κατ' έπιταγήν. Davon wird der Ausdruck χρόνοι αιώνιοι außer in den beiden Texten der Past und in Rom 16 im NT nicht mehr verwendet. Die Verwandtschaft ist also deutlich. Auch die Formulierung μόνω θεω findet sich bei Paulus nicht (er spricht nur von εις θεός), sondern nur in den Past (1 Tim 1,17). Das Verbum σιγαν findet sich zwar nicht in den Past, es wird aber in 1 Kor 14,34 verwendet (neben der paulinischen Verwendung in
61 62
Vgl. dazu v. a. G. FITZER, „Das Weib schweige in der Gemeinde", TEH Siehe dazu im einzelnen den kritischen Apparat im NT Graece.
NF
110, 1963.
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V. 28.30). Das ist nochmals ein möglicher Hinweis auf die Entstehung von 1 Kor 14,34 f. im gleichen Umkreis wie Rom 16,25-27. Mit στηρίζειν (16,25) sowie εις ύπακοήν πίστεως und dem Bezug auf die εθνη (16,26b) wird durchaus paulinisches Vokabular aufgenommen. Bemerkenswerterweise findet es sich in Präskript und Proömium des Römerbriefs Rom 1,5 .11. Es könnte bewußt vom deuteropaulinischen Verfasser aufgegriffen und für den Briefschluß verwendet worden sein. Gerade der Anfang des Römerbriefs ist aber nun deutlich vom Verfasser der Past in 2 Tim 1,3 ff. aufgenommen worden (s. o.). Daß hier der gleiche Verfasser am Werk ist, ist also durchaus naheliegend. Ein weiteres wichtiges Indiz liegt in den textkritischen Zeugen vor: Es sind (neben wenigen anderen) beidemale die Handschriften F und G, bei denen Rom 16,25-27 überhaupt fehlt, und die durch Umstellung in 1 Kor 14 auf die sekundäre Herkunft der Verse 34 f. hinweisen. ALAND bewertet beide Handschriften mit Kategorie II bzw. III, womit die Bedeutung für die Textgeschichte und für die Herstellung des ursprünglichen Textes betont wird. 63 Offensichtlich hat sich nun hier eine Textform erhalten, die der ursprünglichen Fassung des Briefes entspricht - also ohne die genannten Zusätze. 3 ) Seit JOHANNES WEISS ist es eine ernsthaft erwogene textkritische Konjektur, daß die sog. ökumenische Adresse im Präskript 1 Kor 1,2 ein sekundärer Eintrag ist. 64 Der Brief richtet sich demnach an die Gemeinde in Korinth „mit allen, die den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen an jedem Ort (έν παντί τόπω), dem ihrigen und dem unsrigen". Die Formulierung έν παντί τόπψ hat eine Parallele in 1 Tim 2,8, sie hat aber auch eine paulinische Entsprechung in 1 Thess 1,8. Die Erweiterung der Adresse wäre erklärbar aus dem Stadium der Paulusbriefsammlung, als der 1 Kor am Beginn der Sammlung stand. Dies wird durch den Canon Muratori bezeugt. Dieser Kanonsliste nach stand hier der Rom an letzter Stelle der Gemeindebriefe, vor Philemon und den Past. 65 Das legt nahe, daß durch den Redaktor die erweiterte Adresse in 1 Kor 1 eingefügt wurde sowie dem Rom ein das ursprüngliche Briefcorpus beendender Briefschluß (Rom 16,25-27) - mit Doxologie -
63 64 65
K. u. B. ALAND, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart 2 1989, 119 und 167. J. WEISS, Der erste Korintherbrief (KEK), Güttingen 1970 (= 9 1910), 3 f. Auch Tertullian bezeugt Anfangstellung der Korintherbriefe und SehlußStellung des Rom. Vgl.: A. v.HARNACK, Briefsammlung 8 ff.; W. SCHMITHALS, Zur Abfassung und ältesten Sammlung der paulinischen Hauptbriefe, Z N W 5 1 (1960), 225-245 (v.a. 236 ff.); K. ALAND, Die Entstehung des Corpus Paulinum, in: DERS., Neutestamenüiche Entwürfe, München 1979, 327 (Tabelle).
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angefugt wurde. Kein paulinischer oder deuteropaulinischer Brief endet mit einer Doxologie, so daß die Stellung am Ende der Briefsammlung am ehesten diese Besonderheit erklärt.
5. Ausblick
Die Probleme der Pastoralbriefe sind nicht gelöst, sondern nur in ein neues Stadium getreten - indem jenseits der Diskussion über echt oder unecht heute von ihrer Eigenart als pseudepigrafischen Schriften ausgegangen werden kann. 66 Die offenen Fragen, der sich die weitere Erforschung widmen muß, konzentrieren sich auf drei Gesichtspunkte. 1) Was sind die genaueren Umstände ihrer Entstehung? Vielleicht wird sich dies nie wirklich klären lassen. Doch muß zum besseren Verständnis der Briefe gefragt werden: wann und wo sind sie entstanden? Die heute verstärkte Lokalkolorit-Forschung, die ζ. B. für die Paulusreisen der Apostelgeschichte schon manche überraschenden Aufschlüsse erbrachte, könnte vielleicht auch hier noch nähere Hinweise bringen. 67 Hierzu gehört auch die Klärung der näheren Umstände, die die Situation der Gemeinde der Past in zeitgeschichtlichpolitischer und kirchengeschichtlicher Hinsicht bestimmen. Die Frage nach dem Verfasser hat die neuere Forschung sicher zu Recht mehrheitlich dahingehend entschieden, daß wir den Namen des Verfassers nicht kennen. Paulus war es jedenfalls nicht, aber auch Lukas oder Polykarp sind letztlich nur Verlegenheitskandidaten fur diesen Posten. Selbst die Frage, ob ein oder mehrere Verfasser, ist nicht schlüssig geklärt. Doch spricht trotz gelegentlicher Einwände 68 angesichts der Einheit der drei Briefe doch mehr für einen gemeinsamen Verfasser. 2) Was ist der Anlaß der Entstehung gewesen? Die betonte Polemik gegen andere Lehre und Verkündigung macht es eindeutig, daß die Abwehr einer als akute Bedrohung angesehenen Irrlehre wesentliches Motiv für die Ab-
66
„Dies ist endlich das Ergebnis einer nunmehr seit Anfang des 19. Jh. geführten Literarkritik": SCHELKLE (Anm. 10), 1 4 1 . 67 Vgl. neuerdings: W. THIESSEN, Christen in Ephesus. Die historische und theologische Situation in vorpaulinischer und paulinischer Zeit und zur Zeit der Apostelgeschichte und der Pastoralbriefe (TANZ 12), Tübingen 1994. 68 Zuletzt äußerte sich gegen einen Verfasser: J. M U R P H Y - O ' C O N N O R , 2 Timothy contrasted with 1 Timothy and Titus, RB 98 (1991), 403^18.
Von den „Pastoralbriefen" zum „Corpus Pastorale"
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fassung der Briefe ist. Die durch die Forschung immer wieder modizierte Sicht der urchristlichen Theologiegeschichte läßt aber die Frage nicht zur Ruhe kommen, um welche Irrlehre es sich gehandelt habe. Ein sicherer Anhaltspunkt bleibt die ausdrückliche Bezugnahme auf die „sogenannte Gnosis" (1 Tim 6,20). Die heutige Annahme einer erst ansatzweisen Existenz von Gnosis in neutestamentlicher Zeit führt in den Zirkel, die Datierung der Pastoralbriefe mit der Frage zu verbinden, wann die Gnosis wie weit ausgebildet war, um als Gefahr bekämpft werden zu müssen. 3) Wie sieht der Bezug der Briefe zu Paulus aus? Offensichtlich wird gegen den Einfluß der aktuellen Irrlehre die Autorität der von Paulus kommenden Verkündigungstradition geltend gemacht. Dabei steht aber zur Diskussion, wann und in welchem Gebiet eine so starke Orientierung an Paulus bestand, daß andere Traditionen und andere Apostel gar nicht in den Blick treten. Oder gibt es nur die Sicht des Verfassers wieder, der die Autorität paulinischer Tradition gestärkt wissen möchte und daher andere Traditionen bewußt ausklammert? Macht man sich klar, daß dies ja schriftlich propagiert wird, dann kommt man zur erörterten Frage nach der Relation zum Corpus Paulinum. War es vielleicht die Absicht, mittels der Pastoralbriefe gewissermaßen einen hermeneutischen Schlüssel zu den Paulusbriefen zu geben - und damit eine Abgrenzung gegen ein anderes Paulusverständnis seitens der „Irrlehrer" zu vollziehen (etwa doch Marcion?)? Letztlich zielen alle Fragen auf die eine: Wenn nicht das pastorale Anliegen des Paulus hinter den Briefen steht - wie es noch PAUL ANTON sehen konnte - , was ist dann die eigentliche Intention dieser Briefe, die als nicht von Paulus stammend gleichwohl paulinisch sein wollen?
Der Neutestamentier GERHARD DELLING ( 1 9 0 5 - 1 9 8 6 ) als Erforscher des Frühjudentums Karl-Wilhelm Niebuhr, Halle/Saale
Wenn es gilt, 300 Jahre Theologie in Halle zu würdigen, dann sollte die unmittelbar zurückliegende Epoche dieses Zeitraums nicht ausgeblendet werden. Es sei erlaubt, die persönlichen Gründe zu nennen, die mich bewogen haben, auf GERHARD DELLINGS Werk zu verweisen. Ich habe diesen großen Gelehrten erst in seinen letzten Lebensjahren kennengelernt, aber meine Bekanntschaft mit ihm endete nicht mit seinem Tode. Bereits mehrere Jahre vorher hatte er an mich und andere Mitarbeiter der Hallischen Fakultät in unbeschreiblicher Großzügigkeit seine gesamte wissenschaftliche Hausbibliothek verschenkt, sofern sie nicht fur die Bibliothek des Neutestamentlichen Seminars benötigt worden war. So benutze ich heute u. a. DELLINGS Exemplar des Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament. Es enthält zu nahezu jedem Artikel eine ganze Reihe eingelegter Zettel mit bibliographischen und sachlichen Notizen bis weit in die achtziger Jahre hinein. So ist mir DELLING ständig in besonderer Weise gegenwärtig. Im folgenden werde ich mich darauf beschränken, DELLINGS Werk vorzustellen, soweit es das Frühjudentum betrifft und aus der Hallischen Wirkungszeit ( 1 9 5 0 - 1 9 8 6 ) stammt. DELLINGS wissenschaftlicher Werdegang und
sein neutestamentliches Gesamtwerk können dabei nur im Rahmen der Voraussetzungen und des - nach außen hin oft eher verdeckten - Zusammenhangs seiner Arbeiten zum Frühjudentum in den Blick kommen. 1
1
DELLINGS Gesamtwerk hat sein Nachfolger auf dem neutestamentlichen Lehrstuhl in Halle, TRAUGOTT HOLTZ, in einer Akademischen Gedenkveranstaltung am 30. März 1987 gewürdigt. Es ist unvermeidlich, an dieser Stelle auf die unwürdige Weise hinzuweisen, in der Prof. HOLTZ aufgrund niemals überzeugend und nachprüfbar bewiesener Vorwürfe aus seinem akademischen Lehramt in Halle vertrieben worden ist, ein Vorgang, der nun auch in die Geschichte von 300 Jahren Theologie in Halle gehört und wie diese den künftigen Weg der Fakultät begleiten wird!
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Neues Testament
1. Voraussetzungen
Zwei charakteristische Züge aller exegetischen Arbeit DELLINGS gehen offenbar auf Prägungen am Beginn seines wissenschaftlichen Weges zurück: Seinem Lehrer JOHANNES LEIPOLDT (1880-1965) verdankt er eine tiefgehende
religionsgeschichtliche Schulung besonders auf dem Gebiet der klassischen und hellenistisch-römischen Antike. Sie hat ihren Niederschlag später nicht nur in Arbeiten zum Neuen Testament und zum antiken Judentum gefunden, sondern auch in Veröffentlichungen, die sich ganz oder vorwiegend auf den Bereich der paganen Umwelt des Urchristentums konzentrierten.2 Neben der heidnischen hatte DELLING auch in seinen frühen Arbeiten die jüdische Umwelt im Blick, allerdings im Rahmen eines aus heutiger Sicht problematischen, zeitgebundenen Deutungsschemas. Immerhin hat er schon in seiner Dissertation von 1931 3 nicht nur den „Strack-Billerbeck", sondern auch PHILON, JOSEPHUS und sogar PSEUDO-PHOKYLIDES ausgiebig herangezogen. 4
Das theologische Interesse eines religionsgeschichtlichen Ansatzes neutestamentlicher Exegese war DELLING von Anfang an bewußt. Es kommt knapp
schon in einem Aufsatz von 1952 zum Ausdruck: „Für die Frage nach der Wirkung des Evangeliums auf die Menschen, denen es zuerst verkündet wurde, ist das Verständnis der religiösen Eigenart der neutestamentlichen Umwelt von Bedeutung." 5
Mit Blick auf das Corpus Hellenisticum hat er es später präzisiert: „Mit dieser Welt, der des Diasporajudentums und des Paganohellenismus, hat das Urchristentum sich alsbald auseinandergesetzt; in dieser Welt sind die Schriften des NTs abgefaßt, fur Menschen, die in dieser Welt leben, sind sie geschrieben, in der 2
3 4 5
Zu nennen sind vor allem drei Aufsätze, die in dem Sammelband Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum. Gesammelte Aufsätze 1950-1968, hg. v. F. HAHN, T. HOLTZ, N. WALTER, Berlin 1970, wieder abgedruckt wurden: ΜΟΝΟΣ ΘΕΟΣ, 391-400 (1952); Zur Beurteilung des Wunders durch die Antike, 53-71 (1955/56); Telos-Aussagen in der griechischen Philosophie, 17-31 (1964). Dazu kommt die Neuausgabe der Sammlung: Antike Wundertexte (KIT 79), Berlin 1960, sowie vor allem eine Reihe von einschlägigen Lexikonartikeln (Hellenismus, ΒΗΗΙΙ [1964], 688 ff., Philosophie, ΒΗΗ III [1966],1461, Stoiker, 876 f.; s.auch die ζ. T. sehr ausfuhrlichen Abschnitte zur nichtbiblischen Antike in den Artikeln in ThWNT und RAC). G. DELLING, Paulus' Stellung zu Frau und Ehe (BWANT 56), Stuttgart 1931. Vgl. DELLING (Anm. 3), 49-56. 95. 104. 148 f. 159. SPERANDA FVTVRA. Jüdische Grabinschriften Italiens über das Geschick nach dem Tode, in: Studien (Anm. 2), 39-14 , hier 39.
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Sprache, die Diasporajudentum und Paganohellenismus gemeinsam ist. ... das Urchristentum hat in diese Welt hinein seine Botschaft verkündet nicht in fremder, sondern in griechischer .Zunge' ..., und es hat selbst in dieser Welt der Synagogen und Tempel, der römischen Herren und syrischen Sklaven sein konkretes Dasein gestaltet, in dem sehr real seine Botschaft, sein Glaube lebendig wurde." 6
Eine zweite, DELLINGS künftige Arbeit prägende und begleitende Schule war seine Mitarbeit am Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament. Schon in seiner Tübinger Assistentenzeit bei GERHARD KITTEL ( 1 9 2 9 - 1 9 3 2 ) war er an der redaktionellen Vorbereitung des Werkes beteiligt.7 Als einziger neben G. STÄHLIN hat er dann zu jedem der neun Textbände ζ. T. umfangreiche Artikel beigesteuert, insgesamt 44, soviel wie kein anderer Mitarbeiter! Offenbar im Zusammenhang mit der Erarbeitung der ThWNT-Artikel hat DELLING verstärkt PHILON und JOSEPHUS studiert. Sind in den früheren Artikeln gelegentlich Philon-Stellen noch dem allgemeinen griechischen Sprachgebrauch eingeordnet, während jüdische Belege entweder aus der Septuaginta oder aus der rabbinischen Literatur bezogen werden, 8 so tritt in den Artikeln ab Band 5 ( 1 9 5 4 ) die frühjüdische Literatur zunehmend als eigenständiger Quellenbereich in den Blick (neben PHILON und JOSEPHUS u.a. das Jubiläenbuch, die Testamente der Zwölf Patriarchen, PSEUDO-PHOKYLIDES sowie die Qumran-Literatur). 9 Schon an dieser exegetischen Kärrnerarbeit kann man also die wissenschaftliche Entwicklungsrichtung DELLINGS ablesen. Vor allem aber prägte die Wörterbucharbeit seinen exegetischen Stil. Viele seiner späteren Aufsätze und Bücher, sei es, zu neutestamentlichen oder frühjüdischen Themen, sind im Grunde knapp kommentierte Sammlungen von Quellenbelegen. Das macht die Lektüre oft nicht ganz einfach, verleiht den Arbeiten aber andererseits einen sonst selten erreichten Grad an Konzentration und Zuverlässigkeit. Daß DELLING bis heute selten zu den „großen Namen" der neutestamentlichen Zunft gezählt wird, gleichzeitig aber bei Fachkollegen in aller Welt außerordentlich geschätzt war und ist 10 , hängt sicher mit diesem Stil zusammen, daneben aber wohl auch damit, daß er sich keiner der Schulen zurechnen ließ, die das Gespräch der Neutestamentier in Deutschland nach dem Zweiten 6 7
Zum Corpus Hellenisticum Novi Testamenti, ZNW 54, 1963, 1-15, hier 14 f. Der erste Mitarbeitervertrag mit der Verlagsbuchhandlung W. Kohlhammer in Stuttgart datiert vom 2. Juli 1931. 8 Vgl. z. B. Bd. 1 (1933), 477ff.; Bd. 3 (1938), 456-460. 9 Vgl. Bd. 5 (1954), 829-832; Bd. 6 (1959), 269Í; Bd. 8 (1969), 496-501. 10 Nur ein Beleg dafür: In der Gedenkschrift für den international anerkannten jüdischen Gelehrten S. SANDMEL war DELLING als einziger Deutscher vertreten (s. u., Bibliographie Nr. 7).
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Weltkrieg bestimmten. Natürlich hatte er selbst eine Position in diesem Gespräch. Bei klarer Bejahung historischer Bibelkritik machte er diese nie zum Selbstzweck. 11 Der Kerygma-Theologie R. BULTMANNs stand er deutlich distanziert gegenüber 12 , wie u. a. aus seiner Korrespondenz mit O. CULLMANN über dessen und seine eigenen Arbeiten zum Zeit- und Geschichtsverständnis im Neuen Testament hervorgeht 13 . Aber seine publizierten Stellungnahmen haben immer die Gestalt exegetischer Detailargumentationen, die die aktuellen Bezüge kaum auf den ersten Blick zu erkennen geben. Auf diese verborgene Aktualität der Arbeiten DELLINGS wird zurückzukommen sein.
2. Die Arbeit am „Corpus Hellenisticum Novi Testamenti"
Von 1950 bis zu seiner Emeritierung 1970 lehrte DELLING als Neutestamentler in Halle. Um 1954/55 trat er leitend in die Arbeit am Corpus Hellenisticum Novi Testamenti ein. Dieses Projekt geht auf einen Plan des Leipziger Neutestamentlers G. HEINRICI zurück, der vorsah, alle erreichbaren Parallelen zum Neuen Testament aus der antiken Literatur in Form eines fortlaufenden Kommentars zusammenzustellen. Nach der Aufteilung des Corpus in einen paganound einen judaeo-hellenistischen Arbeitszweig war letzterer in Halle verblieben und vor allem durch E. VON DOBSCHÜTZ und H. WINDISCH vorangetrieben
worden. Nach WINDISCHS Tod (1935) hatte E. KLOSTERMANN die Verantwortung für das Projekt übernommen, freilich mit der ausdrücklichen Erklä11 12 13
Als seinen heimlichen Lehrer könnte man, nach den Beständen seiner Hausbibliothek und manchen literarischen Bezugnahmen geurteilt, A. SCHLATTER vermuten. Vgl. den Aufsatz: Der „historische Jesus" und der „keiygmatische Christus", in: Studien (Anm. 2), 176-202 (1967). DELLING dankt CULLMANN für die 3. Aufl. von dessen „Christus und die Zeit" (Zürich 1962) mit den Worten: „Das Werk berührt einen unserer Streitpunkte in einem Bereich des Neuen Testaments, den wir im Entscheidenden ähnlich beurteilen - trotz der Einreihung in eine bestimmte theologiegeschichtliche Linie, die einem der Gebrauch des Wortes Heilsgeschichte einbringt, verwende ich es auch, so lange sich kein sachgemäßeres findet. Daß ich heute manches anders formulieren würde als vor mehr als zwei Jahrzehnten in meinem Buch über das Zeitverständnis (gemeint ist: Das Zeitverständnis des Neuen Testaments, Gütersloh 1940 - Anm. d. Vf.), deutete ich Ihnen wohl schon einmal an und schrieb Ihnen jedenfalls, daß ich für die Korrektur meiner Auffassung gerade aus Ihrer Arbeit Gewinn gezogen habe." (Brief vom 20. Januar 1963). Vgl. zu DELLINGS späterer Position in dieser Frage sein Buch: Zeit und Endzeit. Zwei Vorlesungen zur Theologie des Neuen Testaments (BSt 58), Neukirchen-Vluyn 1970.
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rung, zu seiner sachlichen Förderung nicht beitragen zu können. Sein Verdienst bleibt es, das bereits vorhandene Material über die Wirren der Kriegsund Nachkriegszeit hinweg gerettet zu haben. Auf Veranlassung von K. ALAND kam es 1954 zu einem Beschluß der Kommission für spätantike Religionsgeschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, „das Corpus hellenisticum in das Arbeitsprogramm der Kommission einzubeziehen". Mit der Leitung der Arbeiten wurden „Professor D. Aland und Professor D. Delling unter gebührender Beteiligung von Hrn. Klostermann und Professor Dr. Riesenfeld beauftragt" 14 . Von den äußeren Schwierigkeiten und den Arbeitsbedingungen in den folgenden Jahren ergibt sich aus den Akten des Corpus in Halle ein lebendiges Bild. Wer sich über die in dieser Zeit geleistete Arbeit ein Urteil erlauben will, sollte sich vorher mit ihnen vertraut machen. Um das Projekt selbst zu einem publizierbaren Abschluß bringen zu können, wäre neben der - immer wieder erbetenen und in den seltensten Fällen geleisteten - Zuarbeit von auswärtigen Fachkollegen vor allem die Einrichtung einer personell und materiell ausreichend ausgestatteten Arbeitsstelle nötig gewesen. In dieser Hinsicht wurden aber die Verhältnisse nur immer schlechter. Hier kann lediglich versucht werden, DELLINGS eigenen Beitrag zu würdigen. Es wird sich zeigen, daß er weit größer ist, als es angesichts seiner Lehrverpflichtungen als einziger Neutestamentler in Halle und der angedeuteten Arbeitsbedingungen zu erwarten gewesen wäre. In einem Bericht über die Arbeit am Corpus hat DELLING u. a. den Kreis der Quellen umrissen, die für den hellenistisch-jüdischen Zweig heranzuziehen sind. 15 Diesen Quellenbereich und darüber hinaus die sogenannten Apokryphen und Pseudepigraphen erfaßt auch die Bibliographie zur jüdisch-hellenistischen und intertestamentarischen Literatur 1900-1965. 16 Eine zunächst im Verlauf der Arbeit für das Corpus entstandene Zusammenstellung wurde für 14 Brief der Kommission an DELLING vom 8. Dezember 1954 mit der offiziellen Mitteilung über den Beschluß vom 15. Oktober 1954. Ich stütze mich hier und im folgenden auf Akten und Korrespondenz aus dem Archiv des Corpus in Halle, ohne das umfangreiche Material gebührend auswerten zu können. Für zahlreiche zusätzliche Informationen danke ich Prof. N. WALTER, Prof. T. HOLTZ und Dr. H. BERTHOLD. Einen kurzen Überblick über das Corpus Hellenisticum gibt H. D. BETZ, TRE 15 (1986), 23 f. 15 Zum Corpus (Anm. 6), 5-8. 16 Berlin 1969 (TU 106); 2., überarbeitete und bis 1970 fortgeführte Aufl. 1975. DELLINGS mir vorliegendes Handexemplar der 2. Aufl. enthält eine Unzahl eingelegter Zettel (buchstäblich zwischen allen Seiten, oft mehr als zehn!), die von der privaten Weiterführung der Bibliographie bis zu seinem Tode zeugen.
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die Publikation systematisch erweitert und nach dem Autopsie-Grundsatz überprüft. Die im Vorwort angeführten Auswahlkriterien setzen Sachurteile zu jedem einzelnen der aufgenommenen Titel voraus, die nur durch Einsicht in die betreffenden Publikationen möglich wurden. Eine umfangreiche Sammlung von Sonderdrucken, Kopien und Mikrofilmen in der Bibliothek des Corpus belegt den dort erhobenen Anspruch. Für die Fülle der aufgenommenen Buchpublikationen mußten im wesentlichen die Wege der Bibliotheksfernleihe gegangen werden. Wer diese Wege zu jener Zeit ein wenig kennt, kann ermessen, welche rein technischen Arbeitsleistungen und Geduldsproben dem Herausgeber und seinen Mitarbeitern dadurch auferlegt waren. Ergebnis dieser Mühe war dann freilich ein Arbeitsmittel, dessen Qualitäten weit über die einer Literaturliste hinausgehen. Die Titel sind nicht nur nach einzelnen Quellen zusammengestellt, sondern auch nach übergreifenden Themen. Ein praktisches System von Querverweisen ermöglicht das Auffinden von Zusammenhängen. Der Zeitraum der erfaßten Publikationen schließt an die bei E. SCHÜRER17 verarbeitete ältere Literatur an. Natürlich veralten Forschungsbibliographien besonders schnell. Das gilt auch für die „BJHIL", zumal angesichts der neuen Blüte der Forschung zum Frühjudentum seit den siebziger Jahren. Aber eine ihr vergleichbare umfassende und durch gezielte Auswahl inhaltlich gestaltete Bibliographie ist seither nicht mehr erschienen und scheint auch kaum mehr möglich. In seinen eigenen Arbeiten zum Frühjudentum wandte sich DELLING besonders solchen Quellen zu, die bisher kaum oder nur unzureichend behandelt worden waren. Schon früher hatte er gelegentlich, meist aus dem Zusammenhang neutestamentlicher Untersuchungen heraus 18 , nichtliterarische Zeugnisse bearbeitet 19 . In einer schon 1966 abgeschlossenen, aber erst 1976 erschienenen Untersuchung zu biblischen Personennamen im hellenistisch-römischen Ägypten 20 wertete er vor allem die Papyri des Corpus Papyrorum Judaica-
17
Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, 4 Bde., Leipzig 1901—1911. Zu nennen wären hier auch zwei Aufsätze zur Wunderthematik: Wunder - Allegorie Mythus bei Philon von Alexandreia, in: Studien (Anm. 2), 72-129 (1957); Josephus und das Wunderbare, a. a. O., 130-145 (1958). SPERANDA FVTVRA (Anm. 5); Die Altarinschrift eines Gottesfürchtigen in Pergamon, in: Studien (Anm. 2), 32-38 (1964). Biblisch-jüdische Namen im hellenistisch-römischen Ägypten, Bulletin de la Société d'Archéologie Copte 22, 1974-1975, Kairo 1976, 1-42 (vgl. ThLZ 92, 1967, 249-252). 4
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rum 2 1 aus. In einer weiteren Studie erschloß er die bis dahin kaum beachteten Paralipomena Jeremiae für die Erforschung jüdischer Lehre und Frömmigkeit. 22 Zwei Aufsätze behandeln den Liber Antiquitatum Biblicarum 23 , zwei weitere die Schrift Joseph und Aseneth 24 , eine umfangreiche Studie untersucht die jüdischen Traditionen im sogenannten Alexanderroman 25 . Alle hier genannten Arbeiten sind Sachbeiträge zum Corpus Judaeo-hellenisticum, auch wenn sie nur gelegentlich von DELLING als Vorarbeiten dafür bezeichnet wurden und kaum einmal in ihnen direkte Bezüge zum Neuen Testament hergestellt werden. DELLING hatte durch das Corpus im Laufe der Zeit das Frühjudentum immer stärker als eigenständigen Forschungsgegenstand entdeckt, dem er sich nach seiner Emeritierung fast ausschließlich widmen sollte. Und doch betrieb er offenbar auch diese Untersuchungen als Neutestamentier und Theologe. Exemplarisch für den nun erreichten Forschungsansatz scheint sein Urteil bezüglich der Paralipomena Jeremiae: „Berührungen der par Jer mit dem Neuen Testament ... sind nicht im Sinn der Abhängigkeit zu verstehen, sondern gehören in den Bereich der vielfältigen Berührungen zwischen jüdischem und urchristlichem Schrifttum, die sich aus bestimmten Gemeinsamkeiten der Sprache, des Denkens und der Vorstellungen erklären. Manche dieser Parallelen in par Jer tragen zu einem besseren Verständnis neutestamentlicher Texte bei ... Hier sollte erst einmal auf die besondere jüdische Eigenart des Kerns der par Jer hingewiesen werden." 2 6 N u r v o n 1 9 5 5 - 1 9 6 4 stand DELLING mit NIKOLAUS WALTER ein h a u p t a m t l i -
cher wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Arbeit am Corpus Hellenisticum zur Seite. Er hat vor allem durch die Bearbeitung der bei den Kirchenvätern fragmentarisch überlieferten jüdisch-hellenistischen Literatur vor PHILON das Material des Corpus erweitert. 27 In dessen thematischen Umkreis gehören 21 22 23
24 25 26 27
Hg. v. V. TCHERIKOVER, A. FuKS, 3 Bde., Cambridge 1957-1964. Jüdische Lehre und Frömmigkeit in den Paralipomena Jeremiae (BZAW 100), Berlin 1967. Die Weise, von der Zeit zu reden, im Liber Antiquitatum Biblicarum, NT 13, 1971, 305-321; Vom Morija zum Sinai (Pseudo-Philo Liber Antiquitatum Biblicarum 32,1-10), JSJ 2, 1971, 1-18. Einwirkungen der Sprache der Septuaginta in „Joseph und Aseneth", JSJ9, 1978, 29-56; Die Kunst des Gestaltens in „Joseph und Aseneth" (s. u., Bibliographie Nr. 6). Alexander der Große als Bekenner des jüdischen Gottesglaubens (s.u., Bibliographie Nr. 4). Jüdische Lehre (Anm. 22), 74. Sowohl für die Aufhellung der Überlieferungsgeschichte als auch für die exegetische Erschließung dieser Fragmente sind WALTERS Arbeiten wegweisend geworden, s.: Der Thoraausleger Aristobulos. Untersuchungen zu seinen Fragmenten und zu pseudepi-
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darüber hinaus aber auch eine ganze Reihe von in Halle entstandenen bzw. dort als Dissertationen verteidigten Untersuchungen wie die Habilitationsschrift
von
M.J.FIEDLER29,
H . HEGERMANN 2 8
und
D. RAHNENFÜHRER 30 ,
die
Promotionsschriften
D.HAUPT31
und
von
P.-G.KEYSER32.
Über DELLINGS Art und Weise, solche Arbeiten zu begleiten, berichtete sein N a c h f o l g e r in Halle, TRAUGOTT HOLTZ: „Dabei hat er über unsere speziellen Arbeiten kaum mit uns, seinen Schülern, gesprochen, die akademischen Qualifizierungsarbeiten erst gesehen, als sie bereits im Manuskript fertig entworfen vorlagen. Aber man maß während der ganzen Arbeit jeden Satz, den man schrieb, von vornherein an seinem imbestechlichen Urteil und war daher stets durch ihn und seinen Maßstab begleitet." 3 3
HOLTZ selbst hat bei seinen eigenen Schülern nicht nur diesen DELLINGschen Maßstab in Erinnerung gehalten, sondern auch die thematische Aufgabenstelgraphischen Resten der jüdisch-hellenistischen Literatur (TU 86), Berlin 1964; Fragmente jüdisch-hellenistischer Historiker, JSHRZI, 8 9 - 1 6 3 (1976); Fragmente jüdischhellenistischer Exegeten: Aristobulos, Demetrios, Aristeas, JSHRZ III, 2 5 7 - 2 9 9 (1975); Fragmente jüdisch-hellenistischer Epik: Philon, Theodotos, JSHRZ IV, 135-171 (1983); Pseudepigraphische jüdisch-hellenistische Dichtung: Pseudo-Phokylides, Pseudo-Orpheus, Gefälschte Verse auf Namen griechischer Dichter, JSHRZ IV, 173-278 (1983). Vgl. auch die Überblicke: Jüdisch-hellenistische Literatur vor Philon von Alexandrien (unter Ausschluß der Historiker), A N R W I I 20,1 (1987), 6 7 - 1 2 0 ; Jewish-Greek Literature of the Greek Period, in: The Cambridge Histoiy of Judaism, hg.v. W.D. DAVIES, L. FINKELSTEIN, Vol. 2: The Hellenistic Age, Cambridge 1989, 385-408. 28
Schöpfimgsmittler und neue Welt, 1957 (erschienen unter dem Titel: Die Vorstellung vom Schöpfungsmittler im hellenistischen Judentum und Urchristentum [TU 82], Berlin 1961).
29
Der Begriff δικαιοσύνη im Matthäus-Evangelium, auf seine Grundlagen untersucht, 1957 (vgl. DERS.: Δικαιοσύνη in der diaspora-jüdischen und intertestamentarischen Literatur, J S J 1, 1970, 120-143 [Teildruck der Diss.]). FIEDLER arbeitete 1955-1957 am Corpus mit. Das Testament des Hiob in seinem Verhältnis zum Neuen Testament, 1967 (vgl. DERS.: Das Testament des Hiob und das Neue Testament, ZNW 62, 1971, 68-93).
30 31
Das Testament des Levi. Untersuchungen zu seiner Entstehung und Überlieferungsgeschichte, 1969.
32
Sapientia Salomonis und Paulus. Eine Analyse der Sapientia Salomonis und ein Vergleich ihrer theologischen und anthropologischen Probleme mit denen des Paulus im Römerbrief, 1971 (vgl. dazu das Referat bei N. WALTER: Sapientia Salomonis und Paulus. Bericht über eine Hallenser Dissertation von Paul-Gerhard Keyser aus dem Jahre 1971, in: H. HÜBNER [Hg.]: Die Weisheit Salomos im Horizont Biblischer Theologie [BThSt 22], Neukirchen-Vluyn 1993, 83-108).
33
Gedenkvorlesung (Anm. 1), Typoskript 15.
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lung d e s C o r p u s . 3 4 E s w ä r e ein betrübliches Signal g e g e n w ä r t i g e r T h e o l o g i e in Halle, w e n n das über s o lange Zeit und durch s o l c h komplizierte ä u ß e r e Verhältnisse a m L e b e n erhaltene Projekt d e s C o r p u s Judaeo-hellenisticum ang e s i c h t s der jetzt g e g e b e n e n M ö g l i c h k e i t e n und der aktuellen F o r s c h u n g s l a g e nicht intensiv vorangetrieben w e r d e n k ö n n t e . 3 5
3. DELLINGS B e i t r a g zur Erschließung d e s Frühjudentums flir die neutestamentliche E x e g e s e
Für eine Darstellung d e s B e i t r a g s v o n G E R H A R D D E L L I N G zur E r f o r s c h u n g d e s Frühjudentums ist die L a g e insofern günstig, als sein d i e s b e z ü g l i c h e s W e r k durch drei g r ö ß e r e Studien eine g e w i s s e Abrundung erfahren hat. D i e erste benennt „Perspektiven der E r f o r s c h u n g d e s hellenistischen Judentums" 3 6 , die z w e i t e behandelt thematisch „ D i e B e g e g n u n g z w i s c h e n H e l l e n i s m u s und Jud e n t u m " 3 7 , die dritte schließlich würdigt u m f a s s e n d „ D i e B e w ä l t i g u n g der
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Zu nennen sind hier die durch ihn betreuten einschlägigen Dissertationen von CHR. WOLFF (Jeremía im Frühjudentum und Urchristentum [TU 118], Berlin 1976), E. REINMUTH (Geist und Gesetz. Studien zu Voraussetzungen und Inhalt der paulinischen Paränese [ThA 44], Berlin 1985), K.-W. NIEBUHR (Gesetz und Paränese. Katechismusartige Weisungsreihen in der frühjüdischen Literatur [WUNT 2,28], Tübingen 1987) und I. TAATZ (Frühjüdische Briefe. Die paulinischen Briefe im Rahmen der offiziellen religiösen Briefe des Frühjudentums [NTOA 16], Göttingen, Fribourg 1990. Auch REINMUTHS gerade erschienene Habilitationsschrift (Pseudo-Philo und Lukas. Studien zum Liber Antiquitatum Biblicarum und seiner Bedeutung für die Interpretation des Iukanischen Doppelwerks [WUNT 74], Tübingen 1994) steht in der Tradition DELLiNGscher Beiträge zum Corpus (s. die o., Anm. 23, genannten Aufsätze). Das von G. STRECKER in Göttingen betriebene Projekt eines „Neuen Wettstein" (vgl. G. STRECKER: Das Göttinger Projekt „Neuer Wettstein", Z N W 8 3 , 1992, 245-252) zielt darauf, „den Quellenteil, den der Schweizer Gelehrte Johann Jakob Wettstein (1648 [sie!, gemeint: 1693] - 1754) seiner zweibändigen Ausgabe des griechischen Neuen Testaments beigegeben hat, in einer den heutigen Erfordernissen Rechnung tragenden Neubearbeitung vorzulegen und soweit als möglich durch neuere einschlägige Parallelen begrenzt zu erweitern." (a. a. O., 247). Dadurch soll das Ungleichgewicht der zur Verfügung stehenden Hilfsmittel für die Interpretation des Neuen Testaments zugunsten des hellenistischen Hintergrunds abgebaut werden (246). Es ist deutlich, daß damit die Aufgabenstellung des Corpus Judaeo-hellenisticum nicht erledigt sein wird. HUCA 45, 1974, 133-176. S. u., Bibliographie Nr. 9.
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Diasporasituation durch das hellenistische Judentum" 3 8 . Die unter den Voraussetzungen benannte religionsgeschichtliche Schulung einerseits und die Distanz zu R. BULTMANNS Ansatz andererseits hatten DELLING von Anfang an skeptisch urteilen lassen gegenüber Gnosis und Mysterienreligionen als prägendem Grund für neutestamentliche Vorstellungen. 39 Durch die Arbeit am Corpus Judaeo-hellenisticum hatte sich ihm das hellenistische Judentum als eigenständiger Forschungsgegenstand erschlossen. So war er schon vor Jahrzehnten zu Urteilen gekommen, die sich nun weitgehend durchsetzen. 40 Obwohl die ihm durch das Corpus gestellte Aufgabe eine Konzentration auf jüdische Zeugnisse in griechischer Sprache vorsah, hat er die in Teilen der neutestamentlichen Exegese seinerzeit beliebte mechanische Trennung zwischen dem Judentum Palästinas und dem der Diaspora nie akzeptiert, wenngleich er Unterschiede durchaus sah und zu erfassen suchte. So definiert er „hellenistisches Judentum" als „Sigle für die Judenschaft der hellenistisch-römischen Zeit, die in ihrem Alltag ausschließlich oder überwiegend die griechische Sprache ... gebrauchte, die insbesondere ihre Bibel in griechischer Übersetzung las beziehungsweise verstehend hörte" 4 1 . Das Judentum Palästinas und das der Diaspora zeigen sowohl Gemeinsamkeiten als auch jeweils Probleme besonderer Art. Vielfältige Kontakte verbinden beide. Konsequenterweise arbeitet DELLING die je spezifische Weise der Begegnung und Auseinandersetzung zwischen Judentum und Hellenismus in der Diaspora einerseits und in Palästina andererseits heraus, um schließlich auf dieser differenzierten
38
39 40
S. u., Bibliographie Nr. 1. Es wäre sehr zu wünschen, wenn diese drei übergreifenden Studien zusammen mit den verstreut publizierten Einzelbeiträgen zum Frühjudentum, die nach dem Aufsatzband von 1970 erschienen sind, einmal gesammelt neu herausgegeben werden könnten. Vgl. schon SPERANDA FVTVRA (Anm. 5), 44. S. a. Jüdische Lehre (Anm. 22), 72, Anm. 12. Exemplarisch könnte das an DELLINGS Interpretation der Apostelgeschichte gezeigt werden, vgl. seine Aufsätze: Israels Geschichte und Jesusgeschehen nach Acta, in: Neues Testament und Geschichte (FS O. CULLMANN), Zürich 1972, 187-197; Die Jesusgeschichte in der Verkündigung nach Acta, NTS 19, 1973, 373-389; „...als er uns die Schrift aufschloß". Zur Lukanischen Terminologie der Auslegung des Alten Testaments, in: Das Wort und die Wörter (FS G. FRIEDRICH), Stuttgart 1973, 75-84; Das letzte Wort der Apostelgeschichte, NT 15, 1973, 193-204. S.auch die betreffenden Abschnitte in der Monographie: Wort Gottes und Verkündigung im Neuen Testament (SBS 53), Stuttgart 1971, 23-30. 44-48. So wie in der neuesten Acta-Forschung (z.B. bei C. HEMER, B . WINTER, W. STEGEMANN o d e r E. REINMUTH) w i r d hier bereits d i e
41
entscheidende Bedeutung des frühjüdischen Hintergrunds gesehen. Perspektiven (Anm. 36), 135 f.
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Grundlage „die Zusammengehörigkeit beider in der Treue zur väterlichen Religion, zu ihren grundlegenden Glaubensaussagen, zu ihrem Gottesdienst und zumal zu ihrem ,Gesetz'" 4 2 herauszustellen. Der Herausarbeitung der vielfaltigen Ausprägungen solchen frühjüdischen Glaubens, der religiösen Wurzeln des Judentums in neutestamentlicher Zeit also, dienten DELLINGS Forschungen in erster Linie. 43 Dabei haben sich drei Themenkreise immer deutlicher herauskristallisiert, die sich freilich im Rückblick auf das Gesamtwerk im Grunde schon von dessen Anfang an aufweisen lassen: das Gottesverständnis, die Geschichtsauffassung und die Zukunftserwartungen. Hat es auf den ersten Blick den Anschein, als habe DELLING sich früher vorwiegend mit neutestamentlichen Themen befaßt und erst nach seiner Emeritierung ganz dem Frühjudentum zugewendet, so täuscht doch dieser nach der Zahl der jeweiligen Publikationen sicher naheliegende Eindruck. Denn gerade die drei genannten Themenkreise machen deutlich, daß beide Arbeitsbereiche ständig aufeinander bezogen waren, freilich in für DELLING geradezu typischer verdeckter Weise. So korrespondieren den Arbeiten zu neutestamentlichen Gottesbezeichnungen 44 eine ganze Reihe von ähnlich subtilen Untersuchungen zu Gottesbezeichnungen in frühjüdischen Texten. 45 Der Aufweis der Verwurzelung neutestamentlicher Rede von Gott in Sprache und Vorstellungswelt der biblischjüdischen Überlieferung hat wiederum Rückwirkungen für die Bewertung des Zeit- und Geschichtsverständnisses im Neuen Testament. Denn wenn im Neuen Testament wie im Frühjudentum mit den gleichen geprägten Wendungen Gott als Schöpfer bekannt und sein grundlegendes Heilshandeln benannt werden kann, dann ist damit nicht nur das jüdische Bekenntnis zu dem einen Gott Israels auf den Vater Jesu Christi übertragen, sondern gleichzeitig im Christusgeschehen dieser Gott am Werk erkannt. So kann DELLING von der „Kontinuität des Heilsgeschehens" sprechen, „in der das Christusgeschehen
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Begegnung (s. u., Bibliographie Nr. 9), 38; vgl. auch Perspektiven, 144 f. Vgl. Perspektiven, 139-145. 163-170; Begegnung, 14-21. 30-36; Bewältigung (s.u., Bibliographie Nr. 1), 9^18. 85-89. Partizipiale Gottesprädikationen in den Briefen des Neuen Testaments, StTh 17, 1963, 1 - 5 9 (Kurzfassung in: Studien [Anm. 2], 401-416); Zusammengesetzte Gottes- und Christusbezeichnungen in den Paulusbriefen, in: Studien, 417-424 (1965); vgl. auch: Die Bezeichnung „Gott des Friedens" und ähnliche Wendungen in den Paulusbriefen, in: Jesus und Paulus (FS W. G. KÜMMEL), Göttingen 1975, 76-84. Vgl. nur Jüdische Lehre (Anm. 22), 30-41; Sprache der Septuaginta (Anm. 24), 45-49; Alexander der Große (Anm. 25), 5-10. 17-24. 30-36; Bewältigung (Anm. 38), 9Iff.
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steht", der „Kontinuität des Handelns Gottes mit Israel bzw. mit der Menschheit" 4 6 . In solcher Kontinuität wiederum ist die „Übertragung von Prädikaten des alttestamentlichen Heilsvolkes auf das neutestamentliche" begründet, ein Vorgang, in dem „nicht nur der Anspruch der Urchristenheit sichtbar (wird), im Gegensatz zum jüdischen Volk, das den Christus zurückweist, das wahre Gottesvolk darzustellen, sondern andererseits zugleich der Gedanke des Zusammenhanges zwischen dem Heilsvolk der alten und dem der neuen Ordnung" 4 7 . Damit treten eben solche Prädikate des alttestamentlichen Heilsvolkes, die sich in der frühjüdischen Literatur finden, mithin die Frage des Selbstverständnisses Israels in frühjüdischer Zeit, von neuem als Forschungsgegenstand in den Blick des Neutestamentiers. 48 Nur an diesem einen Beispiel 49 konnte hier illustriert werden, daß im Werk DELLINGS neutestamentliche und frühjüdische Fragestellungen eng aufeinander bezogen sind und dennoch als je eigenständige bearbeitet werden. Daß dieser methodische Weg ebenso wie die dabei verhandelten Sachfragen für das heute zentrale Problem einer biblischen Theologie von größter Bedeutung sind, dürfte deutlich geworden sein. Bezeichnenderweise hat auch zu ihr DELLING nie explizit Stellung genommen. Seine Aktualität war und ist eine verborgene, freilich eine, die der Entdeckung lohnt. Daß diese Aktualität geradezu einen seelsorgerlichen Aspekt gewinnen konnte, legt der Titel von DELLINGS letzter, posthum erschienener Schrift nahe: Die Bewältigung der Diasporasituation. Man wird wohl annehmen dürfen, daß diese Formulierung wie gelegentliche vergleichbare an unvermutetem
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Zeit und Endzeit (Anm. 13), 32. Zeit und Endzeit (Anm. 13), ebd. Vgl. dazu die Aufsätze: Die Bezeichnung „Söhne Gottes" in der jüdischen Literatur der hellenistisch-römischen Zeit, in: God's Christ and His People (FS Ν. A. DAHL), Oslo 1977, 18-28 (diesem Aufsatz korrespondieren der Beitrag: Die „Söhne (Kinder) Gottes" im Neuen Testament, in: Die Kirche des Anfangs [FS H. SCHÜRMANN], Leipzig 1977, 615-631, sowie der RAC-Artikel Gotteskindschaft [s.u., Bibliographie Nr. 10]); The „One Who Sees God" (Bibliographie Nr. 7); Das αγαθόν der Hebräer bei den griechischen christlichen Schriftstellern, in: Das Korpus der griechischen christlichen Schriftsteller. Historie, Gegenwart, Zukunft (TU 120), Berlin 1977, 151-172. Zum Themenkreis Zukunftserwartungen kann hier nur erneut auf „Zeit und Endzeit" (Anm. 13) einerseits, andererseits auf einen weiteren Aufsatz zum Frühjudentum verwiesen werden: Die biblische Prophetie bei Josephiis, in: Josephus-Studien ( F S O. MICHEL), Göttingen 1 9 7 4 , 1 0 9 - 1 2 1 .
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Ort 5 0 durchaus gezielt gewählt wurden, freilich kaum mit der Absicht direkter Einflußnahme auf aktuelles Gemeindeleben. Dazu sind Stil und Gegenstand der Darstellung sicher viel zu diffizil. Für DELLINGS eigene theologische Reflexion - sofern angesichts seiner hierin kaum zu durchdringenden Verschlossenheit Vermutungen darüber überhaupt anzustellen sind - scheint aber die Beschäftigung mit Glauben und Leben des Frühjudentums in innerer Beziehung zu der Aufgabe gestanden zu haben, als theologischer Lehrer zur Bewahrung christlicher Existenz und zur Bewältigung ihrer Gefahrdung durch eine mehrheitlich nichtchristliche Umwelt auszurüsten. Die Analogie aus der Lebenssituation des antiken Judentums in heidnisch-hellenistischer Umwelt mag sich ihm dabei erschlossen haben als Erfahrung des Gottesvolkes, das aus dem Geschenk der Erwählung durch Gott und in der Verantwortung zur Bewährung solcher Gabe lebt. Wer DELLINGS Beitrag zur Erforschung des Frühjudentums unter diesem Horizont zur Kenntnis nimmt, kann in ihm das biblische Zeugnis von der Treue Gottes vernehmen, das im Neuen Testament dem Christusgeschehen zugrunde liegt.
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Vgl. ζ. B. Alexander der Große (Anm. 25), 6: „In die Situation des Gefragtseins und des Bekennens kommt der Jude durch die Begegnung mit einem Heiden." S. a. einige der Kapitelüberschriften der genannten Monographie: „Die Absonderung", „Die Bindung" , „Die Öffnung", „Der Auftrag", „Die ständige Erprobung". Fragen der spezifischen Diasporasituation des hellenistischen Judentums widmen sich auch die Aufsätze: Josephus und die heidnischen Religionen, in: Studien (Anm. 2), 45-52 (1965), und: Philons Enkomion auf Augustus, Klio 54, 1972, 171-192.
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Anhang: Bibliographie GERHARD DELLING (Fortsetzung und Abschluß von ThLZ90, 1965, 555-558; 100, 1975, 398ff.; 105, 1980, 397-400) I.
95, 1970, 628;
Selbständig erschienene Schrift:
1. Die Bewältigung der Diasporasituation durch das hellenistische Judentum, Berlin: Evang. Verlagsanstalt (zugleich Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht) 1987, 96 S.
II. Aufsätze in Zeitschriften, Festschriften und Sammelbänden: 2. Die Entfaltung des ,Deus pro nobis' in Rom 8,31-39, SNTU(A) 4, 1979, 76-96. 3. Georg Pasor als Lexikograph, NT 22, 1980, 184-192. 4. Alexander der Große als Bekenner des jüdischen Gottesglaubens, JSJ 12, 1981, 1-51. 5. Die Handbücherei eines Lateinschülers um 1590. Ein Beitrag zur Geschichte des christlichen Humanismus, Gym. 88, 1981, 525-541. 6. Die Kunst des Gestaltens in „Joseph und Aseneth", NT 26, 1984, 1—42. 7. The „One Who Sees God" in Philo, in: Nourished with Peace (GS S. SANDMEL), Chico, California: Scholars Press 1984, 27—41. 8. Josephus und die heidnischen Religionen (japan. Übers, von ThLZ 95, 1970, 628, Nr. 6), in: Josephan Studies III, hg. v. L. H. FELDMAN, G. HATA, Tokyo 1985, 131-145. 9. Die Begegnung zwischen Hellenismus und Judentum, ANRW II 20,1 (1987), 3-39.
III. Artikel in Wörterbüchern und Nachschlagewerken: 10. Gotteskindschaft, RAC 11 (1981), 1159-1185. 11. Frieden IV. Neues Testament, TRE 11 (1983), 613-618.
IV. Herausgeber: 12. Studia ad Corpus Hellenisticum Novi Testamenti (mit H. D. BETZ, W. C. VAN UNNIK), Leiden: E. J. Brill, 1971 ff.
Der historische Abstand und der Heilige Geist* Udo Schnelle, Halle/Saale
1. Einleitung
Der christliche Glaube bekennt, daß in einem einmaligen historischen Geschehen vor 2000 Jahren die Wahrheitsfrage definitiv entschieden wurde. So sagt der johanneische Christus: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, denn durch mich" (Joh 14,6). Wie aber kommt es hier von der Behauptung zum Erweis des Gesagten? Wie ist das Vergangene wirkungsmächtig gegenwärtig? Nicht nur als Erinnerung, im Buchstaben erstarrt oder als Wirkungsgeschichte rezipiert. Nicht nur als Postulat der andauernden Bedeutsamkeit einer Persönlichkeit oder einer Bewegung. Nein, wie ist das Vergangene als lebenstiftendes Geschehen in der Gegenwart wirksam und erfahrbar? Vor diesem Schlüsselproblem christlicher Lehre und christlichen Lebens standen die ntl. Autoren vor 2000 Jahren ebenso wie wir heute. Die zeitliche Nähe zum Ursprungsgeschehen gewährt hier keinesfalls einen prinzipiellen Erkenntnisvorsprung, denn z. Zt. der Abfassung der ntl. Schriften befanden sich ihre Autoren in derselben Situation wie wir heute: Der irdische Jesus war ihrem Zugriff ebenso entzogen wie der Auferstandene, und die Frage nach der Möglichkeit und dem Modus der Präsenz des Göttlichen in der Zeit stand auf der Tagesordnung. Deshalb möchte ich, einem Rat K . BARTHS folgend, 1 nicht das Nebengespräch mit der Auslegungsgeschichte, sondern das Hauptgespräch mit den ntl. Zeugen selbst fuhren. Paulus und Johannes griffen das Problem der bleibenden Anwesenheit Gottes in der Welt entschieden auf, und ihre Lösung soll heute morgen die Richtung unserer Überlegungen bestimmen. Dabei setze ich voraus, daß ein Verstehen der Schrift nur dann gelingen kann, wenn das Selbstverständnis der Schrift in den Verstehensprozeß
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Leicht erweiterte Fassung meiner öffentlichen Antrittsvorlesung an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg am 2. Juli 1992. Vgl. K. BARTH, Einführung in die evangelische Theologie, Gütersloh 2 1977,136.
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mit einfließt und ihn bestimmt. Die eigene Hermeneutik erwächst dann gewissermaßen aus einem Nachspüren und Nachsinnen der von den ntl. Autoren selbst gegebenen Antworten. 2
2. Paulinische und johanneische Hermeneutik als Verschränkung von Geist und Geschichte
In der ältesten ntl. Schrift, dem 1 Thess, sagt Paulus: „Und deshalb danken wir Gott unaufhörlich, daß ihr das von uns verkündigte Wort Gottes annahmt nicht als Menschenwort, sondern, was es in Wahrheit ist, als Wort Gottes, das sich in euch, den Glaubenden, wirksam erweist" (1 Thess 2,13). Obgleich sich die Verkündigung des Apostels im historisch fixierbaren Raum des Imperium Romanum vollzieht, vordergründig als Menschenwort erscheint, ist sie in Wahrheit durch Menschen ergehendes Gotteswort 3 . Paulus und die Thessalonicher wissen um den Unterschied zwischen Gottes- und Menschenwort und der Möglichkeit einer Verwechslung beider. Gemeinde und Apostel verstehen die Verkündigungsbotschaft als Wort Gottes, denn in dieser Botschaft artikuliert sich weit mehr als die individuelle Meinung der Verkündiger. Der Erfolg des Evangeliums bestand nicht in menschlichen Überredungskünsten, sondern im kraftvollen Wirken des Geistes (1 Thess 1,5)4. Das Evangelium ist eine Kraft Gottes, die rettet, die daran glauben (Rom 1,16). Bei der Wendung εύαγγέλιον (του) θεοΰ fallen genitivus objectivus und genitivus subjectivus letztlich zusammen. Die Verkündigung proklamiert die Herrschaft Gottes und Jesu Christi, zugleich sind Gott und Jesus Christus Urheber des Evangeliums
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Es geht also darum, „den im Evangelium sich kundgebenden, für sich selbst zu den Menschen redenden, unter und an ihnen handelnden Gott auf dem durch ihn selbst gewiesenen Weg wahrzunehmen, zu verstehen, zur Sprache zu bringen" (BARTH, Anm. 1,11) und in diesem Prozeß die eigene Sprache zu finden. Vgl. T. HOLTZ, Der erste Brief an die Thessalonicher, EKK ΧΠΙ, Neukirchen-Zürich 1986, 98, „Das Predigtwort ergeht durch den Apostel, aber es ist Gotteswort. Scharf kommt zur Geltung, daß einerseits das Predigtwort des Apostels als solches den Anspruch erhebt, Gottes Wort zu sein, und daß andererseits Gottes Wort selbst eben in dem Predigtwort des Apostels den Hörern begegnet." Zur Argumentation in 1 Thess 1,3 ff. vgl. TH. SÖDINO, Die Trias Glaube, Hoffnung, Liebe bei Paulus, SBS 150, Stuttgart 1992, 67 ff.
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und seiner machtvollen Verbreitung. 5 Den Korinthern ruft Paulus zu: „Das Wort vom Kreuz ist Torheit denen, die verlorengehen, uns aber, die gerettet werden, ist es Kraft Gottes" (1 Kor 1,18). Das Bekenntnis zu Jesus Christus rettet, denn es gilt: „Wenn du mit deinem Mund bekennst, daß Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, daß ihn Gott von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet" (Rom 10,9). Paulus initiiert seine weltweite Mission, „damit ich auf vielerlei Weise einige rette" (1 Kor 9,22; vgl. 1 Kor 10,33). Er wurde nach dem Willen Gottes Apostel der Heiden, „in der Hoffnung, daß ich wohl mein Fleisch (Volk) zur Eifersucht reizen und einige von ihnen retten könnte" (Rom 11,14). Wie auf dem atl. Propheten liegt auf dem Apostel ein Zwang, „denn wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündigte" (1 Kor 9,16; vgl. Am 3,8; Jer 20,9). Gott selbst initiierte die weltweite Bewegung der Evangeliumsverkündigung, als deren Protagonist sich der Apostel sieht (vgl. Rom 10,14-17). Als eine rettende Kraft Gottes kann die Verkündigung des Evangeliums nicht als individuelle Meinungskundgabe verstanden werden. Vielmehr spricht und handelt in diesem rettenden Geschehen Gott selbst, durch den Geist 6 . Nach paulinischem Verständnis wirkt der auferstandene Jesus Christus als πνεύμα ζφοποιουν, als „lebendigmachender Geist" ( I K o r 15,45). Seit der Auferstehung gilt: ό δε κύριος το πνεύμα έστιν (2 Kor 3,17: „Der Herr aber ist der Geist"). Als lebenschaffende Kraft Gottes ist der auferstandene Kyrios der Geist, der nun die Glaubenden in das neue Sein έν Χριστώ überfuhrt. 7 Deshalb fordert Paulus die Thessalonicher auf: „Dämpft nicht den Geist" (1 Thess5,19). Den Korinthern empfiehlt er: „Trachtet nach der Liebe, strebt nach den Geistesgaben" (1 Kor 14,1). Die Christen in Galatien spricht Paulus als πνευματικοί an (Gal 6,1), und nach Rom 8,14 gilt: „Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder." Schon diese wenigen Beispiele verdeutlichen: Paulus versteht sein eigenes Handeln als ein In-Anspruch-Genommensein durch Gott selbst.8 Ausdrücklich 5
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Vgl. TH. SÖDING, Erweis des Geistes und der Kraft. Der theologische Anspruch der paulinischen Evangeliumsverkündigung und die Anfange der neutestamentlichen Kanons-Bildung, Cath (M) 47 (1993), 192 ff. Vgl. zur paulinischen Pneumatologie U. SCHNELLE, Neutestamentliche Anthropologie, BThSt 18, Neukirchen 1991, 5 3 f f ; F.W.HORN, Das Angeld des Geistes, FRLANT 154, Göttingen 1992. Zur paulinischen έν Χριστώ-Vorstellung vgl. U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart. Vorpaulinische und paulinische Tauftheologie, GTA24, Göttingen 2 1986, 106-122. 225-235. Die Unmittelbarkeit des Ergriffenseins ist der eigentliche Antrieb des paulinischen Denkens und Handelns; vgl. A. DEISSMANN, Paulus, Tübingen 2 1925, 4: „Christus be-
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betont der Apostel in 2 Kor 4,5: „Denn wir predigen nicht uns selbst, sondern Jesus Christus als den Herrn" . Nicht erst die Kirche oder die Theologie behaupten und begründen damit die Wirklichkeit Gottes, sondern: „Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, Jesus Christus" (1 Kor 3,11). In der unscheinbaren Gestalt und Rede des Apostels richtet Gott sein rettendes Evangelium an die Welt. Für die Erkenntnis dieser Wahrheit gilt allerdings: „Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, damit die überschwengliche Kraft von Gott sei und nicht von uns" (2 Kor 4,7). 9 Zu den irdenen Gefäßen gehört das Wort der Schrift. Dem Augenschein nach als bloßes Menschenwort wahrgenommen, mißverständlich, dem Zugriff des Interpreten hilflos ausgeliefert. In Wahrheit ist es Gottes Wort an uns und für uns. Sowohl die Verkündigung als auch die Annahme des Evangeliums verdanken sich nach paulinischer Überzeugung dem Geist (vgl. 1 Thess 1,6 f.; 1 Kor 8,3; 12,3; 2Kor 4,6.13; Gal 3,2; Rom 8,28ff; 15,13; Phil 1,29; 3,12). 10 Dessen real-geschichtliches Wirken konstituiert das neue Sein der Christen (vgl. 2 Kor 5,17; Gal 6,15). 11 Die Anwesenheit des Göttlichen in der Welt vollzieht sich nach Paulus im Modus des Geistes, der von Menschen gesprochenes und geschriebenes Wort zum Gotteswort werden läßt. Kein anderer als der Auferstandene und Gegenwärtige läßt durch und im Geist den
deutet ihm mehr als die Christologie, Gott mehr als die Lehre von Gott." Treffend auch SÖDING, Erweis des Geistes und der Kraft, 190: „Der gesamte apostolische Dienst, den Paulus ausübt, ist nach seiner eigenen Erfahrung und Deutung getragen und durchformt von der pneumatischen Herrschaft Jesu Christi." 9 Natürlich wußte Paulus zwischen dem Wort Gottes und seiner Predigt zu unterscheiden, denn er verzichtete bewußt auf eine rhetorisch geschulte und den menschlichen Geist schmeichelnde Verkündigung (vgl. 1 Thess 2,Iff.; 1 Kor 2,1-3; 2 Kor 3,5; 11,6; 13,3 f.). Es geht allein um das Wort Gottes, in dessen Dienst der Apostel steht; Christologie und Anthropologie erfordern hier klare Unterscheidungen. Damit relativiert Paulus aber nicht das machtvolle Verkündigungsgeschehen, er differenziert, um zu präzisieren und das Augenmerk allein auf das wirksame Wort Gottes zu lenken. 10 Der Glaube ist nach paulinischem Verständnis ein Geschenk des Geistes (vgl. 1 Kor 2,5; 12,3; 2Kor4,13; Rom 4,16; 10,17; Phil 1,29); gegen R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. O. MERK, Tübingen 91984, 331, der meint, „daJJ Pis die πίστις nicht als inspiriert bezeichnet, sie nicht auf das πνεύμα zurückfuhrt." Vgl. demgegenüber G. FRIEDRICH, Glaube und Verkündigung bei Paulus, in: Glaube im Neuen Testament (FS H. BINDER), hg. v. F . HAHN u. H . KLEIN, BThSt 7, Neukirchen 1982, 93-113; O. HOFIUS, Wort Gottes und Glaube bei Paulus, in: DERS., Paulusstudien, WUNT 51, Tübingen 1989, 168f.; SCHNELLE, Neutestamentliche Anthropologie, 59-66. 11 Vgl. hierzu U. MELL, Neue Schöpfung, BZNW 56, Berlin 1989.
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historischen Abstand in seiner trennenden Dimension schmelzen und gewährt Gleichzeitigkeit mit dem Ursprungsgeschehen. Gottes Wirklichkeit in der Welt ist Geistwirklichkeit. Die Verkündigung des Evangeliums hat in Gottes Heilshandeln durch Jesus Christus nicht nur ihren Ermöglichungsgnind, sondern in ihr spricht Gott selbst in der Kraft des Geistes durch den Apostel! 12 Wie keine andere ntl. Schrift benennt das Johannesevangelium präzis seine Entstehungs- und Verstehensbedingungen: Die Entfaltung des Christusgeschehens vollzieht sich im 4. Evangelium als geistgewirkte nachösterliche Anamnese. 13 So verbindet Johannes bereits mit der Tempelreinigung am Anfang seines Evangeliums eine mehrfach explizit nachösterliche Deutung des Wirkens Jesu. 14 Das Rätselwort vom Niederreißen und Aufbauen des Tempels (Joh 2,19) wird vom Evangelisten erklärt (V. 21) und mit der Bemerkung versehen: „Als er von den Toten auferweckt worden war, erinnerten sich seine Jünger, daß er dies gesagt hatte, und sie glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus sprach" (V. 22). Erst von Ostern her erschließen sich somit die Schrift und die Verkündigung Jesu, denn in der Hingabe seines eigenen Leibes vollzieht Jesus sein Heilswerk. Jesu Einzug in Jerusalem und seine Deutung unter Rückgriff auf Sach 9,9 verstehen die Jünger zunächst nicht, „als aber Jesus verherrlicht worden war, erinnerten sie sich, daß dies von ihm geschrieben stand und sie dies ihm getan hatten" (Joh 12,16). Jesu ungewöhnliches und für die Jünger gleichermaßen überraschendes und irritierendes Verhalten bei der Fußwaschung 15 wird Petrus erst von Kreuz und Auferstehung her verstehen können, denn die Fußwaschung ist als Vorabbildung des Geschickes Jesu das Portal der Leidensgeschichte. Deshalb sagt Jesus zu ihm: „Was ich tue, verstehst du jetzt noch nicht, später aber wirst du es erkennen" (Joh 13,7). Auch für das leere Grab sind Kreuz und Auferstehung die Verstehensbedingungen; Petrus und dem Lieblingsjünger bleibt das außergewöhnliche Geschehen rätselhaft, „denn sie verstanden die Schrift noch
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Vgl. SÖDING, Erweis des Geistes und der Kraft, 193. Vgl. hierzu F. MUSSNER, Die johanneische Sehweise und die Frage nach dem historischen Jesus, QD 28, Freiburg 1965, 38 ff. Vgl. M. HENGEL, Die Schriftauslegung des 4. Evangeliums auf dem Hintergrund der urchristlichen Exegese, JBTh 4 (1989), 249-288, 271 f. Vgl. zur Analyse von Joh 13,1-17 H. KOHLER, Kreuz und Menschwerdung im Johannesevangelium, AThANT 72, Zürich 1987, 192-229; J. C. THOMAS, Footwashing in John 13 and the Johannine Community, JSNT.S 61, Sheffield 1991; CHR. NIEMAND, Die Fußwaschungserzählung des Johannesevangeliums, StAns 114, Rom 1993.
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nicht, daß er von den Toten auferstehen müsse" (Joh20,9). Erst in der nachösterlichen Anamnese eröffnet sich Jesu vorösterliche Geschichte. Die Möglichkeit des nachösterlichen „Erinnerns" gewährt der Paraklet, 16 von dem es in Joh 14,26 heißt: „Der Paraklet aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, jener wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch sagte." Der Evangelist notiert in Joh 7,39 ausdrücklich, der Geist könne erst nach Ostern empfangen werden, und in Joh 20,21 f. ist es der Auferstandene, der die Jünger sendet und ihnen den Geist verleiht. 17 Damit benennt Johannes die Verstehensbedingungen des Christusgeschehens und seines eigenen Werkes. Im Wirken des Parakleten wird der Abstand zwischen der Vergangenheit des Auftretens Jesu und der Gegenwart der johanneischen Schule aufgehoben. Die Gegenwart des Parakleten ermöglicht ein vertieftes Erfassen der Menschwerdung, des Erdenwirkens, des Leidens und der Erhöhung und Verherrlichung Jesu Christi. Zugleich gewährt der Paraklet jenes Erinnern an die Werke und Worte Jesu, die im Johannesevangelium entfaltet werden. Wenn der Paraklet nicht nur die Glaubenden erinnert und lehrt, sondern bei der Gemeinde ist bis in Ewigkeit (Joh 14,16), von Jesus zeugt und ihn in der Gemeinde verherrlicht (Joh 15,26; 16,14), den Kosmos überfuhrt (Joh 16,18) und den Jüngern das Zukünftige verkündet (Joh 16,13), dann leitet sich das johanneische Denken ebenso wie das Johannesevangelium aus dem Bewußtsein der johanneischen Christen ab, unter der Führung des Parakleten den Glauben an den fleischgewordenen Gottessohn Jesus Christus in unverwechselbarer und sachgemäßer Art und Weise zum Ausdruck zu bringen. 18 Durch den Parakleten spricht aber letztlich Jesus selbst. Der Vater und der Sohn senden den Parakleten, der Paraklet redet nicht aus sich selbst (Joh 16,13), sondern nimmt aus der Fülle des Vaters und des Sohnes und verkündet es der Gemeinde. Erwuchs das Johannesevangelium aus der nachösterlichen geistgewirkten Anamnese, so ist es letztlich das Werk Jesu selbst. Er ist das Subjekt des Evangeliums, er legt sich im Evangelium gewissermaßen selbst aus. Auch bei Johannes ist somit deutlich: Das nachösterliche, in einer bestimmten historischen Situation entstandene Wort kann nicht getrennt werden von dem vor- und nachösterlich wirkenden Jesus Christus. Im Wort
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Vgl. zur johanneischen Pneumatologie G. M. BÜRGE, The Anointed Community. The Holy Spirit in the Johannine Tradition, Grand Rapids 1987. Vgl. dazu M. Ruiz, Der Missionsgedanke des Johannesevangeliums, fzb 55, Würzburg 1987, 267 ff. V g l . F. MUSSNER, D i e j o h a n n e i s c h e S e h w e i s e , 4 5 - 5 1 .
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tritt der erhöhte Kyrios selbst auf den Plan. Das von Menschen niedergeschriebene Wort der Schrift ist Gotteswort. Damit wird der Charakter und Geist der Schrift, nicht aber der Gehalt jedes einzelnen Wortes beschrieben. Die paulinische und johanneische Theologie sind gleichermaßen durch die grundlegende Erfahrung und Erkenntnis geprägt: Allein durch das Wirken des Geistes werden Menschen zu der Einsicht geführt, daß die Schrift Wort Gottes ist. Paulus versichert der Gemeinde in Korinth: „Mein Wort und meine Verkündigung geschah nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern im Erweis des Geistes und der Kraft" (1 Kor 2,4) 19 . Im Johannesevangelium ist es der Paraklet, der den Wahrheitsanspruch der Verkündigung legitimiert und Menschen zur rechten Erkenntnis Jesu Christi fuhrt. Die Selbstevidenz der Schrift durch den Geist ermöglicht es somit, die Schrift von ihrem Selbstverständnis und ihrem Selbstanspruch her als Wort Gottes zu lesen und zu verstehen. Die Schrift ist nicht das Produkt einer Wirkungsgeschichte, die wiederum eine Wirkungsgeschichte auslöst, sondern in ihr manifestiert sich eine Handlungsgeschichte 20 . Dem Handeln Gottes im Heiligen Geist verdankt sich die Schrift, und Gottes Handeln durch den Geist verbindet das in der Schrift bezeugte vergangenheitliche Heilsgeschehen mit der Gegenwart.
3. Autorität und Kritik: Der notwendige Konflikt
Der Selbstanspruch der Schrift, Gottes Wort zu sein, reizt zum Widerspruch. Immer wieder wird der Versuch unternommen, diesen Anspruch zu relativieren oder außer Kraft zu setzen. Das historische Bewußtsein verweist auf die Entstehungsbedingungen der ntl. Schriften, charakterisiert sie als reines Men-
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Treffend SÖDING, Erweis des Geistes und der Kraft, 207: „Schon in den Briefen des Apostels lassen sich die neutestamentlichen Elemente einer Theologie der Heiligen Schrift erkennen, von der her die Normativität der Bibel zu verstehen ist." Auf die Kanonsbildung übertragen heißt dies: „So unbestreitbar es ist, daß der Kanon formell durch kirchliche Entscheidungsakte zustandegekommen ist, so ist doch andererseits festzuhalten, daß die Kirche damit nicht der Schrift oder den Schriften kanonische Würde verliehen hat, sondern daß sie mit ihrer Entscheidung deren kanonische Würde anerkennen und zur Geltung bringen wollte" (W. HÄRLE, Sola scriptura im Begründungszusammenhang chrisüicher Ethik, in: Sola Scriptura, hg. v. H.H. SCHMID u. J. MEHLHAUSEN, Gütersloh 1 9 9 1 , S. 1 1 6 - 1 2 9 , 1 1 9 f.).
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schenwort und relativiert dadurch den Wahrheitsanspruch der Schrift 21 . Das Gebot der Toleranz verweist auf den Absolutheitsanspruch ntl. Texte, entlarvt diesen Anspruch als Intoleranz und meint, so die Wahrheitsfrage im Sinne von Gleichberechtigung und Selbstbestimmung lösen zu können. In beiden Fällen verläuft ein vergleichbarer Prozeß, den DIETRICH BONHOEFFER so charakterisiert: „daß man die biblische Botschaft durch das Sieb der eigenen Erkenntnis laufen läßt - was nicht hindurch will, wird verachtet und weggeschüttet - ; daß man die Botschaft so weit zurechtschneidet und stutzt, bis sie in den festgelegten Rahmen hineinpaßt; bis der Adler nicht mehr aufsteigen und in sein wahres Element entfliehen kann, sondern mit gestutzten Flügeln unter den übrigen gezähmten Haustieren als besonderes Schaustück gezeigt werden kann... Diese Vergegenwärtigung der christlichen Botschaft fuhrt direkt ins Heidentum." 22 Die Autorität der Schrift wird einer Kritik unterzogen, die ihre Autorität wiederum allein im Menschen hat. 23 Diese Kritik der Vernunft und des moralischen Appells beansprucht für sich, den Relativitäten geschichtlichen Seins entnommen zu sein, die sie der Schrift gerade unterstellt. 24 Sie schwingt sich zur Herrin der Schrift auf, bestimmt, was in modifizierter Form noch Geltung beanspruchen darf und was man hinter sich läßt. 25 Die der Schrift eigene 21
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Vgl. nur E. TROELTSCH, Die Absolutheit des Christentums, Hamburg 1 9 6 9 ( = 1 9 0 2 ) , 65: „Will man den Ausdruck gebrauchen, ,das Christentum ist eine relative Erscheinung', so ist nichts dagegen einzuwenden. Denn historisch und relativ ist identisch." Bekanntlich begibt sich TROELTSCH gerade von diesem Standort aus auf die Suche nach dem Absoluten in der Geschichte (zum ,Allgemeingültigen' und zum ,Entwicklungsgedanken' vgl. a. a. O., 68 ff.), ohne es jedoch überzeugend benennen zu können. D. BONHOEFFER, Vergegenwärtigung neutestamentlicher Texte (Vortrag aus dem Jahr 1 9 3 5 ) , in: DERS., Gesammelte Schriften III, hg. v. E . BETHGE, München 1 9 6 0 , 303-324, 304 f. Vgl. H. WEDER, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 21989, 103: „Hatte die Vernunft in früheren Zeiten einen auf sich selbst bezogenen, in sich selbst ruhenden Gott denken zu müssen gemeint, so ist sie jetzt selbst an seine Stelle getreten." Vgl. hierzu die grundlegenden Überlegungen von O. BAYER, Autorität und Kritik. Zu Hermeneutik und Wissenschaftstheorie, Tübingen 1991. Ein massiver Angriff auf die Autorität der Schrift wird von Teilen der feministischen Theologie vorgetragen. Biblische Texte stehen unter dem Verdacht, aus männlichen Interessen heraus formuliert zu sein, um Unterdrückung zu legitimieren. So entwickelt z.B. E. SCHÜSSLER - FIORENZA eine Hermeneutik des Verdachts. „Eine Hermeneutik des Verdachtes und ihre ideologiekritische Funktion ist Anfang und Grund einer kritisch-befreienden Bibelauslegung. Ihr Verdacht bezieht sich jedoch nicht auf die gegenwärtigen Interpretationen des Textes und seine Interpretations- und Wirkungsge-
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Wirklichkeit löst sich in menschliche Wirklichkeitserfahrungen auf. Ein Konflikt ist hier unausweichlich. Die Autorität der Schrift, Gottes Wort zu sein, ist die Autorität Gottes selbst. 26 Die Kritik dieser Schriftautorität, in welcher Form auch immer sie auftritt, ruht letztlich in der Autorität des Menschen. Eine Entscheidung ist unumgänglich. Entweder gewähre ich den biblischen Texten den Erkenntnisvorsprung, den sie für sich selbst beanspruchen, nehme ,die Sünde im Verstehen' 2 7 wahr, oder ich beuge mich dem Anspruch der Vernunft und des kontextuellen Zeitgeistes, nur das gelten zu lassen und einzusehen, was sie selbst hervorbringen und zulassen. 2 8 Für den Glauben ist diese Entscheidung schon immer gefallen, er geht von der in Gott selbst begründeten Autonomie der Texte aus, die über der Autorität des Lesers steht und den Leser kritisch auslegt. Die Vernunft und der jeweilige Kontext dürfen sich in diesen Auslegungsprozeß mit hineinnehmen lassen, ihnen kommt aber nicht die Autorität zu, über den Wahrheitsanspruch der auszulegenden Texte zu entscheiden. Diese klare Alternative kann weder geleugnet, noch durch Vermittlungsmodelle erweicht werden, die lediglich interpretierenden, nicht aber normierenden Charakter haben dürfen. 29 Sowohl das Verstehen als auch das Handeln schichte, sondern sowohl auf den Text selbst wie auf seine Traditions-, Redaktionsund Kanonisationsgeschichte" (DIES., Biblische Grundlegung, in: Feministische Theologie. Perspektiven zur Orientierung, hg. v. M. KASSEL, Stuttgart 1988, 25). Die meisten biblischen Texte können natürlich diesem Verdacht nicht standhalten. So untersucht die Verfasserin die Erzählung von Maria und Martha (Lk 10,38-42) und kommt zu dem Ergebnis, „daß ein solcher Text nicht die Autorität Gottes für sich beanspruchen und als das Wort Gottes verkündigt werden kann" (a. a. O., 40). Der alleinige Maßstab für das Wort Gottes ist somit die Entscheidung der Exegetin, ob ein Text unter den Verdacht fallt, aus männlichen Interessen heraus geschrieben zu sein, oder ob er eine Frauen ansprechende und befreiende Thematik hat. Nicht Gott verbürgt die Wahrheit, die Wahrheit ist auch nicht vorgegeben, sondern Frauen entscheiden darüber, was als Wahrheit zu gelten hat oder nicht. Stehen schon Menschen einem Verdacht hilflos gegenüber, so ist ein Text dieser Form geistiger Gewalt und Willkür wehrlos ausgeliefert. 26
Vgl. O. BAYER ( A n m . 24), 51.
27 So die Formulierung von H. WEDER, Neutestamentliche Hermeneutik, 83. 28 Den Absolutheitsanspruch des neuzeitlichen Vernunftbegriffes formulierte mit Blick auf die Französische Revolution prägnant F. ENGELS, Anti-Dühring, MEGA Bd. 20, Berlin 1968 (=1894), 16: „Religion, Naturanschauung, Gesellschaft, Staatsordnung, alles wurde der schonungslosesten Kritik unterworfen; alles sollte seine Existenz vor dem Richterstuhl der Vernunft rechtfertigen oder auf die Existenz verzichten." 29 Vgl. H. WEDER, Mein hermeneutisches Anliegen im Gegenüber zu Klaus Bergers Hermeneutik des Neuen Testaments, EvTh 52 (1992), 319-331, 328: „Die Wahrheits-
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müssen nach neutestamentlichem Verständnis erst durch den Heiligen Geist zu sich selbst befreit werden. Der Glaube kann nicht mit Hilfe von Erkenntnisvorgängen begründet werden, die außerhalb seiner selbst liegen! So fuhrt die Relativierung der Vernunft zu einer Präzisierung und Intensivierung ihrer Möglichkeiten.
4. Der historische Abstand und der Heilige Geist: Würde und Grenze des Historischen
Die sachgemäße Bestimmung des Ortes der Vernunft und des Kontextes im theologischen Erkenntnisvorgang zieht nun aber notwendigerweise die Frage nach der Bedeutung des historischen Erkennens für die theologische Urteilsbildung nach sich. Nach dem Zeugnis des Paulus und Johannes ist es Gott selbst, der durch das Wirken des Heiligen Geistes den historischen Abstand überwindet und die lebendige Gegenwart des Vergangenen ermöglicht. Wie verhält sich dieses ntl. Verstehensmodell zur Aufnahme des historisch-kritischen Denkens in den Auslegungsprozeß ntl. Texte? Die Aufnahme des historisch-kritischen Denkens in den Interpretationsvorgang ntl. Texte führte zunächst zu einer Destruktion herkömmlicher Anschauungen. 30 So erwiesen sich die altkirchlichen Nachrichten über die Verfasser der Evangelien als historisch unzutreffend, kein Augenzeuge des Lebens Jesu verfaßte ein Evangelium. Es wurde deutlich, wie stark die Gemeinde bei der Bildung der Jesusüberlieferung mitwirkte und in welchem Maß die jeweiligen Theologien der Evangelisten ihr Jesusbild prägten. Nur sieben der dreizehn Paulus zugeschriebenen Briefe wurden vom Apostel selbst verfaßt. 31 Alle ntl. Autoren sind in ihre jeweilige Zeitgeschichte eingebunden und daher kultur- und sozialgeschichtlich und psychologisch interpretierbar. Mit diesen grundlegenden historischen Einsichten verband sich eine Sachkritik, die zen-
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frage zu verwandeln in das Modell des durch Vernunft regulierten Miteinander bedeutet in meinen Augen eine fatale Formalisierung der Wahrheitsproblematik." Diesen Prozeß beschreibt meisterhaft fìir die wirklich grundlegenden Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert A. SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung I.II, Gütersloh 3 1977 (=1913); vgl. ferner O. MERK, Art. Bibelwissenschaft II, TRE 6, Berlin 1980, 375^109.
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Vgl. hierzu PH. VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin 1975.
Der historische Abstand und der Heilige Geist
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trale Glaubensaussagen wie ζ. B. den Hoheitsanspruch Jesu 32 , die Auferstehung Jesu von den Toten als eines historischen Faktums 33 hinterfragte. Diese und andere Glaubensaussagen konnten vom historischen Standpunkt aus einer Kritik unterzogen und relativiert werden, denn die Analogielosigkeit des Geschehens scheint gegen seine Historizität und damit auch gegen seine Wahrheit zu sprechen. In diesem Prozeß der Hinterfragung und Relativierung befinden wir uns nach wie vor. Keineswegs handelt es sich hier um einen Abfallsprozeß 34 , sondern in ihm äußert sich ein unabdingbares theologisches Anliegen: die Identität des christlichen Glaubens ist ursächlich an die Verbindung mit seinem Ursprungsgeschehen gewiesen. Der christliche Glaube orientiert sich nicht an einem Mythos, sondern ist an eine konkrete geschichtliche Person gebunden. Historisches Fragen ist insofern unabdingbar fur die Identität des christlichen Glaubens, und es hat zugleich für die theologische Urteilsbildung unmittelbare Relevanz. Es gibt für das historische Fragen weder Grenzen noch Tabus! Das historische Erkennen beschreibt nicht nur die Außenseite des Verstehens, sondern es gehört zum Verstehen selbst. Der Geist vergegenwärtigt das historische Ursprungsgeschehen, er hat sich aber zugleich an dieses Ursprungsgeschehen gebunden. Was aber genau vermag dieses historische Erkennen des Ursprungsgeschehens zu leisten?
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Vgl. z. B. R. BULTMANN, Jesus, Gütersloh 4 1970 (=1926), 11: „Ich persönlich bin der Meinung, daß Jesus sich nicht fur den Messias gehalten hat, bilde mir aber nicht ein, um deswillen ein deutlicheres Bild von seiner Persönlichkeit zu haben. Ich habe aber in der folgenden Darstellung diese Frage überhaupt nicht berücksichtigt, und zwar im letzten Grunde nicht deshalb, weil sich darüber nichts Sicheres sagen läßt, sondern weil ich die Frage für nebensächlich halte." Historisch läßt sich die Frage nach einem wie auch immer gearteten Hoheitsbewußtsein Jesu in der Tat nicht eindeutig beantworten. Warum aber ist sie nebensächlich? Für die ntl. Zeugen war es die Hauptfrage! Kann ich an ihrem Zeugnis vorbei bzw. hindurch Jesus besser verstehen als sie? R. BULTMANN interpretiert lKor 15,1-11 zutreffend, wenn er betont: „ich kann den Text nur verstehen als den Versuch, die Auferstehung Christi als ein objektives historisches Faktum glaubhaft zu machen" (DERS., Karl Barth, ,Die Auferstehung der Toten', in: DERS., Glauben und Verstehen I, Tübingen 8 1980 [= 1926], 54). Wenn BULTMANN dann fortfahrt, „und ich sehe nur, daß Paulus durch seine Apologetik in Widerspruch mit sich selbst gerät" (a. a. O., 54 f.), dann übersieht er, daß Paulus nicht im Widerspruch zu sich selbst, sondern lediglich im Widerspruch zu R. BULTMANNS Paulusinterpretation steht. Der einzige Auferstehungszeuge, von dem wir schriftliche Nachrichten besitzen, verstand die Auferstehung Jesu Christi von den Toten offenkundig als ein historisches Ereignis, das sein eigenes Leben völlig veränderte. Andere Akzente setzt in dieser Frage R. SLENCZKA, Kirchliche Entscheidung in theol o g i s c h e r Verantwortung, G ö t t i n g e n 1 9 9 1 , 9 4 - 1 1 7 . 2 6 2 - 2 7 1 .
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Historisches Erkennen vollzieht sich immer in einem Zeitabstand. Dieser Zeitabstand ist durch nichts zu überbrücken. Weder durch Vernunftwahrheiten oder eine günstige Quellenbasis, noch durch intuitives Erfassen geschichtlicher Vorgänge 35 . Weder durch die Behauptung wirkungsgeschichtlicher Kontinuität, wonach die Wahrheit eines Textes seine Geschichte ist, noch durch die These, die äußere Geschichte könne nur durch die Verbindung mit der tiefenpsychologisch zu erhebenden inneren Geschichte lebendig werden. 36 Auch der Versuch, der Geschlechtlichkeit des Menschen oder seiner Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht hermeneutische Qualität zuzuschreiben, vermag keine Gleichzeitigkeit herzustellen. Der Zeitabstand bedeutet Abständigkeit, er verwehrt historisches Erkennen im Sinne einer umfassenden Feststellung dessen, was geschehen ist. Vielmehr kann sich historische Erkenntnis aufgrund des Zeitabstandes immer nur als Annäherungsakt an die vergangenen Geschehnisse verstehen. Es ist unmöglich, ein vergangenes Geschehen so zu vergegenwärtigen, daß es sich gewissermaßen unter der Hand des Historikers wiederholt. Neben dem Zeitabstand ist es die Interpretationsbedürftigkeit historischen Geschehens, das die Relativität historischen Erkennens ausmacht. Erst in der Interpretation des erkennenden Subjektes wird Geschichte konstruiert. M. K A H L E R beschreibt diesen Vorgang gleichermaßen ironisch und bissig so: „Es muß eine gestaltende Macht über die Trümmer der Überlieferung kommen. Diese Macht kann allein die Einbildungskraft des Theologen sein, die an der Analogie des eignen und des sonstigen Menschenlebens gebildete und ge-
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Vgl. dazu den (bisher unveröffentlichten) Brief des jungen W. BOUSSET V. 8. Dezember 1888, wo er das spätere Programm der religionsgeschichtlichen Schule formuliert: „Unsere Gesamtanschauung muß immer unsre Einzelforschung bis ins Kleinste hinein beeinflussen, eine historische Thatsache läßt sich nicht einfach Buchstabe für Buchstabe abschreiben, sondern es tritt immer zwischen sie und ihre Darstellung ein persönlich intuitives Erfassen des Darstellers, das nun mehr oder minder richtig sein kann, und dessen eventuelle Richtigkeit sich daran erprobt, daß nun ein möglichst großer Umfang gegebener Einzelheiten von jener Auffassung aus Einheit und Ordnung gewinnt" (in: H. RENZ, Ernst Troeltsch und Wilhelm Bousset als Erlanger Studenten, Erlangen 1993, 79). Vgl. zur Kritik an E. DREWERMANNS Auslegung ntl. Texte jetzt auch K. BERGER, Historische Psychologie des Neuen Testamente, SBS 146/147, Stuttgart 2 1991. Das für eine tiefenpsychologische Auslegung ntl. Texte grundlegende Modell „bewußt/unbewußt" läßt sich kaum auf verstorbene Menschen der Antike anwenden. Es ist vielmehr substantiell auf den Dialog zwischen lebenden Personen angewiesen, und es muß biographisch verifizierbar sein, um nachprüfbar zu bleiben.
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nährte Einbildungskraft."37 Nicht das wirklich vollzogene Geschehen ist uns zugänglich, sondern nur die je nach Standort des Interpreten verschiedenen Deutungen vergangener Ereignisse. Schließlich sind auch die Verstehensbedingungen selbst, speziell die Vernunft und der Kontext, einem Wandlungsprozeß unterworfen, insofern die jeweilige geistesgeschichtliche Epoche und die sich notwendigerweise ständig wandelnden erkenntnisleitenden Absichten das historische Erkennen bestimmen.38 Fazit: Historisches Erkennen vollzieht sich immer und notwendigerweise als Annäherungsakt, der das zu Erkennende nie als das fassen kann, was es war. Daraus folgt, daß historisches Erkennen für die Wahrheit des christlichen Glaubens unabdingbar ist, zugleich aber in der letzten Konsequenz irrelevant. Unabdingbar, weil der christliche Glaube sich an eine ganz bestimmte historische Person und ein historisches Geschehen gewiesen weiß. Irrelevant, weil der Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens weder historisch begründet noch historisch bestritten werden kann. Vielmehr erweist Gott die Wahrheit seines Handelns in Jesus Christus selbst, indem er Menschen durch den Geist zum Glauben und damit zur Erkenntnis der Wahrheit führt. 39 Die historische Erkenntnis, daß Gottes ewiges Wort uns nur als Menschenwort überliefert ist, besagt lediglich: „Jetzt erkenne ich nur stückweise, dann aber werde ich ganz erkennen, wie ich auch ganz erkannt wurde" (1 Kor 13,12b). Überall dort, wo das historische Erkennen nicht nur über historische Einzelfragen, sondern über die Wahrheit des christlichen Glaubens entscheiden will, ignoriert es seine eigene Geschichtlichkeit und Relativität40. Es überschreitet die ihm gesetzten Grenzen und muß einer Metakritik unterzogen werden. Das historische Erkennen bedarf somit um seiner selbst willen einer präzisen Bestimmung seiner
37 M. KÄHLER, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, hg. v. E. WOLF, TB 2, München 1953 (=1892), 27. 38 Diesen Prozeß beschreiben K. BARTH, Die Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert I.II, Hamburg 1975 (=1946); E.HIRSCH, Geschichte der neuern evangelischen Theologie I-V, Gütersloh 51975 (=1949); Η. THIELICKE, Glauben und Denken in der Neuzeit, Tübingen 1983. 39 Vgl. KAHLER, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, 68: „So machen wir uns zugleich hintendrein klar, daß wir nicht um irgend einer Autorität willen an ihn glauben, sondern daß er selbst uns den Glauben abgewinnt. Denn das liegt bereits in dem Gesagten: er selbst ist der Urheber dieses Bildes." 40 Zugänglich ist dem historischen Erkennen allein, was es als historische .Wahrheit' vermutet, von der gilt: „Historische Wahrheit konstituiert sich ... im Prozeß einer Dauerrevision von Forschungsresultaten im akademischen Diskurs der Gelehrten" (F. JAEGER - J. RÜSEN, Geschichte des Historismus, München 1992,70).
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Leistungsfähigkeit, will es nicht unreflektiert den Dogmen des Historismus erliegen, wie sie ζ. B. E. TROELTSCH mit den Postulaten der Kritik, der Analogie und der Korrelation formulierte. 41 Der Historismus als fundamentale und ausschließliche Historisierung der Vorstellungen von Mensch und Welt 4 2 will nach dem programmatischen Satz L. V. RANKES „blos zeigen, wie es eigentlich gewesen" 4 3 ist. Das historische Erkennen teilt diese Intention, weiß aber um die erkenntnistheoretischen und theologischen Grenzen dieses Versuches 4 4 .
5. Gottes Handeln und des Menschen Erkennen: Rechtfertigungslehre und Hermeneutik
Die Wahrnehmung des historischen Abstandes ist für den Glauben fundamental, insofern er uns immer wieder die historische Gestalt, aber auch die Abständigkeit und Ferne des Ursprungsgeschehens vor Augen hält. Historisches Erkennen als nie endender und nie ans Ziel gelangender Annäherungsakt vermag diesen Abstand nicht zu überwinden, denn es ist selbst der Abstand! Vielmehr läßt Gott bzw. Jesus Christus durch den Heiligen Geist den histori-
41 Vgl. E. TROELTSCH, Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: DERS., Zur religiösen Lage. Religionsphilosophie und Ethik, Ges. Schriften II, Tübingen 21922, 729-753. 42 Vgl. F. JAEGER - J. ROSEN, Geschichte des Historismus, 20. 43 L. v. RANKE, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494-1514, Leipzig 21874, in: L. v. RANKE'S Sämmtliche Werke, Zweite Gesammtausgabe Bd. 33/34, Leipzig 1877, VII: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen; so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen." 44 Vgl. auch TH. SÖDING, Geschichtlicher Text und Heilige Schrift - Fragen zur theologischen Legitimität historisch-kritischer Exegese, in: Neue Formen der Schiiftauslegung, hg. v. TH. STERNBERG, QD 140, Freiburg 1992, 75-130, 116: „Die Exegese kann auch nur dann theologisch zur Sache und zur Person reden, wenn sie die Texte, die sie untersucht, nicht allein als Gewebe komplizierter Strukturen, als Dokumente einer historischen Konstellation oder als Zeugen literarischer Entstehungsprozesse, sondern als Niederschläge von Gottes- und Glaubenserfahrungen und von daher als Träger einer geschichtlichen Bedeutung betrachtet, die sich coram deo in den kommunikativen Beziehungen zwischen dem Autor und den Adressaten entfaltet."
Der historische Abstand und der Heilige Geist
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sehen Abstand im Glauben zur Gleichzeitigkeit werden. 4 5 Für den Prozeß des Verstehens heißt das zugleich: Das Wort der Schrift ist auf die Selbstdeutung durch den Geist angewiesen. Die Pneumatologie ist der Schlüssel zur Hermeneutik, weil sie die Christologie vollzieht! Der Geist fuhrt durch die historische Gestalt der Texte hindurch zu dein, woraufhin die Texte geschrieben wurden: zum Glauben und damit zum Erkennen und zum Verstehen. Dabei schließt der Geist die Vernunft und den Kontext nicht aus, sondern nimmt sie wahrhaft produktiv hinein in den Prozeß des Erkennens der Wahrheit. Seine Wahrheit und Verbindlichkeit gewinnt der Text aber nicht erst im Tun des Menschen. Das Geltenlassen des von den ntl. Texten selbst behaupteten Wahrheitsanspruches bedeutet somit nichts anderes als die Übertragung der Rechtfertigungslehre auf das Gebiet der Hermeneutik. In der paulinischen Rechtfertigungslehre drückt sich die grundlegende Erkenntnis der Vorgängigkeit des Heilshandelns Gottes als Ermöglichung eines Lebens in Gerechtigkeit aus. 4 6 Nach A R I S T O T E L E S wird ein Mensch gerecht, wenn er gerecht handelt 47 , nach Paulus hingegen handelt der Gerechtfertigte gerecht. Der im Glauben gerechtfertigte Mensch lebt nun nicht mehr aus sich selbst heraus, er verdankt sein Leben dem Heilshandeln Gottes in Jesus Christus. Ein Vorgang, der sowohl für das Gottes- und Weltverhältnis als auch für das Selbstverständnis und die Selbsterkenntnis des Menschen von Bedeutung ist. Allein
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S. KIERKEGAARDS Postulat der Gleichzeitigkeit als der einzig angemessenen Zeitstufe im Verhältnis zum Unbedingten (vgl. DERS., Einübung ins Christentum, Gütersloh 1980 [= 1850], 69-74) erfüllt sich nicht jenseits der Historie, sondern nur in der Kraft des Geistes durch sie hindurch. 46 Vgl. hier W. HÄRLE - E . HERMS, Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens, Göttingen 1980, 30: „Die Einsicht, daß ausschließlich Gott Macht hat, Wirklichkeit zu setzen, schließt als ihre Konsequenz die Einsicht ein, daß auch die von Paulus erfahrene Revolution des Menschenbildes und die Radikalisierung der Gotteserkenntnis selber Tat Gottes sind. Gott selber ist der, der .beruft'; wie in den alten Bund so auch in den neuen; er ist es, der die Decke auf dem Herzen läßt oder vom Herzen wegnimmt (2 Κ 3,14 ff.) und den Menschen dem Menschen nicht als KoSchöpfer, sondern ausschließlich als Geschöpf zeigt. Das gilt fur Paulus persönlich: Die Revolutionierung seines Selbstverständnisses erfolgte durch ein Aufdeckungshandeln, das von Gott selbst ausgeht (G 1,12). Dasselbe gilt aber ebenso für alle Christen (1K 1,30): Das Verständnis des Evangeliums, der Botschaft von dem Auferweckungshandeln Gottes am Gekreuzigten und die darin erschlossene Gotteserkenntnis, sind eine Krafttat Gottes selber (R 1,16), ein Handeln Gottes durch seinen Geist, indem er diesen Geist in Menschen wirksam werden läßt, befähigt er sie zur Erkenntnis der Tiefen seiner selbst (1K 2,10)." 47 Vgl. Aristot, EthNic 1105b: ...δτι έκ τοΰ τα δίκαια πράττειν ó δίκαιος γίνεται... .
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Gott veränderte durch sein Heilshandeln in Jesus Christus die Situation des Menschen, der nun im Glauben Zugang zu Gott findet. Damit steht der Mensch vor Gott als ein unverdient Beschenkter, er ist nicht mehr gezwungen, in der Welt auf Gott hin sein Heil zu realisieren. Vielmehr kann er als ein im Glauben Gerechtfertigter und von Gott Herkommender den Willen Gottes in der Welt tun. Rechtfertigung benennt bei Paulus immer ein .Zuvor' des Handelns Gottes. Gott handelte bereits in Jesus Christus, bevor der Mensch zu handeln beginnt. Diese bereits geschehene Tat Gottes wird von Paulus streng getrennt und unterschieden vom stets nachfolgenden Tun des Menschen. Allein diese vorausgehende Tat Gottes schafft fur den Menschen Heil und Sinn. Der Mensch wird somit von der unmöglichen Aufgabe entlastet, sich Sinn und Heil selbst schaffen zu müssen. Das Leben des Menschen erhält eine neue Bestimmung, er wird frei für die Aufgaben, die er leisten kann. Und: Vor Gott ist der Mensch nicht die Summe seiner Taten, ist die Person unterscheidbar von ihren Werken. Nicht das Tun, das Denken oder das Erkennen definiert das Menschsein, sondern allein das Verhältnis zu Gott. Der Mensch bestimmt sich somit aus seiner Beziehung zu Gott, nicht aber denkend und handelnd aus sich selbst. Gott allein schafft dem Menschen Leben und verleiht Sinn, der Mensch ist von der unmöglichen Aufgabe entlastet, sich selbst im Prozeß der aktiven Weltgestaltung und Weltbemächtigung zu verwirklichen. Im Wahrheitsanspruch der ntl. Texte artikuliert sich wie in der Rechtfertigungslehre ein Zuvor des Handelns Gottes. Nicht das erkennende Subjekt verleiht dem Text seine Wahrheit und Verbindlichkeit. 48 Die Wahrheit muß und kann nicht vom Menschen gefunden, konstruiert oder postuliert werden. Sie läßt sich nicht in einem totalitären Akt oder demokratischen Prozeß bestimmen. Vielmehr ist sie dem Menschen immer schon vorgegeben und kann von ihm nur ausgelegt werden. 49 Dieser Auslegungsprozeß der in Jesus Christus erschienenen Wahrheit Gottes vollzieht sich als Auslegung der Wirklichkeit im Licht der die Wahrheit bezeugenden biblischen Texte. Diese Texte sind Für das historische Erkennen gilt ohnehin, was F. J A E G E R - J . RÜSEN, Geschichte des Historismus, 39, im Anschluß an W. v. HUMBOLDT SO formulieren: „Die transzendentale Bedingung des hermeneutischen Verstehens ist eine grundsätzlich existierende Identität zwischen dem verstehenden Erkenntnissubjekt und dem zu verstehenden Geschehenszusammenhang als dem immer schon objektiv gegebenen Gegenstand historischer Erkenntnisbemühungen." 49 Vgl. H. WEDER, Mein hermeneutisches Anliegen, 321: „Nun ist das Neue Testament jedoch nicht Gesetz, sondern Evangelium, keine Lehre über Gottes Wahrheit, die erst in den Köpfen der Menschen oder gar in ihrer Praxis Wirklichkeit gewinnt, sondern der Ort, wo jene Wahrheit ihre eigene Wirklichkeit hat." 48
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weiterhin auf ihre historischen Implikationen ansprechbar und kritisierbar, sie lassen sich aber nicht auf das Feld der vergangenen Geschichte begrenzen. 50 Die Bibel entstand wie andere Bücher, sie ist aber nicht wie andere Bücher. Wer nur die Entstehungsbedingungen der Texte im Blick hat, gelangt nicht zu einer wirklichen Wahrnehmung. Wer die biblischen Aussagen auf das ihm zumutbare verkürzt, verliert sie, denn letztlich hört er dann nur noch sich selbst und seinesgleichen. Wer die Produktionsbedingungen der Texte mit ihrer Wahrheit gleichsetzt und damit verwechselt, verbleibt im Vorhof des Verstehens. Die Einblicke in das Funktionieren von Sprache, in die Regeln von Kommunikation und Rezeption, gewähren zweifellos eine Annäherung, nicht aber das umfassende Verstehen des Gesagten. Das vergangene und gegenwärtige Sprechen und Handeln Gottes in und durch die biblischen Texte kann so noch nicht vernommen werden. Vielmehr heißt ein Verstehen der Texte des Neuen Testaments in der Gegenwart, „sie als Zeugnis von Christus als dem Gekreuzigten, Auferstandenen und in die Nachfolge rufenden Herrn auslegen in der Gewißheit, daß Christus das Subjekt der Vergegenwärtigung ist." 51 So wie Gott zu allen Zeiten durch den Geist im Wort an Menschen gehandelt und sie zur Erkenntnis der Wahrheit gefuhrt hat, so wirkt er auch heute. Allein im Handeln Gottes durch den Geist im Wort liegt die Bedeutung der Schrift für die Kirche.
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Treffend WEDER, Neutestamentliche Hermeneutik, 29: , 3 s ist eines, die Texte in ihrem Zusammenhang mit dem Weltlichen zu sehen, und es ist ein anderes, diese Texte ausschließlich auf ihre weltliche Dimension zu beschränken."
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KIRCHENGESCHICHTE
„Tilge meine Schmerzen" Zum biblisch-theologischen Spannungsbogen des russischen Gottesmutterbildes Ein Beitrag aus dem hallischen Seminar für Konfessionskunde der Orthodoxen Kirchen
Hermann Goltz, Halle/Saale
300 Jahre Theologie in Halle sind kaum angemessen darstellbar, ohne die an diesem Ort zum vielerorts vernachlässigten Thema der orthodoxen Kirchen geleistete Arbeit miteinzubeziehen. Versuchte man etwa, das von der Hauptgestalt des hallischen Pietismus, AUGUST HERMANN FRANCKE, initiierte große Werk ohne dessen verschiedenartigste Verbindungen zum Christlichen Osten zu zeichnen, bliebe ein ganz wesentliches Element der universalen Ausrichtung hallischer theologischer und philologischer Traditionen ausgeklammert.1 Wenn man zudem das bereits im 16. Jahrhundert vorauslaufende starke Interesse der Wittenberger reformatorischen Theologen an den orthodoxen Kirchen und die bis heute anregenden west-östlichen Dialogversuche und Dialoganfange Wittenberger und Tübinger evangelischer Theologen in Betracht zieht, wäre eine Ausklammerung dieses Themas um so unsachgemäßer.2 Hier einmal von dem Hallenser HEINECCIUS, einem Klassiker der Ostkirchen-
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Vgl. H. GOLTZ, Ecclesia Universa. Bemerkungen über die Beziehungen H. W. Ludolfs zu Rußland und zu den orientalischen Kirchen (ökumenische Beziehungen des August-Hermann-Francke-Kreises): WZ der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg XXVIII, 1979, Reihe G, Heft 6, 19-37. Vgl. die Arbeiten von ERNST BENZ, der auch aus dem hallischen Wissenschaftskreis um ERNST KLOSTERMANN herkam, speziell: E . BENZ, Wittenberg und Byzanz. Zur Begegnung und Auseinandersetzung der Reformation und der östlich-orthodoxen Kirche, Marburg 1 9 4 9 ; des weiteren: DOROTHEA WENDEBOURG, Reformation und Orthodoxie: der ökumenische Briefwechsel zwischen der Leitung der Württembergischen Kirche und Patriarch Jeremias II. von Konstantinopel in den Jahren 1 5 7 3 - 1 5 8 9 , Göttingen 1986.
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Kirchengeschichte
künde 3 , oder von dem zeitweilig v o n Halle und Leipzig aus für die geistigen Grundlagen eines künftigen befreiten Griechenlands wirkenden Ex-AthosAkademiedirektor EVJENIOS VULGARIS4 abgesehen, ist dann auch die neuere hallische Theologie v o n dieser Thematik durchdrungen, denkt man für das 19./20. Jahrhundert nur an die einschlägigen dogmen- und kirchengeschichtlichen Forschungen eines FRIEDRICH LOOFS, an den konfessionskundlichen Klassiker der Neuzeit, FERDINAND KATTENBUSCH (der erst die Bezeichnung der Disziplin „Konfessionskunde" kreierte), oder in jüngster Zeit an die Arbeiten v o n KONRAD ONASCH zu Liturgie und Kunst der orthodoxen Kirchen 5 , dessen fortgesetzte Bemühungen um ein tieferes Verstehen der byzantinischslavischen christlichen Kultur nun noch durch eine verstärkte Hinwendung der hallischen Forschung zu den orthodoxen Kirchen außerhalb des politischen und kulturellen Machtbereichs des byzantinischen Imperiums akkompagniert werden. 6
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J. M. HEINECCIUS, Königlich-Preußischer Konsistorialrat, war „Inspector des Minister« in Halle und im Saal-Creyß" Oberpfarrer an der hallischen „Marktkirche" zu U. L. Frauen und „Gymnasii Scholarcha". Er verfaßte: Eigentliche und wahrhafftige Abbildung der alten und neuen Griechischen Kirche, Nach ihrer Historie, GlaubensLehren und Kirchen-Gebräuchen, in III. Teilen, Nebst einem curieusen Anhange Unterschiedlicher hiezu dienlicher und zum Theil noch ungedruckter Schriften Gerhardi Titii, Stephani Gerlachii, und anderer mehr..., Leipzig 1711. Vgl. H. GOLTZ, Aufklärung, Orthodoxie und Absolutismus in der Vita des Eugenios Bulgaris, in: A. M. RITTER (Hg.), Der deutsche Protestantismus und die Kirchen Südosteuropas im 16. und 19. Jh. - Referate des VII. Theologischen Südosteuropa-Seminars in Heidelberg 1984, Heidelberg 1985, 3 2 - 6 2 . Vgl. die Bibliographie Konrad Onasch, zusammengestellt von H. GOLTZ und F. KÖCKERT: ThLZ 106 (1981), Sp. 613-622; unter den jüngeren Werken ONASCHS sei besonders verwiesen auf: Κ. ONASCH, Lexikon Liturgie und Kunst der Ostkirche, veränderte Ausgabe, Berlin/München 1993. Vgl. zu diesem neuen ostkirchlichen Forschungsbereich in Halle z. B.: H. GOLTZ (Hg.), Akten des Internationalen Dr. Johannes-Lepsius-Symposiums an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg 1986, Halle/Saale 1987; H. GOLTZ, Die „Armenischen Reformen" im Osmanischen Reich, Johannes Lepsius und die Gründung der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, in: Fünfundsiebzig Jahre Deutsch-Armenische Gesellschaft, Festschrift, hrsg. von der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, Mainz 1989, 4 - 7 6 ; Armenisches Hymnarium - Scharakan armenisch-deutsch, I, Hymnen 1 - 4 übersetzt und erläutert von A. DROST-ABGARJAN und H. GOLTZ: Handes Amsorya, Wien 1988, 333-365; zum ersten Mal wurde das gesamte Corpus der armenischen Epiphanie-Hymnen aus dem Scharakan ins Deutsche übertragen von DENS.: „Heute erschien uns der höchste thronend das wort auf der wortlosen krippe" (im Druck für die FS W. NYSSEN, München 1994).
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Angesichts der jüngsten politischen Umbrüche in Europa sind die ost- und südosteuropäischen Staaten zwar nicht mehr durch einen rideau de fer von Westeuropa abgetrennt; aber der heute an dessen Statt existierende rideau d'argent bedroht viele der mühsam durch die Zeiten des leninschen, stalinschen und poststalinschen Totalitarismus bewahrten osteuropäischen Traditionen auf eine zwar total andere, aber mindestens ebenso effektive Weise. Dies gilt nicht nur auf der materiell-wirtschaftlichen, sondern auch auf der geistigspirituellen Ebene, wobei alte .abendländische' Vorurteile gegenüber einer angeblich defizitären (oder sogar völlig bestrittenen) östlich-orthodoxen Kultur heute in unheilvoller Weise mit einer postmodernen westlichen Ignoranz lärmend Hochzeit feiern. Dies geschieht des öfteren leider auch in der westlichen „Geisteswissenschaft", die oft genau das ist, was sie recht und schlecht zu schelten sich müht, nämlich ancilla potestatis suae? Dagegen gelangt das selten begegnende „westliche" Verständnis orthodoxer Theologie und Kirche immer erst dann nahe ans Ziel, wenn einerseits deren Fremdheit und Distanz zu eigenen protestantischen oder römisch-katholischen Traditionen gesehen und akzeptiert werden, dabei andererseits aber die eigentliche theologische Arbeit sich darauf richtet, das Eigene im Fremden und das Nahe im Fernen zu entdecken. Das schärft auch erfahrungsgemäß den Blick für das anders kaum bemerkte Fremde im Eigenen und für das Ferne in
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Eine vereinfachende westliche Sichtweise kann sich heute in den wiederauibrechenden nationalen Konflikten sogar konfliktverschärfend auswirken, so wenn z.B. der renommierte Bremer Historiker IMMANUEL GEISS statuiert, daß „die orthodoxen Serben, gedeckt von ihren russischen und ukrainischen Glaubensbrüdern, alle Normen zur Zivilisierung wenigstens der Kriegsführung außer Kraft (setzen), die sich das lateinische Europa über Jahrhunderte mühsam genug selbst gesetzt hat." (I. GEISS, Sarajevo, Mostar: Epizentren eines politischen Bebens, in: Die Welt, 16. März 1994, 7; Hervorhebungen H. G.). Hier kommt wieder die Konzeption von dem „zivilisierten" Westen und dem nicht nur unzivilisierten, sondern vielmehr zivilisationszerstörenden (orthodoxen) Osten hervor, ohne daß nur ein Gedanke daran verschwendet wird, von welcher Seite im 20. Jahrhundert Zerstörungen größten Ausmaßes an orthodox geprägten Kulturen Europas verübt wurden. Eine ausgewogene wissenschaftliche Betrachtung, besonders eine theologische, wird vielmehr dazu beizutragen haben, daß gegen die Baibaren auf jeder Seite der Dialog der „Zivilisationen" oder „Kulturen" zur Versöhnung und zum Frieden beiträgt; vgl. dazu: Materialien von der Begegnung zwischen dem serbischen Patriarchen PAVLE, FRANJO Kardinal KUHARI CI (Kroatische Bischofskonferenz) und dem Rais al Ulama JAKUB SELIMOSKI (Oberhaupt der bosnischen Muslime) am 23. September 1992 in Bossey bei Genf; übersetzt, kommentiert und hrsg. von H. GOLTZ (-Dokumentationsdienst der Konferenz Europäischer Kirchen, Genf 17/34, 1992).
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dem uns Nahestehenden. Das Wesen einer gelungenen Betrachtung, der rechten Methode, liegt in der in Distanz vorgenommenen Detailarbeit: der ,Nähe in der Ferne' (W. BENJAMIN). Es mag dabei auch vielleicht die oft gebrauchte (und meistens mißbrauchte) theologisch-ökumenische Formel von der „Einheit in der Vielfalt" ihre Dynamik durch diese nur in actu existierende Vermittlung des Unvermittelbaren zurückerhalten. Eines der vielen zählebigen Klischees zwischen der west- und ostkirchlichen Tradition ist, daß die westlichen Konfessionen mehr „Kirche des Wortes" darstellen, währenddessen die östliche Orthodoxie „Kirche des Bildes" sei. Hier glaubte und glaubt man sich im Westen auf das besondere ostkirchlichorthodoxe Phänomen der „Ikone" als Begründung stützen zu können. Abgesehen von allen daraus abgeleiteten falschen Schlußfolgerungen sei hier nur auf den dreifach falschen Ansatz bereits in der Prämisse hingewiesen: 1. Zunächst ist die östliche Orthodoxie keine so einheitliche Größe, daß man überall ein vergleichbares Phänomen der Ikone und der Ikonenverehrung finden kann. Es gibt sogar eine ausgesprochene Zurückhaltung und „Enthaltsamkeit" mancher orthodoxer Kirchen gegenüber der reich ausgestalteten byzantinischen Ikonentradition (so ζ. B. seitens der Armenischen Apostolischen Orthodoxen Kirche), die einerseits aus dem noch traditionelleren Typus der „orientalisch'-orthodoxen Kirchen herrührt, andererseits natürlich ihre Wurzeln in den theologisch-politischen Differenzen dieser Kirchen mit der byzantinischen Reichskirche hat. 2. Bei aller Ikonenfiille sind auch die orthodoxen Kirchen, die in der byzantinischen Tradition stehen, in hervorragender Weise „Kirche des Wortes" Wer hier anderes behauptet, beweist nur, daß er diese Kirchen in ihren wesentlichen Lebensäußerungen nicht kennt, zu welchen die in tiefster Weise biblisch fundierte liturgische Theologie und Verkündigung sowie die lebendigen katechetischen und homiletischen Traditionen einschließlich der missionarischen Leistungen durch die Jahrhunderte gehören. 3. Und letztlich berücksichtigt ein solches Klischee der Gegenüberstellung von „Wort" und „Bild" nicht, daß diese beiden Medien sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern daß sie eben als Medien des Evangeliums die Liebe Gottes in Jesus Christus in je ihrer spezifischen Weise vermitteln und mitteilen können. Wie eng darüber hinaus „Wort" und „Bild" auch in der Ikonenmalerei direkt miteinander verbunden sind, möchte ich mit dem folgenden Beitrag pars pro toto zeigen. Dabei geht es mir auch darum zu zeigen, daß durch diese enge Verbindung der „Medien" in der orthodoxen Tradition neben der ex-
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pliziten eine für Außenstehende schwer erkennbare implizite Bibelüberlieferung geschieht. Dabei ist es mir wichtig, dies zum Zwecke eines besseren Verständnisses von Orthodoxie an zwischen den Konfessionen besonders mißverständlichen Stellen zu demonstrieren, hier an einer der hochverehrten Gottesmutterikonen Rußlands. Die Orthodoxie der byzantinisch-slavischen Tradition hält ja in ihrer liturgisch geprägten Theologie mehr als alle anderen christlichen Konfessionen auch heute am Ehrentitel Θεοτόκος bzw. BoropoÄHua etc. (Gottesgebärerin) fest, der auf dem 4. Ökumenischen Konzil 431 in Ephesus dogmatisch fixiert wurde. Durch diese nichtabgebrochene und aktiv fortgeführte Tradition gerät die orthodoxe Theologie nicht in die Gefahr, eine theologisch fragwürdige „Mariologie" neben der Theologie bzw. Christologie in ihrem Lehrgebäude zu installieren oder statt dessen in das andere Extrem zu verfallen und diese Tradition praktisch völlig über Bord zu werfen. Vielmehr ist Rede von der Θεοτόκος, Preis der Θεοτόκος, Anflehen der Θεοτόκος immer Reden, Preisen, Anflehen der Macht des Gekreuzigten und auferstandenen Christus, den sie im Leib getragen und geboren, den sie gesäugt und auf ihren Armen gehalten und unter dessen Kreuz sie gestanden hat.8 Die theologische Rede von der Θεοτόκος ist direkter Bestandteil der christologischen und theologischen Rede. Die Hymnen und der Lobpreis auf die Θεοτόκος sind Christus- und Gotteshymnen, sind in der biblischen Botschaft wurzelnde christologische und theologische Sprachmöglichkeiten.9 Daß diese Sprachmöglichkeiten in den Streit zwischen den Konfessionen hineingezogen wurden und Maria oder gar die Θεοτόκος {Deipara bzw. Dei genitrix) im heutigen Protestantismus weithin als ,.Domäne" römisch-katholischer Theologie und Spiritualität gilt, läßt mich um so mehr nach einem gemeinsamen Verständnis der ökumenisch-konziliaren Tradition von der Θεοτόκος fragen. Bei den gegenwärtigen Versuchen, diese Frage zu beantworten, wird es sicherlich nicht gleich zu einem „Wiedererkennen" des lange voneinander Getrennten kommen. Vielmehr bedarf es eines mindestens ebenso langen ge-
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Vgl. zum ganzen: Akathistos - Hymnen der Ostkirche, hrsg., übersetzt und kommentiert von H. GOLTZ, Leipzig 1988. Gerade aus diesem Grunde halte ich es nicht für hilfreich, bei einer Einführung in orthodoxe Theologie von protestantischer oder römisch-katholischer Seite neben der Trinitätstheologie, der Christologie und der Ekklesiologie einen weiteren Grundbegriff, nämlich den einer „Theotokologie" zu kreieren, zumal dieser künstliche Begriff faktisch sofort wieder als „ein besonderer Aspekt der Christologie, Christologie mit eigenen Akzenten, aber ohne Eigengewicht" zurückgenommen wird (vgl. K. CHR. FELMY, Orthodoxe Theologie. Eine Einfuhrung, Darmstadt 1990, 85).
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meinsamen W e g e s in die Zukunft, eines W e g e s des Wiederkennenlernens, auf welchem sich das „Wiedererkennen" ereignen kann. * *
*
In der Neuausgabe der kirchenslawisch-russischen Minäen durch das Moskauer Patriarchat in Vorbereitung des Millenniums der Taufe Rußlands 1 0 wird unter dem 25. Januar folgendes über die Gottesmutter-Ikone Utoli pedali,
moja
die Gegenstand dieses Beitrages ist, tradiert (ich gebe eine möglichst
wörtliche Übersetzung der relevanten Passagen aus dem russischen Original): (...) Nach Moskau wurde die Ikone der Gottesmutter Utoli moja pecali durch Kosaken im Jahre 1640 gebracht und in der Kirche des heiligen Bischofs Nikolaj na Pupysach im Zamoskvorec'e aufgestellt. Infolge mehrerer Umbauten der Kirche geriet die Ikone in den Glockenturm. Die Verehrung der Ikone als wundertätiger begann mit dem Jahre 1760, nachdem eine gelähmte Frau durch sie geheilt worden war. Die Kranke, die weit entfernt von Moskau lebte, litt lange Jahre unter einem schweren Leiden: Ihr schmerzten alle Körperglieder, besonders die Beine, so daß sie nicht mehr laufen konnte. Durch die Krankheit total geschwächt, hoffte die Frau schon nicht mehr auf Besserung. Verschiedene medizinische Mittel brachten ihr nicht die gewünschte Heilung. Einmal, als die Kranke schlummerte, erblickte sie eine Ikone der Gottesmutter und hörte von ihr eine Stimme: „Mach dich auf nach Moskau! Dort, in Pupysevo, in der Kirche des heiligen Bischofs Nikolaj befindet sich das Bild Utoli moja pecali; bete vor ihm und du wirst Heilung empfangen." In Moskau besah die Kranke alle Ikonen in der Kirche zu Ehren des heiligen Bischofs Nikolaj des Wundertäters, aber sie fand nicht jene, die ihr in der Schau erschienen war. Die die Kranke begleitenden Verwandten erzählten dem Priester von dem, was vorgefallen war. Dieser sagte den Kirchendienern, daß sie die im Glockenturm befindlichen alten Ikonen herbeibringen sollten. Als sie die Ikone Utoli moja pecali herbeibrachten, schrie die Frau auf, die sich schon seit langem vor Schwäche nicht mehr bewegt und kein Wort mehr gesagt hatte: „Sie ist es! Sie ist es!" - und bekreuzigte sich. Nach einem Gebetsgottesdienst wurde sie zu der Ikone gelegt und stand vom Lager vollkommen gesund auf. Dieses Wunder vollzog sich am 25. Januar 1760. Seit jenem Tag wird die Feier zu Ehren der Ikone der Gottesmutter Utoli moja pecali vollzogen. In jener Zeit wurde auch ein besonderer Gottesdienst mit Akathistos zusammengestellt, der erstmals 1862 gedruckt wurde.
10 Vgl. zum Millenium der christlichen Rus: Tausend Jahre Taufe Rußlands. Rußland in Europa. Beiträge zum Interdisziplinären und ökumenischen Symposium in Halle (Saale) 13.-16. April 1988, hrsg. von H. GOLTZ unter Mitarbeit von A. MEISSNER und P . WENIGER, Leipzig 1 9 9 3 .
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Von der Ikone machte man eine Kopie11, die in der Beikirche der Nikolaj-Kirche in Pupysi aufgestellt wurde. In dieser Kirche wurden auch schriftliche Zeugnisse von den zahlreichen Wundertaten aufbewahrt, die aufgrund der Gebete der Gottesmutter von Ihrem wundertätigen Bild ausgingen. Besonders viele Wunder ereigneten sich in der Zeit der Pest im Jahre 1771. Später fielen diese Zeugnisse während eines Brandes dem Feuer zum Opfer. Im Verlaufe der Zeit wurden noch einige Kopien von der Ikone Utoli moja pecali gemalt. In Moskau wurden durch Wundertaten die gleichnamigen Ikonen in vier Kirchen verherrlicht: in der Kirche des hl. Johannes des Täufers na Pokrovke, in der Kirche der heiligen Apostel Peter und Paul na Novo-Basmannoj, in der Kirche des heiligen Bischofs Tychon von Amathous am Arbat-Tor, in der Kirche des ehrwürdigen Sergij na Rogozskoj. Im Jahre 1765 wurde eine wundertätige Kopie von der Ikone aus Moskau nach Petersburg durch den Kaufmann Rogovikov transferiert. Sie befand sich in der Kirche der Himmelfahrt des Herrn. (...) Heute befindet sich die wundertätige Ikone Utoli moja pecali in der Moskauer Kirche des heiligen Nikolaj ν Kuznecach (Nikolo-Kuzneckij-Kirche).12 Nicht selten wird, nicht nur im russischen Bereich, die Frage nach Herkunft und Bedeutung des Titels dieser bekannten und hochverehrten russischen Gottesmutterikone Utoli moja pecali gestellt, der im Deutschen üblicherweise mit „Lindere meinen Kummer" wiedergegeben wird. So wandte sich 1987 der Herausgeber der Gedichte von JOHANNES BOBROWSKI, EBERHARD HAUFE, aus Weimar brieflich mit der Frage auch an mich, ob ich ihm zu dem Gedicht Die Kirche „Lindere meinen Kummer" aus dem ersten Gedichtband BOBROWSKIS „Sarmatische Zeit"den liturgischen oder biblischen Text nennen könnte, auf welchen der Titel der Ikone „Lindere meinen Kummer" zurückginge, zu deren Ehren die Kirche benannt ist, der das im folgenden in toto zitierte Gedicht BOBROWSKIS gilt: 13
11 Wörtlich: eine Abschrift. 12 Mineja janvar, Teil 2, Izd. Moskovskoj Patriarchìi, Moskau 1983, 328 f. 13 Bei den russischen orthodoxen Patrozinien trifft man sehr häufig auf solche, die sich auf hochverehrte Gottesmutterikonen beziehen, am bekanntesten wohl der St. Petersburger „Kazanskij sobor" (Kasaner Kirche) am Nevskij prospekt, in welchem in der Zeit des sowjetischen militanten Atheismus das sattsam bekannte „Museum für Religion und Atheismus" eingerichtet worden war.
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Die Kirche „Lindere meinen Kummer"14 Über den Wänden, Stein, über den Bögen die Kuppeln aus Wind, gefügt unter den Himmel, alt, der mit Fähren und Flößen kommt, der vor den Abenden her singt, Bienenrauch fährt mit ihm, Atem vom Himbeerstrauch, spät wenn die Herrin der Felder, runden Auges, weißhaarig, erstarrt mit den schmalen Armen, leicht, eine Esche, Hände aus Laub wie Gewölk, der Moore bittere Luft fängt und den Trunk führt an den Mund15 E. HAUFE hatte bisher als Herausgeber und Kommentator der Gedichte BOBROWSKIS auf seine Frage nach der Herkunft des Ikonentitels „Lindere meinen Kummer" keine befriedigende Antwort von den Fachleuten bekommen können. Natürlich hatte auch er zur Kenntnis genommen, daß westlich der damals bereits unmerklich bröckelnden Mauer der russisch-jüdische Germanist LEWKOPELEW, Exulant aus der Sowjetunion in Köln, 1980 einen Teil seiner Lebenserinnerungen in russischer Sprache unter eben jenem Ikonentitel (in neurussischer Sprach-Variante) Utoli moi pedali herausgegeben hatte. In deutscher Sprache erschien dieses Buch im Jahre darauf unter dem Titel „Tröste meine Trauer".16 Es fällt bei dieser in sich recht gelungenen, alliterie-
14
Zitiert nach:
JOHANNES BOBROWSKI, Gesammelte Werke in sechs Bänden, hrsg. von Band - Die Gedichte, Berlin 1 9 8 7 , 4 8 . BOBROWSKI scheint mir hier eine zerstörte Kirche „Lindere Meinen Kummer" poetisch abzubilden, wobei diese in ihrer Zerstörung offenbar selber zum Ausdruck dieser Bitte wird. JleB KonejieB, YTOJIM MOH nenajiH, Heatherway/Michigan 1 9 8 0 ; dt. Ausgabe: LEW KOPELEW, Tröste meine Trauer: Autobiographie 1 9 4 7 - 1 9 5 4 . Aus dem Russischen von H. PROSS-WERTH und H . - D . MENDEL, Hamburg 1 9 8 1 . E . HAUFE, 1.
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renden Übersetzung des Titels auf, daß sich die Übersetzerin und der Übersetzer weder an die unter deutschsprachigen Ikonenfachleuten eingebürgerte ungenaue deutsche Übersetzung „Lindere meinen Kummer" gehalten haben noch an den originalen kirchenslavisch-russischen Titel (dem Verbum trösten entspricht im Russischen und auch im Kirchenslavischen utésiti und nicht titoliti). Wenn auch das Wort „Trauer" besser dem zugrundeliegenden pecal' zu entsprechen scheint, bleibt doch die Frage bestehen, aus welchen biblischliturgischen Quellen der slavische Ikonentitel stammt, um ihn aus dem Kontext besser verstehen und so auch korrekt übersetzen zu können. Es bleibt aber in Hinsicht auf den Titel dieses Memoiren-Bandes KOPELEWS bemerkenswert, wie stark auch hier russische Traditionen der Gottesmutter-Ikonographie und -Frömmigkeit über die Kirchengrenzen hinaus in den säkular-atheistischen Raum hineinwirken. Dabei lassen sich bei KOPELEW sogar die direkten Einflüsse erkennen, woher er den Ikonentitel überhaupt kennt und so als Titel für diesen Teilband seiner Memoiren auswählte. Bekanntlich war der Offizier der Roten Armee und Germanist KOPELEW gegen Kriegsende wegen zu großer Milde dem deutschen Feind gegenüber der sowjetischen Sicherheit ins Visier gekommen, worauf er inhaftiert und als fähiger Philologe nach einigen Stationen in eine Saraska, also ein sowjetisches Zwangsarbeitslager für Wissenschaftler mit recht mildem Regime, eingeliefert wurde. Wie KOPELEW in dem zitierten Memoiren-Band berichtet, gehörte zu dieser Saraska in Martino bei Moskau das Gebäude der enteigneten, geschlossenen und umfunktionierten Kirche Utoli moja pecali, deren ehemaliger Altarraum den verhafteten Wissenschaftlern als Bibliothek diente. Hier saß LEW KOPELEW oft und diskutierte nächtelang mit dem ebenfalls in diesem Lager des ,.Ersten Kreises der Hölle" arbeitenden ALEXANDER SOLSHENIZYN. In der Saraska in Marfino mit der Kirche Utoli moja pecali befanden sich nicht nur verhaftete russische Spezialisten, sondern auch aus Deutschland deportierte Techniker, welche erbeutete deutsche Technik zusammen mit ihren russischen Kollegen für die Sowjetunion brauchbar zu machen hatten. KOPELEW, als Germanist, mußte deutsche Gebrauchsanweisungen ins Russische übersetzen. So wird unerwarteterweise diese Kirche Utoli moja pecali auch zu einem verborgenen Symbol des gemeinsamen Lagerschicksals von Deutschen und Russen zwischen den Mahlsteinen zweier totalitärer Systeme. Aber auch bereits im 19. Jh. finden sich überraschenderweise im Zusammenhang mit unserem Thema russisch-deutsche Gemeinsamkeiten. Im Jahre 1 8 6 5 gründete die Fürstin NATALIJA BORISOVNA SACHOVSKAJA in Moskau
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am Hospitalplatz (Gospital'naja ploscad', 2) eine Barmherzige Schwesternschaft, die eben den Namen Utoli moja pecali trug. Die Gründung dieser Schwesternschaft hängt wiederum eng zusammen mit der philanthropischen Tätigkeit des Moskauer deutschen Arztes FRIEDRICH JOSEPH HAASS (1780-1853), dem es 1847 gelungen war, erstmals in Moskau ein „Polizeikrankenhaus fur Arme und Obdachlose" zu gründen. Zu dieser Arbeit hatte die Fürstin SOF'JA STEPANOVNA SCERBATOVA die erste Barmherzige Schwesternschaft in Moskau begründet, die täglich im Butyrka-Gefängnis arbeitete. Dieser Schwesternschaft war dann 1863 auch die genannte Fürstin SACHOVSKAJA beigetreten. Sie hatte bereits Jahre zuvor in der Zusammenarbeit mit HAASS die besonders schwere Lage mindeijähriger Waisenkinder und seelisch kranker Frauen bemerkt. Dadurch reifte in ihr der Plan, ein Waisenhaus und eine psychiatrische Frauenklinik zu gründen, und zu diesem Zweck sammelte sie auch zunächst 30 freiwillige Frauen um sich, mit denen sie die bereits erwähnte Schwesternschaft Utoli moja pecali 1865 gründete. 17 Dieses Beispiel zeigt in ökumenischer Perspektive besonders deutlich die Verbindung von orthodoxer Spiritualität und sozialdiakonischer Tätigkeit, eine Verbindung, die durch die sowjetische Religionsgesetzgebung gewaltsam zerstört wurde und die sich jetzt in Rußland - in Erinnerung an diese Vorbilder - wiederentwickelt. Diese Verbindung des Gottesmutterbildes mit Diakonie und Streben nach mehr sozialer Gerechtigkeit ist auch für die folgenden Überlegungen nicht aus den Augen zu verlieren. 18 Zurück zu der Frage nach der Herkunft des Ikonentitels Utoli moja pecali: Wie schon aus dem Fehlen einer direkten Antwort in den kommentierten neuen Minäen-Bänden des Moskauer Patriarchats hervorgeht 19 , scheint die Frage bei unserer Ikone schwieriger zu beantworten zu sein. Die berühmte Gottesmutterikone Vsech skorbjascich radoste etwa, die auch - wie Utoli
17
Vgl. dazu Ju. N. BURAKOV, Utoli moja pecali: Nauka i religija, 10/1991, 47. Ich verdanke diesen Hinweis Herrn Α. MEISSNER. Auch in diesem Zusammenhang begegnet uns LEW KOPELEW, der vor wenigen Jahren in populärwissenschaftlicher Weise in Deutschland auf die Gestalt des Doktor HAASS mit einem Buch wieder aufmerksam machte: L. KOPELEW, Der heilige Doktor Fjodor Petrowitsch. Die Geschichte des Friedrich Joseph Haass. Vorwort von H. BOLL (dtv Sachbuch 11510), München 1992. Vgl. auch die wissenschaftliche Untersuchung von R. STEINBERG, Friedrich Joseph Haass und der russische Strafvollzug im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main-Bern New York-Nancy 1984. 18 Siehe dazu auch unten die Bemerkungen zum Prophetenwort Sach7,9f. auf dem Rotulus in den Händen Christi. 19 Vgl. Mineja janvar, Teil 2 (Anm. 12), unter dem 25. Januar, 328 f.
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moja pedali - einer Reihe von Kirchen ihren Namen gegeben hat, erhielt ihren „Titel" durch eine entsprechende Anrede an die Gottesmutter unter den zahlreichen anderen liturgischen Anrufungen (so, um nur ein Beispiel zu nennen, im kleinen Abendgottesdienst am Samstag in der ersten Stichira auf die Gottesmutter, 2. Ton: ,¿Aller Leidtragenden Freude und der Beleidigten Fürbitterin und der Bedürftigen Nährerin, der Fremden Tröstung und Stab der Blinden, der Kranken Besuch, der Arbeitenden Schutz und Eintreterin und der Waisen Helferin, Mutter des höchsten Gottes, du bist die Allreine: eile, wir bitten, zu retten die Knechte dein."20). Zunächst hofft man angesichts des offiziellen Ikonentitels Utoli moja pecali, in der Menge gottesdienstlicher Anrufungen der allheiligen Gottesgebärerin eben einen solchen Text zu finden. Zwar findet sich das Verbum utoli, wenn auch nicht sehr häufig, so doch ab und an in den Bitten an die Gottesmutter. In diesen Bitten spielen auch die Drangsale (skorbi) und Kümmernisse/Mühsale (pecali) der Betenden eine große Rolle, aber die beiden Worte utoli und pecali begegneten mir in der Menge der Texte nicht in unmittelbarer Verbindung. Bei der Atmosphäre dieser Gebetstexte erwartet man oft in der nächsten Zeile diese Wendung, die aber dann wieder anders umspielt wird. Man vermutet natürlich zuerst, daß der „Titel" der Gottesmutterikone zumindest in den gottesdienstlichen Texten zu Ehren der Gottesmutter Utoli moja pecali am Feiertag der Ikone, also am 25. Januar, begegnet. 21 Jedoch begegnet dort der Titel nur in der Bezeichnung des Feiertages „Feier unserer allheiligen Gebieterin, Gottesgebärerin und Immeijungfrau Maria um Ihrer Ikone willen, die Utoli moja pecali genannt wird" 22 , aber niemals in den ausfuhrlichen Hymnen-, Gebets- und Bibellesungstexten. In der umfangreichen Anmerkung im Moskauer Menologion 23 wird auch ausgeführt, daß Golgatha für die Gottesmutter den größten Schmerz darstellte und daß ihr eigenes Entschlafen, also die Aufnahme durch ihren Sohn Jesus Christus (Fest der κοίμησις bzw. des Uspenie der Gottesgebärerin am 15. August), für sie das 20
21 22 23
Vsech skorbiascich radoste. i obidimych predstatel'nice, i ubogich pitatel'nice, strannych ze utesenie, i zezle slepych, nemoscich posescenie, truzdajuscichsja pokrove 1 zastupnice, i sirych pomoscnice, mali Boga vysnjago, ty esi precis taja: potscisja, molimsja, spastisja rabom tvoim. Vgl. Oktoich, Moskau, Izd. Moskovskoj Patriarchìi, 2 Bd.e, 1981, Bd. 1, 195. Vgl. Mineja janvar, Teil 2 (Anm. 12), 317 - 329. Mineja janvar, Teil 2 (Anm. 12), 317: Prazdnovanie Presvjatej Vladycice nasej Bogorodice i Prisnodeve Marii radi ikony Eja, naricaemyja 'Utoli moja pecali '. Mineja janvar, Teil 2 (Anm. 12), 328 f.
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utolenie peculi war. Einen Hinweis auf eine Quelle für diesen kreuzestheologisch genährten Gedanken24, etwa in liturgischen oder patristischen Texten, gibt der Moskauer Kommentar nicht. Ich habe mir daher noch einmal die Texte des Hochfestes des „Entschlafene der allheiligen Gottesgebärerin" vergegenwärtigt, aber keinen solchen Gedanken oder gar eine solche Formulierung gefunden, auf welche dann indirekt oder direkt der Ikonentitel zurückgeführt werden könnte. Der Kommentator des neu herausgegebenen MinäenTextes verweist noch 25 auf die besondere sluzba mit Akathistos zu Ehren der Gottesmutterikone Utoli moja pecali, die 1862 erstmals im Druck erschien, aber wohl bald nach dem Heilungswunder vom 25. Januar 1760, das den Ruhm der Ikone weithin verbreitete, zusammengestellt wurde. 26 Es fällt auf, daß nicht einmal dieser Gottesdienst samt Akathistos in seinem Text den Ikonentitel exakt reproduziert. Es heißt vielmehr in den refrainartigen Schlüssen im Akathistos immer wieder: Utoli nasa pecali, nicht Utoli moia pecali,27 Aber selbst, wenn diese sluzba mit akafist den Titel exakt im eigentlichen Text brächte, hülfe uns dies kaum in unserer Frage weiter, woher der Titel stammt - oder wie er interpretiert werden könnte. Aus der Ikonographie der Gottesmutter Utoli moja pecali ist die häufige Inschrift UTOLI BOz / prêlyja
bdcy
auf der Ikone wohlvertraut. Diese Kürzel lauten aufgelöst: Utoli bolezni / [obraz] presvjatyja bogorodicy. Diese Inschrift, die ja den eigentlichen Ikonentitel bietet, differiert also von der sonst auch offiziell in den gottesdienstlichen Büchern verwendeten Bezeichnung Utoli moja pecali. Und dieser eigentliche Titel auf den Ikonen ist nun leicht herzuleiten: Utoli bolezni sind die Anfangsworte des Theotokion in den Stichiry pokajanny na stichovne aus dem Abendgottesdienst des Montags des 5. Tons. Utoli bolezni mnogovozdychajuscija dusi moeja, utolivsaja vsjaku slezu ot lica zemli. Ty bo celovekom bolezni otgonjaesi, i gresnych skorbi razrusaesi:
24
25 26 27
Zu dem ganzen Komplex einer orthodoxen .Kreuzestheologie' vgl. die Dissertation von H. KAFFKA, Das Kreuz Christi im orthodoxen Gottesdienst der byzantinischen und slawischen Tradition, (Diss., masch.) Halle 1994. Mineja janvar, Teil 2 (Anm. 12), 328. Vgl. unten den slavischen Text des Akathistos mit deutscher Übersetzung. Vgl. unten z. B. das Kondakion 1. Nur auf dem textlich sekundären Titelblatt wird der übliche Ikonentitel benutzt.
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Tebe bo vsi stjazachom nadezdu i utverzdenie, Presvataja Mali Devo. 28
Dieses Theotokion erscheint auch als Tropar im 5. Ton in dem „Großen Abendgottesdienst zu Ehren der Gottesmutter um ihrer Ikone Utoli moja pecali willen".29 Auch in der nützlichen Ikonenbeilage zu den neuen Minäenbänden des Moskauer Patriarchats erscheint auf der zum 25. Januar abgebildeten Gottesmutterikone Utoli moja pecali (eine Ikone des 19. Jh. aus der Refektoriumskirche zu Ehren des ehrwürdigen SERGIJ VON RADONEZ der Hl. Dreieinigkeits-Sergij-Lavra) statt des Kurztitels das gesamte, oben zitierte Theotokion. Das entsprechende griechische Gottesmutter-Troparion ist in den griechischen ParaUëtikë- bzw. Oktoechos-Texten des Abendgottesdienstes am Montag des 5. Tons nicht genau an der entsprechenden Stelle zu finden. Schon der verdienstvolle Erzpriester ALEKSEJ MAL'CEV hat in seiner slavischdeutschen Ausgabe der Oktoichos nach vergeblicher eigener Suche darauf verwiesen, daß in der griechischen Paraldëtikê an dieser Stelle ein anderer Text begegnet: Μακαρίζομεν σε, Θεοτόκε, Παρθένε, καί δοξάζομεν σε, οί πιστοί κατά χρέος, την πόλιν την άσειστον, το τείχος το άρρηκτον, την αρραγή προστασιαν και καταφυγην των ψυχών ημων.
Als ich die liturgischen Texte des Montags des 5. Tons auf diese Fehlmeldung durch Vater ALEKSEJ noch einmal durchsah, entdeckte ich allerdings an nicht fernliegender Stelle, nämlich kurz zuvor, am Ende des Montag-Morgengottesdienstes, als Theotokion zur Doxologie den griechischen Urtext des Ikonen-Tropars: Παυσον τον πόνον, της πολυστενάκτου ψυχής μου, ή παύσασα πάν δάκρυον, άπό προσώπου TÎjç γης. σύ γαρ βροτών τάς όδύνας διώκεις, αμαρτωλών την κατήφειαν λύεις·
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Oktoich (Anm. 20), 2. Band, 58. Vgl. die Übersetzung unten. Vgl. Mineja janvar, Teil 2 (Anm. 12), 320 f. Vgl. A.P. MALTZEW, Oktoechos, 2. Teil, Berlin 1904, 120. Vgl. auch Παρακλητική ή Οκτώηχος ή μεγάλη, Athen 2 1984, 217.
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Kirchengeschichte σέ πάντες κεκτήμεθα, ελπίδα και στήριγμα, Παναγία μητροπάρθενε. 31
So läßt sich nun auch mit der Übersetzung des griechischen Originaltitels des Theotokions der ursprüngliche Sinn des slavischen Ikonentitels viel sicherer rekonstruieren: Tilge den Schmerz meiner vielseufzenden Seele, die du tilgtest jegliche Träne vom Antlitz der Erde. Denn der Sterblichen Betrübnisse vertreibst du, der Sünder Niedergeschlagenheit zerstörst du. Dich haben wir alle erworben, zur Hoffnung und Stütze, Allheilige Mutteijungfrau. Damit ist nun auf alle Fälle gesichert, daß der eigentliche Titel der in Rußland hochverehrten Gottesmutterikone Utoli bolezni von der griechischen liturgischen Bitte Π α ϋ σ ο ν τ ο ν π ό ν ο ν herstammt. Ich schlage deshalb vor, daß in der deutschsprachigen ikonologischen und ikonographischen Forschung in Zukunft nicht mehr die ungenaue Bezeichnung „Lindere meinen Kummer", sondern „Tilge meine Schmerzen" bzw. „Tilge die Schmerzen" Anwendung finden sollte. Dafür gibt es, wie im folgenden noch zu zeigen sein wird, nicht nur rein philologische, sondern sehr klare bibeltheologische Gründe. 32 Man könnte auch fragen, ob der populäre Ikonentitel Utoli moja pecali eher aus dem volkstümlichen denn aus dem offiziell liturgisch-kirchlichen Bereich stamme, daß es sich also etwa um den im Volk tradierten Gebetsruf jener gelähmten Frau handeln könnte, die am 25. Januar 1760 in Moskau nach einem Gebetsgottesdienst vor dieser Ikone Heilung erfuhr. Jedoch ist dies so
31 Παρακλητική (Anm. 30), 216. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich Herrn Oberkirchenrat KLAUS SCHWARZ (Außenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland) danken, der entscheidend dabei geholfen hat, daß die 'Αποστολική Διακονία της 'Εκκλησίας της 'Ελλάδος unser hallisches Seminar mit den heute gebräuchlichen liturgischen Textausgaben versah, wobei der erste Dank dafür natürlich an die 'Αποστολική Διακονία selber geht. 32 Auch der populäre und bis heute gebräuchliche Titel Utoli moja pecali dürfte entsprechend Utoli bolezni mit „Tilge meine Schmerzen" zu übersetzen sein. Möglicherweise reflektiert dieser Titel eine ältere Redaktionsstufe der russisch-kirchenslavischen liturgischen Bücher, die dann in der lebhaften und spannungsvollen Redaktionstätigkeit des 17./18. Jh. in das Utoli bolezni aus Utoli pecali umgewandelt wurde. In Gesprächen mit Theologen der russischen Altritualisten („Altgläubigen') in St. Petersburg habe ich erste Hinweise darauf erhalten. Leider konnte ich noch nicht die entsprechenden liturgischen Handschriften und Drucke zu dieser Frage vergleichen.
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nicht überliefert. Der Bericht von der Heilung spricht nur von dem Ausruf der Frau: „OHa! OHa!" („Sie ist es! Sie ist es!"). 33 Nicht nur aus dem gegenwärtigen gottesdienstlichen Leben der Orthodoxie, sondern auch aus einer Reihe von tradierten gottesdienstlichen Texten wird deutlich, daß sich die Frauen in ganz besonderer Weise der Gottesmutter verbunden fühlen. Die Gottesmutter und die ,.Frauen, die Christus liebgewonnen haben" - seien dies nun die biblischen oder die der jeweils betenden Gemeinde -, bilden nicht selten in solchen Texten eine Gruppe (ζ. B. im Morgengottesdienst des Sonnabend des 6. Tons im 2. Kanon auf die Verstorbenen, 3. Ode: „Die Frauen, die Christus liebgewonnen haben, stehen vor dir, die du ihn unsäglich geboren hast, allheilige Gebieterin, und frohlocken freudigen Sinnes" 34 ). Bei solch enger und freudiger Verbindung von Gottesmutter und Frauen liegt es bei den pecali bzw. bolezni des Ikonentitels nahe, an die ebenso enge, aber fluchbeladene Verbindung der Eva und der Frauen in Gen 3,16 zu denken: „Du (Eva) sollst mit Schmerzen Kinder gebären". Hier steht im Text der Septuaginta, die für den kirchenslavischen Text maßgebend ist: έ ν λύπαις. Diese λ υ π α ι 3 5 werden in diesem Kontext meistens mit „Schmerzen" übersetzt, so etwa in der Luther-Bibel, aber auch im kirchenslavischen Text von Gen 3,16: ν boleznech rodisi cada36 Damit ist bereits ein enger Zusammenhang eines zentralen biblischen Topos mit dem oben ausgeführten Tropar Utoli bolezni gegeben. Bemerkenswerterweise zeigt sich in verschiedenen slavischen gottesdienstlichen Texten bei unterschiedlichen Anspielungen auf dieselbe Bibelstelle die Synonymität von bolezni und pecali, die hier auch auf der Identität der „Schmerzen" der Eva und der „Mühen" des Adam im zweimaligen έ ν λύπαις von Gen 3,16 f. der LXX beruhen dürfte. So heißt es etwa im Kanon an die Gottesmutter am Montag des 1. Tons, abends im Apodeipnon, Ode 3, Tropar 2: juze bo prokljat ν pecalech roditi cada}1 Die auch für die heutige Theologie bedenkenswerte Synonymität der λυπαι des Adam und der Eva (auch Adam soll ν pecalech sein Leben fristen) 38 hat letztlich ihre sprachli33 34 35 36 37 38
Vgl. Mineja janvar, Teil 2 (Anm. 12), 328 und oben die Übersetzung des Wundeiberichts aus der zitierten Januar-Mineja. Ize Christa vozljubivsyja zeny, tebe togo neizrecenno rozdsuju, vsesvjataja vladycice, radostnoju mysliju obstojasce likovstvujut. (Oktoich [Anm. 20], Bd. 2, 306). λύπη: Leid, Betrübnis, Kränkung, Schmerz, Unglück (Gegensatz zu χάρις, ήδονη, χαρά). Vgl. den slavischen Text ζ. B. im Velikij sbornik, Teil III, Prag 1953, 645 f. Oktoich (Anm. 20), Bd. 1, 80. Vgl. Velikij sbomik (Anm. 36), 646.
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Kirchengeschichte
chen Wurzeln im hebräischen Text von Gen 3,16 f., wo bei Eva von und bei Adam von die Rede ist. Es handelt sich hier also von vornherein um stammverwandte Wörter und Begriffe im Urtext, die man im Deutschen etwa als „Mühe" und „Mühsal" aufeinander beziehen müßte und die in der Septuaginta zu identischen Ausdrücken gemacht wurden. Da die Ikone Utoli moja pecali und ihr Titel im Resultat eine orthodoxe slavisch-russische Erscheinung sind, ist es legitim, auch andere slavische Bibelstellen zur Interpretation mit heranzuziehen. Dies soll hier in eingegrenzter Weise geschehen. Bei pecal' im Zusammenhang mit Sündenfall und Erlösung der Menschheit, auch mit dem Bild der ν pecalech gebärenden Frau, liegen die Worte von Joh 16,20-22 nicht fern: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden. Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, daß ein Mensch zur Welt gekommen ist. Und auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch Wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen".39
Das oben zitierte Tropar der Ikone verweist in seiner großen theologischen Spannweite, entsprechend der eschatologischen Umwandlung der pecal' bzw. der bolezni in radost ' in der Verkündigung Jesu nach Johannes dem Theologen, auch auf eine weitere verwandte biblische Schlüsselstelle, nämlich Offb21,4: „Und Gott wird wegnehmen jegliche Träne von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen".40
Hier begegnet im griechischen Text der Apokalypse für bolezrt πόνος, womit eine direkte Parallele zum griechischen und slavischen Text des Ikonentropars
39
Amin, amirt glagolju vam, jako vosplacetesja i vozrydaete vy, a mir vozraduetsja: vy ze pecal 'ni budete, no pecal ' vasa ν radost ' budet. Zeno egda razdaet, skorb ' imat ', jako priide god eja: egda ze rodit otroca, ktomu ne pomnit skorbi za radost'. jako rodisja celovek ν mir: I vy ze pecal ' imate ubo nyne: Paid ze uzrju vy, i vozraduetsja serdce vase i radosti vaseja niktoze vozmet ot vas. Zit. nach der slavisch/russischen Ausgabe des Neuen Testaments, St. Petersburg 1904, 13. Aufl. Der Gegenstellung von pecalΊskorb' und radost' entspricht im griechischen Text die von λύπη (θλίψις) und χαρά. 40 I ot"imet Bog vsjaku slezu ot ociju ich, i smerli ne budet ktomu: ni placa, ni voplja, ni bolezni ne budet ktomu, jako pervaja mimoidosa.
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gegeben ist und so auch ein weiterer, deutlicher Hinweis auf die eschatologisch-apokalyptische Spannweite der betrachteten Ikone. Fast deutlicher als die Paralleltexte der Apokalypse Johannis (7,17; 21,4) verweisen Einzelheiten des Troparientextes über das „Tilgen jeglicher Träne" auf die eschatologische Erfüllung alttestamentlicher prophetischer Verheißungen in dem aus der Jungfrau Maria geborenen Herrn und Heiland Jesus Christus. So verweist die zweite Zeile dieses Tropars (utolivsaja vsjaku slezu ot lica zemli) deutlicher noch als auf Offb21,4 oder 7,17 auf Jes 25,8 zurück: „... und tilgen wird Gott jegliche Träne von jeglichem Antlitz; die Schmach des Volkes ( τοδ λ ά ο υ - also des Gottesvolkes: H.G.) wird er tilgen von der ganzen Erde
Gerade in der typischen, paroimienhaften Zusammenziehung der HalbversEnden von Jesaja (Antlitz und Erde) im Tropar zu ot lica zemli (άπό προσώπου της γης) wird der direkte Bezug auf Jes 25,8 unübersehbar. Auch aus dieser Betrachtung der zum Verständnis der Ikone Utoli moja pecali unbedingt notwendigen liturgischen und biblischen Texte geht hervor, daß die bisherige Bezeichnung der Ikone im Deutschen „Lindere meinen Kummer" trotz ihrer Landläufigkeit (vgl. den Gedichttitel bei BOBROWSKl!) völlig unzureichend ist. Es geht nicht lediglich um ein „Lindern" oder ein „Besänftigen" (dafür stünde kirchenslavisch statt utoli etwa ukroti oder utisi), sondern um ein machtvolles „Wegnehmen", „Beseitigen", „Tilgen" der Schmerzen, der Tränen und des Todes durch den aus der Jungfrau menschgewordenen Christos, den Logos Gottes, der als wahrer Mensch und wahrer Gott gekreuzigt wurde und auferstanden ist, durch den Pantokrator und Weltenrichter. Dafür steht auch die Heilungsgeschichte der namenlosen gelähmten Frau aus der tiefen russischen Provinz, durch deren Suche die im Glockenturm der Nikolauskirche na pupysach im Zamoskvorec'e achtlos ausrangierte Ikone wiederaufgefunden wird, wobei dann durch ihre im Glauben geschehene Gesundung seit jenem 25. Januar 1760 die besondere Verehrung der Gottesmutter Utoli moja pecali begann. Auch die Heilungsgeschichte schildert nicht eine vorübergehende „Linderung des Kummers", sondern eine vollständige und endgültige Gesundung. Deswegen muß der Ikonentitel auch vom theologischen Hintergrund her eigentlich mit „Tilge meine Schmerzen", „Nimm hinweg meine Nöte" oder in entsprechender Weise übersetzt werden. Die Übersetzer der eingangs erwähnten Lebenserinnerungen LEW unter dem Titel Utoli moi pecali haben sich zwar nicht an den im Deutschen eingebürgerten Ikonentitel „Lindere meinen Kummer" gehalten; mit der durch den Stabreim eindrücklichen Übersetzung „Tröste meine Trauer" haben sie aber auch noch nicht das machtvolle und endgültige KOPELEWS
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Kirchengeschichte
„Tilgen" und „Wegnehmen" durch den Schöpfergott, die eschatologische Schöpfung des Neuen Himmels und der Neuen Erde getroffen, welches das Tilgen der Schmerzen des einzelnen Menschen einschließt, aber nicht lediglich beim vereinzelten Schicksal und Wunder stehenbleibt. In dem Wort skorb'/skorbi des Troparions zu Ehren der Gottesmutter Utoli moja peculi verbirgt sich ein weiteres wichtiges Synonym furpecal' und bolezn. Dahinter stehen die θλίψεις, nicht lediglich die vereinzelten alltäglichen Drangsale, sondern die große, umfassende Drangsal der Endzeit, - in der kirchenslavischen Bibel und in den entsprechenden gottesdienstlichen Texten oft mit pecal' übersetzt, - vgl. ζ. B. LXX Ps. 19,2, wo es griechisch und kirchenslavisch heißt: „Der HERR erhöre dich am Tage der Not" - έν ημέρα θλίψεως - ν den pecali*1. Bemerkenswerterweise fungiert LXX Ps. 19,2 als Prokimenon im Abendgottesdienst am Freitag der ersten Woche des großen Fastens, und auf dieses Prokimenon folgt dann die fortlaufende Genesis-Lesung, an diesem Abend wohl nicht zufällig aus Gen 2 und 3 (vgl. dazu oben), wo es in den Versen 16 und 17 des dritten Kapitels heißt: Umnozaja umnozu pecali tvoja ..., ν boleznech rodisi cada (zu Eva; und zu Adam:) ... νpecalech snesi tuju vsja dni zivota tvoego,42
An der Verwendung von pecal ' und bolezri in den orthodoxen gottesdienstlichen Texten läßt sich zeigen, daß dabei immer der Zusammenhang des Fluches über Adam und Eva, d. h. über die Menschheit insgesamt, mit der Erlösung durch den von der zweiten Eva, der Theotokos, geborenen neuen Adam - Christus Jesus - als übergreifende theologische Grundaussage mitschwingt. Dazu nur eines der vielen möglichen Beispiele, hier vom Sonntagmorgengottesdienst des 5. Tons im dritten Kanon, 8. Ode, das erste Troparion: „Aufgehört hat 43 nunmehr der Urväter Schmerz/Mühsal, da die Freude geboren hast du, Gottesmutter; dadurch besingen unaufhörlich wir dich, Jungfrau, und erheben dich in alle Zeiten."44
41 42
Vgl. Ps. 20,2: DV? Vgl. Triod' postnaja, Moskau, 4 1897, Bl. 130-131, ebenso Velikij sbomik (Anm. 36), 645 f. 43 Ich wähle hier nicht die Übersetzung „Getilgt ist", um das griechische Wortspiel πέπαυται ... άπαύστως nicht zu tilgen. 44 Presta nyne jaze praotcaja pecal'. radost ' priemsi ti bogomateri. temze neprestanno poem tja devo, i prevoznosim vo vsja veld. (Oktoich [Anm. 20], Bd. 2, 31). Vgl. den Urtext (ParaUêtikê [Anm. 30], 209): πέπαυται τανϋν, ή προπατόρων λύπη, χ α ρ ά ν τεξαμένης σου, της Θεομήτορος δθεν άπαύστως ύμνουμεν σε Παρθένε, και ύπερυψοϋμεν εις πάντας τους αιώνας. (Möglicherweise ist in der Differenz priemsi
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Neben den nicht seltenen Stellen, wo die peëal' (Schmerz/Mühsal) der Stammeltern (oder speziell der Eva) und die neue radost' (Freude) der Menschheit mit der Gottesgebärerin thematisiert ist, gibt es natürlich auch sehr viele gottesdienstliche Texte, wo die Betenden um Befreiung aus ihren persönlichen pedali bitten. Aber aufgrund der terminologischen Zusammenhänge mit der Verfluchung der Menschheit zu pecal' und bolezni lassen sich biblisch und theologisch-anthropologisch diese Gebete nicht aus dem aufgezeigten großen Spannungsbogen herauslösen. Wichtiger aber sind mir noch in dem besprochenen liturgisch-ikonographischen Zusammenhang die Stavrotheotokia, also die Gattung der orthodoxen „Stabat-Mater'-Hymnen, wo stets von der pecal ' der Gottesmutter unter dem Kreuz die Rede ist (es gibt auch Theotokien, die nicht ausdrücklich als Stavrotheotokien bezeichnet werden, dennoch aber in der Thematik diesen entsprechen). Dazu zwei Beispiele, um die theologische „Innenwelt" der Gottesmutter-Ikone Utoli moja pecali, überhaupt aber die Gottesmutter-Christus-Ikonen besser verstehen zu können, - das erste aus dem Apodeipnon des Donnerstags des 1. Tons, Gottesmutterkanon, Ode auf i nyne: „Am Kreuze stehend und ihren Sohn sehend, im Fleische [dort] hängend, die Allmakellose, entbrannte in Schmerz ihr Mutterleib, und Tränen vergießend rief sie: Kind, wahrlich unaussprechlich ist dein Erbarmen gegenüber allen Menschen."45
Und das zweite Beispiel - der Krestobogorodicen aus dem Mittwochmorgengottesdienst des 6. Tons nach der 3. Stichologie: „Die dich geboren hat, Christe, die Jungfrau Maid, am Kreuz dich nun um unsertwillen erhöht sehend, wurde sie durchbohrt durch des Schmerzes Schwert in der Seele, und sie weinte wehklagend mütterlich: Durch deren Gebete, erbarm dich unser, Herr des Erbarmens."46
- τεξαμένης [erhalten/geboren] ein Hörfehler des slavischen Übersetzers erhalten geblieben, der χαράν δεξαμενής verstanden hat. Wahrscheinlicher dürfte aber ein ins slavische übernommener griechischer Irrtum sein.) 45 Pri kreste stojasci, i vidjaséi svoego syna, plotiju visima preneporocnaja, raspalase pecaliju utrobu svoju, i slezami oblivajusci vzyvase: cado, voistinnu neizglagolanno na vsja celoveki tvoe blagoutrobie. (Oktoich [Anm. 20], Bd. 1, 143). 46 Tebe rozdsaja Christe, prisnodeva otrokovica, na kreste zrjasci tja nas radi voznesena, ujazvljase svoe pecali oruziem serdce i dusu, i plakase rydajusci materski: toja molitvami pomiluj nas. (Oktoich [Anm. 20], Bd. 2, 248). Vgl. auch das griechische Original in Paraklêtikê (Anm. 30), 274, nach welchem sich die deutsche Übersetzung hier richtet.
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Kirchengeschichte
Diese genuine biblische Verbindung von derpecal' der Gottesmutter mit dem Kreuzesleiden Christi - nicht nur hier unter biblischem Rückbezug auf das „Schwert", das die Seele Marias durchdringt (vgl. Lk 2,35 ρομφαία - oruzié) - bleibt auch für das Verständnis der jüngeren russisch-orthodoxen Gottesmutterikonen konstitutiv, zu welchen die Gottesmutter Utoli moja pecali zu zählen ist. Ansonsten könnte das Mißverständnis aufkommen, daß wir es bei der merklichen Zunahme von orthodoxen Gottesmutter-Passions-Andachtsbildern im Rußland des 18. Jh. (ich denke hier besonders an die Gottesmutter Achtyrskaja]) lediglich mit Einflüssen römisch-katholischer Frömmigkeit zu tun hätten. Nicht nur durch die um vieles ältere Existenz der Passions-Gottesmutter-Ikone im orthodoxen Bereich (Gottesmutter Strastnaja), sondern vor allem auch durch die entsprechenden gottesdienstlichen Texte (Stavrotheotokia und andere) ist biblisch-theologisch dieser Inhalt - selbst wenn es dafür gelegentlich keine äußerlichen ikonographischen Merkmale gibt - für das genuine Verständnis aller orthodoxen Gottesmutterikonen wesentlich. Wenn es dazu noch eines klassischen orthodoxen Belegs bedarf, so sei hier auf eines der Kontakien zum Großen Freitag (Karfreitag) von ROMANOS DEM MELODEN verwiesen, der die Theologie der Orthodoxie bis heute direkt und indirekt prägt, obwohl er bereits im 6. Jahrhundert, aus dem syrischen Emesa stammend, an der Hagia Sophia in Konstantinopel wirkte. Ich zitiere hier den 14. Ikos aus dem berühmten Κοντάκιον έτερον τη μεγάλη π α ρ α σ κ ε υ ή εις το πάθος του Κυρίου καί εις τον θρήνον της Θεοτόκου, das dadurch seine Akrostichis του ταπεινού Ρωμανού zu den authentischen Werken des heiligen Meloden ROMANOS zählt und das aus der Perspektive des Gekreuzigten auf seine Mutter unter dem Kreuz schaut, wobei dieser sagt: Άπόθου οΰν, μητερ, την λύπην άπόθου, καί πορεύου εν χαρά· έγώ γάρ, δι' δ κατηλθον, ήδη σπεύδω έκτελέσαι την βουλήν του πέμψαντός με(...) Δραμουσα, ώ μητερ, άνάγγειλον πασιν ότι- ' Πάσχων πλήττει τον μισουντα τον 'Αδάμ καί νικήσας ερχεται ό υιός καί Θεός μου.' 47
47
Zitiert nach: ROMANOS LE MÉLODE, Hymnes, ed. JOSÉ GROSDIDIER DE MATONS, t. I V , (SC 128), Paris 1967, 180 (in der zitierten ersten Zeile ist in SC μύπην in λύπην zu verbessern).
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Daß auch die Gottesmutterikone Utoli moja pecali in dem angedeuteten universalen biblisch-theologischen Spannungsbogen von der Genesis bis zur Apokalypse gesehen und gedeutet werden muß, der weit über eindimensionale nichttheologische Deutungen der Marien-Christus-Ikonen als idyllischer Mutter-Kind-Beziehung hinausgeht und sich andererseits auch nicht auf eine konfessionell instrumentalisierte Mariologie reduzieren läßt, wird letztlich an dem biblischen Gotteswort auf dem Rotulus klar, den der Christus der Gottesmutter Utoli moja pecali aufgerollt emporhebt. Bei der Inschrift handelt es sich um die Worte des Herrn Zebaoth an den Propheten Sachaija. Damit ist das Zentrum auch dieser Gottesmutterikone die Gestalt des Immanuel, der menschgewordene Gott, eben Ό "ΩΝ (Ex 3,14; Ofïb 1,4; 4,8), wie sich JHWH selbst nennt 48 , der Herr Zebaoth, der sein Wort ergehen läßt: „Richtet recht und ein jeder erweise seinem Bruder Güte und Barmherzigkeit, und tut nicht Unrecht den Witwen, Waisen, Fremdlingen und Armen, und denke keiner gegen seinen Bruder etwas Arges in einem Herzen!" (Sach 7,9 f.)
Unter diesen Worten wird der eigentliche, im wörtlichen Sinne theologische Dreh- und Angelpunkt der Ikone Utoli moja pecali wie auch aller orthodoxen Gottesmutterikonen unmittelbar sichtbar. Die Beterinnen und Beter, Adam und Eva, stehen vor dem Herrn Zebaoth, dem gegenüber sie ungehorsam gewesen sind und dessen Rechtsordnung sie gestört haben. Von der Ikone hören sie die Worte ihres Schöpfergottes und sehen diesen in seiner menschenliebenden Herablassung in Jesus Christus, geboren aus der Jungfrau Maria. Dieser ist es wiederum, der als Pantokrator, als der Gerechte Richter jeden Menschen zur Verantwortung fordert. Eine Richtschnur fur das Bestehen im Gericht ist den Bußfertigen in dem Gotteswort aus dem Propheten Sachaija gegeben. Aus dieser Situation der Betenden heraus ist der Ruf um Hilfe im Gebet an die „zweite Eva", die Gottesmutter, zu verstehen, daß sie sich in Gebetsgemeinschaft mit der büßenden Menschheit bei ihrem Sohn und Gott für die endgültige Tilgung des Fluches über die Menschheit einsetzt.
48
In für unsere Betrachtungen wesentlichen Überlegungen hat R. STICHEL das Thema der schmerzlichen Geburt bzw. der schmerzlosen Geburt der Gottesmutter abgehandelt; vgl. von DEMS., Die Geburt Christi in der russischen Ikonenmalerei, Stuttgart 1990, 27 ff, wobei er - wenn ich recht sehe - die Gottesmutterikone Utoli moja pecali nicht in seine Überlegungen einbezieht, was angesichts der weiten Perspektive STICHELS fast überrascht. Ό "ΩΝ ist auch hier, wie üblich, in den Kreuzesnimbus Christi eingetragen (vgl. die Detail-Abbildung der Ikone auf Taf. 2).
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Kirchengeschichte Die Ikonengeschichte von der Heilung der namenlosen Frau aus dem
Volke ist nicht nur wichtig, um die Beliebtheit, die Verehrung und Verbreitung der Gottesmutterikone Utoli moja pecali und die Gründung von Kirchen zu Ehren dieser Ikone zu verstehen. Diese Geschichte von der Heilung der Gelähmten in Moskau im Januar 1760 ist vielmehr eines der vielen Wunderzeichen Gottes, die darauf hinweisen, daß die Menschheit nicht im Fluch, in Schmerzen und Ungerechtigkeit verloren ist, wenn sie sich in gläubiger Buße dem barmherzigen Gott und dessen Gerechtigkeit zuwendet. 4 9
49
Β. V. SAPUNOV hat in jüngerer Zeit einen interessanten Versuch unternommen, einige Sujets der russischen Ikonenmalerei, die typisch für die Zeit nach den russischen Reformen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. sind, mit Hilfe ihres sozialen Kontexts inhaltlich zu erläutern. In seinen Themenkreis hat er zu Recht auch die Gottesmutterikone Utoli moja pecali einbezogen. Vgl. Β. V. SAPUNOV, Nekotorye sjuzety russkoj ikonopisi i ich traktovka ν poreformennoe vremja, in: (Gos. Ermitaz) Kul'tura i iskusstvq Rossii XIX veka. Novye materialy i issledovanija. Sbornik statej ( naucnyj redaktor G. A. Princeva), Leningrad 1 9 8 5 , 1 4 1 - 1 4 9 (zu Utoli moja pecali·. 1 4 4 ) . Ich danke Enzpriester Prof. VLADIMIR IVANOV für den Hinweis auf diesen Artikel, der wesentliche Aspekte für ein Verständnis der Veränderungen in der russischen Ikonenmalerei zur Zeit der Stabilisierung der kapitalistischen Produktionsweise in Rußland bietet. SAPUNOV verzichtet seinerseits völlig auf eine theologische Interpretation der von ihm betrachteten Phänomene. Die Gottesmutterikone Utoli moja pecali wird lediglich mit einigen wenigen Zeilen bedacht, die nichts Neues aussagen. Unverständlich bleibt mir die Bemerkung SAPUNOVS, daß die Komposition der Ikone Vsech skorbjascich radoste der von Utoli moja pecali nahekomme. - Da die von SAPUNOV behandelten Ikonen dann länger als 70 Jahre auch unter sich stabilisierenden und destabilisierenden sozialistischen Produktionsbedingungen in Rußland hoch verehrt wurden, ist dies für mich ein Hinweis eben auf ein bemerkenswert stabiles biblisch-theologisches Fundament dieser relativ späten Ikonentypen in der russisch-orthodoxen Ikonenmalerei. In der obigen knappen Darstellung wollte ich für eine dieser Ikonen den vom Wandel ökonomischer Formationen unabhängigen und sogar kritischen theologischen Kosmos ansatzweise deutlich machen. (Erstmalig hatte ich das Thema der Gottesmutterikone Utoli moja pecali auf der kirchlichen Konferenz zum Millennium der Taufe Rußlands in Leningrad 1988 behandelt.)
Tafel 1 Ikone Utoli moja pecali („Tilge meine Schmerzen'), russisch, Ende 18./Anfang 19. Jh., Tempera auf Holz, Goldgrund, 44,5 χ 37,0 cm (Sammlung Theologische Fakultät Halle, Seminar für Konfessionskunde der Orthodoxen Kirchen, Inv.-Nr.: KOK 4) (Foto: Archiv KOK).
Tafel 2 Ikone Uioli moja pecali („Tilge meine Schmerzen"). Ausschnitt (Sammlung Theologische Fakultät Halle) (Foto: Archiv KOK).
.Tilge meine Schmerzen"
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Anhang Akathistos-Hymnos zu Ehren der Gottesmutter Utoli moja pecali Im folgenden biete ich den kirchenslavisch-russischen Text des zu der betrachteten Ikone gehörigen Akathistos-Hymnos samt einer eigenen, möglichst wörtlichen Übersetzung ins Deutsche. Da der kirchenslavische Text dieses Akafist sich in der heute verbreitetsten und zugänglichen Sammlung50 kirchenslavisch-russischer Akafist-Hymnen nicht befindet, ist es sinnvoll, hier sowohl den Originaltext wie auch die Übersetzung nebeneinander zu publizieren. Der kirchenslavische Text wird im Unterschied zur Vorlage in moderner, vereinfachter russischer Orthographie geboten. Ich habe auch die generelle Kleinschreibung des kirchenslavischen Originals im Deutschen beibehalten, um nicht subjektive geistliche Akzente in die Übersezung einzutragen (etwa durch Groß- oder Kleinschreibung der auf Christus oder die Gottesmutter bezogenen Personal- bzw. Relativpronomina). Auch Satzzeichen wurden meist nicht gemäß den modernen deutschen Regeln gebraucht, sondern entsprechend den damit markierten hymnisch-musikalischen Abschnitten im Original, außerdem an den Stellen, wo es sich für das Verständnis im Deutschen unbedingt erforderlich machte.51 Der originalen griechischen Form des Akathistos-Hymnos52 und den von dort abhängigen stabilen Strophenanfängen im slavischen Akafist entsprechend, habe ich in die deutsche Übersetzung wieder die alphabetische Akrostichis (unter Nichtberücksichtigung von X und Y) eingeführt. Dadurch sind gewisse Wortumstellungen an den Strophenanfängen im Vergleich mit dem slavischen Text bedingt, die sonst durchgehend vermieden wurden.
50 51
52
Es handelt sich dabei um: Akafistnik, Brüssel 2 1978. Diese Ausgabe ist 1992 (o. O.) als Nachdruck (2 Bände) in Rußland herausgegeben worden. Wie oben im Text bemerkt, dürfte der Hymnos bald nach dem Heilungswunder von 1760 verfaßt worden sein und ist 1862 zum ersten Mal im Druck erschienen. Ich halte mich - in Ermangelung von Handschriften bzw. der Erstausgabe - an den Nachdruck in: Sobranie akafistov s kanony, torn II: Akafisty Presvjatej Bogorodice. Moskva: Sinodal'naja tipografija, 1899, f. 99-112. Aus Raumgründen kann ich hier leider nicht die gesamte sluzba, den Akathistos eingeschlossen, bieten. Ich danke herzlich meinem Kollegen VASILIJ PUCKO (Kaluga), der mir diese Textausgabe der sluzba mit akafist auf Mikrofilm sandte. Zum Genre der Akathistos-Hymnen vgl.: Akathistos - Hymnen der Ostkirche (Anm. 8), (dort weitere Lit.).
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Akathist der allheiligen gottesgebärerin, ihrem ehrwürdigen bilde, der tilgung der schmerzen
KONDAKION 1 Für uns erkämpfte und wunderbare errettung ist geschenkt worden, dein bild ehrwürdig, hochgesegnete jungfrau gebieterin gotttesgebärerin: erlöst von schrecken durch seine erscheinung und zu ihm schauend, weihen dir dies siegeslied wir deine knechte, gottesgebärerin: weil unangreifbare macht in händen du hältst, befrei uns nun aus jeglicher gefahr, daß wir rufen zu dir: Freu dich, unsre freude, errett uns aus jeglichem schrecken, und tilge unsre schmerzen.
Ikos 1 Aller engel menge, und die ganzen himmlischen heere ehren dich, die königin aller die gottesgebärerin, du hast auch erfüllt mit freude unsre seelen durch erbarmende erscheinung fur uns deines bildes heilig, gotterwählte jungfrau gebieterin, und vor ihm kniend, senden wir dir bewegte bitten empor, angesichts deines barmherzigen eintretens für uns mit furcht so rufend: Freu dich, du des unanfänglichen vaters segen: freu dich, du des ewigen sohnes wohnung. Freu dich, du des heiligen geistes verweilen: freu dich, da dich die vieläugigen cherubim ehren. Freu dich, da dir lobgesänge darbringen die seraphim: freu dich, da dich alle himmlischen heerscharen erheben. Freu dich, da dich alle knie auf erden als mutter gottes bekennen: freu dich, da durch dich alle freuden der ganzen weit erfüllt werden. Freu dich, da durch dich all unsre krankheiten geheilt werden: freu dich, denn durch deine gebete werden unsre schmerzen beendet. Freu dich, denn durch deine furbitten werden alle unsre bitten erfüllt: freu dich, denn vor dir und deinem söhne auf deiner ehrwürdigen ikone fallen wir auf die knie. Freu dich, unsre freude, errett uns aus jeglichem schrecken, und tilge unsre schmerzen.
Kirchengeschichte
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KOH/JAK 2 ΒΗΑΛΤ ΤΛ, 6OROH36PAHHAH OTPOKOBHUE, Ben HEÖECHWH cHJibi NPEACTOAMY Bceraa npecTOJiy cjiaBbi He6ecHaro u a p « , H 3a xpHcrwaHbi κ cbiHy H 5 o r y Mojiíimyiocíi, HeöecHaa uapnue: Mbi x e rpeniHHH, Ha aeMjiH 3 p « m e TBOIO CBJiTyio HKOHy
Η Κ Heft n p n n a a a i o m e ,
Te6e paAOCTHO
noKjiaHaeMCH,
30Byme: AJIJIHJIYHA.
HKOC2 Pa3yM
noflaacflb HaM,
BceycepAHaa
npeAcraTCJibHHua
Haina,
HeöecHaii
uapnue: m y c T 5 o Hac CKBepHbix, KaKO ΜΟΙΙΙΗΟ π ε τ π TBoeMy HMCHH; «KO öjiarnx ecH HaM xoAaTanua, CHJibHa ecn BCNOMOMECRBOBARA BO BCÍIKOH H3MH TpeôyeMOH noMoiUH, fla Te6e co yMHjieHHeM 30BeM CHue: PaflyKcH, MOJiHTBbi o Hac κ CbiHy η 6ory BO yTemeHHe npraioc^ma«: paAyñCÍI, TBOHMH MO JIHTB3 M Η OHH HaUia OT BeMHarO pbWaHHÍI H36aBJ15HOmaa. PaAyftca, TBOHMH MaTepHHMH ΜΟ.ΠΗΤΒ3ΜΗ cbiHa Η 5 o r a Ha MHjiocTb κ HaM NPEKJIOHÍIIOLUAÍI: panyücíí, TBOHMH MOJIHTBAMH npaBeflHbiH Ha Hac raeB 6OJKHH yrojifliomaji. PaAynca, TBOHMH XOAATAFICTBBI rpexH Harna npomaiomaa: paÄyüc«, TBoeio ΠΟΜΟΙΙΧΗΙΟ crpacTH Harna HCTpe6ji$iiomaji. PaAyncii, TBOHM npeflCTaTejibCTBOM BpeMeHHa« Haina CKOPÖH pa3py maroma«: paayHca, Tbi BO BCHKHX öeaax H HyjKAax HaM noMoraioma«. PaAyiic«, ΤΗ cJiaBíimnx Bceraa npoanaBjiiHomaa: paayficH, TBoeio paaocTHio neiajiH Harna yranraiomafl. PaAyKcM, HenpecTaHHoe HaM Becejine noAaBaioma«: p a a y ñ c « , τ ω HaM pañcKHH ABepH OTBep3aroma«. PaAyficii, paAocre Haina, H35aBH Hac ο τ BC«Karo 3jia, η yTOJiH Haina nenajiH.
,Tilge meine Schmerzen"
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Kondakion 2 Blicken auf dich, gottauserwählte maid, alle himmlischen kräfte, die du stehst immer vor dem thron der ehre des himmlischen königs, und die du für die christen zum söhn und gott flehst, himmlische königin: wir sündige aber, die wir auf erden sehen deine heilige ikone und vor ihr niederfallen, knien freudig vor dir, rufend: Halleluja.
IKOS2 Christus eifrig für uns bittend, verstand gib uns, himmlische königin: denn wie sollte es von unsren unreinen lippen möglich sein zu singen deinem namen; bist du doch für uns fürbitterin der güter, mächtig bist du zu helfen in jeglicher von uns erbetenen hilfe, daß wir zu dir mit bewegung so rufen: Freu dich, die du gebete für uns zum söhn und gott zum tröste darbringst: freu dich, die du durch deine gebete unsre äugen vom ewigen weinen errettest. Freu dich, die du durch deine mütterlichen gebete den söhn und gott um erbarmen für uns aufknien bittest: freu dich, die du durch deine gebete den gerechten zorn gottes gegen uns beendest. Freu dich, die du durch deine furbitten unsre Sünden vergibst: freu dich, die du durch deine hilfe unsre leidenschaften tilgst. Freu dich, die du durch dein eintreten unsre zeitlichen kümmernisse zerstörst: freu dich, die du in allen drangsalen und nöten uns hilfst. Freu dich, die du welche dich verherrlichen immer herrlichmachst: freu dich, die du durch deine freude unsre schmerzen beendest. Freu dich, die du uns unvergängliche freude schenkst: freu dich, die du uns die paradiesespforten öffnest. Freu dich, unsre freude, errett uns aus jeglichem schrecken, und tilge unsre schmerzen.
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Kirchengeschichte KOHflAK 3
C u n a BbiiuHflro oceHH ΤΆ κ CKopoMy Η TeruioMy 3ACTYIUIEHNIO BCPHO npHTeKaioiHHX κ Te6e, η necrHOMy TBOCMy o6pa3y noKJiaHuiomHXCii, EFLHHOH 6 0 TOKMO Te6e HEMEHHOFT Η n p e i H c r e i i G o r o M a x e p H AANECA AAP
BcíiKoe ÔJiaroe Harne npoineHHe HCIIOJIH«TH, H eflHHa τ ω MoaceuiH HaM ΠΟΜΟΙΙΙΗ, ejiHKo xomeuiH: TCM BCÎIK B03pacr cjiaBocjioBHT cbiHa TBoero H 6ora Harnero, 30Bbiñ: AJIJIHJIYHA.
HKOC 3 HMeaiï
ôoraTCTBû
MnjiocepAH$i
HeocKyflHoe,
BceM
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aeMHbiM
npocTHpaeiiiH
pyKy n o M o m n , h noAaeiiiH 6oji«mwM HCuejieHHe, C T p a Ä f l y m b i M ocjiaôy, cJienbiM npo3peHne, H BCCM BC« no CBoeii HX noTpeôe HcnojiHseuiH: Mbi ace Te6e ÔJiaroaapHO CHue noeM: Paayftcji, eAHHa Mara MHjiocepAne HaM «BAiuomaa: paayHCH, MHJiocTH coKpoBHine MHoroueHHoe HaM OTKpbiBaromaa. P a A y ñ c í i , 5e3MHCJieHHbiH m e A p o T b i BceM n o A a ß a i o m a i i : paAyñcíi, cjioBo n p e M y A p o c r n n p o c s m b i M Aapyioma«.
PaAyiicH, npecneHHHe pa3yMa lOHbiM noAaßaioma«: paAyRcíi, paHbi Hauia rpexoBHbi» Hcrpeöraiomaii. P a A y ñ c j i , npaBeAHbix Β pañcKHX ceAeHHflx Haca^Aarama«: paAyñcíi, OTHaíiHHbiM óyAymnx ÔJiar HaAeacAO H yicpermeHHe. PaAyñcA, Bcex iiaAmnx cKopo κ ÔJiaroAaTH B03CTaBjifli0mafl: p a A y n c a , BceM BO BCÍIKOH T p e ô y e M o f i ο τ τεδε ΠΟΜΟΙΙΪΗ n o M o r a i o m a « . PaAyHCH, paAOCTe Hauia, H36aBH Hac ο τ BCHicaro 3jia, h yrojiH Haina nenajiH.
.Tilge meine Schmerzen"
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KONDAKION 3
Dich überschattete die kraft des höchsten zum schnellen und warmen eintreten für die, die treu fliehen zu dir, und vor deinem ehrwürdigen bilde knien, denn einzig dir unverwesliche und überreine gottesmutter wurde gegeben die gäbe jegliche gute bitte von uns zu erfüllen, und einzig du kannst uns helfen soviel du willst: daher sagt jegliches alter ehre deinem söhn und unsrem gott, rufend: Halleluja.
IKOS3
Empfangen hast du reichtum der barmherzigkeit unerschöpflich, allen enden der erde streckst du entgegen die hand der hilfe und schenkst den kranken heilung, den leidenden erleichterung, den blinden Sehkraft, und allen erfüllst du alles nach ihrem bedürfnis: wir aber singen dir dankbar so: Freu dich, einzige mutter, die barmherzigkeit du uns offenbarst: freu dich, des erbarmens Schatzkammer vielwert du uns öffnest. Freu dich, die du unzählige mildigkeiten allen schenkst: freu dich, die du das wort der Weisheit den bittenden gibst. Freu dich, die du fortschritt des Verstandes den jungen schenkst: freu dich, die du unsre sündenwunden tilgst. Freu dich, die du gerechte in paradieses Wohnungen pflanzest: freu dich, du der verzweifelten hoffnung auf künftige güter und befestigung. Freu dich, die du alle gefallenen schnell zur gnade aufrichtest: freu dich, die du allen in jeglicher von dir erbetenen hilfe hilfst. Freu dich, unsre freude, errett uns aus jeglichem schrecken, und tilge unsre schmerzen.
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Kirchengeschichte
KOHßAK 4 Eypeio uapHue,
ΜΗΟΓΗΧ 5ea c
Bepoio
OAEPACHMBIM HaM Bceraa npn6eraiombiM
κ
Te6e,
noMoraeiim, H
He6ecHan
noKjiaHaiombiMca
uejibóoHocHeñ TBoeñ HKOHÊ, eñ ace nepBormcaHHeîï ΗΗΟΓΑ3 pemia ecH: C CHM 0Ôpa30M ônaroAaTb mom H cuna, H Mbi HCTHHHO BepyeM, «KO nocjiyniaeuiH npomeHHÎI npH3bIBaiOUlHX HM51 CBHTOe TBOC, H CbIHy TBOeMy 30BymHX: AjuiHJiyHa.
MKOC 4 Cjibima rocnoAb TBOA Ha HeôecH o Hac xoAaTaftcTBa, B3ÖpaHHaa najiaTO ayxa CBflTaro, HcnojiHíieT TBOÍI npomeHHii, Mbi ace rpeuiHHH Ha 3eMjin, BHAEBIUE CBMTYIO TBOKJ mcoHy, »KO CBET03APH0E COJIHUE HAM CBERAMYIOCII, Te6e ΛΚΟ GoacHeiï Marepu Aep3aeM rjiarojiaTn: PaAyHCM, cojiHu,e MbicjieHHoe HaM iiBjiiirainas: pa Ay HCA, CBCTOM HeMepuaiomHM Hac npocsemaiomaa. Paflyñcíi, yMepiUBJieHHbix Hac rpexaMH oacHBjiaiomaa: paayficii, HenjioAHbiM MaTepeM jioacecHa pa3pemaiomafl. PaAyiica, HenaaHHo HaxoaainHX Ha Hac 3jibix BparoB CKopo nporoHsrama^: paayHCH, acejiaeMbix 6jiar Bceraa Hac, HacjiasKAaiomaíi. Paflyñcíi, cicopo Β 6eflax Η Β nenajiex Hac yxeniajomaa: paAyHCM, Bepora MMS TBoe nprabiBaiomux ο τ HeMaaHHbm cMepTH cnacaromas. PaAyñcíi, Ha τα ynoBaiombiM 6e3KOHeHHbiH XHBOT Aapyiomaa: pa Ay HC«, Bepy h JiioôoBb κ reöe HMyujHX κ HeßecH B03B0Aíima». PaAyfic», npeAcraTeAbCTBo Hame κρεπκοε: PAAYFICH, BO BCMKHX OÓCTOÍITE^BCTBAX Hac 3aLU,nmaiomaii. PaAyncfl, paAOCTe Harna, œôaBH Hac ο τ Bcíucaro 3Jia, H yrojiH Hania nenajiH.
.Tilge meine Schmerzen"
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KONDAKION4
Fluten vieler drangsale reißen uns hinweg, aber du hilfst uns immer, himmlische königin, mit glauben fliehen wir zu dir und knien vor deiner heilungbringenden ikone, über deren erstgemalte du einst gesagt hast: mit diesem bild ist meine gnade und kraft, und wir wahrhaft glauben, daß du erhörst die bitten derer, die deinen heiligen namen anrufen und zu deinem söhne rufen: Halleluja.
IKOS 4
Gott der herr, hörend im himmel deine fürbitten für uns, du auserwähltes gemach des heiligen geistes, erfüllt deine bitten, wir aber sündige auf erden, sehend deine heilige ikone, die wie eine lichtstrahlende sonne uns aufleuchtet, sagen mit freimut zu dir als der gottesmutter: Freu dich, die du als geistige sonne uns erscheinst: freu dich, die du mit nichtermattendem lichte uns erleuchtest. Freu dich, die du uns durch Sünden erstorbene belebst: freu dich, die du der unfruchtbaren mütter schoß entbindest. Freu dich, die du unverhofft uns angreifende schreckliche feinde bald vertreibst: freu dich, die du uns mit den gewünschten gütern immer erquickst. Freu dich, die du schnell in drangsalen und schmerzen uns tröstest: freu dich, die du in glauben den namen dein anrufende von unverhofftem tode rettest. Freu dich, die du auf dich hoffenden unendliches leben gibst: freu dich, die du glauben und liebe zu dir habende zum himmel emporführst. Freu dich, unser beistand kräftig: freu dich, die du in allen umständen uns verteidigst. Freu dich, unsre freude, errett uns aus jeglichem schrecken, und tilge unsre schmerzen.
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Kirchengeschichte KOHflAK 5
BororeHHyio
3Be3fly, necTHyio
TBOK) HKOHY Tbl
HAM NOKA3AJIA ecH,
BjiaÄbiMMue MHpa, κ He H ace Mbi 3p« me H Bepoio cepAenHoio MOJiíimecíi τεδε, öoropoflHue,
rjiarojieM:
Tbl
ecH
HaM
IUHT
HenoßeflHMbift
H
creHa
HeoôopHMaa, BonmombiM TH: AjuiHjiyna.
MKOC 5 Baaema
cwbi
HeôecHbiH Ha pyKy TBoeio co3aaBiiiaro CBOHMS PYKAMA
MejioBeKH H Bjiaflbucy pa3yMeßaiome ero: Mbi « e rpeniHHH Ha aeMjiH 3p«me H3o6paaceHHyio Te6e npenHcryio MaTepb ero, JH06e3H0 CBOH pyue κ HAM npocTHpaiomyio, κ reôe yMHjibHo 3OBCM: Paflyitoi, Ha pyKy TBoeio orHb ôoacecTBeHHbifi HeonajibHO aepacama«, HMace rpexH Hama nonajiiHOTCs: paayñcíi, Ha pyKy TBoeio cBeTa HenpHKOCHOBeHHaro HocHBiiia«, HMace ayuiH Hama npoceemaioTca. PaAyftcH, BparoB HauiHx ΒΗΑΗΜΜΧ H HEBHAHMBIX noôexmaiomaJi: paAyíica, AKJÓOBb h MHAOcepAne κ HaM HBJiJHOiua». Paflyñcíi, pyue ΤΒΟΗ Β nopyneHne o Hac κ 6 o r y npHHOcfliuasi: paAyHcH, BxoA Β uapcTBHe HeöecHoe HaM OTBep3aK>maa. PaAyñcíi, TBoeio noMommo Hac 3aiUHiuaioiuafl: paAyñca, TBOHM xoAaTaHCTBOM rpexH Hauia npomaiomaa. PaAyñcíi, TBOHM MOACHHCM nenajiH Haina y m r a i o m a f l : paAyHC«, «KO TBOHM npeAcrraTejibCTBOM BCAKHX ÖJiar HacjiaataaeMC*. PaAyncii, ΛΚΟ T060K) BCÍI BO ÖAarax xejiaHHíi Haina ΗΟΠΟΑΗΛΙΟΤΟΙ. PaAyficii, paAocre Haina, H36aBH Hac ο τ Bcaicaro 3Aa, H y TOA Η Haina nenaAH.
.Tilge meine Schmerzen"
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KONDAKION 5
Hellen zu gott laufenden stern, deine ehrwürdige ikone hast du uns gezeigt, gebieterin der weit, zu welcher wir immer schauen und mit herzlichem glauben flehen zu dir, gottesgebärerin, und sagen: du bist uns unbesieglicher schild und unüberwindliche mauer, denen, die zu dir rufen: Halleluja.
IKOS5
In den händen dein erblickten die himmlischen kräfte den, der mit seinen händen die menschen schuf und als gebieter verstanden sie ihn: wir aber sündige auf erden sehen dargestellt dich seine überreine mutter, die liebevoll ihre hände zu uns ausstreckt, zu dir rufen wir bewegt: Freu dich, die du in deiner hand das göttliche feuer unverbrannt hältst, durch welches unsre Sünden verbrannt werden: freu dich, die du auf deiner hand das unberührbare licht trägst, durch welches unsre seelen erleuchtet werden. Freu dich, die du unsre sichtbaren und unsichtbaren feinde besiegst: freu dich, die du liebe und barmherzigkeit für uns offenbarst. Freu dich, die du deine hände in treuhänderschaft für uns gott darbringst: freu dich, die du den eingang zum königreich der himmel uns öffnest. Freu dich, die durch deine hilfe uns verteidigst: freu dich, die du durch deine furbitte unsre Sünden vergiebst. Freu dich, die du durch dein flehen unsre schmerzen beendest: freu dich, da wir durch dein eintreten mit allen gütem erquickt werden. Freu dich, da durch dich alle unsre wünsche zum guten erfüllt werden. Freu dich, unsre freude, errett uns aus jeglichem schrecken, und tilge unsre schmerzen.
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Kirchengeschichte KOHFLAK 6
riponOBeAHHUbl
ÓOrOHOCHHH
anOCTOJIH,
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B03HeceHHH
rOCnOÄHH,
nptf
OCBIIMEHHH xpaMa TBoero HCBHAHMOIO pyKoio H3o6paaceHHbiH mapoBHbiMH ΠΟΛΟ6ΗΗ H a c r e H e 0 6 p e n n e o 6 p a 3 TBOH, B j i a f l b i H H u e , POACAEHHOMY ο τ
Te6e
5 o r y Bocnema: AJIJIHJIYHA.
MKOC 6 Bo3CHiijia
ecH
6oroH36paHHaH
npeMyApocrwo OTpoKOBHue,
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HCTHHHaro
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coAHua
HCTHHHaro
npaBAii,
6oropa3yMH»
HcnymaKDinH, TCMH ocBemaeiiiH Bcex Be poro HcnoBeaaiomHX TA HcranHyro MaTepb ÖOJKHK) ÔbITH, ΒΟΠΗΙΟΠίΗΧ CHUe: PaAyncfl, Bcex Ha HeôecH cJiaBoio TBoero n p o c ß e m a r o m a a : paflyñcíi, Hanano MeJioBenecKaro cnaceHHH y c r p o í i í o m a H . PaAyHCH, KOBMeace jkh3HM Harnea, ο τ n o T o n a C M e p r a a r o Hac COXPAHFLKJMHÍI: paflyncfl, Β paücKHX ceneHHSX >KHTH HaM Aapyiomaa. PaAyücH, npeACTaTeAbHHua Haina κ 6 o r y , MHP c n a c a r o m a a : paAyücH, Β öeAax c y m n x cKopo 3 a c r y n a i o m a f l . PaAyücii, BC«KHH 6OAC3HH HCAOBCHCCKHH TejiecHbi« Η AYMEBHTIA HCUEJIAIOMAFL: paAynca, HeMbiM Η ΚΟΟΗΟΣΠΜΗΗΜΜ cAOBeca OTBep3aroii;aîi. P a A y ñ c H , BCHKaro ÖAara n p o c a m . b i M y τ ε δ ε noAaTejibHHue: p a A y f t c j i , y n e H H e 6Α3ΓΟΑ3ΤΜ BCÊM H C T O M a i o m a a . P a A y H C H , T e M BCHKHH MHH H B 0 3 p a c T A O B O A b H o y c A a a c A a i o m a » :
paAyñcH, Bcex ônarasi
îKeAaHHii HcnoAHiHomna«.
PaAyfioi, paAOcre Harna, n36aBH Hac ΟΤ Bcaicaro 3jia, H yTOA H Haina nenajiH.
.Tilge meine Schmerzen"
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KONDAKION 6
Jeder der apostel, gottbringende künder nach der auffahrt des herrn, bei der weihe deiner kirche fanden sie durch unsichtbare hand dargestellt in gemalter ähnlichkeit an der wand dein bild, gebieterin, und den von dir geborenen gott besangen sie: Halleluja.
IKOS6 Klar und hell strahltest du auf in Weisheit von der wahren sonne der gerechtigkeit, gotterwählte maid, und strahlen der wahren gotteserkenntnis ließest du ausgehen, durch welche du mit licht erfüllst alle, die mit glauben bekennen, daß wahre mutter gottes du bist, und die so singen: Freu dich, die du alle im himmel mit deiner ehre erleuchtest: freu dich, die du den anfang der menschlichen errettung erbautest. Freu dich, du arche unsres lebens, die vor tödlicher sintflut bewahrt: freu dich, die in paradieseswohnungen zu leben uns gewährt. Freu dich, unsre fiirbitterin bei gott, die die weit rettet: freu dich, die du für die in drangsalen seienden schnell eintrittst. Freu dich, die du alle krankheiten der menschen, körperliche und geistliche, heilst: freu dich, die du stummen und stotternden den mund zur rede öffnest. Freu dich, du jeglichen gutes für die dich bittenden geberin: freu dich, die du lehre der gnade allen aufquellen läßt. Freu dich, die du so jeglichen rang und jegliches alter zureichend labst: freu dich, die du aller gute wünsche erfüllst. Freu dich, unsre freude, errett uns aus jeglichem schrecken, und tilge unsre schmerzen.
Kirchengeschichte
142
KOHFLAK 7
XoTfl flojiroTepne^HBbifî BceBHAeu rocnoflb HBHTH CBoero HejioBeKOJHOÖHJi H mezipoT 6e3flHy, H36pa Te6e ce6e Β MaTepb, MHJIOCTH HeHcnepnaeMbift HCTOHHHHe, ΆΆ ame κτο npaeeAHbiM cyAOM (XMKHHM ocyameHmi AOCTOHH, TBOHM BCeMOmHbIM XOA3T3HCTBOM COXPAHEH ÖYFLET, H CbIHy T B o e M y Η 6ory HarneMy BejierjiacHO 30Ber: Ajimuiyasf.
MKOC 7
/],HBHa noKa3aJi ecH Aejia TBOH Β npenycreñ MaTepH TBoeft, rocnoAH, Η AHBHy AapoBaji ecH HaM e s nKOHy, nane Jiyneft cojiHenHbix n p o c B e m a i o m y jnoAeft, 5IKO caMyio 3paiHHx ô o r o p o A H u y , H Bepoio c e p A e n H o i o ο τ AyuiH JIIOÔOBHIO ΒΟΠΗΙΟΙΙΙΗΧ Τ3ΚΟΒ35Π
PaAyitoi,
HKOHY TBOHD
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pacnpocrHpaiomaíi:
paayHCfl, TOIO nane HaaeflHHfl MHJiocepAoe κ HaM 3acryiuieHHe «Bjiíiiomaíi.
PaAyñcJi, TBoeio
HKOHOIO HCTOMHHKH
nyAec BciOAy Hcronaioinaa:
PAAYHCA, «BJIEHHEM TBOCJI MCOHM BC« JIIOAH n p o c B e m a i o m a « .
PaAyñcíi,
TOIO HOBOE 3HAMCHHE ÔJIAROAATH Β UCPKBH «BAÌHOII»«:
paAyñcíi, «KO Ha HKOHy ΤΒΟΙΟ B3 H parome, CAMOÑ Te6e, HCTHHHCH
óoropoAHue, noKiiaHMeMca. PAAYHCA, HKOHOK) TBoeio «KO CTOJTIIOM ΟΠΚΗΗΜΜ MpaK rpexa OTROHIIRAMAA:
paflyííc«, TOIO nenajiH Haina yTOJiajomaa. PaAyPica, uepKOBb ocBflTHBiuafl TOH SBJieHneM:
paAyñcíi, ΛΚΟ Mbi rpeuiHHH coxpaHneMCJi TBOHM 3acTyiineHHeM. PaAyHC», BpeTHine CKOPÖH Harnea pacrep3aiomaíi: paAyñca, BeHHOK) paAOCTuio Hac OAeBaioinaji. PaAyñca, paAOcre H a i n a , M3ÔaBn Hac ο τ Bcaicaro 3jia, H ymriH Hania nenajiH.
.Tilge meine Schmerzen"
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KONDAKION 7
Langmütig wollte der allessehende, der herr, offenbaren seine menschenliebe und der mildigkeiten abgrund, so erwählte er dich sich zur mutter, du des erbarmens unausschöpfliche quelle, daß wenn einer durch das gerechte gericht gottes der Verurteilung würdig ist, er durch dein allmächtiges eintreten bewahrt werde, und zu deinem söhn und unsrem gott mit lauter stimme ruft: Halleluja.
IKOS7
Makellos wunderbar deine werke erwiesen hast du in deiner überreinen mutter, herr, und gegeben hast du uns ihre wunderbare ikone, die mehr als die strahlen der sonne erleuchtet die menschen, so daß sie die gottesgebärerin selbst sehen, und mit herzlichem glauben von ganzer seele mit liebe so rufen: Freu dich, die du deine ikone auf erden wie die wölke über alle breitest: freu dich, die du durch jene über hoffen barmherziges eintreten für uns offenbarst. Freu dich, die durch deine ikone quellen der wunder überall aufquellen läßt: freu dich, die du durch erscheinen deiner ikone alle menschen erleuchtest. Freu dich, die durch jene neues zeichen der gnade in der kirche offenbarst: freu dich, daß die zu deiner ikone aufschauenden, vor dir selbst, der wahren gottesgebärerin, knien. Freu dich, die du durch deine ikone wie durch die feurige säule die finsternis der sünde vertreibst: freu dich, die du durch jene unsre schmerzen beendest. Freu dich, die du heiligtest die kirche durch deren erscheinen: freu dich, da wir sündige bewahrt werden durch dein eintreten. Freu dich, die du das gewand unsrer kümmernis zerreißt: freu dich, die du mit ewiger freude uns kleidest. Freu dich, unsre freude, errett uns aus jeglichem schrecken, und tilge unsre schmerzen.
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Kirchengeschichte KOHFLAK 8
CrpaHHy H npecjiaBHy Β uepKBH HBJibiuyiocíi, CBSTYIO TBOIO HKOHY arrejiH Bocnema, anocro;ra npocjiaBHina, JIHK CBimrrejiefl notoioHHUiac«: Mbi ace rpeniHHH npHnaAaiome oxHAaeM TBOEA Β&ΙΙΗΚΗΑ H 6ORATBW MHJIOCTH, C BecejmeM Bonwiome: Ajuinjiyna.
HKOC 8
BceMH BblLLlHHMH Η HH3KHHMH BJlaAbIHeCTByilH IOCnOAb, BHAeB ΤΛ MaTepb CBOK) Bcerfla NPEACTOAMY EMY H CO YMHJIEHNEM eMy npHHOcamy MOJieHHe O Hac rpeuiHbix, oôema HCIIOJIHHTH BCH npomeHHa ΤΒΟΛ: Mbi ace rpeuiHHH HafleíicH Ha TBOJI MaTepHHji O Hac ΜΟΛΗΤΒΜ, ÔJiaroAapcTBeHHa» Te6e npHHOCHM CHUe: Paaynca, c cbiHOM TBOHM H 6 Ο Γ Ο Μ BCHHO uapcrByiomafl: paAyitoi, eMy ace Bceraa o Hac MOJICHHA npHHOCíimaa. Paayfica, Bcex, κ Te5e npHÔeraiomHx, TBoera MHJIOCTHIO noKpbißaiomaji: paAyücji, Bcex paAocre, nena™ Haina yTOJiíiiomaa. PaAyñcH, npHMHpeHHe Harne c 5 Ο Γ Ο Μ coae^aBuiaa: paayftcii, 6ora Η nejiOBeica coeAHHHBiuaíi. PaayHcii, cnaceHHe HenoBenecicoe ycrpoMBiua»: paAyñcfl, npapoflHTejibHaro rpexa murray pa3pymHBiuan. PaAyñcíi, cMepTHoe Harne ecrecTBo 6e3CMepTHeM npocBeTHBUiaa: paAyñcji, acecTOKocTb cepua Harnero yMHJinBinaa. PaAyñcíi, OTMaaHHbix κ 6ory B03B0A«ma«: paAyñca, cocyAbi CMeprabia Ha Hac yroTOBaHHbM coKpyniHBniaíi. PaAyñcfl, paAocTe Harna, H36aBH Hac ο τ Bcaicaro 3Jia, H yTOJiH Haina nenajiH.
.Tilge meine Schmerzen"
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KONDAKION 8
Nie zuvor geschaute, fremde und überherrliche in der kirche erschienene heilige ikone dein die engel besangen, die apostel verherrlichten, der chor der heiligen bischöfe in Verehrung kniete: wir sündige aber niederfallend erwarten dein gewaltiges und reiches erbarmen, mit freude singend: Halleluja.
IKOS8 Oberer und unterer all gebieter, der herr, er sah dich, seine mutter, immer vor ihm stehend und mit bewegung ihm darbringend das flehen für uns sündige, und er verhieß zu erfüllen alle deine bitten: wir sündige aber hoffend auf deine mütterlichen gebete für uns, bringen dir das siegeslied so dar: Freu dich, die du mit deinem söhn und gott ewig herrschst: freu dich, die du ihm immer für uns das flehen darbringst. Freu dich, die du alle, die zu dir fliehen, mit deinem erbarmen schirmst: freu dich, aller freude, die du unsre schmerzen tilgst. Freu dich, die du unsre Versöhnung mit gott mitwirkst: freu dich, die du gott und mensch vereinigtest. Freu dich, die du errettung der menschen erbautest: freu dich, die du der urelterlichen Sünde fluch zerstörtest. Freu dich, die du unsre sterbliche natur durch Unsterblichkeit erleuchtetest: freu dich, die du unsres herzens härtigkeit rührtest. Freu dich, die du verzweifelte zu gott hinaufführst: freu dich, die du des todes gefäße für uns bereitet zerschmettertest. Freu dich, unsre freude, errett uns aus jeglichem schrecken, und tilge unsre schmerzen.
146
Kirchengeschichte KOHAAK 9
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.Tilge meine Schmerzen"
147
KONDAKION9 Prangende natur der engel insgemein lobgesänge bringt dir dar, der gottesmutter und fürbitterin aller, die niederfallen vor dir und erbitten deine hilfe, daß du mit deinem festen und kräftigen eintreten die gerechten erfreust, für die sündigen bittest, und von drangsalen errettest, und die schmerzen tilgst, und betest für alle, die mit glauben rufen: Halleluja.
IKOS9 Quälen sich vieltönende redner, wie sprachlose fische, ohn vermögen zu preisen den ruhmvollen, gottesgebärerin, festtag deiner ikone, noch sind die von unsren unreinen lippen dir dargebrachten lobgesänge würdig, doch die unzählbaren Wohltaten, durch deine ikone uns offenbart, sehend, mit seele und herz uns freuend sagen wir zu dir: Freu dich, die du unsren hunger mit brot des lebens nährend stillst: freu dich, die du von Verderbnis des sterbens durch Unsterblichkeit uns erhältst. Freu dich, die du vor sündiger erschütterung bewahrst: freu dich, die du aus tödlicher sintflut durch deine kräftige hand uns errettest. Freu dich, die du aus dem feuer durch den tau deiner gebete uns hinaufreißt: freu dich, die du von den drangsalen durch deine starke fürbitte uns verteidigst. Freu dich, die du vor dem schwert durch deine stärke uns bewahrst: freu dich, die du vor dem angriff der fremdstämmigen uns rettest. Freu dich, die du von bruderzwist durch wahren frieden uns abzäunst: freu dich, die du von tödlicher wunde die zu dir fliehen heilst. Freu dich, die du von der drückenden gerechten bedrohung gottes durch dein flehen uns befreist: freu dich, die du jegliche schwäre uns durch deine verehrte fürbitte hinwegnimmst. Freu dich, unsre freude, errett uns aus jeglichem schrecken, und tilge unsre schmerzen.
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Kirchengeschichte K O H f l A K 10
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.Tilge meine Schmerzen"
149
K o n d a k i o n 10 Retten will das menschengeschlecht von der täuschung des feindes der menschenliebende, der herr, dich seine mutter gab er den irdischen zur hilfe, sagend: menschensöhne, diese meine mutter sei schütz und Zuflucht euch, den schmerzerfüllten tröstung, den leidtragenden freude, der niedergedrückten furbitterin, daß sie alle aus der tiefe der sünde herraufluhre, die rufen: Halleluja.
IKOS 10 So fleht für uns immer die himmlische königin, himmlischer könig, nimm an einen jeglichen menschen, der dich preist und anruft deinen namen, wo geschieht gedächtnis deinem heiligen namen, nimm an, die mich verherrlichen um deines namens willen, und nicht verstoße sie von deinem antlitz, sondern sei ihnen wohlgefällig, und nimm an von ihnen jegliches flehen und von allen drangsalen errette sie: wir, die sündigen aber, die wir hoffen auf deine mütterlichen gebete, rufen zu dir so: Freu dich, da du unsre beterin zu gott warmherzig bist: freu dich, da dein mütterliches gebet viel vermag, du den gebieter rührst. Freu dich, der verzweifelten hofthung, die du ihre schmerzen tilgst: freu dich, die du durch deine gnade unsre unwürdigkeit erhellst. Freu dich, die du unsren schmutz durch deine reinheit reinigst: freu dich, die du unser flehen durch deinen wohlgeruch besserst. Freu dich, die du unser irdisches verweslich in unverweslichkeit wendest: freu dich, die du unsre ohnmacht zur feste wandelst. Freu dich, die du all unsre krankheiten, seelische und körperliche heilst: freu dich, die du auf uns fallende wölke der leidenschaften, kümmernisse und schmerzen schnell auseinandertreibst. Freu dich, die du durch deine kräftige bitte alles nützliche gibst. Freu dich, unsre freude, errett uns aus jeglichem schrecken, und tilge unsre schmerzen.
150
Kirchengeschichte
KOHflAK11 RIEHHE BceyMHjieHHoe ΠΡΗΗΜΗ OT Hac, He6ecHaa u,apHu,e, Η ΜΟΛΗΤΒΥ npHHocHMyio Te6e, fleBo ôoropoflHue, ycjibiiiiH: κ Te6e 6o Β Hanacrex, CKopôex η rienanex npHÖeraeM, η npefl τοδοιο β 6eflax Haiiinx cJie3bi npojiHBaeM, H MOJIHM, ymriH Haina nenajiH, H ΠΡΗΗΜΗ CHK) acepTBy TBOHX paôoB, 30Bymnx: AjuimiyHa.
MKOC 11
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Paflyítcíi, MaTH cBeTa HCTHHHaro, ÔJiaroMecTHBbix Ayiiibi npocBemaiomaa: paayHcfl, MaTH Bcex Gora, 03jio6jieHHbix Bcex Ayuibi yTemaramaa. PaAyftca, τ» Ha noMOinb nprabiBaioiHHX, h ΗΜΛ TBoe cjiaBJimHX cnacaiomaa: paflyHCH, ynoBaiombiM Ha TA acHBOTa HenocrbiAHbiH KOHeu aapyioma». PaayHCJi, BCÊM POAOM, TÍI Marepb ÖOMCHIO noHHTaiombiM H ôoropoAHuy
HMeHyiombiM, HenpecTaHHO noMoraroinaa: paflyBc», oceHeHHeM CBÍITMÍI TBOCH HKOHM, 3jibix AyxoB MeHTaHHJi o t Hac nporoHiHoman. Paflytica, BO BHe3anHbix Ha Hac Haxoaamnx CKopôex H nenajiex CKopo Hac yremaromas: paayñcíi, BceMy MHpy paAocTb aapyioma«. Paayiicii, paaocrre Hauia, H36aBH Hac o t BCiiKaro 3jia, H yTOJM Hama nenajiH.
.Tilge meine Schmerzen"
151
KONDAKION 11 T ö n e und lied allerbärmlich nimm an von uns, himmlische königin, und das gebet, das dargebracht wird dir, jungfrau gottesgebärerin, erhöre: denn zu dir in anfechtungen, kümmernissen und schmerzen fliehen wir, und vor dir in unsren drangsalen vergießen wir tränen und flehen, tilge unsre schmerzen, und nimm an dieses opfer deiner knechte, die rufen: Halleluja.
IKOS11
Uns erschienst du, lichtempfangende leuchte des wahren lichtes der seienden auf erden und du erleuchtest die seelen der die erscheinung deiner ikone verehrenden, und zum göttlichen verstände leitest du, die dir so singen: Freu dich, nichtverlöschende leuchte des nichtstofflichen feuers, die du uns erleuchtest: freu dich, morgenglanz des nichtuntergehenden lichtes des göttlichen, die du uns beglänzt. Freu dich, sonne der gerechtigkeit, die du uns überstrahlst: freu dich, quelle paradiesischen lebens, die du uns quillst. Freu dich, mutter des wahren lichtes, die du der frommen seelen erleuchtest: freu dich, mutter des gottes aller, die du aller verbitterten seelen tröstest. Freu dich, die du um hilfe dich anrufende, und deinen namen ehrende rettest: freu dich, die du auf dich hoffenden ein schandloses lebensende gibst. Freu dich, die du allen geschlechtern, die dich als gottesmutter verehren und gottesgebärerin nennen unaufhörlich hilfst: freu dich, die du durch den schatten deiner heiligen ikone, der bösen geister truggebilde von uns vertreibst. Freu dich, die du in uns plötzlich treffenden kümmernissen und schmerzen schnell uns tröstest: freu dich, die du der ganzen weit freude gibst. Freu dich, unsre freude, errett uns aus jeglichem schrecken, und tilge unsre schmerzen.
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Kirchengeschichte ΚΟΗΑΑΚ12
BjiaroAaTb 6cmecTBeHHyio HcnpocH HaM y He6ecHaro BjiaAbucH cbma TBoero h 5ora, h npocTpn HaM pyxy πομοιιι,η, η μολμτβημη tbohmh j t o j i h Haina nenajiH, noKpbifi Hac kpobom Kpmiy TBoeio, otjkchh οτ Hac Bciwcaro, Bpara h cynocraTa, yMHpn Hamy >KH3Hb, Aa He noraÔHeM jnore: ho πρηημη Hac β BeHHbm KpoBbi, ποκpoBHTejibHHije Haina, fla paayiomeca Te6e 3obcm: AjiJiHJiyHa.
MKOC 12 rioiome τΆ flepjKaBHyro noMOiHHHuy, xb3jihm τλ, η mojmmeca Te6e co yMHjieHHeM, BepyeM η HcnoBeAyeM, hko HcnpocHUiH ÖJiara» η BpeMeHHa« η BeMHaa BocneBaraiubiM τη: PaayHCíi, μ οa HTBa m η tbohmh Beet, mhp cnacaiomaíi: pa Ay fica, bck) BcejieHHyK) xoAaTa hctbom tbohm 3acrrynaK)ma«. PaAyñcíi, npaBocjiaBHbiM uapeM Ha Bapeapbi noôeAbi noAaeaiomaa: paAyiícíi, HamecTBH^ Ha xpncTHaHbi HHomieMeHHbix noóesmaiomaíi. PaAyftcii, β Bepe ÖAaroHecTMBbia coxpaHíHomaa: paAyücíi, HenoMHTaiomMX ηκοημ TBoea cBJiTbia, «ko npax οτ Anua 3cmah pa3BeBaK)iuaH. PaAyficii, noKJiaHiirambiMc« HKOHe TBoeft, η t a Ha noMoiub npH3biBaioiHbiM, η β nenajiex óeACTByiombiM cKopo noMoraiomaa: paAyftca, Hac rpeiiiHbix κο cnaceHHio η βοοπρηήτηιο 6Aar BenHbix HaciaBAíiramaa. PaAyñcH, 5e3KOHeHHaro uapcrBH« y cbma TBoero h 6ora Harnero bccm HaM HcnpomaKamas: paAyñcfl, BepHbiM 6e3K0HeHHyi0 acH3Hb Aapyiomaji. PaAyncH, BceM bo bcakoh ποτρεδε bch noJie3Haa η ÔAaraa noAaeaiomaji.
.Tilge meine Schmerzen"
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K o n d a k i o n 12 Verlange göttliche gnade für uns beim himmlischen gebieter, deinem söhn und gott, und streck aus für uns die hand der hilfe, und durch deine gebete tilge unsre schmerzen, bedeck uns mit dem schütze deines flügels, halt ab von uns jeglichen feind und Widersacher, befriede unser leben, damit wir nicht vergehen schändlich: sondern nimm uns unter ewigen schütz, du unsre beschützerin, damit wir uns freuend zu dir rufen: Halleluja.
IKOS 12 Wundermächtiger helferin dir singen wir und loben dich, und flehend zu dir mit bewegung, glauben und bekennen wir, daß du erbittest die güter zeitlich und ewiglich denen, die dir singen: Freu dich, die du durch deine gebete die ganze weit rettest: freu dich, die du für den ganzen erdkreis durch deine fürbitte eintrittst. Freu dich, die du den rechtgläubigen königen siege über barbaren schenkst: freu dich, die du angriffe der fremdstämmigen gegen die christen besiegst. Freu dich, die du im glauben die frommen bewahrst: freu dich, die du nichtverehrende deiner heiligen ikone, wie staub vom antlitz der erde verwehen läßt. Freu dich, die du den vor deiner ikone knienden, und dich um hilfe herbeirufenden, und den in schmerzen notleidenden schnell hilfst: freu dich, die du uns sündige zu rettung und empfang der ewigen güter leitest. Freu dich, die du das nichtendende königreich bei deinem söhn und unsrem gott allen uns erbittest: freu dich, die du den gläubigen nichtendendes leben schenkst. Freu dich, die du allen für jeglich bedürfnis alles nützliche und gute schenkst. Freu dich, unsre freude, errett uns aus jeglichem schrecken, und tilge unsre schmerzen.
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Kirchengeschichte K O H f l A K 13
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,Tilge meine Schmerzen"
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KONDAKION 13
Zu dir von allen besungene mutter, himmlische königin und gebieterin jungfrau gottesgebärerin, die geboren hat das für alle heiligen heiligste wort, zu dir, die annimmt unsre gäbe nun, wir flehen: tilge unsre schmerzen, und errett uns von allen anfechtungen, drangsalen, kümmernissen und ewiger Verurteilung, und von künftiger strafe befrei, und würdige uns deine knechte in ewigen paradieses Wohnungen sich niederzulassen, die rufen: Halleluja. (dreimal).
Das Collegium Pastorale
A U G U S T H E R M A N N FRANCKES 1 7 1 3 1
Erhard Peschke, Halle/Saale
I. Historisch-kritische Einführung 1. D i e Pastoral-theologischen V o r l e s u n g e n Α. H. FRANCKES
Im zweiten Band meiner Studien zur Theologie AUGUST HERMANN FRANCKES, 1966, 4. Teil, § 2, bin ich auf seine Darstellung der theologischen Fachgebiete eingegangen, nicht nur auf die Mannigfaltigkeit seiner Vorlesungen und Übungen, sondern auch auf die Ausrichtung des gesamten theologischen Studiums auf die Praxis, sowohl auf die kirchliche Praxis als auch auf die praktische Frömmigkeit. In diesem Zusammenhang habe ich seine Pastoral-theologischen Vorlesungen in ihrer speziellen Eigenart nicht ausdrücklich gewürdigt.2 Meine Zurückhaltung war vor allem dadurch bedingt, daß mir damals die Vorlesungsverzeichnisse dieser Zeit fehlten und infolgedessen ein vollständiger Überblick über die Lehrtätigkeit FRANKEs nicht möglich war. 3 Zudem hat FRANCKE selbst sowohl in seinen 1706/7 gehaltenen Vorlesungen zur Methode des Theologiestudiums als auch in seiner Idea 1712 das Schwergewicht auf das Bibelstudium und die Exegese gelegt. In der Methodus-Vorlesung wird die „Theologia Casuística" zwar als Teilbereich der „Theologia Acroamatica" erwähnt, steht aber nicht im Vordergrund seiner Ausführungen.4 Auf meine Anregung hin hat sich F. DE BOOR den paränetischen Vorlesungen FRANCKES zugewandt.5 Bei seinen Forschungen stieß er auf eine fast vollständige Sammlung der Vorlesungskataloge fur die Zeit von 1694-1768 und stellte dabei fest, daß FRANCHE neben den paränetischen Vorlesungen eine Zeit lang auch pastoraltheologische Vorlesungen gehalten hat.6 Im Anschluß an DE BOOR hat dann M. SPENN 1983 in seiner Diplomarbeit das im Druck vorliegende Collegium Pastorale Α. H FRANCKEs aus dem Jahre 1713 untersucht und ist dabei einleitend kurz auf FRANCKES pastoraltheologische Vorlesungen insgesamt eingegangen.7
158
Kirchengeschichte
Aus dem von D E B O O R vorgelegten Material erfahren wir, wann sich F R A N C K E mit Pastoral-theologischen Vorlesungen beschäftigt hat. Zum ersten Mal wird ein Collegium Pastorale in dem speziellen Vorlesungskatalog der Theologischen Fakultät Halle im August 1709 genannt. Es folgen mit wechselnder Überschrift von 1710 bis 1716 folgende Ankündigungen Pastoraltheologischer Vorlesungen: Collegium Pastorale (SS 1710, WS 1710, SS 1715); Collegium Casuale (SS 1711); Lectiones Casuisticae (WS 1711); Praelectiones Casuisticae (SS 1712); Theologia Casuística (WS 1712); Pastorales lectiones (WS 1715, SS 1716); Collegium ministeriale (SS 1714, WS 1714).8 Diese Ankündigungen betreffen Vorlesungen, die demnächst gehalten werden sollten. Die Anzeige ist also noch kein Beweis dafür, daß sie tatsächlich gehalten worden sind. Aus den weiteren Untersuchungen S P E N N S ergibt sich, daß die pastoral-theologischen Vorlesungen im SS 1710, SS 1711, SS 1714 und im SS 1715 sicher gehalten wurden, die Vorlesung im WS 1711 offenbar ausgefallen ist, für das WS 1713 keine Anzeige vorliegt und daß sich aus den Ankündigungen der anderen Semester keine sicheren Schlüsse ziehen lassen.9 Überliefert sind uns zwei pastoral-theologische Vorlesungen, die „Aphorismi Pastorales ex epistola Pauli ad Titum", die 1710 10 gehalten wurden, und das Collegium Pastorale aus dem Jahre 1713 11 , das posthum 1741/43 von F R A N C K E S Sohn G.A. F R A N C K E herausgegeben worden ist (CPHI/II).
2.
Das Pastorale Evangelicum
JOHANN LUDWIG HARTMANNS
(ΗΡΕ)
Der thematische Aufbau des Collegium Pastorale A. H. F R A N C K E S schließt sich eng an das Pastorale Evangelicum J. L . H A R T M A N N S an. J O H A N N L U D W I G H A R T M A N N wurde 1640 in Rothenburg o. d. Tauber geboren. Hier war er auch, mit Ausnahme seines Theologiestudiums in Wittenberg, bis zu seinem Tode 1680 als Pfarrer und Superintendent tätig. Außer dem Pastorale Evangelicum hat er mehrere praktisch-theologische Schriften veröffentlicht. Er war mit S P E N E R befreundet und stand seit 1669 mit ihm in brieflichem Verkehr. 12 S P E N E R hat die bei den jährlichen Pfarrsynoden in Rothenburg gehaltenen und zunächst einzeln im Druck erschienenen Pastoraldisputationen H A R T M A N N S nicht nur in seinen Briefen und in seiner „Pia Desideria" lobend
D a s Collegium Pastorale AUGUST HERMANN FRANCKES 1713
159
gewürdigt, sondern auch tatkräftig ihren zusammenfassenden Druck gefördert. 13 Über Anliegen und Anfänge des Pastorale Evangelicum von HARTMANN werden wir des näheren durch das Collegium Pastorale FRANCKES informiert. Danach hat HARTMANN das darin vorgetragene Material nicht zweckbestimmt zu einem Buch oder System zusammengestellt, sondern es geschah „nach und nach, nach der Gelegenheit, die er hatte, sich zu gewissen Zeiten mit denen unter sich habenden Predigern zu besprechen"14. FRANCKE nennt diese Zusammenkünfte „Synodal-Convente" und betont, daß die von HARTMANN gegebenen Erinnerungen „wie das gantze Buch, aus einem wahrhaftigen animo pastorali und cura episcopali geflossen sind"15. Das Werk HARTMANNS, das in lateinischer Sprache verfaßt ist, wird durch eine Praefatio isagogica eingeleitet und durch ein Additamentum beschlossen. Die vier Bücher des Werkes sind jeweils in Kapitel aufgeteilt, jedes Kapitel besteht aus einzelnen Paragraphen. Das 1. Buch umfaßt 16, das 2. Buch 9, das 3. Buch 70 (bzw. 63, s. u.), das 4. Buch 11 Kapitel. Das Pastorale Evangelicum HARTMANNS erschien in Nürnberg in zwei unterschiedlichen Ausgaben, die erste 1678, die zweite 1697, also nach dem Tode HARTMANNS. Die zweite Ausgabe trägt auf dem Titelblatt unter dem Namen HARTMANNS den Vermerk: „Ex MSS. B. Autoris posthumo multis in locis auctum". Ferner enthält diese zweite Ausgabe im Anschluß an die unverändert übernommene Praefatio isagogica eine Nova Praefatio mit der Unterzeichnung: „Editor & Typographus WolfFgang. Mauritius Endter, Bibliop.". In diesem zweiten Vorwort teilt der Herausgeber mit, daß von der ersten Ausgabe des Werkes kein Exemplar mehr vorhanden sei und HARTMANN bereits die Edition einer zweiten Ausgabe vorbereitet habe. Die Erben HARTMANNS hätten ihm aus dem Nachlaß dessen Manuskripte übergeben und ihm alleine das Jus edendi übertragen.16 Der Unterschied beider Ausgaben besteht vor allem darin, daß das Buch III in ΗΡΕ 1678 63 Kapitel, in ΗΡΕ 1697 70 Kapitel enthält. Die Zählung ändert sich vom 18. Kapitel an um eines, da hier in ΗΡΕ 1697 ein zusätzliches eingeschoben wurde. Außerdem sind die Kapitel 58, 59 und 61-64 der ΗΡΕ 1697 in ΗΡΕ 1678 nicht enthalten.17 FRANCKE äußert sich in seinem Collegium Pastorale mehrfach zustimmend zu den Ausführungen HARTMANNS 18 , mahnt aber auch zu ihrer vorsichtigen Wertung.19
160
Kirchengeschichte
3. Das Collegium Pastorale A. H. FRANCKES 1713
Das Collegium Pastorale ist nicht von Α. H. FRANCKE, sondern von seinem Sohn GOTTHILF AUGUST FRANCKE herausgegeben worden. Aus dem Vorwort zum ersten Band ist zu entnehmen, daß diese Vorlesung im Jahre 1713 20 gehalten wurde. Die vorliegende Ausgabe besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil wurde 1741 gedruckt und enthält „nur die Hälfte". Der Rest sollte in einem zweiten Teil folgen, nachdem er auch „guten Theils zum Druck schon zubereitet" war. 2 1 Dieser zweite Teil erschien dann 1743, etwas später als zunächst erwartet. Bei der Herausgabe des CPH wurde der Text unverändert übernommen, „nur in die nöthige Ordnung gebracht", und ist „sonderlich nach den unterschiedenen Materien in gewisse observationes abgetheilet worden" 22 . Insgesamt wurde das Material in 131 Observationes aufgeteilt 23 . Der thematische Aufbau des Collegium Pastorale lehnt sich eng an ΗΡΕ 1697 an. Die in dieser Auflage hinzukommenden Kapitel werden in CPH aber nicht behandelt. Auch das 50. Kapitel des 3. Buches bleibt unerwähnt. Die Vorlesung CPH fuhrt nur bis einschließlich Buch III, Kapitel 67 von ΗΡΕ 1697. Die letzten Kapitel des 3. Buches (68-70) und Buch IV als ganzes werden von CPH nicht übernommen. 24 Die Edition ist, der Widmung G. A. FRANCKES zufolge, den ,^sämtlichen Herren Pastoribus der ersten Dioeces im Saal-Creyse " übergeben. In seiner Vorrede zu CPH I bemerkt G. A. FRANCKE, er sei seit einigen Jahren mit der Inspektion beauftragt. Auf seine Einladung fanden sich die seiner Inspektion anvertrauten Prediger „freywillig" ein und hielten wöchentlich eine Konferenz zur gemeinschaftlichen Erbauung und Ermunterung ab. Dieser Konferenz habe er das Collegium Pastorale seines Vaters zugrundegelegt, das einigen der Pfarrer noch aus ihren akademischen Jahren bekannt war. Es war das Anliegen der Edition, daß das Collegium Pastorale nicht nur zur Erbauung dieses Kreises, sondern darüber hinaus zur Erweckung möglichst vieler Pfarramtskandidaten und Prediger dienen möge. 25 Was die theologiegeschichtlichen Bindungen des Collegiums betrifft, so muß man die weithin bestimmende philippistische Lutherinterpretation der zeitgenössischen Orthodoxie beachten. FRANCKE zitiert zwar vielfach LUTHER, grenzt sich aber von den Kämpfen zwischen Gnesiolutheranern und Philippisten ab und läßt auch ein eigenwilliges Lutherverständnis erkennen. 26 Die das gesamte Collegium beherrschende Autorität ist SPENER, aus dessen Werken FRANCKE zahlreiche Texte übernommen hat. Daneben ist JOHANN ARNDT ZU nennen. Ferner verdienen insbesondere MARTIN CHEMNITZ,
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THEOPHIL GROSSGEBAUER, CHRISTIAN KORTHOLT, JOHANN SCHMID u n d
als Vertreter der Reformorthodoxie unsere Aufmerksamkeit. Die folgende Darstellung der Texte des Collegium Pastorale wurde in Kenntnis der Arbeit SPENNS, aber eigenständig und ohne Bezugnahme auf seine Auswahl und Wertung des Materials durchgeführt. Seine sorgfaltige Untersuchung wurde dadurch erschwert, daß ihr eine zeitgenössische Fragestellung zugrundegelegt wurde. Die Fragen nach einem „allgemeinen Priestertum" und nach einer „mündigen Gemeinde" mußten zu einem vorwiegend negativen Ergebnis führen. FRANCKE richtet sich im Collegium Pastorale an seine „Zuhörer". Die sachliche Einteilung mit den jeweiligen Überschriften des ausgewählten Gedankenmaterials in der Darstellung des Collegium Pastorale FRANCKES geht auf den Verfasser des vorliegenden Aufsatzes zurück. Er folgt dabei der Reihe der Observationen in Auswahl, Kurzfassung und freier Umschreibung des Francke-Textes. PAUL TARNOW
II. Das Collegium Pastorale A. H. FRANCKES 1713 in seinen Grundzügen pietas und veritas Bereits in der ersten Observation wird der Leser mit einer gestaltenden Grunderkenntnis des ganzen Werkes konfrontiert: Gottseligkeit und göttliche Wahrheit, pietas und veritas gehören zusammen. „In diesen Worten hat der selige Auetor mit gutem Bedacht sogleich die zwey Haupt-Stücke angeführet, worauf die gantze Tractation in seinem Buch abzielet. Er fordert nemlich von einem Ministro Ecclesiae erstlich pietatem, und zum andern veritatem, weil diese zwey Stücke, wie er saget, sororio nexu indiuulse cohaeriren."27
Solche Lehre Lutheri und seiner getreuen Nachfolger werde in den neueren Zeiten von vielen als irrig verworfen. HARTMANNS
affect
macht den Leser dann auch gleich eingangs darauf aufmerksam, daß in seiner praefatio isagogica calido pectore geschrieben habe. Man muß darauf weisen, damit FRANCKE
HARTMANN
„auf den Ernst und das Hertz des Auctoris acht gegeben und dahin gesehen werde, daß man mit eben demselben affect imbuirei, angethan und erfüllet werde"28. „In der gantzen Welt muß nichts vigilanter seyn als ein Lehrer; bey dem muß alles leben, was in
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Kirchengeschichte ihm ist. Er muß voll Geistes und göttlicher Kraft seyn; er muß gleichsam hundert, ja tausend Augen haben, und nichts versäumen, wodurch er dem Reiche GOttes einen Vortheil bringen, oder einen Schaden verhüten, und dem Reiche des Satans Abbruch thun kan. Da muß er attent, allart und wacker seyn, und sein Gemiith muß allezeit dahin vigiliren, daß er weiter komme und dem Reiche GOttes immer mehr gewinne."29
Zusammenkünfte der Lehrer Die Lehrer sollten untereinander zur gegenseitigen Förderung ihres Amtes erbauliche Zusammenkünfte abhalten und in ihren Konventen jeweils anfallende Fragen behandeln,30 „also, daß sie wöchentlich, oder, wenn es wöchentlich nicht seyn kan, alle zwo, drey, vier oder sechs Wochen zusammen kommen"31. Der Lehrstand muß in Gottes Wort gegründet und von Christus eingesetzt sein.32 „Elend, confusion, Unwissenheit und Greuel" würden folgen, „wenn gar kein ministerium ecclesiasticum wäre". 33 Fleiß und Arbeit Die Lehrer sollten sich frühzeitig an Fleiß und Arbeit gewöhnen.34 Die Faulheit im Amt beruht auf der langen Gewohnheit in akademischen Jahren. Wie einst auf der Universität wollen sie sich nun auch im Amt Feiertage machen oder Reisen erlauben und vernachlässigen ihr Amt. 35 „Wenn man rechten Nutzen schaffen will, so muß man den Kopf in die Arbeit stecken."36 Der Eid auf die symbolischen Bücher Man muß den Eid auf die symbolischen Bücher ablegen. 1. sowohl als öffentliches Bekenntnis zur Verteidigung gegen die Feinde unserer Kirche und ihrer Lehre als auch zum Unterrricht ihrer Glieder, 2. zur Klärung von Lehrstreitigkeiten und 3. um dadurch den Lehrern vorzuschreiben, wie sie zu lehren haben. 37 Damit legt man vor der Obrigkeit ein Bekenntnis ab, daß man den Inhalt dieser Bücher „für Wahrheit halte, welche mit der heiligen Schrift überein komme". Wenn man davon überzeugt ist, „so hat man sich auch kein Gewissen zu machen, darauf zu schweren"38. Exemplarischer Wandel der Lehrer Man sollte die Leute, die zu Lehrern bestellt werden, bereits gut kennen. Sie müßten „schon wahrhaftige Proben ihres Christenthums abgelegt" haben „und mit ihrem exemplarischen Wandel iederman documentiret haben, daß man nicht Ursach habe, an ihrem redlichen Grunde des Glaubens und der Liebe zu
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zweifeln"39. Ein Eid wäre also eigentlich gar nicht nötig. Aber bei dem heutigen Zustande der Kirche „ist es freylich kein Wunder, daß man diesen modum erwählet und sie einen Eyd schweren lässet"40. Die Gefahren einer unmittelbaren Berufung „Es kann nichts leichter geschehen, als daß Leute in Versuchung gerathen, und dasjenige, was ihnen einfällt, für einen immediatum instinctum diuinum halten".41 Man darf deshalb einerseits Gott nicht die Hände binden, muß aber andererseits alles nach der Schrift prüfen. 42 Man muß „die criteria einer wahren unmittelbaren vocation wohl bemercken"43. Mancher gerate im Eifer fur das Gute auf alle möglichen Einfälle. Erst später wird ihm bewußt, „wie viel menschliches darunter gewesen, und wie er weit besser gethan hätte, daß er solche immaturos motus genauer betrachtet hätte, und ihnen nicht sogleich gefolget wäre" 44 . Hier muß „vor allem Selbstbetrug" gewarnt werden. 45 Die Berufung zum Pfarramt Wer nicht in der Gewißheit lebt, daß er einen rechtmäßigen Beruf habe, wird niemals mit rechter Freudigkeit sein Amt verrichten.46 Wenn aber diese Gewißheit da ist, kann man sich in allen Dingen auf Gott verlassen.47 Die aufs Papier geschriebene vocation genügt nicht.48 Wenn zudem aus den Akten noch bekannt ist, wieviel einer für seine Pfarre bezahlt hat, haben die Leute kein Vertrauen zu ihm.49 Die Hauptfrage ist, ob der Berufene zu dem Amt tüchtig sei50. Dazu müsse man einmal beachten, was in der Schrift 1 Tim 3 und Tit 1, von Lehrern erfordert wird, ferner darauf sehen, was angesichts des gegenwärtigen Zustandes der Kirche nötig ist.51 Wenn zwei Leute zur Wahl gestellt würden, der eine auf der Universität gewesen wäre, der andere nicht studiert hätte, aber ein erfahrener Christ wäre, so könnte ein Magistratus oder Patronus diesen doch nicht zum Prediger nehmen, „die Gemeine würde ihn nicht dafür erkennen"52. Aus der Schrift oder „aus der Natur der Sache kan freylich die Nothwendigkeit nicht erwiesen werden, daß ein Lehrer ein litteratus seyn müsse"53. Es wäre aber schon gut, wenn alle Lehrer griechisch und hebräisch verstünden. Man kann sich jedoch schließlich auch aus lateinischen und deutschen Kommentaren Rat holen.54
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Erfordernisse fur das Lehramt FRANCKE nennt 11 Erfordernisse
für das Lehramt, w e n n ein Lehrer sowohl
den Vorschriften der Apostel als auch den gegenwärtigen Verhältnissen g e recht werden soll. „1) Ist nöthig, daß er wahrhaftig zu GOTT bekehret sey." „2) Er muß sich nicht erst vor kurtzer Zeit zu GOtt gewandt haben, sondern in den Wegen des HERRN ziemlich geübet seyn, und eine geistliche Erfahrung besitzen." 55 „3) Wird erfordert, vt etiam testimonio vitae purae et inculpatae sit omatus." 56 „4) Er muß so viel Gaben und Wissenschaft besitzen, als zu dem Amt, welches er bekommen soll, vonnöthen ist." 57 Er braucht nicht alle Gaben zu besitzen, die zur Erbauung der Kirche nützlich sind, es wäre aber gut, „wenn er in ein- und den andern Orientalischen oder Occidentalischen Sprachen was gethan hätte" 58 . „5) Es muß kein mercklicher defectus iudicii bey ihm seyn." 59 „6) Ist nöthig, daß ein brennender Eifer für GOttes Ehre, der aber mit wahrer Klugheit temperiret sey, sich bey demjenigen finde, der zum Lehr-Amt tüchtig seyn soll." 60 7) Man muß zwar aus der Geschichte wissen, wie es in den ersten Jahrhunderten der Kirche gewesen ist, muß aber ebenso erkennen, „wie es ietzo in der Kirche stehe. Denn das gantze Amt muß geführet werden nach dem gegenwärtigen statu Ecclesiae" 61 . „8) Wird erfordert, daß ein Candidatus Ministerii einen Hunger nach Seelen, oder eine Begierde habe, die Menschen CHristo zuzuführen." 62 „9) Ist nöthig, vt Progymnasmatibus sit exercitatus, qui ad ministerium est vocandus." Man muß vorher prüfen, ob er auch schon mit Seelen umgegangen ist. Hier sind arme Studenten glückselig, „weil ihre Armuth sie nöthiget zu informiren" 63 . „10) Aetatis et morum decenti auctoritate sit praeditus." 64 „11) Dicendi facúltate saltern mediocri poUeat."65 „Wenn also einer ins Lehr-Amt kommen soll, so muß er sehen, ob diese angeführten Stücke sich bey ihm finden." 66
Personen, die den Beruf erteilen M a n muß auch auf die Personen achten, die den Beruf erteilen. D a z u ist allerdings nicht der verpflichtet, der eine Vokation b e k o m m t . 6 7 N a c h der Schrift hat freilich die ganze Gemeine das jus vocandi. „Auf den Patronum kommt gemeiniglich die Wahl an; die gantze Gemeine aber wird praeteriret, und muß den zum Lehrer annehmen, der ihr gegeben wird, wenn er auch noch so schlimm wäre. Olim non erat sie." 68 „Da nun aber heutiges Tages ein confusus Ecclesiae status ist, so ist es oft besser, daß ein einiger Patronus einen Lehrer suchet und erwählet, als wenn viele vom rohen und wilden Volck sich einen Sölten ausmachen." 69
Vorgänge und Bedingungen anläßlich einer Berufung D i e Frage, ob man ohne rechtmäßigen Beruf ins Lehramt selbst eindringen dürfe, wird mit Bibelstellen und rationes widerlegt.
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Wenn jemand Bedenken hat, ein ihm angebotenes Lehramt anzunehmen, sollte man ihm diese Zweifel nicht ausreden, sondern ihn vielmehr in seiner Meinung bestärken. Er sollte nach seinem Gewissen handeln1®. Die Wahl durch das Los könnte man „in gewissen Umständen" geschehen lassen,71 sollte doch nicht dazu schreiten, „so lange noch andere ordentliche Mittel vorhanden sind"72. In der Frage, ob die Erwählung der Prediger zum weltlichen Regiment gehöre, folgt FRANCKE SPENER, der in seinen „Bedencken" gezeigt habe, „daß alle und iede Stände in der Christenheit an dem Recht, öffentliche Lehrer zu bestellen, Antheil haben"73. Gegen eine Berufung zum Predigtamt „auf gewisse Jahre" macht 74 FRANCKE Bedenken geltend . „Es können sich zwar gewisse Umstände finden", seine Tätigkeit auf eine gewisse Zeit zu begrenzen. „Aber das sind casus extraordinarii. Ordentlicher Weise soll es nicht so seyn."75
Ein Wechsel „pro lubitu" würde „der Gemeine keinesweges zum Besten gereichen"76. Wenn Kandidaten ihre Berufung an „einen gewissen Ort" determinieren, welche „ihre Dienste ihrem Vaterlande widmen wollen", so ist zu bedenken: „Wir sollen ja nicht servi patriae, sondern servi Iesu Christi seyn. Es kommen daraus hernach sehr viel böse effectus."77
Auch gegen den Versuch, sich bei Lebzeit eines alten Predigers eine Exspectanz auf dessen Pfarre bei Hofe auszubitten, sprechen viele Argumente, aus „welchem allen zu erkennen ist, daß solche Läufer kein gut Gewissen haben können"78. Falls einem nun bei seiner Vokation „was gesagt werden möchte von einem Weibe, das dabey solle genommen werden, es sey nun eine Bediente beym Edelmann, oder des verstorbenen Pfarrers Witwe, oder seine Tochter, oder was es ist: so harre er nur nicht mehr darauf, sondern spreche: Ich habe nichts damit zu thun. Dabey gehet er am allersichersten."79 Es kann gewiß bei einer Vokation „gantz menschlich zugegangen seyn", niemand sollte sich aber selbst „durch Schmeicheley, Betteln, Geld und auf andere dergleichen Weise ins Lehr-Amt eindringen"80. „Spener pflegte zu sagen: Wenn er allein darin zu disponiren hätte, so würde er keinen annehmen, der um eine Vocation anhielte; die aber nicht darum anhielten, die würde er hervor suchen: denn das wären gemeiniglich die tüchtigsten."81
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Bei der Frage, ob „man die Stelle eines, der unbillig abgesetzet ist, mit gutem Gewissen annehmen könne", müssen alle Umstände dabei wohl erwogen werden. Falls „der Magistrat, oder andere dergleichen Personen, an seiner remotion schuld wären", könnte die Gemeinde auf zwiefache Art gestraft werden, „erstlich damit, daß ihr der vorige Lehrer unbilliger Weise vom Magistrat genommen worden; sodann dadurch, daß sie keinen andern rechtschaffenen Mann wieder bekommen könte"82. Wenn der abgesetzte Pfarrer aber bereits eine andere Stelle gefunden hat „und die Sache also völlig aus ist", sollten alle Bedenken ausgeräumt sein.83 Von der Ordination „Das ius ordinandi gehöret allerdings der gantzen Kirche; die exsecutio iuris aber geschiehet nur von denenjenigen, die dazu bestellet sind." Das wird schon dadurch erforderlich, daß ein Consistorium „einige hundert oder tausend Meilen" entfernt ist 84 oder „eine solche entfernte Evangelische Gemeine unter der Botmässigkeit der dortigen Obrigkeit stünde, oder von derselben dependirte: da wäre es allerdings um guter Ordnung willen nöthig, daß dieselbe vorher befraget würde." 85 „Fundamentum ordinationis habetur in praxi Apostolorum et Ecclesiae primitiuae." „Hiebey aber ist zu gedencken", daß die heutige Ordination nicht in allen Dingen mit der Praxis der Apostel überein kommt86. „Man sehe nur zu, daß man fidem, simplicitatem et virtutem Apostolicam dabey habe; so hat man auch das fundamentum Apostolorum dabey."87
Von der Investitur Von der Ordination ist die Investitur zu unterscheiden, da sie „erst in den saeculis obscurioribus aufkommen sey, und das Interesse Papatus, weil sie was einbringet, dazu Gelegenheit gegeben habe". Man könnte sie noch eher als die Ordination entbehren, kann sie aber beibehalten, wenn sie zum Zweck der Ausbreitung des Reiches Gottes Anwendung findet.88 Die Gradus unter den Predigern Was die unterschiedlichen Gradus unter den Predigern betrifft, so muß man die Sache selbst von den äußeren Umständen und dem Mißbrauch dabei unterscheiden. „Die Sache selbst, nemlich die distinctio graduum ministerii, ist allerdings in GOttes Wort gegründet." Aber „die distinctiones, da man noch heutiges Tages Episcopates
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und Archiepiscopatus, Diaconatus und Archidiaconatus, und dergleichen antrifft, sind nicht in den alten Zeiten gewesen, sondern erst aufkommen, da mehr Hofiart und ambition eingerissen ist. Indessen aber muß man auch dabey wieder rem ipsam distinguiren ab abusu." 89 „Es darf sich keiner einen Scrupel machen dergleichen Amt anzunehmen, er sey nur nicht hoffärtig darin, sondern ... suche darunter GOttes Ehre zu befördern". „Indessen muß doch eine subalternation dabey seyn, weil ohne dieselbe eine äussere harmonie und Ordnung nicht wohl statt haben kan." 90
Oratio, meditatio, tentatio Wie in vielen anderen Schriften und Predigten FRANCKES wird dem Leser auch hier der hohe Wert der Bereiche oratio, meditatio und tentatio nahegelegt. 91 Bereits als Student sollte einem am Gebet am allermeisten gelegen sein,92 wenn einer dann im Lehramt steht, wird er erkennen, „daß am Gebet mehr gelegen sey, als an allen studiis"93. In der Meditation muß ihm deutlich werden, „wie man die dicta probantia bey Zeiten zu memoriren habe"94. Es ist wichtig, „daß man ein gutes Spruchbuch auswendig lerne und sich recht familiair mache"95. In diesem Zusammenhang wird auch noch einmal der hohe Wert der biblischen Lektüre96 eingeprägt. Zur biblisch-theologischen Vertiefung sollte „man sein compendium Theologicum sich recht bekant" 97 machen. Der exemplarische Wandel eines Lehrers Die meisten Prediger sind selbst schuld daran, daß das Predigtamt verachtet wird. 98 Ursache ist ihr übles Leben, „da sie nur auf das Ihre sehen, und nicht auf das, was JESU CHristi ist". 99 „Gaben mögen so groß seyn, wie sie wollen, wenn das Leben nicht rechter Art ist, so ist auch keine rechte Auetorität da." 100
Ein Lehrer muß in seinem Leben „ein Vorbild der Gläubigen" sein, 101 da er „auch für anderer Seelen Wohlfahrt zu sorgen hat". 102 Man muß an ihm erkennen, was ein Christ sei, 103 zudem: „Omnis affectatio est odiosa, vornehmlich bey Predigern."104 Wer im Lehramt allzusehr auf sein Recht pocht, schadet nur sich und seinem Amt. Er muß beugsam und bescheiden sein, bei „iniurien, die seine Person angehen", nicht empfindlich sein.105 Er muß seine Fehler eingestehen und sich bessern.106 Er muß sich damit abfinden, wenn man ihn verketzert, mit Namen wie „Rosencreutzer und Weigelianer" belegt. 107 Erst wenn einer die „Maalzeichen CHristi" trägt, „dann gehet der Segen erst recht an" 108 . Die Tatsache, daß rechtschaffene Lehrer nur eine Minorität sind, sollte man dazu anwenden, „daß man suche unter denen wenigen erfunden zu wer-
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den" 109 . Man sollte „sich Paulum und die übrigen Apostel zum Muster und zur Nachfolge vorstellen"110. Man muß die Episteln der Apostel immer wieder durchlesen „mit völliger adplication des Gemüths" und fein achtgeben „1) auf die Worte und auf die Sache, die darin lieget; 2) auf den adfectum, mit welchem die Scriptores sacri alles ausgesprochen haben; 3) auf die Liebe, die sie zu den Gemeinen gehabt; 4) auf den Glauben, der in ihnen gewesen; 5) auf alle die dona spiritualia, die sich bey ihnen befunden."111 Wie der Auetor muß auch ein Lehrer diese zwei requisita verbinden; „Das erste ist zelus gloriae diuinae\ das andere, eine rechte Ehrfurcht vor GOTT. "112 Ferner: Er darf nicht geizig sein, „er muß auch ausfliessen, ja gleichsam Ströme der Liebe, wenn es möglich wäre, auf alle Strassen ausfliessen lassen"113, „daß man müsse als ein offener Brunnen seyn"114.
Frau, Kinder und Dienstboten des Lehrers Wer zum ersten Mal ins Amt kommt, sollte sich hüten, „daß er nicht eine Person an die Seite bekomme, die nicht rechtschaffen zum lieben GOTT bekehret sey". Er darf nicht damit rechnen, daß er sie sich noch bekehren könne, „da sie durch die Erziehung der Kinder und andere Umstände daran verhindert wird" 115 . Ebenso wichtig ist es, daß ein Lehrer „seine Kinder gleich von ihrer ersten Kindheit an zu allem Guten anhalte und gewöhne" 116 . Wenn die Kinder trotzdem nicht recht gedeihen, darf ein solcher Mann nicht verachtet werden, „ob es wol sodann ein schweres Gericht über die Kinder ist", da „er mit allem seinem Predigen" das Ärgernis nicht wieder gut machen kann 117 . Wie bei der Wahl seines Weibes muß ein Lehrer auch darauf achten, daß er keinen Dienstboten in sein Haus nehme, der ärgerlich lebt, „wenn er gleich noch so herrlich arbeiten könte". Wenn dergleichen Dienstboten aber schon bei ihm sind, muß er sie ertragen und ermahnen. Falls aber „ihre Sünden in scandala ausbrechen; da muß er die Gemeine lieber haben, als solcher Leute Arbeit, und selbige aus seinem Hause fortschaffen" 118 . Die Kleidung und Lebensart eines Lehrers Was die Kleidung und Lebensgewohnheiten eines Lehrers betrifft, so sind sie durch die Jahre auf der Universität belastet. „Allein so fressen und saufen sie auf der Vniversität; oder wenn sie es auch so grob nicht machen, so verhalten sie sich doch also, daß sie tüchtiger wären, einen Hofmann, als einen Studiosum Theologiae zu agiren." „Solche Leute kommen hernach nach Hause, und verwandeln nur den bunten Habit in einen schwartzen: im übrigen aber
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bleiben sie in allen ihren moribus, wie sie gewesen, und damit kommen sie ins Lehr-Amt hinein." 119
So ist es, wenn die Reichen ihre Kinder zum Studium der Theologie anhalten. Sie werden ihr Geld und ihren Stand dann dazu verwenden, um so ein Amt zu bekommen und zu höheren Ehrenstellen zu gelangen.120 Nun gereicht es der Kirche zu keinem Schaden, daß mehrenteils bei uns nur armer Leute Kinder Theologie studieren.121 Arme Studenten sind viel glücklicher dran als die reichen, denn sie sind nicht nur gewohnt, Elend zu tragen, sondern auch viel eher zum Mitleid gegen andere zu bewegen. Die Zuhörer selbst haben zu solchen Lehrern mehr Vertrauen, die ihnen den Trost auf Grund eigener Erfahrung zuteil werden lassen.122 Es folgt aber daraus „dieses malum: Sie sind mehrentheils von schlechter education", haben „darnach manches unanständiges an sich" und bringen das dann später auch „mit in die öffentliche Aemter" 123 . Darauf muß man achtgeben, „als nöthig es ist, daß wir andern überhaupt alle Gelegenheit benehmen das mi ni steri um zu verachten, zu verspotten und zu verlästern". Hier muß man zu bessern suchen, andererseits auch beachten, „daß man keine Weltförmigkeit annehme" 124 .
Scherzworte und Verhalten auf Gastmahlen warnt vor leichtfertigen Redensarten, die so manchen Schaden anrichten können. 125 Sind sie heraus, gehen sie durch die ganze Gemeinde, und man sagt, es wäre das Sprichwort des Pfarrers gewesen. „Was hier und da, sonderlich in conuiuiis bey Kindtaufen, Hochzeiten und dergleichen Zusammenkünften gesprochen wird, das behalten sie besser, als was sie in der Predigt hören." 126 Ausfuhrlich wird behandelt, was ein Lehrer in Ansehung der Gastmahle zu bemerken hat. 127 So wurde einem Prediger verübelt, daß er zur Hochzeit ging, obwohl nicht lange zuvor seine Ehefrau gestorben war. Man darf sich auch nicht zu lange auf Gastmahlen aufhalten, sondern muß unter den Ersten sein, die aufstehen.128 FRANCKE
„In Summa, Gastmahle sind der gefahrlichste Ort mit für einen Lehrer." „So viel er kan davon bleiben, muß er es thun." 129
Der Prediger und die Vielfalt der Zuhörer Wer eine Predigt vorbereitet, sollte bei der Meditation über den Text „anfangs kein ander obiectum personale" haben „als sich selbst" 13 °. Wenn der Text dann bei ihm den von Gott gesetzten Zweck erreicht hat, „dann mag er seine Predigt machen"131.
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Eine Predigt muß so „auf die Zuhörer accommodiret seyn, wie der Schuh dem Fusse pfleget accommodiret zu werden" 132 . Man muß den Zustand der Zuhörer kennen, nicht predigen „nach der Kunst", sondern „als ein Haushalter GOttes", „daß man der Gemeine recht predige, wie es ihr Zustand erfordert" 133 . Man muß davon ausgehen, daß „der status ecclesiae so verderbt und elend ist" 134 . Dabei muß ein Lehrer zwischen den Gemütern unterscheiden. „Ein Kind will immer anders tractiret seyn, als das andere."135 Da genügt es nicht, Predigten zu halten und die Sakramente zu administrieren.136 „Wenn man seine Zuhörer recht wolle kennen lernen, so müsse man 1) keine Gelegenheit vorbey lassen, da man sich mit ihnen besprechen könne; 2) ihren Zustand von andern, denen sie bekanter sind, zu erfahren suchen; aber auch 3) nicht gleich einem ieden Gerücht glauben, sondern alles wohl prüfen."137
Der Prediger und die Katechisation Die Prediger müssen sich an der Katechisation beteiligen. „Wenn ihr Amt soll wohl von statten gehen, so müssen sie nicht allein Pfarrer, sondern auch Schulmeister mit seyn. " 1 3 8 Wenn ein Prediger an einen Ort kommt und findet dort eine Schule, darf er den Unterrricht nicht dem Schulmeister oder den Praeceptores der Schule allein überlassen, sondern er muß selbst am Examen teilnehmen. Solange man nicht Schulleute hat, die recht erweckt sind, richtet man nichts aus, „wo man nicht selbst Hand anleget"139. Wenn Studenten das „collegium theticum halten, so sollen sie dabey die publica examina catechetica besuchen ", sonst ist ihr Vortrag nicht recht faßlich und ohne Nutzen für das Volk. 140 Sie müssen bei der Katechisation auch darauf achten, „daß die Kinder von Jugend auf die Ordnung des Heyls wohl inne krigen" 141 . „Ein ieder solte suchen eine Übung im catechisiren zu bekommen", denn „es ist höchstnöthig, daß man lerne mit Kindern recht umgehen"142. Deshalb wäre der Katechismus geschrieben, „daß nemlich alle Hausväter sollen catechetae seyn", deshalb wäre auch „eine gedruckte Haus-Kirch-Ordnung heraus gegeben"143.
Wenn Eltern ihre Kinder zum Abendmahl schicken wollen, sollen sie es vorher anzeigen. „Wenn Kinder sollen zum heiligen Abendmahl praepariret werden, da hat ein Lehrer die beste Gelegenheit: er krigt sie in seinem gantzen Leben nicht wieder so unter die Hände" 144 . Da kann er „ihre zarte Hertzen" rühren, muß mit ihnen beten und sie zu formieren suchen145.
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Vom Zweck der Predigt Ein Pastor hat „in genere" dahin zu sehen, „daß er die Ehre GOttes befördere·, und in specie, daß er CHristum recht verherrliche ". „Denn wo einer ein rechter Knecht GOttes ist, da kan es nicht anders seyn, als daß er einen Hunger nach Seelen hat." 146
Mit einer gelehrten Predigt wird er dabei nichts ausrichten.147 Die Schrift selbst ist so reich an Materien, daß man im Gebet und in der Meditation bedenken sollte, was man auswähle und vortrage. 148 „Es muß ja dasjenige, was ein Prediger vorbringen will, gleichsam die quinta essentia, der rechte Saft und Kern seyn von demjenigen, was er in seiner lection und meditation gefunden hat." 149 Von Wiederholungen in den Predigten Wenn ein Lehrer in seinen Predigten bestimmte Dinge wiederholt, darf man ihm das nicht zum Vorwurf machen. Man hat ja auf nichts anderes zu sehen „als auf die Besserung und auf das wahre Heyl der anvertraueten Heerde"150. Wenn ein Lehrer seine Zuhörer in rechter Liebe gewinnen will, fragt er nicht danach, daß ihm jemand vorhält, das habe er ja schon einmal gehört, das seien Tautologien151. Von solchen wichtigen Tautologien sind allerdings solche zu unterscheiden, die „unnütze und leere Worte" sind, „tautologiae otiosae" 152 . Zum Extemporieren warnt die Studenten vor einem voreiligen Extemporieren zu Beginn ihrer Tätigkeit. „Sie werden Eitzschwätzer, die das hundertste ins tausende werfen und keine rechte Ordnung halten."153 Diese Warnung richtet sich nicht gegen Geübte mit Zeitmangel.154 FRANCKE betont dabei, daß er selbst sich die Texte stets mit Fleiß ansehe.155 FRANCKE
Über den Wert der Postillen Was die Benutzung von Postillen betrifft, so rät FRANCKE zur Vorsicht. „Wenn einer recht in den Hertzen seiner Zuhörer wohnet, mit ihnen fleissig umgehet", „so hat er Postillam perpetuami wie denn das meine Postilla perpetua ist in den Collegiis paraeneticis, daß ich priuatim mit Studiosis spreche" 156 .
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Die guten Postillen, ζ. B. SPENERS, soll man nicht verachten. Es ist aber bedauerlich, daß die meisten Postillen nichts taugen, in denen von Fischen oder Vögeln und anderen dergleichen „Qvackeleyen" die Rede ist. 157 FRANCKE gesteht, daß er oft und gern vor seiner Predigt erst eine Predigt SPENERS gelesen habe, nicht um daraus etwas zu entnehmen, „sondern damit ich mir nur denselben adfect vorstellen möchte, um also in derselben Lauterkeit zu predigen"158. Vom Aufschreiben der Predigten Gegen das Aufschreiben der Predigten macht FRANCKE erhebliche Bedenken geltend159. „Wenn einer immer darauf soll bedacht seyn, wo er ietzo in seinem concept sey und umwende, da ist es, als wenn er in den Karren gespannet wäre." Er kann dann „ein Sclave von seinen Worten und von seinem Gedächtnis seyn"160.
Zu Beginn ihrer amtlichen Tätigkeit sollten die Studenten ihre Predigten zwar aufschreiben. Dann aber diesen Brauch aufgeben.161 Ein „exemplum singulare" war zwar SPENER, „der bis ans Ende seine Predigten aufgeschrieben, und es fehlete ihm doch eben nicht an der parrhesie, sondern er war angenehm zu hören"162. Kritik an einer affektierten Ausgestaltung der Predigten „Gekünstelte exordia und términos scholasticos" sollte man nicht gebrauchen. Das ist „adfectirtes Zeug und so eine gewisse Leyer"; „man soll einfältiglich und schlecht GOttes Wort lehren"163. SCHMIDIUS habe auch angemerkt, „daß die Prediger nicht so viel Latein solten auf die Cantzel bringen"164. „Es ist dieses überhaupt sehr wohl zu mercken, daß die exegetische Abhandlung eines Textes in Predigten sehr zu unterscheiden sey von deijenigen Lehr-Art, welche in exegeticis collegiis auf Academien gewöhnlich ist. Denn jene muß allemal saftig und practisch seyn", „voller Kraft und Leben".165
Exempel und Historien „Heydnische Histörchen und solche Sachen, die nur mehr flosculi oratorii sind, als zur Erbauung dienen, soll man fahren lassen "166. Die Gleichnisse Christi können hier als rechte Beispiele hilfreich sein167. COMENIUS hat anläßlich einer Schiffsreise bei seiner Schiffspredigt von der Schiffahrt geredet und „alles aufs geistliche appliciret". Wenn einer auf dem Dorf oder in der Stadt von der Schiffahrt predigen wollte, so würde das ungereimt sein. Zudem: „Ein
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blosser orator hats mit dem ingenio zu thun; aber ein rechtschaffener Prediger hat es immerdar cum conscientia zu thun", „die Hertzen der Zuhörer müssen warm bey ihm werden". 168 Zur Kritik an Irrlehren Durch die Anfuhrung irriger Meinungen werden die Leute nur irre gemacht „und halten sie wol für wahr, weil sie der Prediger auf der Cantzel saget", zumal sie nicht immer aufmerksam zuhören, die Meinungen durcheinanderbringen und falsche für wahr halten.169 So hatte z.B. einer auf der Universität „acht opiniones nacheinander" rezensiert, dann aber nur noch wenig Zeit übrig, seine eigene rechte Meinung zu sagen.170 Wenn wir uns nicht allein um die Erbauung der Zuhörer sorgen, sondern bei der homiletischen Kunst bleiben, so ist das nichts anders „als eine Marck-Schreyerey, da man seine Raritäten zu Marckte bringet"171. Bei der Widerlegung von Irrlehren sollte man bedenken, daß die Zuhörer der Predigten „größten Theils aus dem gemeinen Volck sind" und die Widerlegung eines Irrtums nicht recht zu fassen vermögen.172 Da ist Vorsicht nötig· 173 Vom Strafamt Was die Bestrafung betrifft, so meint FRANCKE, „daß es eine der wichtigsten Pflichten im Lehramt mit sey" 174 . Die correptio muß aber zur Ehre Gottes gereichen und die Besserung des Nächsten zur Folge haben. 175 Man sollte sich zuerst zu Gott im Gebet wenden, dann ohne Fehler zu machen, in drei Graden vorgehen, zuerst in einem privaten Gespräch, zuletzt indem die Sache ans Konsistorium gelangt.176 Es genügt nicht, daß ein Lehrer fromm ist, er muß auch Weisheit haben, allerdings muß das eine Weisheit von Gott sein. Es darf keine weltliche ratio sein, daß er „den Mantel nach dem Winde hänget", damit ihm kein Schade erwächst. Es bleibt seine Pflicht zu sagen, wozu er „GOttes und Gewissens halben" verbunden ist. 177 In der ganzen diction des Lehrers muß Ernst und Gravität sein, wenn er straft. 178 So müssen rechtschaffene Lehrer „unerschrocken" „öffentliche Laster strafen" 179 . „Ein Lehrer muß alart, wacker und munter seyn, er muß sich immer excitiren, daß er frisch dran gehe" 180 . Man darf übrigens in der Predigt nicht immer nur didactice verfahren, sondern muß die Leute auch
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Kirchengeschichte „in secunda persona anreden und ihnen sagen: So und so müsset ihrs machen." „So schlägt es recht durch. Wenn aber einer nur immer in thesi bleibt", „hat das keinen Nachdruck".181
Bei der Behandlung von Vergehen ist Vorsicht am Platze. Man sollte „vorher eine privat-Erinnerung geben, ehe man zur öffentlichen Bestrafung schreitet" 182 . Falls man keinen Erfolg hat, „kan es etwa eher geschehen, daß man noch ein- und den andern rechtschaffenen Mann aus der Gemeine zu sich nimmt", zu welchen der Betroffene Vertrauen hat. 183 Damit soll aber der elenchus von der Kanzel nicht abgewiesen werden. „Denn suo loco ist er gut und nöthig; nur daß man in allen den Dingen Klugheit adhibire."184 „Es muß ein Lehrer dahin sehen, daß dieses nicht unter dem Volck eine Sage werde, man könne nichts anders thun als keifen." 185 Sein Hauptwerk muß allezeit bleiben, den Menschen den Frieden Christi zu verkündigen.186 Ein Lehrer darf es nicht beim bloßen Predigen und Strafen bewenden lassen, sondern muß auch die auditores gleichsam bei der Hand fassen und sie auf den rechten Weg fuhren. 187 Dabei muß man „in der Mittelstrasse bleiben" „zwischen zwey extremis einhergehen"189. Bei der Bestrafung von Sünden sollte ein Lehrer „weder zu viel, noch zu wenig thun " 190. Man muß die Dinge mit allem Ernst überprüfen, so z. B. den Kirchenschiaß91. „Solche Leute haben manchmal schwere Dienste: sie haben wol vorher die Nacht hindurch, oder zum wenigsten bis in die Nacht hinein arbeiten müssen. Wenn sie nun in der Predigt einschlafen, so ist es eben nicht ihr Wille gewesen, sondern der Schlaf überfället sie als ein Tyrann, und sie können sich nicht retten, also, daß, wenn Lehrer an ihrer Stelle wären, es ihnen selbst also gehen würde."192
Man sollte dergleichen Personen, auch solche, die während der Predigt plaudern19^, privatim zu sich kommen lassen und freundlich mit ihnen reden. 194 Wenn es aber dann doch zur Klage beim Konsistorium kommt, ist es so, daß solche denunciatio „dem Lehrer leicht allen Eingang verschliesset"195, „Das rechnet ihnen die gantze Nachbarschaft für einen Schimpf, und entstehet daraus Zorn und Bitterkeit. Zum andern geschichts auch nicht ohne Unkosten."196 Man sollte also zusehen, „daß man an das Consistorium ohne die allerhöchste Noth nicht gehe" 197 , und sich dann hüten, daß man die Leute „nicht gleich deß beschuldige, was man nur per famam gehöret hat"198.
Wenn man einen Missetäter nicht zur Umkehr bringen kann, sollte man ihn doch nicht der Obrigkeit übergeben, sonst wird er verhärtet oder aus dem Lande verwiesen. Man tut besser, wenn man seine Seele zu gewinnen
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sucht. 199 Man muß zusehen, daß man „nicht zu wenig, und nicht zu viel thue"200. Behutsamkeit ist auch bei der öffentlichen Kirchenbuße nötig. Wenn einer vom Abendmahl ausgeschlossen wird, denken die anderen alle, sie wären wahre Christen, „sässen GOtt längst im Schooß" 201 und wären mit Ausnahme dieses einzelnen alle „im Stande der Bekehrung"202. Angesichts des verderbten Zustandes der Kirche findet ein Lehrer heute kaum einige Leute, in deren Beisein er einige ermähnen könnte. Da sollte man Geduld haben. 203 Zum Trostamt des Predigers Daneben darf ein Prediger nicht sein Trostamt vernachlässiger?!04. Wenn es ihm gelingt, jemanden mit rechtem Affekt zurechtzubringen, sollte er es nicht auf andere Weise tun. „Wer weiß, ob er ihn nicht noch mehr in den Koth hinein stösset, wenn er dergestalt rauh über ihn herfahret." Er sollte ihm „paterno modo " zuredend FRANCKE berichtet, „daß ein junger Mensch und ein Weibs-Stück sich mit einander fleischlich vermischet, und dazu in solcher Schande eine ziemliche Zeit mit einander gelebet hatten. Die Sache wurde ruchtbar, und es muste officii gratia davon mit ihnen gesprochen werden"206.
Francke hat auf Härte verzichtet und mit ihnen geredet, so daß sie zur Bekehrung kamen und dann geheiratet haben. Durch einen Brief habe sich der Mann tausendmal bedankt, daß er mit ihm wie der Vater mit dem verlorenen Sohn umgegangen wäre. 207 Nun müsse man allerdings die Umstände beachten und kann es nicht „blindhin imitiren"208. Zu anderer Zeit habe er „zuerst das rauhe hervor gekehrt", so daß sie erst „mürbe worden sind", dann habe er die „Larve weggethan" und sie mit Liebe zurechtgebracht. „Daß also manchmal beydes muß gebraucht werden."209 „Ein Lehrer soll nur Einen Zweck vor sich haben, daß er nemlich den Sünder möge zurechte bringen. Das mag er nun docendo, oder adhortando, oder consolando, oder per officium speciatim sie dictum epanorthoticum thun, das gilt ihm gleich, wenn er nur seinen Zweck erhält."210 „Ein Lehrer hat sein gantzes Amt dahin zu richten, ... daß derselbige Friede, den CHristus erworben, das Hertz seiner Zuhörer einnehme."211
Es wird aber einer nur des Trostes teilhaftig, wenn er sich der Ordnung der Buße unterwirft und sich bekehrt212. Wenn man vorzeitig Trost spendet, erstickt man das Kind gleichsam in der Geburt. 213 Man darf eine gute Bewegung, eine Rührung, noch nicht für eine Bekehrung halten, 214 darf nicht „geschwind mit seinem Tröste" zufahren. 215
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Zum Verhalten vor und nach der Predigt Vor und nach der Predigt muß man sich ins Gebet begeben, für sich und die Gemeinde beten. 216 Wenn in einer Kirche Collegen sind, die einander predigen hören, sollen sie sich ihre Fehler sagen lassen, damit sie sich bessern können. 217 Wenn einer sich dann auch mit den Zuhörern über die Lage in der Gemeinde unterhält, wird er den besten Einblick in ihre Verhältnisse bekommen. 218 „An einem fehlets insgemein in unserer Kirche, daß man nicht mit dem Gebet schliesset." Dadurch könnten die Gemüter nach der Predigt „auch zugleich in die application mit hinein gefuhret" werden. 219 Verhalten in den ersten Amtsjahren Zu Beginn seiner Amtszeit begeht man oft Fehler, die einem dann lange angerechnet werden. Man sollte deshalb des öftern ältere, erfahrene Amtsträger zu Rate ziehen,220 Wenn einer in jungen Jahren ins Amt kommt, sollte er nicht denken, daß er mit der Autorität des Amts die Herzen gewinnen könne. Wenn er sich mit Freundlichkeit den Weg in die Gemüter bahnt, erreicht er mehr, als wenn er auf einmal zufährt und die Hörer abschreckt.221 Man darf sich in der Bestrafung einerseits nicht übereilen?·22, andererseits darf man nicht vergessen, daß es um einen Prediger schlecht bestellt ist, wenn Weltkinder ihn loben, weil er „durch die Finger zu ihren Lastern sehe" 223 . Wenn ein Pfarrer mit seinen Patroni schonend umgeht, werden diese in dem Wahn bestärkt, daß er sie für bekehrte Leute halte. 224 Wenn er dagegen hart gegen sie auftritt, haben sie kein Vertrauen zu ihm. 225 Anfechtungen und Krankheiten Viele Leute werden mit tentationes geplagt, die von der Lektüre mancher Bücher herkommen, „die den articulum de iustificatione nicht recht lehren" und durch die sie in speculationes gebracht werden. Solche muß man auf Christus fuhren. 226 Zu einem Lehrer kommt gelegentlich ein Patient, der ihm seine geistliche Not klagt. „Ein solches malum ist gar öfters nur naturale, und der Patient kan das nicht unterscheiden."227 Hier kann ein Arzt dafür sorgen, daß er etwas verordnet, „daß dann die Kranckheit vorbey gehet; indem selbige oft vom dicken Geblüt herrühret". Ein Prediger muß dabei darauf achten, daß er nicht „von irdisch gesinneten Leuten verspottet werde" 228 .
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FRANCKE berichtet, ihm habe „ein Weib geklaget, sie habe ein Kind, das sey behext, und brachte die Merckmaale bey, daraus sie erkennete, daß das Kind behext wäre". Der konsultierte Medikus gab dem Kinde Arznei ein, „und die Ursache der Kranckheit war eben die vorige, nemlich vermes, davon der Medicus das Kind glücklich curi rte" 229 . FRANCKE verweist auf weitere Fälle, in denen „ concurriret ... manches mal officium Medici corporalis et spiritualis". Da sei Vorsicht geboten. 230
Zur Seligpreisung in Leichenpredigten FRANCKE übt Kritik an dem willkürlichen Umgang mit dem Begriff „selig". Man habe ihn deshalb am hiesigen Ort bei Ankündigungen fortgelassen.231 Entsprechend dem französischen Wort „feu" ist das Wort „selig" nun so zu gebrauchen, daß man daruter nur verstehen würde, daß einer gestorben • 232
„Noch wunderlicher aber ist es mit den Tituln: Wohlselig, hochselig etc." Gott wird sich nicht danach richten, „ob einer hier ein Edelmann, Graf, Fürst oder König gewesen; sondern er wird darnach gehen, wie weit einer CHristum hier erkannt hat, und ob er wahrhaftig zu ihm bekehrt gewesen ist" 233 . „Daß ein Mißbrauch darin sey, das ist einmal offenbar. Es ist aber manches in einem corrupto ecclesiae statu zu dulden, da man wol wünschen möchte, daß es besser eingerichtet würde." 234
Gebräuche bei der Taufe geht auf einige Gebräuche ein, die bei der Taufe zu beachten sind. So wurde die Ölsalbung in der Reformation abgeschafft, weil Aberglaube damit verbunden war. Wenn jedoch ein Kreuz über das Kind gemacht wird, so ist das ein Zeichen dafür, daß es auf den Kreuzestod Christi getauft wird. Es finden sich aber noch andere Gebräuche, die zu bedenken sind. So stand an einem Ort ein Glas mit Salz dabei. Wenn das nur ein ritus ist, kann man ihn passieren lassen, „so bald aber eine superstition dazu kommt, so ist die Sache unrecht" 235 . Wenn nur äußere Dinge geändert werden, die Leute aber „Schälcke in der Haut bleiben", sollten „sich Lehrer vor allen solchen Neuerungen in äusserlichen Gebräuchen hüten" 236 . Es kommt alles darauf an, daß die Leute „dem Worte GOttes in ihren Seelen Raum geben" 237. Bei der Taufe muß ein Prediger darauf achten, daß dem Kind kein Schaden zuteil wird. Insbesondere bei zarten Kindern und solchen, die nicht recht gesund sind, ist Vorsicht geboten. 238 Die Eltern sollten die Taufe nach der Geburt nicht zu lange verschieben, damit das Kind nicht vielleicht stirbt, ehe es die Taufe bekommt. Falls das aber eintritt, sollte der Lehrer unnötigen FRANCKE
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Skrupeln vorbeugen und den Eltern raten, auf Gott zu sehen.239 Wenn die Taufe einmal aufgeschoben wurde, „so pfleget doch das eigentlich kein contemtus, sondern nur ein neglectus zu seyn", bedingt durch eine menschliche infirmität.240 Falls Kinder nach der Taufe sterben, werden die Eltern „mit den Gedancken geplaget ..., ob sie auch selig wären". Aber auch darüber hätten sie sich keine Skrupel zu machen.241 Taufe nicht wiederholen Wenn ein Erwachsener bei Prüfung seines Gewissens merkt, daß er zur Zeit seiner Taufe ein Heuchler war, so ist trotz der damaligen Heuchelei die Taufe nicht ungültig geworden, weil trotz seiner Sünde der Bund auf Gottes Seiten festbleibt242. Durch wahre Buße muß dann die vorherige Sünde abgetan werden, damit einer in den Genuß der Güter kommt, „die ihm vorhin zwar offeriret, deren er aber in seinem damaligen Zustande nicht fähig gewesen ist" 243 . Umgang mit Gegnern der Kindertaufe Falls Leute dem Irrtum verfallen sind, daß die Kindertaufe in der Bibel keinen Grund habe, sollte man die Taufe nicht mit Gewalt vornehmen.244 Man sollte dann die Dinge nach Möglichkeit ohne Lärm „ in der Stille abthun " 245. Taufe von Kindern Gottloser Wenn gottlose Leute ihre Kinder taufen lassen wollen, sollte man sie nicht davon abhalten. Einem Lehrer bleibt doch dann die Gelegenheit, die Erziehung der Kinder mit zu besorgen.246 Taufe von unehelichen Kindern und Findlingen geht auch darauf ein, „daß diejenigen, die per abortum ans Tages Licht gekommen sind, imgleichen diejenigen, die unehelich geboren worden, gleichfalls getauft werden müssen"247. Der Segen der Kinder beruht nicht nur darauf, daß sie „äusserlich ex legitimo matrimonio gezeuget" sind; „wie viel Schande und Greuel werden nicht sub pallio matrimonii begangen". Gott sieht vornehmlich auf die Gewissen der Menschen, „da also manche im Ehestand vor GOTT noch heßlicher und befleckter sind, als andere, die zu Fall kommen" 248 Ein besonderes Beispiel ist der Generalsuperintendent in Württemberg namens JOANNES BARTHOLOMAEUS HAAGE, der als Findelkind vor dem Spital FRANCKE
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zu Ulm gefunden wurde und mit dem Namen wurde 249 .
JOANNES FUND
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getauft
Taufe nach Übertritt Manche, auch Katholiken, treten nur aus äußerlichen Gründen zu uns über 250 . „Es kan seyn, daß oft unter hunderten kaum einer ist, der es redlich meinet."251 FRANCHE geht auch auf einen Taufakt mit einem Juden ein. Bei solchen Gelegenheiten verfährt man an den Orten verschieden252. Es ist gut, wenn man dann „alles in Einfáltigkeit handelt, und in der Mittelstrasse bleibet"253. Zur Art der Taufhandlung Die Art der Taufhandlung ist verschieden: „Untertauchen", „Besprengen" oder „partikulär Abwaschung" einiger Leibesglieder.254 Da haben dann die Leute manchen „Scrupel, ob sie auch die rechte Taufe haben" 255 . Bei solchen dubiis sollte man sich „nicht zu lange aufhalten"256. Zur Haustaufe FRANCKE
kommt dann auch auf die Haustaufe zu sprechen.
„Wenn die armen Leute ihre Kinder nur im Hause dürften taufen lassen, hingegen die reichen allein die Freyheit hätten, daß die ihrigen in der Kirche getauft würden: so würden sie alle in die Kirche laufen. Weil aber jene die Taufe in der Kirche haben, so suchen diese darin einen Vorzug, und wollen es im Hause haben." „Weil es aber die Armen publice haben können, so wollens die Reichen priuatim haben". 257 „Wenn man die praxin dagegen ansiehet, so ist kein Zweifel", daß hier „auf mancherley Weise Staat und Prangen dabey getrieben wird." Die Lehrer sollten „mit ihrer grauitate, simplicitate, und weislichen Erinnerungen" dafür sorgen, daß den Gemütern „das Prangen dabei vergehe". 258
Taufzeugen und Paten Was die Taufzeugen und Paten betrifft, so wird dieser Brauch heute oft verworfen. 259 Es spricht aber doch vieles dafür, wenn jemand die Pflicht übernimmt, für die Wohlfahrt und Erziehung eines Kindes zu sorgen260. Man sollte es dabei nicht auf das Patengeld absehen.261 Viele tausend Kinder haben dadurch Nutzen von ihren Paten, daß sie zur Schule angehalten werden oder Anleitung von ihnen bekommen, „wenn entweder ihre Eltern liederlich sind, oder frühzeitig absterben, oder sonst durch andere Zufälle von ihnen gerissen
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werden" 262 . Man darf die ganze Sache nicht eines Mißbrauchs wegen verwerfen. 263 SPENER hat die Pflicht der Paten betont, fur ihre Kinder zu beten. 264 Allerdings gehören die Paten „nicht zum Wesen der Taufe". Es ist an ihr nichts auszusetzen, wenn auch keine Paten dabei sind. 265 Wenn Eltern sterben und ihre Kinder dem Lehrer anbefehlen, wird er sich die Kinder noch mehr anbefohlen sein lassen, er darf sich aber nicht zu mehr verpflichten, als er halten kann, ζ. B. wegen „Entfernung des Orts" oder der Besonderheit der Kirchenordnung. 266 Es sollten nicht Leute zu Paten genommen werden, „die ein gottloses Leben fuhren" 267 . Ebenso ist bei Papisten Vorsicht angebracht.268 Vom Wert der Beichte Bei einem Confessionarius muß „ ein iudicium spirituale " vorhanden sein, das von den natürlichen Kräften des Verstandes zu unterscheiden ist, um den Zustand der Hörer zu beurteilen.269 Wer noch nicht bekehrt ist, ist dazu nicht in der Lage. 270 Der Confitent soll dann nicht einfach ein Beichtformular hersagen, sondern muß über den Zustand des Herzens Auskunft geben können. 271 Manch unbekehrter Christ „gehet gleichsam mit Hüpfen und Springen ins Lehramt hinein"272, aber wenn er bekehrt wird, ihm die Augen aufgehen und er sieht, „daß oft unter tausend kaum einer ein rechter Christ ist; da grauet ihm denn erst vor dem Lehramt"273. Ein Prediger kommt den Seelen am besten im Beichtstuhl nahe274. Dort kann er mit ihnen über ihren Seelenzustand sprechen.275 Er darf deshalb seine Arbeit nicht auf die Predigt beschränken. „Das ist das wenigste. Es ist das in einer Stunde gethan. es sind aber viele Stunden in der Wochen", in denen er den Leuten beikommen muß. 276 Er muß sein Herz darauf richten, „daß er immer möge in der Erbauung seiner Gemeine stehen"277. Unterschied der Confitenten Was den Umgang des Beichtvaters mit seinen Confitenten betrifft, so muß er einen Unterschied machen zwischen solchen, die sich trotz Unwissenheit in manchen Stücken belehren lassen, und solchen, die sich trotz ihrer Fähigkeiten boshaftig verweigern.278 Manche mit geringer Erkenntnis erlangen oft mehr Glaubenskraft als andere mit großem Wissen.279 Bei solchen, die nicht viel begreifen können, muß zuerst der Wille gelenkt werden, bevor man „ihrem Verstände eine mehrere Erkenntniß der göttlichen Wahrheiten beybringet"280. Haben sie erst „in ihrem Willen eine Begierde und Lust bekommen", „da ge-
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rathen gleichsam alle Kräfte und das gantze Gemüth in ein Feuer". Versäumt man das, bleibt nichts in ihrem Gedächtnis.281 Von Absolutionsbüchern In Absolutionsbüchern finden sich verschiedene Absolutions-Formeln, die für unterschiedliche Fälle in Frage kommen. Ihr Auetor wollte wohl „dem üblen Gebrauch vorbeugen", daß die Pfarrer „nur Eine Absolutions-Formul" für alle möglichen Fälle haben. 282 Wenn aber „einer den Geist GOttes hat", braucht er ein solches Absolutionsbuch nichfi183. Er muß alle Umstände betrachten, sich auf jeden besonders einstellen und seine Eigenart berücksichtigen, „das erfordert eine grosse Anspannung des Gemüths"284. Wenn die Zuhörer erst einmal die Art und Weise ihres Lehrers kennen, passen sie sich ihm an „und nehmen manche die Heuchel-Larve an" 285 . Man muß dann etwas Zeit darauf wenden, um herauszubekommen, „was in ihrem Hertzen ist 286 . Die Mißbräuche im Beichtwesen schildert, „was fur horrendi abusus" im Beichtwesen vorgehen. 287 Es ist ein großer Schade, daß die Beichtstühle zumeist so eingerichtet sind, daß die Davorstehenden alles mithören können, „welches mit unter die öffentlichen und schädlichsten abusus in ecclesia zu rechnen ist" 288 . Es empfiehlt sich immer, sich zuvor privat anzumelden, zumal dann eine Sache zuvor besprochen werden kann. Wenn einer aber nun nicht vorher kommt, ist der Lehrer genötigt, etwas im Beichtstuhl vorzubringen, was sonst verhütet werden könnte. 289 Der gegenwärtige status wird wohl vorerst bestehen bleiben. Deshalb darf man einerseits „nicht zu scharf', andererseits „nicht zu lax und remiss werden". „Das ist der rechte Mittel-Weg", „der Weg, daß ecclesia Christi per gradus gebessert werden kan". 290 FRANCKE
Vom Beichtsiegel Ein besonderer kurzer Abschnitt handelt vom sigillo confessioni^^. Wenn sich hier einer nicht in acht nimmt, traut ihm keiner mehr, besonders wenn ihm etwas anvertraut ist, das er „der Obrigkeit anzeiget, und die Leute so dann zur Strafe gezogen werden. Das wird ihm nicht wieder vergessen; sondern die Leute an dem Ort werden auch andern Lehrem nicht gern was sagen.
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Stellung zu Gerüchten in der Beichte FRANCKE gibt einige Hinweise, wie man im Beichtstuhl zu einem Gerücht Stellung nehmen293 sollte. 1) soll man nicht „mit der Thür ins Haus fallen", sollte mit dem Betroffenen freundschaftlich ein Wort reden. 2) müsse man aus Liebe ihm eröffnen, „was für ein Gerttcht von ihm gehe". 3) könne man dann „die Sache selbst ihm eröffnen", 4) ihn fragen, „wie sich die Sache verhalte", 5) bezeugen, daß man über das, was er sage, Stillschweigen bewahren, aber alles tun werde, was zur Rettung seiner Seele nötig sei. 294
Ein gutes Ergebnis der Aussprache wird oft dadurch verhindert, daß die Leute „gewisse Sünden" verschweigen. Man sollte das Beichtkind deshalb dazu bewegen, Vertrauen zu seinem Seelsorger zu fassen, und ihm versichern, daß man alles „auf seinem Hertzen behalten" werde 295 . Es muß deutlich sein, daß man ihm nicht schaden, sondern die Seele retten wolle. 296 Vom Beichtvater und fremden Beichtkindern Ein Lehrer darf nicht die Beichtkinder eines anderen annehmen. „Mancher treibet diese Sache um deswillen, weil der Beicht-Pfennig darunter versiret"297. Manche Lehrer gehen auch zu scharf vor, die Leute gehen dann „zu einem andern, der gelinder ist"298. Es geschieht auch, daß Leute kommen, die Hurerei begangen haben „und dann vorgeben, sie wären auf der Reise" 299 . Haltung des Beichtvaters zur Obrigkeit Nun kommt es gelegentlich auch vor, daß die Obrigkeit anfragt, „wie Sie aus einer gewissen Sache mit den und den Leuten nicht kommen könten, nun würde mir ohne Zweifel was bewust seyn, also möchte ich davon einige Nachricht geben. Meine Antwort aber war diese: Was meine Pfarr-Kinder mit mir redeten von ihrem Seelen-Zustand, das legte ich in den Schooß Christi; daselbst möchten Sie es suchen, wenn sie es finden könten; ich wüste weiter davon nichts." Man überschickte mir dann die acten, aber ich „ließ es dabei: nec me poenitet".300 „Ein Lehrer kan das nicht anders machen. Wo sie einen dazu gebrauchen wollen, daß man soll ein minister magistratus seyn, und ihnen helfen", „überschreiten sie die Schrancken ihres Amts". 301 In diesem Zusammenhang werden auch casus behandelt, „z. E. von Leuten, die vor Gericht gezogen worden, und auf der totur das delictum, so man ihnen schuld gegeben, gestanden; darnach aber dem Confessionario gesagt haben, sie wären daran unschuldig, wobey sie ihn doch himmel-hoch gebeten, er solte es nicht von sich sagen; sie sagtens ihm sub sigillo confessionis, sie wolten ihr Recht darüber ausstehen und sich vom Leben zum Tode bringen lassen; denn sonst würden sie nochmal auf die tor-
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tur gebracht werden, und davor fürchteten sie sich gar zu schrecklich; sie hättens wegen der Marter bekannt. Was ist da zu thun? Da ist gut, daß dergleichen casus vorher gesagt sind. Es muH es der Lehrer in solchem Fall allerdings anzeigen, und sich daran nicht kehren, was ein solcher Mensch von ihm verlanget. Er muß sein Gewissen darunter retten, und zugleich die Obrigkeit erinnern, nicht so gleich mit der tortur zuzufahren." 302
Über den Wert eines Diariums Ein Beichtvater sollte sich von Anbeginn seines Amtes an ein Diarium halten und sich notieren, was er von seinen Zuhörern hört. „Man kan solcher gestalt seine notiz von den Beicht-Kindern gar bald vermehren, und ihren Zustand um so viel besser prüfen. Denn wenn man nur erstlich von Einem etwas höret, und ihn darüber zur Rede setzet: so weiß der bald anzuführen, was seine Nachbarn thun; und damit er sich los reden möge, so beruft er sich auf selbige und spricht: Der hat dieses und jenes gethan. Denn die Leute wissen viel besser, was in der Gemeine vorgehet, als der Pfarrer selbst, und kennen sich viel besser unter einander. Wenn er also nur Einen vornimmt und dem das Gewissen schärft: so wird er so viel erfahren, daß er hemach manches mal etliche Wochen damit zu thun haben wird, die Leute alle auszufragen und zu examiniren, wie es mit ihrem Christenthum stehe."303
Wenn er jemanden vom Abendmahl suspendieren will, wird ihn mancher deshalb beim Konsistorium verklagen, „da er denn antworten muß" und „sein diarium immer seine apologie seyn könte"304. Die Zulassung zum Abendmahl Was die Zulassung zum Abendmahl betrifft, so muß ein Lehrer darauf achten, daß er einerseits keinen falschen Trost erteilt, andererseits auch nicht zu strenge vorgeht. 305 So hat eine adlige Frau Mag. SCHADE zu sich kommen lassen und in ihrer Angst gesagt, in ihrer Seele sei noch keine „rechtschaffene Buße" vorgegangen. Er habe zugehört und gesehen, daß sie geweint habe. Dann sagte er: „,Sie hat sich die Augen noch lange nicht ausgeweinet', worauf er weggangen sey." Aus diesen Worten habe sie erkannt, daß „ihre Reue noch nicht rechtschaffen sey". Dieses Verhalten SCHADEs habe zu ihrer Bekehrung gefuhrt. 306 Beharrlichen Sündern sollte man das Abendmahl verweigern. Man muß aber dabei erkennen, daß man solchen Seelen dann schwer wieder beikommen kann und sie sich bösen Predigern zuwenden 307 . Der Prediger selbst sollte sich, vom Notfall abgesehen, das Abendmahl nicht in der Gemeinde reichen308.
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Würdige Kommunikanten nennt dreierlei Arten würdiger Kommunikanten, 1) solche, „die in der Busse stehen", 2) solche, „die in statu renouationis stehen", und 3) solche, „die ein recht Braut-Hertz zu CHristo haben" 309 . Wer zum Abendmahl gehen will, sollte zuvor eine wahre Bekehrung in sich anfangen lassen. 310 FRANCKE
Zum häufigen Abendmahlsempfang Bei der Einladung zum häufigen Abendmahlsempfang muß man darauf achten, daß „man nicht das opus operatum propagiren helfe" 311 . Man könnte sonst Leute, „die ein übeles Leben fuhren", dazu bringen, öfter zum Abendmahl zu gehen und durch öfteren Gebrauch ein noch größeres Gericht auf sich zu laden. 312 Man muß stets zum würdigen Gebrauch des Abendmahls einladen. 313 Vom Abendmahl für Kranke und Sterbende Wenn kranke und sterbende Personen das Abendmahl verlangen, muß man vorsichtig mit ihnen verfahren, weil der Aberglaube umgeht, daß der Gebrauch des Abendmahls den Menschen selig mache, manche auch denken, daß sie nach dem Empfang keine Hoffnung mehr hätten. 314 Die Krankheitsfälle sind verschieden, deshalb muß der Prediger die Umstände prüfen und in den Gesprächen mit seinen Zuhörern vorsichtig umgehen. 315 Beachtenswert ist die Frage, ob tauben und stummen Menschen das Abendmahl gereicht werden könne. Wenn genügende Merkmale vorhanden sind, daß sie die Sache verstehen und nach dem Abendmahl Verlangen haben, sollte man es ihnen nicht versagen. 316 „Die Natur hat dergleichen Personen den Mangel, den sie in diesen Stücken haben, auf andere Weise ersetzet. Daher sie im Stande sind, mit ihrem Gemiith viel mehr zu fassenn, als wol andere."317
Das Abendmahl bei Injurienprozessen Wenn Injurienprozesse vorliegen und die Leute sich nicht versöhnen wollen, kann man sie nicht zum Abendmahl zulassen318. Magistrat, Richter und Advokaten raten den Leuten von einer Versöhnung ab, weil dann ihre Einkünfte ein Ende haben 319 . Versöhnungsratschläge des Lehrers verfolgen sie deshalb auch unwillig, „mit scheelen Augen" 320 . Er muß vorsichtig vorgehen und im Rahmen theologischer rationes bleiben. Dann kommt der magistratus politicus nicht gegen ihn auf 321 .
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Nachlässigkeit im Abendmahlbesuch Leute, die aus Nachlässigkeit eine Zeitlang nicht zum Abendmahl gehen, darf man nicht gleich fur ruchlose Verächter des Sakraments halten. Aber auch dann, wenn einer alle Mahnungen in den Wind schlägt, sollte man nicht mit Gewalt vorgehen322, „die Leute ins Gefangniß legen, oder mit der Landes-Verweisung bedrohen, und sie solcher gestalt zum Gebrauch des heiligen Abendmahls zwingen". „CHristus hats nicht so gemacht."323 Man suche ein Gespräch324.
Notfälle beim Sakramentsempfang Es wird gefragt, ob es recht sei, daß sich einige Christen unterstehen, „heimlich und ohne Wissen oder Billigung der übrigen Gemeinde und Predigtamts, das Abendmahl des HErrn zu halten"325. Trotz starker Bedenken wolle man nicht alle Notfälle ausschließen. So haben „einige christliche Freunde auf einer Reise in Italien, oder sonst an einigen Ort, da keine Evangelische Gemeinde vorhanden", das Abendmahl verlangt. Sofern sich ein Kranker mit der geistlichen Genießung nicht begnügt, muß ein anderer Gefährte ihm das Sakrament reichen.326 Es kann auch geschehen, daß etliche Christen sich in Gefahr befinden, auf dem Meer, unter den Türken „oder im Papstthum, da keine rechte Pfarrer sind", wo „alsdann eine eintzele Privat-Person und gläubige Christen wol befugt wären, auch das heilige Nachtmahl JEsu CHristi auszuspenden".327 Wenn im äußersten Notfall Taufe und Absolution eines Laien kräftig sind, „warum solte nicht gleichfalls auch die Ausspendung des hochwürdigen Abendmahls kräftig seyn, so die im Nothfall durch einen Layen geschieht"328. S P E N E R meint, daß sich der Notfall nicht nur bei der Taufe, sondern auch beim Abendmahl finden könne. Die Meinung, der sakramentliche Genuß des Abendmahles könne ja durch die geistliche Genießung ersetzt werden, ist nicht zwingend.329 „Das fundament bleibt einerley" hinsichtlich beider Sakramente330. Manche haben von ihren Eltern gehört, daß der Prediger, der sie getauft hat, dem Trunk ergeben war; „sie kommen also auf die Gedancken, wer weiß, wie es bey meiner Taufe zugegangen, und ob ich auch recht getauft bin". Wenn Leute mit solchen Skrupeln zum Lehrer kommen, sollte man sie beruhigen und ihnen sagen, daß sie „einfaltiglich auf CHristi Einsetzung sehen sollen" 331 .
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Specialia mónita Der Abstand der praktisch-kirchlichen, ohne den Einfluß mystischer Ideen zwar nicht vorstellbaren Frömmigkeit FRANCKES von der mystischen Spekulation spiritualistischer Einzelgänger ist allenthalben erkennbar. Als ein auswärtiger Prediger, „der auf einige extrema abgewichen war", in unserem Ort hörte, daß hier in der Predigt auch „specialia mónita gegeben wurden, die zur Haus-Tafel gehöreten: so sagte er darnach priuatim, es würden ihm vormals die Dinge zu geringe gewesen seyn, als daß er sie in seinem Amte hätte predigen sollen; er hätte gemeinet, man miiste mehr auf mystica und höhere Sachen gehen". Aber jetzt, finde er doch, daß es gut sei und daß die Leute es nötig hätten, „er habe sich darin geirret".
So sucht mancher zuerst nur in der Spekulation sein Christentum.332 Die Erfahrung lehrt einen dann, „daß solche Dinge auch höchst nöthig sind" 333 . FRANCKE betont, er habe „in dem Amt einen grossen Nutzen von den specialioribus monitis gefunden". Manche Studenten haben ihm bei ihrer Abreise gedankt, „daß man in der Schul-Kirche die Studiosos und insonderheit auch die Iuristen und Medicos angeredet habe". Sie wären dadurch zum Guten „erwecket worden" 334 . „Denn es liegt gar viel daran, daß man die Leute an einem gewissen Orte recht anfasse. Sie hören alle generalia", das ganze Evangelium und das ganze Gesetz. Aber solange sie nicht „in ihrem Gewissen eine gewisse Sache, daran sie hängen, recht fühlen lernen", geht alles vorüber.335
Bekehrung und Verfall Bei der Lektüre des vorliegenden Werkes werden wir immer wieder mit einem spannungsreichen Gegensatz konfrontiert, zwischen dem zentralen, durch die Bekehrungsidee geprägten Anliegen FRANCKES und seinen praktischen Ratschlägen zur Kompromißbereitschaft im täglichen Umgang mit den herrschenden, vom Verfall belasteten staatlich-kirchlichen Kräften: „Ecclesiae loco sunt Consistoria." „Es sind mehrentheils nur Ehren-Stellen", zu denen nicht begnadete Männer Gottes gehören, sondern „viri politici", „oder auch manchmal fleischliche Theologi". Wenn nun ein Prediger, „in seinem Gewissen bedrängt", „diesen, als der ecclesiae" Bescheid gibt, werden ihm Advokaten „auf den Hals geschicket, und er ladet den größten Haß seiner Zuhörer auf sich. 336 Der Verfall reicht in die Anfänge der Reformation zurück.
D a s C o l l e g i u m Pastorale AUGUST HERMANN FRANCKES 1 7 1 3
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„Weil gantze Länder und Königreiche Evangelisch wurden, und man froh war, daß man das iugum pontificium nur abwerfen konte, die Leute aber dabey nicht zu GOTT bekehret waren: so konte es freylich nicht anders eingerichtet werden, als es geschehen ist. Wie denn auch Lutherus dieses zu seiner Entschuldigung brauchte, da die fratres Bohemi sich bey ihm darüber beklagten, daß keine disciplin unter den Lutheranern ware. "337
An manchen Orten sind viele Mißbräuche noch heute mit dem Gebrauch von Taufe und Abendmahl verknüpft, die man beheben sollte. Wer nun in ein Lehramt kommt, darf aber nicht damit rechnen, daß er gleich alles nach seinen Wünschen neu gestalten kann. Er muß sich zunächst mit dem gegenwärtigen Zustand abfinden 338 und darauf achten, daß sich eine gute Gelegenheit zur Neuordnung ergibt. „Er muß selber weise seyn, und muß auf den Finger GOttes mercken." 339 FRANCKE berichtet, als er hieselber zum ersten Mal in die Sacristei ging, fand er dort auf dem Tisch ein geschnitztes Bild. Er wußte nicht, was es für einen usum haben sollte, fand es aber am folgenden Tag beim Abendmahl auf dem Altar, „und war mit einem feinen Hemdchen angezogen. Ich muß bekennen, es hat mich solches zuerst in meinem Gemüth etwas gestöhret, weil ich nicht gewohnt war, daß anderswo solche ausgeschnitzte Bilder, wie Kinder-Poppen, wären auf den Altar gestellet worden. Ich habe es aber dennoch geduldet".340
Aber anläßlich einer Commission beim Konsistorium habe er die Sache zur Sprache gebracht, „und so ists in der Stille beyseite gesetzet worden" 341 . So muß man bei solchen Dingen mit Behutsamkeit verfahren. Die Leute schauen viel auf äußere Dinge, deshalb müssen evangelische Lehrer darauf achten, daß man nicht „wieder in Papistische Irrthümer gerathen" möchte. 3 4 2 Die Leute denken z. B., wenn sie die figuram crucis sehen, in ihr „stecke eine eigene Kraft". Man muß sie deshalb unterrichten, „damit sie auf keine superstitionem pontificiam fallen " 343. Ein „ritus publicus" war z. B., daß die Lichter „auf dem Altar die gantze Früh-Predigt über brannten". Das wurde dann geändert, ohne Lärm, auch das Geld wurde gespart und konnte den Armen gegeben werden. 3 4 4 Diejenigen dringen am meisten auf die obseruantz der äußerlichen Dinge, die im Herzen am wenigsten eine wahre Bekehrung erfahren haben. 3 4 5 Beispiele aus der Gemeindepraxis An einigen Beispielen aus dem täglichen Leben zeigt FRANCKE, wie schwierige Fälle durch die Geschicklichkeit des Predigers gelöst werden können.
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Kirchengeschichte
So hatte man an einem bekannten Ort den Magistrat ersucht, das Vogelschießen am Sonntag abzuschaffen, ein öffentliches Ärgernis, das mit Völlerei verbunden war. Der Magistrat aber sagte, es habe den Brauch schon früher gegeben und er könne ihn der Bürgerschaft nicht nehmen. Da habe sich der Prediger selbst von der Kanzel aus an die Bürgerschaft gewendet und gesucht, von diesem üblen Gebrauch dem Willen Gottes gemäß abzulassen. Darauf haben es die Leute selber eingestellt. 346 Ein Prediger fand an seinem Ort den Mißbrauch vor, daß, wenn die Leute seinen Acker bestellt hatten, er ihnen dafür ein Faß Bier geben mußte, welches sie dann miteinander austranken, wobei sie sich dann „toll und voll getruncken" 347 haben. Er bat den Richter des Ortes um Rat, ihm doch zu sagen, wie er aus der Sache käme. „Das gefiel diesem Mann so wohl, daß der Pastor ihn um Rath fragte", und er riet ihm, „er gebe einem ieden, was seine portion austrägt, in sein Haus, so trinckt seine Frau und Kinder auch mit. Das ist ein herrlicher Rath, sagt der Pastor, dem will ich folgen."
Hätte er selbst den Vorschlag gemacht, wären sie ihm wohl nicht gefolgt. „Aber da einer aus ihrem Mittel selbst den Rath gab, so waren sie alle damit zufrieden, und war der Mißbrauch auf einmal gehoben." 348 Am selben Ort gab es einen anderen Mißbrauch bei Hochzeiten, „daß nemlich Braut und Bräutigam, samt den Spielleuten, vor des Pastoris Haus kamen, und tantzten". Als nun die Spielleute kamen, ging der Pastor ihnen entgegen und heißt sie freundlich willkommen, „er könte ein andächtig Lied mit Braut und Bräutigam singen", und er fände es angenehm, wenn auch die Musikanten ihre Instrumente dazu gebrauchen wollten; „darauf fängt er alsobald an, verrichtet ein Gebet und singet ein Lied". Ein Tanz paßte nicht dazu, und die Spielleute gingen wieder ihren Weg. 3 4 9 Neben diese sichtbaren Erfolge auf dem Wege zur Neugestaltung der kirchlichen Gemeinden stellt der gläubige Realist FRANCKE aber immer wieder seine zahlreichen Erfahrungen mit den gegenwärtig in Kirche und Welt waltenden Kräften des Verfalls. „Ich will ein Exempel davon sagen, damit man erkenne, wie viel hieran gelegen sey. Ein Soldat gibt sich an, und will sich mit einer Person copuliren lassen. Der Prediger copuliret sie, und bekümmert sich nicht um ihre Umstände. Sie kommen von andern Orten her, und er mag sie auch sonsten wol kennen; er denckt auch etwa, der Mensch sey bald hie bald da, also könne er von seinem Beichtvater kein testimonium schaffen; ist also darin nicht accurat und sorgfältig. Es währet aber nicht lange, so kommts heraus, daß der Mann schon eine Frau hatte, und es wurde ihm der Kopf abgeschlagen. Da hieß es: warum hat der Pfarrer nicht nach einem attestai gefraget? Das hätte er
Das Collegium Pastorale AUGUST HERMANN FRANCKES 1713
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thun und sagen sollen: bringt mir erst ein attestat von eurem Hauptmann oder Obersten; und dasselbe hätte er verwahren und beylegen sollen; so wäre er sicher gewesen. Da er aber das nicht gethan hatte, so setzten sie ihn deswegen von seinem Amt ab. Ja er hatte in seinem Gewissen den Vorwurf, daß er nicht allein dieses Unglück sich zugezogen, sondern auch durch seine Nachläßigkeit den Menschen um sein Leben gebracht habe." 350
Fortsetzung der Studien im Amt Ein Lehrer muß seine Studien im Amt fortsetzen, damit er immer gelehrter und den zahlreichen Anforderungen gerecht werde. Allerdings dürfen seine Schafe dabei nichts entbehren. Es ist dann besser, daß einige Studien unterbleiben, als daß Seelen darunter leiden. Man sollte beides recht temperieren und verknüpfen, indem man eines nach dem andern tut. FRANCKE empfiehlt insbesondere die kursorische Lektüre der Bibel, vor allem des Neuen Testaments 351 , „so wird man ein Theologus textualis" und hat die dicta der Bibel „im Griff' 3 5 2 . Man muß dann Gottes Wort so vortragen, daß man nicht nur hier und da „einen Lappen kriegt", sondern daß man daraus „ein gantzes Kleid" machen kann. 353 Man sollte sich auch nicht mehrere Postillen anschaffen und dann jeweils darauf eine passende Predigt nachsagen, sondern selbst über einen Text meditieren. Das wird „von Zeit zu Zeit besser" werden. 354 FRANCKE empfiehlt ferner, SPENERS Bedenken „a capite vsque ad calcem successive" durchzulesen 355 , ebenso FISCHERS Sendschreiben 356 , SALUIANUS und ARNDT 3 5 7 .
Wenn ein Lehrer nun Tag und Nacht arbeitet, er aber nicht alle Arbeiten zu bewältigen vermag, muß er darauf sehen, daß er sich „nicht in eine legalische scrupulosität hineintreiben lasse, welche endlich kein Ende nimt" 358 . Gott ist nicht nur gerecht, sondern auch gnädig. 359
III. Das Collegium Pastorale im Rahmen der theologischen G r u n d g e d a n k e n A. H . FRANCKES
Die grundlegenden kritischen und gestaltenden Ideen der Theologie A. H. FRANCKES bilden auch die unbetonte Voraussetzung seiner praktischen Theologie. Sie sind die Basis des Collegium Pastorale und haben in der Bewältigung der praktisch-kirchlichen Fragen dieses Werkes ihren Niederschlag gefunden. Sie sind in allen Bereichen der Darstellung nachweisbar, zumeist verborgen wirksam.
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Kirchengeschichte
Hier nenne ich an erster Stelle die Forderung der Bekehrung, die sich an die Studenten und künftigen Prediger richtet. Diese Zentralidee der Theologie FRANCKES ist auch die unbetonte Voraussetzung des Collegiums, zumeist bedeckt, aber gelegentlich mit Härte richtungsweisend. 360 Von dieser Forderung der Bekehrung her kommt es zu einer Spaltung, die im gesamten praktisch-kirchlichen Bereich erkennbar und an bestimmten Kennzeichen sichtbar wird. Den wenigen Gläubigen steht die Menge der Ungläubigen gegenüber, der Minorität mit einem vorbildlichen Leben die Majorität mit einem verwerflichen Leben. 361 Dieser Gegensatz gibt gegenwärtig dem gesamten kirchlich-weltlichen Bereich das Gepräge. Auf der Basis dieser Gegensätze und im Bereich dieser Spannungen nimmt die Verfallsidee eine die gesamte Darstellung ganz offenkundig beherrschende Position ein. Der Verfall ist allenthalben im kirchlichen Leben, an der Besetzung der Pfarren, an der Beichtpraxis und weithin am Leben der Prediger und Laien zu erkennen und macht eine umfassende Besserung der Verhältnisse erforderlich. 362 Bei der Bewältigung aller anfallenden und durch den Verfall bedingten praktischen Fragen wird der Leser dann aber immer wieder mit dem Ruf nach dem Mittelweg konfrontiert. 363 Man muß beim Umgang mit der Obrigkeit und den Confitenten achtgeben und jeden Fehler vermeiden. 364 Das Ziel der Bekehrung darf man niemals aus dem Auge verlieren, sollte es aber angesichts der herrschenden Verhältnisse nur nach und nach, mit Vorsicht, Klugheit und ohne Übereilung anstreben. Man muß darauf achten, wann sich eine Gelegenheit zur Besserung ergibt und sie dann mit Geschick wahrnehmen. Das ist die Generallinie der pastoral-theologischen Vorlesungen Α. H. FRANCKEs. In der vorliegenden Auswahl aus dem Textbestand des Collegium Pastorale mußte die Fülle des dort dargebotenen Gedankenmaterials und der praktischen Beispiele auf einen kleinen Bereich begrenzt werden. Es konnte aber das Spannungsfeld aufgezeigt werden, in dem sich der realistisch denkende praktische Theologe bewegt, zwischen dem gottgewollten Ziel einer realen Bekehrung und einem weitreichenden Verfall. Um die Vielfalt seiner Erfahrungen und praktischen Ratschläge auch den heutigen „Zuhörern" in ihrer historisch bedingten Gestalt ungekürzt nahe zu bringen, ist es beabsichtigt, das Collegium Pastorale von 1713 als Band VI, 2 der Abteilung II der TGP zu veröffentlichen. Die Texte liegen druckfertig vor, Bibelstellen-, Orts- und Personenregister, Text- und Sachregister wurden fertiggestellt.
Anmerkungen 1
2
191
August Hermann Franckens ... COLLEGIUM PASTORALE über D. IO. LUDOV. HARTMANN! PASTORALE EVANGELICUM ... herausgegeben von Gotthilf August Francken ... Halle, ErsterTheil 1741. Anderer Theil 1743. Abk.: CPH I, II. Vgl. E. PESCHKE, Studien zur Theologie A. H. Franckes Π, Berlin 1966, 162-165.
3
V g l . PESCHKE ( A n m . 2), 4 3 A n m . 5.
4
Vgl. A.H. FRANCKE, Methodus studii Theologici, Halle 1723, 129f.; 197-200. Idea studiosi Theologiae, Halle 1712, 59-90. Vgl. F. DE BOOR, Die paränetischen und methodologischen Vorlesungen August Hermann Franckes (1693-1727), 2 Bde., Theol. Hab. Sehr. Halle 1968 (masch.) I, Ani. 3, 10-28, Α. Η. Francke, Vorlesungsankündigungen, 1694-1727. Vgl. F. DE BOOR, Α. Η. Franckes paränetische Vorlesungen und seine Schriften zur Methode des theologischen Studiums, ZRGG 20, 1968, 317 Anm. 98. Vgl. M. SPENN, Die Bedeutung der Gemeinde für Α. H. Francke, untersucht an seinem Collegium Pastorale, Sektion Theologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Juni 1983,
5
6 7
8
V g l . DE BOOR ( A n m . 5), 1 8 - 2 1 .
9
V g l . SPENN ( A n m . 7 ) , 3.
10 11 12
CPH II, Anhang, 586-760; vgl. zur Datierung CPH II, Vorwort, S. II f. Vgl. zur Datierung das Vorwort CPH I, S. VI. Vgl. PH. J. SPENER, Briefe aus der Frankfurter Zeit 1660-1686, Bd. 1: 1666-1674; h r s g . v . J. WALLMANN in Z u s a m m e n a r b e i t m i t U . STRATER u n d M . MATTHIAS, T ü b i n g e n 1 9 9 2 , 160. V g l . J. WALLMANN, D e r P i e t i s m u s , G ö t t i n g e n 1 9 9 0 , 5 1 f . ; M . BRECHT
13 14
(Hg.), Geschichte des Pietismus Bd. 1, Göttingen 1993, 293 f. Vgl. SPENER (Anm. 12), 264; PH. J. SPENER, Pia Desideria 1675, kl. Texte 170, 19,3 fif. CPH II, 521.
15
C P H I, 4 4 f . , v g l . SPENN ( A n m . 7 ) , 5.
16
J. L. HARTMANN, Pastorale Evangelicum seu instruetio plenior ministrorum verbi, N ü r n b e r g 1 6 7 8 u n d 1 6 9 7 . V g l . SPENN ( A n m . 7 ) , 6 .
17
V g l . SPENN ( A n m . 7 ) , 6 A n m . 4 5 .
18
C P H I, 2 8 9 f., 5 0 2 , 5 2 8 u . a . ; v g l . SPENN ( A n m . 7 ) , 6 f.
19
C P H I, 4 7 6 f., 5 8 4 ; II, 2 6 ff., 3 3 9 ; v g l . SPENN ( A n m . 7 ) , 7 f.
20 21 22 23
CPH CPH CPH CPH
I, I, I, I:
Vorrede. Vorrede. Vorrede. Obs. 1-91; CPH II: Obs. 92-131.
24
V g l . SPENN ( A n m . 7 ) , 1 0 - 1 2 .
25 26 27 28 29 30 31 32 33
CPH I, Vorrede. Vgl. E. PESCHKE, Bekehrung und Reform, AGP 15, Bielfeld 1977, 136 ff. 1,2. 34 1,46 f. 41 1,60. 48 1,71. 1,5 f. 35 1,46. 42 1,60 f. 49 1,772. 1,15 f. 36 1,47. 43 1,62. 50 1,86. 1,20. 37 1,49 ff. 44 1,64. 51 1,87. 1,21. 38 1,53. 45 1,65. 52 1,88 f. 1,23. 39 1,55 f. 46 1,69. 53 1,89. I, 26. 40 I, 56. 47 1,71. 54 I, 89.
192 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99
Anmerkungen I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I
90 f. 92. 93. 94 f. 95. 96. 97 f. 98 f. 101 f. 103. 103. 103 f. 104. 105. 106. 141 f. 132 f. 133 f. 137. 143 ff. 144. 144 f. 146 f. 149 f. 151. 153. 154. 155 f. 157. 159. 160. 161 f. 164. 168. 170 f. 171. 185 ff. 188. 189. 195. 196. 203. 204. 174. 178.
100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144
I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I I
177. 178. 180. 182. 228. 230 f. 232. 236 f. 240. 283. 287. 287. 292. 299. 300. 254. 256. 257 f. 258. 261. 262. 262. 651. 262 f. 263. 265. 265. 266. 268. 269. 303. 304. 319. 320. 322. 326. 330. 330. 345. 346. 349 f. 353. 356; II, 530 f. 357. 358.
145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189
I 359 f. I 369. I 372. I 347. I 375. I 376. I 377. I 378. I 385 f. I 386. I 388; 401 ff. I 389. I 390 f. I 399. I 404 ff. I 405. I 405 f. I 406; 408. I 408 f. I 410. I 411 f. I 444 f. I 446. I 447. I 413. I 414f. I 417. I 496. I 497. II,392. II, 393. II, 394. I, 544 f. I, 583. I, 618. I, 619. I, 492. I, 566. I, 568. I, 570. I, 615. I, 615. I, 535. I, 536. I, 539.
190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234
I 600. I 606. I 607. I 605. I 607. I 570. I 571. I 571. I 574. I 561. I 562. I 578. I 579. I 581. I 625 ff. I 627. I 627. I 628. I 629. I 630 f. I 632. I 637. I 649. I 647. I 648. I 648. I 458ff.; 462. I 463. I 471. I 452. I 609; 589 f. I 592 f. I 594. I 597. I 597 f. I 598 f. I 670. I 660. I 661. I 661. I 661 f. I 675 f. I 677. I 677. I 678.
193
Anmerkungen 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296
II, 120 f.; 122. II 124. II 127 f. II 152. II 157. II 159. II 163. II 163.164. II 243 f. II 245. II 247. II 249. II 178 f. II 179 f. II 180. II 181 f. II 277 f. II 278. II 280 f. II 428. II 428. II 163 ff. II 267. II 270. II 176 f. II 289 ff. II 290. II 254 ff. II 255 f. II 257. II 259.
297 298 299 300 301 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327
II Π Π Π II U Π Π II II II II II υ II II π II II II II II II II II II II II π π II
261. 261. 262. 291. 291 f. 292. 201. 202 f. 230. 232 f. 317. 312 f. 304. 311. 297. 299. 300 ff. 322 ff. 322-337. 319. 321. 348 ff. 353. 353 f. 354 f. 27. 28. 32. 3. 5. 6 f.
235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258 259 260 261 262 263 264 265
II 129 ff.; 131. II 22 f. II 23. II 21. I, 132 f. II 134. II 135 f. Π 136 f. II 138 f. II 52. II 53. II 64 f. II 66. II 69. II 69. II 77 f. II 75. II 469 ff. II 471. II 81. II 84 ff. II 87. II 88 f. II 92. II 112 f. II 113 f. II 114. II 115. II 116. II 117. II 118.
359 360 361 362 363 364
II, 150. I, 90, 254, 628, 643; II, 232 f., 311. 1,283; II, 163 f. I, 56, 87, 105f; 153, 170f.; 174, 176f.; II, 267, 386f. u.a. 1,536; II, 176 f. I, 562, 600; II, 291.
328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358
II 7. Π 8. Π 9. Π 17. II 274. Π 275. Π 275. II 276. Π 386 f. II 457 f. II 455. II 456. II 476 f. π 477 f. π 490. π 490 f. π 480. π 481 f. II 54 f. II 55 f. II 56 f. II 57. II 509. II 558 f. II 558. π 564. π 567. II 543. II 551. II 556 f. II 149.
Die „öffentliche Nobilitierung der Missionssache": GUSTAV WARNECK und die Begründung der Missionswissenschaft an der Theologischen Fakultät in Halle Arno Sames, Halle/Saale
Die Vereinigte Friedrichs-Universität zu Halle war die erste deutschsprachige Universität, an der durch eine Honorarprofessur an der Theologischen Fakultät die Missionswissenschaft im Jahr 1896 ordentliches Lehrfach wurde. Erster Vertreter der neu eingeführten Disziplin war GUSTAV WARNECK (1834-1910). Dabei scheint die Verbindung zwischen der Einrichtung der Professur und WARNECK als ihrem Inhaber auf den ersten Blick eher zufällig zu sein. War WARNECK doch als Pastor emeritus nach Halle gekommen, um hier seinen Ruhestandssitz zu nehmen, als ihm durch einen Vorstoß der Theologischen Fakultät die akademische Wirksamkeit angetragen wurde. Es stellt sich die Frage nach den Zusammenhängen, die sich hinter dem „Zufall" der Berufung WARNECKs erkennen lassen. Wie sind also die verschiedenen Umstände, wissenschafts- und universitätspolitischen Interessen und politischen Hintergründe zu beschreiben, die zu der Lehrbeauftragung WARNECKs gefuhrt haben?
1. Die Ehrenpromotion WARNECKS durch die Theologische Fakultät in Halle auf dem Hintergrund seiner wissenschaftlichen Biographie Am 14. Januar 1883 stellten die Professoren der Theologischen Fakultät und HERMANN HERING an den Dekan JUSTUS LUDWIG JACOBI den Antrag*, den Pastor Dr. phil. GUSTAV WARNECK ehrenhalber zum
MARTIN KAHLER
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Das handschriftliche Material stammt aus dem Archiv der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ( = UAH) und dem Zentralen Staatsarchiv Merseburg ( = ZSTA Mers.). Die Bestände aus Merseburg sind jetzt nach Berlin überführt worden; sie werden noch nach den Merseburger Signaturen zitiert.
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Kirchengeschichte
Doktor der Theologie zu promovieren 1 . Ihr Schreiben zeigt einmal die Wertschätzung, der sich WARNECK und seine Arbeit auf dem Gebiet der Missionskunde in ihren Augen erfreute, es verdeutlicht zum andern aber auch die Tatsache, daß die Mission bis dahin keine eigenständige Disziplin im akademischen Fächerkanon der Theologie war. Das machte auch die Schwierigkeit der Begründung fur die Ehrenpromotion aus. Die Antragsteller verwiesen auf den theologischen Bezug der schriftstellerischen Tätigkeit WARNECKS. Für die Beurteilung der Akzente, die sie setzen, ist ein kurzer Blick auf WARNECKS wissenschaftliche Biographie bis 1883 nötig 2 . GUSTAV WARHECK wurde am 6. März 1834 in Naumburg geboren und starb am 26. Dezember 1910 in Halle. Da sein Vater ihm eine höhere Schulbildung nicht bezahlen konnte, kam er erst 1850 mit 16 Jahren durch Unterstützung eines Onkels auf die Latina in Halle; in fünf Jahren bewältigte er sieben Klassen, so daß er 1855 das Abitur ablegen konnte. Umfangreicher Wissenserwerb durch intensiven Fleiß und die Erfahrung einer „reellen Bekehrung" 3 waren die Ergebnisse seiner halleschen Schulzeit. Das Theologiestudium absolvierte er 1855-1858 ausschließlich in Halle, w o ihn d i e B e g e g n u n g mit FRIEDRICH AUGUST GOTTREU THOLUCK n o c h e n -
ger an die Erweckungsbewegung band. Weitere Stationen seines Lebens waren: Hauslehrer in Elberfeld (1858-1862), Vikar in Roitzsch (1862-1863), Hilfsprediger und Archidiakonus in Dommitzsch (1863-1871), unterbrochen nur durch eine Tätigkeit als Feldprediger im preußisch-österreichischen Krieg, theologischer Lehrer und Reiseprediger im Dienste der Rheinischen Missionsgesellschaft in Bannen (1871-1874), Pfarrer in Rothenschirmbach von 1874 bis zu seinem Ausscheiden aus dem Dienst und seiner Übersiedlung nach Halle im Jahre 1896. 1
UAH Rep. 27 III/A Nr. 7 Bd. 2: Theologische Facultät der Universität Halle-Wittenberg. Acta betreffend Promotionen der theol. Facultät (honoris causa) 1880-1905 (da die Aktenstücke nicht numeriert sind, werden sie nach Verfasser, Empfänger, Inhalt, Ort, Datum usw. gekennzeichnet) ( M . KÄHLER und H. HERING an den Dekan J. JACOBI, Halle, 14. Januar 1883). Das Dokument ist in Abschrift als Anhang beigefügt.
2
Vgl. dazu M. KAHLER, J. WARNECK, D. Gustav Warneck 1834-1910: Blätter der Erinnerung, Berlin 1911; H. KASDORF, Gustav Warnecks missiologisches Eibe. Diss, theol. (Pasadena) 1976 [Masch.], 2 ^ 4 (mit reichen Literaturangaben. Eine überarbeitete Fassung der Diss, erschien 1990 in Gießen. Hier wird nach dem maschinenschriftlichen Exemplar zitiert); W. RAUPP (Hg.), Mission in Quellentexten: Geschichte der Deutschen Evangelischen Mission von der Reformation bis zur Weltmissionskonferenz Edinburgh 1910, Erlangen, Bad Liebenzell 1990, 377 f. (Lit.).
3
M . KAHLER, J. WARNECK ( A n m . 2 ) , 4 7 ; H . KASDORF ( A n m . 2 ) , 8 u n d 3 8 6 .
Die „öffentliche Nobilitierung der Missionssache"
197
Es ist ein durch mehrfachen Ortswechsel geprägtes Leben, das WARNECK gefuhrt hat. Auch innerlich gab es Entscheidungen, die sein Leben bestimmten. Den Wunsch, Missionar zu werden, mußte er wegen seiner schwachen Gesundheit aufgeben. Sein Plan, an ein Lehrerseminar berufen zu werden, schien nicht in Erfüllung zu gehen. Die Promotion an der Philosophischen Fakultät in Jena 18714 hatte den Weg in die Pädagogik ebnen sollen. Da erreichte ihn 1871 der Ruf nach Barmen. Seine Entscheidung, in die Heimatarbeit der Mission einzutreten, gab seinen Interessen Richtung und Ziel. War seine literarische Tätigkeit bis 1871 eher apologetisch ausgerichtet, fand sie nun ihr Zentrum in der Missionswissenschaft. Das zeigte sich unter anderem in der Zusammenarbeit mit REINHARD GRUNDEMANN (1834-1924), dem Missionsstatistiker und Missionskartographen 5 , und THEODOR CHRISTLIEB (1833-1889), dem Professor für Praktische Theologie in Bonn und bekanntem Missionsmann , bei der Gründung der „Allgemeinen Missions-Zeitschrift" 18747. WARNECK war zu dieser Zeit noch ein weithin unbekannter Mann; deshalb brauchte er bekannte Mitarbeiter: „Christlieb und Grundemann gaben der Zeitschrift ihre Namen; Warneck gab ihr das Gepräge der Missionswissenschaft, und sein Name wurde dadurch weit berühmt." 8 Wichtig aber ist, daß mit dieser Zeitschrift die Missionssache in Deutschland ihr publizistisches Zentrum gewann. Seit seinem Eintritt in die Arbeit der Rheinischen Missionsgesellschaft in Barmen rissen die Veröffentlichungen WARNECKs ZU Missionsthemen nicht ab. Das änderte sich auch nicht, als die Reisetätigkeit von Barmen aus zu anstrengend für ihn wurde und ihn zwang, ins Pfarramt zu wechseln. Nun wurde Rothenschirmbach eine Zentrale missionswissenschaftlicher Aktivitäten. Als die Theologische Fakultät in Halle WARNECK ehrenhalber promovieren wollte, hatte er ungefähr 60 Veröffentlichungen aufzuweisen, unter denen sich auch mehrere umfangreiche Bücher befanden 9 . 4
Das Thema der Dissertation lautet: Pauli Bekehrung, eine Apologie des Christentums. Sie erschien 1872 bei C. Bertelsmann in Gütersloh, in verkürzter Überarbeitung in : Der Beweis des Glaubens, hg. von O . ZÖCKLER, 8 ( 1 8 7 2 ) , 394FF.
5
Z u GRUNDEMANN vgl. H. KASDORF ( A n m . 2), 9 8 - 1 0 4 .
6
7
Zu CHRISTLIEB vgl. H. KASDORF (Anm. 2), 104-108; TH. SCHIRRMACHER, Theodor Christlieb und seine Missionstheologie, Wuppertal 1985 (TELOS - Evangelikaie Theologie 1805). Vgl. H. KASDORF (Anm. 2), 11; 14; 25-32 und 392 ff.
8
H . KASDORF ( A n m . 2 ) , 1 0 1 ; 1 0 5 .
9
Vgl. dazu die chronologisch geordnete (allerdings nicht ganz vollständige) Übersicht über WARNECKS literarisches Werk bei H. KASDORF (Anm. 2), 548-566.
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Kirchengeschichte
Das ist das Material, auf das KÄHLER und HERING zurückgreifen konnten.
Sie tun das auch ausfuhrlich, weil sie mit Gegenargumenten rechnen mußten. Einwände konnten einmal unter wissenschaftsorganisatorischen Gesichtspunkten mit dem Hinweis erfolgen, daß die Missionsgeschichte nicht in den Kreis der traditionellen akademischen Disziplinen gehörte, so daß eine Ehrenpromotion auf diesem Hintergrunde als unbegründet erscheinen mußte. KÄHLER und HERING fingen dieses Argument mit dem Hinweis ab, daß „die neuere Mission sowohl zur neueren Kirchengeschichte und zur kirchlichen Statistik, als zur praktischen Theologie in Beziehung steht", WARNECKs schriftstellerische Tätigkeit also nicht außerhalb der Theologie liege. Zum anderen hätte der streng wissenschaftliche Charakter der schriftstellerischen Tätigkeit WARNECKs in Zweifel gezogen werden können. In diesem Punkte verwiesen die beiden Antragsteller auf WARNECKS missionstheoretische und missionshistorische Arbeiten, die eine umfassende Kenntnis auch auf anderen Gebieten der Wissenschaft aufweisen und WARNECKS Bestreben belegen würden, „die Missionsangelegenheit in die Beleuchtung und unter die Zucht allgemeiner wissenschaftlicher Erkenntnis zu stellen." Deshalb betont das von KÄHLER entworfene Elogium als Verdienste WARNECKS unter den Begriffen cognitio, ius divinum, rationes et regulas sowie Studium der Mission die wissenschaftliche Seite seiner weiterfuhrenden Beiträge für die Verbreitung des Evangeliums 10 . Die Angelegenheit entwickelte sich dann schnell. KÄHLER und HERING hatten daraufhingewiesen, daß im Blick auf das Reformationsjubiläum 1883 eine Ehrenpromotion WARNECKs auch von anderen Fakultäten erwogen werden könnte, so daß es sich empfehlen würde, die Promotion vorzuziehen. Als günstige Möglichkeit böte sich dafür die (von WARNECK 1879 zur Förderung des Missionssinnes gegründete) Hallesche Missionskonferenz 11 an, die Ende Januar in Halle stattfinden würde. Zur Fakultät gehörten damals JUSTUS JACOBI als D e k a n u n d d i e P r o f e s s o r e n WILLIBALD BEYSCHLAG, HERMANN HERING, MARTIN KÄHLER, JULIUS KÖSTLIN, EDUARD KARL AUGUST RIEHM
und KONSTANTIN SCHLOTTMANN. Da auch die übrigen Fakultätsmitglieder dem Vorschlag KÄHLERs und HERINGS zustimmten 12 , konnte der Dekan das
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U A H R e p . 2 7 Ι Ι Ι / Α Nr. 7 B d . 2 ( M . KAHLER u n d Η . HERING a n d e n D e k a n J. JACOBI,
Halle, 14. Januar 1883). Zur Halleschen Missionskonferenz und den Zielen, die WARNECK mit ihr verband, vgl. G. WARNECK, Eine Provinzial-Missionskonferenz. Bericht über die Gründung der Sächsischen Missionskonferenz, AMZ 6 (1879), 193-204. UAH Rep. 27, 191: Protokollbuch der theologischen Fakultät vom 17. Jan. 1875 bis zum 12. Januar 1887, 186.
Die „öffentliche Nobilitierung der Missionssache"
199
Diplom fur WARNECK in Druck geben und seinen Kollegen unter dem 26. Januar 1883 mitteilen, daß es am nächsten Tage fertig sein würde. Er erbat in diesem Zusammenhang nur noch eine Meinungsäußerung darüber, ob das Diplom WARNECK zugeschickt oder ihm anläßlich der Missionskonferenz am 31. Januar in Halle überreicht werden solle. Die Fakultät entschied sich fur die persönliche Übergabe. 13 So konnte der Dekan dann auf dem Antrag zusammenfassend formulieren: „Demnach Beschluß: Promotion, u zwar auf Kosten der Facultät zum 31. Januar 83. J." 14 Der Verlauf der Ehrenpromotion spiegelt sich in dem Dankesbrief, den WARNECK unter dem 5. Februar 1883 an die Theologische Fakultät schickte. Er zeigte sich in besonderer Weise dadurch gerührt, daß „durch den so sinnigen Promotionsmodus" (gemeint ist die öffentliche Übergabe bei der Halleschen Missionskonferenz) die Gelegenheit gegeben war zu sehen, „mit wie ungeheuchelter Freude ein großer Teil der Geistlichkeit unserer Provinz die mir zuteil gewordene Auszeichnung begrüßte". Wichtiger aber war ihm, von der Ehrung seiner Person auf die Ehrung der Sache zu weisen, und so interpretierte er die Ehrenpromotion als „eine öffentliche Nobilitierung der Missionssache": „Ihre Güte gegen meine geringe Person", fuhr er fort, „wird - wie ich bereits zahlreiche Beweise dafür in den Händen habe - weithin als ein gewichtiges Fakultätszeugnis für das gute, auch wissenschaftliche, Recht der Heidenmission aufgefaßt und als eine autoritative Apologie derselben noch großen Einfluß üben"1^. Das sind Folgerungen mit weitreichender Bedeutung, die WARNECK aus seiner Ehrenpromotion zog. Sie gehen in ihrer konkreten Formulierung über die Begründung hinaus, die KAHLER und HERING gegeben hatten. Doch liefen sie keineswegs gegen die Absichten der Fakultät. Das beweist ζ. B. die Ehrenpromotion des Inspektors der Norddeutschen Missionsgesellschaft, FRANZ MICHAEL ZAHN (1833-1900), zur zweiten Centenarfeier der Universität 1894. In der durch den Dekan ERICH HAUPT vorgetragenen Begründung heißt es, daß ZAHN „der Mission unter den Heiden nicht nur durch umsichtige Verwaltung seines Amtes, sondern auch durch literarische Arbeiten gedient hat, die zur Ausgestaltung der Mission zu einer wissenschaftlichen Disziplin in hervor-
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U A H R e p . 2 7 Ι Ι Ι / Α N r . 7 B d . 2 ( U m l a u f d e s D e k a n s J. JACOBI v o m 2 6 . J a n u a r 1 8 8 3 ) .
14
A. a. O. (Anm. 13).
15
U A H R e p . 2 7 I I I / A N r . 7 B d . 2 ( G . W A R N E C K a n d e n D e k a n J. JACOBI, R o t h e n s c h i r m -
bach, 05. Februar 1883, Anschreiben zum Dankesbrief an die Fakultät; G. WARNECK an die theologische Fakultät, Rothenschirmbach, 05. Februar 1883, Dankschreiben für die Ehrenpromotion).
200
Kirchengeschichte
ragender Weise beigetragen haben"16. Den Haupthinweis auf das Missionsinteresse der Theologischen Fakultät liefert aber die Berufung WARNECKs zum Honorarprofessor für Missionsgeschichte und Missionskunde.
2. WARNECKs Berufung zum ordentlichen Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät in Halle 1896 Die Argumentationsgänge KÄHLERs und HERINGS und die Betonung der „öffentlichen Nobilitierung der Missionssache" durch WARNECK lassen die Reserven erkennen, die von Seiten der akademischen Theologie, aber auch von Seiten der Missionsgesellschaften und der kirchlichen Praxis, gegen die Missionswissenschaft als einer selbständigen theologischen Disziplin bestanden. Die Diskussion über diese Frage hatte eine längere Tradition. Spezialvorlesungen über Mission gab es im 18. Jahrhundert an verschiedenen Theologischen Fakultäten17. Eine andere Frage aber ist es, ob Umfang und Bedeutung der Missionswissenschaften ihre akademische Vertretung durch einen besonderen Lehrstuhl nötig machen. KARL GRAUL ( 1 8 1 4 - 1 8 6 4 ) habilitierte sich, nachdem er sein Amt als Inspektor der Leipziger Mission niedergelegt hatte, 1864 in Erlangen mit einer Antrittsvorlesung „Über die Stellung und Bedeutung der christlichen Mission im Ganzen der Universitätswissenschaft", und sein Kollege CARL Η . PLATH ( 1 8 2 9 - 1 9 0 1 ) , der seit 1871 Inspektor der Goßnerschen Mission in Berlin war, veröffentlichte 1868 eine Schrift mit dem Titel „Die Vertretung der Missionswissenschaften auf den Universitäten". Während GRAUL ihren Ort in der praktischen Theologie als sachgemäß ansah, wollte PLATH sie „durch eigens dazu auf einigen Hochschulen angestellte Männer" vertreten sehen18.
16
17
Das zweihundertjährige Jubiläum der Universität Halle-Wittenberg. Festbericht erstattet im Auftrage des academischen Senates von dem Prorector Prof. Dr. W. Beyschlag, Halle (Saale) 1895, 50; vgl. auch UAH Rep. 27, 192: Protokollbuch der theologischen Facultät vom 12. Jan. 1887 an, 199 (Beschluß über die Ehrenpromotion ZAHNS); UAH Rep. 27 III/A Nr. 7 Bd. 2 (Diplom der Ehrenpromotion ZAHNS und sein Dankschreiben an die theologische Fakultät, Bremen 27. August 1894). Vgl. C. MIRBT, Die Begründung von Missionsprofessuren an deutschen Universitäten, D i e Studierstube 10 ( 1 9 1 2 ) , 4 6 8 - 4 8 0 ; TH. SCHIRRMACHER ( A n m . 6), 1 3 - 1 6 .
18
V g l . W . RAUPP ( H g . ) , ( A n m . 2), 3 3 6 - 3 4 3 ( z u GRAUL) u n d 3 5 3 - 3 5 8 ( z u PLATH); C. MIRBT ( A n m . 17), 4 7 0 f.
Die „öffentliche Nobilitierung der Missionssache"
201
Das Problem wurde 1868 auf der von Vertretern der kontinentalen Missionsgesellschaften beschickten Allgemeinen Missionskonferenz in Bremen behandelt. Die Konferenz stimmte der PLATHschen Forderung nicht zu, sondern Schloß sich den Ausführungen des Inspektors der Norddeutschen Missionsgesellschaft, FRANZ MICHAEL ZAHN, an. ZAHN hatte mit allem Nachdruck darauf hingewiesen, daß die Mission zur Kirche gehöre und daher auch Berücksichtigung in der Theologie finden müsse. Da die Missionswissenschaft jedoch „kein in sich geschlossenes Ganzes" darstelle, sondern nach ihrer historischen Seite der Kirchengeschichte und nach ihrer technischen Seite der praktischen Theologie zuzuordnen sei, konnte er keine wissenschaftliche Berechtigung fiir die Einrichtung von Missionsprofessuren finden. Er bezeichnete es als eine berechtigte Forderung der Mission an die einzelnen theologischen Disziplinen, „ihren Anteil an der Missionswissenschaft zu pflegen" 19 . Im Jahre der Berufung WARNECKS war eine Generation seit der Bremer Konferenz vergangen. WARNECK selbst hatte 1877 mit seinem Aufsatz „Das Studium der Mission an der Universität" Stellung bezogen 20 . In der Zwischenzeit war auch die kolonialpolitische Umorientierung der deutschen Reichspolitik erfolgt, die zu dem Griff nach Kolonien 1884 und in den Jahren danach führte 21 . In WARNECKS schriftstellerischer Arbeit hat diese Entwicklung schon sehr früh ihre sichtbaren Spuren hinterlassen, etwa in seinem bereits 1885 erschienenen Literaturbericht „Welche Pflichten legen uns unsere Kolonien auf?" 2 2 . In seinem Berufungsvorgang ist von dem allen jedoch nichts zu spüren. Den äußeren Anstoß gab die im Zusammenhang seiner vorzeitigen Emeritierung als Pfarrer im Jahre 1896 erfolgte Übersiedlung WARNECKs an seinen Ruhestandssitz Halle. FRIEDRICH LOOFS, gerade Dekan der Fakultät, nahm diesen Umstand als glückliche Fügung auf und regte am 24. Oktober 1896 in einem Umlauf die Berufung an. Der gegebene Anstoß zeigte dann, daß auch andere Professoren, etwa ERICH HAUPT und WILLIBALD BEYSCHLAG, auf den-
selben Gedanken gekommen waren, als sie WARNECK in überzeugender Frische auf der Provinzialsynode zu Missionsproblemen hatten referieren hören.
19 20
C. MLRBT ( A n m . 17), 4 7 2 f. WARNECKS Schrift e r s c h i e n
1 8 7 7 in Gütersloh u n d i n A M Z 4 ( 1 8 7 7 ) ,
144-164.
209-230.
21 22
Vgl. z.B. Imperialismus und Kolonialismus: kaiserliches Deutschland und koloniales Imperium, hg. von K. J. BADE, Wiesbaden 2. Aufl. 1984, 13-16 (K. J. Bade). G. WARNECK: Literaturbericht: Welche Pflichten legen uns unsere Kolonien auf? Ein Appell an das christliche Gewissen, AMZ 12 (1885), 540-542.
202
Kirchengeschichte
Die übrigen Fakultätsmitglieder stimmten ebenfalls zu, so daß ein einstimmiger Beschluß zustande kam. Es waren dies außer den bereits Genannten die P r o f e s s o r e n HERMANN HERING, MARTIN KAHLER, EMIL KAUTZSCH u n d JULIUS KÖSTLIN 23 .
Die Begründung für die Berufung WARNECKS zum Honorarprofessor sieht LOOFS sowohl in der notwendigen sachkundigen Ergänzung der Arbeit des Kirchenhistorikers für das Gebiet der neueren Kirchengeschichte, als auch der Arbeit des praktischen Theologen fur die Ausbildung der Studenten in Missionskunde. Da an der Qualifikation WARNECKs für eine solche Berufung keine Zweifel bestanden und auch die Wirkung der Berufung auf die Landeskirche als positiv eingeschätzt wurde, formulierte die Fakultät in ihrem Schreiben vom 31. Oktober 1896 an den Minister folgenden Antrag: „Die Fakultät erlaubt sich daher, Ew. Excellenz ehrerbietigst die angelegentliche Bitte auszusprechen, Ew. Excellenz wolle, dem einstimmigen Wunsche der Fakultät Folge gebend, dem Professor [sic!] D. Warneck hierselbst (Gütchenstr. 20) eine ihn zu Vorlesungen über Missionsgeschichte und Missionskunde autorisierende, aber nicht mehr, als er wünschen kann, verpflichtende Honorarprofessur an unserer Fakultät anbieten" 24 . Die Berufung zum ordentlichen Honorarprofessor auf „Grund Allerhöchster Ermächtigung Seiner Majestät des Kaisers und Königs vom 23. Dezember d. Js." wurde WARNECK unter dem 29. Dezember 1896 mitgeteilt 25 . Damit war WARNECK in Halle installiert. Die Frage nach der Selbständigkeit der Missionswissenschaft als akademischer Disziplin wurde in dem Beantragungsvorgang im strengen Sinne nicht gestellt. Wie KAHLER und HERING ging auch LOOFS von einer doppelten Bindung der Missionswissenschaft an die Kirchengeschichte und an die praktische Theologie aus. WARNECK selbst hat dann in seiner Antrittsvorlesung „Das Bürgerrecht der Mission im Organismus der theologischen Wissenschaft" 1897 in Halle die Notwendigkeit
23 24
25
UAH Rep. 27, 192: Protokollbuch der Theologischen Facultät vom 12. Jan. 1887 an, 294 f. (Umlauf des Dekans F. LOOFS vom 24. Oktober 1896). UAH 16665: Acten betreffend den ordentlichen Honorar-Professor in der theologischen Fakultät D. Warneck, 1-3 V (Abschrift des Antrages der theologischen Fakultät vom 31. Oktober 1896 an den Minister). Der gesamte Vorgang ist im Original dokumentiert ZSTA Mers. Rep. 76 VI a Sekt. 8 Tit. IV: Acta betreffend: die Anstellung und Besoldung der außerordentlichen und der ordentlichen Professoren der theologischen Fakultät der Universität zu Halle von Oktober 1896 bis Dezember 1907. ZSTA Mers. Rep. 76 V a Sect. 8 Tit. IV, 25r (Entwurf des Ministers vom 29. Dezember 1896); UAH 16665, 4 (Berufungsurkunde des Ministers, Abschrift).
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203
missionswissenschaftlicher Lehrstühle verneint und der Mission in der praktischen Theologie ihren Ort angewiesen 26 . Daß die Frage der Notwendigkeit von Missionsprofessuren prinzipiell weder gestellt noch gelöst werden sollte, machte sich bei der praktischen Gestaltung der Arbeit WARNECKS bald bemerkbar. WARNECK hatte 1897 die Einrichtung eines missionswissenschaftlichen Seminars beantragt. Die Fakultät nahm diesen Antrag positiv auf, jedoch nicht ohne ihn ihren Vorstellungen entsprechend zu präzisieren. Da es in Halle keine Professur für Missionswissenschaft gebe, sondern nur ein Vetreter dieses Faches im Lehrkörper tätig sei, und man nicht wisse, ob eine geeignete Kraft wie WARNECK auch in Zukunft zu finden sein würde, müsse das missionswissenschaftliche Seminar als selbständige Einrichtung neben das seit alters bestehende Königliche Seminar „hingestellt" werden 27 . Die Fakultät rechnete also, das wird deutlich, gar nicht damit, daß die Missionswissenschaft auch in Zukunft immer durch eine selbständige Professur vertreten sein würde. Halle schmückt sich gern mit dem Ruhm, die erste missionswissenschaftliche Professur in Deutschland gehabt zu haben. Dieser Ruhm ist jedoch nicht das Verdienst planmäßiger hochschulpolitischer Überlegungen und Bemühungen. Er hat seinen Grund allein in den überzeugenden Leistungen WARNECKs auf dem Gebiete der wissenschaftlichen Missionsgeschichte und Missionskunde, welche die Fakultät herausforderten, diesen Mann in ihren Reihen aufzunehmen.
3. WARNECKS Kandidatur für den Nobelpreis 1910
Die Achtung WARNECKs als Missionsfachmann war nicht auf Deutschland beschränkt. MARTIN KAHLER hatte bereits 1883 daraufhingewiesen, daß auch „das .Ausland' ihm seine Spalten geöffnet hat" 28 . Wie sehr sein internationales Ansehen gewachsen war, wird in besonderer Weise an dem Versuch deutlich, WARNECK für den literarischen Nobelpreis 1910 vorzuschlagen.
26
27
Die Schrift erschien in Berlin 1897. Zur Sache TH. SCHIRRMACHER (Anm. 6), 19f.; A. LEHMANN, Die Religions- und Missionswissenschaft im Theologiestudium, WZ der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ges.-Sprachw. VI/5, 767-772, 767. Vgl. UAH Rep. 27 III/F Nr. 6 (Dekan E. HAUPT an den Kurator W. SCHRÄDER, Halle,
28
Siehe das Dokument im Anhang.
13. M a i 1897).
204
Kirchengeschichte
Die Anregung zu diesem Vorstoß ging von Dr. P. WALDENSTROM im Namen des Schwedischen Missionsbundes aus. Er forderte im Herbst 1909 skandinavische und kontinentale Missionsgesellschaften auf, WARNECK der Schwedischen Akademie als Kandidaten für den Nobelpreis zu präsentieren. Nach einer Vielzahl enthusiastisch zustimmender Voten, so berichtet jedenfalls WALDENSTROM, wurde es auch für gut befunden, die Theologische Fakultät in Halle offiziell zu einem befürwortenden Gutachten aufzufordern 29 . Die Fakultät erfüllte diesen Wunsch mit einem ausführlichen Votum des Prodekans HERMANN HERING, das dieser ganz auf die Bedeutung der Mission für den internationalen Frieden abstimmte 30 . Bei WALDENSTROM fand die Stellungnahme höchste Zustimmung 31 , stellte sich dann aber als hinderlich heraus. Denn als FRIEDRICH LOOFS als Dekan die Angelegenheit weiterbetreiben wollte, mußte er zu seinem Erschrecken feststellen, daß mit der Konzentration des Votums auf die Bedeutung der Mission für den Frieden nun Inhalt des Votums und „Kollatur-Instanz" nicht mehr übereinstimmten 32 . Das hallesche Votum entsprach inhaltlich der fünften Kategorie des Nobelpreises, dem Friedenspreis, und hätte an den Norske Storthing in Kristiania als die verleihende Instanz gerichtet werden müssen. So aber war ein inhaltlich auf die Katégorie fünf abgestimmter Antrag an die für die Kategorie vier, Literaturpreis, zuständige Schwedische Akademie in Stockholm gerichtet worden. Vielleicht war es u. a. dieser Formfehler, der zum Ausscheiden WARNECKS führte - die halleschen Akten geben jedenfalls über diesen Vorgang weiter keine Auskunft. Zur Ergänzung sei hinzugefügt: den Literaturpreis erhielt 1910 PAUL HEYSE, den Friedenspreis das Internationale Friedensbüro in Bern. Die deutsche Presse hat die Kandidatur WARNECKS für den Nobelpreis sehr zustimmend aufgenommen, jedoch ohne die Hintergründe zu kennen und
29
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UAH Rep. 27 III/F Nr. 4: Theologische Facultät. Acta betreffend ... Vorschlag D. WARNECKS für den Nobelpreis (1909) (Briefe P. WALDENSTRÖMS an die Direktoren verschiedener Missionsgesellschaften in Deutschland und in der Schweiz, Stockholm, 2. Oktober 1909, an den Sekretär der Schwedischen Akademie, Dr. C. D. VON WIRSÉN, Stockholm, ohne Datum, an die Theologische Fakultät in Halle, Stockholm, 20. November 1909). A. a. O. (Anm. 29), (Schreiben des Prodekans H. HERING an P. WALDENSTROM, Halle, 10. November 1909).
31 32
A. a. O. (Anm. 29), (Schreiben P. WALDENSTRÖMS an den Prodekan H. HERING, Stockholm, 29. November 1909). A. a. O. (Anm. 29), (Schreiben des Dekans F. LOOFS an P. WALDENSTROM, Halle, 5. Dezember 1909).
Die „öffentliche Nobilitierung der Missionssache"
205
daher ζ. T. auch fehlerhaft 33 . Doch war damit das erreicht worden, was Dr. WALDENSTROM als einen Effekt seiner Initiative im Voraus mit beabsichtigt hatte, nämlich „die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen und literarischen Welt ... auf die Mission zu wenden" 34 . Ein wenig erweckt dieser Satz den Eindruck, als ob WARNECK hier auch als Mittel zum Zweck benutzt worden sei. Doch macht der Vorgang deutlich, daß es einen würdigeren und geeigneteren Vertreter der Missionswissenschaft nicht gab, der sie auf die Nobelpreisebene hätte heben können.
4. WARNECKS Entpflichtung und die Errichtung eines missionswissenschaftlichen Ordinariats in Halle 1908
Am 11. Februar 1908 bat WARNECK den Kurator um Entbindung von seinen Dienstpflichten 35 . Aber bereits unter dem 30. November 1907 hatte die Theologische Fakultät vorausblickend durch ein Schreiben an den Minister den Antrag auf „etatsmäßige Begründung einer ordentlichen Professur für Missionswissenschaft an unserer Fakultät" gestellt 36 . Die Argumentation beruht zunächst ganz auf der Bedeutung, die WARNECK dem Fach gegeben hat. Er hat die Missionswissenschaft begründet und ihr in Halle ein Zentrum geschaffen, das die Missionsgesellschaften angenommen haben. Dahinter dürfe man nicht zurück. Dann aber fugte die Fakultät neu einen bildungs- und kolonialpolitischen Gesichtspunkt hinzu, indem sie auf das nationale Interesse hinwies, das eine besondere Pflege der Missionswissenschaft an Universitäten als „hohen Schulen fur die leitenden Dienste im öffentlichen Leben", und damit auch in den Kolonien und Schutzgebieten, notwendig mache 37 . Gerade dieser Gedanke taucht auf dem Instanzenweg der Verhandlungen immer wieder auf. 38 Die Frage nach der Stellung der Missionswissenschaft im theologischen Fächerkanon wird pragmatisch behandelt. Auf der einen Seite wird die Weite
33 34 35 36 37 38
Vgl. ζ. B. Saale-Zeitung vom 9. Dezember 1909 (Beilage). Siehe Anm. 29. ZSTA Mers. Rep. 76 V a Sekt. 8 Tit. IV Nr. 4/VI, 293 r (Abschrift). ZSTA Mers. Rep. 76 V a Sekt. 8 Tit. IV Nr. 3 IATI, 2 r - 6V (Ausfertigung). A. a. O. (Anm. 36), 2r - 5r Z. B. a. a. O. (Anm. 36), 22r - 23r (Entwurf eines Schreibens des Ministers der geisti. Angelegenheiten an den Finanzminister vom 2. Februar 1908).
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des zu bestellenden Feldes geschildert, die eine Professur notwendig mache 39 , auf der anderen Seite aber aus Gründen der Entlastung für HERMANN HERING eine Bindung der Professur an die praktische Theologie vorgeschlagen, die den Stelleninhaber „vocationsmäßig" darauf verpflichtet, den praktischen Theologen in der Abhaltung seiner Seminare zu unterstützen 40 . Den Hintergrund fur diese unklare Linie bildeten besetzungspolitische Probleme, die im Antrag der Theologischen Fakultät - wenn auch nicht in aller Deutlichkeit angesprochen wurden 41 . Weitere Klarheit bringen zwei Briefe M. KÄHLERs v o m F e b r u a r 1908 an WARNECK 42 . KARL BORNHÄUSER, der als a u ß e r o r -
dentlicher Professor die praktische Theologie in Halle vertreten hatte, erhielt Ende 1907 einen Ruf nach Marburg. Zur gleichen Zeit erklärte der Ordinarius für praktische Theologie, HERMANN HERING, sich mit Ende des Wintersemesters 1907/08 entpflichten zu lassen. Da BORNHÄUSERs Stelle nach Vermuten der Fakultät wohl wegfallen würde, als HERINGS Nachfolger aber PAUL DREWS, der dem Freundeskreis der Christlichen Welt zugehörte, berufen werden sollte, nahm die Fakultät die Gelegenheit wahr, eine ordentliche Missionsprofessur zu beantragen 43 . Das hatte stellenpolitisch zu diesem Zeitpunkt eine Chance: KÄHLER spricht davon, daß die „Not der praktischen Seminare" benutzt werden sollte, „um eine Missionsprofessur zu begründen" 44 . Die Gegenleistung für den Erfolg bestand freilich darin, daß KÄHLER und seine Freunde sich eines Gegenvotums zur Berufung von DREWS enthielten. Das macht deutlich, daß auch richtungspolitische Interessen im Spiel waren. Denn der neue Missionswissenschaftler sollte dem rechten theologischen Spektrum entstammen 45 . Als Personalvorschlag präsentierte die Fakultät den Inspektor der Rheinischen Missionsgesellschaft in Barmen, GOTTLOB HAUSSLEITER46. Er wurde am 13. April 1908 zum ordentlichen Professor an der Theologischen Fakultät
39 40 41 42
A. a. O. (Anm. 36), 3r - 4r. A. a. O. (Anm. 36), 6r - 6V . Ebd. Abgedruckt in M. KAHLER, Schriften zu Christologie und Mission, hg. von H. FROHNES, M ü n c h e n 1 9 7 1 ( T B 4 2 ) , 4 8 7 - 4 9 1 .
43
Vgl. die Einleitung von H. FROHNES ZU den beiden Briefen in: M. KAHLER (Anm. 42), 1971, 487 f.
44
M . KÄHLER ( A n m . 4 2 ) , 4 8 8 ff. (M. KAHLER a n G. WARNECK, H a l l e , 9. Februar 1 9 0 8 ) .
45 46
Ebd.; vgl. auch ChW 22 (1908), 212f. ZSTA Mers. Rep. 76 V a Sekt. 8 Tit. IV Nr. 31/VII, 5V - 6 r (Antrag der Fakultät auf Errichtung einer ordentlichen Professur für Missionswissenschaft vom 30. November 1907).
Die „öffentliche Nobilitiening der Missionssache"
207
ernannt und verpflichtet, neben der Vertretung der Missionswissenschaft in Vorlesungen und Übungen auch den praktischen Theologen bei der Abhaltung seiner Seminare zu unterstützen. Zugleich wurde er zum Direktor des missionswissenschaftlichen Seminars bestellt 47 . Vorher war in den Berufungsverhandlungen allerdings festgelegt worden, daß die Professur für Missionswissenschaft „etatsmäßig" nur als Extraordinariat bestünde 48 . Mit der Einrichtung des missionswissenschaftlichen Seminars wurde nach KÄHLERS Worten fur die Missionswissenschaft „der feste Pflock in die Facultät geschlagen" 49 . Seit der Berufung HAUSSLEITERS hatte auch die Professur einen gesicherten Platz an der Theologischen Fakultät in Halle. Die Untersuchung hat aber gezeigt, daß ihre Institutionalisierung nicht das Ergebnis einer planmäßigen wissenschaftspolitischen Konzeption war, sondern sich aus persönlichen, besetzungspolitischen und richtungspolitischen Konstellationen ergab. Auch „Zufalle" spielten mit hinein. Ein Blick in den weiteren Zusammenhang der Fakultätsgeschichte verdeutlicht, daß das „meisterliche" Bemühen der Fakultät, ein Gleichgewicht zwischen „positiver" und „liberaler" Theologie zu „institutionalisieren", in allen Besetzunsgfragen von ausschlaggebender Bedeutung gewesen ist 50 .
47 48
A. a. O. (Anm. 46), 49r; UAH Rep. 4 Nr. 842, 44 (Abschrift: Information des Ministers an G. HAUSSLEITER über seine Berufung, Berlin, 26. April 1908). A.a.O. (Anm. 46), 50R - 51R (Protokoll eines Gesprächs zwischen G. HAUSSLEITER und einem Ministeriumsvertreter über die Berufungsmodalitäten, Berlin, 12. Februar 1908).
49
M . KAHLER ( A n m . 4 2 ) , 4 8 9 .
50
Für das Neue Testament hat das nachgewiesen W. WIEFEL, Zwischen Spezialisierung und richtungspolitischer Gleichgewichtsstrategie. Zur Geschichte der neutestamentlichen Arbeit an der Universität Halle-Wittenberg 1888-1918, Wiss. Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1976/13 (T 10), 5 f.; 13; 26.
208
Kirchengeschichte
Anhang 51 Spectabiiis, Hochverehrter Herr College, nachdem ich in vorläufigen Unterredungen mit der Mehrzahl der Herrn Collegen nirgend auf eine Ablehnung gestoßen bin, erlaube ich mir jetzt an die Hochwürdige Facultät den ausdrücklichen Antrag in Gemeinschaft mit dem Herrn Collegen Hering zu stellen, den Dr. phil. Gustav Warneck zu Rothenschirmbach honoris causa zum Doctor Theologiae zu promovieren. Den Anlaß zu diesem Antrag bieten die Verdienste, welche W. sich um ein theologisch begründetes und erleuchtetes Verständnis und Interesse für die neuere Mission erworben hat. Daß wir ihn promovieren, erscheint mir wünschenswert, weil er ein unserer Facultät Ehre machender Zögling derselben ist; er hat von 1855 ab hier und nur hier studiert. Er ist ein Sohn / unserer Provinz. Seine Thätigkeit kommt durch die Einrichtung der Sächsischen Missions-Conferenz besonders unserer Provinz, und namentlich auch unseren Studierenden zugute. Den gegenwärtigen Zeitpunkt für meinen Antrag wähle ich, nachdem ich im Blick auf die bevorstehende Lutherfeier einige Zeit geschwankt habe, weil mir, freilich nur unbestimmte, Nachrichten zugekommen sind, man habe auch anderwärts davon gesprochen, und ich allerdings aus obigen Gründen, und weil ich als Studiengenosse ihm nahe verbunden bin, es ungern sehen würde, wenn nicht wir ihn promovierten. Die am Ende des Monats stattfindende Missionsconferenz würde den geeigneten und erklärenden Anlaß für die Promotion in diesem Augenblicke bieten. Da die neuere Mission sowohl zur neueren Kirchengeschichte und zur kirchlichen Statistik, als zur praktischen Theologie in Beziehung steht, liegt W's ausgebreitete schriftstellerische Thätigkeit nicht außerhalb der Theologie. Allerdings greift sie wohl nirgend in die stricte Gelehrsamkeit bestimmt hinüber. Doch beweisen die beiden selbständigen Arbeiten: „Die gegenseitigen Beziehungen der modernen Mission und Cultur." 326 S. 1879 und „Abriß einer Geschichte der protest. Missionen von der Reformation bis auf die Gegenwart" 155 S. 1882 (auch in Herzog-Plitt) / eine umfassende Kenntnis nicht bloß auf dem engsten Gebiete, und zeigen sein Bestreben, die Missionsangelegenheit in die Beleuchtung und unter die Zucht allgemeiner wissenschaftlicher Erkenntnis zu stellen; man wird das vielleicht in besonderem Maße als seine Leistung betrachten dürfen. Seit 1874 redigiert er mit anerkanntem Geschicke die „Allgemeine Missionszeitschrift", in welche er selbst eine Reihe Aufsätze 51
UAH Rep. 27 III/A Nr. 7, Bd. 2 (M. KAHLER und H. HERING an den Dekan J. JACOBI, Halle, 14.01. 1883).
Die „öffentliche Nobilitierung der Missionssache"
209
mehr theoretischer Richtung geliefert hat, die zum Teile auch separat erschienen sind, z.B. „Der Missionsbefehl als Missioninstruction" 1874, „Die apostolische und die moderne Mission" 1876 ,,Das Studium der Mission auf der Universität" 1877. „Die Missionslehre als Keryktik" 1877. „Die Rückwirkungen der Heidenmission auf das religiöse Leben der Heimat" 1881. Dazu kommen volkstümliche Schriften, die doch den weiten Horizont des Verf. zeigen; namentlich: „Warum ist das 19. Jahrhundert ein Missionsjahrhundert" 1880. 1878 sind Missionsstunden von ihm erschienen, 295 S. In den letzten sechziger Jahren hat er bereits eine Predigtsammlung „Christus und Pilatus" veröffentlicht. Aufsehen hat auch der Vortrag gemacht: „Warum hat unsere Predigt nicht mehr Erfolg?" 1880. - Gewiß ist es, daß seine Arbeit auch den Geographen und Ethnographen Achtung einflößt, und das „Ausland" ihm seine Spalten geöffnet hat. Ich darf hoffen, daß die geschichtliche Seite seiner Arbeiten noch eine competentere Beurteilung und Empfehlung erhalten wird, als von mir geboten werden kann. / Sollten sich die Herrn Collegen entschließen, unserem Antrage zuzustimmen, so würde ich, vorbehaltlich jeder Änderung, [die größere] Übung und eine sicherere und gewandtere Feder bieten möchte, etwa folgendes elogium vorschlagen: virum reverendum G. W. philosophiae doctorem, ecclesiae Roth, parochum, qui eruditione ampia doctrina ornatus et non indefesso labore eee sine fructu tarn scriptis quam concionibus evangelii nostris temporibus propagati nec non propagandi Cognitionen! accurntam et emendavit et auxit ius divinum trenue defendit rationes et regulas leges viasque scite ac dilucide explicavit posuit Studium inter nostrates feliciter excitavit.
Halle den 14. Januar 1883
Kähler Hering Herr College Schlottmann hat seine Zustimmung mündlich gegen mich erklärt u ich stimme ebenfalls zu. Jacobi, Dekan Demnach Beschluß: Promotion, u zwar auf Kosten der Facultät, zum 31. Januar 83. J.
der Sohn und Erbe.* Annäherung an einen Unbekannten
GOTTHILF AUGUST FRANCKE,
Udo Sträter, Halle/Saale
1. Problemanzeige Glaubt man den gängigen Lexika, scheint eine Beschäftigung mit GOTTHILF kaum zu lohnen. Die große Theologische Realenzyklopädie hat für ihn keinen eigenen Artikel vorgesehen; er wird in dem präzisen Artikel über seinen Vater nur abschließend knapp erwähnt.1 Mustert man ältere Artikel, scheint diese en-passant-Behandlung eher ein Gnadenakt zu sein als ein wirkliches Manko. Die Protestantische Realencyklopädie aus der Zeit der vorigen Jahrhundertwende, Vorläuferin der TRE, vermeldet kurz und vernichtend über GOTTHILF AUGUST FRANCKE, daß „dessen anspruchsvolles Wesen seinen Leistungen nicht entsprach"2. Wo GOTTHILF AUGUST FRANCKE eigens thematisiert wird - und das zumeist im Vergleich mit seinem Vater - schneidet er nicht gut ab. Im zweiten Band des Lexikons Die Religion in Geschichte und Gegenwart von 1928 erfahren wir von HANS LEUBE, daß FRANCKES Sohn, „obwohl er bis zu den höchsten kirchlichen Ämtern emporstieg und 1727 ord. Professor an der Universität in Halle wurde, seinem Vater an geistigen Fähigkeiten weit unterlegen war"3. Diese Darstellung LEUBES beherrscht seitdem die Literatur, und ERICH BEYREUTHER, der eine populäre Biographie AUGUST HERMANN FRANCKES AUGUST FRANCKE
* 1 2
3
Um Anmerkungen erweiterter Vortrag, gehalten am 16. Juni 1993 im „Englischen Haus" der Franckeschen Stiftungen. F. DE BOOR, Art. „August Hermann Francke". In: TRE 11, 1983, [312-320] 318. C. MIRBT, Art. „Pietismus". In: RE3 15, 1904, [774-815] 786, 25 f. - Gemeint ist in diesem etwas verunglückten Satz offenbar, daß dessen anspruchsvollem Wesen seine Leistungen nicht entsprachen. H. LEUBE, Ait. „Francke. 2. Gotthilf August". In: RGG2 2, 1928, 652.
212
Kirchengeschichte
verfaßt hat, 4 trägt dieses Urteil weiter. 5 Kann BEYREUTHER überhaupt Positives von GOTTHILF AUGUST FRANCKE sagen, so fixiert er ihn als braven Epigonen: „Er hat im wesentlichen die begonnene Arbeit in seltener Treue weitergeführt." 6 In dieser Form lobender Herabsetzung hat BEYREUTHER das Bild GOTTHILF AUGUST FRANCKES auch in das derzeit gängigste evangelischtheologische Nachschlagewerk, die RGG 3 , hineingebracht.7 Scheinen die Lexika noch von einem gewissen Wohlwollen erfüllt, wird das Bild GOTTHILF AUGUST FRANCKES vollends verdüstert in den anfallenden Nebenbemerkungen der Literatur. Für WILHELM SCHRÄDER etwa, den Verfasser einer Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle (1894), ist GOTTHILF AUGUST nur noch eine Karikatur des großen AUGUST HERMANN FRANCKE: „... und der Nachwuchs", so schildert SCHRÄDER die Hallenser Pietisten der zweiten Generation, „Anast. Freylinghausen und Aug. Gotth. Francke, besaß weder die Tiefe noch die Kraft, um das Alte zu halten und Neues hinzuzutun". 8 Demnach also nicht „der Sohn und Erbe", wie das mir vorgegebene Vortragsthema ankündigt, sondern, wie SCHRÄDER urteilt, „der beschränkte und zugleich herrschsüchtige Sohn" 9 eines großen Vaters, - soll der ein lohnendes Thema, mehr noch: Gegenstand wissenschaftlichen Interesses sein? Das Verdikt der Literatur scheint einhellig; und doch bleibt die Frage, ob es so begründet ist, wie es der apodiktischen Form entspräche. Es fällt auf: bei SCHRÄDER heißt der junge FRANCKE falschlich „August Gotthold". Unter demselben falschen Namen taucht er bei BOGDAN KRIEGER auf, in seiner Edition VON FREYLINGHAUSENS „Sieben Tagen am Hofe Friedrich Wilhelms I." (1900). 10 Von dort wandert „August Gotthold" in JOCHEN KLEPPERS be4
E. BEYREUTHER, August Hermann Francke 1663-1727. Zeuge des lebendigen Gottes. Marburg 1956. - DERS.: August Hermann Francke und die Anfänge der ökumenischen Bewegung. Hamburg 1967. 5 „F. erreichte mühelos im Gegensatz zu seinem Vater die höchsten akademischen und kirchlichen Ämter, obwohl er körperlich und seelisch gehemmt und längst nicht so begabt wie sein Vater war" (E. BEYREUTHER, Art. „Francke. 2. Gotthilf August". In: N D B 5, 1960, 325). 6 A. a. O. (Anm. 5). 7 „Seinem Vater war der körperlich wie seelisch gehemmte Sohn nur in der selbstlosen Treue ähnlich, mit der er das Begonnene pflegte..." (RGG3 2, 1958, 1016). 8 W. SCHRÄDER, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. Bd. I. Berlin 1894, 266. 9 A. a. O. (Anm. 8). 10 Sieben Tage am Hofe Friedrich Wilhelms I. Tagebuch des Professors J. A. Freylinghausen über seinen Aufenthalt in Wusterhausen vom 4.-10. September 1727. M. Einl. u. Erklärungen hg. V. B. KRIEGER. Berlin 1900, S. 8.
GOTTHILF AUGUST FRANCKE, der Sohn und Erbe
213
kannte literarische Bearbeitung „Der Soldatenkönig und die Stillen im Lande" 11 . Die Lexika schreiben den Namen zwar richtig, aber die Frage bleibt: ist GormiLF AUGUST FRANCKE denen überhaupt hinreichend bekannt, die über ihn schreiben? Jedenfalls zeigen die Lexikonartikel über Jahrzehnte hinweg zwar alternative Formulierungen, aber keinen neuen Forschungsstand, ja nicht einmal Ansätze zu neuen Fragestellungen. Es dominiert das Verdikt, kurz und ohne Begründung gesprochen. Völlig anders ist das Bild, geht man ins 18. Jahrhundert selbst zurück. Zu GOTTHILF AUGUST FRANCKES G e b u r t s t a g a m 1. April 1730 ü b e r s e n d e t der T h e o l o g i e s t u d e n t ERNST HOYER ein G l ü c k w u n s c h g e d i c h t , in d e m er den T o d AUGUST HERMANN FRANCKES drei Jahre z u v o r u n d die N a c h f o l g e d e s S o h n e s
in der Elia-Elisa-Bildlichkeit thematisiert: 12 „WEr sieht Dich, Andrer Franck! und welcher freut sich nicht? Denn er erblickt in Dir, des Vaters Angesicht, Den, Deine Munterkeit, die nachgeahmte Taten, Dein Wesen, Deine Art, aufs deutlichste verrathen. Trittst Du zum Lehr=Stuhl hin, so denckt; der es nicht weiß; Es rüff, es predigte der aufgelebte Greiß; Der gantze Mantel muß auf Deine Schultern passen, Den, bey der Himmelfahrt Dein Vater fallen lassen."
Der Einwand liegt nahe: hier handelt es sich um eine gattungstypische Übertreibung. Sicher wird man vom hier gezeichneten Bild Abstriche machen müssen und vielleicht auch eine paränetische Dimension des Gedichtes in Betracht ziehen. Aber 1730, knapp drei Jahre nach dem Tode AUGUST HERMANN FRANCKES, kann auch ein Gratulationsgedicht nicht völlig an der Realität vorbeizielen und den Umschlag des Erhabenen ins Lächerliche riskieren. Andere Stimmen gesellen sich hinzu. Zehn Jahre zuvor, nach seinem Theologischen Examen vor dem Konsistorium in Magdeburg, wo der Abt BREITHAUPT, einer der ältesten F r e u n d e und Mitstreiter AUGUST HERMANN FRANCKES sein H a u p t p r ü f e r war, berichtete GOTTHILF AUGUST seiner M u t -
ter: 13 11 J. KLEPPER, Der Soldatenkönig und die Stillen im Lande. Begegnungen Friedrich Wilhelms I. mit August Hermann Francke, August Gotthold Francke, Johann Anastasius Freylinghausen, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Berlin 1938. - Der Vorname wurde in der zweiten Auflage korrigiert. 12 E. HOYER, Den Auf ... Gotthilf August Francken ... Von Dero In Gott ruhenden Herrn Vater ... Fortgepflantzten Eyffer und Segen im Wercke GOttes Suchte ... vorzustellen ... Ernst Hoyer. Jena [1730]. 13 Archiv der Franckeschen Stiftungen (AFSt), A 128: 85.
214
Kirchengeschichte „Diesen Abend nach tische war ich noch bey dem Hn. Abt, da er wol eine stunde verschiedenes mit mir redete. Ich sagte unter andern, daß ich GOtt preise, der mich gewürdiget, daß wie vor wenig übrigen theuren Vätern, alß auch vor I. Hochw. s. Wort verkündigen können, u. bat mir s. Erinnerung zu meiner Beßerung aus. Er antwortete aber: Visus mihi sum, videre non Te, sed parentem Tuum, qualem vidi olim virum iuvenem, u. habe mich hertzl. erfreuet."
Zu gleichem Anlaß schreibt ein Freund der Familie an ANNA MAGDALENA FRANCKE, GOTTHILFS M u t t e r : „Der Ordination habe ich heute mit beygewohnet, und waren manche Personen dabey, welche sonsten solchen actibus nicht offt pflegen beyzuwohnen. Den vergangenen Sonntag hat ihr liebwehrtester H. Sohn auff unsres Hn. Abts verlangen also geprediget, daß alle zuhörer, die Gott fürchten, ein wahres besonderes vergnügen gehabt. Alß der H. Abt es mir erzehlte, sagte der theure Gottesmann: man hätte keinen Unterschied unter Vätern und Sohn machen können, alß des H. Vaters graue Haare etc. Ein boßhafftiger Gärtner des Closters hätte, wie der H. Abt selbst angemercket, mit ungemeiner Attention zugehöret, und wären deßen Rührungen in der Predigt wohl verspüret worden." 14
Die Beispiele ließen sich vermehren, der Eindruck bleibt: so sehr ihn spätere Zeiten als den dürftigen Epigonen seines Vaters zeichnen, so sehr wurde GOTTHILF AUGUST von seinen Zeitgenossen als dessen Ebenbild gefeiert. Daß sie ihn so sehen wollten, liegt auf der Hand. Kann aber diese Sicht inszeniert worden sein an aller Wirklichkeit vorbei? Jedenfalls findet sich die positive Würdigung FRANCKES nicht nur in den jungen Jahren seines Lebens, als seine Zeitgenossen ihre Hoffnungen und Erwartungen anspruchsvoll in ihn hineinprojizieren konnten, sondern auch an seinem Lebensende, als seine Leistungen und Defizite offenkundig waren. Immerhin versah er bei einem Lebensalter von 73 Jahren, 5 Monaten und einem Tag nahezu 50 Jahre lang das Predigtamt, 46 Jahre lang war er akademischer Lehrer, über 42 Jahre hindurch leitete er die Anstalten zu Glaucha und knapp 39 Jahre lang war er Inspector der ersten Diözese des Saalkreises. Was seine Zeitgenossen an ihm geschätzt und gerühmt haben, rundet sich zu einer beeindruckenden Charakteristik: ein hervorragendes Gedächtnis, scharfe und praktische Urteilskraft, gründliche Gelehrsamkeit, die Beherrschung mehrerer Sprachen, ausnehmenden Fleiß und sofortige Erledigung aller Aufgaben, die genaue Ordnung und Einteilung der Zeit, Abstand vom Treiben der Welt, Vorsicht im äußeren Umgang, Hilfsbereitschaft und eine ausgeprägte Bescheidenheit; sein Wahlspruch, den er auch bevorzugt in Stammbücher zu schreiben pflegte, sei gewesen: 14
AFSt A 128: 86.
GOTTHILF AUGUST FRANCKE, der Sohn und Eibe
215
„So viel werden wir nur taugen, Als wir sind in GOttes Augen."
Als erstes Fazit bleibt: es zeigen sich zwei völlig divergierende Bilder GOTTHILF AUGUST FRANCKES. T r o t z aller apodiktischen Urteile der neueren
Literatur sind die Informationen über ihn umso präziser - und zugleich die Urteile umso positiver-, je dichter man an seine Lebenszeit herangeht. An Fülle der mitgeteilten Fakten noch immer unübertroffen ist der Artikel, den GUSTAV KRAMER, d e r B i o g r a p h AUGUST HERMANN FRANCKES, in der
Allge-
15
meinen Deutschen Biographie veröffentlicht hat; er ist seinerseits noch ganz orientiert am Lebenslauf Gotthilf August Franckes von JOHANN GEORG KNAPP (1770), dem langjährigen Mitdirektor und schließlich Nachfolger FRANCKES in der Direktion des Waisenhauses und des Paedagogium Regium. 16 Seither sind zwar schärfere Urteile zu verzeichnen, jedoch keine präzisere Forschung. Dem trägt BEYREUTHER letztlich Rechnung, wenn er einräumt: „doch fehlt bislang noch eine grundlegende Untersuchung, die ein gerechtes Urteil gestattet" 17 . Eine solche Untersuchung fehlt noch immer; sie ist aber jetzt in das Forschungsprogramm des Interdisziplinären Zentrums fur Pietismusforschung aufgenommen. Was zuvor in diesem Vortrag geleistet werden kann, ist nur ein erster Versuch der Annäherung an einen Unbekannten. Zunächst aber ein Blick auf FRANCKES Lebenslauf.
2. GOTTHILF AUGUST FRANCKES Lebenslauf
GOTTHILF AUGUST FRANCKE w u r d e am 21. M ä r z alten Stils, nach neuer
Rechnung am 1. April des Jahres 1696 in Halle geboren. Das Datum seiner Geburt fiel also, wie KNAPP bedeutungsvoll hinzusetzt, „in diejenige Zeit [...], da sein Herr Vater eben mit der Anrichtung eines Waisenhauses umginge, des-
15 16
[G ] KRAMER, Art. „Francke, Gotthilf August". In: ADB 7, 1878, 231-233. Gedächtsnisrede den 17ten Nov. 1769 auf dem Waisenhause gehalten von D. Johann Georg Knapp. [40 S. - Mit eigener Paginiening] in: J. G. KNAPP (Hg.), Denkmal der schuldigen Hochachtung und Liebe gestiftet dem weiland Hochwürdigen und Hochgelarten HERRN D. Gotthilf August Francken, Königl. Preufl. Consistorialrath im Herzogtum Magdeburg, der Friedrichsuniversität, der Theologischen Facultät und des Stadt=Ministerii Senior und ersten Inspector im Saalkreis, wie auch des Pädagogii Regii und des Waisenhauses Director. Halle 1770. 17 RGG 3 2, 1016. Ähnlich in NDB 5, 325.
216
Kirchengeschichte
sen Erbauung auch bald darauf 1698 den Anfang nahm" 18 . Zuerst von Privatlehrern unterrichtet, seit dem fünften Lebensjahr im Hebräischen unterwiesen, wobei er eher nebenbei auch Französisch und Englisch lernte, kam GOTTHILF AUGUST erst in seinem dreizehnten Lebensjahr in eine der Schulen, die den Anstalten seines Vaters ihren Weltruhm einbrachten: in das Paedagogium Regium 1 9 . Im Jahr darauf, 1710, wurde der junge Reichsgraf NIKOLAUS LUDWIG VON ZLNZENDORF sein Mitschüler; 20 es fällt auf, daß die vierjährige gemeinsame Zeit im Paedagogium Regium nur an den äußeren Daten rekonstruierbar bleibt. Im Frühjahr 1714 verabschiedete sich GOTTHILF AUGUST FRANCKE aus der Classis Selecta des Paedagogiums mit einer lateinischen Rede zum Thema, „wie man sich vor der Thorheit neuerfundener Kunstwörter hüten könne", 21 und begann das Studium an der Universität Halle. Bald darauf konnte sein Bekehrungserlebnis gemeldet werden. Es hatte nicht annähernd die Dramatik und Intensität der Lüneburger Bekehrung seines Vaters, 2 2 sondern erscheint als Krönung des väterlichen Erziehungswerkes, bleibt aber auch als „kräftige Erweckung zum seligen Durchbruch" 23 auf den Tag datierbar. Ani aß war eine Predigt AUGUST HERMANN FRANCKES am 2. Juli 1714 in Könnern; 24 vollendet wurde die Bekehrung am selben Tage im Collegium 18 Des sei. Herrn Consistorialraths, D. Gotthilf August Franckens, Lebenslauf [60 S. Mit eigener Paginierung. In: KNAPP (Hg.), Denkmal. 1770], 6. 19 H. FREYER, Programmata Latino-Germanica cum Additamento Miscellaneorum Vario. Halle 1737. Nr. 423. 20 A. a. O. (Anm. 19), Nr. 466. 21 FREYER (Anm. 19, 141. 152) verzeichnet zwei lateinische Reden GOTTHILF AUGUST FRANCKES aus den Jahren 1713 und 1714. 22 GOTTHILF AUGUST FRANCKE hat später in einer paränetischen Vorlesung den Bekehrungsbericht seines Vaters verlesen und dabei die unterschiedlichen Möglichkeiten des Bekehrungsgeschehens betont: „Alle Exempel wahrer Bekehrung, so sehr sie auch in Nebenumständen verschieden sind, kommen in der Hauptsache miteinander überein, daJS sich nemlich die Realität einer gründlichen Herzensänderung deutlich darin characterisirt. ... Gott braucht vielerley Mittel zur Besserung der Menschen. Nicht leicht wird man zwey Beispiele finden, die sich in dieser Absicht einander völlig gleich wären. Einer muß einen harten Kampf kämpfen, einem andern wird es leicht u. s. f. es geht nicht immer nach einer regel: daß man also nicht glauben muß, wer nicht so oder so geführt sey, der sey nicht auf dem rechten Weg. In der Hauptsache muß alles übereinkommen: aber die Nebenumstände, die nur als Mittel zum Zweck dienen, sind sehr verschieden" (gedr. in: Frankens Stiftungen. Bd. 2. Halle 1794, 429 f.). 23 Lebenslauf, 25. 24 Predigt zum Tag der Heimsuchung Mariae über Luk 1,39-56; die Predigt ist mehrfach gedruckt (s. Katalog der in der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt zu
GOTTHILF AUGUST FRANCKE,
der Sohn und Erbe
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Pietatis des Inspectors STÜRMER in Könnern, 25 w o FRANCKES Vater über „die Liebe und Freundlichkeit Christi" sprach. Vom November 1716 bis zum März 1719 unterrichtete GOTTHILF AUGUST FRANCKE - wie so viele seiner Kommilitonen - als ordentlicher Informator am Paedagogium Regium. Aus dieser Zeit praktischer pädagogischer Erfahrungen datieren auch seine ersten Predigten. Unterbrochen wurde diese Lehr- und Studienzeit durch AUGUST HERMANN FRANCKES siebenmonatige „Reise ins Reich" 26 , auf der ihn sein Sohn begleiten durfte und mit dem weitgestreuten Freundeskreis des hallischen Pietismus in persönliche Bekanntschaft kam. Zum Sommersemester 1719 wurde GOTTHILF AUGUST FRANCKE in Jena immatrikuliert. Dort teilte er die Stube mit JOHANN JAKOB RAMBACH.27 Trotz mancher gegenseitiger Freundlichkeiten scheint das später belastete Verhältnis zwischen FRANCKE und RAMBACH28 schon in Jena nicht unproblematisch gewesen zu sein; jedenfalls macht GOTTHILF AUGUST keinen Hehl daraus, daß er gegenüber RAMBACH, der von dem gemeinsamen Jenenser Lehrer JOHANN FRANZ BUDDEUS ebenso wie von AUGUST HERMANN FRANCKE offenkundig geschätzt wurde, eine emotionale Distanz empfand. 29 Halle / Saale vorhandenen ... Predigten August Hermann Franckes. In Verb. m. F . DE BOOR bearb. Ν. Ε . PESCHKE. Halle 1972, Nr. 1 1 5 0 ) . 25 Zu den kirchlichen Verhältnissen in Könnern s. J. C. v. DREYHAUPT, Pagus Neletici et Nudzici, Oder ... Beschreibung des ... Saal = Creyses. Zweyter Theil. Halle 1755, 8 2 4 - 8 2 6 ; CHRISTOPH STÜRMER (gest. 1 7 4 1 ) war seit 1 7 0 0 Pastor in Könnern, seit 1702 zugleich Inspector der 3. Inspection des Saalkreises. 26 Vgl. A. NEBE, Zu August Hermann Franckes Reise ins Reich. Von Hersfeld bis Ingelfingen 1717. In: Beiträge zur Hessischen Kirchengeschichte 10, 1932-35, 376-413. 27 Zu RAMBACH (1693-1735) s.: Johann Jakob Rambach. Leben - Briefe - Schriften. Hg. v. U . BISTER U. M. ZEIM. Gießen 1993. 2 8 RAMBACH gilt als der eigenüiche Nachfolger AUGUST HERMANN FRANCKES in der theologischen Professur; sein Weggang nach Gießen erscheint als Resultat von Differenzen mit GOTTHILF AUGUST FRANCKE (SCHRÄDER II, 2 6 6 ) . 2 9 GOTTHILF AUGUST FRANCKE an seine Mutter, 2 6 . Januar 1 7 2 0 (AFSt Α 128: 5 9 ) : „ . . . , so kan ich nicht leugnen, daß ob ich gleich die vielen Gaben u. Gnade, die Gott in Hn. Ramb. geleget erkenne u. ehre, u. mich oft durch s. Vortrag erbauet befunden, auch mich, Gott weiß es, gegen ihn sehr geringe achte: dennoch unsere Gemiither vom ersten Anfang nicht so recht zusammengefloßen, ob wir wohl sonst in guter Einigkeit u. Frieden beyeinander gewesen. Es hat mich solches oft sehr gedemiithiget, u. gemacht, daß ich zum Herrn geschrien, mag auch v/ol die Schuld an meiner Seite seyn. Indeßen habe es als vom Herrn angesehen, der mich desto näher zu ihm ziehen wollen, da ich, wenn ich manchmal vieles in meinem Gemüthe gef&hlet, den Trost bey Menschen nicht gefunden, den ich gesuchet. Indeßen preise ich doch Gott, der es also zu meinem
218
Kirchengeschichte
FRANCKE beendete sein Studium in Jena mit einer öffentlichen Disputation über die paulinischen Gemeinden. 30 Die Möglichkeit, einen akademischen Grad zu erwerben, wies er mit einer Vielzahl von Gründen von sich; die anklingende Sorge, er habe keinen hinreichend soliden Grund in der Philosophie gelegt, 3 1 scheint nicht nur Bescheidenheitstopos zu sein. Nach Halle zurückgekehrt, wurde ihm das Amt eines Zuchthauspredigers übertragen. 32 Das jetzt fallige Examen absolvierte FRANCKE bei JOACHIM JUSTUS BREITHAUPT, der ihn daraufhin auch ordinierte. Anschließend wurde FRANCKE von JOHANN MICHAEL HEINECCIUS, Vize-Generalsuperintendent, Inspector und Pastor Primarius an der Marktkirche zu Halle (Unser Lieben Frauen) in sein Amt eingeführt. Als HEINECCIUS kurze Zeit später starb und die Pastoren der Marktkirche in der Amtsnachfolge je eine Stufe aufrückten, wurde dort die unterste Stelle frei, die Adjunktur. Man dachte an FRANCKE, und nach einer zu Exaudi 1723 gehaltenen Probepredigt „von dem heiligen Wandel wahrer Christen nach dem Willen Gottes" 33 wurde er in sein neues Amt eingeführt. Anfang Juli 1723 erfolgte auch sein Eintritt in die Theologische Fakultät Halle, als König FRIEDRICH WILHELM I. ihn und RAMBACH zugleich zu Adjunkten der Fakultät
30
31
32 33
besten dirigiret, u. erkenne in der Wahrheit, daß alle seine Wege mit mir nicht nur heilig sondern auch gut seyn; bin auch von ihm nie unerwecket u. ungetröstet gelaßen worden. Ich schreibe auch solches gar nicht, über H. Rambachen zu klagen, sondern nur darum, damit er hiebleiben, u. der Segen, um welches willen ihn Gott mit mir hieher gesandt, zu s. rechten maturität gelange, welche ietzo noch nicht da ist." G. A. FRANCKE, Dissertatio Theologica De Statv Ecclesiarvm Apostolicarvm Earvm Praecipve, ad quas Pavlvs Epístolas suas scripsit Qvam Praeside Ioanne Francisco Bvddeo ... ad diem X. Febr. M D CC XX. Pvblico Ervditorum Examini svbmittit Gotthilf Avgvstvs Francke Hala Magdebvrgicvs nvnc Verbi Div. Minist, et Fac. Theol. Hall. Adivnctvs. Editio Secvnda. Ienae apvd lo. Fridericvm Rittervm. [HBFSt 69 A 4: 15]. An seine Mutter, 19. Januar 1720 (AFSt A 128: 57): „4) Ists auch deswegen »inmöglich, weil ich in der Philosophie nichts gethan habe, u. man doch darin ein Examen ausstehen muß. Solche aber hier zu treiben hat mich theils die Arbeit mit meinen Collegiis gehindert, theils auch daß die neuen Collegia Philosophica erst gegen Advent angegangen, u. folglich gegen Johannis erst geendet werden, welches ich nicht abzuwarten getrauet." Die Zuchthauskirche in Halle war erst 1719 eingerichtet worden. Der erste Prediger, GABRIEL SCHUMANN, war nach kurzer Amtszeit verstorben (DREYHAUPT Π, 276). Gedruckt Halle 1725.
GOTTHILF AUGUST FRANCKE,
der Sohn und Erbe
219
berief. 34 Drei Jahre später, am 14. Juni 1726, wurden beide zu außerordentlichen Professoren der Theologie ernannt. 35 Das große Wohlwollen, das der Soldatenkönig AUGUST HERMANN
FRANCKE und seinem Werk entgegenbrachte, übertrug er auf dessen Sohn; als FRANCKE am 8. Juni 1727 starb, respektierte FRIEDRICH WILHELM dessen
noch zu Lebzeiten getroffene Nachfolgeregelung; er bestätigte umgehend GOTTHILF AUGUST FRANCKE u n d d e s s e n S c h w a g e r JOHANN ANASTASIUS
FREYLINGHAUSEN als Direktoren der Anstalten zu Glaucha und ließ beide zu einem persönlichen Gespräch nach Berlin kommen. Diese klare Entscheidung des Königs für die ungebrochene Kontinuität der Arbeit in Halle stabilisierte die dortigen Verhältnisse entscheidend. Daß die Lage nach dem Tode AUGUST HERMANN FRANCKES als kritisch empfunden worden war, spiegeln Worte des e i n f l u ß r e i c h e n L o n d o n e r H o f p r e d i g e r s FRIEDRICH MICHAEL ZIEGENHAGEN a n
GOTTHILF AUGUST wider, in denen er dem Sohn den Geist und die Kraft des Vaters wünscht, „als wodurch die heimliche Freüde einiger widriggesinneter, die sie über den Tod des seel. Hrn. Professoris mögen gefaßt haben, wird in ihnen gedämpfet werden, und werden, obschon mit Unwillen, bekennen müßen: Caelo sublatus vim virtutemque reliquit." 36 In der Folgezeit setzte sich die Korrespondenz zwischen dem König und den beiden Hallenser Waisenhausdirektoren fort; 37 in seiner Gedenkrede auf d e n T o d GOTTHILF AUGUST FRANCKES w i e s P r o r e k t o r JUNCKER a u s d r ü c k l i c h
daraufhin, der jüngere FRANCKE habe sein ihm von FRIEDRICH WILHELM ge-
währtes Recht „regem ... litteris compellandi" stets zum Wohle des Waisenhauses und zum Wohle der ganzen Universität eingesetzt. 38 Der Briefwechsel 34
Am 8. Juli 1723 als Nachfolger des im Januar verstorbenen JOHANN DANIEL der zu den engsten Vertrauten AUGUST HERMANN FRANCKES gezählt hatte.
HERRNSCHMID,
35
SCHRÄDER 1 , 1 3 5 .
36 37
MAFSt I Β 4 35. Der Briefwechsel mit FRIEDRICH WILHELM betrifft besonders Fragen der Pfarrstellenbesetzung, wobei FWI um die Nennung geeigneter Kandidaten bittet. Seine Briefe sind dann stets an beide Waisenhausdirektoren adressiert: „An den Prof. Francken und Past. Freylinghausen". F. C. JUNCKER, Svpremvm Honorem Fvneri Theologi De Academia et Civitate Christi Vniversa Meritissimi Viri ... Gotthilf Avgvsti Franckii ... indicit ... Halae Magdebvrgicae [1769] [Programma zum Tode von Gotthilf August Francke, gehalten von Prorektor Friedrich Christian Juncker. 36 S. - Mit eigener Paginierung in: KNAPP, Denkmal. Halle 1770], XIX: „quoties inciderei, quod e re vel orphanotrophei vel rei sacrae atque etiam Academiae esset, aut aliquid quacunque in parte detrimentum portenderet".
38
220
Kirchengeschichte
bestand bis zu FRIEDRICH WILHELMS Tod im Jahre 1740, er blieb im Ton sehr herzlich. Neben Fragen der Pfarrstellenbesetzung 39 geht es auch um Fakultätspolitik, zweimal berichtet FRANCKE über die Frequenz der Studierenden; die Indische Korrespondenz wird übersandt, bisweilen geht es um die Salzburger Emigranten in Amerika. Die erhaltenen Entwürfe von Briefen und Memorials zeigen, daß die Hallenser Pietisten den direkten Draht zum König auch weiterhin gern zur universitätspolitischen Einflußnahme nutzen wollten, vor allem in Besetzungsfragen. Sie zeigen zugleich, daß dies mit zunehmender Vorsicht geschah. 4 0 Schon im Jahr nach der Übernahme seiner neuen Ämterfulle als Nachfolger seines Vaters bemühte sich GOTTHILF AUGUST FRANCKE um die Zuweisung eines Adjunkten, der ihn bei seinen pastoralen Pflichten entlasten sollte. Hierbei machte er, der immer über gesundheitliche Probleme klagte, vor allem die Gefahr langfristiger Erkrankungen geltend, die ihn bei Amtsverrichtungen Typisches Beispiel einer Anfrage FRIEDRICH WILHELMS: „Würdige, Besonders liebe Getreue. Es ist der Prediger in hiesigem Waisenhause ... auch gestorben, welches mir gewiß recht leid thut; Ihr müßet Eüch also bemühen, mir einen recht guten Menschen an seine Stelle wieder herzuschaffen, der dem gantzen Wercke vorstehen kan, und dazu die nöthige Capacität hat. Ich bin übrigens Euer wohlaffectionirter König Friedrich Wilhelm. Potsdam den 24 9br 1727. Es ist gewiß großer Schade, daß der Alte Todt ist." (AFSt A 192: 1: Id). 40 Als Beispiel sei der Versuch FRANCKES genannt, sich gegen die beabsichtigte Berufimg FRIEDRICH AUGUST VON HACKMANNS als Nachfolger von THOMASIUS zu wehren. Erhalten ist der vielfach überarbeitete und durch Streichungen und Überschreibungen korrigierte Entwurf eines Memorials (Gestrichenes in Spitzklammern): „Es will alhier gewis versichert werden, als werde der HofR Hackmann ehestens als Prof. Iuris hieher kommen. Nim ist, Allergnädigster König und Herr, leider (durch gedachten Thomasium> unter hiesigen stud. Iuris so viel profanes wesen und äußerste Verachtung des Wortes Gottes, und öffentlichen Gottesdienstes auch sonderlich des H. Abendmahls eingerißen, davon auch anietzo manche Studiosi Theologiae mit inficiret worden, daß es nicht gnug zu bejammern stehet. Man hat aber die Hofnung gefaßet, daß , unter Göttl. Beystand eine beßre disciplin u. Zucht unter die Stud. Iuris eingefuhret werden könne. Solte aber gedachter Hackmann hieher kommen, ... so dürfte es vielleicht noch schlimmer und des ruchlosen wesens mehr werden ..." (AFSt A 192: 1: la). Freylinghausen befürwortete in einer Anmerkung den Inhalt, mahnte jedoch: „Thomasii und nonnullorum aliorum ex ICtibus nostris ea ratione als geschehen zu gedencken, wolte nicht rathen. Tua pace habe theils ausgestrichen, theils ad marginem notiret, was mir bedencklich geschienen hat." Die Intervention FRANCKES, der sich nach einem Votum PAUL ANTONS auch die Theologische Fakultät anschließen sollte, bewirkte nicht den angestrebten Erfolg. 39
GOTTHILF AUGUST FRANCKE, der Sohn und E r b e
221
in der kalten Jahreszeit bedrohe. A l s Adjunkten brachte FRANCKE SLEGMUND JAKOB BAUMGARTEN ins Gespräch. D a s Kirchenkollegium der Marktkirche antwortete zunächst ablehnend und nicht o h n e Ironie; 4 1 dann aber setzte sich FRANCKE durch, w o h l nicht o h n e deutlichen H i n w e i s a u f seine königliche Protektion. W i e w i c h t i g er die S a c h e nahm, zeigt seine M e l d u n g d e s E r f o l g e s an BREITHAUPT: „Endlich hat der Herr den S i e g g e g e b e n , d a ß H. B a u m g a r t e n gestern durch 7 v o t a v o n d e m K i r c h e n - C o l l e g i o z u m e i n e m A d i u n c t o ist erwehlet worden."42 D e r T o d PAUL ANTONS im Oktober 1 7 3 0 eröffnete FRANCKE ein w e i t e r e s A r b e i t s g e b i e t . 4 3 ANTON w a r - w i e BREITHAUPT - einer der ältesten Freunde seines V a t e r s g e w e s e n . Er war Mitbegründer d e s Leipziger Collegium
Philo-
biblicum,
nach
seit
1695
gehörte
er -
als z w e i t e r
Theologieprofessor
BREITHAUPT dorthin berufen - der T h e o l o g i s c h e n Fakultät Halle an. Z u g l e i c h w a r er Konsistorialrat in M a g d e b u r g und - seit 1 7 0 9 - Inspector d e s Saalkreises. GOTTHILF AUGUST war ihm zunächst als Adjunkt z u g e o r d n e t , 4 4
nach
41
Der Antrag FRANCKES, SO schrieben sie am 19. Oktober 1728, schiene anfangs ziemlich plausibel, jedoch bei genauerem Hinsehen sei nicht alles so beschaffen, daß man es akzeptieren könne: „Es ist die Adjunctur bey unsrer Kirche das kleineste Dienstgen, so Sie zu verwalten, und was wird ihnen ein Substitutus hiebey helffen, da ihnen die Centner schwere Last der andern höchstwichtigen Ämter halber auff ihren Schultern liegen bleibe, hingegen können sie sich diese Last umso viel leichter machen, wann sie entweder zu denen andern bedienungen sich einen Gehülffen, oder Adjunctum ausersehen, und deßen Sublevation gebrauchen, oder so die actus ministeriales bey unserer Kirche ohne Verletzung ihrer Gesundheit nicht fortzusetzen, die gantze Function lieber fahren laßen. ... Wir laßen des vorgeschlagenen Candidati Herrn Baumgartens qualitatem circa vitam et doctrinam ausgesetzet, allein, wir sehen nicht ab, wie er zu mehrern Bedienungen sich entschließen könne, da ihm schon durch auffgetragene Inspection bey den Wäysen-Hauße so viel auffgeleget, daß er gnug damit zu thun findet, und besorgen wir nicht unbillig, es möchte dieser gute mann, so ebenfalls sehr schwach und zart aussiehet, in kurtzem sich nach einem substituto sehnen, und deren zahl mit der zeit kein Ende nehmen." (AFSt A 192: 2: m l )
42 43 44
AFSt A 192: 2: u l . - BAUMGARTEN blieb in dieser Stellung bis 1734. Zu ANTON (1661-1730) s. ADB 1, 498; NDB 1, 319 f.; RE 3 1, 598-600. Für diese Ernennung bedankte sich GOTTHILF AUGUST FRANCKE bei König FRIEDRICH WILHELM in einer fur ihn charakteristischen Weise: „...versichere Ew. Maj. in Pflichtmäßigster Treiie daß ich auch in diesem mir allergn. aufgetragenen Amte meinen einigen Zweck seyn laßen werde, die Ehre Gottes und das Heyl der Seelen zu befördern, wie ich denn auch, daß solcher Vorschlag Ew. Königl. Maj. allenmterth. gebracht würde, meines Orts aus keiner andern Ursache geschehen laßen, als weil ich eines Theils den alten redi. Mann, der über 40 Jahr meines Vaters treüester Freund und Gehülffe gewesen, zu soulagiren verbunden geachtet, andern Teils aber der Past. Freylinghausen und mehrere solches als dem besten hiesiger anstalten, so in die zu dieser
222
Kirchengeschichte
ANTONS Tod übernahm er selbst das Inspectorat und bekleidete es 39 Jahre lang bis zu seinem eigenen Lebensende. Als erste Maßnahme in diesem Amt gründete er eine wöchentliche Konferenz der Prediger seiner Inspection, in der in Gespräch, Ermahnung und Ermunterung die gegenseitige Erbauung gesucht werden sollte. FRANCKES weitere kirchliche Karriere verlief kontinuierlich, aber unspektakulär. Er stieg in der Hierarchie der Marktkirchen-Geistlichkeit schrittweise so auf, wie durch den Tod von Ranghöheren ein vorderer Platz frei wurde. So rückte er acht Jahre nach Übernahme des Inspectorats als Nachfolger des verstorbenen Diaconus M. JOHANN CHRISTIAN GUEINZIUS auf dessen Stelle vor. 45 Als 1740 der Archidiaconus M. GEORG NICOLAUS DEKELS starb, übernahm er dessen Amt. Überraschend wurde er noch im Alter von 71 Jahren von FRIEDRICH II. zum Konsistorialrat ernannt und im August 1767 in Magdeburg in dieses Amt eingeführt. Auf eine ungewöhnliche Weise erlangten GOTTHILF AUGUST FRANCKE und seine Fakultätskollegen am 16. März 1739 den Titel eines Doktors der Theologie. Bei einer ernsten Erkrankung JOACHIM LANGES, des Seniors der Fakultät, wurde plötzlich wahrgenommen, daß außer ihm kein promovierter Theologe mehr in Halle lehrte; „daher derselbe ... ohne vorhergehende sonst gewöhnliche Disputationes vor seinem Bette die übrigen Professores Theologiae, nahmentlich Gotthilf August Francken, Christian Benedikt Michaelis, Sigismund Jacob Baumgarten, Benedikt Gottlob Clauswitzen, Johann Heinrich Callenbergen, und Johann Georg Knappen zu Doctoribus Theologiae creiret hat" 46 . König FRIEDRICH WILHELM approbierte dieses Vorgehen. D e r T o d FRIEDRICH WILHELMS a m 31. M a i 1740 b e e n d e t e d a s g u t e E i n -
vernehmen zwischen der Familie FRANCKE und dem preußischen Königshaus; FRIEDRICH II. hatte schon als Kronprinz heftige Aversionen gegen GOTTHILF AUGUST FRANCKE entwickelt und nutzte sich bietende Gelegenheiten, dem vermeintlichen „Mucker" in Halle seine Abneigung zu zeigen. 47 Dennoch unternahm er keine Schritte gegen die Anstalten zu Glaucha. Deren Nutzen für
45
Inspection gehörige Glauchische Kirche eingepfarret sind, vorträgl. angesehen." (AFSt A 192: 1kl). Die in dem Archidiaconat zu Halle letzt verstorbenen würdigen Lehrer nach ihrem Leben und Character geschildert. Halle 1772, 1 6 . - Z u GUEINZIUS (1685-1738) s. DREYHAUPT II, 6 2 3 f. (Nr. 191).
46
DREYHAUPT II, 2 3 .
47
Vgl. etwa das von SCHRÄDER II, 360 f. berichtete Vorgehen gegen FRANCKE anläßlich einer Eingabe der Universität gegen den Auftritt einer Komödiantentruppe.
GOTTHILF AUGUST FRANCKE, der Sohn und Eibe
223
den preußischen Staat erwies sich gerade in der Zeit am offenkundigsten, als der „Philosoph zu Sanssouci" mit seinen Eroberungskriegen sein Land dem Ruin nahebrachte. Vor allem in der großen Teuerung von 1740 und in der Zeit des Siebenjährigen Krieges boten die Franckeschen Stiftungen weit über den Kreis ihrer Einwohner hinaus Zuflucht und Versorgung. So sehr FRANCKES weiteres Leben äußerlich unspektakulär verlief, so sehr wuchs er im Beziehungsgeflecht der Stiftungen und des hallischen Pietismus zu einer Vaterfigur heran, auf deren Krisenmanagement Verlaß war und deren Flehen zu Gott auch die Abwendung von Kriegsnot zugetraut wurde. 48 GOTTHILF AUGUST FRANCKE war zweimal verheiratet. Seine erste Ehe Schloß er am 25. Juni 1722 mit JOHANNA HENRIETTE RACHALS, einer Tochter d e s k u r f ü r s t l i c h - s ä c h s i s c h e n R e n t k a m m e r - S e k r e t ä r s JOHANN GEORG RACHALS
aus Dresden; sie starb am 2. Juli 1743 im Alter von 45 Jahren. Sieben Jahre später ging FRANCKE eine zweite Ehe ein und heiratete am 29. Juli 1750 EVA WILHELMINA VON GERSDORF.
FRANCKE starb am 2. September 1769, am Samstag vor dem 15. Sonntag nach Trinitatis, nachmittags gegen 2 Uhr. Die Trauerschriften zu seinem Tod spiegeln die Vielfalt seines Wirkens.
3. Annäherungen
Der Pietismus gilt als eine der Ursprungsstätten der modernen Autobiographie. Nicht erst die Pietisten des mittleren und ausgehenden 18. Jahrhunderts haben sich in Autobiographien mit detaillierten Schilderungen ihrer seelischen Regungen vertieft; schon SPENER hatte, ganz konventionell und fern aller späteren pietistischen Selbstbeschäftigung, mit Blick auf seine eines Tages anstehende Leich = Predigt eine Zusammenfassung seiner Lebensdaten geliefert, die er selbst für wichtig hielt. Aus dem engeren Freundeskreise SPENERs haben wir die Autobiographien des Ehepaars JOHANNA ELEONORA und JOHANN WILHELM PETERSEN. V o n AUGUST HERMANN FRANCKE b e s i t z e n w i r
den ausfuhrlichen, deutlich nach den Vorgaben seiner späteren Bekehrungstheologie gestalteten Bericht über seine Jugend- und Studentenzeit bis zum Lüneburger Bekehrungserlebnis.
48
Vgl. etwa zeitgenössische Gratulationsgedichte zum Geburtstag FRANCKES (HBFSt Α 31b, Nr. 13.21).
224
Kirchengeschichte
GOTTHILF AUGUST FRANCKE hat dergleichen nie vorgelegt, ja zum Bedauern seines späteren Biographen KNAPP jegliche Darstellung seines eigenen Lebenslaufes abgelehnt. 49 Was wir an biographischem Material haben, sind die Aussagen Anderer - und natürlich die Quellen, die von seiner Arbeit Zeugnis geben. Ich muß mich im Rahmen dieses Vortrage darauf beschränken, eine Annäherung an GOTTMLF AUGUST FRANCKE durch einen Blick auf seine einzelnen Tätigkeitsfelder zu versuchen. Zunächst das akademische Amt. Sucht man nach wissenschaftlichen Veröffentlichungen FRANCKES, ist die Ausbeute für eine 40jährige Tätigkeit äußerst gering. Aus den Jahren 1729 bis 1737 sind sieben Programmata Académica überliefert, die GOTTHILF AUGUST FRANCKE in seiner Eigenschaft als Dekan zu halten hatte. 50 Bei weiteren Amtszeiten als Dekan konnte FRANCKE die fälligen Festprogramme „wegen überhäufter Arbeit und Mangel der Zeit" nicht selbst verfassen, sondern mußte diese Arbeit Mitarbeitern überlassen. 51 Ferner sind elf mehr oder weniger wissenschaftliche Beiträge in den „Wöchentlichen Hallischen Anzeigen" zu nennen. 52 Dies ist kein überwältigender Ertrag, und man war sich dessen in Halle offenbar schmerzlich bewußt; jedenfalls klagte JOHANN JACOB MOSER darüber, daß ihm bei seinen Recherchen nach Schriften FRANCKEs keine bibliographische Unterstützung durch 49 „Es hat nemlich dem wohls. Herrn Consistorialrath aus wohlgegründeten Ursachen nicht gefallen, von Seinem Lebenslauf etwas für sich besonders aufzuzeichnen. Er hat sich auch nie dazu bewegen lassen, andern Freunden, auf ihr mehrmaliges Verlangen, einiges davon schriftlich mitzutheilen; indem Er, bey seinen grösten Verdiensten, die Er wircklich hatte, doch allen Schein eines Weltruhms und Begierde, vor der Welt geehrt und angesehen zu seyn, flöhe, und sich daran genügen ließ, daß der HErr die Seinen kenne, und daß Seine Werke in GOtt gethan wären. Daher kommt es, daß man Desselben Leben nirgends beschrieben findet, a) | Eben dis aber ist auch die Ursach, daß, so sehr man es selbst gewünschet, man fürietzo nicht im Stande ist, eine vollständige Lebensbeschreibung, die sonst gewiß pragmatisch und voll merkwürdiger Nachrichten seyn würde, von dem seligen Manne zu liefern; zumal, da die mehresten seiner vertrauten Freunde von gleichem oder höherm Alter, die einen langen Umgang mit ihm gehabt, und auf gegebene Veranlassung manche mündliche Erzehlung von Ihm gehöret haben, bereits vor Ihm in die Ewigkeit gegangen seyn, oder doch allzuweit von hier entfernet wohnen." (Lebenslauf, 5 f.). 50 Lebenslauf, 49, II. 1-7. - Fünf dieser Programme sind gemeinsam neu aufgelegt worden unter dem Titel: Programmatum in Academia Fridericiana publice propositorum Pentas. Halle 1735. 51 Lebenslauf, 49 Anm. c). 52 Lebenslauf, 50, V. - Neu hg. unter dem Titel: Theologisch-Historische Abhandlungen über verschiedene Stellen der H. Schrift, wie auch andere zur Kirchengeschichte gehörige Materien. Halle 1764.
GOTTHILF AUGUST FRANCKE, der S o h n u n d E i b e
225
die Hallenser zuteil geworden sei.53 Wenn HIRSCHING in seinem HistorischLiterarischen Handbuch schlichtweg über FRANCKE urteilt: „Seine Schriften sind insgesamt von keiner Bedeutung . ,." 54 , so ist seinem Verdikt aus dieser Perspektive kaum zu widersprechen: seine akademischen Schriften sind jedenfalls nicht der Schlüssel zum Verständnis GOTTHILF AUGUST FRANCKES. Eher gewürdigt als seine eigenen Werke wird die Arbeit, die er als Herausgeber von Schriften und Vorlesungen seines Vaters55 und seines Schwagers JOHANN ANASTASIUS FREYLINGHAUSEN56 geleistet hat.
Zu den schriftlichen Arbeiten FRANCKES sind auch seine Theologischen Bedenken, seine Gutachten und Responsen, zu rechnen;57 sie sind zumeist in der von BAUMGARTEN herausgegebenen Sammlung von Bedenken der Theologischen Fakultät Halle gedruckt. Solche Gutachten sollten nicht unterschätzt werden. Als Entscheidungshilfe in konkreten Streitfallen angefordert und als Entscheidungsmuster veröffentlicht, waren Theologische Bedenken eine ertrag- und einflußreiche Gattung theologischen Schrifttums mit beträchtlichem Aussagewert über das Renommee einer Theologischen Fakultät.58 Das theologische Profil GOTTHILF AUGUST FRANCKES tritt vielleicht nirgendwo sonst so klar zutage wie in seinen Theologischen Bedenken, in denen er auf konkrete Fragen geantwortet hat. Letztlich ist aber auch auf diesem Gebiet sein Beitrag nicht sehr umfangreich.
53
54 55
56 57 58
„Man hat noch viele kleine Schrifften von ihme, davon ich aber keine Nachricht geben kan, weil weder er, noch seine Herren Collegen, zu der geringsten Communication zu bewegen gewesen sind." (J. J. MOSER, Beytrag zu einem Léxico der jetzlebenden Lutherisch· und Reformierten Theologen. 1740, 208 f.). - Eine umfassende Bibliographie der Schriften GOTTHILF AUGUST FRANCKES enthält die ,.Dritte Abtheilung" des Lebenslaufs (a. a. O., 49-56). Sachlich berechtigt, aber angesichts der oben zitierten Klage Mosers nicht ganz fair erscheint die einleitende Bemerkung dieser Bibliographie: „Nur weniges davon ist in dem Moserischen Léxico ... berührt worden." F. C. G. HIRSCHING, Historisch-Literarisches Handbuch. 1795. Lebenslauf, 54f., VIII. 1 Nr. 1 - 9 . - Z u den wichtigsten von GOTTHILF AUGUST FRANCKE edierten Schriften seines Vaters gehören die Lectiones Paraeneticae, Teil 3-7, Halle 1729-1736; die Erklärung der Psalmen Davids, 1730-1745; das Collegium Pastorale über JOHANN LUDWIG HARTMANNS Pastorale Evangelicum, Teil 1-2, Halle 1741-1743. Lebenslauf, 55, VIII.2 Nr. 1-2. Lebenslauf, 51 f., IV Nr. 1-11. Über FRANCKES Gutachten „Von Duldung des Jüdischen Gottesdienstes" vom 18. August 1730 und seine Bedeutung s. U. ARNOLDI, Pro Iudaeis. Die Gutachten der hallischen Theologen im 18. Jahrhundert zu Fragen der Judentoleranz. Berlin 1993 (SKI, 14) 86 ff. - Dort auch zu weiteren Gutachten Franckes.
226
Kirchengeschichte
Auch als akademischer Lehrer hat FRANCKE nur gedämpftes Lob gefunden. In seiner Trauerrede räumt JUNCKER ein, daß FRANCKES Lehrtätigkeit bei der Vielzahl seiner Verpflichtungen hinter dem üblichen Maß zurückgeblieben sei; was er vorgetragen habe, sei allerdings ordentlich, wenn auch vor allem strikt praxisbezogen gewesen. 5 9 FRANCKE hielt vor allem katechetische Vorlesungen, auch exegetische zum Alten wie zum Neuen Testament und homiletische Vorlesungen, dazu - in Kirchen abgehalten - Predigtübungen, denen er als geduldiger Zuhörer beiwohnte und die er behutsam besprach. Hierin folgte er einem von FREYLINGHAUSEN eingeführten Brauch. Mit zunehmendem Alter bot er aus dem Schatz seiner praktischen Erfahrungen pastoraltheologische Veranstaltungen an, in denen er „Gewissensfälle" durchsprach. 60 Zugleich hielt er über einen Zeitraum von dreißig Jahren, zumeist zweimal die Woche, „horae exegetico-asceticae", die im Großen Saal des Waisenhauses stattfanden. Ausgehend von der Auslegung der Apostelgeschichte und der paulinischen Briefe zielte FRANCKE auf die praktische Anwendung. 6 1 Ebenso nahm er auf Ersuchen der Theologischen Fakultät nach AUGUST HERMANN FRANCKES Tod die „Lectiones Paraeneticae" auf, die anfangs wohl gut besucht waren, in späteren Jahren jedoch offenbar als endlose Wiederholungen allgemeiner Ermahnungen kritisiert wurden und nicht mehr als zeitgemäß galten. 62 59 „Ut de iis primum nonnihil dicanius, quae ad Academiam spectant, scholas b. THEOLOGUS NOSTER non tarn multas quidem habuit, quam ab aliis Professorio ornatis muñere vel aperiri soient, vel saltern iure expectantur, si aliis gravati non sint districtique teneantur curis atque negotiis. Erant autem recitationes eius rite meditatae, solidae et bonae frugis plenae, quanto ad ostentationem minus, tanto magis ad usum theologiae studiosorum et per hos ecclesiae ipsius comparatae..." (JUNCKER, XVI f.) 6 0 JUNCKER, X V I I : „habuit pastorales scholae, plenae senilis et maturae prudentiae, quibus conscientiae simul casus ut vocari soient, qui veterano huic Theologo et simul Ecclesiae non solum sed plurium antisti ecclesiarum abunde in promtu erant, accurate et perspicue disputabat, unde multum se non pauci profecisse fassi sunt." 6 1 Auch bei diesen Veranstaltungen räumt JUNCKER den weniger wissenschaftlichen Charakter ein: „populari quidem magis ratione usus, quam hac quae cathedrae propria est academicae, sed ad eonim tarnen vel inprimis utilitates cuneta referens, qui theologiae se dederant, qui simul exemplo idoneo rationem imbibere poterant eam, qua sacri textus ad indoctos verba facientibus tractandi sunt" (XVII f.). 62 Vgl. JUNCKERS Apologie der paränetischen Vorlesungen in seiner Trauerrede: „In his minime ut quidam vel malevoli vel ignari institutum interpretati sunt, repetendis et continuo quasi recinendis generaliorum paraenesium formulis tempus trivit, sed quae ex usu auditorum vel in praesens tempus vel in futuram vitae occupationem fore videbantur, praeparato bene et divinioribus igniculis accenso animo proponebat auditorio, primis praesertim lustris satis frequenti et numeroso." (A. a. O., XVIII).
GOTTHILF AUGUST FRANCKE, der Sohn und Erbe
227
Kommen allein seine wissenschaftlichen Leistungen in Betracht, wird dem Urteil SCHRÄDERS k a u m zu widersprechen sein, GOTTHILF AUGUST FRANCKE
sei der Universität „als Lehrer und Schriftsteller von geringem Nutzen gewesen" 63 . Diese Auffassung, daß auf wissenschaftlichem Gebiet nicht gerade sein Charisma liege, entspricht allerdings durchaus FRANCKES Selbsteinschätzung. 64 Er hat niemals eine Universitätskarriere angestrebt; ihm sind akademische Ämter und Würden zugefallen, ohne daß er sich darum beworben oder auch nur die sonst dafür erforderlichen wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten vorgelegt hätte. Auch als Professor ist FRANCKE ein Pastor geblieben, der er sein wollte; in seinen Lehrveranstaltungen hat die pietistische Forderung nach starkem Praxisbezug der akademischen Theologenausbildung - wohl nicht nur absichtlich - ihre äußerste Realisierung erfahren. Zur wissenschaftlichen Fundierung dieser Praxis hatte GOTTHILF AUGUST FRANCKE w e d e r Nei-
gung noch Talent. Ansonsten hat er der Universität zu dienen versucht auf den Gebieten, zu denen er sich eher geschickt wußte: als Organisator und Mann der Verwaltung einerseits, andererseits als Seelsorger und Studentenvater, der häufig das seelsorgerliche Gespräch mit seinen Studenten gesucht hat. 65 Gehen wir weiter zu FRANCKE als Prediger. Zum Predigtamt hat er sich eher begabt gefühlt als zur Wissenschaft. FRANCKE predigte meist Sonntags in der Marktkirche, hielt jedoch auch Wochen- und Katechismuspredigten; außerdem predigte er als Professor in der Schulkirche an Sonn- und Festtagen, bei besonderen Anlässen in seiner Eigenschaft als Inspector des Saalkreises auch auswärts. Die Anforderungen an den Prediger FRANCKE waren also beträchtlich. Dennoch gilt auch für dieses Gebiet seiner Arbeit: es ist wenig zum Druck gekommen, - sehr wenig jedenfalls im Vergleich zu den umfangreichen Predigtbänden SPENERS oder der nur mühsam zu bibliographierenden Fülle von Predigtdrucken AUGUST HERMANN FRANCKES. G e d r u c k t sind zumeist Kasual-
predigten zum Tode von Freunden, Kollegen und Mitarbeitern. 66 Von besonderem Interesse ist seine Predigt zur Wiedereinweihung der 1740 durch Feuer 63 64
65 66
SCHRÄDER 1,136. Vgl. den schon zitierten Brief vom 19. Januar 1720 aus Jena an seine Mutter: „Nun habe ich aber nicht die geringste Neigung zu dem Academischen Leben u. Collégien halten, sondern trage, was ich hier thue, als eine Last, die mir oft fast unerträgl. werden will, aus Liebe u. Gehorsam gegen Sie; Es ist auch dieses mir hier eine Verhinderung an vieler Erbauung, die ich sonst etwa hätte haben können, wenn ich nicht unter diesem Joche stekete" (AFSt A 128: 57). Vgl. die Würdigung FRANCKES als „magister et Pater" (JUNCKER, a. a. Ο., XIX). Lebenslauf, 50f., III Nr. 1-25.
228
Kirchengeschichte
zerstörten Georgenkirche, der Predigtkirche seines Vaters. Ganz in den Fußstapfen seines Vaters geht FRANCKE mit der Gemeinde zu Glaucha hart ins Gericht, tadelt die immer noch hartnäckige Unbußfertigkeit und deutet die Zerstörung der alten Georgenkirche als Ausdruck göttlichen Zorns über die abwehrende Gleichgültigkeit der Gemeinde gegenüber dem gewaltigen Gottesbeweis, der sich in FRANCKES Waisenhaus manifestiert 67 . Die anderen pastoralen Amtspflichten, soweit sie in der Kirche stattfanden, hat F R A N C K E - aus gesundheitlichen Gründen - eher gescheut. Die Administration des Abendmahls oder das Beichthören in der kalten Kirche waren Aufgaben, von denen er sich durch seinen Adjunkten entlasten wollte. 68 Er war vom Predigen schnell erhitzt und erschöpft und zog sich langwierige Erkältungen zu; nach dem Siebenjährigen Krieg mußte er seine Predigttätigkeit wegen Schwäche der Stimme fast völlig einstellen und erschien nur noch zu außergewöhnlichen Anlässen auf der Kanzel. Wohler fühlte sich GOTTHILF AUGUST FRANCKE in den Räumen des Wai-
senhauses. Er hielt Erbauungsstunden im Großen Saal, an hohen Festen lud er nach den Sonntagsnachmittags-Gottesdiensten zur Zusammenkunft mit Liedern und Gebeten in sein Haus. Nach dem Vorbild seines Vaters hielt er einmal pro Woche, Montags von 18 bis 19 Uhr Erbauungsstunde in seiner Wohnung, „um mit einigen Knechten und Kindern GOttes so wol von der Universität, als auch von dem Ministerio dieses Orts, (wozu auch bisweilen hohe Standespersonen und von auswärtigen Orten hier durchreisende Prediger gekommen) sich von nöthigen Dingen besonders zu unterreden, und hierauf gemeinschaftlich zu singen und zu beten" 69 . Damit komme ich zum dritten Bereich, G O T T H I L F A U G U S T F R A N C K E S Tätigkeit als Direktor des Paedagogium Regium und des Waisenhauses in der di67
68
69
G. A. FRANCKE, Die Behausung GOttes im Geist, nach ihrer Bereitung, Einweihung und Bewohnung, bey feyerlicher Einweihung der neueibauten S. Georgen=Kirche zu Glaucha an Halle den 17ten Maii 1744. als am 1. Heiligen Pfingst=Tage aus dem ordentlichen Fest=Evangelio Joh. XIV, 23-31. in volckreicher Versammlung öffentlich betrachtet von D. Gotthilf August Francken [...]. Halle 1744. Vgl. FRANCKES Memorial an das Kirchenkollegium der Marktkirche vom 23. August 1728 (AFSt A 192: 2: a): „1. Wie überhaupt, also sonderlich im Winter ist meine Gesundheit vielen Veränderungen und Anstößen unterworfen. 2. Die administratio s. caenae Sonnt, u. Montags greift dieselbe alle mal, wenn es kalt ist, an, so daß ich mich mehrentheils gar übel darauf befinde, wenns auch bald vorüber gehet. [...] 7. So wird auch sehr schwer Sonnabends und Sonntags nacheinander zu predigen im Winter, da ohne dis schwach bin (wie auch Sonnabend post concionem in den Beichtstuhl zu gehen, nachdem ich warm worden bin)." Lebenslauf, 36.
GOTTHILF AUGUST FRANCKE,
der Sohn und Erbe
229
rekten Nachfolge seines Vaters. Hier zu wirken, war wohl sein eigentliches Lebensziel, und auf diesem Gebiet lag seine wirkliche Leistung. Unter seinem Direktorat verzeichneten die Anstalten zu Glaucha den Höhepunkt ihrer Bautätigkeit und die größte räumliche Ausdehnung. 70 Zugleich zeigt sich die umfassendste geographische Ausweitung des hallischen Einflusses, der sich in dem alle Welt erreichenden Netz der dichten Korrespondenzen widerspiegelt. Bisweilen wird in der Literatur angedeutet, die eigentlich treibende Kraft in d e r D i r e k t i o n d e s W a i s e n h a u s e s sei nicht GOTTMLF AUGUST FRANCKE,
sondern seien seine jeweiligen Mitdirektoren FREYLINGHAUSEN und KNAPP gewesen. Dies ist ein ernstzunehmender Hinweis; er bedarf jedoch näherer Überprüfung, als in diesem Vortrag geleistet werden kann. Jedenfalls ist auch ohne voreilige Parteinahme für FRANCKE gegenüber dieser Auffassung Skepsis angebracht. FREYLINGHAUSEN hatte beim T o d e AUGUST HERMANN
FRANCKES die aktivsten Jahre seines Lebens hinter sich. Ausgebrannt und desillusioniert soll er Freunden gegenüber skeptisch über den weiteren Weg des Waisenhauses und seiner Unternehmungen gewesen sein: „das Beste im Lande ist gegessen!". 71 In den folgenden Jahre, 1728 und 1730, durch Schlaganfalle zeitweise gelähmt, erreichte FREYLINGHAUSEN bis zu seinem Tode am 12. Februar 1739 nicht wieder seine volle Arbeitsfähigkeit. JOHANN GEORG KNAPP, der 1738 in die Mitverantwortung für die Anstalten eintrat,
hat sicher einen bedeutenden Arbeitsanteil auf sich genommen. Aber gerade er will sich nachdrücklich für die Verdienste FRANCKES um die Anstalten verbürgen, „wovon ich ein Augenzeuge gewesen bin; da ich in die sechs und dreissig Jahre mit ihm in einer genauen Verbindung bei denselben gestanden, und seinen ganzen Sinn und Wandel genau zu erkennen Gelegenheit gehabt habe; ich werde demnach reden, was ich selbst gesehen und gehöret habe, und ich, der ich dieses rede, weis, daß mein Zeugnis wahr ist." 72 FRANCKE übernahm nicht nur die innere Leitung der Anstalten; er trat auch als Mittelpunkt in das internationale Kommunikationsnetz des hallischen Pietismus ein. Als seinen ersten selbständigen Arbeitsbereich wählte er die Indienkorrespondenz. In den folgenden Jahrzehnten gab er die Missionsberichte heraus.
70 71 72
Die Stiftungen AUGUST HERMANN FRANCKES ZU Halle. Halle 1863, 5: „die meisten und größten Bauten fallen in die Jahre 1730-1745". J. G. KNAPP, Johann Anastasius Freylinghausen. In: Frankens Stiftungen. Bd. 2. Halle 1794, [305-333], 332. KNAPP, Gedächtnisrede, 17.
230
Kirchengeschichte
Mit dem Durchzug von Salzburger Emigranten durch Halle im Jahre 1732 eröffnete sich für FRANCKE ein weiteres außereuropäisches Arbeitsfeld. Die Betreuung der lutherischen Gemeinden in Georgia und Pennsylvanien, die Entsendung der Prediger BOLZIUS und GRONAU sowie HEINRICH MELCHIOR
MOHLENBERG und der ständige Briefkontakt über London nach Amerika gehören zu den prägenden Zügen hallischer Aktivitäten zur Zeit GOTTHILF AUGUST FRANCKES. Die führende Rolle, die er aus der Ferne für die Gemeinden Amerikas gespielt hat, erschließt sich aus seiner Korrespondenz. Wie intensiv diese Führung war, zeigt MÜHLENBERGS Reaktion auf die Nachricht vom Tode FRANCKES: „Die Krone unsers Haupts ist abgefallen: o wehe daß wir so gesündiget haben! Ich habe einen Vater, den mir Gott verliehen, der mich seit 1738 bis 1769 am Hertzen getragen, verloren!"73 Indien und Amerika sind die beiden geographischen Eckpunkte von FRANCKES Wirken. Er hat weder Amerika noch Asien je besucht. Sein Kommunikationsmittel ist die Korrespondenz. Wahrscheinlich ist der Brief überhaupt die literarische Gattung, in der GOTTHILF AUGUST FRANCKES Leben und Wirken anschaulich wird. Und diese Quelle strömt reichlich: angefangen von seinen herrlichen Jugendbriefen aus der Studentenzeit in Jena an seine „hertzliebe Mama" 74 über die vielfach noch in den Wirtschaftsakten des Archivs der Franckeschen Stiftungen steckenden Geschäftsbriefe, in denen Theologie und Kommerz Liaison eingehen, bis hin zur europäischen, indischen und amerikanischen Korrespondenz.75 GOTTHILF AUGUST FRANCKE ist in die Verantwortung für das Werk seines
Vaters schrittweise hineingewachsen. Schon zu Lebzeiten seines Vaters hat er einzelne Arbeitsbereiche eigenständig übernommen. Den weiteren Ausbau der Anstalten gesichert und sie auch durch die Krisenjahre der friederizianischen Kriege hindurch funktionsfähig gehalten, ja ihre soziale Leistungsfähigkeit in den Zeiten der Not gesteigert zu haben, dürfte eine finanz- und verwaltungstechnische Meisterleistung FRANCKES sein. Ihr auf die Spur zu kommen und ihr gerecht zu werden, ist aber nicht möglich ohne die Bereitschaft und die Fähigkeit, Wirtschafts- und Verwaltungsakten zu studieren. 73
74 75
H. M. MOHLENBERG an F. W . PASCHE, Philadelphia, den 2. Januar 1770; gedr. in: Die Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. IV: 1769-1776. Hg. in Zusammenarbeit m. d. Hauptarchiv der Franckeschen Stiftungen Halle v. K. A L A N D in Verb, m. B. KÖSTER U. K.-O. STROHMIDEL. Berlin/New York 1993 (TGP III. 5), Nr. 492 (S. [143-145] 143). - Vgl. auch die Einleitung dieses Bandes, a. a. O., 2f. Eine Edition dieser Briefe, die im neugegründeten Waisenhaus-Verlag erscheinen soll, wird derzeit vorbereitet. Zu FRANCKE als Briefschreiber vgl. Lebenslauf, 36.
GOTTHILF AUGUST FRANCKE, der S o h n u n d E i b e
231
So wird vielleicht deutlich, warum GOTTHILF AUGUST FRANCKE bisher noch keine angemessene Würdigung erfahren hat. Seine Leistung erschließt sich nicht aus der Lektüre weniger programmatischer Schriften, sondern muß rekonstruiert werden aus den Mosaiksteinen einer weltweiten, Tausende von Einzelstücken umfassenden Korrespondenz und aus der sperrigen Materie von Rechnungsbüchern und Bilanzen. Ein einseitig theologiegeschichtlich orientierter Zugriff ist von Anfang an verfehlt; erst die Verbindung von kirchen-, verwaltungs-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Fragestellungen läßt auf ein wirklichkeitsähnliches Bild hoffen. Noch einmal die Frage: Wer war GOTTHILF AUGUST FRANCKE? Ein heroischer Streiter in den Fußstapfen Gottes wie sein Vater? Das wohl nicht. Er war weder ein großer Theologe noch ein begeisternder Kanzelredner, auch kein genialer Projekteschmied. Wer ihn mit diesen Ellen messen will, zielt an ihm vorbei und verweigert ihm das Recht auf eigene Größe. Er war vielleicht ein Musterfall hallischer Anstaltserziehung. Ein „Mucker" also, wie FRIEDRICH II. polemisch meinte? Das eben auch nicht, trotz seiner vielen frommen Sprüche und „Seufzer zum Herrn". Viel näher liegt es, ihn - so gewagt der Ausdruck scheinen mag - als Prototyp des preußischen Beamten hallischer Prägung zu sehen. GOTTHILF AUGUST FRANCKE war, bei aller Exaltiertheit, die aus seinen
frühen Briefen aufscheint, letztlich ein nüchterner Pragmatiker, der seine Aufgabe sah und zu erfüllen trachtete. Er war kein Gelehrter, aber ein Mann von anerkannt umfassender Allgemeinbildung, dessen Kenntnisse sich nicht auf die Theologie beschränkten, sondern weiter gespannt waren und etwa auch die Bereiche von Ökonomie, Architektur, Botanik und Arzneikunde einschlossen; auf keinem dieser Gebiete erhob er den Anspruch, „vollkommen zu seyn", aber in keiner dieser Wissenschaften war er „ein gäntzlicher Fremdling". 76 Wer liest, wie GOTTHILF AUGUST FRANCKE von Erfüllung seiner Pflicht schreiben kann, wer den Reflex dieser Äußerungen in den Trauerreden und Epicedien wahrnimmt, dem drängt sich das Bild vom Preußentum prägenden Pietismus auf: „Er war geschäftig und genau in seinen Amtsführungen. Er wüste, daß dis eine vorzügliche Eigenschaft der Treue sey, die mit der Aufrichtigkeit verbunden ist. Er kante die Pflichten, die ihm die Verwaltung eines jeden Amts, das er führte, auflegte, und es war ihm nicht genug, dieselben mit
76 D ie in dem Archidiaconat ...,25.
232
Kirchengeschichte
einer gewissenhaften Treue zu erfüllen; sondern er suchte darin so viel N u t z e n z u stiften, als es ihm möglich war." 7 7 Für die
Geschichtsschreibung
des Pietismus
ist
GOTTHILF AUGUST
FRANCKE noch ein Unbekannter, den es zu entdecken gilt. Und allen Verdikten der communis
opinio zum Trotz: den zu entdecken sich lohnen wird. Sei-
nen Zeitgenossen stand am Ende seines Lebens fest, daß er im Kreis der Väter des Pietismus seinen himmlischen Platz gefunden habe neben SPENER und seinem Vater AUGUST HERMANN FRANCKE:78 „Die vier und zwanzig Aeltesten Umringen diese Seligen:Den Spener und die beiden Francken, Und fangen an dem HErrn zu danken; Sie fallen auf ihr Angesicht Und rufen Demuthsvoll: .Nicht uns, HErr, nein! uns nicht; Nur deinem allerhöchsten Namen Gebürt, wie in der Gnadenzeit, So auch in alle Ewigkeit, Lob, Ehre, Preis und Dank!' Der Himmel schallet: Amen! Beweglichst beten sie hierauf Um schnellen segensvollen Lauf Des Evangelii auf Erden, Zumal bei den noch fernen Heerden. Die Francken flehn insonderheit: ,Laß übers Waisenhauß, o Vater, allezeit dein Gnaden = Antlitz segnend walten! ' Der HERR spricht: Ja! Es soll geschehn, Und allen denen wohlergehn, Die ihr im geist geliebt; wenn sie sich zu mir halten."
77
78
Die in dem Archidiaconat..., 32. - Treibende Kraft aber dieser Pflichtauffassung war auch nach Ansicht des Verfassers dieser Würdigung sein pietistischer Glaube: „Nichts aber machte ihn so geschäftig, als die reine und edle Absicht, die Ehre desjenigen auszubreiten, vor dessen Auge er als ein treuer Arbeiter erfunden sein wolte. Nichts beschäftigte ihn mehr, als die Erweiterung des Reichs JEsu, und nichts konte seinen Eifer, der niemals erkaltete, mehr beleben, als wenn er durch den Anblick des geschafften Segens aufgerichtet wurde" (a. a. O., 33). Trauergedicht von FRIEDRICH CONRAD DARNMANN. In: Epicedia oder Trauer = und Trost = Schriften [139 S. - Mit eigener Paginierung in: KNAPP, Denkmal. Halle 1770], 97-99.
ALLGEMEINE RELIGIONSGESCHICHTE
Der Reinkarnationsgedanke in christlichen Sondergemeinschaften der Neuzeit Helmut Obst, Halle/Saale
„Aber warum könnte jeder einzelne Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt gewesen sein? Ist diese Hypothese darum so lächerlich, weil sie die älteste ist?", fragt LESSING in der „Erziehung des Menschengeschlechts"1. Im 18. Jahrhundert brach diese uralte, von vielen Religionen positiv beantwortete Frage verstärkt auch unter deutschen Philosophen und Dichtern auf. 2 JOHANN GEORG SCHLOSSER ( 1 7 3 9 - 1 7 9 9 ) , GOETHES S c h w a g e r , v e r f a ß t e eine
Schrift „Ueber die Seelen-Wanderung" und fragt dort in Übereinstimmung mit manchen seiner Zeitgenossen: „...wenn die Raupe stirbt und als Schmetterling wieder aufwacht; wenn sogar das Thier und selbst der Mensch in dieser seiner Welt fast in jedem neuen Verhältniß eine andere Stimmung der Seele bekommt, und sich der Stimmung, die er als Kind, als Mann, als Greis hatte, so gut als gar nicht mehr bewußt ist; sollte da die Wanderung der Seele, das ist die Versetzung der Seele in ganz andere Menschen-Gestalten, so etwas fremdes, so etwas unerhörtes seyn?"3
Seit der Aufklärung wird die Reinkarnationsfrage in gebildeten Kreisen Europas zunehmend diskutiert. Das gilt nicht für die Theologen, für die Theologie ist sie kein Thema. Interessanterweise wird sie auch kein Thema, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, fur religiöse Außenseiter und „Ketzer". In den teilweise recht bunten, ja bisweilen abenteuerlich erscheinenden eschatologischen Entwürfen der zahlreichen „Propheten, Ekstatiker und Charismatiker" des 16.-18. Jahrhunderts finden sich keine Reinkamationshypothesen. Schwierige eschatologische Fragen nach zukünftigen Entwicklungsmöglich-
1
2 3
G. E. LESSING, Die Erziehung des Menschengeschlechts, § 94/95, in: G. E. Lessings sämtliche Schriften, hrsg. v. K. LACHMANN, Leipzig 3 1897, 435. W. FRIEDRICH, Über Lessings Lehre von der Seelenwanderung, Leipzig 1890. Vgl. E. BOCK, Wiederholte Erdenleben. Die Wiederverkörperungsidee in der deutschen Geistesgeschichte, Stuttgart 1932. J. G. Schlossers Kleine Schriften. Dritter Theil, Basel 1783, 58.
236
Allgemeine Religionsgeschichte
keiten der Persönlichkeit werden auf der Grundlage der Lehre von der Apokatastasis beantwortet. Auch der bedeutendste und bis heute einflußreichste „Prophet" des 18. Jahrhunderts, der schwedische Bergrat EMANUEL SWEDENBORG (1688-1772), verlegt die Entwicklung der Persönlichkeit nach ihrem Erdenleben ausschließlich ins Jenseits. Als Teil in sich geschlossener, die christliche Tradition fur sich in Anspruch nehmender religiöser Systeme trat der Reinkarnationsgedanke in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervor. Selbständige Religionsgemeinschaften, für die der Glaube an wiederholte Erdenleben konstitutiver Bestandteil ihrer Lehre ist, entstanden erst im 20. Jahrhundert. Im Vorfeld dieser Entwicklung spielt der KARDECsche Spiritismus mit seiner Reinkarnationslehre eine große Rolle. ALLAN KARDEC (HIPPOLYTE LEON DENIZARDRIVAIL, 1 8 0 3 - 1 8 6 9 ) w u r d e
durch seine Veröffentlichungen, insbesondere durch „Das Buch der Geister und die Grundsätze der Geistlehre", zum maßgebenden „Dogmatiker" des kontinentaleuropäischen und südamerikanischen Spiritismus. 4 Das am 18. April 1857 in Paris erschienene Werk „Le Livre des Esprits" versteht sich als systematische Zusammenfassung der Belehrungen durch höhere Geister. Mittelpunkt des kardecischen Systems ist die Rückkehr der gefallenen Schöpfung zu Gott auf dem Weg sittlich-moralischer Evolution der Persönlichkeit. Der Reinkarnation kommt in diesem langwierigen Prozeß eine große Bedeutung zu, sie spielt eine Schlüsselrolle. „Die Seele, welche während ihres körperlichen Lebens die Vollkommenheit noch nicht erreicht hat, kann ihre Läuterung fortsetzen, indem sie die Prüfung einer neuen Existenz besteht, der Geist also mehrere körperliche Existenzen durchlebt."5 Eindeutig wird festgestellt: „Der Zweck der Wiedereinverleibung ist Abbüßung, eine fortschreitende Verbesserung der Menschheit."6
Die Wiederverkörperungen finden nicht nur auf der Erde, sondern auch auf anderen materiellen Welten des Universums statt.
4
Zu Α. KARDEC vgl. C. B. RITTER VON VESME, Geschichte des Spiritismus, Bd. 3,
5
Leipzig 1900, 255-272; C. KJESEWETTER, Geschichte des Neueren Occultismus. Geheimwissenschaftliche Systeme von Agrippa von Nettesheym bis zu Carl du Prel, Schwarzenburg 1977 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1891-1895), 473-476. A. KARDEC, Das Buch der Geister und die Grundsätze der Geistlehre, Leipzig 1922,
6
KARDEC ( A n m . 5), ebd.
29.
Der Reinkarnationsgedanke in christlichen Sondergemeinschaften der Neuzeit 2 3 7
Der Mensch kann entsprechend seinem sittlich-moralischen Verhalten die Zahl der Reinkarnationen verringern oder vergrößern. Eine Rückkehr auf frühere, moralisch niedrigere Stufen wird ausgeschlossen, es gibt nur die Alternativen Stillstand oder Höherentwicklung.7 Während eines Erdenlebens zur Vollkommenheit zu gelangen, ist nicht möglich. Unterschiedliche soziale Verhältnisse im Laufe der Wiedergeburten kennenzulernen, gehört zu den Chancen und Notwendigkeiten des Entwicklungsweges der Persönlichkeit. Es kann „die Seele eines Mächtigen der Erde den einfachsten Arbeiter später beleben, und umgekehrt; denn unter den Menschen steht oft der Rang in umgekehrten Verhältnis zur Erhebung der moralischen Gefühle. Herodes war König und Jesus Zimmermann"8. Da die Geister die Merkmale der beiden Geschlechter in sich vereinen, können sie je „nach Bedarf eins oder das andere entwickeln"9. Es kann also bei Wiederverkörperung ein Geschlechterwechsel stattfinden. Eine „Seelenwanderung" im hinduistischen und buddhistischen Sinn bezeichnet KARDEC als Aberglauben. Die Geister verwerfen „auf das Bestimmteste die Wanderung der Menschen in die Tiere und umgekehrt"10. Im Lichte der Wiederverkörperungslehre werden im „Buch der Geister" auch Betrachtungen über „Verwandtschaft und Abstammung", „physische und moralische Ähnlichkeiten", „angeborene Begriffe" und „über die Vielheit der Existenzen" angestellt.11 Durch die Wiederverkörperungslehre, so betont KARDEC immer wieder, finden zentrale Fragen der menschlichen Existenz, der Religion und der Philosophie, insbesondere die Theodizeefrage, eine befriedigende und auch vernünftige Antwort. „Gestehen wir also kurz, daß die Lehre von der Vielheit der Existenzen allein das erklärt, was ohne sie unerklärlich ist; daß sie höchst trostbringend und der strengsten Gerechtigkeit angepaßt ist und daß sie fur die Menschen der Rettungsanker ist, welchen Gott in seiner Bannherzigkeit ihnen gegeben hat."12
7
„Der Gang der Geister ist fortschreitend und niemals rückgängig" (Anm. 5, 33).
8
KARDEC ( A n m . 5), ebd.
9
KARDEC (Anm. 5), 34. „Deijenige, welcher immer Mann bliebe, würde nur dasjenige wissen, was die Männer erfahren" (ebd.).
10
KARDEC ( A n m . 5), 3 7 .
11
KARDEC ( A n m . 5), 3 4 ^ 1 .
12
KARDEC (Anm. 5), 41. „Nehmet aufeinanderfolgende Existenzen an, und alles wird der Gerechtigkeit Gottes gemäß erklärt" (a. a. O., 40).
238
Allgemeine Religionsgeschichte
Die Begründung der Reinkarnationsidee nimmt KARDEC auf mehreren Ebenen vor. Er betont, die Reinkarnationslehre sei keinesfalls neu, seit „undenklichen Zeiten" ist sie der Menschheit bekannt, verwiesen wird auf indische Philosophen, die alten Ägypter und auf PYTHAGORAS. „Der Begriff der Seelenwanderung war also ein allgemeiner Glaube, der von den erhabensten Männern angenommen wurde."13
Ob diese durch Offenbarung oder aus „innerem Bewußtsein" dazu kamen, läßt KARDEC offen. Fest steht für ihn, daß sich die Reinkarnationslehre auch mit dem Christentum vereinbaren läßt, da das „Prinzip der Wiedereinverleibung aus mehreren Stellen der Heiligen Schrift" hervorgeht. 14 Im einzelnen nennt er Mt 17,1-13 und Joh 3,1-12. Auch „das Dogma von der Auferstehung des Fleisches ist lediglich die Bestätigung der durch die Geister gelehrten Wiedereinverleibung" 15 . Die Bibel bediene sich hierbei nur einer allegorischen Sprache, „die Wiederauferstehung des Fleisches" sei nur als eine „Figur" anzusehen, „welche den Vorgang der Wiedereinverleibung darstellt". 16 Die auf spiritistischem Wege übermittelte Reinkarnationslehre ist also, betont KARDEC, keineswegs eine neue Erkenntnis. Die Geister „erneuern" lediglich eine Lehre, die bis in die ersten Zeitalter der Welt zurückgeht. Sie „stellen sie uns nur unter einem vernünftigeren, dem Fortschritt der Naturerkenntnis mehr angepaßten und mit der Weisheit des Schöpfers besser übereinstimmenden Gesichtspunkte dar, indem sie sie von allen Anhängseln des Aberglaubens (Seelenwanderung) befreien" 17 . Ein weiteres Argument, das KARDEC für die Reinkarnationslehre ins Feld führt, ist die Vernunft. 18 Religiöse Systeme, welche die Reinkarnation leugnen, sind mit Blick auf die unterschiedlichsten Schicksale der Menschen nicht nur unvernünftig, sie widerstreiten außerdem der Gerechtigkeit und Liebe Gottes und fuhren zwangsläufig zu den „abscheulichsten" und „unmoralischsten" Lehren. 19 KARDEC macht dieses Argument sowohl gegenüber den
13
KARDEC (ANM. 5), 3 7 .
14
KARDEC (Anm. 5), 40. „Die Geisterlehre ist im höchsten Grade christlich; sie stützt sich auf die Unsterblichkeit der Seele, auf die künftigen Leiden und Belohnungen, auf die Gerechtigkeit Gottes, auf den freien Willen des Menschen, auf die Moral Christi" (a.a.O., 41).
15
KARDEC ( A n m . 5), 143.
16
KARDEC ( A n m . 5), 144.
17
KARDEC ( A n m . 5), 38.
18
KARDEC ( A n m . 5), 30.
19
KARDEC ( A n m . 5), 3 9 .
Der Reinkarnationsgedanke in christlichen Sondergemeinschaften der Neuzeit 2 3 9
„dogmatischen Christen" als auch den „mechanistischen Materialisten" geltend. Das kardecische Reinkarnationsmodell konnte sich nur in Teilen der spiritistischen Weltgemeinschaft durchsetzen. In der Reinkarnationsfrage scheiden sich im Spiritismus im wahrsten Sinne des Wortes die Geister. ANDREW JACKSON DAVIS ( 1 8 2 6 - 1 9 1 0 ) , der „ S w e d e n b o r g der n e u e n
Welt", und seine Anhänger lehnten die Reinkarnationsidee ab. Auch sie teilten die Überzeugung von einer über diese Welt hinausreichenden Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit, verlegten sie aber wie schon SWEDENBORG allein in die Welten und Sphären des Jenseits. 20 Parallel zum Spiritismus und gleichzeitig von diesem sowie vom Buddhismus und Hinduismus beeinflußt, entstand die Theosophie. 1875 gründeten die D e u t s c h - R u s s i n HELENA PETROWNA BLAVATSKY, geb. Gräfin HAHN (1831-1881)
und
der
amerikanische
Oberst
HENRY
STEEL
OLCOTT
(1832-1907) in New York die Theosophische Gesellschaft. Auch im theosophischen System der Rückführung alles Materiellen zu seinem geistigen Ursprung, auf dem Weg der Evolution, nimmt die Reinkarnation eine zentrale Stelle ein. „Die theosophische Reinkamations- und Kaima-Lehre ist Teil der Gesamtschau der Kosmo- und Anthropogenesis."21
Wie schon im Spiritismus und später in der Anthroposophie werden im Gegensatz zum hinduistischen und buddhistischen Denken die Möglichkeit und Notwendigkeit der Reinkarnation, einschließlich des Entstehens guten Karmas, positiv bewertet. Die Persönlichkeit hat viele Wiederverkörperungen zu durchlaufen. H. P. BLAVATSKY nennt im Rahmen ihrer Kosmogonie Zahlen, ANNIE BESANT ( 1 8 4 7 - 1 9 3 3 ) spricht v o n „ M y r i a d e n " v o n W i e d e r g e b u r t e n ,
wobei ein Geschlechterwechsel eintritt, denn „das Ego selbst ist geschlechtslos" 22 . Wiedergeburt ist nicht Fluch, sondern Chance, obwohl man auch um die „große Wahrheit" weiß, „daß Reinkarnation etwas zu Fürchtendes ist". 23 Doch die positiv verstandene Entwicklung, Entfaltung und Vervollkommnung 20 21
Vgl. A . J. DAVIS über Reinkarnation, Psychische Studien 2 (1875), 279f. H.-J. RUPPERT, Theosophie - unterwegs zum okkulten Übermenschen, Konstanz 1993, 62.
22 23
Α. BESANT, Reinkarnation oder die Wiederverkörperungslehre, Theosophische Handbücher, Bd. II, Leipzig o. J., 137 f. H. P. BLAVATSKY, Die Geheimlehre. Die Vereinigung von Wissenschaft, Religion und Philosophie. Kosmogenesis, Bd. I, Leipzig o. J., 71.
240
Allgemeine Religionsgeschichte
der Persönlichkeit auf dem Weg der Wiedergeburt stehen im Vordergrund, keinesfalls nur das Ziel der Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten. Reinkarnation umschreibt einen Heils- und Erlösungsprozeß. 24 H. P. BLAVATSKY leitet den Wiederverkörperungs- und Karmagedanken nicht nur aus ihrer Kosmogonie und Anthropologie ab und verknüpft ihn unlösbar damit, bei ihr finden sich auch vordergründig rationale Argumente für den Reinkarnationsglauben. Dabei ist die Theodizeefrage von besonderem Gewicht. „Nur das Wissen von den beständigen Wiedergeburten einer und derselben Individualität durch den ganzen Lebenszyklus; ... nur diese Lehre, sagen wir, kann uns das geheimnisvolle Problem von Gut und Böse erklären und den Menschen mit der schrecklichen scheinbaren Ungerechtigkeit des Lebens aussöhnen. Nur eine solche Gewißheit kann unsern empörten Gerechtigkeitssinn beruhigen."25
Angesichts des schreienden Unrechts in der Welt bewahrt nur das Wissen um Wiedergeburt und Karma davor, „Leben und Menschen, sowie ihren vermuteten Schöpfer zu verfluchen"26. H. P. BLAVATSKY polemisiert in diesem Zusammenhang gegen die kirchliche Erbsündenlehre, die Lehre von der ewigen Verdammnis, der doppelten Prädestination und das dahinterstehende Gottesbild. 27 Die Wiederverkörperungslehre kann durch diese kirchlichen Dogmen nicht angefochten werden, im Gegenteil wird sie dadurch nur indirekt bestätigt. Für die Wiederverkörperungslehre spreche - auch dieses Argument fehlt nicht - die Erfahrung und das Wissen der Erleuchteten aller Zeiten. Selbst Jesus glaubte an die Wiederverkörperung.28 Wie andere bedeutende Persönlich24
25
Der bekannte und durch seine Schriften bis heute sehr einfluß reiche deutsche Theosoph Dr. F. HARTMANN (1838-1912) schreibt in der Einleitung zu A. BESANTS Buch „Reinkarnation": „... denn ohne die Wiederverkörperung des Menschengeistes gäbe es für ihn keinen weiteren Fortschritt, als den er in einem flüchtigen Dasein auf Erden erlangen kann" (a. a. O., 1). H. P. BLAVATSKY, Die Geheimlehre, Anthropogenesis, Bd. II, Leipzig o. J., 317.
26
BLAVATSKY ( A n m . 2 5 ) , 3 1 8 .
27
„Wenn wir aufgefordert werden, an eine .Erbsünde' zu glauben in einem Leben nur auf dieser Erde für eine jede Seele, und an eine anthropomorphische Gottheit, die einige Menschen nur erschaffen zu haben scheint, um das Vergnügen zu haben, sie zu ewigem Höllenfeuer zu verdammen - und das, einerlei ob sie gut oder böse sind, sagt der Anhänger der Prädestinationslehre - warum sollte nicht jeder von uns, der mit Vernunftskräften ausgestattet ist, seinerseits eine solche abscheuliche Gottheit verdammen? Das Leben würde unerträglich, wenn man an den von der unreinen Phantasie des Menschen geschaffenen Gott glauben müßte" (BLAVATSKY [Anm. 25], 318).
28
V g l . BLAVATSKY ( A n m . 2 5 ) , 118.
Der Reinkarnationsgedanke in christlichen Sondergemeinschafìen der Neuzeit 241
keiten der Religionsgeschichte (Krishna, Buddha) habe auch er sich mehrfach inkarniert. 29 Die Theosophie ist in sich vielschichtig. Das fuhrt auch zu unterschiedlichen Akzentsetzungen in der Reinkarnations- und Karmalehre. 30 Am Rande der Theosophie entstanden spezielle Ausprägungen in neugnostischen und neurosenkreuzerischen Gruppen. Unter letzteren ist besonders die 1925 um J A N V A N R L J C K E N B O R G H entstandene „Internationale Schule des Rosenkreuzes e.V./Lectorium Rosicrucianum" hervorzuheben, die mit der These von der Reinkarnation der „Erfahrensernte im Mikrokosmos" anstelle der individuellen Persönlichkeit deutliche Parallelen zu buddhistischen Anschauungen erkennen läßt. 31 Der Einfluß östlichen indischen Denkens blieb in der Theosophie immer sehr groß. Die Nachfolgerin H. P. BLAVATSKYS in der Leitung der Theosophischen Gesellschaft, ANNIE BESANT, betonte auch in der Reinkarnationsfrage wieder stärker Elemente östlichen Denkens. In diesen, wie in anderen Fragen unterschied sie sich immer mehr von dem Generalsekretär der deutschen Sektion der T h e o s o p h i s c h e n Gesellschaft, Dr. RUDOLF STEINER ( 1 8 6 1 - 1 9 2 5 ) . E r v e r -
ließ 1913 die Theosophische Gesellschaft und gründete die Anthroposophische Gesellschaft. Auch im anthroposophischen System hat die Reinkarnations· und Karmalehre ihren festen Platz. Im Unterschied zu einigen theosophischen Modellen ist jedoch in der STEINERschen Anthroposophie eine veränderte Zielstellung festzustellen („höchste Ich-Entfaltung" in der Anthroposophie, „der Verlust der Fähigkeit zur Ich-Bildung" in der Theosophie).
29 30
31
Vgl. BLAVATSKY (Anm. 25), Kosmogenesis 700; DIES., Anthropogenesis, a. a. O., 375. Vgl. H.-J. RUPPERT, Reinkarnation in neugnostischen Bewegungen. Anthroposophie Theosophie - New Age, in: Reinkarnation - Wiedergeburt - aus christlicher Sicht, hrsg. v. O . BISCHOFBERGER, O . EGGENBERGER, C.-A. KELLER, J. MÜLLER, Freiburg und Zürich 1987, 103 f. In spiritistischen Kreisen wird behauptet, H. P. BLAVATSKY habe nach ihrem Tode die Reinkamationslehre als einen Irrtum bezeichnet. Vgl.: Die Irrlehre der Theosophie über Re-Inkarnation. Endgültig erklärt vom Geiste der Madame Helene P. Blavatsky durch das Medium Professor Dr. Petersilea. Deutsch wiedergegeben von Dr. Georg von Langsdorff, Leipzig 1904; C. WICKLAND, Dreißig Jahre unter den Toten, Darmstadt 1957, 410f. Vgl. J. VAN RLJCKENBORGH, Der kommende neue Mensch, Haarlem 3 1 9 8 5 ; H.-J. RUPPERT, Rosenkreuzer, in: Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen, hrsg. v. H. GASPER, J. MÜLLER, F.VALENTIN, Freiburg, Basel, Wien 1 9 9 0 , 898-902.
242
Allgemeine Religionsgeschichte „In beiden Fällen dient zwar Reinkamation als Heilsweg - aber bei Besant und Steiner wird das Heil selbst völlig unterschiedlich bestimmt: auf der einen Seite von den Vorstellungen der östlichen Religionen her, auf der anderen Seite unter dem Einfluß der christlich-abendländischen Persönlichkeitskultur."32
S T E I N E R war schon als junger Mann durch Erfahrungen und konkrete Anschauungen über wiederholte Erdenleben zum Reinkarnationsglauben gekommen. Erst Jahre später, 1903, tritt er damit an die Öffentlichkeit. Der Aufsatz trägt den programmatischen Titel „Reinkamation und Karma, vom Standpunkt der modernen Naturwissenschaft notwendige Vorstellungen" 33 . Es wird hier bereits deutlich, daß für S T E I N E R Reinkamation eine „wissenschaftliche" Erkenntnis ist, zu der jeder gelangen kann. Er entfaltet sie in Auseinandersetzung mit den biologischen Entwicklungslehren C H A R L E S
DARWINS u n d ERNST HAECKELS, a u s g e h e n d v o n d e r T h e s e , d a ß S e e l i s c h e s
nur aus Seelischem entstehen kann. „Trotz seines Anspruchs auf Eigenständigkeit bestreitet Steiner nicht, daß sich in den Erfahrungen der Spiritisten und Theosophen die geistige Welt kundtut, freilich nur deren untere Sphären und in unreiner Form. Steiner leugnet nicht die Wirksamkeit solcher .atavistischer', aus der Frühzeit der Menschheit auf uns gekommener Methoden, wohl aber ihre Zeitgemäßheit in einer Kultur, die von einer höheren Form von Geistigkeit geprägt ist." 34
Für die Anthroposophie ist, das macht schon der Begriff deutlich, ebenfalls die Frage nach dem Wesen des Menschen von zentraler Bedeutung. Ihre Beantwortung erfolgt im Rahmen des esoterischen Weltbildes mit seiner Entsprechung von Makro- und Mikrokosmos. STEINERS Menschenbild ist trichotomisch und bedingt seine Reinkarnations- und Karmavorstellungen. 35 Wiedergeboren wird das „Ich" als wahre Wesenheit des Menschen. Es ist von drei Leibhüllen (Astral-, Äther- und physischer Leib) umgeben, denen beim Reinkamationsprozeß Bedeutung zukommt. Das Ich lebt innerhalb der Hüllen von Leib und Seele, und „Leib und Seele geben sich dem ,Ich' hin, um ihm zu dienen; das ,Ich' aber gibt sich dem Geiste hin, daß er es erfülle. Das
32
H.-J. RUPPERT ( A n m . 3 0 ) , 1 0 6 f.
33 34
R. STEINER, Lucifer-Gnosis, GA 34, Dornach 2 1987, 67-91. R. HUMMEL, Reinkamation. Weltbilder des Reinkarnationsglaubens und das Christentum, Mainz, Stuttgart 1988, 88 f. „Der Leib unterliegt dem Gesetz der Vererbung; die Seele unterliegt dem selbstgeschaffenen Schicksal ... Und der Geist steht unter dem Gesetze der Wiederverkörperung, der wiederholten Erdenleben" (R. STEINER, Theosophie, GA 9, Dörnach 3 1 1987, 88).
35
Der Reinkarnationsgedanke in christlichen Sondergemeinschaften der Neuzeit 2 4 3
,Ich' lebt in Leib und Seele; der Geist aber lebt im ,Ich'. Und was vom Geiste im ,Ich' ist, das ist ewig."36 Mit dem Wesen und vor allem der Entwicklung der Persönlichkeit ist das Gesetz des Karma, das „geistige Ursachengesetz", unlösbar verbunden. „Das Gesetz des Karma sagt, daß unser Schicksal, dasjenige, was wir im Leben erfahren, nicht ohne Ursache ist, sondern daß unsere Taten, unsere Erfahrungen, unsere Leiden und Freuden in einem Leben abhängen von den vorhergehenden Leben, daß wir uns in den verflossenen Lebensläufen unser Schicksal selbst gezimmert haben. Und so, wie wir jetzt leben, schaffen wir uns die Ursachen fur das Schicksal, das, wenn wir wiederverkörpert werden, uns treffen wird."37
Die Karmalehre in ihren Einzelheiten und ihrer Bedeutung für den Zustand nach dem Tod kann hier nicht erörtert werden. 38 Erst wenn die Individualität auf Erden wieder etwas Neues lernen kann, inkarniert sie sich wieder. Das geschieht „in der Regel in jeder Kulturepoche zweimal, nämlich einmal als Mann und einmal als Frau" 39 . Durch diesen Geschlechterwechsel erfolgt die Weiterbildung der übergeschlechtlichen Individualität, werden die männlichen und die weiblichen Eigenschaften gleichermaßen ausgebildet. Entwicklungsnotwendig ist nicht nur der Geschlechterwechsel, sondern auch die Inkarnation innerhalb der verschiedenen Rassen. SlEINERs Anthropologie mit ihrer Betonung der leiblich-seelisch-geistigen Ganzheit des Menschen verbietet ihm von vornherein die Annahme, der Mensch könne als Tier oder gar als Pflanze wiedergeboren werden. STEINER hat es lange Zeit vermieden, Reinkarnationen einzelner, namhafter Persönlichkeiten zu benennen. Kurz vor seinem Tod gab er diese Haltung auf. Vom 25. Januar bis zum 28. September 1924 hielt er 82 Vorträge zum Thema „Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge". Dabei benannte er Inkamationsreihen.40 Ein Beispiel: Elias - Johannes - Raffael - Novalis. Auf die zentrale Bedeutung des Reinkarnations- und Karmaglaubens für die Anthroposophie hatte STEINER schon 1912 verwiesen.
36
R . STEINER ( A n m . 3 5 ) , 5 0 .
37
R. STEINER, Reinkarnation und Karma (20.10.1904), in: R. STEINER, Themen aus dem Gesamtwerk 9, Wiederverkörperung: zur Idee von Reinkarnation und Karma; Vorträge, ausgew. u. hrsg. von C. KREUTZER, Stuttgart 1982, 56. Vgl. R. STEINER, Anthroposophische Leitsätze, GA 26, Dornach 9 1989, Nr. 43-58. M. HOFFMEISTER, Reinkarnation und Karma im Werk R. Steiners, in: „Info3" - Extra, 3/1987, 9.
38 39 40
Vgl. R. STEINER, GA 2 3 5 - 2 4 0 .
244
Allgemeine Religionsgeschichte „Das Neue der anthroposophischen Bewegung", so sagt er, „liegt darin, daß die zwei Wahrheiten, die sozusagen zu unseren fundamentalsten Dingen gehören, an die Menschenseele in einer immer überzeugenderen Weise herantreten: die beiden Wahrheiten von Reinkarnation und Karma. Man kann sagen: Was der Anthroposoph in erster Linie auf seinem Wege findet, wenn er heute ernstlich strebt, das ist die Notwendigkeit der Erkenntnis von Reinkarnation und Karma."41
Durch RUDOLF STEINER und die Anthroposophie wurde der Reinkarnationsgedanke in seiner abendländisch-westlichen und damit optimistisch-evolutionistischen Form in breite Schichten, besonders der Gebildeten, getragen. Das geschah auf besondere Weise auch durch die 1922 von dem evangelischen Pfarrer Dr. FRIEDRICH RITTELMEYER (1872-1938) als kultische Erneuerungsbewegung gegründete „Christengemeinschaft" 42 . STEINER ist ihr geistiger Vater. „Die Christengemeinschaft" will auf dem Hintergrund der anthroposophischen Geisteswissenschaft und auf der Basis der Bibel auf kultischem Wege die dem modernen Menschen verlorengegangene Einheit von Weltdeutung, religiösem Wissen und Glauben wiederherstellen. Es herrscht Lehrfreiheit, nur die kultischen Texte haben verbindlichen Charakter. Das Glaubensbekenntnis erwähnt die Reinkarnation des Menschen nicht, sie gehört aber elementar zum Menschenbild der Christengemeinschaft. Im Kultus wird dies besonders bei der Taufe deutlich. Die „Vorgeburtlichkeit des Menschen", seine Inkarnation bzw. Reinkarnation, gelten als Tatsachen, denen in der Taufhandlung geistlich Rechnung getragen wird. 43 Die Reinkarnationslehre der Christengemeinschaft gibt es nicht. Maßgebende Vertreter, darunter die Erzoberlenker F. RITTELMEYER, EMIL BOCK und
RUDOLF FRIELING, haben sich aber immer wieder ausfuhrlich zum Reinkarnationsglauben geäußert. Besondere Bedeutung kommt dem weitverbreiteten Buch von R. FRIELING „Christentum und Wiederverkörperung" zu. 4 4 FRIELING will am Beispiel der Wiederverkörperungslehre zeigen, „wie das Christentum, wenn es sich seiner spirituellen Grundlagen bewußt wird, nicht nur dem Materialismus, sondern auch der alten Geistigkeit des Ostens eine ei-
41 42
43 44
R. STEINER, Wiederverkörperung und Karma in ihrer Bedeutung für die Kultur der Gegenwart, Dornach 1985, 108. Vgl. K. HUTTEN, Seher - Grübler - Enthusiasten. Das Buch der traditionellen Sekten und Sonderbewegungen, Stuttgart 12 1982; H. W. SCHROEDER, Die Christengemeinschaft: Entstehung, Entwicklung, Zielsetzung, Stuttgart 1990. J. LENZ, Die Taufe. Das Sakrament der Christwerdung, Stuttgart 1991, 19. R. FRIELING, Christentum und Wiederverkörperung, Stuttgart 2 1975.
Der Reinkarnationsgedanke in christlichen Sondergemeinschaften der Neuzeit 2 4 5
gene überlegene Weltanschauung entgegenzusetzen hat" 45 . Dabei ist es sein von allen Vertretern der Christengemeinschaft geteiltes Anliegen, hervorzuheben, daß der Reinkarnationsglauben nicht notwendigerweise die Heilsbedeutung Christi und seines Erlösungswerkes schmälern muß, daß es keine Selbsterlösung gibt. In diesem Sinne gehört die Christengemeinschaft zu den religiösen Gemeinschaften, die den Reinkarnationsgedanken durch ein umfangreiches Schrifttum und durch Vorträge seit Jahrzehnten als eine mit dem Christentum zu vereinbarende Anschauung vortragen. Die geistige Nähe zu STEINER wird dabei nicht verschwiegen. Er ist für die meisten Vertreter der Christengemeinschaft „der größte Lehrmeister ... auf dem Gebiet der Schicksals- und Wiederverkörperungserkenntnis" 46 . Spiritismus, Theosophie und Anthroposophie bildeten den geistigen Hintergrund bzw. den Nährboden für zahlreiche Gruppen, Bewegungen und Religionsgemeinschaften, die um medial begabte Persönlichkeiten entstanden und den Reinkarnationsgedanken in ihr Welt- und Menschenbild aufnahmen. Vor allem im Spiritismus ging der Kampf der Geister pro et contra Reinkarnation weiter. Wo der KARDECsche Spiritismus zur Bildung von Religionsgemeinschaften führte, wie in Brasilien, wurde der Reinkarnationsgedanke zu einem wichtigen Bestandteil ihrer Lehre. Verwiesen sei auf den „Spiritualistisch-christlichen Orden" 47 . Meist entstanden nur spiritualistische Freundeskreise oder Lesegemeinden um Einzelpersönlichkeiten. So sammelte BERNHARD FORSBOOM in den Jahren 1890-1897 „Durchgaben" des Geistwesens Emanuel und gab sie als Buch („Buch Emanuel") heraus. Im „Emanuel-Kreis" wird gelehrt, daß Wiederverkörperung vor allem dem Fortschritt des Menschen dient. Sie ist „ein Hilfsmittel für den Geist". Letztlich ist es der „Wunsch nach geistigem Fortschritt und nach Betätigung erkannter ewiger Gesetze durch opferfreudige Nächstenliebe" und nicht „die Lust zum Leben", welche die bereits höher entwickelte Persönlichkeit zur Wiedergeburt drängt. 48
45
46 47 48
FRIELING (Anm. 4 4 ) , 7 . „Wir möchten ... zeigen, wie sich die WiederverkörperungsAnschauung in ihrer anthroposophischen Gestalt in das Weltbild des Christentums nicht nur widerspruchslos einfügen läßt, sondern wie sie dieses Weltbild erst in befriedigender Weise vervollständigt" (a. a. O., 7 f.). G. BLATTMANN, Wiederverkörperung als Weltgesetz, in: Die Christengemeinschaft 60 (1988), 551. I. WULFHORST, Der spiritualistisch-christliche Orden. Ursprung und Erscheinungsformen einer neureligiösen Bewegung in Brasilien, Erlangen 1985. B. FORSBOOM, Das Buch Emanuel, München o. J., 119.
246
Allgemeine Religionsgeschichte „Wenn der Geist den Menschenkörper abgelegt hat und, im Geistigen stehend, das vergangene Erdenleben durchblickt, erfaßt ihn die Reue über versäumte Gelegenheiten, mißachtete Lehren, über das Gute, das ungetan geblieben, über das Schlechte, das mit Freuden getan wurde. Und dankbar ist er, in einem weiteren Erdenleben etwas erweiterte Erkenntnisse betätigen zu dürfen."49
Kundgaben durch „Willigis" (gest. 1965), die in der Tradition von „Emanuel" stehen, fuhren dessen Anschauungen fort. „Willigis sieht die Zukunft der Reinkarnationslehre sehr optimistisch, hält sogar ihre Anerkennung seitens der Kirchen für bevorstehend."50 „Veranlaßt durch die westlichen geistigen Bewegungen, die auf den Lehren des Ostens basieren bzw. von ihnen den Ausgang nehmen, und weil der Vernunft die öftere Erdenwanderung der Seele aus Gründen der Gerechtigkeit einleuchtet, werden die Kirchen erschüttert und zum Nachdenken bewogen werden."51
Noch weitere Beispiele aus diesem Umfeld ließen sich erbringen. In vielen kleinen spiritistischen Zirkeln lehrten und lehren die „Geister" den Reinkarnationsgedanken. Neben spiritistischen Kreisen im klassischen Sinn, aus denen die Lehren des Offenbarungsspiritismus hervorgingen, wie sie A. KARDEC zusammenstellte, gab und gibt es eine bedeutende Anzahl von NeuofFenbarern, die eine direkte Verbindung mit dem Spiritismus oder auch nur eine geistesgeschichtliche Zuordnung zu ihm entschieden ablehnen. Die Unterscheidung ist im Einzelfall sehr schwierig, hängt stark von Definitionsfragen ab und hat es schwer, objektive Kriterien zu finden. Wir wollen auf Einordnung verzichten, den Spiritismus aber als einen, wenn auch nicht den alleinigen geistesgeschichtlichen Hintergrund für ihr Entstehen ansehen. Der bedeutendste europäische Neuoffenbarer nach E. SWEDENBORG ist zweifellos JAKOB LORBER (1800-1864). Durch seine von 1840 bis 1864 empfangenen Offenbarungen wurde er zum Ausgangspunkt einer überkonfessionellen Bewegung (Lorber-Gesellschaft) und zum geistigen Vater vieler „Träger des Inneren Wortes" 52 . Im Lehrsystem LORBERS hat die vorgeburtliche Existenz des Menschen, sei es als Sternenseele oder als sich aus dem Naturreich, „von unten", entwickelte Seele ihren festen Platz. Wiederholte Erdenleben sind im LORBERschen System die Ausnahme. Die Entwicklung der Persönlichkeit vollzieht sich normalerweise im Jenseits oder auf anderen 49
FORSBOOM ( A n m . 4 8 ) , 1 1 8 .
50 51
P. MICHEL, Das Geistchristentum, München o. J., 156. WILLIGIS, Die andere Seite und der Mensch, Laufenburg, o. J., 6; zitiert nach MICHEL (Anm. 50), 156 f. Zu LORBER vgl. HUTTEN (Anm. 42), 583-606; H . OBST, Außerkirchliche religiöse Protestbewegungen der Neuzeit, Berlin 1990, 88-90.
52
Der Reinkarnationsgedanke in christlichen Sondergemeinschaften der Neuzeit 2 4 7
Himmelskörpern. Ausnahmen sind in folgenden beiden Fällen möglich. Persönlichkeiten, die bereits auf Erden lebten, diese „Hochschule Gottes" aber nicht recht nutzten und gleichsam durchfielen, können Gott bitten, sie noch einmal auf dieser Erde zu inkarnieren. Als Beispiel dafür wird in LORBERs Großem Evangelium Johannes auf das Schicksal eines herrschsüchtigen Königs verwiesen. Dieser sei, nachdem er im höllischen Feuer Buße tat und sich bekehrte, durch gnädigen göttlichen Ratschluß als Kind anner Eltern wiedergeboren worden. Er wurde Landarbeiter, lernte Demut und Liebe, so daß er nach seinem Tode den jenseitigen Entwicklungsweg erfolgreich fortsetzen konnte. 53 Die Möglichkeit zu wiederholter Inkarnation auf Erden erhalten, das ist der zweite Ausnahmefall, Engel und hochentwickelte Geister, die eine besondere Mission erfüllen wollen. So verkörperte sich der Erzengel Michael als Sehel, Elias und Johannes der Täufer auf Erden. 54 LORBER schließt bei Reinkarnationen den Geschlechterwechsel aus. Bemerkenswert ist auch, daß er gegen die indische Seelenwanderungslehre polemisiert, sie sei eine selbstsüchtige Erfindung habgieriger Priester. Der LORBERsche Jesus betont: „Aber rückwärts -wandert keine noch so unvollendete Menschenseele mehr, außer im geistigen Mittelreiche der äußern Erscheinlichkeit nach, zum Behufe ihrer Demüthigung und der daraus möglich hervorgehenden Besserung." 35
Die zahlreichen späteren Empfänger des „Inneren Wortes", die sich in der geistlichen Tradition LORBERs sehen, haben den Reinkarnationsglauben vertieft. Für einige blieben wiederholte Erdenleben allerdings ebenfalls die Ausnahme. 56 Eine interessante Ausprägung des Reinkarnationsglaubens begegnet uns in dem sich auf LORBERsche Traditionen berufenden „Gottesbund - Loge Tanatra", der 1923 in Görlitz gegründet wurde. 57 Das von Entwicklungsgedanken bestimmte Welt- und Menschenbild des Gottesbundes schließt die irdische Wiedergeburt als für die Entfaltung der Persönlichkeit notwendig ein. Zu den Besonderheiten gehört hier, daß der in der Wiedergeburt mögliche Geschlech-
53 54
J. LORBER, Johannes das große Evangelium. Eine ausfuhrliche neue Eröffnung, Bietigheim 1886, Bd. 5, 371-373. W. LUTZ, Die Grundfragen des Lebens im Lichte der Botschaft Jakob Lorbers, Bietigheim 1930, 508.
55
J. LORBER (ANM. 53), B d . 6, 108.
56
So ζ . B. bei B. DUDDE, vgl. HUTTEN ( A n m . 42), 636.
57
Vgl. H. OBST, Gottesbund - Loge Tanatra, in: Kirchenlexikon, hrsg. von S. und K.-W. TRÖGER, Berlin 1990, 93.
248
Allgemeine Religionsgeschichte
tertausch als Erklärung für gleichgeschlechtliche Liebe herangezogen wird. Diese versteht man nicht nur als Strafe, sondern auch als Chance und Aufgabe. In einer „Kundgebung" des „Herold" vom 4. Juli 1924 heißt es: „So manches Rätsel wäre nun gelöst. Brüder und Schwestern, ihr wißt ja, daß ihr aus dem Jenseits kommt in einen Erdenkörper, der eine als Mann, der andere vielleicht als Frau, ein anderer vielleicht wieder in einer Mischform durch das Gesetz der Karmalehre, vielleicht durch das frühere Erdenleben, das sündhaft war, nun als Buße, wie ich schon oft erwähnt habe, als männliche Seele in einen weiblichen Körper einverleibt oder umgedreht. Dieses wird euch heute klarer bei dem Augenblick der Erkenntnis, daß das eben so vor sich gehen muß, denn wo sollte eine Erlösung der anders gearteten Menschen vor sich gegangen sein, ist das doch nicht ein Auswuchs, ist das doch eine Zulassung Gottes und sogar eine berechtigte, große."58 Der Reinkarnationsgedanke findet sich auch unter den Anhängern des 1967 um FRIEDA MARIJA LÄMMLE und GERHARD JOHANNES LEHOFER gegründeten „Lichtzentrum Bethanien". 59 Schon nach ihrer vermeintlichen Berufung durch Christus 1953 hatte F. M. LÄMMLE Rückerinnerungen an frühere Erdenleben. Mancherlei Offenbarungen folgten, so sagt Jesus am 2. Oktober 1988: „O Meine Marija, die köstliche Narde, mit der du Mich eingerieben hast, gilt heute noch, denn sie umgibt Mein ganzes Sein. O Mein Kind, du ahntest damals nicht, was du an Mir getan hast, ... heute soll es dir bewusst sein .. ," 60 Eine konstitutive Bedeutung scheint der Reinkarnationsglauben für diese Gruppe jedoch nicht zu haben. Weitaus zentraler ist er für den ebenfalls auf LoRBERschen Traditionen aufbauenden „Lichtkreis Christi"61. Neue Erdenleben sind hier die Voraussetzung, um früher begangene Schuld abtragen zu können. Der Gründer des „Lichtkreises Christi", HARALD STÖSSEL, hält sich selbst für die Reinkarnation des Apostels Petrus, seine Schwester gilt als Inkarnation von Maria. Zweifellos kann der „Lichtkreis Christi" als Beispiel für eine der extremsten
58 Mein Kommen und die Menschheit, III. Bd., Trancereden gegeben durch das Offenbarungsmedium Fedor Mühle, Görlitz, o. J., 17; vgl. a. a. O., 19. 59 Vgl. HUTTEN, (Anm. 42), 647-654; O. EGGENBERGER, Die Kirchen, Sondergruppen und religiösen Vereinigungen, Zürich 41986, 170. 60 Lichtbote, November/Dezember 1 9 8 8 , 5 ; vgl. G. J. LEHOFER, Reinkarnation 2 7 - 3 1 . Zum „Lichtzentrum Bethanien" vgl. F.-W. HAACK, Das Heimholungswerk der Gabriele Wittek und die Neuoffenbarungsbewegungen, München 1985, 84 f. 61 Vgl. HUTTEN (Anm. 42), 660-669; EGGENBERGER (Anm. 59), 170.
Der Reinkarnationsgedanke in christlichen Sondergemeinschaften der Neuzeit
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und abwegigsten Ausformungen des Reinkarnationsgedankens bei Trägern des „Inneren Wortes" in der Tradition LORBERS angesehen werden. 62 In Deutschland bildeten sich seit der Jahrhundertwende einige Gruppen, die im Unterschied zu den Kreisen um die „Träger des Inneren Wortes" im Sinne LoRBERs feste Organisations- und Kultformen entwickelten und bald Charakteristika verfaßter Religonsgemeinschaften aufwiesen. Von ihren Gegnern wurden sie dem spiritistischen Umfeld zugerechnet, sie selbst bestritten das vehement und verstanden sich als christliche Spiritualisten. Ihre Gründer beriefen sich auf die Traditionen biblischer Prophetie, nahmen die zeitgemäße Fortfuhrung traditioneller Charismen für sich in Anspruch. Die meisten, durchaus nicht alle, wie das Beispiel der „Gemeinschaft in Christo Jesu" (Lorenzianer) zeigt 63 , bekannten sich zur Reinkarnation in ihrer „westlichen" Ausprägung. Interessanterweise verstanden sie sich alle - zumindest zunächst - als überkonfessionelle innerkirchliche Gruppierungen. Ihre Mitglieder verließen, wie auch die Lorberfreunde, nur dort ihre Mutterkirchen, wo sie von diesen dazu gezwungen wurden. Die zahlenmäßig größte Gruppierung entstand um JOSEPH WEISSENBERG (1855-1941). 64 In Versammlungen ließ WEISSENBERG jenseitige „Geistfreunde" sprechen. Er sah darin die neuzeitliche Fortsetzung des Pfingstgeschehens. Nach entschiedenem Vorgehen kirchlicher Kreise gegen die Weißenberger wurde 1926 die „Evangelisch-Johannische Kirche nach der Offenbarung St. Johannis" gegründet, die es Anfang der dreißiger Jahre auf bis zu 100.000 Mitglieder brachte. Auf dem Hintergrund einer eigenen Schau der kosmischen Heilsgeschichte lassen sich im Lehrsystem WEISSENBERGS drei Schwerpunkte feststellen: Die Errichtung der Urkirche im Zeitalter des Heiligen Geistes, das Fortleben nach dem Tode und die Reinkarnation. Dominierend ist auch im System WEISSENBERGS der Entwicklungsgedanke, er gilt für das Diesseits und das Jenseits. 65 Reinkarnation ist eine besondere Gnade Gottes im Prozeß der Er62
63 64 65
Ausprägung, Rolle und Bedeutung des Reinkarnationsglaubens bei neuzeitlichen Trägern des „Inneren Wortes" bedürfen noch der umfassenden Untersuchung. Wir beschränken uns hier auf Beispiele und Hinweise. Vgl. H. OBST, Apostel und Propheten der Neuzeit, Berlin 3 1990, 307-311. Zu J. WEISSENBERG vgl. OBST (Anm. 63), 348-370. WEISSENBERG schreibt: „Obwohl ein Mensch in seinem Leben nicht auslernt, so ist doch damit nicht gesagt, daß er alle Verhältnisse auf Erden im fleischlichen Körper durchmachen muß.Er kann als Geist gerade so gut und noch besser lernen und sich vervollkommnen, we nn er nur will. Es kommt nur auf den jeweiligen Erkenntnisgrad und Willen des betreffenden Geistes an" (JOSEPH WEISSENBERG und die Evangelisch-
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Allgemeine Religionsgeschichte
lösung des Menschen. Der Mensch bzw. die Persönlichkeit kann in jedem neuen Erdenleben „zurückliegende Schuld" abtragen und „für ein Leben in der Gottesnähe" reifen. 66 W E I S S E N B E R G spricht von 8 0 - 9 0 Erdenleben des einzelnen. 1905 schreibt er: „Kommt zum Beispiel ein Reicher, der sein Leben lang nichts Gutes getan hat und nur an seinen irdischen Schätzen und Genüssen hing, nach seines Leibes Tode in der Geisterwelt zufolge dem unabänderlichen göttlich-geistigen Naturgesetz von seinem Luxus hinweg in die tiefste Finsternis, so wird er sich auf die Erde zurücksehnen und mit aller Gewalt den Wunsch haben, ganz reich zu sein. So aber dieser eine Wunsch alle anderen übersteigt und sie sich im Jenseits nicht belehren lassen, so wird er ihnen gewährt. Doch werden sie so gefuhrt, daß sie die Vergänglichkeit alles Irdischen genügend kennenlernen. Daher so manche Schicksalsschläge, die den Menschen scheinbar unschuldig treffen."67
Es entspricht dem Selbstverständnis der Johannischen Kirche als „geist-christlicher Kirche" der Endzeit, daß die Reinkarnation biblisch legitimiert wird (z.B. durch Jerl,5; Mal4,5-6; Mt 11,14). In J O S E P H W E I S S E N B E R G sehen seine Anhänger eine Inkarnation Gottes des Heiligen Geistes. Seine Lehren, auch die Reinkarnationslehre, erhalten auf diesem Hintergrund ihr besonderes Gewicht. Mit vergleichbarer Autorität als Gottmensch wie W E I S S E N B E R G fühlte sich der Gründer der Gralsbewegung, O S K A R E R N S T B E R N H A R D T (1875-1941), ausgestattet. 68 Auch bei ihm ist Reinkarnation immanenter Bestandteil des Lehrsystems. Bereits Jesus wußte um das Gesetz der Reinkarnation, lehrte es aber mit Rücksicht auf die Unreife seiner Zeitgenossen noch nicht. B E R N H A R D T , der sich A B D - R U - S H I N (Sohn des Lichtes) nannte, gilt als der letzte Gottgesandte nach Jesus, dem „Gottessohn", er ist der „Menschensohn", Verkörperung des Gotteswillen, und ruft die Menschen zur letzten Entscheidung. Sie müssen im Lichte der Botschaft A B D - R U - S H I N S über Sein oder Nichtsein in der Schöpfung Gottes entscheiden. Ausgangspunkt der Schöpfung ist Gott, das „Urlicht". 69 Von ihm gehen Strahlungen aus, durch deren Veränderung, Differenzierung und Verdichtung das Weltall entstand und erhalten wird. Aufgaben und Ziele des Menschen in der Schöpfung ergeben sich von seinem innersten Wesen her. Im geistigen Teil der Schöpfung
66 67
Johannische Kirche, hrsg. vom Konsistorium der Evangelisch-Johannischen Kirche nach der Offenbarung St. Johannis, Berlin 1959, 35). Johannische Kirche. Kurzdarstellung, Berlin 1976, 4. J. WEISSENBERG und die Evangelisch-Johannische Kirche, 35f.
68
Vgl. HUTTEN (Anm. 42), 5 3 1 - 5 4 9 .
69
ABD-RU-SHIN, Im Lichte der Wahrheit. Gralsbotschaft, Vompeiberg/Tirol 2 1960, 42.
Der Reinkarnationsgedanke in christlichen Sondergemeinschaften der Neuzeit 2 5 1
existierten sich selbst unbewußte Geistkeime, die sich nach Bewußtsein sehnten und dieses nur durch Eintauchen in die Stofflichkeit erhalten konnten. Diese Geistkeime sanken schließlich in den Stoff hinab und wurden dabei mit stofflichen Hüllen und einem Astralleib ausgestattet. Nur so konnten sie als Mensch inkarniert werden. Ziel des Menschen auf Erden ist es von daher, zum „Sich-Selbst-Bewußtsein" zu kommen, die göttlichen Gesetze zu erkennen, nach ihnen zu leben und schließlich vollbewußt aus der Stofflichkeit über verschiedene Zwischenstufen in den geistigen Teil der Schöpfung zurückzugelangen. Dazu sind in der Regel mehrere Erdenleben nötig, denn die Schöpfung beruht auf dem „Gesetz der Wechselwirkung", das lautet: „Was der Mensch säet, das wird er ernten!" 70 Bereits die menschliche Geburt in armen oder reichen Verhältnissen erfolgt nach diesem Gesetz. Die Rahmenbedingungen des Lebens lassen sich nicht mit den „unerforschlichen Wegen Gottes, die alles zum Besten fuhren", erklären. 71 Nur zu Beginn ihres irdischen Entwicklungsweges war die Persönlichkeit unbelastet. 72 Die heute auf der Erde lebenden Menschen sind alle bereits inkarniert gewesen. Im Leben der Menschen gibt es deshalb keine Ungerechtigkeit, nichts geschieht willkürlich.73 „Der Mensch formt sich also stets sein zukünftiges Leben selbst." 74 Für Persönlichkeiten, die sich freiwillig inkarnieren, um eine besondere Mission auf Erden zu übernehmen, hat das Gesetz der „Anziehungskraft der geistigen Gleichart" und der Wechselwirkungen keine Bedeutung mehr, sie entscheiden selbständig, welche erschwerenden Lebensumstände sie, um anderen zu helfen, auf sich nehmen. Auch in der Elternwahl sind sie frei. In jedem Fall gilt auch für die Gralsbewegung, daß die Möglichkeit der Reinkarnation eine Gnade, eine Chance darstellt, um Schuld abzulösen und um in der Entwicklung fortzuschreiten. Die Erlösung des Menschen durch das stellvertretende Leiden und Sterben Christi wird nachdrücklich ausgeschlossen. Sie widerspräche der Gerechtigkeit Gottes und dem Schöpfungsgesetz.
70
ABD-RU-SHIN ( A n m . 6 9 ) , 1 7 0 .
71
ABD-RU-SHIN ( A n m . 6 9 ) , 1 9 7 ; v g l . 1 7 3 .
72
„Beginnt der Mensch als solcher seinen Lauf in der Schöpfung, so steht er frei, ohne Schicksalsfaden, die dann erst durch sein Wollen von ihm ausgehend hinausziehen in die feinstoflliche Welt, ... sich mit anderen kreuzen, ineinanderweben und zurückwirken auf den Urheber, mit dem sie verbunden blieben, so das Schicksal oder Karma mit sich führend" (ABD-RU-SHIN [Anm. 69], 198). Vgl. R. STEINPACH, Warum Geburten doch gerecht sind, Stuttgart71991. ABD-RU-SHIN (Anm. 69), 199. „In Familien, in denen erbliche Krankheiten sind, kommen Seelen zur Inkarnation, die diese Krankheiten durch Wechselwirkung zur Ablösung, Läuterung oder zum Vorwärtskommen brauchen" (a. a. O., 201).
73 74
252
Allgemeine Religionsgeschichte
Bei der Gralsbewegung wird nicht - wie in fast allen anderen neueren Reinkarnationsmodellen - die Rückkehr aller Seelen ins Reich des Geistes und damit zu Gott gelehrt. Diejenigen Menschen, welche alle Angebote der Rückkehr auf dem Weg der Wiedergeburt nicht annehmen, werden schließlich vernichtet. 75 Das Lehrgebäude BERNHARDTS, in das der Reinkarnationsglauben eingebaut ist, weicht allein schon durch die Christologie und Soteriologie ganz erheblich von der christlich-kirchlichen Tradition ab. Es handelt sich hier, wie HANS-DIETHER REIMER meint, um einen „nachchristlichen Neuentwurf mit stark gnostisch-esoterischem Einschlag". 76 Der Versuch, eine im wesentlichen traditionelle Christologie und Erlösungslehre mit dem Reinkarnationsglauben zu verbinden, finden wir im „Bund der Kämpfer für Glaube und Wahrheit" (Horpeniten). Hier wird ausfuhrlich eine christlich verstandene Reinkarnationslehre entfaltet. Der Bund wurde 1920 gegründet und ging aus einem seit 1899 bestehenden Freundesbund um EMIL ADOLF BERGMANN ( 1 8 6 1 - 1 9 3 1 ) u n d M A X DABRITZ ( 1 8 7 4 - 1 9 4 7 ) h e r -
vor. 7 7 Die Lehre des Bundes strebt auf dem Hintergrund der Lehren des „Geistes der Wahrheit" (Joh 14,16-17; 16,12-15;) durch E.A.BERGMANN eine Synthese von biblischem Christentum, „gereiftem Okkultismus" und modernem Weltbild an. Die Reinkarnation hat darin ihren festen Platz. Das „Gesetz der Wiedereinkörperung" ist Teil der Schöpfungswirklichkeit und wurde von Gott aus Liebe zu seinen Geschöpfen gegeben. 78 Die Persönlichkeit ist so lange diesem Gesetz unterworfen, bis sie ins Paradies, hier als Reich der Wahrheit, Liebe und Weisheit verstanden, eingehen kann. Das ist nur auf der Basis biblischen Glaubens und der Erlösungstat Christi möglich. Alle religiösen Lehren müssen deshalb zwangsläufig „nach und nach ins Christentum" übergehen. 79 Reinkarnation kann Menschen aller Religionen und
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ABD-RU-SHIN ( A n m . 6 9 ) , 1 4 1 .
76 77
H.-D. REIMER, Gralsbewegung, in: Lexikon der Sekten, 404. Vgl. H. OBST, Der Bund der Kämpfer für Glaube und Wahrheit - Horpeniten, in: M E K G R 22 (1973), 235-258; H.-J. RUPPERT, Okkultismus, Wiesbaden und Wuppertal 1990, 112 f. „Die Menschheit, gleichend und entstammend dem Tier bezüglich ihres Körpers und ihrer Seele, obwohl verwandt der Gottheit hinsichtlich ihres Geistes, diese Menschheit wäre ein Ding nicht zu denken, verloren für immer, wenn nicht vielmalige Wiedereinkörperungen ihr gäben die Möglichkeit der Vervollkommnung" (Perlen. Aphorismen aus dem Reiche der Weisheit. Übermittelt durch E. Bergmann. Gesammelt, geordnet und bekanntgegeben von P. HELLMICH, Zauckerode 1922, 114). Ε. A. BERGMANN, Die Glaubenslehre, Leipzig 1901, 36.
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Völker auf individuelle Weise den Zugang zum Christentum und damit zur Erlösung erschließen. Die Möglichkeit der Reinkarnation auf der Erde oder auf anderen „feinund grobstofflichen" Himmelskörpern bleibt für jede Persönlichkeit, die freiwillig besondere Missionen auf sich nehmen will, bestehen. Auf dem Weg über viele Reinkarnationen findet auch die Entwicklung der Pflanzen- und Tierseelen zu immer höheren Formen statt (Darwinismus als seelisches Entwicklungsprinzip). 80 Für die menschliche Persönlichkeit ist die Reinkarnation im Pflanzen- und Tierreich aber ebenso ausgeschlossen wie der Geschlechterwechsel. Die Geschlechterproblematik wird durch den Hinweis auf die Schaffung des Menschen als Vollpersönlichkeit gelöst (Adam und Eva). Das männliche und das weibliche Teil einer Persönlichkeit gehen ihren Entwicklungsweg getrennt, im Paradies bilden sie dann eine Vollpersönlichkeit (Engel), und es kommt zu einem Austausch der jeweiligen Erfahrungen bzw. zur absoluten Teilhabe an den Erfahrungen des anderen. Erst zu diesem Zeitpunkt kann die Persönlichkeit alle ihre Verkörperungen überblicken. Die Begründung des Reinkarnationsglaubens erfolgt auf mehreren Argumentationsebenen. Der schöpfungstheologischen Begründung korrespondiert der immer wieder auftauchende Hinweis auf die Lösung des Theodizee-Problems. Viele Beispiele werden genannt. 81 Erfahrung und Vernunft, so wird immer wieder hervorgehoben, sprechen ebenso für die Tatsache der Reinkarnation wie auch die Offenbarung. „Die Bibel ist nicht gegen, sondern für das Gesetz der Wiedereinkörperung." 82 Auch zu einer wesentlich vertieften Sicht der biblischen Heilsgeschichte könne es im Licht des Wiederverkörperungsglaubens kommen, so durch das Wissen um die Identität von Eva-SarahMaria, von Adam-Abraham-Joseph oder von Melchisedek-Elia-Johannes dem Täufer. Interessant ist das Bemühen, den Reinkarnationsglauben ins Christentum zu integrieren, ohne, wie in vielen anderen Fällen, zentrale christliche Lehren von vornherein aufzugeben. Das zeigt sich auch am Festhalten an der Lehre
80
„Die Wiedereinkörpemngslehre auf die Pflanzen- und Tierwelt übertragen, befesügt und vervollkommnet also die Darwinsche Entwicklungslehre, indem diese sich dadurch deckt mit der Vernunft, mit der Gerechtigkeit und Liebe und auch mit der Mosaischen Schöpfungsgeschichte ..." (M. DÄBRITZ, Schicksalsgesetz der Wiedereinkörperung, Zauckerode o. J., 17).
81
DÄBRITZ (ANM. 8 0 ) , 5 0 f.
82
DÄBRITZ (Anm. 80), 96. Als Bestätigung durch Jesus werden Mt 11,14; 17,12; Joh3 und Joh 9, 1-3 herangezogen.
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Allgemeine Religionsgeschichte
von der Auferstehung des Fleisches, die von den Anhängern der Reinkarnation in der Regel im Sinne des Weiterlebens nach dem Tode umgedeutet wird. Demgegenüber schreibt M. DÄBRITZ: „Die Lehre von der Wiedereinkörperung bringt die Geistlehre vom Fortleben nach dem Tode und die Lehre von der Auferstehung des Fleisches in Einklang. Die Auferstehung des Fleisches - nach der alle Menschen in einem fleischlichen Körper wieder auferstehen - ist die Wiedereinkörperung der geistigen Persönlichkeit auf Grund eines Naturgesetzes, das uns heute noch unbekannt ist ,.." 8 3
Besonders scharf verwahrte man sich gegen den Vorwurf, man lehre die Selbsterlösung auf dem Wege der Wiedergeburt, lehne die Rechtfertigung aus dem Glauben ab und mindere die zentrale Heilsbedeutung Jesu Christi. 84 „So können Erlösung und Wiedereinkörperung nicht nur nebeneinander bestehen, sondern sie ergänzen sich gegenseitig, wie sich göttliche Gnade und Gerechtigkeit ergänzen." 85
Die Wiedereinkörperungen dienten der Vervollkommnung, nicht aber der Erlösung der Persönlichkeit. Als Beispiel fur einen bis heute aktuellen Versuch aus dem katholischen Raum, Christentum und spiritualistische Erkenntnisse einschließlich der Reinkarnation miteinander zu verbinden, sei auf den ehemaligen katholischen Priester JOHANNES GREBER ( 1 8 7 6 - 1 9 4 4 ) und die „Johannes-Greber-Memorial-
Foundation" („Deutsche Greber-Zentrale Berlin") verwiesen. 86 „Grebers Werk fühlen sich die wichtigsten christlich-spiritualistischen Gemeinschaften im deutschen Sprachraum verpflichtet." 87
Die Christologie GREBERS ist freilich, im Unterschied zu der der Horpeniten, die entschieden an der Gottheit Christi festhalten, arianisch. 88 Außerdem wird bei GREBER die Bibel als „entstellt" angesehen. 89 Die „Urbibel" enthielt alles, „was aus dem Heilsplan Gottes als Hoffhungsanker für die Menschheit bekannt gegeben werden durfte".
83
DÄBRITZ ( A n m . 8 0 ) , 1 1 2 .
84
Vgl. dazu H. OBST, Die Erlösungslehre des ehemaligen „Bundes der Kämpfer für Glaube und Wahrheit" (Horpeniten), in: ThV VIII (1977), 157-173.
85
DÄBRJTZ ( A n m . 8 0 ) , 3 4 .
86
Vgl. dazu HUTTEN (Anm. 42), 743-747; H.-J. RUPPERT (Anm. 77), 113-116.
87
H . - J . RUPPERT ( A n m . 7 7 ) , 1 1 4 .
88
J. GREBER, Der Verkehr mit der Geisterwelt Gottes - seine Gesetze und sein Zweck, Teaneck/New Jersey 3 1970, 299.
89
GREBER ( A n m . 8 8 ) , 2 8 3 .
Der Reinkarnationsgedanke in christlichen Sondergemeinschafien der Neuzeit 2 5 5 „Es waren die Wahrheiten über die Geisterschöpfung, den Geisterkampf, den Abfall, die Schaffung der Besserungs-Sphären zum Zwecke des allmählichen Aufstieges aus der Tiefe, sowie das Kommen eines großen Gottgesandten als Befreier."90
Die Wiederverkörperung findet unter diesem ,.Hoffiiungsanker" keine Erwähnung. Sie hat jedoch im System G R E B E R S durchaus ihren Platz im Zusammenhang mit dem diesseitigen und jenseitigen Entwicklungsweg des Menschen. „Der Geist des Menschen war, bevor er zum erstenmal in einem menschlichen Leib verkörpert wurde, in einem Tierleibe. Es ist daher derselbe Geist, der durch die verschiedenen Naturstufen in stets vollkommenerer Gestaltung emporsteigt."91
Eine Rückwärtsentwicklung gibt es nicht, allenfalls Stillstand auf einer Stufe. „Hat sich sein Geist im irdischen Leben auf dem Weg zu Gott nicht vervollkommnet, so wird er wieder Mensch. Jedes Leben ist ein Examen. Wer durchfällt, mufl es so oft machen, bis er es besteht."92
Die Zeit, die die einzelne noch unvollkommene Persönlichkeit im Jenseits bis zur nächsten Verkörperung zu warten hat, ist verschieden. „Sie richtet sich auch nach dem, was der einzelne als Strafe fiir sein letztes irdisches Leben zu verbüßen hat."93
Als Fortsetzung und Vertiefung im Sinne einer geistigen „Gesamtplanung" verstehen die Anhänger der „Geistigen Loge Zürich" und von „PRO BEATRICE" die durch BEATRICE BRUNNER (gest. 1983) von 1950-1983 erfolgten Belehrungen durch höhere Geister. 94 Darin wird der Reinkarnationsgedanke breiter und differenzierter entfaltet als im Werk JOHANNES GREBERS, dem man sich ebenso wie A. KARDEC und „Emanuel" geistig verpflichtet weiß. Nach den Lehren der Geistigen Loge ergibt sich die Notwendigkeit der Reinkarnation im Rahmen einer detailliert entwickelten Kosmogonie aus dem Fall Luzifers und eines Teils der Engelwelt. Alle Menschen sind inkarnierte gefallene Engel. Ihre endliche Rückkehr zu Gott schließt auf der Basis der Erlösungstat Christi Reinkarnation als unerläßlich ein. Christus, auch hier im arianischen Sinne erstes Geschöpf Gottes, begab sich durch seine Menschwerdung in den Machtbereich Luzifers und öffnete durch seine Erlösungstat allen
90
GREBER ( A n m . 8 8 ) , 2 9 6 .
91
GREBER ( A n m . 8 8 ) , 2 8 0 f.
92
GREBER ( A n m . 8 8 ) , 2 8 1 .
93
GREBER ( A n m . 8 8 ) , 2 9 2 .
94
Vgl. zur Geistigen Loge/PRO BEATRICE (Anm. 42), 747-754.
RUPPERT
(Anm. 77), 116-123;
HUTTEN
256
Allgemeine Religionsgeschichte
bis dahin im teuflischen Reich unentrinnbar gefangenen Wesenheiten den Rückweg ins Vaterhaus. Betreten muß der einzelne diese von Christus gebaute Brücke selbst. Wer zurückkehren will, muß an sich arbeiten, sich läutern, das Böse überwinden und ablegen. „Du hast selber wieder einzukassieren, was du sündigst; du hast selber die Ernte davon einzubringen. Christus hat die Erlösung für alle Wesen gebracht, indem er den Weg in das Haus Gottes freigemacht hat."95 Innerhalb eines Erdenlebens ist es nicht möglich, „wieder einzukassieren", was man falsch gemacht hat. Das Auslöschen von Karma gilt als schwieriger und langwieriger Weg. „Ja, wie kann denn das ein Mensch in einem Leben tun? Es stirbt ein Mensch als Verbrecher. Wie kann er dann das gutmachen, wo es doch heißt: Du mußt bis zum letzten Heller alles zurückbezahlen? Ja, in seinem nächsten Leben, immer wieder wird er etwas abtragen, wie in einem Geschäft, das auf Abzahlung gemacht und wo die Schuld immer langsam gekürzt wird. So ist es auch hier, Leben für Leben muß er abzahlen, bis die ganze Schuld getilgt ist."96 Für stellvertretende Erlösung ist kein Platz! Die auf dem Rückweg zu Gott befindlichen Wesen arbeiten, unterstützt von helfenden Engeln, an ihrer karmischen und persönlichen Reinigung. Inkarnationen erfolgen durchschnittlich alle 3 0 0 - 5 0 0 Jahre. „Es gibt aber Wesen, bei denen es viel schneller geht. Ein Wesen kann in der geistigen Welt z. B. nicht besonders hoch gestiegen sein und nur immer den Drang haben, zurück zu dieser Erde, zurück! Es bittet, und es wird ihm erlaubt werden. Auch dort ist ein bestimmter freier Wille. Wenn die Aussicht besteht, daß durch diese Inkarnation die Entwicklung schneller vor sich geht, so wird man die Erlaubnis geben. Jedes Wesen ist im Jenseits in seine Arbeit eingereiht. Diejenigen, die willens sind, diese geistige Arbeit zu verrichten, geistig zu schaffen, sie lassen sich auch belehren und schulen und wollen durch diese vielen Schulen gehen, damit sie dann, wenn sie wieder zur Erde gehen müssen, auch wirklich gestärkt sind und von dieser Gotteskraft auch Gebrauch machen können. Wenn Wesen so rasch wie möglich wieder zurückkehren müssen, so sind sie nicht durch diese vielen geistigen Schulen gegangen."97 Immer wieder wird betont, daß es angesichts der Vielfalt der Schicksale auch bei den Inkarnationen Ausnahmen gibt. Für eine Reinkarnation im Pflanzenoder Tierreich fehlen in der Lehre der Geistigen Loge jedoch alle Voraussetzungen. Ein erneuter Abfall von Wesen, die auf dem Rückweg zu Gott sind,
95 Botschaften aus dem Jenseits, Bd. II „Licht der Welt", Zürich 1950, 181. 96 Botschaften aus dem Jenseits, Bd. II, 291. 97 Botschaften aus dem Jenseits, Bd. II, 289 f.
Der Reinkarnationsgedanke in christlichen Sondergemeinschaften der Neuzeit 2 5 7
wird ebenfalls ausgeschlossen. Nur Stillstand in der Entwicklung ist möglich, kein Rückschritt. Obwohl die schöpfungsmäßige Dualität der Wesenheiten und ihre Wiederherstellung nach Rückkehr zu Gott gelehrt wird, ist der Geschlechterwechsel zugelassen. „Im allgemeinen bleibt das Geschlecht etwa siebenmal nacheinander gleich."98
Je höher die Entwicklung, desto seltener ein Geschlechterwechsel, denn dieser bedeutet „einen gewissen Stillstand in der Entwicklung". 99 In den Kundgaben durch B. BRUNNER wurden auf Befragen auch immer wieder Aufschlüsse über frühere Inkarnationen noch Lebender gegeben. Das gilt auch für hervorragende Persönlichkeiten der Geistesgeschichte, ζ. B. für IMMANUEL KANT. Er lebte in seiner vorletzten Inkarnation in Griechenland und „wird sich wieder verkörpern. Auch er hatte gewissermaßen durch eine Sphäre der Läuterung hindurchzugehen. Er befindet sich aber schon in einem geistigen Lichtparadies."100
Begründet wird die Reinkarnationslehre bei der Geistigen Loge schöpfungstheologisch und heilsgeschichtlich, sie dient zur Lösung der Theodizeefrage. Aber auch die „Urbibel", die unverfälschte Vorgängerin der heutigen Bibel, habe klare Hinweise auf die Reinkarnation enthalten. Bemerkenswert ist, daß der die Anschauungen der Geistigen Loge wesentlich prägende „Geistlehrer Josef schon Ende der vierziger Jahre eine allmähliche Annahme der Reinkarnationslehre durch die katholische Kirche voraussagte. 101 Die Geistige Loge war in den sechziger und siebziger Jahren die dynamischste und ausstrahlungskräftigste spiritualistische Gemeinschaft im deutschsprachigen Raum mit einem aktiven Offenbarungsmedium. Diese Rolle ging spätestens in den achtziger Jahren an das seit 1975 um G A B R I E L E WLTTEK (geb. 1933) entstandene „Heimholungswerk Christi - Universelles Leben" über. 102 1975 will übrigens auch ERIKA BERTSCHINGER-EICKE (geb. 1929), die schon früher mit der Geistigen Loge in Berührung gekommen war, nach einem
98 99 100 101 102
Botschaften aus dem Jenseits, Bd. I „Das Weltbild", Zürich 1949, 298. Botschaften aus dem Jenseits, Bd. I, 298. Botschaften aus dem Jenseits, Bd. I, 307. Vgl. Botschaften aus dem Jenseits, Bd. I, 300. Vgl. F.-W. HAACK, Das Heimholungswerk der Gabriele Wittek und die Neuoffenbarungsbewegungen, München 1985; G. EGGEBRECHT, Die Reinkarnationslehre im Heimholungswerk Jesu Christi - Universelles Leben, Theol. Diplomarbeit, Halle 1988.
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Allgemeine Religionsgeschichte
Aufenthalt im „Lichtzentrum Bethanien" bei FRIEDA MARIJA LÄMMLE in Tieftrance Offenbarungen Gottes empfangen haben. 103 In dem von ihr gegründeten „überkonfessionellen Orden" „Fiat Lux" gehört die Reinkarnationslehre mit zu den Lehrbesonderheiten. Parallelen zur Geistigen Loge sind erkennbar. Das von G. W L T T E K in der geistigen Tradition der „Träger des Inneren Wortes" mit der absoluten Autorität des Sprachrohres Gottes übermittelte, sehr komplizierte Lehrsystem des „Universellen Leben" enthält den Reinkarnationsgedanken als unabweisbare systemimmanente Notwendigkeit. Er wird stark propagiert und ist ein wichtiges Element in der scharfen Polemik gegen die Konfessionskirchen, ganz speziell gegen ihre Eschatologie. Folgende, hier nur andeutbare Kosmogonie ist der Hintergrund der Reinkarnationslehre. Aus dem ewigen, unpersönlichen Allgeist (Urkraft allen Seins) entstand Gott, der Vater, und sein weibliches Dual, Satana. Mit ihr zeugte Gottvater als ersten Sohn Christus, der - im Unterschied zu Satana - Mitregent der Schöpfung ist. Aus Mißgunst und Machtstreben wurde Satana zum Ausgangspunkt einer Revolte gegen Gott. Satana (Luzifer) fiel, ebenso eine große Anzahl Engel; sie mußten das göttliche Lichtreich verlassen. Es entstanden sieben satanische Fallebenen, in deren letzter sich unser Sonnensystem und die Erde befinden. Um den Menschen, die alle gefallene Engel sind, den Rückweg ins Vaterhaus zu zeigen, inkarnierte sich Christus. Seit seinem Tod am Kreuz besitzen alle gefallenen Wesen einen göttlichen Erlösungsfunken und damit die Kraft zur eigenen geistigen Entwicklung. Diese ist ohne Reinkarnation nicht möglich, denn alle Menschen stehen unter dem Kausalgesetz von Ursache und Wirkung (Karma). Durch das von der Seele „verschuldete Karma bleibt sie so lange an die Materie, an das Rad der Wiedergeburt, gebunden, bis sie durch den Läuterungsprozeß der Selbsterkenntnis und Verwirklichung frei wird von dem, was sie sich selbst im Laufe vieler Inkarnationen auferlegt hat." 1 0 4 Doch gilt das Gesetz von Ursache und Wirkung nicht uneingeschränkt, es gibt noch das Gesetz der Vergebung und Gnade. „Je mehr wir uns durch ein gerechtes Leben, ein Leben der zunehmenden Selbstlosigkeit, für die Kraft Gottes, die in uns ist, öffnen, um so mehr kann Er uns Seine Gnade schenken. ... Wir können uns jederzeit Christus zuwenden, dessen erlösender Geist,
103 Vgl. A. LAMPE, Fiat Lux, in: Lexikon der Sekten, 284-286; H.-D. REIMER, Erika Bertschinger und ihr „Orden Fiat Lux", in: Materialdienst der EZW 52 (1989), 210-217; G. und M. GRAND, K.-M. BENDER, „Fiat Lux - Uriellas Orden", München 1992. 104 Gott sprach und spricht durch sie über das Leben nach dem Tod - die Reise Deiner Seele, Würzburg 21990, 64.
Der Reinkarnationsgedanke in christlichen Sondergemeinschaften der Neuzeit 2 5 9 der Erlöserfunke, in uns ist. Wir können Ihm alles übergeben, denn Er will mit uns tragen und uns unsere Lasten ganz oder teilweise abnehmen - so, wie es gut für die Seele ist." 105
Alles den Menschen dennoch widerfahrende Leid, alle Krankheit, seelischen und körperlichen Belastungen sind notwendig, um sich in der Lebensschule dieser Welt zu bewähren, zu reinigen, sich wieder nach oben zu entwickeln. Auch im Universellen Leben wird das Theodizeeproblem durch den Reinkarnationsglauben gelöst. Jedes Leid ist erklärbar und gerecht. Der Versuch christlicher Theologen, scheinbares Unrecht in der Welt mit dem Hinweis auf den verborgenen Ratschluß Gottes zu erklären, fuhrt in die Irre. 1 0 6 Jeder bestimmt sein Schicksal selbst. Die Reinkarnation erfolgt nach einem geistigen Gravitationsgesetz (zu inkarnierende Seele - werdende Mutter). 107 „Keine Seele geht ohne Aufklärung zur Inkarnation " 1 0 8 Die Gesetze der Einverleibung und die möglichen Konsequenzen einer Inkarnation werden der zu inkarnierenden Seele durch Lehrengel mitgeteilt. Ichbezogene Seelen wollen sich inkarnieren, um die vermeintlichen materiellen Freuden dieser Erde zu genießen. Sie werden nach dem Gesetz, daß Gleiches Gleiches anzieht, meist in Leid und Siechtum hineingeboren. Heute erfolgt ihre Inkarnation meist in unterentwickelten Ländern. Durch die Geburtenkontrolle in den entwickelten Ländern und den Drang vieler stark belasteter Seelen nach Inkarnation kommt es zur Bevölkerungsexplosion in der sogenannten Dritten Welt. 109 Andere, ebenfalls stark belastete Seelen wollen von vornherein die Chancen eines neuen Erdenlebens nutzen. „Sie möchten die Seelenbelastung, die sie erkannt haben, in der Kürze von Raum und Zeit abtragen und das durchleiden, was sie in den Seelenbereichen nur in sehr langen Zeitabläufen würden abtragen können. Eine dritte Gruppe von Seelen geht in der sogenannten Dritten Welt zur Einverleibung, um ihren Mitgeschwistern zu helfen, um ihnen in selbstloser Liebe zu dienen und gleichzeitig ihre eigene, selbsterkannte Belastung zu tilgen."110
Das Ziel des Entwicklungsweges zurück zu Gott, wie er im Universellen Leben gelehrt wird, beinhaltet auch die Befreiung von der Notwendigkeit der Reinkarnation. Um das zu erreichen, glaubt man von dem Selbstverständnis
105 106 107 108 109 110
Reinkarnation. Das Heraus- und Hineinschlüpfen in das Fleisch, Würzburg 3 1991, 26. Vgl. Das Leben nach dem Tod (Anm. 104), 60 f. Vgl. Reinkarnation (Anm. 105), 29. Reinkarnation (Anm. 105), 29. Reinkarnation (Anm. 105), 33. Reinkarnation (Anm. 105), 32.
260
Allgemeine Religionsgeschichte
als wiederhergestellte endzeitliche Urkirche her, der heutigen Menschheit ein einmaliges Angebot machen zu können: den siebenstufigen „Inneren Weg". „Das Ziel der Erdenschule ist es, durch die Reinigung von Seele und Mensch dem Gesetz von Ursache und Wirkung zu entwachsen - hinein in das Absolute Gesetz; es ist die unpersönliche, selbstlose Liebe, die kraftvoll wirkt, sobald die ersten vier Bewußtseinsebenen erschlossen sind. Dann ist auch die Christuskraft voll aktiv; Christus kann uns direkt und unmittelbar über das sogenannte Innere Wort oder die gereinigten Empfindungen zurück zum Absoluten Bewußtsein führen."111 Hat man diese vierte Stufe des Inneren Weges erreicht, steht „die Seele nicht mehr unter dem Kausalgesetz; das sogenannte ,Rad der Wiedergeburt' ist verlassen. Die S à i e braucht nicht mehr zu inkarnieren. ,." 112
Die weitere Entwicklung vollzieht sich im geistigen Bereich. Das Universelle Leben vertritt im Rahmen des Kampfes für die Errichtung des „Christus-Staates" seine Reinkarnationslehre offensiv gegenüber den Kirchen und kritisiert die großkirchliche Eschatologie scharf. 113 Die Lehre von der Auferstehung des Fleisches wird abgelehnt. Großer Wert wird darauf gelegt, „daß das Wissen um die Wiederverkörperung der Seele urchristliches Gedankengut und ein wesentlicher Bestandteil des christlichen Glaubens ist" 114 . Jesus lehrte die Reinkarnation, in der Bibel finden sich Hinweise darauf: Mt 16,14; 17,10-13; Lk 9,19 u. a. Für viele Kirchenväter sei die Reinkarnation eine Selbstverständlichkeit gewesen. 115 Mit der Verwerfung des Orígenes 543 η. Chr. (Präexistenz der Seele, Apokatastasis) wurde die Reinkarnationslehre aus der Kirche verdrängt und neue anthropologische Dogmen (Erbsünde, Kreationismus, Jüngstes Gericht, Fegefeuer, ewige Verdammnis) aufgestellt. Von diesen Dogmen her können die christlichen Kirchen heute keine zufnedenstellenden Antworten auf elementare Fragen menschlicher Existenz nach Herkunft und Zukunft und nach Ursache des Leides geben, deshalb auch ihr offensichtlicher Niedergang. 111 Reinkarnation (Anm. 105), 36 f. 112 Reinkarnation (Anm. 105), 37. 113 „Denn es ist ihnen und ihren Gläubigen aufgetragen, etwas anderes zu glauben: Daß man nämlich nur ein einziges Mal lebt, körperlich in die Welt gesetzt von den Eltern, als Seele aus dem Nichts für ein einmaliges Leben geschaffen von Gott. Danach kommt der Tod. Und was danach kommt, ist unklar" (Das Leben nach dem Tod [Anm. 104], 61). 114 Reinkarnation (Anm. 105), 12. 115 Letzteres versucht man durch Beispiele aus der Kirchen- und Dogmengeschichte zu belegen, vgl. H. BAUER, Wiedergeburt. Du warst schon öfters auf dieser Erde. Du wirst wiederkommen, o. O., o. J.
Der Reinkarnationsgedanke in christlichen Sondergemeinschaften der Neuzeit 261
Das „Universelle Leben" ist gegenwärtig unter den religiösen Gemeinschaften, die den Reinkarnationsglauben vertreten, die Gruppierung, welche den Reinkarnationsgedanken am kompromißlosesten und missionarisch aktivsten propagiert. Insgesamt hat die Zahl der religiösen Sondergruppen, bei denen der Reinkarnationsglauben im Rahmen des jeweiligen Lehr- und Kultsystems eine Rolle spielt, seit dem 19. Jahrhundert ständig zugenommen. Unsere Übersicht, die sich auf die bedeutendsten und interessantesten Gemeinschaften beschränkt, belegt das. In neuester Zeit gibt es auch immer wieder Versuche, den Reinkarnationsglauben in religiösen Vereinigungen zu etablieren, denen er bisher fremd war. In der Regel fuhrt das zu Ausschlüssen und Abspaltungen, zeigt aber die wachsende Anziehungskraft der Reinkarnationshypothese im Bereich traditioneller Kirchen, Freikirchen und Sondergemeinschaften. Ein besonders eindrucksvolles, aber auch krasses Beispiel dafür sind Vorgänge in neuapostolischen Gemeinden Bayerns. Hier bildete sich ein Kreis neuapostolischer Gemeindeglieder u m den Physiker Dr. MICHAEL KÖNIG (geb. 1957), d e r
den Reinkarnationsglauben als eine urchristliche Lehre bezeichnet. Seine Anhänger berufen sich auf Rückerinnerungen, erkennen sich teilweise als Wiedergeburt bedeutender Persönlichkeiten der Heilsgeschichte und verbinden den Wiedergeburtsglauben - unter Aufnahme neuapostolischer Traditionen mit einer brennenden Naherwartung. M. KÖNIG wurde am 12. Januar 1993 aus der Neuapostolischen Kirche ausgeschlossen. 116 Die Aufnahme des Reinkarnationgedankens hätte weitreichende Folgen für das neuapostolische Lehrgebäude. In Deutschland und Europa ist die Reinkarnationsidee seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem in ihrer westlichen Form präsent, die „christliche" Traditionen für sich in Anspruch nimmt oder daran anknüpft. Klassische hinduistische und buddhistische Varianten spielten allenfalls in der Theosophie und der Philosophie (ARTHUR SCHOPENHAUER) eine Rolle. Mit dem Auftreten der sogenannten „Jugendrelionen" in den sechziger Jahren entstand eine neue Situation. Für die meist hinduistischen Gurubewegungen wie Hare Krishna, Transzendentale Meditation, Divine Light Mission, Ananda Marga, Rajneeshismus und die fast unübersehbaren kleineren Gruppen ist der indische Reinkarnationsglauben eine Selbstverständlichkeit. Er wird, zusammen mit der Karmalehre, als wesentlicher Erkenntnisfortschritt indischer Religiosität gegenüber dem Christentum hervorgehoben. Aber auch in ihren traditionellen 116 M. KÖNIG, Die Neuapostolische Kirche in der N.-Zeit und die Auswirkungen bis zur Gegenwart, Feldafing 1993, 43, 56.
262
Allgemeine Religionsgeschichte
Spielarten sind heute die Reinkarnations- und Karmaanschauungen des Hinduismus und Buddhismus, bei letzterem denke man nur an den wachsenden Einfluß des tibetischen Lamaismus, in Europa vertreten. Daneben finden sich merkwürdige Mischformen wie im Fall der Scientology Organisation. Der östliche Traditionsbezug wird dabei nicht aufgegeben. Seit den achtziger Jahren begegnen sich westlicher „christlicher" Reinkarnationsglauben und östliche Reinkarnations- und Karmavorstellungen verstärkt im Rahmen des New-Age-Denkens.117 Zu den Ergebnissen dieses Prozesses gehört die ständig wachsende Präsenz der Reinkarnationshypothese in der Öffentlichkeit. Dabei wird Reinkarnation an sich akzeptiert, losgelöst von ihrer jeweiligen westlichen oder östlichen „dogmatischen" Einbindung in ein geschlossenes Lehrsystem und Weltbild. Der religiöse Hintergrund dieses Reinkarnationsglaubens an sich ist und bleibt diffus. Reinkarnations- und Karmagedanke bestechen durch ihre Plausibilität, ihre weitgehende Lösung der menschlichen Leid- und Sinnfrage. Dieser allgemeine Plausibilitätsgewinn der Reinkarnationstheorie geht in Europa mit einem ständigen Plausibilitätsverlust des Christentums einher. Etwa ein Viertel bis ein Drittel der Europäer glauben in irgendeiner Form an Reinkarnation. In Schweden halten sich nach Umfrageergebnissen Reinkarnations- und Auferstehungsglaube (die Alternative an sich ist problematisch) fast die Waage. 118 Die Versuche, Reinkarnation „wissenschaftlich" zu begründen, zu untersuchen und positiv zu bewerten, nehmen zu. 119 Auch erfreuen sich hypnotische Rückführungen in frühere Leben in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft, in der weniger „Lehre", sondern vielmehr „Erfahrung" gefragt ist, wachsender Beliebtheit.120 Vertreter und Propagandisten der Reinkarnationsidee in der Öffentlichkeit, in den Massenmedien und auf dem Buchmarkt sind längst nicht mehr in erster Linie die hier vorgestellten religiösen Gemeinschaften und Gruppen, die 117 Vgl. A. FEDER, Reinkarnaüonshypothese in der New Age-Bewegung, SIM 50 (1991). 1 1 8 Vgl. J. KERKHOFS, Wie religiös ist Europa. Conc 1 9 9 2 , 1 6 5 - 1 7 1 ; P. M . ZULEHNER, H. DENZ, Wie Europa lebt und glaubt, Düsseldorf 1993. 119 W. TRAUTMANN, Naturwissenschaftler bestätigen Reinkarnation. Fakten und Denkmodelle, Ölten, Freiburg i. Br. 1983; J.M. SORGE, Reinkarnation aus neuer Sicht, Genf 1986; vgl. B.R. EBERTIN, Reinkarnation und neues Bewußtsein, Freiburg i.Br. 2 1989; I. STEVENSON, Wiedergeburt. Kinder erinnern sich an frühere Erdenleben, Grafing 1989; R. A. MODDY, Leben vor dem Leben, Reinbek 1990 u. a. 120 M. BERNSTEIN, Protokoll einer Wiedergeburt, Bern, München, Wien 1973; W. J. MEINHOLD, Der Wiederverkörperungsweg eines Menschen durch die Jahrtausende. Reinkarnationserfahrung in Hypnose, Freiburg i.Br. 1989.
Der Reinkarnationsgedanke in christlichen Sondergemeinschaften der Neuzeit 2 6 3
Reinkarnation im Rahmen ihres Welt- und Menschenbildes lehren. Es ist die Woge diffuser Religiosität, auf der der Reinkarnationsglaube heute schwimmt und massenwirksam wird. Das macht der Theologie allein schon methodisch die Auseinandersetzung schwer, hinzu kommt, daß sie sich weithin gerade in eschatologischen Fragen zutiefst verunsichert zeigt. Die teilweise gepflegte vordergründige Apologetik, PAUL ALTHAUS Z. B. nennt den Reinkarnationsglauben der Anthroposophen „zum Lachen" und „armselig", erweist sich als wenig hilfreich, wie die bisherige Entwicklung gezeigt hat. 1 2 1 Der Reinkarnationsglauben hält zunehmend Einzug in die Randbereiche der Kirchen, auf persönlicher Ebene bis in Kernbereiche der Gemeinden. Das Gespräch ist notwendig. Die pauschale Behauptung, Christentum und Reinkarnationsglauben schlössen sich aus, fuhrt nicht weiter und ist zu hinterfragen. Der Reinkarnationsglauben muß im Rahmen des jeweiligen religiösen Systems und Weltbildes analysiert und vom christlichen Standpunkt her, der jeweils genau zu definieren ist, beurteilt werden. Wo Reinkarnationsglauben eindeutig mit einem Selbsterlösungsmodell verbunden ist, lassen sich schnell klare Positionen finden. Selbsterlösung und Christentum schließen sich aus. Eine wesentlich größere Herausforderung als die östlichen Varianten der Reinkarnationsidee stellen die „christlichen" Modelle und der weltanschaulich frei schwebende, sich dogmatischen Ortungen möglichst entziehende Reinkarnationsglauben dar. Die Theologie beginnt zu reagieren. 122 Auseinandersetzung und Dialog kommen mit wachsender Breite und zunehmender Differenziertheit in Gang. Zu den Themen christlicher Theologie im dritten nachchristlichen Jahrtausend wird der Reinkarnationsglauben gehören.
121 P. ALTHAUS, Die letzten Dinge, Gütersloh 9 1964,163 f. 122 R. FRIEDLI, Zwischen Himmel und Hölle. Die Reinkarnation, Freiburg 1986; Reinkarnation-Wiedergeburt-aus christlicher Sicht, hrsg. v. O. BISCHOFBERGER U. a., CHR. SCHÖNBORN O . P., Existenz im Übergang. Pilgerschaft, Reinkarnation, Vergöttlichung, Einsiedeln, Trier 1987; G. GRESHAKE, Tod - und dann? Ende - Reinkarnation - Auferstehung. Der Streit der Hoffnungen, Freiburg i. Br., Basel, Wien 1988; R. HUMMEL (Aiuti. 3 4 ) , H. WIESENDANGER, Wiedergeburt. Herausforderung für das westliche Denken, Frankfurt a. M. 1991; Reinkarnation oder Auferstehung. Konsequenzen für das Leben, hrsg. v. H. KOCHANEK, Freiburg, Basel, Wien, 1992.
SYSTEMATISCHE THEOLOGIE
KANTS Begriff eines Gegenstands der praktischen Vernunft und der systematische Ansatz der Religionsphilosophie1 Ulrich Barth,
Halle/Saale
E s wird w o h l immer zu den besonderen Herausforderungen an das Verständnis der KANTischen 2 Religionsphilosophie 3 gehören, daß in ihr die D o p pelthese aufgestellt wird, w o n a c h Religion für die Begründung praktischer Freiheit schlechterdings entbehrlich sei, ja eine Ableitung der Moral aus göttlicher Offenbarung geradezu Heteronomie bedeute, Religion aber gleichwohl mit moralischer Praxis untrennbar einhergehe. N o c h das , O p u s p o s t u m u m ' 4 , das der T h e o l o g i e bekanntlich einen breiteren R a u m zubilligt als die drei .Kritiken', urteilt an dieser Stelle unmißverständlich: „Der categorische Imperativ setzt nicht eine zu oberst gebietende Substanz voraus die ausser mir wäre sondern ist ein gebot oder Verbot meiner eigenen Vernunft. - Dem ungeachtet ist er doch als von einem Wesen ausgehend was über alle unwiederstehliche Gewalt hat anzusehen" 5 . D i e innere Spannung dieser Doppelthese, die auf den ersten Blick fast w i e ein Widerspruch anmutet, macht jedenfalls deutlich, daß Religion und aufgeklärte
1 2
3
4
KONRAD CRAMER als nachträglichen Gruß zum 6. Dezember 1993. KANTS Werke - bezeichnet mit den gebräuchlichen Abkürzungen - werden entweder nach den Originalpaginierungen der einzelnen Schriften oder nach der Paginierung der Akademie-Ausgabe (IMMANUEL KANT, Gesammelte Schriften, Berlin 1902 ff. [=AA]) zitiert. Eine Würdigung der neueren Forschungsgeschichte gibt RUDOLF MALTER, Zur Kantliteratur 1970-1972. Neue Bücher zu Kants Rationaltheologie und Philosophie der Religion, in: Kant-Studien 65 (1974) [Sonderheft], 155-177; zur neuesten Diskussion vgl. die Beiträge in: F. RICKEN/F. MARTY (Hrsg.), Kant über Religion, Stuttgart-Berlin-Köln 1992. Eine instruktive Übersicht über die KANT-Literatur bezüglich der Religionsphilosophie bietet die Bibliographie von HEINER KLEMME in: Philosophische Bibliothek Meiner, Bd. 45, Hamburg 1990, 253-276. Vgl. dazu REINER WIMMER, Die Religionsphilosophie des „Opus Postumum", in: F . RJCKEN/F. MARTY ( A n m . 3), 1 9 5 - 2 2 9 .
5
A A X X I I , 51.
268
Systematische Theologie
Vernunft keineswegs von vornherein miteinander harmonieren, sondern daß es vom jeweiligen Verständnis ihrer Begriffe abhängt, ob beide Größen eine kooperative Beziehung einzugehen in der Lage sind oder nicht. KANT hat die Religion im Kontext der letzten Sinnfragen des Menschen angesiedelt, 6 indem er ihr die Aufgabe zuwies, sich an der Frage „Was darf ich hoffen?" abzuarbeiten. An sie knüpfen die inhaltlichen Aussagen seiner Religionstheorie unmittelbar an. Es liegt jedoch auf der Hand, daß mit deren Beschreibung eines religiösen Endzwecks von Dasein, Natur und Geschichte der in jener Doppelthese enthaltene, tiefer liegende Antagonismus noch nicht auf den Begriff gebracht, geschweige denn gedanklich aufgelöst oder umgekehrt in seiner Berechtigung eingesehen ist. KANT selber hat deswegen die Religionsthematik in den - seiner Auffassung nach - umfassenderen Horizont der praktischen Philosophie eingeordnet und ihr so eine systematische Grundlegung zuteil werden lassen, deren Plausibilität sich allein aus dem inneren Gefalle dieses Ethikkonzepts erweisen soll. Nur von hierher ist darum auch ein angemessenes Verständnis jener Doppelthese zu erwarten. Die Rekonstruktion des systematischen Ansatzes der KANTischen Religionsphilosophie wird sich sonach darauf konzentrieren müssen, den argumentativen Stellenwert abzuschätzen, der dem Lehrstück, das die ethische Grundlegung des Religionsbegriffs enthält, im Gesamtzusammenhang von KANTS praktischer Philosophie zukommt. Eine Klärung der Begründungsprobleme dürfte im wesentlichen davon abhängen, inwieweit es gelingt, das - buchtechnisch gesprochen - in der ,Kritik der praktischen Vernunft' vorliegende Verhältnis von .Dialektik' und ,Analytik' zu erschließen. Als systematische Bezugsebene dafür bietet sich kaum eine anderere Kategorie so sehr an wie der Gedanke eines „Gegenstands der praktischen Vernunft", den KANT in beiden Lehrstücken an prominenter Stelle verhandelt. Von diesem praktischphilosophischen Gegenstandsbegriff aus läßt sich dann auch die Ausgangsproblematik der Postulatenlehre erhellen.
6
Vgl.
REINER WIMMER,
1-16.
Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin-New York
1990,
KANTS
Begriff eines Gegenstandes der praktischen Vernunft
269
I.
KANTS Gegenstandsbegriff hat in der neueren Forschung eine wichtige Rolle gespielt. Er stand zunächst im Mittelpunkt von ALOIS RIEHLS7 Auffassung des erkenntnistheoretischen Kritizismus. Für RIEHL bedeutete KANTs Theorie der Objektivität die Schließung einer wesentlichen Lücke im Gesamtprogramm des neuzeitlichen Empirismus. KANTs Gegenstandsbegriff galt sodann die besondere Aufmerksamkeit MARTIN HEIDEGGERS8. Mit seiner ontologischen Interpretation der in der .Kritik der reinen Vernunft' aufgestellten „Grundsätze des reinen Verstandes" wollte HEIDEGGER ihrem vorwiegend wissenschaftstheoretischen Verständnis und damit einer erkenntnistheoretischen Reduktion des Transzendentalismus überhaupt, wie sie seiner Meinung nach im Neukantianismus vorlag, entgegentreten. Und die Objektivitätsthematik ist schließlich in jüngster Zeit, vor allem bei DIETER HENRICH9, wieder in den Vordergrund gerückt. Das verstärkte Sachinteresse an den klassischen Entwürfen zur Philosophie der Subjektivität sowie die Auseinandersetzung mit den vorwiegend angelsächsischen Ansätzen einer sprachanalytischen Ontologie haben das Verhältnis von Selbstbewußtsein und Objektbewußtsein bei KANT wieder zu einer, wenn nicht der zentralen Frage seiner Philosophie werden lassen. So verschieden nun allerdings die Leitgesichtspunkte der genannten Erörterungskontexte gelagert sind, darin stimmen sie jedoch alle überein, daß sie ausschließlich dem theoretischen Gegenstandsbegriff 10 bzw. dem Objektivitätsproblem der theoretischen Philosophie 11 gewidmet sind. Nun verfugt KANT aber auch über einen spezifisch praktisch- philosophischen Gegenstandsbegriff. Das zweite Hauptstück der .Analytik' der .Kritik der praktischen Vernunft' trägt die Überschrift „Der Begriff des Gegenstands der reinen praktischen Vernunft" 12 , und in der .Dialektik der reinen praktischen Vernunft' bildet der Gegenstandsbegriff erklärtermaßen das Konstruk-
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12
Vgl. ALOIS RIEHL, Der philosophische Kritizismus, Bd. 1, 3. Aufl., Leipzig 1924. Vgl. MARTIN HEIDEGGER, Die Frage nach dem Ding, Tübingen 1962. Vgl. DIETER HENRICH, Identität und Objektivität, Heidelberg 1976. Vgl. GÜNTER ZÖLLER, Theoretische Gegenstandsbeziehung bei Kant, Berlin-New York 1984. Zur erkenntnistheoretischen Grundlegung des Objektbewußtseins bei KANT vgl. auch ULRICH BARTH, Die Christologie Emanuel Hirschs, Berlin-New York 1 9 9 2 , 4 3 3 - 4 7 5 , und die dort genannte einschlägige Literatur. Vgl. dazu LEWIS WHITE BECK, Kants „Kritik der praktischen Vernunft", München 1974, 128-134.
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Systematische Theologie
tionsprinzip der dort entfalteten Lehre vom höchsten Gut 1 3 . Die nachfolgenden Ausführungen des ersten Teils unserer Überlegungen sollen darum KANTS praktisch-philosophischem GegenstandsbegrifF gewidmet sein, zunächst wie er in der .Analytik' vorkommt, sodann wie er in der .Dialektik' exponiert wird. Ziel dabei ist es, die systematische Basis des Religionsbegriffs zu gewinnen. Vor einer Annäherung an das Problem scheint es zweckmäßig zu sein, einige definitorische Fragen zu klären. Der praktisch-philosophische GegenstandsbegrifF der .Analytik' wird auf einer ersten Ebene in einem handlungstheoretischen Sinne eingeführt. Für KANT fallt eine solche Erörterung in die Vermögenslehre der empirischen Psychologie, nämlich in die Explikation des Willensbegriffs als der grundlegenden Struktur des Begehrungsvermögens. Leitgesichtspunkt der hier erfolgenden Bestimmungen ist ein am Kausalitätsbegriff orientiertes Praxismodell. Dementsprechend wird das Begehrungsvermögen definiert als die Fähigkeit eines Subjekts, „durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein"14.
Und in Übereinstimmung damit wird der Wille definiert als das Vermögen, „den Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen oder doch sich selbst zur Bewirkung derselben ... zu bestimmen"15.
KANTS kausalitätstheoretischer Willensbegriff steht, gemessen an der heutigen Debatte zur Handlungstheorie, allerdings noch nicht in einem Gegensatz zum Intentionalitätsmodell. Denn diejenigen Vorstellungen, die als Ursache der Wirklichkeit von Gegenständen füngieren, sind zugleich die Zwecke, welche die handelnden Individuen intendieren. Insofern kann der Wille auch definiert werden als „das Vermögen der Zwecke" 16 . Dieser kausalitätstheoretische Willensbegriff ist nun aber keineswegs auf die Sphäre der Handlungstheorie beschränkt, sondern greift - wie bereits das 13
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Dies wird bei BECK (Anm. 12), 225-228, nicht hinreichend deutlich. Vgl. dazu auch die grundlegenden Arbeiten von JOHN R. SILBER: Immanenz und Transzendenz des höchsten Gutes bei Kant, ZphF 18 (1964), 386-407; Die metaphysische Bedeutung des höchsten Gutes als Kanon der reinen Vernunft in Kants Philosophie, ZphF 23 (1969), 538-549; The Copernican Revolution in Ethics. The Good reconsidered, KantSt51 (1959/60), 85-101; The importance of the Highest Good in Kant's Ethics, Ethics 73 (1963), 179-197. Den geneüschen Aspekt beleuchtet KLAUS DOSING: Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie, KantSt 62 (1971), 5-42. KpV 16 A. KpV 29 f. KpV 103.
KANTS Begriff eines Gegenstandes der praktischen Vernunft
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vorletzte Zitat zu erkennen gab - auch über auf die Freiheitstheorie, für die die empirische Vermögenspsychologie lediglich die begrifflichen Grundlagen 17 liefert. Betrachtet man die Kausalitätsstruktur des Willens im Lichte des Freiheitsproblems, dann muß der Wille definiert werden als das Vermögen eines vernünftigen Wesens, sich selbst zur Kausalität seiner Vorstellungen zu bestimmen. Während im Falle der Naturkausalität genau die Eigenschaft einer Ursache, ihrerseits die Wirkung einer anderen Ursache zu sein, sie selbst zur Hervorbringung ihrer Wirkungen nötigt, ist bei der Freiheitskausalität die Fähigkeit, Handlungen ursächlich hervorzubringen, das Resultat reiner Selbstbestimmung 18 . Mit dieser Differenz ist zugleich der Übergang gemacht vom praktischen Gegenstandsbegriff im handlungstheoretischen Sinne zu dessen freiheitstheoretischer Fassung. Letzterer - als Gegenstand nun der reinen praktischen Vernunft - ist definiert als dasjenige Objekt, welches vorgestellt wird als eine mögliche Wirkung von Freiheitskausalität19. Mit dem praktisch-philosophischen Gegenstandsbegriff - sei es im handlungs-, sei es im freiheitstheoretischen Sinne - hat KANT die Differenz von theoretischer und praktischer Philosophie zugleich in gegenstandstheoretischer Hinsicht zur Geltung gebracht. Während in der theoretischen Sphäre von einem Objekt des Bewußtseins dann die Rede ist, wenn in der Anschauung gegebene Vorstellungen nach notwendigen Verknüpfungsregeln auf das in ihnen Vorgestellte bezogen werden, geht es in der praktischen Einstellung allein um die Beziehung eines Willens auf mögliche Handlungen 20 . Dieser praktische Objektsbegriff hat KANT dann auch veranlaßt, dem Kriterium der objektiven Realität eines Begriffs von der praktischen Philosophie her eine ganz neue Bedeutung zuteil werden zu lassen, die von der der theoretischen Sphäre kate17
Ahnlich liegen die Dinge in der theoretischen Philosophie. Auch hier unterscheidet KANT zwischen der Verwendung empirisch-psychologischer Begriffsmittel einerseits und transzendentallogischen Begründungsstrukturen andererseits. Es ist darum höchst irreführend bis abwegig, wenn EILERT HERMS behauptet, daß „die gesamte Phänomenologie!!] der synthetischen Leistungen des erkennenden Subjekts, in deren Horizont!?] die ,transzendentale Deduktion der Kategorien' erfolgt, de facto nichts als ein Stück empirische Psychologie, in der Haltung der Selbstanschauung gewonnene Selbsterkenntnis des endlichen Subjekts" biete, „ohne daß Kant diesen Sachverhalt hinreichend reflektiert hätte" (DERS., Die Bedeutung der .Psychologie' für die Konzeption des Wissenschaftssystems beim späten Schleiermacher, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hrsg. von G. MECKENSTOCK, Berlin-New York 1991, 369-401, hier 399 mit Anm. 40). 18 Vgl. GMS; AA IV, 446 f. 19 Vgl.KpVIOO. 20 Vgl. KpV 100.
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gorial verschieden ist. Objektive Realität von Vorstellungen im praktisch-philosophischen Sinne liegt nicht da vor, wo diese mit den allgemeinen Gesetzen des Verstandes übereinkommen und der Wirklichkeit oder Möglichkeit nach im Kontext der Wahrnehmung gegeben sind, sondern dort, wo Begriffe, Ideen oder Postulate durch praktische Vernunft realisiert werden oder als durch praktische Vernunft realisierbar gedacht werden können. 21 Dieses vom praktisch-philosophischen Gegenstandsbegriff her gewonnene Kriterium von objektiver Realität hat dann grundlegende Bedeutung für den Aufbau der Ethik, Religionslehre und Geschichtsphilosophie. Nun weist allerdings die Näherbestimmung des Begriffs des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft eine Schwierigkeit auf, die mit KANTS eigentümlicher Fassung des obersten Grundsatzes der Sittlichkeit zusammenhängt. Moralisch ist ihm zufolge eine Handlung nur dann, wenn ihr - wie es einmal in der Ethikvorlesung von 1780/81 heißt - ein „Principium intellectuale internum" 22 zugrunde liegt. Vermöge seiner Rationalität unterscheidet sich dieses Prinzip von allen empirischen Grundsätzen, seien sie auf äußere oder innere Vorgegebenheiten bezogen; durch seinen Innerlichkeitscharakter trennt es sich von der herkömmlichen Gestalt theologischer Moralbegründung. 23 Rational sensu stricto ist nun aber ein Handeln nicht schon dann, wenn Vernunft überhaupt mit im Spiel ist. KANTS Philosophie geht von dem in der Tat trivialen Sachverhalt aus, daß bereits zur absichtsgeleiteten Steuerung des menschlichen Neigungspotentials unabdingbar Vernunft als überlegende Instanz erforderlich ist, welche in dieser Hinsicht als Zweck-Mittel-Rationalität fungiert und in hypothetischen Imperativen ihren Niederschlag findet. 24 Dabei produziert sie präskriptive Regeln technischer Art oder erteilt dem Handelnden Optimierungsratschläge, ohne jedoch - in beiden Fällen - die jeweils vorhandenen, aber keineswegs von ihr selbst aufgestellten, sondern von anderwärts her gegebenen Bestimmungsgründe ihrerseits in Frage zu stellen. KANTS Frage war allein die, ob Vernunft auch unabhängig von solchen neigungsmäßig vorgegebenen Zwecken und Motiven, also rein aus sich heraus, das Handeln zu bestimmen in der Lage sei. Die Konzeption seines Moralprinzips ist ganz und gar getragen von der Idee einer Vernunft, die als solche praktisch
21 22 23 24
Vgl. AA VIII, 356: „Ausführbarkeit (objective Realität)"; ebenso AA VIII, 380: „... haben objective Realität, d. i. sie lassen sich ausführen". P. MENZER (Hrsg.), Eine Vorlesung Kants über Ethik, Berlin 1924, 17. Vgl. KANTS Verweis auf CRUSIUS samt „anderen theologischen Moralisten" (KpV 69). Vgl. dazu KONRAD CRAMER, Hypothetische Imperative?, in: Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Bd. 1, hrsg. von M. RIEDEL, Freiburg i.B. 1972, 159-212.
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ist, d. h. ausschließlich selbst den Willen zu normieren und motivieren vermag. K A N T gelangt zu dem Ergebnis, daß die Vernunft dazu nur befähigt sei, wenn die Bestimmtheit einer Handlung durch Vernunft und die Selbstbestimmung des Willens zusammenfielen. Was nun die praktische Vernunft als Vernunft ausweist, ist die Setzung von Unbedingt-Allgemeinem; was sie als praktische kennzeichnet, ist der Umstand, daß sie solche Allgemeinheit präskriptiv zur Anwendung bringt. Für die vernünftige Selbstbestimmung des Willens mit Bezug auf gegebene, materiale Willensmaximen folgt daraus, daß diese nur dann moralischen Wert besitzen, wenn sie einen Verallgemeinerungstest im Sinne strenger Allgemeinheit bestehen. Das Sittengesetz hat für einen solchermaßen autonomen Willen deswegen rein formalen Charakter, weil seine Verbindlichkeit allein auf dem ihm eigenen Moment der präskriptiven Allgemeinheit beruht, die in der bloßen Form der normativen Gesetzmäßigkeit zum Ausdruck kommt. Damit ist aber die Schwierigkeit hinsichtlich des praktisch-philosophischen Gegenstandsbegriffs vorgezeichnet: Auf der einen Seite, unter handlungstheoretischem Aspekt, muß ein Gegenstand der praktischen Vernunft gedacht werden können, weil er in der Kausalitätsstruktur des Willens notwendig enthalten ist, auf der anderen Seite, in freiheitstheoretischer Perspektive, muß der Wille von jedem Gegenstandsbezug absehen, da er nur dann die Struktur vernünftiger Selbstbestimmung aufweist, wenn er hinsichtlich seines Bestimmungsgrundes durch die bloße Form präskriptiver Allgemeinheit verbunden wird. K A N T löst dieses Dilemma in der Weise, daß er die vom kausalitätstheoretischen Willensbegriff her gewonnene Bestimmung des Gegenstands der praktischen Vernunft noch einmal im Lichte des Freiheitsproblems aufrollt, wie es sich aus der Perspektive der Idee einer für sich allein zur Praxis befähigten Vernunft darstellt. Eben dies geschieht im zweiten Hauptstück der .Analytik': „Von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft" 25 . entwickelt den Hauptgedanken dieses Abschnitts anhand einer Gegenüberstellung des reinen und des hypothetischen Gebrauchs der praktischen Vernunft. Was ein Gegenstand derselben sei, bemißt sich im Fall des hypothetischen Vernunftgebrauchs nach zwei Kriterien, nämlich erstens, ob er rein technisch realisierbar ist, und zweitens, ob er vom Willen erstrebt werden darf. Offenkundig bedeutet das erste Kriterium, nämlich seine physische Möglichkeit, eine einschränkende Bedingung der Anwendung des zweiten, seiner moKANT
25
KpVlOOff.
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raiischen Intendierbarkeit. Beim reinen Vernunftgebrauch hingegen kehrt sich das letztere Verhältnis nicht nur um, sondern die Frage, ob etwas ein Gegenstand der praktischen Vernunft sei, reduziert sich ganz und gar auf die Frage, ob man ihn wollen dürfe oder nicht. Das Kriterium der physischen Möglichkeit muß hier aus dem Grunde entfallen, weil im Falle der Vernunft als eines für sich allein hinreichenden Bestimmungsgrundes des Willens von allem Gegenstand des Begehrungsvermögens, damit aber auch von der Frage seiner realen Herstellbarkeit vollständig abstrahiert werden muß. Die Alternative, ob man eine Handlung wollen dürfe oder nicht, ist nun aber kongruent der Entscheidung über deren moralische Möglichkeit. Demzufolge ist im Falle des reinen Gebrauchs der praktischen Vernunft der Gegenstand derselben identisch mit der moralischen Möglichkeit der von der Vernunft intendierten Handlung. Der Gegenstand der reinen praktischen Vernunft ist sonach das Gute selbst - als oppositum des Bösen. Seine absolute Güte bemißt sich ausschließlich danach, ob das Sittengesetz alleiniger Bestimmungsgrund des Willens ist oder nicht. Das relativ Gute des hypothetischen Vernunftgebrauchs hingegen bleibt in seiner Bonität immer abhängig von der technischen Möglichkeit des zugrundeliegenden Zweck-Mittel-Verhältnisses. Bezieht man dieses Ergebnis zurück auf KANTs vermögenstheoretische Einfuhrung des praktisch-philosophischen Gegenstandsbegriffs, so wird deutlich, daß das Objekt der reinen praktischen Vernunft in der jetzt festgestellten Bedeutung nicht unter die Objekte im Sinne des handlungstheoretischen Willensbegriffs subsumiert, sonach nicht als Zweck oder Intention einer Maxime aufgefaßt werden kann. Es repräsentiert vielmehr die ethische Qualität eines Willens, der allein von der Vernunft normiert und motiviert wird, bzw. die ethische Qualität von Maximen, sofern und nur sofern sie sich als streng verallgemeinerungsfähig erweisen - wobei allerdings solche Bonität nur dem Willen selbst unmittelbar eignet, während sie jenen Maximen nur über die Vermittlung des ihnen zugrunde liegenden Willens zukommt. Fungiert Vernunft als ausschließlicher Bestimmungsgrund des Willens, so ist ineins damit dessen positive ethische Wertigkeit gesetzt. Alles durch das Sittengesetz bestimmte Wollen ist per se unbedingt gut. Als erstes Zwischenresultat unserer Überlegungen kann somit festgehalten werden, daß der im zweiten Hauptstück der .Analytik' entfaltete Gegenstandsbegriff nichts anderes bezeichnet als die evaluative Dimension des Sittengesetzes hinsichtlich des von ihm bestimmten Willens. Was KANT veranlaßt hat, der Entfaltung des Gegenstandsbegriffs in der ,Kritik der praktischen Vernunft' eine so hervorgehobene Stellung zu verlei-
KANTS
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hen, waren zu einem guten Teil gewiß Fragen der Symmetrie der Darstellung im Vergleich zum Aufbau der ersten .Kritik'. Daß es indes auch einen gewichtigen, die Ethik selber tangierenden explikationslogischen Grund gab, deutet KANT in der .Vorrede' an: „Ich habe einem gewissen wahrheitliebenden und scharfen, dabei also doch immer achtungswürdigen Rezensenten jener Grundlegung zur Metaphysik der Sitten auf seinen Einwurf, daß der Begriff des Guten dort nicht (wie es seiner Meinung nach nötig gewesen wäre) vor dem moralischen Prinzip festgesetzt worden, in dem zweiten Hauptstücke der Analytik, wie ich hoffe, Genüge getan" 26 .
KANT spielt damit auf die 1786 erschienene Rezension dieser Schrift durch den Rügener Pfarrer und späteren Propst von Fehmarn HERMANN ANDREAS PLSTORIUS an. 27 Dieser hatte - der formalen Anlage und einigen in der Tat mißverständlichen Äußerungen der Grundlegung folgend - gefordert, die Exposition des Begriffs des Guten habe der des Begriffs des Willens und des Sittengesetzes voranzugehen und sich an dem Prinzip der allgemeinen Menschennatur zu orientieren. KANT geht in dem genannten Abschnitt der .Kritik der praktischen Vernunft' aufjenen Einwand unmittelbar ein. Er braucht dabei seine Auffassung jedoch keineswegs zu revidieren, hatte er doch bereits in der Grundlegung anläßlich der Definition des Begriffs des Guten das Merkmal der objektiven Bestimmtheit des Willens durch die Vernunft explizit im Definiens angeführt. 28 Allerdings gestattet die praktisch-philosophische Gegenstandskategorie nun eine weitergehende systematische Präzisierung: Das Gute ist der von der praktischen Vernunft selbst gesetzte „Gegenstand" dergestalt, daß eine nicht nur als Mittel, sondern an sich gewollte Handlung gut ist, sofern der ihr zugrunde liegende Wille ohne Bezugnahme auf mögliche Zwecke ausschließlich und unmittelbar durch das Sittengesetz bestimmt wird. Moralisch-praktische Güte im unbedingten Sinne ist also eine Funktion der formal-apriorischen Willensbestimmtheit, nicht umgekehrt. Der Rückbezug auf die .Grundlegung' macht aber noch ein weiteres deutlich. Dort hatte KANT den Sachverhalt der ethischen Güte ausdrücklich unter den Oberbegriff des Wertes subsumiert, 29 also dessen, worauf sich
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28 29
KpV 15 f. Vgl. HERMANN ANDREAS PISTORIUS, Rezension der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" ( 1 7 8 6 ) , wiederabgedruckt in: Materialien zu Kants „Kritik der praktischen Vernunft", hrsg. von R . BITTNER/K. CRAMER, Frankfurt (M.), 1 9 7 5 , 1 4 4 - 1 6 0 . Vgl. GMS;AA IV, 413.414.401.436. Vgl. GMS; AA IV, 394 ff. 426 ff.
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„Schätzung" richtet. Durch die Einführung des Gegenstandsbegriffs in der .Kritik der praktischen Vernunft' konnte KANT hinsichtlich des Begriffs des Guten auf die Kategorie des Wertes verzichten. Sachlich hat sich damit aber kaum etwas geändert. Auch der die moralische Möglichkeit einer Handlung betreffende praktische Gegenstandsbegriff meint nichts anderes als deren ethische Wertigkeit, oder - bezogen auf deren Konstitutionsursprung - die evaluative Dimension des Sittengesetzes. Was KANT im Kontext der zweiten ,Kritik' dazu bewogen haben mag, hinsichtlich der moralischen Möglichkeit einer Handlung auf den Wertbegriff zu verzichten, 30 dürfte damit zusammenhängen, daß an anderer Stelle, nämlich bei der kritischen Reformulierung des Begriffs des moralischen Gefühls, noch einmal der Sachverhalt der Wertschätzung, nämlich der Selbstschätzung, auftauchte, wobei der Wertbegriff hier notwendigerweise eine mehr subjektive Färbung annehmen mußte. Bezieht man diesen Aspekt mit in die Überlegungen ein, wird man in präzisierender Abhebung davon das Gute bzw. ethische Güte im Sinne der .Analytik' als einen von der praktischen Vernunft produzierten und darum objektiven Wert zu bezeichnen haben. Überblickt man das bisher Ausgeführte, dann wird man wohl kaum umhin können, eine gewisse Diskrepanz in KANTS praktisch-philosophischem Gegenstandsbegriff zu konstatieren. Auf der einen Seite, in handlungstheoretischer oder vermögenstheoretischer Hinsicht, ist es für die Willensstruktur konstitutiv, intentional auf einen möglichen Gegenstand bezogen zu sein, welche Vorstellung als Ursache seiner Hervorbringung fungiert. Auf der anderen Seite, in freiheitstheoretischer Hinsicht, impliziert die ausschließliche Bestimmtheit eines Willens durch das Sittengesetz als Bestimmungsgrund, daß von der Materie des Begehrungsvermögens abstrahiert wird. Diese Abstraktion kann auf drei graduell verschiedenen Stufen erfolgen: 1. Es wird abstrahiert von der tatsächlichen Wirkung, d. h. vom Handlungseffekt. 3 1 2. Es wird abstrahiert nicht nur vom tatsächlichen, sondern auch von dem als möglich vorgestellten Effekt, d. h. vom konkreten Handlungszweck. 32
30 31
32
Ansonsten behält der Wertbegriff bei KANT weiterhin eine wichtige Rolle. Die moralischen Gesetze „gebieten schlechthin, es mag auch der Erfolg derselben sein, welcher er wolle, ja sie nötigen sogar, davon gänzlich zu abstrahieren" (Ri XI Α.); vgl. KpV 38. „Das moralische Gesetz ... abstrahiert... als Bestimmungsgrund ... von allem Objekte des Wollens" (KpV 196).
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3. Es wird nicht nur von der materialen Bestimmtheit eines Zwecks abstrahiert, sondern von der Zweckrelation überhaupt, 33 d. h. von der Intentionalitätstruktur im handlungstheoretischen Sinne. KANT behauptet alle drei Abstraktionsformen. Es ist offenkundig, daß die dritte die systematisch weitreichendste ist. Diese Abstraktion von aller Zweckrelation im Falle der alleinigen Bestimmungsgrundfiinktion des Sittengesetzes wird nun aber - wie sich gezeigt hat - durch die Einführung des Begriffs eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft keineswegs kompensiert, geschweige denn rückgängig gemacht. Denn die Konstitution der ethischen Qualität oder des moralischen Wertes des Willens durch reine Vernunft sagt über dessen Gegenstandsbezogenheit im handlungstheoretischen Sinne positiv gar nichts aus. Es stellt sich sonach die lapidare Frage: Was eigentlich wollen handelnde Wesen, sofern sie ihren Willen durch das Sittengesetz bestimmt sein lassen? 34 Man könnte entgegenhalten, die Frage sei bereits beantwortet, indem das Sittengesetz als ein solcher Bestimmungsgrund fungiert, der nur mit Bezug auf gegebene Maximen den Willen bestimmt, dergestalt daß er sie einem Verallgemeinerungstest unterwirft; also sei es die jeweilige Maxime, die den fraglichen Zweck bereitstelle. Dieser Einwand übersieht jedoch den elementaren Sachverhalt, daß das Objekt, welches durch eine Maxime intendiert wird, immer nur empirisch bestimmt sein kann, sonach als möglicher Kandidat für einen Zweck der reinen praktischen Vernunft aus kategorialen Gründen
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34
Da die Gesetze der Moral „durch die bloße Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit ... verbinden: so bedarf sie überhaupt gar keines ... Zweckes, weder um, was Plicht sei, zu erkennen, noch dazu, daß sie ausgeübt werde, anzutreiben; sondern sie kann gar wohl und soll, wenn es auf Pflicht ankommt, von allen Zwecken abstrahieren" (Ri IV f.). Das „Gesetz, welches die formale Bedingung des Gebrauchs der Freiheit überhaupt enthält, ist ihr genug" (Ri VI). Wenn KANT gleichwohl an dieser Stelle im Hinblick auf die Idee des höchsten Guts - von dessen Gegenstandsfunktion für die praktische Vernunft wird unten noch ausführlich die Rede sein - die „Zweckbeziehung" wieder einführt, dann erfolgt die Einführung dieser ,,notwendige[n] Beziehung" nicht im Sinne einer der Bestimmung der Willkür vorhergehenden Relation, sondern „als Folge von ihrer Bestimmung durchs Gesetz" (Ri VI). Das besagt, daß insofern und insoweit es um die Funktion des Sittengestzes als eines bloßen Bestimmungsgrunds des Willens geht, von der Zweckbeziehung des Willens tatsächlich abstrahiert wird. „Denn ohne alle Zweckbeziehung kann gar keine Willensbestimmung im Menschen stattfinden", weil „eine Willkür, die sich keinen weder objektiv noch subjektiv bestimmten Gegenstand (den sie hat oder haben sollte) zur vorhabenden Handlung hinzudenkt, zwar wie sie, aber nicht wohin sie zu wirken habe, angewiesen, sich selbst nicht Genüge tun kann" (Ri VI).
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ausscheidet. Die Frage bleibt also bestehen: Welchen Zweck verfolgt ein Wille, sofern reine praktische Vernunft ihn normiert und motiviert? Man könnte nun das Gewicht der Frage herabzumindern suchen, indem man bestreitet, daß KANTS Geltendmachung des formalen Charakters moralischer Willensbestimmung die Abstraktion von der Zweckrelation in jeder Hinsicht impliziere. Stärkster Beleg dafür wäre eine der Fassungen des Sittengesetzes, die die .Grundlegung' selber anfuhrt: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst"35.
Auf dieses Argument wäre zweierlei zu erwidern: Erstens, ohne daß das Verhältnis der verschiedenen Fassungen des kategorischen Imperativs hier auch nur ansatzweise diskutiert werden kann, spricht nach wie vor viel für die von KLAUS REICH vertretene Auffassung, eine Grundform und drei Nebenformen zu unterscheiden. 36 Die Grundform liegt vor im Universalisierungsgebot, die drei Nebenformen bilden 1. die Naturgesetzformel, 2. die Zweckformel, 3. die Gesetzgebungsformel. Allein die Grundform gibt den kategorischen Imperativ in seiner reinen Struktur wieder, die drei Nebenformen sind Applikationen, die der Veranschaulichung und Anwendbarkeit dienen sollen. Für diese Zuordnung spricht nicht nur der Argumentationsverlauf des 2. Abschnitts der Grundlegung, sondern auch der Umstand, daß die Exposition und Deduktion des kategorischen Imperativs in der ,Kritik der praktischen Vernunft' ausschließlich die Grundform im Auge hat. So gesehen ist die Zweckformelfassung des kategorischen Imperativs als solche kein Argument gegen die um der ausschließlichen Bestimmungsgrundfunktion der Vernunft willen geforderte völlige Abstraktion von der Zweckrelation. Für den Anwendungscharakter speziell der Zweckformel gibt es, zweitens, aber auch einen positiven Beleg, nämlich deren wörtliche Wiederkehr in der ,Tugendlehre' der .Metaphysik der Sitten' 37 . Den systematischen Kontext der Stelle bildet die Frage, ob es Zwecke gibt, die Pflicht sind. KANT bejaht sie und gibt Gründe dafür an. Für unseren Zusammenhang entscheidend ist, daß KANTS Überlegungen ganz und gar dem Problem der Restitution der Zweckrelation hinsichtlich des Handelns aus reiner Vernunft gewidmet sind, um nämlich der Tugendpflicht „einen gewissen Zweck (Materie, Objekt der Will-
35 36 37
GMS; AAIV, 429. Vgl. KLAUS REICH, Kant und die Ethik der Griechen, Tübingen 1935, 34-36. MS; AA VI, 395.
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kür)" und nicht „bloß das Förmliche der sittlichen Willensbestimmung" 38 zuzuweisen. In dem Abschnitt „Von dem Grunde, sich einen Zweck, der zugleich Pflicht ist, zu denken" führt KANT zunächst den Zweckbegriff ein und stellt sodann dessen Bezug zum Freiheits- und Pflichtbegriff her. Im Anschluß daran heißt es: „Es muß ... einen solchen Zweck und einen ihm korrespondierenden kategorischen Imperativ geben. Denn da es freie Handlungen gibt, so muß es auch Zwecke geben, auf welche als Objekt jene gerichtet sind. Unter diesen Zwecken muß es aber auch einige geben, die zugleich ... Pflichten sind. - Denn gäbe es keine dergleichen, so würden, weil doch keine Handlung zwecklos sein kann, alle Zwecke für die praktische Vernunft immer nur als Mittel zu anderen Zwecken gelten, und ein kategorischer Imperativ wäre unmöglich; welches alle Sittenlehre aufhebt"39.
Als solche Zwecke der reinen Vernunft werden genannt die je eigene, innere moralisch-praktische Vollkommenheit und die Glückseligkeit anderer Menschen. Auf KANTS Deduktion dieser Prinzipien kann hier nicht eingegangen werden. Festzuhalten bleibt nur, daß die formalen Zwecke der ,Tugendlehre', auf die uns die Zweckformel der .Grundlegung' geführt hatte, ebenso wie diese selbst den Schluß nahelegen, daß KANT mit der in der zweiten .Kritik' entwickelten Theorie des Gegenstands der reinen praktischen Vernunft die Zweckabstraktion, welche die reine Bestimmungsgrundfunktion des Sittengesetzes notwendig mit sich brachte, offenbar keineswegs als kompensiert, geschweige denn die Zweckrelation als restitutiert betrachtete. Wenn das Gute tatsächlich nur die evaluative Dimension des Sittengesetzes verkörpert, dann bleibt bei Zugrundelegung jedenfalls dieser Fassung des praktischen Gegenstandsbegriffs tatsächlich die Frage offen, was eigentlich handelnde Wesen wollen, deren Wille allein durch das Sittengesetz verbunden wird. Mit der zweiten Nebenform des kategorischen Imperativs, der Zweckformel, und dem Begriff eines Zweckes, der zugleich Pflicht ist, hat KANT in gewisser Weise die Zweckrelation sachlich wieder zur Geltung gebracht. Insofern lassen sich beide Schritte als KANTS Versuch auffassen, der vom handlungstheoretischen Willensbegriff her geforderten Zweckrelation auch unter den Bedingungen einer spezifisch freiheitstheoretischen Fassung des Moralitätsprinzips Rechnung zu tragen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob damit die Zweckrelation schon hinreichend restituiert ist. Es hat den Anschein, daß dies nicht der Fall ist.
38 39
MS; ΑΑ VI, 383. MS; ΑΑ VI, 385.
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These, daß die Konstitution der Freiheit durch reine praktische Vernunft sich ausschließlich in der gesetzlichen Form der Willensbestimmung vollzieht, steht nämlich ihrerseits noch einmal unter der Voraussetzung einer systematischen Differenz von heiligem und endlichem Willen. Das moralische Gesetz tritt bei einem nichtheiligen Willen immer nur in Konkurrenz zu nichtvernünftigen Bestimmungsgründen als normierend und motivierend auf und hat darum grundsätzlich Imperativisch nötigenden Charakter, bzw. verleiht jenem die Form des Selbstzwangs. Der kategorische Imperativ ist insofern anders als das Sittengesetz selbst - ein Moralitätsprinzip für endliche Vernunftwesen. Vom Zweck ihrer Handlungen müssen diese darum absehen, weil das Interesse am Gegenstand und das Handeln aus bloßer Vernunft in kontradiktorischem Widerspruch zueinander stehen. Die reine Vernunftbestimmtheit des Willens schließt es strikt aus, daß dieser durch Neigungen bestimmt wird. Sie schließt es aber keineswegs aus - und darauf kommt es hier an - , daß ein solcher Wille durch Neigungen affiziert wird. Eine Affiziertheit der Sinnlichkeit von Seiten der Materie des Wollens liegt bei endlichen Vernunftwesen auch dann vor, wenn die dadurch hervorgerufenen Neigungen für den Willen keine bestimmende Kraft haben. KANTS
Das bedeutet aber, daß die Zweckbezogenheit des Willens, von der bezüglich seiner Vernunftbestimmtheit abstrahiert werden mußte, nicht schon dann angemessen restituiert ist, wenn sie - wie im Fall obiger formaler Zwecke - nach ihrem reinen Vernunftgehalt zum Zuge kommt, sondern allererst dort, wo im Hinblick auf ihre Wiedereinführung auch dem Sachverhalt Rechnung getragen wird, daß das moralische Wollen endlicher Vernunftwesen immer auch Neigungsaffiziertheit von seiten der sie betreffenden Zwecke einschließt. Die Frage also, was für einen Zweck aus Pflicht handelnde Wesen verfolgen, darf erst dann als zureichend beantwortet gelten, wenn die bei endlichen Vernunftwesen mit der Zweckrelation notwendig einhergehende wenn auch nicht willensbestimmende - Wirkung der vorgestellten Gegenstände auf das sinnliche Begehrungsvermögen als strukturelles Moment in den Begriff eines möglichen moralischen Zwecks positiv aufgenommen ist. Letzteres ist im Falle der Zweckformel und des Begriffs eines Zweckes, der zugleich Pflicht ist, offenkundig nicht der Fall. Beide Male wird zwar ein objektiv-notwendiger Zweck bzw. ein Zweck an sich selbst formuliert, den die praktische Vernunft a priori in sich trägt, weil sie ihn selbst gesetzt hat. Aber der Bezug dieses Zweckes auf das Neigungspotential wird nur negativ entfal-
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tet, indem er als mit demselben in Widerstreit liegend und als auf dessen Niederschlagung ausgerichtet expliziert wird. 40 Damit gelangen wir zum zweiten Hauptteil der .Kritik der praktischen Vernunft', worin der praktisch-philosophische Gegenstandsbegriff noch einmal eine zentrale Rolle spielt. Er tritt hier jedoch in einer ganz neuen Rolle auf, nämlich als das Konstruktionsprinzip der Idee des höchsten Gutes. Die ,Dialektik' spielt im Hinblick auf das soeben verhandelte Problem der Restitution der Zweckrelation darum eine entscheidende Rolle, weil sie gerade die im moralischen Wollen endlicher Vernunftwesen mitenthaltene Neigungsaffiziertheit ethisch integrieren will bzw. darlegen möchte, daß sich die Neigungsaffiziertheit und die Vernunftbestimmtheit des Willens durchaus in ein positives Verhältnis zueinander setzen lassen. Wenn die .Dialektik' in noch viel stärkerem Maß als die .Analytik' auf die Endlichkeit des Menschen als Vernunftwesen rekurriert, dann bedeutet dies allerdings auch hier keine Inanspruchnahme spezifisch anthropologischer Erkenntnisse. Der Begriff eines endlichen Vernunftwesens bezeichnet in praktischer Hinsicht nur die Klasse aller nicht ausschließlich mit dem oberen Begehrungsvermögen (Vernunft), sondern auch mit dem niederen Begehrungsvermögen (Sinnlichkeit) ausgestatteten Wesen. Mit ihrem neuen praktischen Gegenstandsbegriff, der ebensowohl der Vernünftigkeit wie der Sinnlichkeit endlichen Wollens positiv gerecht zu werden sucht, bewegt sich die Lehre vom höchsten Gut ebenso wie die Freiheitstheorie auf der Ebene der reinen Moralwissenschaft und bedarf zu ihrer Durchführung keiner empirischen Erkenntnisse. Die spezifische Art und Weise, in der die Lehre vom höchsten Gut die Endlichkeit vernünftigen Wollens in ihren Begriff eines praktischen Gegenstandes einbezieht, macht nun zugleich die Grenze jenes Schemas offenbar, mit der die .Analytik' das Verhältnis von oberem und unterem Begehrungsvermögen als Momenten der Willensbestimmung strukturiert hatte, nämlich als einerseits die Form, andererseits die Materie betreffend. Sollte die bloße Gesetzmäßigkeit der Willensbestimmung von aller gegenständlich orientierten Willensbestimmung abgegrenzt werden, dann war die einfache Alternative von Form- oder Materiebestimmtheit durchaus angemessen, um den kategorialen Hiatus zwischen ihnen und das daraus resultierende ethisch gegensätzliche Wollen zu charakterisieren. Wenn es aber darum geht zu beschreiben, wie die praktische Vernunft eines endlichen Vernunftwesens dessen Neigungspotential
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Vgl. MS; AA VI, 380 f.
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nicht nur restringiert, sondern - im Falle bloßer Neigungsaffiziertheit - auch umfaßt, dann erweist sich jenes Form/Materie-Schema als kategorial gänzlich ungeeignet. Eben darum greift KANT hier zu einem anderen logischen Modell. Praktische Vernunft muß gedacht werden als Ursprung und als Totalität alles endlich-vernünftigen, ebenso moralischen wie neigungsaffizierten Wollens. Genau in diesem Doppelsinne sucht die Lehre vom höchsten Gut das allem Praktisch-Bedingten zugrunde liegende Praktisch-Unbedingte begrifflich zu bestimmen.41 KANT bedient sich dabei des Begriffs des Unbedingten, wie er ihn bereits in der .transzendentalen Dialektik' der .Kritik der reinen Vernunft' entfaltet hatte. Dieser war dort entwickelt worden am Leitfaden der formalen Logik, nämlich der Struktur des kategorischen Vernunftschlusses: Die Gültigkeit einer conclusio ist abhängig von der Gültigkeit des Obersatzes, welcher die Regel enthält, unter die der Untersatz subsumiert wird. Die in dem Obersatz enthaltene Bedingung bildet ihrerseits die Einschränkung, unter der die Allgemeinheit des in ihm gesetzten Prädikates steht. Der Gedanke des Unbedingten (zunächst noch im rein logischen Sinne) entsteht durch die regressive Iterierung des Schlußverfahrens, bis man - jedenfalls im Gedankenexperiment - zu einer logischen Bedingung kommt, für die sich keine weitere Bedingung angeben läßt. Überträgt man dieses Modell auf den Bereich der Metaphysik so erhält man die Vernunftidee des Unbedingten. Auf KANTS erkenntnistheoretische Problematisierung dieser Operation kann im vorliegenden Zusammenhang nicht eingegangen werden.42 Entscheidend für die Lehre vom Höchsten Gut ist hier nur folgendes: Jene Vernunftidee hat grundsätzlich einen zwiefachen Sinn: Das Unbedingte läßt sich einerseits verstehen als das letzte Bedingende, welches seinerseits keine Bedingung vorausliegen hat, und es kann andererseits aufgefaßt werden als die Totalität der Reihe aller Bedingungsverhältnisse. Beide Bedeutungskomponenten des Begriffs des Unbedingten hängen notwendigerweise miteinander zusammen: Das Letztbegründende ist nichts anderes als diejenige Bedingung, welche die in ihr implizierte unendliche Konsequenzenmenge ermöglicht, und die unendliche Reihe aller Bedingungsverhältnisse ist umgekehrt nur die entfaltete Darstellung der Begründungsfunktion jenes Grundes. Die Letztheit des Letztbegründenden und die Totalität des 41 42
Vgl. KpV 194. Vgl. dazu ULRICH BARTH, Religion oder Gott? Die religionstheoretische Bedeutung von Kants Destruktion der spekulativen Theologie, in: U . B A R T H / W . GRÄB (Hrsg.), Gott im Selbstbewußtsein der Moderne, Gütersloh 1993, 11-34.
KANTS Begriff eines Gegenstandes der praktischen Vernunft
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Letztbegründeten implizieren sich wechselseitig. Wo KANT im Hinblick auf die Metaphysik vom Gedanken des Unbedingten Gebrauch macht, ist immer diese Bedeutungsalternative zu berücksichtigen. Den Doppelaspekt der Idee des Unbedingten, nämlich ebensowohl die Letztheit des Ursprungs wie die Totalität des von ihm Begründeten zu bezeichnen, bringt KANT auch in der Exposition des praktisch-philosophischen Gegenstandsbegriffs in der .Dialektik' der .Kritik der praktischen Vernunft' zur Anwendung. Das im Begriff des summum bonum enthaltene Merkmal summum - und damit zugleich das Verhältnis des Praktisch-Unbedingten zum Praktisch-Bedingten - kann nach zwei verschiedenen kategorialen Hinsichten betrachtet werden: Nach dem Schema Grund/Folge muß es als supremumoriginarium, das Praktisch-Unbedingte als letztbegründender Ursprung verstanden werden; nach dem Schema Ganzes/Teil ist es als consummatum-perfectissimum, das Praktisch-Unbedingte als ein solches Ganzes aufzufassen, welches nicht Teil eines noch größeren Ganzen ist, bzw. als Totalität.43 In diese metaphysische Struktur des Praktisch-Unbedingten werden von KANT nun die eigentlich praktisch-philosophischen Bestimmungen eingezeichnet. Das Praktisch-Unbedingte im Sinne des Letztbegründenden ist die Tugend, sofern alles moralische Wollen, auch das neigungsaffizierte, in ihr seinen Ursprung hat. Das Praktisch-Unbedingte im Sinne der Totalität des Bedingten ist die der Tugend proportionierte Glückseligkeit, sofern sie den Gesamtzustand der Zufriedenheit mit sich darstellt, der aus der Befriedigung all der Neigungen erwächst, die einem Handeln aus Pflicht nicht widerstreiten. Weil das Verständnis der Tugend als letztem Ursprung und die Idee der tugendproportionierten Glückseligkeit als Totalität und darüber hinaus das Verhältnis beider zueinander den Gedanken des Unbedingten voraussetzen und nur auf seiner Basis möglich sind, eben darum gehört der jene Momente zusammenfassende Begriff des höchsten Gutes in den systematischen Bereich der .Dialektik der reinen praktischen Vernunft' als den die Handlungssphäre betreffenden Teil der Logik des Unbedingten. Die Lehre vom höchsten Gut interpretiert den Begriff des Gegenstands der praktischen Vernunft sonach als das Objekt alles neigungsaflfizierten Wollens, welches der Tugendgesinnung selbst entspringt und damit zugleich glückswürdig macht. Auf das Verhältnis von kategorischem Imperativ und Zweckrelation des Willens bezogen besagt dies, daß alle Maximen, welche jenem nicht widerstreiten, nun auf einen moralischen Endzweck ausgerichtet
43
Vgl. KpV 198.
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sind, den zu verfolgen die Pflicht gebietet - letzteres deshalb, weil diese die Ausbildung der Tugendgesinnung vorschreibt, worin die Verpflichtung auf jenes Objekt enthalten ist. Dieser unterschiedlichen Exposition des Begriffs des Gegenstands der praktischen Vernunft in .Analytik' und .Dialektik' entspricht - wie bereits deutlich wurde - eine Differenz im systematischen Status des Begriffs des Guten. Man darf diese nicht schon durch die sprachlichen Nuancen der alternativen Beschreibung „das Gute" bzw. „das höchste Gut" als hinreichend zum Ausdruck gebracht ansehen. Die .Grundlegung' etwa kann in einer ganz unterminologischen Weise auch den Willen nach seiner inneren absoluten ethischen Qualität als „das höchste Gut" 44 bezeichnen. Rückt man das Verhältnis indes auf eine kategoriale Ebene, dann bezeichnet „das Gute" im Sinne der .Analytik' die ethische Wertigkeit eines ausschließlich durch Vernunft bestimmten Willens, „das Gute" im Sinne der .Dialektik' hingegen den Inbegriff dessen, was endliche Wesen, deren Wille ebensowohl durch das Sittengesetz bestimmt wie durch Neigungen affiziert wird, in der Welt anstreben sollen. Die .Analytik' expliziert den Gegenstand der praktischen Vernunft als unbedingten Wert, die .Dialektik' stellt eine Telosformel für endliche Vernunftwesen auf. Es liegt auf der Hand, daß der Begriff des Guten für KANT nur dann als zureichend expliziert gelten konnte, wenn beide Bedeutungskomponenten gleichermaßen zu ihrem Recht kamen. Bezieht man dieses Ergebnis zurück auf die Behandlung des Gegenstandsbegriffs in der .Analytik' und in der .Tugendlehre', dann wird zugleich die methodische Besonderheit der Lehre vom höchsten Gut deutlich. Die .Analytik' mußte bei der Bestimmung des obersten Grundsatzes der Moralität von aller Zweckrelation abstrahieren, die .Tugendlehre' und die .Dialektik' hingegen bringen sie je auf ihre Weise wieder zur Geltung, erstere so, daß sie den obersten Zweck als formale Norm in Opposition zu allen sinnlichen Motivationsgründen stellt und ihn in dieser Weise zur Pflicht macht, letztere dergestalt, daß sie den obersten Zweck als Totalitätsidee gebietet, welche sämtliche neigungsbezogenen Intentionen mitumfaßt, sofern sie mit dem kategorischen Imperativ verträglich sind. Ahnlich verhält es sich mit der methodischen Differenz in der Exposition des Begriffs des an sich Guten. Die .Analytik' mußte diesbezüglich ganz und gar abstrahieren von der Endlichkeit derjenigen Wesen, deren Vernunft die ethische Güte des Willens aus sich erzeugt, weil sie diesen Gegenstand als
44 GMS; AAIV, 396.401.
KANTS
Begriff eines Gegenstandes der praktischen Vernunft
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ausschließliches Produkt der reinen Vernunft zu erweisen suchte. Die .Dialektik' hingegen steht vor der Aufgabe, jener Endlichkeit positiv Rechnung zu tragen, weil es ihr um die Möglichkeit eines Guten „in der Welt" 45 zu tun ist, d. h. um einen solchen Gegenstand, auf den vernünftige, aber zugleich neigungsaflfizierte Wesen ihre Absicht richten können. 46 Hinsichtlich beider Aspekte besteht die methodische Besonderheit der .Dialektik' demnach darin, daß sie eben diejenigen Abstraktionsreste wieder zur Geltung bringt, welche die ,Analytik' infolge ihrer besonderen Fragestellung aus einsichtigen Gründen hinterlassen mußte. Die alternative Fassung des praktisch-philosophischen Gegenstandsbegriffs bietet die Möglichkeit und gebietet die Notwendigkeit sowohl des Vollzugs jener Abstraktion als auch der Reintegration der dabei anfallenden Abstraktionsreste. 47 Das Problem der Moralbegründung, sofern man darunter die Aufstellung und Rechtfertigung eines obersten Prinzips der Willensbestimmung versteht, war für KANT in der Tat mit der .Analytik' abgeschlossen. Aber KANT wußte sehr wohl, daß damit die Prinzipienfragen der Ethik noch keineswegs erschöpfend gelöst sind. Zu einer wahrhaften Grundlegung der praktischen Philosophie gehörte für ihn auch die Beantwortung der Frage, unter welchen Voraussetzungen jenes oberste Prinzip von Vernunftwesen realisiert werden kann, die endlich sind und von denen man erwarten darf, daß sie sich ihrer Endlichkeit auch bewußt werden. Indem sie vordringlich dieses Thema behandelt und das höchste Gut, den „Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endli-
45 46
KpV 225. „Während die Analytik in der Lehre vom sitüich Guten zeigte, daß das sittlich Gute der einzige Gegenstand der reinen praktischen Vernunft ist, abstrahiert die Dialektik von den verschiedenen Zwecken des Willens nicht, sondern sie definiert die Bedingung, unter der sie alle in einem einzigen System verbunden sein können und müssen"
47
„Bei der Frage vom Princip der Moral kann ... die Lehre vom höchsten Gut, als letzten Zweck eines durch sie bestimmten und ihren Gesetzen angemessenen Willens, (als episodisch) ganz übergangen und beiseite gesetzt werden" (AA VIII, 280). „Das Bedürfniß, ein höchstes ... Gut ... anzunehmen, ist nicht ein Bedürfniß aus Mangel an moralischen Triebfedern, sondern an äußeren Verhältnissen, in denen allein diesen Triebfedern gemäß ein Object als Zweck an sich selbst ... hervorgebracht werden kann. Denn ohne allen Zweck kann kein Wille sein; obgleich man, wenn es bloß auf gesetzliche Nöthigung der Handlungen ankommt, von ihm abstrahieren muß und das Gesetz allein den Bestimmungsgrund desselben ausmacht". Die Grundfrage der .Dialektik' resultiert also aus dem „Bedürfniß des sich noch über die Beobachtung der formalen Gesetze zu Hervorbringung eines Objects (das höchste Gut) erweiternden uneigennützigen Willens" (AA VIII, 279 f. Α.).
(BECK [ A n m . 1 2 ] , 2 2 5 ) .
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cher Wesen" 48 , als den Sinnhorizont und das Worum-willen moralischer Praxis entfaltet, bildet die .Dialektik der reinen praktischen Vernunft' ein integrales Moment der KANTischen Ethik. Den Begriff des Gegenstandes der praktischen Vernunft wird man aber als die eigentliche systematische Klammer zwischen der .Analytik' und der .Dialektik' der zweiten .Kritik' zu verstehen haben. Sowohl der Unterschied des Beweiszieles und des Argumentationsgefálles als auch die sachliche Zusammengehörigkeit beider Lehrstücke läßt sich vermutlich aus keinem anderen Gesichtspunkt so leicht verständlich machen als unter der Perspektive dieses Begriffs.
II.
„Auf solche Weise führt das moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts, als das Objekt und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft, zur Religion"49.
Die Funktion der Religion läßt sich nach KANT nur dann angemessen bestimmen, wenn man sie aus derjenigen Theorieperspektive versteht, die die .Dialektik' als ganze repräsentiert, nämlich aus dem Problemhorizont der Realisierung moralischer Autonomie durch endliche Vernunftwesen. Religion fällt somit in den Bereich der „Ausübung des moralischen Gesetzes" 50 , in die Sphäre des „durch unseren Willen wirklich zu machenden" 51 praktischen Gegenstands, der „Gelangung zum höchsten Gute" 52 und von „dessen Hervorbringung" 53 . Damit wird nun auch die eingangs erwähnte Spannung in KANTS Religionsverständnis gedanklich nachvollziehbar. Religion hat für KANT deshalb mit Moralbegründung nichts zu tun, weil sie nicht die Konstitution 54 , sondern die
48 49 50 51 52 53 54
KpV 198. KpV 23 3. KpV 248. KpV 204. KpV 232. KpV 214. Zu diesem Urteil gelangt auch ALEXANDER KEYSERUNGK, Die Aneignung der Moral als das Thema der Religionsphilosophie Kants, NZSTh34 (1992), 17-29. KEYSERUNGK trifft aber nicht ganz die systematische Pointe KANTS, wenn er den Gedanken der Aneignung des Sittengesetzes als entscheidenden Gesichtspunkt weitet.
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Realisierung der Freiheit betrifft. 55 Von hier aus wird zugleich verständlich, warum KANT die Religionsphilosophie dann - vor allem vermittelst des „Reich Gottes"-Begriffs - in ein enges Verhältnis zur Geschichtsphilosophie rücken konnte. 56 Aber nicht erst dort, sondern bereits innerhalb der Ethik bildet die Vollzugsmöglichkeit vernünftiger Praxis den alleinigen Kontext eines legitimen religiösen Interesses. „Die Ideen von Gott und Unsterblichkeit sind ... nicht Bedingungen des moralischen Gesetzes, sondern nur Bedingungen des notwendigen Objekts eines durch dieses Gesetz bestimmten Willens"57.
Als Ermöglichungsbedingung nicht der Konstitution, sondern der Realisierung autonomer Moral erfüllt Religion für KANT allerdings eine schlechterdings unentbehrliche Rolle. Der nachkantische transzendentale Idealismus hat die Stellung der Religion im Aufbau des Geistes dann bekanntlich ungleich höher eingestuft. Dennoch wird man selbst daran gemessen KANTS Funktionsbestimmung der Religion nicht vorschnell unterschätzen dürfen, jedenfalls dann nicht, wenn man das erhöhte Gewicht der .Dialektik' im Lichte der Gegenstandsproblematik gebührend in Rechnung stellt. Die in der .Dialektik der reinen praktischen Vernunft' entfaltete Lehre vom höchsten Gut war für KANT keineswegs eine Verlegenheitslösung, etwa um die Theorie der Religion im kritizistischen System noch irgendwie unterbringen zu können, sondern entsprang dem immanenten Gefalle einer Theorie der Freiheit, welche das Problem ihrer Realisierung nicht einfach überspringen konnte. Aus demselben Grunde thematisiert nun die Postulatenlehre die Realisierungsbedingungen aus der Perspektive ei-
55
56
57
Zu demselben Ergebnis gelangt auf ganz anderem Wege - nämlich vermittelst einer Gegenüberstellung der Freiheit als Idee und als Postulat - auch ALBERT SCHWEITZER, der „die Realisierung der Freiheitsidee" als den für die Religionsphilosphie entscheidenden Gesichtspunkt der KpV ansieht (DERS., Die Religionsphilosophie Kants, Freiburg i.B.-Leipzig-Tübingen 1899, 71-167, vgl. hier 82). Vgl. neuerdings auch MARY-BARBARA ZELDIN: Principles of reason, degrees of judgment, and Kant's argument for the existence of God, The Monist 54 (1970), 285-301; DIES.: The summum bonum, the moral law, and the existence of God, KantSt 62 (1971), 43-54. Vgl. dazu JOSEF BOHATEC, Die Religionsphilosophie Kants in der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", Hamburg 1 9 3 8 , 5 8 3 ff.; ULRICH BARTH, Troeltsch et Kant - A priori religieux et philosophie de l'histoire, in: P . GISEL (Hrsg.), Histoire et theologie chez Emst Troeltsch, Genf 1 9 9 2 , 6 3 - 9 9 ; [erscheint demnächst auch in: Troeltsch-Studien, Bd. 8 , Gütersloh 1 9 9 4 ] , KpV 5 f.
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nes „vernünftigen, aber endlichen Wesen[s]" 58 und damit die religiöse Dimension des Ethischen. Religion betrifft all das, was „als Ergänzung unseres Unvermögens zur Möglichkeit des höchsten Guts" erfordert wird „und nicht in unserer Gewalt ist" 59 . Der Ausgang der Postulatenlehre von der Gegenstandsproblematik der .Dialektik' kommt bereits in der Aufstellung der ihr zugrunde liegenden Antinomie zum Ausdruck, nämlich darin, daß die gesuchte Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit nur nach dem Kausalitätsschema, „als Verknüpfung der Ursache mit der Wirkung", gedacht werden kann, „weil sie ein praktisches Gut, d. i. was durch Handlung möglich ist, betrifft" 60 . Die Grundfrage der Postulatenlehre selber kann dann folgendermaßen zusammengefaßt werden: Welche Voraussetzungen müssen im Hinblick auf die Hervorbringung des höchsten Gutes erfüllt sein, sofern dieses - eben der Endlichkeit seiner Produzenten wegen - zugleich als Vollendung der Tugendgesinnung und als Verbindung von Tugend und ihr proportionierter Glückseligkeit gedacht werden muß. Protestantische Theologen, und zwar gerade solche neuprotestantisch kantianisierender Richtung, haben sich nun schwer getan mit jener Einbeziehung der Glücksthematik in die religionsphilosophische Aufgabenstellung der Postulatenlehre. So wußte sich etwa ERNST TROELTSCH durchaus einig mit WILHELM HERRMANNS Abkehr von „Kants eudämonistisch angehauchtem Postulat der Unsterblichkeit" 61 . Und für EMANUEL HIRSCH gehörte das Postulat der praktischen Realität der Gottesidee geradewegs zu den vulgäraufklärerischen „eudämonistischen Plattheiten" 62 , die KANT erst in der ,Kritik der Urteilskraft' endgültig überwunden habe. 63 Doch läßt sich KANTs Einbeziehung des menschlichen Glücksstrebens in die religionsphilosophische Grundlegung einfach als eudaimonistischer Rest abtun? Auch aus ganz anderer Ecke ist KANT widersprochen worden. So hat über jene Kritik noch hinausgehend - GEORGE EDWARD MOORE den von KANT als Syntheseformel konzipierten Begriff „Würdigkeit, glücklich zu sein"
58 59 60 61 62
KpV 221. KpV 215. KpV 204.
63
HIRSCH
ERNST TROELTSCH, EMANUEL HIRSCH,
Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 2 1922, 581. Die idealistische Philosophie und das Christentum, Gütersloh 1926,
203. verweist auf den Schluß von KdU § 87.
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sogar als Fremdkörper einer Philosophie der reinen praktischen Vernunft betrachtet. Für ihn „steht Kants Auffassung, daß Tugend uns glückswürdig macht, in flagrantem Widerspruch zu der von ihm implizierten und mit seinem Namen verknüpften Auffassung, daß ein guter Wille das einzige ist, was Eigenwert hat"64.
Glücksstreben und rationale Gesinnungsethik scheinen sich strikt auszuschließen. Den gerade erwähnten, teils theologisch, teils philosophisch motivierten KANT-Kritikern ist offenbar gemeinsam, daß sie die Art und Weise der Auseinandersetzung mit dem Glückseligkeitsprinzip in der Lehre vom Höchsten Gut am Maßstab seiner extrem negativen Bewertung durch die .Analytik' als Inkonsequenz beurteilen. Dies wird dem systematischen Ort jener und damit dem infrage stehenden Sachproblem jedoch keineswegs gerecht. Was zunächst das Postulat der Unsterblichkeit der Seele anbelangt, so kann von einem eudaimonistischen Hauch desselben nicht entfernt die Rede sein. Eine solche Interpretation verkennt vollständig den systematischen Anknüpfungspunkt der Postulatenlehre als ganzer und speziell dieses Postulats an den Begriff des Gegenstands der praktischen Vernunft, wie er in der .Dialektik' entfaltet wird. Beide Postulate thematisieren ganz verschiedene Aspekte der Bedingung der Möglichkeit der Hervorbringung des höchsten Guts: das Postulat der Unsterblichkeit der Seele betrifft die Herstellung vollendeter Tugendgesinnung, das Postulat des Daseins Gottes betrifft die Erlangung der ihr proportionierten Glückseligkeit. K A N T spricht deshalb gerade im Hinblick auf die Konzeption der Postulatenlehre ausdrücklich von zwei Elementen des höchsten Guts, Sittlichkeit und Glückseligkeit, und entwickelt das Unsterblichkeitspostulat unter ausschließlicher Zugrundelegung des ersten Elements, des „vornehmsten Teils" 65 , während das Postulat des Daseins Gottes auf das zweite Element bezogen ist, welches seinerseits allerdings das erste Element als Kriterium der Glückswürdigkeit enthält. Und so nimmt es kaum Wunder, daß in der begrifflichen Entfaltung des Unsterblichkeitspostulats das Glückseligkeitsmotiv nirgends erwähnt wird. Ein Rückgriff darauf mußte sich schon deshalb verbieten, weil die Zuhilfenahme irgendwelcher eudaimonistischer Nebengedanken zur Begründung der systematischen Funktion dieses Postulats gar nichts hätte beitragen können.
64
GEORGE EDWARD MOORE, Principia E t h i c a , Stuttgart 1 9 7 0 , 2 4 4 .
65
KpV 223.
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Die Ableitung des ersten Postulats setzt ein bei einer Schwierigkeit der Realisierung der Tugendgesinnung, die aus der Endlichkeit der zu ihrer Hervorbringung verpflichteten Vernunftwesen resultiert. Diejenige Tugendgesinnung, die rein von Seiten des Sittengesetzes - das ja die Bewirkung des Höchsten Guts gebietet und dessen alleiniges moralisches Kriterium bleibt geboten ist, ist vollständige Angemessenheit an das Sittengesetz. Zu einer solchen Angemessenheit sind jedoch endliche Vernunftwesen, deren Willen notwendigerweise durch Neigungen affiziert - wenn auch nicht bestimmt - wird, nicht in der Lage. Das hier zutage tretende Problem knüpft ganz offenkundig an die in der .Analytik' verhandelte Differenz zwischen einem heiligen und einem endlich guten Willen an. 66 Der in der Forderung eines dem moralischen Gesetz angemessenen endlichen Willens enthaltene Widerspruch, einerseits völlige Entsprechung grundsätzlich nicht erreichen zu können, andererseits aber dazu verpflichtet zu sein, weil andernfalls der Heiligkeit des moralischen Gesetzes Abbruch geschähe, wird dadurch aufgelöst, daß beide Momente im Gedanken eines unendlichen Annäherungsprozesses miteinander verbunden werden. Die ,.Heiligkeit des Willens ist ... eine praktische Idee, welche notwendig zum Urbilde dienen muß, welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht, und welche das reine Sittengesetz, das darum selbst heilig heißt, ihnen beständig und richtig vor Augen hält, von welchem ins Unendliche gehenden Progressus seiner Maximen und Unwandelbarkeit derselben zum beständigen Fortschreiten sicher zu sein: d. i. Tugend, das Höchste ist, was endliche praktische Vernunft bewirken kann"67.
Insoweit ruht der Ansatz des zu entfaltenden Postulats also noch ganz auf dem Tugendbegriff der .Analytik' auf. Der Überschritt in den thematischen Horizont der .Dialektik' ist nun damit gegeben, daß nach den Ermöglichungsbedingungen jenes unendlichen moralischen Progressus gefragt wird. Er ist fur K A N T nur denkbar unter der Voraussetzung einer unendlichen Fortdauer desjenigen moralischen Subjekts, welches diese Steigerung der Tugendgesinnung zu erwirken hat. Durch diesen Gedanken erfährt zugleich der Begriff des höchsten Guts eine nicht unwesentliche Präzisierung. Seine Hervorbringung erfolgt in einem unendlichen Kontinuum moralischen Strebens, so daß bereits die „praktische Fortschreitung"
66
Vgl. dazu auch L. W. BECKS Rekonstruktion des Gedankengangs (DERS. [ANM. 12],
67
KpV 58.
248).
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selber zu einem ,,reale[n] Objekt unseres Willens" 68 wird. Die so als notwendige Bedingung des unendlichen ethischen Wachstumsprozesses postulierte unendliche Fortdauer hat nichts zu tun mit dem Jenseitsobjektivismus des Unsterblichkeitstheorems der rationalen Psychologie, das KANT selber der schärfsten Kritik unterzogen hat. 69 Das praktisch-philosophisch exponierte Postulat der Unsterblichkeit der Seele verläßt an keiner Stelle die epistemische Perspektive der Selbstdeutung des moralischen Bewußtseins hinsichtlich der immanenten Voraussetzungen seiner eigenen Möglichkeit. Die Fortdauer wiederum ist nicht das zeitinvariante Beharren eines sich gleichbleibenden Wesens, sondern der unendliche Prozeß seiner ethischen Vervollkommnung. Das Postulat der Unsterblichkeit der Seele formuliert somit nichts anderes als die dem religiösen Bewußtsein sich nahelegende Antwort auf die dem Freiheitsbewußtsein sich aufdrängende Frage nach den Ermöglichungsbedingungen eigener ethischer Perfektibilität. Das sittliche Bewußtsein würde sich selbst mißverstehen - und damit letztlich zerstören - , wenn es sein reales Streben nach dem moralischen Endzweck als durch die ethische Zufälligkeit des physischen Todes begrenzt und relativiert ansehen müßte. Insofern entspringt der praktische Glaube an die unendliche Fortdauer der Seele der Selbstvergewisserung ethischer Unbedingtheitsgewißheit angesichts der Erfahrung von Endlichkeit. Mit dem eudaimonistischen Vergeltungsmotiv eines vulgären Jenseitsglaubens hat KANTS Unsterblichkeitspostulat nicht das Geringste zu tun. 70 Anders liegen die Verhältnisse allerdings im Falle des Postulats der Existenz Gottes. Hier spielt in der Tat die Glücksthematik eine entscheidende Rolle. Dies wird bereits in der ,Kritischen Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft' deutlich. Die Einführung eines „intelligibelen Urhebers der Natur" erfolgt, um der zum noumenalen Bereich gehörenden moralischen Gesinnung durch die Vermittlung eben dieser Instanz einen mittelbaren, bezüglich ihrer Ursachenfunktion gleichwohl notwendigen Zusammenhang mit der „Glückseligkeit als Wirkung in der Sinnenwelt" 71 zu verschaffen. Vollends ersichtlich wird die systematische Funktion des Glücksgedankens in der eigentlichen Entfaltung dieses Postulats. Es betrifft unmittelbar
68 69 70
71
KpV 220. Vgl. dazu das Paralogismenkapitel der KdrV. Um diesen Gegensatz auch terminologisch zu markieren, hat KANT die moralische Glückseligkeit als „das Bewußtsein seines Fortschrittes im Guten" (Ri 100 Α.; vgl. auch Ri 86 f.) von der physischen Glückseligkeit strikt unterschieden. KpV 207.
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nicht wie das Postulat der Unsterblichkeit der Seele den Prozeß des moralischen Strebens, sondern das dadurch hervorzubringende Objekt, das neben der Sittlichkeit auch die ihr proportionierte Glückseligkeit umfassen soll. Der Begründung seiner Möglichkeit sind die Ausführungen gewidmet, die K A N T im 2. Absatz des 5. Abschnittes darlegt. Im Hinblick auf die Beurteilung des Eudaimonismuseinwandes empfiehlt es sich, die logische Struktur des Argumentationsgangs herauszupräparieren.72 Bei der infrage stehenden „Deduktion" 73 handelt es sich der Form nach um einen der für K A N T typischen Kettenschlüsse, zum Teil mit vertauschten Prämissen. Der Maior des ersten Teilschlusses74 besagt: Glückseligkeit als ununterbrochene Annehmlichkeit des ganzen Daseins eines endlichen Vernunftwesens beruht auf der Übereinstimmung seines Gesamtzwecks mit dem Gesamtverlauf der Natur, worin es als endliches existiert. Der Minor des ersten Teilschlusses75 besagt: Zwei Weisen der Übereinstimmung sind ausgeschlossen, nämlich entweder, daß das Sittengesetz und der durch ihn gebotene moralische Endzweck sich nach der Naturkausalität und dem durch sie bestimmten Naturverlauf richten, oder daß umgekehrt dieser sich nach der Willenskausalität eines einzelnen Handlungssubjekt richtet. Aus beiden Prämissen folgert die erste Conclusio76: Es klafft eine Lücke in der als Ermöglichungsgrund von Glückseligkeit geforderten Übereinstimmung. An diesen ersten Teilschluß schließt sich nun ein zweiter an. Es wird eine neue Prämisse eingeführt, die als dessen Maior fungiert 77 : Indem das Sittengesetz die Hervorbringung eines höchsten Gutes in der Welt gebietet, postuliert es als Voraussetzung der darin enthaltenen Verbindung von Sittlichkeit und ihr proportionierter Glückseligkeit die durchgängige Übereinstimmung von Naturverlauf und moralischem Endzweck. Den Minor des zweiten Teilschlusses bildet die umgeformte Conclusio des ersten: Das Sittengesetz ist keine mögliche Ursache der Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit.
72
73 74 75 76 77
(Anm. 1 2 ) , 2 5 2 , zerlegt den Gedankengang unter inhaltlichem Gesichtspunkt in sieben Schritte, die sachlich zwar zu einem ähnlichen Ergebnis fuhren wie die folgenden Ausführungen, K A N T S Art der Beweisführung aber nur ungenau wiedergeben. KpV 227. KpV 224: „Glückseligkeit ist ... seines Willens". KpV 224: „Nun gebietet... der Natur selbst". KpV 224 f. : „Also ist... machen kann". KpV 225: „Gleichwohl wird ... befördern suchen". LEWIS WHITE BECK
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Die Conclusio des zweiten Teilschlusses78 lautet: Der postulierte Zusammenhang muß in einer anderen Ursache begründet sein. Die positiv umformulierte Fassung dieser zweiten Conclusio dient wiederum als Maior des dritten Teilschlusses: Nur die Ursache des gesamten Naturverlaufs kann die postulierte Ursache der Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit sein. Als Minor des dritten Teilschlusses7^ wird eine weitere Prämisse eingeführt: Die Vermittlungsleistung der postulierten Ursache kann, wenn der Maßstab der von ihr bewirkten Einstimmigkeit tatsächlich Sittlichkeit sein soll, sich nicht auf die Synthese von Naturverlauf und Legalität beschränken, sondern muß auch die Synthese von Naturverlauf und Moralität beinhalten. Als dritte Conclusio80 ergibt sich daraus: Die Ursache der Übereinstimmung von Naturverlauf und moralischem Endzweck bzw. der Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit muß über eine der Moralität gemäße Kausalität verfugen. Der vierte Teilschluß schließlich setzt mit einer neuen Prämisse als Μα/or 81 ein: Die Fähigkeit, Handlungen nach der Vorstellung von Gesetzen hervorzubringen, erfordert Verstand und Willen. Als Minor des vierten Teilschlusses fungiert die umgeformte Conclusio des dritten: Die der Moralität gemäße Kausalität jener postulierten Ursache muß als nach moralischer Gesinnung verfahrende Kausalität bzw. als Kausalität nach der Vorstellung von Gesetzen gedacht werden. Als vierte Conclusio82 und damit als Ergebnis des gesamten viergliedrigen Kettenschlusses ergibt sich sonach: Die postulierte oberste Ursache der Übereinstimmung von Naturverlauf und moralischem Endweck bzw. der Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit besitzt Verstand und Willen. Abschließend wird - ähnlich den quinqué viae des thomistischen Gottesbeweises83 - durch einen rein definitorischen Akt 84 , der selber nicht mehr zum eigentlichen Schlußverfahren gehört, die als von solcher Beschaffenheit postulierte Instanz mit derjenigen Größe identifiziert, die man herkömmlicherweise als „Gott" bezeichnet.
78
KpV 225: „Also wird ... enthalte, postuliert".
79
KpV 225: „Diese oberste ... Gesinnung enthalten".
80
KpV 225: „Also ist das ... Kausalität hat".
81
KpV 225: „Nun ist ... Wille desselben".
82
KpV 225 f. : „Also ist die ... Natur ist".
83
V g l . THOMAS VON AQUIN, S u m m a T h e o l o g i a e I, q. 2 , a. 3.
84
KpV 226 „d. i. Gott".
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Die beiden letzten Sätze des Absatzes 85 sind gleichfalls nicht mehr Bestandteil des Schlusses, sondern bilden einen Kommentar zum Notwendigkeitsstatus des in ihm entwickelten Postulats. KANT „beweist" nicht eigentlich die Existenz Gottes, sondern expliziert deren Annahme als eine immanente Setzung des sich realisierenden praktischen Selbstbewußtseins, das um der geforderten Hervorbringung des höchsten Guts willen sich dessen Ermöglichungsbedingungen, soweit sie die eigene Handlungskompetenz überschreiten, vergewissert. Deshalb ist die in der KANT-Literatur immer wieder begegnende Rede von einem moralischen Gottesbeweis bei KANT höchst irreführend. 8 6 Sofern man unter einem Beweis die Ableitung eines Satzes aus wahren Prämissen versteht, befindet man sich in der Sphäre der theoretischen Vernunft. Ein praktisches Postulat hingegen besitzt kein theoretisches Urteilsfundament, sondern folgert aus der Gewißheit einer praktischen Regel (das Gebot der Hervorbringung des höchsten Gutes in der Welt) die Denkbarkeit eines Gegenstandes (die Möglichkeit dieses höchsten Guts) 8 7 und aus der unbedingten Verbindlichkeit jener Regel die subjektive Notwendigkeit des Vorhandenseins seiner hinreichenden Ursache (die Existenz des höchsten ursprünglichen Guts). Insofern handelt es sich bei der ethisch motivierten Überzeugung vom Dasein Gottes - wie auch im Fall des Unsterblichkeitspostulats - zwar um „einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz" 88 . Hält man sich diesen für KANTS Religionstheorie grundlegenden Gedankengang vor Augen, dann wird zunächst auf eine überraschend einfache Weise verständlich, worin für KANT die Möglichkeit der religiösen Auffassung des Sittengesetzes und damit die ethische Möglichkeit von Religion überhaupt begründet ist. Nach dem dritten und vierten Teilschluß muß die Ursache der Übereinstimmung von Naturverlauf und moralischem Endzweck als eine moralischer Gesinnung gemäße Ursache und d. h. als in Übereinstimmung mit der ihr selbst eigenen Vorstellung des Sittengesetzes wirkende gedacht werden. Eben darum können die Verordnungen jener Instanz nicht als willkürliche, statutarische Satzungen gedacht werden. Die religiöse Interpretation des Sittengesetzes ist für einen nach dem höchsten Gut strebenden endlichen Willen
85 86 87
88
KpV 226 „Folglich ist... Gottes anzunehmen". KANT selber hat freilich diesem Mißverständnis Vorschub geleistet; vgl. die Überschrift von KdU § 87. Darin unterscheidet es sich vom mathematischen Postulat, welches aus der vorausgesetzten Möglichkeit eines Gegenstandes den Regelcharakter seiner Konstruktion folgert. KpV 220.
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zugleich aber auch notwendig, sofern die darin enthaltene Überzeugung von einer die Übereinstimmung von Naturverlauf und moralischem Endzweck bewirkenden Instanz deren Autorität nicht auf lediglich eine der von ihr in Übereinstimmung zu bringenden Seiten (Urheber des Naturverlaufs) beschränken kann. Aus beidem zusammen ergibt sich: Religion ist ihrem praktischen Vernunftbegriff zufolge „Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote" bzw. „als Gebote des höchsten Wesens" 89 . Die Gewißheit des praktischen Selbstbewußtseins, nur vermöge eines göttlichen Urhebers der Zusammenstimmung von Natur und Sittlichkeit an der Hervorbringung des höchsten Guts mitwirken zu können, impliziert die religiöse Überzeugung von der Existenz eines dem Sittengesetz konformen göttlichen Gesetzgebers ebenso wie die religiöse Interpretation des durch ihn verbürgten und durch eigene moralische Praxis zu befördernden höchsten Guts in der Welt „als eines Reichs Gottes" 90 . Die Herkunft dieses religiösen Bewußtseins aus der Perspektive der Selbstdeutung moralischer Praxis zeigt sich neben dem Postulatenbegriff vielleicht nirgends stärker als in der - durch die letzten Zitate belegten - Verwendung der fiir Kants Definition des ReligionsbegrifFs konstitutiven Reflexionspartikel „als" 91 . Religion ist für KANT die Selbstdeutung sich realisierender Freiheit nach deren theoretisch transzendenten, praktisch jedoch immanenten Ermöglichungsbedingungen. 92 Das menschliche Handeln würde sich selbst mißverstehen, wollte es seine formale Autonomie gegen den göttlichen Ermöglichungsgrund ihrer Realisierung ausspielen. Das entscheidende Argument, warum Moral „unausbleiblich" zur Religion fuhrt, liegt in der Tat darin, daß „das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit, glücklich zu sein, zu bewirken"93.
Kann man darum aber dieses religionsphilosophische Konzept einfach als eudaimonistisch abtun? Die logische Struktur des Postulats des Daseins Gottes dürfte ein Licht auf die Beurteilung des Einwands werfen. Der Aufbau der Deduktion macht deutlich, daß sich die Einfuhrung des Glücksgedankens nicht einer vorausgesetzten, spezifisch eudaimonistischen Gottesvorstellung ver89 90 91
92 93
KpV 233. KpV 232. Vgl. auch die oben bei Anm. 5 zitierte Äußerung aus dem ,Opus postumum'. Wie konsequent KANT die Deutungspartikel „als" gehandhabt hat, wird auch an seiner Definition des Sündenbegriffs sichtbar (vgl. Ri 44. 95). Vgl. KpV 244. Ri XIII Α.
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dankt, sondern dem Umstand, daß KANT gleichsam selbstverständlich von einem zugrunde liegenden Glücksbedürfnis des Menschen ausgeht (Maior des ersten Teilschlusses) und dessen Integration in das höchste Gut als durch das Sittengesetz selbst geboten erachtet (Maior des zweiten Teilschlusses). Der Rekurs auf eine Naturverlauf und moralische Weltordnung einstimmig machende und nur auf solche Weise die Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit verbürgende göttliche Instanz erfolgt allein deshalb, weil weder die Naturordnung, noch die individuelle Handlungskompetenz, noch das Sittengesetz selber jene Verbindung gewährleisten können und insofern eine Lücke in der Hervorbringung des Gegenstands der praktischen Vernunft hinterlassen (Conclusio des ersten und zweiten Teilschlusses). Wenn man im Hinblick auf KANTS Lehre vom höchsten Gut überhaupt von eudaimonistischen Komponenten reden will, dann erweist sich jedenfalls der religiöse Eudaimonismus eindeutig als eine Funktion des ethischen Eudaimonismus. Es stellt sich nur die Frage, ob damit der Rahmen der KANTischen Ethik tatsächlich gesprengt wird. KANT bezeichnet mit dem Terminus „Würdigkeit, glücklich zu sein" diejenige Struktur, welche die beiden im höchsten Gut enthaltenen Momente, Tugend und Glückseligkeit, aufeinander beziehbar macht. Auf den ersten Blick scheint dieser Begriff eine contradictio in adjecto darzustellen. Denn Tugend resultiert aus dem Bewußtsein der Pflicht und gründet auf einem formalen Bestimmungsgrund des Willens; Glückseligkeit hingegen entspringt dem Prinzip der Selbstliebe und setzt die materiale Beziehung des Begehrungsvermögens auf Objekte voraus. So ist nicht ohne weiteres ersichtlich, worin die Beziehungsebene beider Größen bestehen sollte. Ihre Zuordnung in jenem Begriff und dieser selbst muten darum zunächst wie ein ad Äoc-Einfall an. Bei näherem Hinsehen ergibt sich jedoch ein ganz anderes Bild. Die Formel „Würdigkeit, glücklich zu sein" hat bei KANT eine lange Vorgeschichte und läßt sich zurückverfolgen bis in die Anfänge seiner praktischen Philosophie.94 Ihre abschließende Konzeption ist das Resultat kontinuierlicher Überlegungen zum Thema Glückseligkeit, die unmittelbar an die kritizistische Wendung der Ethik heranreichen, ja sie zum Teil sogar noch überlagern. Der Einwand, den der frühe und späte KANT gegen eine reine Glücksethik vorbringt, besteht im Kern aus drei Argumenten:
94
Vgl. dazu die einschlägigen Reflexionen KANTS ZU den Stichworten „Glück" und „Würdigkeit, glücklich zu sein", zusammengestellt in: R. BITTNER/K. CRAMER (Hrsg.) (Anm. 27), 54-69.70-73.75. 85.
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1. Von keiner Gegenstandsaffektion kann apriori erkannt werden, ob sie mit Lust oder Unlust verbunden ist. Darum ist bei jeder lustbestimmten Handlung der Bestimmungsgrund des Willens per se empirisch. 95 2. Die Befriedigung einer Mannigfaltigkeit von Neigungen birgt in sich selbst einen Antagonismus, sofern die Befriedigung einiger derjenigen anderer notwendigerweise „großen Abbruch tut" 9 6 . 3. Die Idee der Glückseligkeit als die Idee der gleichmäßigen Befriedigung aller Neigungen ist also ebensowenig auf einen apriorischen Grandsatz zu bringen wie in sich selbst konsistent. Genau aus diesen Gründen und nur ihretwegen ist fur KANT eine Glücksethik abzulehnen. KANTS Eudaimonismuskritik, wie er sie dann vor allem in der .Analytik' entfaltet hat, entsprang keinem antieudaimonistischen Affekt, sondern der präzisen Einsicht, daß die Idee der Glückseligkeit rein für sich genommen untauglich ist, ein Grundprinzip der Ethik abzugeben. Analysiert man nun die Lösungsvorschläge, die vor allem der mittlere KANT zur Bewältigung jener Aporien entwickelt hat, dann ist es eine äußerst schwierige Frage, im Einzelnen zu entscheiden, welche von ihnen als in der Spätzeit revidiert, welche als weiterhin unabgegolten einzustufen sind. 97 Darüber allerdings dürfte sich Konsens erzielen lassen, daß die systematische Funktion des Begriffs „Würdigkeit, glücklich zu sein" in der kritizistischen Phase von KANTS Ethik zu einem guten Teil darin besteht, die internen Schwächen des Prinzips Glückseligkeit aufzufangen und so an dessen Stelle zu treten. Bis unmittelbar vor dem Erscheinen der ,Kritik der reinen Vernunft' war jener Begriff jedoch Bestandteil eines Ethikkonzepts, dessen Programm darin bestand, Glückseligkeit unabhängig von den Zufälligkeiten und Schwankungen des Naturverlaufs als Produkt vernünftiger Spontaneität zu erweisen. Moralität war dementsprechend verstanden als das regulative Prinzip der Erzeugung von Glückseligkeit, und Glückswürdigkeit fungierte als Mittel dazu, indem sie die Neigungen einschränkt und dadurch die Kontingenz und Instabilität ihrer Befriedigung minimalisiert. Dieser systematische Rahmen und Hintergrund jener Formel entfällt zu dem Zeitpunkt, wo KANTS Ethik in ihre kritizistische Phase tritt. Den Über-
95 96
Vgl. KpV 39. GMS; ΑΑ IV, 399.
97
Vgl.
d a z u d i e g r u n d s ä t z l i c h e n Ü b e r l e g u n g e n v o n RÜDIGER BITTNER u n d
KONRAD
CRAMER in: DIES. (Hrsg.) (Anm. 27), 9-29, hier 12. Vgl. auch MAXIMILIAN FORSCHNER, Moralität und Glückseligkeit in Kants Reflexionen, ZphF42 (1988), 351-370.
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gang dazu widerspiegelt noch das Kanonkapitel der ,Kritik der reinen Vernunft'. Weil das Moralprinzip nun seine teleologische Dimension vollständig abgelegt hat und stattdessen in seiner reinen Bestimmungsgrundfunktion erkannt ist, muß auch seine regulative Funktion hinsichtlich des Erwerbs von Glückseligkeit entfallen. Nicht entfallen kann hingegen erstens die in der Würdigkeit, glücklich zu sein, enthaltene Restriktionsbedingung hinsichtlich der Sinnlichkeit, zweitens ihre Einheitsstiftung hinsichtlich dessen, was betreffs Erlangung des Glücks in der Kompetenz eines moralischen Subjekts liegt, und drittens ihre Integrationsfunktion hinsichtlich der Gesamtheit der Neigungen, die als dem Sittengesetz nicht widerstreitend sich unter einen moralischen Endzweck subsumieren lassen. Diese drei Funktionen übernimmt der Tugendbegriff, indem er mit der Bestimmung „Würdigkeit, glücklich zu sein" geradewegs identifiziert wird. KANTS Fassung des Tugendgebots wäre an einem entscheidenden Punkt mißverstanden, wollte man es auf das Gebot der Überwindung pflichtwidriger Neigung reduzieren. Ebensosehr bedeutet Tugend, das eigene Wohlergehen nicht allein dem Zufall der Natur zu überlassen, sondern selbst dazu beizutragen - in dem Maße, als es in der Kompetenz eines handelnden Subjektes liegt und mit moralischer Gesinnung verträglich ist. All die genannten Aspekte der Formel „Würdigkeit, glücklich zu sein" zeigen, daß KANT weit davon entfernt war, das menschliche Glücksstreben ethisch zu desavouieren. Die KANTische Ethik geht vielmehr davon aus, daß es der menschlichen Natur wesenseigen ist, mithilfe der Vernunft die Befriedigung von Lebensbedürfnissen zu maximieren. Solche Sorge um die Zufriedenheit des je eigenen Daseins resultiert aus der Naturbestimmtheit des Menschen, nämlich kein selbstgenügsames Wesen zu sein. Das Glücksstreben ist insofern ein unmittelbares Implikat der Bedürftigkeit des Menschen. Indem nun Glückseligkeit in eine Proportion zur Tugend gebracht wird denn das genau ist die Funktion der Bestimmung „Würdigkeit, glücklich zu sein" - wird das natürliche Glücksstreben nicht etwa in toto suspendiert oder verdrängt, sondern lediglich einer übergeordneten Bedingung unterworfen. Diese Bedingung hat restriktive Kraft, sofern das ihr widerstreitetende natürliche Wollen ausgeschieden wird, und sie hat konstruktive Kraft, sofern das ihr nicht widerstreitende natürliche Wollen integriert und einem das Glück befördernden Endzweck eingeordnet wird. Dieser Gedanke einer Proportion zwischen Wohlverhalten und Wohlbefinden bestimmt auch den Begriff des Guten, welcher der Lehre vom Höchsten Gut zugrundeliegt. Im Kanonkapitel der .Kritik der reinen Vernunft', wo
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KANT erstmalig von jenem „Ideal der reinen Vernunft" handelt, fährt er, nachdem er das Unzureichende einer nicht an die Bedingung der Glückswürdigkeit gebundenen Glückseligkeit festgestellt hat, unmittelbar fort: „Sittlichkeit allein ... ist aber auch noch lange nicht das vollständige Gut. Um dieses zu vollenden, muß der, so sich als der Glückseligkeit nicht unwert verhalten hatte, hoffen können, ihrer teilhaftig zu werden"98.
Und entsprechend heißt es dann in der .Dialektik der reinen praktischen Vernunft': „Daß Tugend ... das oberste Gut sei, ist in der Analytik bewiesen worden. Darum ist sie aber noch nicht das ganze und vollendete Gut ...; denn um das zu sein, wird auch Glückseligkeit dazu erfordert"99.
Auch aus KANTS Begriff des Guten im Sinne der .Dialektik' wird man daher nicht allein den restriktiven Bedeutungsaspekt heraushören dürfen, den jener Begriff hinsichtlich der Glücksthematik in der .Analytik' besitzt, sondern auch die positive Bezugnahme in Rechnung stellen müssen. Die Lehre vom höchsten Gut will dem menschlichen Eudaimoniebedürfnis eben dadurch, daß sie es einer moralischen Regel unterwirft, zugleich seine ethische Anerkennung verschaffen. Letzteres wird besonders deutlich in der späten Theorie/Praxis-Abhandlung, und zwar an den Stellen, wo KANT sich mit den Einwänden GARVES auseinandersetzt. Daß KANT gerade in diesen Partien auf jenen Punkt zu sprechen kommt, ist nicht von ungefähr, verkörperte doch GARVE einen popularisierten Aristotelismus, dem insbesondere der Eudaimoniegedanke der peripatetischen Ethik am Herzen lag. Bevor KANT in die kritische Detailwiderlegung geht, faßt er noch einmal das Grundmotiv seines Ansatzes zusammen: „Ich hatte die Moral vorläufig als zur Einleitung für eine Wissenschaft erklärt, die da lehrt, nicht wie wir glücklich, sondern der Glückseligkeit würdig werden sollen. Hiebei hatte ich nicht verabsäumt anzumerken, daß dadurch dem Menschen nicht angesonnen werde, er solle, wenn es auf Pflichtbefolgung ankommt, seinem natürlichen Zwecke, der Glückseligkeit, entsagen; denn das kann er nicht, so wie kein endliches vernünftiges Wesen überhaupt"100. In der Tat hatte es bereits in der .Kritik der praktischen Vernunft' gelautet: „Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens"101.
98 99 100 101
KdrV A 813 / Β 841. KpV 198 f. AA VIII, 278. KpV 45.
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Was besagt dies in systematischer Hinsicht?. Man wird wohl kaum umhin kommen, in der ebenso kritischen wie konstruktiven Integration des Eudaimoniegedankens eine der wesentlichen Pointen der Lehre vom Höchsten Gut zu erblicken. Die .Dialektik der reinen praktischen Vernunft' wäre demzufolge als deijenige systematische Ort anzusprechen, an dem KANT in grundsätzlicher Form die Vermittlung von rationaler Pflichtenethik und Glücksethik geleistet hat, und zwar mit einem Ergebnis, das in der Gesamtbeurteilung die beiden Hauptexponenten ethischer Theoriebildung, KANT und ARISTOTELES, bei aller Differenz der Ausgangspunkte - durchaus näher zusammenrücken läßt, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. 1 0 2 Der systematische Ermöglichungsgrund für jene gedankliche Integrationsleistung der .Dialektik' ist deren spezifische Fassung des praktisch-philosophischen Gegenstandsbegriffs. Weil sie nach ihm als dem „Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen" 1 0 3 fragt, eben darum kann sie auch nicht von der Glücksthematik absehen. Vom Problem des Glücksstrebens zu abstrahieren wäre gleichbedeutend damit, das Problem der Endlichkeit vernünftigen Wollens am entscheidenden Punkt, nämlich bezüglich der Neigungsbetroffenheit des Willens, zu überspringen. Die .Analytik', die mit ihrem Gegenstandsbegriff den absoluten ethischen Wert eines rein vernunftbestimmten Willens herausstellte, mußte den antieudaimonistischen Charakter dieses Unbedingt-Guten scharf betonen. Die .Dialektik' hingegen, die danach fragt, unter welchen Bedingungen das Gute von endlichen Vernunftwesen realisiert werden kann, darf nicht außer Acht lassen, daß jene dabei immer auch vom Gegenstand ihres Wollens sinnlich affiziert und dadurch in ihrem sinnlichen Interesse tangiert werden. Sie faßt den Begriff des Guten darum so, daß er das Glücksstreben aufnimmt und die Erlangung eines tugendkonformen Glücks als das Wahrheitsmoment des Eudaimonieprinzips herauskristallisiert. Diesem Vermittlungsinteresse sind auch die religionstheoretischen Grundüberlegungen verpflichtet. KANTs Religionsphilosophie läßt sich ebensowenig wie die Ethik auf die einfache Alternative eudaimonistisch/antieudaimonistisch bringen. Analog zur Moral hat vielmehr auch die Religion davon auszugehen, daß das Glücksbedürfnis des Menschen seiner Endlichkeit wegen nicht übersprungen werden kann, daß aber in der Erlangung physischen Glücks, selbst wenn man mit einer solchen Möglickeit rechnen würde, der Mensch keineswegs seine Bestimmung als Vernunftwesen erreicht hätte. 102 Zu diesem Ergebnis gelangt auch Jürgen-Eckardt Pleines, Eudaimonia zwischen Kant und Aristoteles, Würzburg 1984. 103 KpV 198.
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„Der Lehrer des Evangeliums hat seinen Jüngern das Reich Gottes auf Erden nur von der herrlichen, seelenerhebenden, moralischen Seite ... gezeigt und sie dahin angewiesen, was sie zu tun hätten ... Was aber die Glückseligkeit betrifft, die den anderen Teil der unvermeidlichen menschlichen Wünsche ausmacht, so sagte er ihnen voraus, daß sie auf diese sich in ihrem Erdenleben keine Rechnung machen möchten. Er bereitete sie vielmehr vor, auf die größten Trübsale und Aufopferungen gefaßt zu sein; doch setzte er (weil eine gänzliche Verzichttuung auf das Physische der Glückseligkeit dem Menschen, solange er existiert, nicht zugemutet werden kann) hinzu: .Seid fröhlich und getrost, es wird euch im Himmel wohl vergolten werden'"104.
Darum muß alle Religion am Maßstab reiner Vernunftmoral gemessen werden, und zugleich bedeutet „der Schritt zur Religion" fur die Moral - vorausgesetzt daß deren Prinzipien in ihrer Reinheit erkannt und sichergestellt sind - , daß sie dadurch in der Tat zur „Gückseligkeitslehre" wird, „weil die Hoffnung dazu nur mit der Religion allererst anhebt" 1 0 5 . Der Glaube an eine Instanz, welche die Koinzidenz von Naturverlauf und moralischer Ordnung verbürgt, bewahrt das moralische Bewußtsein nicht nur davor, angesichts seiner Enttäuschungen durch die reale Welt an seiner moralischen Bestimmung irre zu werden oder gar das Sittengesetz selbst für eine bloße Chimäre zu halten, 1 0 6 sondern läßt - im Verbund mit dem eigenen ethischen Fortschritt und der allseitigen Wechselwirkung aller moralisch handelnden Wesen unter einem Gesamtzweck, worunter jeder Einzelne das Glück des Anderen befördert - die Steigerung individuellen Glücks erwarten, aber niemals so, daß dadurch das Glücksbedürfnis zur Triebfeder des Handelns würde. Die materiale Durchführung der Religionslehre macht eben darum die Vermittlungsformel „Würdigkeit glücklich zu sein" 1 0 7 zum inhaltlichen Kriterium nicht nur für religiöse Hoffnung überhaupt, sondern auch dafür, was göttliche Gerechtigkeit 1 0 8 und seligmachender Glaube 1 0 9 jedenfalls im Horizont eines moralischen Religionsverständnisses zu bedeuten haben. Eine Religion, welche das Glücksbedürfnis des Menschen ausblendet, hätte KANT für übermenschlich gehalten; umgekehrt würde seiner Meinung nach eine Religion, welche die
104 105 106 107 108
Ri 203. KpV 235. Vgl. KdU 427-429. Ri 52 Α. Vgl. Ri 221 A; IMMANUEL KANT, Vorlesungen über die philosophische Religionslehre, hrsg.von K.H.L. PÖLITZ, [Nachdruck der 2. Aufl., Leipzig 1830], Darmstadt 1982, 166 f. 109 Vgl. Ri 168.
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ethische Bestimmung des Menschen verfehlt, noch unterhalb der conditio humana verbleiben. Von KANTS Überlegungen zum religiösen Stellenwert des Glücksgedankens fallt nicht zuletzt auch Licht auf Entwicklungstendenzen innerhalb der neueren Frömmigkeits- und Theologiegeschichte. Davon soll, wenigstens andeutend, zum Schluß die Rede sein. Man hat die Krise des reformatorischen Christentumsverständnisses auch und gerade in seiner neuprotestantisch-liberalen Fassung damit in Zusammenhang gebracht, daß die von ihm vorausgesetzte ethische Grunderfahrung des Menschen in ihrer Funktion als Anknüpfungspunkt von Offenbarung und Glaube zunehmend an Plausibilität eingebüßt habe. 110 Die humane Vermittlung von Religion scheint in der Moderne mehr und mehr über andere Entdeckungs- und Erschließungszusammenhänge individueller oder sozialer Selbstwahrnehmung zu verlaufen als über die traditionell standardisierte Sequenz Gebot-Schuld-Sünde-Vergebung und deren interne Krisenstringenz. So wenig dieses diagnostische Urteil hier bestritten werden soll, läßt sich dennoch fragen, ob der lebensweltliche Plausibilitätsschwund dieses ethischen Anschlußparadigmas weniger mit seiner ethischen Form im allgemeinen, als mit deren spezifischer Fassung zusammenhängt. In diese Richtung würden auch all jene theologischen Optionen weisen, die dem Ethischen durch eine veränderte Gestalt seine klassische Vermittlungsfunktion zu sichern suchen. Im Lichte der KANTischen Religionsphilosophie wird man jedenfalls die Frage zu stellen haben, ob die Krise jenes Anschlußparadigmas möglicherweise auch damit zu tun hat, daß man in seiner vermeintlichen Konsequenz sich berechtigt fühlte, das menschliche Grundthema „Glück" vernachlässigen zu dürfen oder gar ideologisch verdrängen zu sollen. Auf den ethischen Rigoristen KANT wird sich ein derartiger theologischer Rigorismus jedoch kaum berufen können. Nach KANT bildet das menschliche Glücksinteresse ein wesentliches Movens der Frage „Was darf ich hoffen?". Für Religion ist es ebensowohl konstitutiv, auf das sinnliche Bedürfnis nach Glück einzugehen, wie ethisch sublimierend sich an ihm abzuarbeiten. Die Hoffnung auf ein Reich Gottes steht geradezu für die Erwartung einer kritischen Annäherung und spannungsreichen Synthese von moralischem und physischem Glück. Im Ausgang von der Differenz beider und im Ausstand ihrer Konvergenz gelangt zu bezwingendem Ausdruck, daß Religion eine Grundform menschlicher Reflexion auf Endlichkeitserfahrung darstellt. 110
Vgl. dazu 1989.
DIETRICH K O R S C H ,
Glaubensgewißheit und Selbstbewußtsein, Tübingen
Kann eine Minderheitskirche Volkskirche sein? Reflexionen zu ostdeutschen Erfahrungen und Perspektiven Michael Beintker, Münster
I. Die Literatur, die der Ausdruck „Volkskirche" seit Mitte der 60er Jahre hervorgebracht hat, würde mühelos eine Bibliothek füllen. 1 Im Bereich der westdeutschen Gliedkirchen der EKD ist mit seiner Verwendung eine aufschlußreiche Dauerreflexion verknüpft, die ihn intervallweise problematisiert und ihn zugleich mit großer Zähigkeit festhält. 2 Im Bereich des Bundes der Evangeli-
1 2
Die Diskussion bis 1987 wird informativ dokumentiert in VF 32/2 (1987): Volkskirche heute (mit Aufsätzen von G . RAU, M . HERBST, K . H . BIERITZ U. H . PRZYBYLSKI). Vgl. hierzu insbesondere: H.-D. WENDLAND, Die Krisis der Volkskirche - Zerfall oder Gestaltwandel? Opladen 1971; TH. STROHM, Hat die Volkskirche eine Zukunft? Einige thetische Überlegungen, ThPr 9 (1974), 253-265; J. MOLTMANN, Offene Kirche durch Doppelstrategie? Die Krise der Volkskirche als Chance der Gemeinde, EK 9 (1976), 82-85; M. SEITZ, Erneuerung der Gemeinde. Gemeindeaufbau und Spiritualität, Göttingen 1985; M. HERBST, Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche, Stuttgart 1987. - Repräsentativ für das Beharrungsvermögen des Verständnisses der Kirche als „Volkskirche" sind die EKD-Umfragen zur Kirchenmitgliedschaft: vgl. H. HILD (Hg.), Wie stabil ist die Kirche? Bestand und Erneuerung. Ergebnisse einer Meinungsumfrage, Gelnhausen/Berlin 1974; J. HANSELMANN, Η. HILD, E. LOHSE (Hgg.), Was wird aus der Kirche? Ergebnisse der zweiten EKD-Umfrage über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 1984; Studien- und Planungsgruppe der EKD, Fremde Heimat Kirche. Ansichten ihrer Mitglieder. Erste Ergebnisse der dritten EKD-Umfrage über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 1993. Vgl. außerdem: W. LOHFF U. L. MOHAUFT (Hgg.), Volkskirche - Kirche der Zukunft? Leitlinien der Augsburger Konfession für das Kirchenverständnis heute. Eine Studie des Theologischen Ausschusses der VELKD, Hamburg 1977; R. SCHLOZ (Bearbeiter), Thema: Volkskirche. Ein Arbeitsbuch für die Gemeinde im Auftrag des Präsidiums der Synode der EKD, hg. von der Kirchenkanzlei, Gelnhausen 1978; Person und Institution. Volkskirche auf dem Weg in die Zukunft. Arbeitsergebnisse und Empfehlungen der Perspektivkommission der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Frankfurt/M. 21992.
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sehen Kirchen in der DDR war der Ausdruck „Volkskirche" seit Ende der 60er Jahre weitgehend außer Gebrauch gekommen. Auf dem Hintergrund der im sozialistischen Weltanschauungsstaat vorangetriebenen Marginalisierung und Minorisierung der Kirchen mußte das Reden von einer „Volkskirche" eher nostalgisch anmuten. Die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands und der Wiedereintritt der östlichen Landeskirchen in die EKD (1991) haben für eine unterschwellig höchst kontroverse - Belebung des Volkskirchenthemas in Ostdeutschland gesorgt. 3 Angesichts der heterogenen Erfahrungen, die die evangelischen Kirchen in beiden Teilen Deutschlands durchlaufen haben, darf man sich nicht wundern, wenn die Annäherung an das Thema „Volkskirche" im Osten von mannigfachen Irritationen und Vorbehalten begleitet wird und vielen Akteuren nach unzeitgemäßer Restauration schmeckt. Die Resistenz des Ausdrucks „Volkskirche", der ja vom Wortsinn her eher Homogenität als plurale Differenzierung suggeriert, ist schon bemerkenswert. Ihm wird offensichtlich eine Erschließungskraft zugetraut, die ihm eine Vorrangstellung vor denkbaren Alternativen einräumt bzw. deshalb ein ungetrübtes Ansehen verleiht, weil bisher kein geeigneter Vorschlag zu seiner Ablösung unterbreitet werden konnte. Er scheint immer noch am brauchbarsten zu sein, um einen bestimmten Kirchentypus in seiner gewachsenen gesellschaftlichen Vorfindlichkeit darzustellen und zu beschreiben. Seine Mehrdimensionalität verspricht eine verläßliche Zuordnung von Offenheit einerseits und Integrationsfahigkeit andererseits. Er läßt die Erwartung zu, daß der überwiegende Teil der Bevölkerung mindestens kirchenfreundlich eingestellt ist und sich auch noch aus der Entfernung zum Zentrum des kirchlichen Zeugnisses und Dienstes gliedschaftlich verhält. Wahrscheinlich ist es auch die ihm anhaftende begriffliche Unschärfe, die ihn so empfehlenswert erscheinen läßt. Er gestattet unterschiedliche, ja bisweilen sogar gegensätzliche Füllungen und vermag den verschiedensten Erwartungsbildungen für das kirchliche Handeln Raum zu gewähren. Die Unschärfe 3
Vgl. H. SCHULTZE, Gemeindeaufbau nach dem Einigungsvertrag. Praktisch-theologische Erwägungen zum Weg der Kirchen nach dem Einigungsvertrag im Bereich der ehemaligen DDR, ThPr26 (1991); U. KÜHN, Zurück zur Volkskirche? Theologische Überlegungen angesichts des Weges der Kirchen in Ostdeutschland, in: K. LOTHI u. a. (Hgg.), Der christliche Glaube und seine Gestalt, Wien 1993, 15-28; M. BEINTKER, Der gesellschaftliche Neuaufbau in den östlichen Bundesländern. Herausforderungen an die Theologie, ThLZ 116 (1991), 241-254, bes. 247 ff. Wichtige bibliographische Hinweise auf Beiträge in der kirchlichen Publizistik: A. KISTENBRÜGGE, Wahrnehmungsfelder der Situation von Kirche und Theologie in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland, VF 38/2 (1993), 29-58, hier: 56 ff.
Kann eine Minderheitskirche Volkskirche sein?
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des Ausdrucks „Volkskirche" muß man nicht schon tadelnswert finden. Begriffe, die hochkomplexe Sachverhalte generalisieren, sind nicht selten unscharf und vieldeutig. Sie können in der alltagssprachlichen Kommunikation relativ selbstverständlich und problemlos verwendet werden, verlieren jedoch an Evidenz, wenn wir sie unter die Lupe der prüfenden Reflexion nehmen. Beim Kompositum „Volkskirche" verlangt genaugenommen sowohl die Komponente „Volk" als auch die Komponente „Kirche" immer neue Anläufe zur Definition, ja es läßt sich unschwer zeigen, daß jeder Autor, der nicht einfach als bekannt voraussetzt, was unter „Volkskirche" verstanden werden soll, vor erheblichen Definitionsanstrengungen steht. In der Diskussion sind im wesentlichen zwei Leitstrategien zur definierenden Klärung zu beobachten: erstens der Versuch zu einer genetischen Reproduktion traditioneller Verstehenskomponenten, die die gewachsenen Ausdrucksformen von „Volkskirche" erhebt und dann sachgemäße von unsachgemäßen Zielvorstellungen unterscheidet, zweitens der Versuch zu einer Erhebung von Erscheinungsmerkmalen, die für den Phäno-Typus „Volkskirche" repräsentativ sind, der Diskussion unterzogen werden und schließlich die Weiterverwendung des Ausdrucks legitimieren. Beide Strategien lassen sich ineinander verzahnen. Die Systematik von Merkmalen setzt geschichtliche Anschauung voraus, und die genetische Reproduktion herkömmlicher Deutungsmuster impliziert ihrerseits systematische Vorentscheidungen und Schlußfolgerungen. Zur Illustration der ersten Strategie, die wir schon aus Raumgründen nicht näher verfolgen können, sei an den Versuch von W. HUBER erinnert, in möglichst prägnanter Form fünf verschiedene Bedeutungslinien des Ausdrucks „Volkskirche" herauszufiltern,4 die miteinander koexistieren und sich teilweise auch überschneiden können: Ausgehend von SCHLEIERMACHER, dem vermutlich das Urheberrecht fur den Ausdruck zugeschrieben werden kann, ist Volkskirche erstens als „Kirche durch das Volk " 5 zu verstehen - in Abgrenzung gegen die obrigkeitlich verwaltete Staatskirche des landesherrlichen Kir-
4
5
W. HUBER, Welche Volkskirche meinen wir? Über Herkunft und Zukunft eines Begriffs, LM 14 (1975), 481-486. Vgl. DERS., Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung, Neukirchen 1983, 131 ff. Ähnlich geht W. HÄRLE vor: Kirche VII. Dogmatisch, TRE XVIII, Berlin-New York 1989, 306 ff. mit einem bemerkenswerten Klärungsversuch zum Verhältnis von Volkskirche und Freikirche. HUBER, Welche Volkskirche meinen wir?, a. a. O. (Anm. 4), 481.
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chenregiments. Sie kann zweitens als „Kirche hin zum Volk"6 gedeutet werden, wie sie erstmals von WICHERN auf der Linie eines volksmissionarischen Gesamtkonzepts des kirchlichen Handelns zum Programm erhoben wurde. Sie kann drittens als „Kirche eines Volkes "7 aufgefaßt werden, nationalkirchlich ausgerichtet und als Volkstumskirche strukturiert, eine Zielvorstellung, die in unserer jüngeren Geschichte maßgeblich die Kirchenpolitik der Deutschen Christen beeinflußte. Viertens ist sie als „Kirche für das Volk"9, bedeutsam, nunmehr verstanden als Institution umfassender pfarramtlicher Versorgung fur eine Bevölkerung, die in großer Mehrheit einer Konfessionskirche angehört. Hierbei handelt es sich um eine Weiterentwicklung des Wichernschen Programms, die für den durchschnittlichen Protestantismus des 20. Jahrhunderts repräsentativ und funktional-kirchentheoretischer Erweiterung (die Kirche als religiöse Serviceeinrichtung) fáhig ist. Fünftens tritt Volkskirche als „Verband mit Öffentlichkeitsanspruch"9 in Erscheinung, der kraft seiner Unabhängigkeit vom Staat und seiner religiös-sittlichen Kompetenz orientierenden Einfluß auf das Ganze des Volkes nimmt: „Kirche für das Volksganze " 1 0 (erstmals programmatisch bei O. DLBELIUS, nach dem 2. Weltkrieg in modifizierter und sachlich differenzierender Weise im Öffentlichkeitswillen der EKD vertreten). Eine solche genetische Reproduktion geschichtlich gewachsener Leitbilder ist hilfreich: Sie akzentuiert die Bedeutungsvielfalt, sie erlaubt es, an Bewährtes anzuknüpfen und irrige Auffassungen, wie die nationalkirchliche Fixierung des Kirchenbegriffs, als unbiblisch zurückzuweisen. Das aber heißt: Die erhobenen Bedeutungslinien müssen sich, wenn ihre situationsspezifische Aktualisierung beabsichtigt ist, an ekklesiologischen Grundbestimmungen ausweisen lassen, zumindest mit ihnen verträglich sein. Diese Aufgabe übernimmt in dem von uns zitierten Beispiel HUBERs die Barmer Theologische Erklärung.
6 7 8 9
10
A. a. O. (Anm. 4), 482. Ebd. (Anm. 6). Ebd. (Anm. 6). A. a. O. (Anm. 4), 481. - Aufschlußreich für die brennpunktartig alle Facetten widerspiegelnden Klärungsversuche ist die kleine Studie: K. MEIER, Volkskirche 1918-1945. Ekklesiologie und Zeitgeschichte, TEH 213, München 1982. HUBER, Welche Volkskirche meinen wir?, a. a. O. (Anm. 4), 482.
Kann eine Minderheitskirche Volkskirche sein?
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II.
Für unsere weiteren Überlegungen wählen wir die Strategie der Erhebung von volkskirchentypischen Merkmalen oder Indikatoren. Dieser Weg ist der schwierigere, weil er ein idealtypisches Erscheinungsbild assoziiert, sich jedoch im Blick auf die Realität idealisierender Postulate enthalten muß. Aber nur auf diesem Weg ist die Frage zu klären, ob auch eine Minderheitskirche die Bedingungen einer Volkskirche erfüllen kann. Auf den ersten Blick scheint die Frage verneint werden zu müssen. Eine Kirche, die nicht in der Mehrheit der Bevölkerung einer Region oder eines Landes verankert ist, scheint hochzustapeln, wenn sie sich als „Volkskirche" darstellt bzw. den Anspruch erhebt, in ihrer Existenz das Volksganze zu repräsentieren oder anzusprechen. Der Blick auf Statistik und Demoskopie ist in praxi sehr beliebt, wenn von der Volkskirche die Rede ist. Gerade die Umfragen zur Kirchenmitgliedschaft zeigen das sehr deutlich. 11 In der DDR haben wir den Begriff allenfalls im Blick auf einzelne „volkskirchlich geprägte" Territorien aufrechterhalten, wo eine Bevölkerungsmehrheit am kirchlichen Leben festhielt (z. B. einzelne Gebiete im Erzgebirge, in der Altmark oder im katholischen Eichsfeld). Ansonsten gingen wir vom Ende der Volkskirche aus avantgardistischer die einen, bekümmerter die anderen - ; es erschien einfach als unsinnig, in einer Gesellschaft, in der die Zahl der Konfessionslosen am Ende die Zwei-Drittel-Grenze überschritten hatte und die Entkirchlichung das Alltagsleben beherrschte, noch volkskirchliche Verhältnisse vorauszusetzen. Leitbilder wie Freiwilligenkirche, missionarische Gemeinde, Kirche in der Diaspora, „Kirche für andere" und dann „Kirche mit anderen" schienen das sich wandelnde Selbstverständnis genauer zu treffen. Die Maximalcharakteristik für eine eindeutige volkskirchliche Situation würde demnach folgendermaßen aussehen: Die Kirche hat einen prägenden Status im Bewußtsein der Bevölkerung. Die Kirchenmitgliedschaft gilt als normal und muß wegen ihrer Selbstverständlichkeit nicht erklärt werden. Unter Begründungszwang geraten nur diejenigen, die aus der Kirche austreten. Der Konnex zwischen Kirche und Lebenswelt wird als wichtig empfunden. Es besteht eine spezifische Milieukirchlichkeit. Die Gottesdienste werden gut besucht. Die Begleitung der Kirche wird nicht lediglich gewohnheitsmäßig, sondern aus einer begründbaren Erwartungshaltung heraus in Anspruch genommen. 11
Vgl. die in Anm. 2 genannte Literatur.
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Eine solche Situation ist heute selten geworden. Auch in der alten Bundesrepublik ist sie so längst nicht mehr aufzuweisen, allenfalls noch singulär anzutreffen. Die umrissene Maximalcharakteristik bedarf also mannigfacher Abstriche. Aber eben die damit erforderlichen Ermäßigungen sind es, die das Leitbild „Volkskirche" in seiner Eignung problematisieren können. Es ist sehr wahrscheinlich, daß ein derartiger (stillschweigend vorausgesetzter) Idealtypus wegen seiner eklatanten Differenz zum empirischen Befund die schmerzarme Emeritierung des Ausdrucks „Volkskirche" in der DDR begünstigt hat. Nachdem G. KRETZSCHMAR an Fallbeispielen den „Umbruch der Volkskirche" in der DDR beschrieben hatte 12 und die Unübersehbarkeit der Entwicklung zur Freiwilligenkirche hin konstatierte 13 , lassen sich nur noch vereinzelte Stimmen nachweisen, die von dem Ausdruck bewußt Gebrauch machen. Meist diente er der Kennzeichnung eines defizitären Modus des überkommenen und nunmehr in Auflösung begriffenen Kirchentums. Daß sich trotz des enormen Mitgliederschwunds Strukturelemente und Gepflogenheiten durchhielten, die eindeutig den Indikatoren des volkskirchlichen Typus von Kirche zuzuordnen sind, mußte freilich nachdenklich machen. So sprach G. MÜLLER Ende der 80er Jahre an durchaus hervorgehobener Stelle vom „Strukturmodell einer .verdünnten Volkskirche'" 14 : „Die alten volkskirchlichen Strukturen bestehen noch fort, unter dem Druck der Säkularisierung magert der Körper der Kirche jedoch weiter ab. Die evangelischen Christen finden sich zunehmend in einer Situation wieder, die gern als Diaspora beschrieben wird: Eine Minderheit von christlich gesonnenen Menschen lebt mit einer Mehrheit von indifferenten oder bewußt atheistischen Mitbürgern zusammen."15
MÜLLER hob hervor, daß der nichtchristliche DDR-Bürger vor allem jene kirchlichen Arbeitsbereiche anerkenne, „die der volkskirchlichen Vergangenheit entstammen und sich den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen anpassen konnten. In den meisten Fällen handelt es sich bei ihnen um Aktivitäten, die
12
13
14
15
Vgl. G. KRETZSCHMAR, Volkskirche im Umbruch. Kirchliche Lebensäußerungen in drei Gemeinden der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens. Eine praktischtheologische Arbeit auf kirchengemeindesoziologischer Grundlage, Berlin 1967. Vgl. G. KRETZSCHMAR, Die Kirche in ihrer sozialen Gestalt, in: Handbuch der Praktischen Theologie, bearbeitet von H . AMMER, J. HENKYS, G. HOLTZ, H . H. JENSSEN U. a., Bd. I, Berlin 1975, 57-131, hier: 112 f. G. MÜLLER, Einführung [zu: II. Vielgestaltige Kirche], in: Gemeinsam unterwegs. Dokumente aus der Arbeit des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR 1980-1987, Berlin 1989, 75-87, Zitat: 79. A.a.O. (Anm. 14), 78f.
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ursprünglich auf Impulse der Inneren Mission zurückgehen." 16 Und er unterstrich, daß sich die früher geäußerten Erwartungen nicht erfüllt hätten, „der Kirche werde es bis zu den 80er Jahren gelingen, eine auf Freiwilligkeit und Bereitschaft zum christlichen Bekennen gegründete neue Gestalt ihrer Gemeinschaft zu finden"17; die Betreuungsstruktur einer Volkskirche sei weiterhin gültig. 18 MÜLLERS nüchterne Beschreibung war für das kirchliche Meinungsspektrum keineswegs repräsentativ. Unter der Losung, daß das Schicksal des konstantinischen Zeitalters besiegelt sei, konnte man unter DDR-Verhältnissen eigentlich nur mit einem schlechten Gewissen von der Volkskirche reden. Vor allem unter dem Einfluß ökumenischer Reformkonzepte der 60er Jahre (Mission als Strukturprinzip des Gemeindeaufbaus) 19 sah man sich dazu herausgefordert, die entscheidungslose „Jedermannskirche" zu überwinden, so daß der Ausdruck „Volkskirche" einem generellen Verdikt anheimfiel - zu rasch, wie R. DEGEN 1989 unter der Überschrift „Die gescholtene Volkskirche" ausführte. 20 Es wird eingehender Untersuchungen bedürfen, ob der vom Staat auf allen Ebenen und mit allen Mitteln entwickelte Entscheidungsdruck für die Ideologie des Marxismus/Leninismus eine Verstärkerfünktion für die Favorisierung eines kirchlichen Leitbilds ausübte, das von relativ hohen Maßstäben
16 17
A . a . O . (Anm. 14), 75f. A. a. O. (Anm. 14), 78. - MÜLLER spielt vermutlich auf den berühmt gewordenen Aufsatz von G. JACOB an: Die Zukunft der Kirche in der Welt des Jahres 1985, ZdZ 21 (1967), 441-451.
18
Ebd (Anm. 17). - Vgl. auch die rückblickende Einschätzung von W. KRUSCHE, „Denkt daran, daß im Herrn eure Mühe nicht vergeblich ist" (1. Kor 15,59). Rückblick auf 21 Jahre Weg- und Arbeitsgemeinschaft im Bund, ZdZ 44 (1991), 9-15; 3 4 ^ 5 , hier: 10 f. - Für W. KRÖTKE stellt es sich so dar: Es sei „kein Zweifel, daß auch die Kirchen in der DDR an der Arbeitsweise einer sogenannten ,Volkskirche' und quasi öffentlichrechtlichen Institution festgehalten haben, selbst wenn dieses Gerüst noch so klapperte und als solches von den westlichen Kirchen finanziell gestützt wurde." [W. KRÖTKE, Kirche für alle? Die Gemeinde im Dienst des Wortes und Werkes Jesu Christi, ZdZ 46 (1992), 194-201, Zitat: 197],
19
Vgl. hierzu W. KRUSCHE, Das Missionarische als Stnikturprinzip, in: DERS., Schritte und Markierungen. Aufsätze und Vorträge zum Weg der Kirche, Berlin 1972, 109-124; W. RATZMANN, Missionarische Gemeinde. Ökumenische Impulse für Strukturreformen, Berlin 1980.
20
R. DEGEN, In der Gemeinde Leben lernen. Gemeindeaufbau als gemeindepädagogische Aufgabe. Beiträge A 7: Gemeinde, Theologische Studienabteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR, Berlin 1989 (Typoskript), 31 ff.
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Systematische Theologie
auch für das Entscheidungsverhalten der Kirchenchristen geprägt war. In einem gesellschaftlichen Kontext, in dem fortwährend zu Entscheidungen aufgerufen wurde, mußte ein unentschiedenes Christentum faktisch verkümmern. Das Christsein in der DDR konnte einen hohen Preis haben. Und selbst die nur formale Wahrung der Kirchenmitgliedschaft bei einem distanzierten Verhältnis zur Gemeinde implizierte eine gewisse Nonkonformität im gesellschaftlichen Milieu. Da es nicht mehr selbstverständlich war, der Kirche anzugehören, mußten sich auch die distanzierten Kirchenglieder fragen, weshalb sie nicht austraten. Wenn sich die Bindung zur Kirche verflüchtigte - zumeist durch einen Mangel an Sozialisations- und Interaktionserfahrungen -, dann verlor man nichts, wenn man die Kirche verließ. Eher schon gewann man einen Pluspunkt für die Personalakte. Für die Passageriten sprangen ohnehin parteikonforme gesellschaftliche Institutionen ein. Gleichwohl kann gefragt werden, ob der Gestus, mit dem das Leitbild „Volkskirche" fur obsolet und rückständig erklärt wurde und zur Negativfolie eines entscheidungsorientierten Christseins geriet, nicht auch Züge einer Flucht nach vorn aufweist. Im Blick auf die faktische Realität der Gemeinden war dieser Gestus sicher überzogen. Auch war es eine maßlose Übertreibung, wenn gelegentlich versichert wurde, daß sich die kirchlichen Verhältnisse in der DDR wieder den ekklesialen Ausgangsbedingungen des Neuen Testaments annäherten. Das Bewußtsein, im Aufbruch in eine Zukunft zu existieren, für die die herkömmliche Sozialgestalt der Kirche zu groß, zu kostspielig und zu unbeweglich erschien, hat jedenfalls dazu geführt, daß man das Erbe der Volkskirche mehr als Ballast empfand und kaum noch unbefangen nach den Spielräumen zu fragen vermochte, die sich dem kirchlichen Handeln unter volkskirchlichen Rahmenbedingungen eröffnen. Die Auffassung, daß man dort, „wo noch volkskirchliche Restbestände vorhanden sind, von der großartigen Chance wissen [sollte], geöffnete Türen und stabile Brücken zu haben, um das kirchliche Angebot unter das Volk zu bringen" 21 , war keineswegs dominant. Sie zeigt aber, daß es grundsätzlich möglich war, auch für DDRVerhältnisse die Chancen eines volkskirchlichen Milieus produktiv zu beleuchten.
21
KRETZSCHMAR, a. a. O . ( A n m . 1 3 ) , 1 1 3 .
Kann eine Minderheitskirche Volkskirche sein?
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III.
Um die oben erwähnte Kennzeichnung der kirchlichen Lage in der ehemaligen DDR und nunmehr den jungen Bundesländern als „Strukturmodell einer ,'verdünnten Volkskirche'" zu verifizieren und zu konkretisieren, sollen einige volkskirchentypische Indikatoren aufgelistet und erläutert werden. 2 2 Die Darlegungen beschränken sich auf die wesentlichen Merkmale. Sie berücksichtigen die mit den früheren Verhältnissen verknüpfte Transformation einiger Merkmale, beachtend, daß in einer Gesellschaft repressiver Homogenität manche Merkmale anders in Erscheinung treten als in einer pluralistischen Gesellschaft mit hoher funktionaler Differenzierung und demokratischer Öffentlichkeit.
1. Die Kirche versteht sich als relevantes Teilsystem der Gesellschaft. Sie ist in der Öffentlichkeit präsent und nutzt sie als Forum ihrer Stellungnahmen zu gesamtgesellschaftlichen Fragen und Problemen. Mit dem Öffentlichkeitsanspruch ist ein unstrittiger Leitaspekt des volkskirchlichen Selbstverständnisses unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen gegeben. Die Kirche agiert nicht im Verborgenen und verharrt nicht in der Beschränkung auf Selbstreferenz. Sie erhebt den Anspruch, auf die ethische Urteilsbildung der Gesamtgesellschaft einzuwirken und die Gewissen der Menschen zu schärfen. So äußert sie sich zu zentralen Fragen der Politik, der Wirtschaft, des Rechts, der Kultur, aber auch zu drängenden Problemen, die die Lebensführung des Individuums betreffen. Die Kirche weiß sich mit den Lebensfragen der Gesellschaft solidarisch und spricht keineswegs nur für die Belange der Kirchenglieder. Darin unterscheidet sie sich von einem Verband oder Verein, denen es in den meisten Fällen um eine gruppenspezifische Interessenvertretung geht. In der DDR waren die kirchlichen Handlungsmöglichkeiten an dieser Stelle stark eingeschränkt. Die „offizielle" Öffentlichkeit war streng reglementiert und kontrolliert, eine freie Kommunikation über gesamtgesellschaftliche Fragen wurde von der Politik zielgerichtet verhindert. Aber selbst unter diesen ungünstigen Bedingungen hat die Kirche nicht darauf verzichtet, bei sich bie-
22
Im einzelnen folge ich weitgehend der Aufstellung, die ich für eine Stellungnahme des Ständigen Theologischen Ausschusses der EKU „Stichwort .Volkskirche'" (1994) entwickelt habe. Auch sonst habe ich mir die Freiheit genommen, mich wiederholt auf die von mir erarbeiteten Partien der Vorlage fiir die Stellungnahme (Abschnitte 1 und 5) zu beziehen.
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tenden Gelegenheiten gesellschaftliche Problemfelder anzusprechen und auf Änderungen zu drängen. Der Umstand, daß das oft verhalten und diplomatisch artikuliert werden mußte, mindert nicht den Wert der Intention, über den Horizont der Kirche hinauszusehen und hinauszusprechen. Zudem sorgte die offizielle Meinungsverwaltung für den unfreiwilligen GegenefFekt, daß jede Meinungsäußerung, die aus dem Rahmen der Propagandaklischees fiel, höchster Aufmerksamkeit sicher sein konnte. Über Kanzelabkündigungen ζ. B. konnte die Kirche mühelos eine alternative Öffentlichkeit zur künstlichen „offiziellen" Öffentlichkeit herstellen. Die Aufmerksamkeit westlicher Medien, die nicht selten auch eine Last war, sorgte für eine effektive Verbreitung kirchlicher Äußerungen. Von einer solchen Effektivität können wir heute, unter pluralistischen Bedingungen, nur noch träumen. Wie selbstverständlich die ostdeutschen Kirchen ihre Rolle als relevantes Teilsystem der Gesellschaft in Anspruch nahmen, haben sie dann im Verlauf der friedlichen Revolution des Jahres 1989 hinreichend unter Beweis gestellt. Der weitere Verlauf der Entwicklung zeigt, wie schwierig es wird, kirchlich unter den Bedingungen einer pluralistischen Großöffentlichkeit zu bestehen, wenn man nicht hinreichend darauf vorbereitet ist und dazu noch über die Fixierung auf eine Nur-Oppositionsrolle zu den politischen Konstellationen hinausfinden muß. Der Sachverhalt, daß sich die Kirche auch jetzt als relevantes Teilsystem der Gesellschaft akzeptiert, bleibt davon unberührt. Die Frage ist lediglich, wie sie mit dieser ihr zugewachsenen Rolle umgeht. 2. Die Organisation kirchlicher Arbeit vollzieht sich möglichst „flächendeckend". Die Kirche muß für jedermann erreichbar und erkennbar sein. Das flächendeckende Versorgungsprinzip gehört zu den profiliertesten Kennzeichen der Volkskirche. Auch wenn die Realität der lebendigen, mündigen Gemeinde mit dem Aspekt der Versorgung unzureichend erfaßt wird und die Handlungsebene pastoraler Betreuung nur als ein Baustein des Gemeindeaufbaus betrachtet werden kann, wird großer Wert darauf gelegt, daß möglichst jede Kirchengemeinde über mindestens eine Pfarrstelle und je nach Größe über hauptamtliche Mitarbeiterstellen verfügt. Die Menschen eines Ortes oder Wohngebiets müssen wissen, wo sie kirchliche Ansprechpartner finden und an wen sie sich ohne Schwierigkeiten mit ihren Fragen und Anliegen wenden können. Die Kirche soll erkennbar sein. Es ist nicht von Nachteil, wenn der Kirchturm die Dächer überragt. In der neueren Literatur werden häufig Zweifel an der Leistungsfähigkeit der parochialen Gliederung kirchlicher Arbeit angemeldet. Dennoch wird man die parochiale Vernetzung kirchlichen Lebens nicht einfach aufgeben, allenfalls durch andere Organisationsfor-
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men ergänzen können. Die parochiale Vernetzung bleibt die dominante Form der Begegnung von Kirche und Lebenswelt. Die evangelischen Kirchen in der DDR haben bis zuletzt an der flächendeckenden Ausrichtung ihres Zeugnisses und Dienstes festgehalten. Ihr Organisationsgrad und die institutionelle Staffelung der Aufgabenbereiche waren in vollem Umfang auf volkskirchliche Verhältnisse zugeschnitten, als ob es keinen fortschreitenden Minorisierungsprozeß gegeben hätte. Es entstanden allerdings erhebliche Vakanzprobleme, die meist über kräftezehrende Vertretungslösungen aufgefangen wurden. Mit Prädikanten- und Lektorendiensten wurden teilweise gute Erfahrungen gesammelt. Es spielte weniger eine Rolle, wie viele Menschen den Gottesdienst besuchten. Wichtiger war, daß auch in den entlegensten ländlichen Flecken nach Möglichkeit zum Gottesdienst eingeladen werden konnte. Heute stößt der Anspruch auf eine extensive pfarramtliche Versorgung auf seine Grenzen. Pfarr- und Mitarbeiterstellen sind in Gemeinden, die eine bestimmte Mindestgröße unterschreiten, auf Dauer nicht mehr finanzierbar. Es läßt sich unschwer ausrechnen, wie viele Stellen der kirchliche Stellenplan noch zuläßt, wenn in einer durchschnittlichen Stadt nur noch 10-15 % der Einwohner der evangelischen Kirche angehören und zudem niedrigere Einkommen ein niedrigeres Kirchensteueraufkommen zur Folge haben. So könnte ein merkwürdiger Effekt eintreten: Die Kirchen, die eigentlich nicht mehr Volkskirche sein mochten, aber an einem volkskirchlichen Organisationsniveau festhielten (nicht zuletzt dank starker Unterstützung durch die Kirchen der EKD), müssen nun, wo sie sich ungehindert volkskirchlich entfalten könnten, die schwierige Erfahrung verarbeiten, daß sie ihren Betrieb in der gewohnten Form mittelfristig nicht mehr bezahlen können. Hier werden neue Ideen und Denkansätze gefragt sein. Augenblicklich ist es leider so, daß das Problem der Wirtschaftlichkeit der kirchlichen Organisation mehr die alten Vorurteile gegenüber der Volkskirche verstärkt.
3. Die Kirche ist offen und ermöglicht im Rahmen ihrer konfessionellen Gebundenheit Pluralität. Auch dieses Merkmal gilt als charakteristisch: „Volkskirche meint ein ,offenes' Kirchenkonzept, das unterschiedliche Teilnahmeformen akzeptiert und zugleich verschiedene Glaubenstraditionen als gleichrangig gelten läßt. Das volkskirchliche Konzept
314
Systematische Theologie entspricht dem in der Gesellschaft vorhandenen Werte- und Normenpluralismus, es ist von der Vorstellung einer ,Kirche für alle' geleitet."23
Die pluralismustheoretische Transformation des Ausdrucks „Volkskirche" zur „Institution der Freiheit" stößt in der Regel nur in Kreisen der charismatischen Gemeindeerneuerung auf Widerspruch. Sonst wird die grundsätzliche Akzeptanz von Offenheit und Kontaktfähigkeit gerne als Vorzug der Volkskirche herausgestellt. Die Vielfalt differierender Frömmigkeitsstile und Glaubensweisen wird begrüßt, wobei von der Kirche erwartet wird, daß sie deren Kommunikation fördert und vorantreibt. In der offenen Gesellschaft soll auch die Kirche offen agieren. In Reibungen mit der Realität gerät diese Auffassung, wenn sich die einzelnen Kirchengemeinden geschlossener verhalten, als das Konzept es vorsieht. Und sie gerät in Reibungen mit der konfessionellen Bindung der Kirche, die den ordinierten Amtsträgern die Verantwortung für die in der evangelischen Kirche geltende Lehre auferlegt. Hier tun sich rasch Konfliktzonen auf, die jetzt nicht näher ausgelotet werden können. Von Interesse ist folgendes: Auch die Kirchen in der DDR wollten offene und einladende Kirchen sein und sind es auch gewesen. 24 Es wurde bewußt darauf verzichtet, das Christsein auf ein idealtypisches Frömmigkeitsverhalten festzulegen. Als die gesellschaftskritischen Gruppen das Dach der Kirche suchten, ist es ihnen in der Regel auch gewährt worden. Die bei BONHOEFFER entlehnte Formel „Kirche für andere", die in der Phase der Gründung des Kirchenbundes fast programmatische Geltung erlangte, 25 artikulierte auf ihre Weise auch den Anspruch auf Öffnung und Offenheit. Eine innerkirchliche Pluralität galt als selbstverständlich. 26 Dafür sorgten schon die unterschiedlichen, ja teilweise gegensätzlichen theologischen Perspektiven, in denen Auftrag, Weg und Praxis von Verkündigung und kirchlichem Leben interpretiert und profiliert wurden. Of-
23
24 25
26
So K.-F. DAIBER, Zur Sozialgestalt der Gemeinden, in: Handbuch der Praktischen Theologie, hg. von P. C. BLOTH, K.-F. DAIBER, J. KLEEMANN U. a., Bd. 3, Gütersloh 1983, 11-30, hier: 19. Vgl. W. KRUSCHE, Einladende Kirche (1987), in: DERS., Verheißung und Verantwortung. Orientierungen auf dem Weg der Kirche, Berlin 1990, 155-168. Vgl. hierzu H. RATHKE, Kirche für andere - Zeugnis und Dienst der Gemeinde (Vortrag auf der Bundessynode im Juli 1971 in Eisenach), in: Kirche als Lerngemeinschaft. Dokumente aus der Arbeit des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Berlin 1981, 173-184. Vgl. etwa die theologisch und situationsanalytisch überaus gehaltvollen Überlegungen bei W. KRUSCHE, Die Gemeinde Jesu Christi auf dem Weg in die Diaspora (1973), in: DERS., Verheißung und Verantwortung (Anm. 24), 94-113, bes. 103 ff.
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fenbar kann sich ein binnengerichteter Pluralismus auch in einem Teilsystem der geschlossenen Gesellschaft entfalten. Wenn er die gesamtgesellschaftliche Pluralität nicht intern reproduzieren kann, dann vermag er interne Pluralität in der Abgrenzung von externem Antipluralismus zum Zuge zu bringen. Kann man diagnostizieren, daß Pluralismusbereitschaft zu einem Wesenszug des neuzeitlichen Protestantismus gehört und deshalb auch unter DDR-Verhältnissen gedieh? In den Kirchen ermöglichte diese Bereitschaft die Erfahrung einer Freiheit, die sich wohltuend vom Grau des durchreglementierten Alltags abhob.
4. Die Kirche reagiert nachsichtig auf ein distanziertes Mitgliedschaftsverhalten. Sie beschränkt ihre Mitgliedschaftsregeln auf die Kennzeichen formaler Kirchenzugehörigkeit (Taufe, Konfirmation, Inanspruchnahme von Amtshandlungen, Kirchensteuer). Dieses Merkmal entspricht der realen Lage der protestantischen Kirchen. Es läßt sich als Begleitphänomen der zuvor beschriebenen Offenheit darstellen. Eine pluralismusbereite Kirche kann distanzierte Kirchlichkeit nicht mit Sanktionen belegen wollen, sondern wird diesen wohl verbreitetsten Typ der Mitgliedschaft tolerieren. Sie wird diejenigen, die sich nicht am Gemeindeleben beteiligen, aber auch nicht aus der Kirche austreten und mit der Zahlung der Kirchensteuer eine schwer definierbare Sympathie mit der Kirche bekunden, als Christen anzusprechen haben. Es war zu erwarten, daß sich die Differenzierung der Kirchenmitgliedschaft in verschiedene Interaktionsklassen - vom aktiven ehrenamtlichen Mitarbeiter über den Gottesdienstbesucher bis hin zum Kirchenglied, das die Kirche erst wieder sieht, wenn es sie infolge letalen Ausgangs nicht mehr sehen kann, oder von der „Kerngemeinde" zu den sog. „Randsiedlern" und „Karteichristen" - unter dem Druck der DDR-Verhältnisse zumindest verflüssigen und umschichten würde. Diese Erwartung stand gewiß hinter der leicht zynischen Vermutung vom „Gesundschrumpfen" der Kirche. Aber die Kirche schrumpfte sich nicht gesund, sie schrumpfte als Volkskirche. Das heißt: Sie schrumpfte, und die angesprochene Differenzierung schrumpfte einfach mit. So haben wir es heute mit einer nur verschlankten Form differenzierter Kirchenmitgliedschaft zu tun, die sich im Erscheinungsbild weithin proportional zu den entsprechenden Gegebenheiten in Westdeutschland verhält. 2 7 Soll man
27
Die Ergebnisse der jüngsten EKD-Umfrage über die Kirchenmitgliedschaft lassen - so die Autoren - „aufhorchen'' „Denn ein Vergleich der Kirchenmitgliedschaft in Ostund Westdeutschland zeigt insgesamt gesehen eine große Ähnlichkeit. Wenn bei einem Vergleich aller Kirchenmitglieder in Ost- und Westdeutschland überhaupt Ab-
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boshaft sagen: Die Volkskirche ist einfach nicht totzukriegen? Zumindest scheint sie einer Erweckung zu bedürfen, wenn sie über den Zustand hinauskommen möchte, daß sie für die Mehrheit der Kirchenglieder nur im Ausnahmefall eines Gottesdienstbesuches würdig ist. Mit dem Befund, daß eine relativ kleine Kerngemeinde von einer meist unübersichtlichen Menge anonymer Kirchenglieder flankiert wird, ist ein defizitärer Zustand der Kirche angegeben, keine Zielkonstellation, sondern eine Ausgangskonstellation kirchlicher Arbeit. Sie darf weder beschönigt noch verharmlost werden. Die überkommene Volkskirche lebte weithin von den traditionsgeleiteten Verbundenheitsgefuhlen ihrer Glieder. Kirchenmitgliedschaft gehörte schon zum guten Ton. Ein Christsein, das sich lediglich aus einer gewohnheitsmäßigen Nähe zur Kirche heraus versteht, ist da, wo die traditionalen Muster zerbrechen, nicht durchzuhalten, wenn es ihm nicht ermöglicht wird, sich in der Gemeinde zu beheimaten und sich seines Weges unter dem Zuspruch und Anspruch des Evangeliums zu vergewissern. Insofern kann die Volkskirche als Sozialzustand der Kirche beschrieben werden, in dem sich die Kirche zuerst selber missioniert. 5. Die Kirche kooperiert in Teilbereichen mit den politischen Institutionen auf der Basis vertraglicher Beziehungen. Sie müssen die Freiheit des kirchlichen Auftrags, der kirchlichen Meinungsbildungsprozesse und Äußerungen zu gesellschaftlichen Problemen gewährleisten. Dieses Merkmal trägt der geschichtlichen Konstellation des deutschen Protestantismus Rechnung. Seit dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments ist die Volkskirche nicht mehr Staatskirche. Als eine Körperschaft öffentlichen Rechts ist die Kirche rechtlich und organisatorisch vom Staat getrennt. In Teilbereichen kooperiert sie mit den politischen Institutionen auf der Grundlage rechtlicher Vereinbarungen (Staatskirchenverträge). Das verleiht ihr im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Institutionen, aber auch im Vergleich zu den sogenannten Freikirchen und kleineren Religionsgemein-
weichungen sichtbar werden, dann bewegen sie sich auf einem recht niedrigen Niveau. Das deutet darauf hin, daß sowohl bei der Einstellung zur Kirche als auch bei der Beteiligung am kirchlichen Leben in den ostdeutschen Landeskirchen lediglich die Akzente etwas anders gesetzt werden als im Westen." [Fremde Heimat Kirche (Anm. 2), 23 f.]. Bemerkenswert erscheinen mir allerdings die Unterschiede bei den jüngeren Kirchenmitgliedern im Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland zu sein: ein höheres Verbundenheitsgefühl mit der Kirche und ausgeprägtere Erwartungen an Christsein und Kirche bei den Befragten im Osten (a. a. O., 32 ff.).
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schatten einen gewissen Sonderstatus. Über die Weimarer Reichsverfassung fanden die Regelungen Eingang in das Grundgesetz. In der DDR war an eine rechtlich geordnete Kooperation zwischen Staat und Kirche nicht zu denken. Sie konnte wegen des totalitären Anspruchs des sozialistischen Staates auch kaum als wünschenswert erscheinen. Eine definierte Kooperation wäre wohl nur um den hohen Preis der förmlichen Gleichschaltung der Kirche realisierbar gewesen; der Vergleich mit den Verhältnissen in Ungarn oder in der CSSR ist hier sehr aufschlußreich. Anhand der Geschichte der Theologischen Fakultäten/Sektionen in der DDR ließen sich illustrative Fallstudien erarbeiten, was es für Folgen hat, wenn ein politisch und weltanschaulich parteilicher Staat einen erheblichen Anteil der Theologenausbildung gewährleistet. Dennoch waren die evangelischen Kirchen in der D D R essentiell auf kooperative Absprachen mit dem Staat angewiesen. Die diakonische Arbeit der Kirche, die Pflege kirchlicher Bauten und kirchlichen Grundbesitzes, die Planung der Bauvorhaben, das kirchliche Friedhofswesen, die Gefängnis- und Krankenhausseelsorge, Publikationen und Verlagslizenzen, die kirchliche Öffentlichkeitsarbeit oder die Organisation von Kirchentagen, ja sogar die Zuwendung von Staatsleistungen: solche Beispiele, die sich durchaus vermehren lassen, zeigen überdeutlich, wie abhängig man faktisch vom Entgegenkommen des Staates war, wenn man wesentliche Formen kirchlicher Aktivitäten (die nicht zufallig volkskirchentypisch sind) aufrecht erhalten und weiterentwickeln wollte. Die fehlende Rechtssicherheit machte diese Aktivitäten störanfällig. Da die Verabredungen keine eigentliche Rechtsqualität besaßen, konnten sie in Konfliktsituationen nicht eingeklagt werden und bedurften der permanenten Verhandlungen, bei denen die staatlichen Vertreter nicht selten den Eindruck vermittelten, wie abhängig die Kirche vom Wohlwollen des Staates sei. Die angedrohte Verweigerung von Toilettenwagen oder Parkplätzen konnte beispielsweise die Großveranstaltung eines ganzen Kirchentages gefährden. Mit der Übertragung bundesdeutscher Rechtswirklichkeit auf die östlichen Bundesländer ist hier eine förderliche Klarheit hergestellt worden. Sie erhöhte die Spielräume für das kirchliche Handeln in einem für kaum noch denkbar gehaltenen Umfang. In zwei Bundesländern (Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern) sind bereits Staatskirchenverträge abgeschlossen worden. Dennoch kristallisierten sich sehr rasch auch neuralgische Punkte heraus. Sie betreffen das Kirchensteuereinzugsverfahren, den Religionsunterricht nach Art. 7,3 GG und die Militärseelsorge. Die Kritiker, die wir nicht nur in der Pfarrerschaft, sondern auch in den kirchlichen Leitungsetagen finden, bewer-
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ten diese drei Kooperationsbereiche als Ausdruck einer nur halbherzigen Trennung von Kirche und Staat und damit als Reste eines problematischen Staatskirchentums, die die Kirche ihrer kritischen Distanz zum Staat berauben. Die damit verknüpften Debatten lassen nach meiner Beobachtung die erforderliche Nüchternheit und Realitätsbezogenheit vermissen. Die Auffassung, daß eine faktische Gleichung zwischen einer Staatskirche und einer Volkskirche bestehe und daß die Kirche durch derartige Regelungen ihren Rest an Glaubwürdigkeit verliere, begegnet sehr häufig. Die sich eröffnenden neuen Chancen werden nicht selten larmoyant und verbiestert bestritten, oder die genannten drei Kooperationsfelder werden ausschließlich im Blickwinkel ihrer Gefährdungen diskutiert und als Überprivilegierung der Kirche in Zweifel gezogen. Die Befürchtungen, die Kirche könne in eine fragwürdige Abhängigkeit vom Staat geraten, wenn sie in bestimmten Bereichen mit ihm kooperiert nicht nur Dienstleistungen erbringt, sondern solche auch erwartet -, verdienen fraglos Beachtung. Die neuerliche Debatte um eine Modifikation des Militärseelsorgevertrages verdeutlicht, daß die Freiheit des Auftrags der Kirche (vgl. These VI der Barmer Theologischen Erklärung) eine Überprüfung gewachsener Organisationsformen einschließt und gegebenenfalls Veränderungen erfordert. Andererseits gilt es zu beachten: Die Kooperation von Staat und Kirche kann nicht eo ipso suspekt sein. Sie vollzieht sich auf dem Boden der juristisch eindeutigen Trennung beider Seiten; die staatliche Seite ist durch die Verfassung zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet. Die Freiheit des kirchlichen Auftrags wäre erst dann in Frage gestellt, wenn die staatliche Seite ihre Kooperationsbereitschaft an ein Wohlverhalten der Kirche binden würde. Genau das wollen die getroffenen vertraglichen Regelungen zwischen Staat und Kirche aber ausschließen. Im übrigen ist es der wünschenswerten Versachlichung der Kontroversen um die besonders angefochtenen Kooperationsfelder dienlich, wenn man sich bewußt macht, daß damit nur ein Ausschnitt aus dem Spektrum des Zusammenwirkens erfaßt ist. Neben der Militärseelsorge gibt es eine geregelte Krankenhaus- und Gefängnisseelsorge, die im Ernst noch niemand beanstandet hat. Öffentliche Mittel zur Finanzierung der Diakonie, der sozialen Dienste und anderer Arbeitsbereiche der Kirche werden gerade in den neuen Bundesländern ganz selbstverständlich in Anspruch genommen. Die Existenz Theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten, die das kirchliche Ausbildungswesen in einem kaum zu überschätzenden Umfang entlastet, ist meines Wissens von kirchlicher Seite nicht einmal ansatzweise problematisiert worden.
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Auch besteht kein Grund, den Einzug der Kirchensteuer über das Finanzamt gegen die Finanzierung kirchlicher Arbeit durch eine freiwillige Quasi-Besteuerung oder andere kirchlich verwaltete Beitragserhebungen auszuspielen. Eine kritische Analyse der Beitragsehrlichkeit im bis 1989 üblichen Modus der Selbstveranlagung der Kirchensteuerzahler dürfte die legendarische Verklärung des Systems der Freiwilligkeit wirksam entmythologisieren.
6. Die Kirche weiß sich dafür verantwortlich, daß die heranwachsenden Christen mit den Themen und Inhalten des christlichen Glaubens vertraut werden. Der schulische Religionsunterricht eröffnet die Gelegenheit, Einsichten des christlichen Glaubens unmittelbar im Bildungssystem der Gesellschaft zu vermitteln. Die Verantwortung für die kirchliche Sozialisation Heranwachsender ist für sich genommen noch kein volkskirchliches Merkmal. Insofern ist die christliche Unterweisung nicht an den schulischen Religionsunterricht gebunden. Von kaum zu überschätzender Bedeutung ist es zunächst, wie die Einübung ins Christentum in den Familien praktiziert und vermittelt wird. Eine attraktive Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Einzugsbereich der Ortsgemeinde ist ebenfalls sehr wichtig, wenn einem daran gelegen ist, die Kirche als Gemeinde von Schwestern und Brüdern biographisch erfahrbar werden zu lassen. Die Kirchen in der DDR haben praktisch nur mit dieser Form christlicher Unterweisung existieren können und dabei relativ gute Erfahrungen gesammelt. So kann ihre Skepsis gegenüber dem schulischen Religionsunterricht zumindest mit Verständnis rechnen. Die Sozialisation im Gemeindebereich vermag die oft chronisch defizitäre religiöse Sozialisation in der Familie wirksamer aufzufangen und zu entlasten als der schulische Religionsunterricht, zumal dann, wenn hier nach dem Grundsatz der Freiwilligkeit verfahren wird. Aber man muß sich vor falschen Alternativen hüten. In einer Zeit, wo die gelingende Einführung in den christlichen Glauben nachgerade zu einer Zukunftsfrage für die Kirche geworden ist (distanziertes Mitgliedschaftsverhalten ist in vielen Fällen Ausdruck fehlgeschlagener Sozialisationserfahmngen), wird man möglichst viele Ebenen der Glaubensdidaktik nutzen und die für die Volkskirche selbstverständliche Präsenz im Bildungsbereich der Gesellschaft nicht noch mit Mißachtung strafen. Denn hier machen Kinder und Jugendliche eine Erfahrung, die das kirchliche Binnensystem so nicht vermitteln kann: Der christliche Glaube ist im gesellschaftlichen Alltag präsent. Er führt kein Nischendasein in der geschützten Atmosphäre kirchlicher Freizeitgestaltung, sondern kommt mitten in die Schule, dorthin also, wo die Christen längst nicht mehr unter sich sind, sondern es auch lernen müssen, Andersdenkenden mit
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Achtung und Auskunftsfähigkeit zu begegnen. Diese Erfahrung kann unmittelbar nur der schulische Religionsunterricht eröffnen. Und es sollte nicht vorschnell für abwegig erklärt werden, daß es gerade im entkirchlichten Kontext der neuen Bundesländer neugierige Mitschüler und vielleicht sogar neugierige Eltern gibt, denen durch den Religionsunterricht eine neue Brücke zur Kirche gebaut werden kann.
IV.
Überblickt man den Versuch, die Leitfrage unserer Überlegungen beantwortbar zu machen, so ergibt sich folgende Einschätzung: Man entzieht sich den Definitionsschwierigkeiten des Ausdrucks „Volkskirche", wenn man Indikatoren ermittelt, die sich dem herkömmlichen volkskirchlichen protestantischen Kirchentypus verdanken und als externe Kennzeichen kirchlichen Selbstverständnisses und kirchlicher Arbeit weiter in Geltung stehen. Vielleicht eröffnet sich auf diesem Weg sogar die Möglichkeit, den Ausdruck „Volkskirche" wegen der ihm anhaftenden analytischen Ungenauigkeit sparsamer zu gebrauchen und möglichst nicht als bevorzugten Programmbegriff kirchlichen Handelns einzusetzen. 28 Er beschreibt ein bestimmtes, geschichtlich gewachsenes Phänomen unseren Kirchentums, das von nicht wenigen Zeitgenossen bereits als „Auslaufmodell" diskutiert wird. 29
28
So heißt es im Votum des Theologischen Ausschusses der EKU: Kirche als „Gemeinde von Brüdern" (Barmen III, Bd. 2, hg. von A. BURGSMÜLLER, Gütersloh 3 1984, 60 f.): „So wenig eine programmatische Ablehnung der .Volkskirche' von Nutzen sein kann, so fraglich ist es doch auf der anderen Seite, ob Gegenwart und Zukunft der Kirche unter dem Stichwort .Volkskirche' angemessen erörtert werden können. Wir raten deshalb dazu, bei Entscheidungen auf allen Ebenen der Kirche nicht den Begriff der Volkskirche - unter dem im einzelnen oft sehr Gegensätzliches verstanden wird - als maßgebliches Kriterium vorauszusetzen. Auszugehen ist im Sinne der dritten Banner These vielmehr von der Kirche als Gemeinde von Schwestern und Brüdern, die dazu berufen ist, als Glaubensgemeinschaft in Zeugnis und Dienst zu leben. Damit spitzt sich die Frage nach der Kirche als Institution zu: Wie entsprechen sich Botschaft und Ordnung einer Kirche, die das Eigentum Jesu Christi ist und deshalb als Gemeinde von Schwestern und Brüdern lebt?" - Die Untauglichkeit zum Programmbegriff wird auch bei W. HUBER, Kirche, Stuttgart 1979, 171 f. und H. SCHRÖER, Kirche. IX. Praktisch-theologisch, TRE XVIII, Berlin-New York 1989, 338 unterstrichen.
29
Vgl. E. STAMMLER, Die Hand an den Pflug legen. Ist die Volkskirche ein auslaufendes Modell? EK (1992), 261-263.
Kann eine Minderheitskirche Volkskirche sein?
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Der Weg der Kirchen in der DDR zeigt folgendes: Selbst in einer rechtlich ungesicherten Minderheitenlage können volkskirchentypische Züge fortbestehen und Offenheit, Kontaktfahigkeit, gesellschaftliche Relevanz (wenn auch primär als Gegeneffekt zu offizieller Marginalisierung), Pluralität und missionarische Reichweite der Kirche ermöglichen. Erst recht können volkskirchentypische Züge zur Entfaltung kommen, wenn eine solche Minderheitskirche die Vorzüge einer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung zu nutzen versteht. Die Volkskirche muß also nicht nach den Größenordnungen der numerischen Repräsentanz agieren, auch wenn sich auf dem Hintergrund des überproportionalen Verlustes an Mitgliedern erhebliche Probleme bei der Finanzierung ihrer Arbeit ergeben. Mit anderen Worten: Auch eine Minderheitskirche kann wesentliche Merkmale des Typus „Volkskirche" aufweisen. Also kann auch eine Minderheitskirche als Volkskirche in Erscheinung treten. Ein deutlicher Hinweis auf den Mangel des vorliegenden Versuchs kann abschließend nicht umgangen werden. Die Überlegungen konzentrierten sich auf die Beschreibung äußerer Rahmenbedingungen kirchlichen Handelns im Kontext einer traditionell noch kirchenoffen eingestellten Gesellschaft. Die Beschreibung von Rahmenbedingungen ist notwendig, aber sie darf mit der ekklesiologischen Aufgabe des Systematischen Theologen nicht verwechselt werden. Mit dem Ausdruck „Volkskirche" rückt vorrangig der vorfindliche Sozialzustand der Kirche ins Blickfeld. Über die theologische Charakterisierung der Kirche als „Leib Christi" oder als „Gottesvolk des neuen Bundes" ist damit noch keine Entscheidung getroffen. Das gleiche gilt hinsichtlich der theologischen Bestimmung des Auftrags der Kirche und des immer spannenden Problems, welche Rückkoppelungen und auch Kritiken sich aus der Auftragsbestimmung für die Darstellung der Sozialgestalt der Kirche in der Welt von heute ableiten lassen. Bekanntlich stößt man hier auf neue Untiefen. Wie geht man damit um, daß in Kirchen, deren Evangeliumsverkündigung das „sola fide" zum konstitutiven Merkmal des Christseins erklärt hat, kaum noch verstanden und nachvollzogen wird, was es heißt, sein Leben exklusiv auf das Evangelium zu gründen? Das Gefühl der Verbundenheit mit der Kirche, das demoskopisch skaliert und erfaßt werden kann und auch nach der neuesten Befragung gar nicht so ungünstig aussieht, wie man schon befürchtet hatte, 3 0 sagt noch nichts über den faktischen Wert gelebten Christseins, von dem die öffentliche Ausstrahlung der Kirche nicht unwesentlich abhängig ist.
30
Vgl. Fremde Heimat Kirche (Anm. 2), 7: „1992 fühlen sich der Kirche mehr Menschen verbunden als bei den Befragungen 1972 und 1982."- Es ist jedoch verfehlt, diesen Befund als Anlaß zur Sorglosigkeit zu nehmen!
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Systematische Theologie
Grundsätzlich wird man sagen dürfen, daß die aufgelisteten volkskirchentypischen Erkennungsmerkmale in eine Korrespondenz zu den an neutestamentlichen Aussagen orientierten Fundamentalbestimmungen der Ekklesiologie rücken können, sie sind ekklesiologiefáhig. Sie sind in dem Maße ekklesiologiefáhig, wie die Kirchen es verstehen, die Menschen in ihrer Ansprechbarkeit auf das Evangelium zu fördern und ihnen die „Botschaft von der freien Gnade Gottes" (Barmen VI) als lebenstragende Gewißheit zu vermitteln. Den Status quo vorfindlicher Kirchlichkeit werden die Kirchen in der Erinnerung an den Auftrag ihres Herrn nicht auch noch zum Idealzustand protestantischen Kirchentums verklären können. Wenn es sich so verhielte, dann wäre nur noch das bedarfsorientierte Management der Bestandspflege gefragt. Eine solche Bestandspflege wird die weitere Auszehrung der Kirche kaum aufhalten können. Tatsächlich aber sollen die Kirchen wachsen, sind die Christen gerufen, in fröhlicher Gewißheit Menschen für Jesus Christus zu gewinnen. Eine Kirche, die wachsen will - eine Kirche also, die ihren Herrn und deshalb sich selbst recht versteht -, wird den Status quo vorfindlicher Kirchlichkeit allerdings auch nicht verachten oder in elitärem Sendungsbewußtsein disqualifizieren. Sie wird die damit eröffneten Spielräume als Chance nutzen, auf die Menschen zuzugehen - im Wissen, daß sie ihnen das Wichtigste vorenthält, wenn sie das Evangelium verschweigt.
Gerechtigkeitsverständnis und die Problematik einer politischen Ethik LUTHERS
Norbert Müller, Leipzig
In der dogmatischen Tradition protestantischer, zumal lutherischer Prägung hat der Diskurs über Wesen und Bedeutung von Gerechtigkeit seinen Platz in drei verschiedenen Zusammenhängen der systematischen Darstellung: Einmal dort, wo von der Gerechtigkeit Gottes zu handeln ist; dann im zentralen, soteriologischen Teil des Lehrgefüges, wo darzustellen ist, daß die Gerechtigkeit Christi dem bekehrten Sünder angerechtnet wird; und schließlich im Zusammenhang mit Erörterungen zur Verantwortung menschlicher Personen und Institutionen für die Verwirklichung einer weltlichen Rechtsordnung. Nach dem von der altprotestantischen Dogmatik übernommenen und in spezifischer Weise weiterentwickelten Schema wird das Problem der Gerechtigkeit also zuerst im dem Lehrstück DE DEO, zuletzt in dem Kapitel DE MAGISTRATU POLITICO, das einen Unterabschnitt der Ekklesiologie bildet, erörtert; zwischen beiden steht unter dem Titel DE GRATIA IUSTIFICANTE die Rechtfertigungslehre.1 Gerechtigkeit als politische Tugend und Gerechtigkeit als Prädikat göttlichen Heilshandelns werden in diesem Schema nicht ausdrücklich zueinander in Beziehung gesetzt. Die politische Ethik des Luthertums profitiert offenbar nicht von der zentralen Funktion, die dem Gerechtigkeitsbegriff in Gotteslehre und Soteriologie zukommt. Das Herz der reforma1
Gotteslehre: DAVID HOLLATZ, Examen theologicum acroamaticum (1707), part. I. cap.I., qu.44: „Quae est justitia Dei?"-In der Erörterung „De magistrato politico" (part. IV. cap. III.) erscheint der Begriff der Gerechtigkeit bei HOLLATZ allerdings eher marginal, wenn auch unübersehbar, so bei der Frage (qu. 8) nach der Eignung zur Übernahme politischer Verantwortung, nach den „virtutes Magistratu dignae" hier werden an erster Stelle genannt: „(a) erga Deum Pietas, (b) erga cives & subditos Justitia." In dem das Kapitel abschließenden Suspirium wird als Frucht der Arbeit eines guten Herrschers erbeten, daß er „nos cives suos pios, iustos, felices efficiat". - Rechtfertigungslehre'. Part. III. sect. I. cap. VIII., qu. 1: „Quid est iustificatio? Iustifìcatio est actus gratiae, quo DEUS Judex iustissimus et misericordissimus homini peccatori ... iustitiam CHRISTI imputât."
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Systematische Theologie
torischen Theologie schlägt nicht für die „zeitliche" sondern für die „ewige" Gerechtigkeit; ja, diese, nicht jene ist recht eigentlich die „Gerechtigkeit des Herzen" 2 Wenn man auch einräumen kann, daß die Entfaltung einer politischen Ethik ohnehin nicht Aufgabe eines dogmatischen Lehrsystems sein kann, sondern eine Spezialaufgabe darstellt, die den Rahmen dieses Systems sprengt, so wird damit die Problematik, die sich uns angedeutet hat, nicht aufgehoben, sondern nur verlagert: Die altlutherische Drei-Stände-Lehre ist im Lehrschema wohl der Ekklesiologie zu- und damit der Dogmatik eingeordnet; aber ihre hohe und - nach heutiger Sicht - disziplinübergreifende Bedeutung liegt ja darin, daß sie mit hoher integrativer Kraft Kirche und Gesellschaft aufeinander bezieht, ja geradezu mit einander verzahnt. Mit dieser Lehre enthält damit die Dogmatik eine Ethik in nuce, denn alle Aufgabenstellungen einer Ethik sind auf die in dieser Lehre aufgedeckten Beziehungen zwischen den Menschen in ihren verschiedenen Bindungen und Verantwortlichkeiten zurückzuführen. Wenn die Ethik sich von ihrer Einbindung in die Dogmatik emanzipiert, ist sie damit nicht der Aufgabe enthoben, sich über ihren Gerechtigkeitsbegriff theologisch Rechenschaft abzulegen. Um hier Klarheit zu gewinnen, muß die Theologie unbedingt darauf aus sein, ihr dogmatisch-soteriologisches und ihr ethisch-anthropologisches Gerechtigkeitsverständnis zueinander positiv in Beziehung zu setzen. Diese Aufgabe ist, obwohl sie zweifellos grundsätzlich erkannt ist, bisher nicht mit der ihrer Bedeutung entsprechenden Konsequenz in Angriff genommen worden; vielmehr scheint sich bisher eine gewisse (nicht in den Personen, sondern in der Tradition des systematischen Denkens begründete) Berührungsscheu ausgewirkt zu haben, die gleiche Scheu, die z. B. bei Auseinandersetzungen um die sogenannte „Zwei-Reiche-Lehre" LUTHERS immer wieder dazu geführt hat, lieber und vor allem zu unterscheiden und zu trennen als konstruktive Beziehungen zu suchen.3 Die Suche nach solchen Beziehungen ist die Aufgabe, der die folgenden Betrachtungen dienen wollen. 2
3
„Dann das Evangelium lehrt nicht ein äußerlich, zeitlich, sondern innerlich, ewig Wesen und Gerechtigkeit des Heizen" CA XVI,4 (BSLK 71). - E. SCHOTT hat aus dieser charakteristischen Formulierung mit Recht den Titel seiner „kontroverstheologischen Untersuchung zum Konkordienbuch" „Die zeitliche und die ewige Gerechtigkeit" (Berlin 1955) abgeleitet. Ein Beispiel dafür, daß das Problem gesehen, aber nicht weiterverfolgt wird, bietet M. HONECKER, Einführung in die Theologische Ethik, Berlin/New York 1990 (GLB), 188ff.: Hier wird die reformatorische Unterscheidung zweier Gerechtigkeitsbegriffe ausdrücklich hervorgehoben, aber nur als theologiegeschichtliches Phänomen ins Auge gefaßt.
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1. Traditionslinien Die erwähnte Berührungsangst ist freilich nicht allein auf spezielle Eigenarten der reformatorischen Theologie zurückzufuhren. Ihre Ursprünge reichen weiter zurück, im Grunde bis in die Anfange einer christlichen Theologie. Wie diese in den ersten Jahrhunderten ihrer Geschichte sich allmählich durch das Zusammenfließen der Traditionsströme biblischer Gotteserfahrung und griechischer Spekulation geformt hat, wurden auch in ihren BegrifFsschatz Elemente aus beiden Herkunftsbereichen aufgenommen und nach Möglichkeit zu einem neuen Ganzen integriert. Rein genetisch betrachtet, hat es die christliche Theologie daher von vorn herein mit einem doppelten, oder auch, wenn man schärfer unterscheiden will, mit zwei verschiedenen Begriffen von Gerechtigkeit zu tun. Die Ursprünge des einen Begriffs liegen in der spezifischen Zuspitzung biblischen Erzählens auf die sich in den Geschicken des Volkes Israel offenbarende Wirklichkeit Gottes. Das biblische Motiv der Gerechtigkeit Gottes ist also zugleich streng geschichts- und streng offenbarungsbezogen. Vom neuzeitlichen Denken aus rückblickend gedeutet, ist die geschichtliche Offenbarung also zugleich Gottesbeweis und Theodizee; oder, anders ausgedrückt: Für die biblische Gottesvorstellung fallen Wirklichkeit und Wesen Gottes zusammen. Der in der Geschichte sich offenbarende Gott ist der Gerechte. Diese Gerechtigkeit des Wirkens wird in der Bibel freilich nicht exklusiv vom göttlichen Handeln ausgesagt; es gibt im Hinblick auf sie keine strenge Trennung zwischen göttlichem und menschlichem Bereich. Die hebräische Vokabel Π£Π1ί kann als „funktioneller Begriff', als „gemeinschaftsgemäßes Verhalten" gedeutet werden;4 in diesem Sinn kann dann Abrahams Gottvertrauen (Gen 15,6) ebenso unter den Begriff fallen wie die hilfreiche Zuwendung, um die der Psalmbeter seinen Herrn bittet (Ps31,2). Die gesamte biblische Überlieferung ist vielfältig von Bekundungen eines zugleich strengen und lebendigen Gerechtigkeitsempfindens durchwirkt. Dort, wo das Gottes-, Selbst- und Weltverständnis des einzelnen Menschen als problematisch erfahren werden, kann daher immer auch das Gerechtigkeitsverständnis zur Diskussion stehen, so im Hiob- und im Predigerbuch. Aber nirgends wird Gerechtigkeit als abstrakte Norm verstanden; sie verwirklicht sich nur im Vollzug. Daher kann der
4
K. KOCH, Art.: PNS sdq, THAT 2, 507-530, 515 (nach H. CREMER, Die paulinische Rechtfertigungslehre im Zusammenhang ihrer geschichtlichen Voraussetzungen, 2
1909).
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Systematische Theologie
Plural „Gerechtigkeiten" geradezu zum Synonym für Gottes Taten werden (Ps 103,5 u. ö.)· Der neutestamentliche Sprachgebrauch schließt sich an dieses Verständnis unmittelbar an; nur tritt hier die zugleich unübersehbare und unerträgliche Spannung zwischen der Welt- und Lebenserfahrung und dem Verwirklichungsanspruch der Gerechtigkeit, also das „Hungern und Dürsten nach Gerechtigkeit", noch nachdrücklicher als Thema in den Vordergrund. Die theologischen Entwürfe aller neutestamentlichen Autoren können als Versuch verstanden werden, das Kommen Jesu als Anbrach einer neuen Epoche der Gerechtigkeit erkenntlich zu machen. Der andere Gerechtigkeitsbegriff, mit dem wir es hier zu tun haben, wurde in der griechischen Philosophie der klassischen Periode, also besonders durch PLATON und ARISTOTELES, voll ausgebildet und hat eine bis in die Gegenwart reichende Wirkungsgeschichte. Seine Ursprünge liegen nicht im religiösen, sondern im gesellschaftlich-politischen Erfahrungsbereich - das ist zur Kennzeichnung vorwegzunehmen, wenn auch zugleich deutlich sein muß, daß sowohl im alten und neueren Israel als auch im klassischen Griechenland (wie ebenso später im römischen Reich) religio und polis durch vielfältige institutionelle und emotionale Bindungen eng miteinander verflochten waren. Die Dialoge PLATONs, vielleicht schon das Denken seines Lehrers SOKRATES, lassen das Suchen nach Gerechtigkeit, genauer nach einem möglichst präzisen Gerechtigkeitsbegriff, als ein immer deutlicher hervortretendes Hauptmotiv erkennen. Gerechtigkeit wird hier als Gesinnung, Verhaltensweise, Grundverfassung des Menschen verstanden; des Menschen, der unter Menschen lebt und in seinen Beziehungen zu ihnen ganz bestimmte Rechte behaupten darf und berücksichtigen muß, der aber vor allem und zuerst auch in sich selbst Ordnung geschaffen hat. Denn wie im Staat dann Gerechtigkeit herrscht, wenn in ihm Jeder das Seinige und Gehörige hat und tut" 5 , so liegt die individuelle Gerechtigkeit des Menschen „nicht an den äußeren Handlungen in bezug auf das, was dem Menschen gehört, sondern an der wahrhaft inneren Tätigkeit in Absicht auf sich selbst und das Seinige, indem einer nämlich jegliches in ihm nicht Fremdes verrichten läßt noch die verschiedenen Kräfte seiner Seele sich gegenseitig in ihre Geschäfte einmischen, sondern jeglichem sein wahrhaft Angehöriges beilegt und sich selbst beherrscht und ordnet und Freund seiner selbst ist" 6 . Schon bei PLATON wird also erkennbar, daß die ethische Tugend der Gerechtigkeit ihrem Wesen nach nur dann hinreichend
5
PLATON, Politela 433e; Übersetzung v. F. SCHLEIERMACHER, Piaton, Werke, Darmstadt
6
A. a. O. (Anm. 5), 443d; Übers. 357.
1990, IV, 325.
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genau bestimmt werden kann, wenn sie in ihrem anthropologischen Zusammenhang gesehen wird: Menschliches Handeln wird nur dann als gerecht prädiziert werden können, wenn der handelnde Mensch in seiner Grundverfassung selbst dieses Prädikat verdient. Noch schärfer hat dann ARISTOTELES diesen Zusammenhang von Anthropologie und Ethik gerade im Hinblick auf den Gerechtigkeitsbegriff herausgearbeitet. Für ihn sind die sittliche Qualität menschlicher Handlungen und die moralische Verfassung des handelnden Menschen voneinander abhängig, und zwar so, daß die moralische Verfassung „Gerechtigkeit" im Menschen durch die Einübung in gerechtem Handeln ausgebildet werden muß. Voraussetzung für beides ist wohl ein Wissen über Gerechtigkeit; aber dieses allein reicht nicht aus, um den Menschen gerecht zu machen. Erst der Mensch, der diesem Wissen folgt und gerecht handelt, kann als Gerechter bezeichnet werden. Andererseits gilt: Eine richtige Handlung allein und für sich macht noch nicht gerecht im strengen Sinn des Wortes; es kommt auf die Lebenspraxis und Grundgesinnung im ganzen an, in deren Zusammenhang sie steht: „Für den Besitz sittlicher Vorzüge ... bedeutet das Wissen wenig oder nichts, wogegen auf die anderen Bedingungen nicht wenig, sondern schlechthin alles ankommt, jene Bedingungen, die verwirklicht werden, indem man häufig gerechte und besonnene Handlungen vollzieht... Indes, gerecht und besonnen ist nicht ohne weiteres jeder, der solche Handlungen vollzieht: er muß sie auch im selben Geiste vollbringen wie die gerechten und besonnenen Menschen. Es ist also richtig, zu sagen, daß ein Mensch gerecht wird, wenn er gerecht handelt, und besonnen, wenn er besonnen handelt." 7
Diese prinzipielle Erörterung, die das Wesen der Gerechtigkeit als Tugend betrifft, wird bei ARISTOTELES durch eine materiale Kennzeichnung der Gerechtigkeit vervollständigt, der das ganze 5. Buch der Nikomachischen Ethik gewidmet ist. Der Gedanke der Angemessen- und Ausgewogenheit, der schon PLATONS Gerechtigkeitsverständnis bestimmte, wird bei ARISTOTELES durch die Unterscheidung von „zuteilender" und „ausgleichender" Gerechtigkeit weitergeführt und konkretisiert und an die Möglichkeit staats- und privatrechtlicher Anwendung herangeführt.8 Daß für ARISTOTELES die freie Willensentscheidung zu den Merkmalen der sittlichen Handlung und Haltung gehört,9 sei hier nur ergänzend vermerkt. - Auch dieser Gerechtigkeitsbegriff zielt auf „gemeinschaftsgemäßes Verhalten", als Israel mit dem griechischen Geist in Berührung trat, ließ sich durch δικαιοσύνη übersetzen. Es 7 8 9
Aristot EthNic 11,3 (1105b); Übersetzung von F. DIRLMEIER, Berlin 1967, 33. Bes. Aristot EthNic (Anm. 7) V.5-7 (1130b-l 132b). Aristot EthNic III.
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Systematische Theologie
darf auch gesehen werden, daß nicht nur im Zusammenhang der alttestamentlichen Offenbarungstradition, sondern auch in der Philosophie von PLATON und ARISTOTELES der Gerechtigkeitsbegriff in eine Sicht der Wirklichkeit eingebunden war, in der die menschlichen Dinge auf ein übergeordnetes, göttliches Sein hin orientiert waren. Dennoch bleibt dieser Begriff hier hinreichend eindeutig definierbar „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", während Gerechtigkeit nach biblischem Verständnis, gerade auch unter dem Aspekt ihrer Funktionalität, Gottesoffenbarung und -beziehung voraussetzt.
2. Christliche Theologie als Synthese
Es ist hier nicht der Ort, über die Gültigkeit von HARNACKS genialem dogmengeschichtlichen Fundamentalsatz zu rechten, das christliche Dogma sei „in seiner Conzeption und in seinem Ausbau ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums" 10 . Daß griechisches Denken und biblisches Kerygma in der sich entfaltenden christlichen Theologie einen Raum fanden, einander zu begegnen, zu durchdringen und zu beeinflussen und so jene „Berührungsangst" in einer, wenn auch vielleicht problematischen Synthese der beiden Traditionskomplexe zu überwinden, muß unbestritten bleiben, unabhängig von der Wertung dieser Entwicklung. Die Geschichte des Gerechtigkeitsbegriffes in der Entfaltung der christlichen Theologie bietet dafür aufschlußreiche Belege. Zwei gerade für die theologische Rezeption antiken Gedankengutes repräsentative Beispiele seien hier angeführt. Das Corpus Dionysiacum bietet Texte aus der Periode dar, in der die dogmengeschichtlich wirksame Einwirkung der spätantiken Philosophie auf die Entwicklung des christlichen Denkens im wesentlichen abgeschlossen war. In der Schrift Von den göttlichen Namen wird „Theologie" im strengen Sinn des Wortes, nämlich als Versuch dargeboten, die angemessenen und überhaupt möglichen Formen herauszuarbeiten, mit den Mitteln der Sprache die Wirklichkeit Gottes zu erreichen, also Gott zu benennen. Die „Namen", nomina, sind die Prädikate, die dieser Wirklichkeit beigelegt werden können, insofern sie als „Überwesenheit einerseits als Namenlose, andererseits wiederum mit jeglichem Namen" 11 zu preisen ist. Die Durchmusterung des Wortschat10 11
A. (V.) HARNACK, Lehrbuch der Dogmengeschichte I, 1886, 16. Pseudo-Dionysius Areopagita, Die Namen Gottes 1,6; Übersetzung v. B. R. SUCHLA, Stuttgart 1988, 26 (BGrL 26).
LUTHERS
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zes, der für solche Preisung zur Verfügung steht, fuhrt den Verfasser der Schrift nun auch zum Prädikat der Gerechtigkeit: „Als Gerechtigkeit wiederum wird Gott gepriesen, weil er allem das Gebührende zuteilt, außerdem gemäß der wahrhaft gerechtesten Bestimmung einem jeden Einzelnen Ebenmaß, Schönheit, gute Ordnung, Eingliederung, alle Gaben und alle Rangfolgen festsetzt, und weil er für alles die Ursache ihres verschiedenen selbständigen Handelns ist. Denn die göttliche Gerechtigkeit ordnet und bestimmt alles und schenkt, indem sie alles unvermischt und unvermengt vor allem bewahrt, allem Seienden im Hinblick auf die jedem einzelnen Seienden zukommende Würde das ihn Zustehende."12
Wir finden hier Elemente des platonischen („Ebenmaß, Schönheit, gute Ordnung") und des aristotelischen („allem das Gebührende zuteilt"; „Ursache selbständigen Handelns" ) Gerechtigkeitsverständnisses, also anthropologische Prädikate, in einer problematischen, aber nicht unkritischen Weise auf die Ebene der theologischen Begrifflichkeit übertragen - nicht unkritisch, denn eine Erörterung zur Theodizee schließt sich unmittelbar an: Man könne doch einwenden, es sei „kein Zeichen von Gerechtigkeit, gottgefällige Menschen, die von bösen Menschen belästigt werden, hilflos zurückzulassen", mit dem Lösungsversuch, es entspräche gerade der göttlichen Gerechtigkeit, „die Stärke der Besten durch Zuwendungen materieller Gaben nicht zu verblenden und zu verderben." 13 Mag uns diese Argumentation unbefriedigend erscheinen, so zeigt sie doch an, daß der Wechsel der Argumentationsebene bewußt vollzogen wurde: Die göttliche Gerechtigkeit ist mit den anthropologischen Begriffsbestimmungen nicht erschöpfend bestimmt, aber auch nicht unangemessen gekennzeichnet. Sie teilt wohl zu, aber die Normen, nach denen sie handelt, sind nicht die eines innerweltlichen Wohlstands; sie entsprechen der soteriologischen Orientierung des göttlichen Wirkens: „Diese göttliche Gerechtigkeit wird demnach auch als Rettung von allem gepriesen, weil sie die besondere und lautere Seinsstufe sowie Ordnungsstufe eines jeden Einzelnen gegenüber allem anderen erhält."14
Diese „urgöttliche Gerechtigkeit" 15 teilt so zwar jedem Menschen das ewige Geschick zu, das er durch sein zeitliches Leben verdient hat; aber in der Güte ihrer „urgöttlichen Menschenfreundlichkeit" wirkt sie selbst bei der Vollendung dieses Lebens gnädig mit. 12 13 14 15
A. a. O. (Anm. 11), VIII,7; Übers. 84 f. A. a. O. (Anm. 11), VIII,8; Übers. 85. A. a. O. (Anm. 11), VIII,9; Übers. 85 f. (Pseudo-)Dionysius Areopagita, Kirchliche Hierachie VII,7; Übers, v. J. (1911), 201 f. (BKV).
STIGLMAYR
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In der Formulierung eines christlichen Verständnisses der Wirklichkeit, das dem biblisch-theologischen Traditionsgut ebenso Raum bot wie den aus der vorchristlichen Antike überkommenen philosophischen Einsichten, stellen die im Corpus Dionysiacum erkennbaren Ansätze eine frühe Stufe jener Entwicklung dar, die in den scholastischen Summen ihre Vollendung erreichte. 16 Insofern steht THOMAS VON AQUIN, dessen Summa Theologica wir jetzt nach dem in ihr niedergelegten Gerechtigkeitsverständnis befragen wollen, mit PSEUDO-DIONYSIUS durchaus in einer Beziehung der Kontinuität. Wie dort wird auch bei THOMAS ein bereits bis zu einem gewissen Grade ausformulierter GerechtigkeitsbegrifF vorausgesetzt; auch hier wird er auf seine Brauchbarkeit im theologischen Zusammenhang hin überprüft. Anders als bei DIONYSIUS freilich werden diese kritischen Überlegungen dem Leser explizit vor Augen gefuhrt. Zur Frage nach der Gerechtigkeit Gottes (die THOMAS übrigens, wie DIONYSIUS, mit Gottes Barmherzigkeit zusammensieht) 17 wird, wie es der didaktisch-dialektischen Methode der Summa entspricht, zunächst die theologische Angemessenheit der Fragestellung zur Disposition gestellt. THOMAS geht dabei von der aristotelischen Unterscheidung von „ausgleichender" und „zuteilender" Gerechtigkeit aus. Von ausgleichender oder, wie THOMAS vorzieht, „austauschender" Gerechtigkeit könne im Hinblick auf Gottes Handeln nicht die Rede sein, weil Gott nicht in einer Beziehung des Austausche zu seinen Geschöpfen stehe, wie durch Rom 11,35 bezeugt wird. In allem, was aus Naturnotwendigkeit oder aus freier Willensentscheidung nach der Ordnung der gesamten Schöpfungswirklichkeit geschieht, erweise sich Gott als Lenker (gubernator) im Sinne der zuteilenden Gerechtigkeit; THOMAS beruft sich dafür auf den von uns oben angeführten Dionysiustext. 18 Gott ist also als „gerecht" erkennbar im Sinne der philosophischen Begriffsdefinition; wie diese Definition aber der Wirklichkeit Gottes zuzuordnen ist, muß jeweils mit Hilfe der biblischen Überlieferung oder der theologischen Tradition entschieden werden. Dabei ist bei THOMAS wie schon bei PSEUDO-DIONYSIUS die Scheu erkennbar, die Gottesvorstellung durch Verwendung anthropolo16
Zu den Beziehungen zwischen den pseudodionysianischen Schriften und der Scholastik vgl. Μ. GRABMANN, Die Geschichte der scholastischen Methode I (1909; 2 1956), 90-92. 17 Die Überschriften der Quaestiones in der Summa Theologica stammen zwar nicht von THOMAS selbst, aber die für q. 21 des 1. Teils gewählte, „De iustitia et misericordia Dei" (BAC 77, 170), entspricht den Aussagen der Artikel 1 bis 4, wobei, wieder wie bei DIONYSIUS, die Erörterung ihren Ausgang beim Gerechtigkeitsbegriff nimmt (Art. 1 u. 2) und dann den Barmherzigkeitsgedanken einbezieht (Art. 3 u. 4). 18 Der skizzierte Gedankengang: STh 121 c (Anm. 17). (BAC 77, 170).
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gisch geprägter Begriffe zu sehr zu vermenschlichen. Attribute, die passiones zur Voraussetzung haben (wie etwa temperantia oder fortitudo), könnten Gott nur secundum metaphoram zugesprochen werden. Für das Attribut der Gerechtigkeit gilt für THOMAS diese Einschränkung nicht, solange es auf actiones Deo convenientes und nicht lediglich auf actiones civiles bezogen wird. 19 Im eminenten Sinn gottangemessen ist nach christlichem Verständnis vor allem das göttliche Heilshandeln in Jesus Christus. Dem entspricht die Bedeutung, die der Erörterung des Gerechtigkeitsbegriffs in dem Teil der Summa zukommt, der der Soteriologie gewidmet ist. Die Frage, die sich aus der Wesensbestimmung der göttlichen Gerechtigkeit dabei ergibt, ist, ob rechtfertigende Gnade und iustutia distributiva vereinbar sind. THOMAS erörtert diese Frage vor allem unter dem Gesichtspunkt des Verdienstgedankens: „Kann ein Mensch vor Gott ein Verdienst erwerben?"20 Wiederum legt THOMAS Wert darauf, sorgfältig zu differenzieren. Die zuteilende Gerechtigkeit verlange die Erstattung des gerechten Preises für empfangene Leistungen. Nun ist aber nach ARISTOTELES Gerechtigkeit in diesem Sinn eine Art Gleichstellung (iaequalitas); Gerechtigkeit einfachhin (simpliciter iustitia) kann daher nur dort wirksam werden, wo Gleichstellung einfachhin {simpliciter aequalitas) besteht. Das gilt prinzipiell auch in zwischenmenschlichen Beziehungen, in denen keine einfache Gleichheit herrscht. Entscheidend fur die Soteriologie ist aber für THOMAS, daß zwischen Gott und Mensch höchste, nämliche unendliche Ungleichheit besteht (in infinitum enim distant) und daß außerdem, wenn es um einen gerechten Ausgleich von Leistung und Lohn geht, alles, was sich der Mensch zugute halten könnte, ohnehin von Gott stammt: „Totum quod est hominis bonum, est a Deo."21
Zwingt diese Erkenntnis nicht dazu, die Frage des Artikels negativ zu beantworten? THOMAS differenziert hier erneut: Es könne zwischen Gott und Mensch allerdings nicht Gerechtigkeit aufgrund totaler Gleichheit geben, wohl aber - und das ist wiederum gut aristotelisch - eine aufgrund einer gewissen Verhältnismäßigkeit: „Inquantum scilicet uterque operatur secundum modum suum."
19 20 21
A. a. O. (Anm. 18), ad 1. (BAC 77, 171). STh 1—II, 114, 1. (BAC 80, 806 f.). A. a. O. (Anm. 20), corp. art.
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Gewiß stammt die Fähigkeit des Menschen zu handeln von Gott, und sein Handeln folgt damit, wie alles Geschehen, der Anordnung (ordinatici) Gottes. Aber weil der Mensch, indem er nach dieser Anordnung handelt, (zugleich auch) seiner freien Willensentscheidung (liberum arbitrium) folgt, hat sein Handeln den Charakter eines Verdienstes. Trotz aller Einschränkungen bleibt also der Lohngedanke gesichert, und die Rechtfertigungslehre steht im Einklang mit dem aristotelisch geprägten Verständnis der Gerechtigkeit Gottes. Im bisher Betrachteten deutete sich schon an, daß sich THOMAS der antiken Begrifflichkeit als eines flexiblen Materials bedient, dessen Aktualisierung im Kontext christlicher Theologie von Fall zu Fall (besser: von Frage zu Frage) neu überprüft und verantwortet werden muß. Andererseits stellt dieses Material aber natürlich auch immer neu den Anspruch an die eigene Denkbewegung, in ihr wahrgenommen und ausgeschöpft zu werden. Die Gotteslehre der Summa Theologica hatte den aristotelischen Gerechtigkeitsbegriff bei weitem noch nicht ausgeschöpft; sie hatte sich dabei ja bewußt in den Grenzen des Gottangemessenen gehalten. Darum wird das Thema der Gerechtigkeit in der Tugendlehre der Summa noch einmal in großer Ausführlichkeit aufgenommen. Der Traktat über die Gerechtigkeit als ethische Tugend umfaßt 66 quaestiones, stellt also eine eigene, mehrere hundert Seiten umfassende Monographie dar. 22 Aufschlußreich für uns können nicht die vielen Gesichtspunkte sein, unter denen der Gerechtigkeitsgedanke für THOMAS seine ethisch normative Kraft erweist, sondern uns kann hier nur die systematische Beziehung interessieren, die zwischen dem anthropologisch-ethischen und dem theologisch-soteriologischen Gerechtigkeitsverständnis der Summa besteht. Dazu muß freilich betont werden, daß in einem allgemeinen und formalen Sinn diese systematische Beziehung für THOMAS durch die dogmatische Tradition, in die er eintrat und durch die Anlage seiner Summa, die dieser Tradition entspricht, bereits vorgegeben und damit gesichert war. Denn die Aufnahme des Verdienstgedankens in die Rechtfertigungslehre stellte die theologische Voraussetzung dafür dar, daß das religiöse und sittliche Handeln des Menschen zugleich unter das Zeichen der Gnade23 und das des Verdienstes trat: Der anthropologische und soteriologische Teil 1 —II der Summa schließt mit der Quaestio De merito ab und leitet zugleich zu dem ethisch-anthropologischen Teil 2-II über, der sich als Tugendlehre darbietet und die „theologischen" Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe mit den („philosophischen") Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Selbstbeherrschung nicht nur 22 23
STh 2—II, 57-122. (BAC 81, 361-735). STh 1—II, 114, 2 ff. (BAC 80, 807 ff.).
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einfach zusammenfugt, sondern in einer durchdachten und immer wieder bedenkenswerten Synthese verbindet. Was für uns wichtig wäre, ist die Frage, ob es über diesen allgemeinen systematischen Zusammenhang hinaus eine materiale Beziehung zwischen dem Bekenntnis zur göttlichen Gerechtigkeit und dem GerechtigkeitsbegrifF einer ethischen Tugendlehre festzustellen ist. Von der Begriffsstruktur her ist diese Beziehung für THOMAS natürlich vorgegeben: Die Ethik setzt den gleichen zweifachen GerechtigkeitsbegrifF des ARISTOTELES voraus, mit dem THOMAS schon in Gotteslehre und Soteriologie gearbeitet hatte; ja, er kommt erst hier eigentlich voll zum Tragen; Reichtum und Tiefe des Gerechtigkeitsverständnisses der philosophischen Tradition können hier ausgeschöpft werden, ohne daß die besonderen Bedingungen speziell theologischer Fragestellung zu Einschränkungen zwingen. Danach ist die Gerechtigkeit zwar eine unter vier Kardinaltugenden, aber zugleich ist sie virtus generaliS24; sie ist nach ARISTOTELES „omnis virtus". Alle Tugenden lassen sich in gewisser Weise auf sie zurückführen, 25 denn sie hat eine besondere Funktion bei der Verwirklichung des allgemeinen Wohles; sie koordiniert das menschliche Handeln mit der gesetzlichen Norm. 26 Das bedeutet aber, daß die Gerechtigkeit auch in alle Bereiche hineinwirkt, in denen solche Normen Geltung haben. So kommt es im Traktat über die Gerechtigkeit zu einer Rekapitulation der wichtigsten gesetzlichen Normen, und das sind nicht nur solche der bürgerlichen, sondern auch der kirchlichen Lebensordnung; das Evangelium ist ja für die Systematik des THOMAS „nova /ex" 2 7 . So kann dann in ganz organischer Weise die religio („quae Deo debitum cultum affert") der Gerechtigkeit zugeordnet werden, und zwar ausdrücklich nicht als „theologische", sondern als „moralische Tugend." 2 8 Auch die konkreten Fragen des religiösen Lebens, etwa nach Gebet und Anbetung, 29 werden hier zur Sprache gebracht (soweit sie nicht dem 3. Teil der Summa zugeordnet sind, der Christologie mit Ekklesiologie und Sakramentslehre zusammenfaßt). Wie in der gesamten Tradition von PLATON an, aber auch in Übereinstimmung mit grundlegenden Aussagen der biblischen Überlieferung wird also „Gerechtigkeit" als übergreifender Wertbegriff betrachtet, der nicht nur für das individuelle Verhalten, sondern auch im gesellschaftlichen und im religiösen Bereich
24 25 26 27 28 29
STh 2—II, 58, 5. (BAC 81, 371 f.); dazu Aristot EthNic V,3 (1130a). A.a.O., 6. (BAC 81, 372f.). A. a. O. (Anm. 25), 5 c. STh 1—II. 106. (BAC 80, 738 ff.). STh 2—II, 81 ; Zitat art. 5 c. (BAC 81, 499). A. a. O., qu. 83 f. (BAC 81, 507ff.).
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Normen setzt. Der unmittelbare Bezugspunkt dieser Normen und damit auch der Verwirklichung des Wertes „Gerechtigkeit" ist das richtige Handeln. Auch dort, wo, wie in der Beziehung zwischen Gott und Mensch, der Eingriff der göttlichen Gnade unentbehrlich wird, ist ihr Ziel das menschliche Werk, das seinen Lohn verdient.30 Eine Synthese von antiker und biblischer Denkhaltung von bestechender systematischer Geschlossenheit und Überzeugungskraft ist hier vollzogen.31
3. Reformatorische Unterscheidung Im vorhergehenden Abschnitt haben wir versucht, den begriffsgeschichtlichen Hintergrund mit Hilfe einiger für die Denktradition repräsentativer Zeugnisse zu skizzieren, vor dem sich LUTHERS reformatorische Suche nach einer neuen Sicht abspielte. Um die individuelle und die allgemeine Bedeutung des Kampfes zu verstehen, auf den sich LUTHER dabei einließ, ist es wichtig zu sehen, daß LUTHER die Auseinandersetzung wohl als ein sehr persönlich Betroffener mit aller Spontaneität und Impulsivität seines Charakters gefuhrt hat, daß er in sie aber nicht naiv, nicht als ein Außenseiter des schulmäßigen Denkens eingetreten ist: Er war in den akademischen Methoden der philosophischen, speziell der aristotelischen Geistesbildung ebenso zuhause wie in denen der theologischen Exegese. Aus den oft sehr scharfen, abwertenden und zum Teil ungerechten Bemerkungen, die sich bei ihm über die theologische Tradition, so auch gerade über PSEUDO-DIONYSIUS und THOMAS finden,32 spricht nicht eine grundsätzliche Ablehnung jeder Art von geistiger Kontinuität, sondern ein
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Über die Beziehung von Gnade und opus meritorium bes. STh 1-Π, 114, 3c. (BAC 80, 808 f.). Es liegt hier eine ähnliche Verbindung zweier Motive vor, wie sie A. NYGREN in seiner großen Monographie Eros und Agape ( 2 1955) für den Begriff der Liebe kritisch analysiert. Noch entschiedener als NYGREN möchten wir versuchen, für ein christliches Gerechtigkeitsverständnis die Möglichkeit, ja Notwendigkeit anzudeuten, auf die NYGREN für den Liebesgedanken hinweist: „Der Christ als Kanal für Gottes herabströmende Liebe" (a. a. O., 577). Über DIONYSIUS vgl. z. B. WA.TR 1, Nr. 644: „Sic mystica theologia Dionisii sunt merissimae nugae ... : Relique sensum et intellectum et ascende super ens et non ens. In istis tenebris est ens? Deus est omnia."-Über THOMAS WA.TR 3, Nr. 3722: „Thomas est loquacissimus, quia est metaphysica seductus."
LUTHERS
Gerechtigkeitsverständnis und die Problematik einer politischen Ethik 335
tiefgreifendes erfahrungsbedingtes geistliches und theologisch-sachliches Ungenügen an bestimmten Antworten, die er in der Schulüberlieferung vorfand. Es war nun gerade der Gerechtigkeitsbegriff und speziell der der Gerechtigkeit Gottes, an dem sich FÜR LUTHER die geistige und geistliche Auseinandersetzung entzündete, aber von dem aus er auch zu dem Lösungsweg gelangte, der ihn zum theologischen Reformator werden ließ. Wir wollen jetzt nicht auf die umstrittene Frage eingehen, ob und inwieweit der Text, in dem LUTHER gegen Ende seines Wirkens öffentlich Rechenschaft über die reformatorische Wende in seinem Denken ablegte, biograpisch und vor allem chronologisch zuverlässige Informationen übermittelt. Was seine theologische Substanz angeht, so kommt ihm als authentischem Selbstzeugnis aber ein ungewöhnliches Gewicht zu. LUTHERS Vorrede zur Gesamtausgabe seiner lateinischen Werke aus dem Jahre 1545, auf die wir uns hier beziehen,33 ist deshalb von so großer Bedeutung für uns, weil hier das gesamte unerhört komplexe Konfliktmaterial, das LUTHER in seinem theologischen und kirchlichen Wirken aufzuarbeiten sich bemüht hat, in einer einzigen exegetisch-hermeneutisehen Problemstellung zusammengedrängt erscheint: Wie der Begriff „Gerechtigkeit Gottes" in Rom 1,17 zu verstehen sei, wo es im Vulgatatext, auf den sich LUTHER hier bezieht, heißt „Iustitia enim Dei in eo revelatur ex fide in fidem, sicut scriptum est: iustus autem ex fide vivit." LUTHER bekennt, das Wort „Gerechtigkeit Gottes" geradezu gehaßt zu haben. Nach herkömmlichem Verständnis korrespondierten in dieser paulinischen Aussage die beiden Worte iustitia (Dei) und iustus (homo) in begrifflich zwingender Weise: Da Gerechtigkeit sich, entsprechend aristotelischem Denken, nur im Akt verwirklicht, gehen in der Beziehung zwischen Gott und Mensch göttliche und menschliche Gerechtigkeit in den ihnen jeweils angemessenen Aktionen gewissermaßen aufeinander zu, und Gott als Richter erklärt den für gerecht, der im Glauben gerechte Handlungen hervorbringt. Wer solche nicht aufzuweisen hat, muß mit dem Zorn des Richtergottes rechnen.34 LUTHER konnte mit diesem Verständnis deshalb nicht ins Reine kommen, weil sein Gewissensernst ihm nicht gestattete, sich als „Gerechten" vor Gott zu verstehen; sein untadeliges Mönchsleben konnte ihn in dieser Frage nicht beruhigen:
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WA 54, 179-187. - Zu den vieldiskutierten allgemeinen und speziellen Interpretationsproblemen vgl. bes. O. H. PESCH, Die Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin, Mainz 1967 (WSAMA.T 4), 163-166 u. passim; dort auch weitere Literaturangaben; vgl. auch: DERS., Hinführung zu Luther, Mainz 1982, 81-102. WA 54, 185 f.
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Sollte es der ganze Sinn des (paulinischen) Evangeliums sein, das erschrokkene Gewissen des wiederum nur an die Strafdrohung des Gesetzes zu erinnern? Die Wende stellt sich für LUTHER dadurch ein, daß er zu einer neuen Auffassung des Begriffs „Gerechtigkeit Gottes" gelangt, die der in der philosophisch-theologischen Tradition festgelegten diametral entgegensteht. LUTHER hat den Gegensatz in die Formel gefaßt, daß die Gerechtigkeit Gottes, die durch das Evangelium offenbart werde, nicht als iustitia activa, sondern als iustitia passiva verstanden werden müsse. Die Frage, ob und inwiefern in diesem Zusammenhang im Sinne LUTHERS von einer Passivität auf Seiten Gottes geredet werden müsse, kann deshalb unerörtert bleiben, weil sie nicht im Mittelpunkt des soteriologischen Interesses steht, das LUTHER hier bewegt. Entscheidend ist für ihn, daß im Zeichen der iustitia passiva der Richterspruch Gottes nicht länger von den Aktionen einer schon etablierten menschlichen Gerechtigkeit abhängt: Gottes Gerechtigkeit besteht nicht länger allein darin, die Sünder zu verurteilen, sondern darin, daß Gott sie durch das Medium des Glaubens rechtfertigt (iustificat per fidem). Es gilt also im Paulustext nicht mehr: „Iustus - ex fide vivit", sondern „iustus ex fide - vivit" LUTHER bekennt in seinem Rechenschaftstext, er habe sich durch diese Einsicht „gänzlich neugeboren gefühlt" 35 , und es erschließt sich ihm von daher ein neuer Zugang zu den überlieferten Gottesprädikaten der Schultheologie. Jede Prädikation entspricht nicht einem Sein, sondern einem schöpferischen, eigentlich ncMschöpferischen Wirken Gottes: Gottes Werk wirkt in uns, Gottes Tatkraft macht uns fähig, Gottes Weisheit macht uns weise; im gleichen Sinne könne man, so meint LUTHER, vom Mut, vom Heil, von der Ehre Gottes sprechen. Daß LUTHER in diesem späten Rechenschaftsbericht nicht der Gefahr der nachträglichen Stilisierung erlegen ist, belegen viele Texte aus seiner frühen theologischen Arbeit, am eindrucksvollsten die Passage aus den Scholien zum Römerbrief (1515/16), in der Rom 1,17 ausgelegt wird. Dort heißt es zu „Iustitia Dei revelatur": „In den menschlichen Wissenschaften wird die Gerechtigkeit der Menschen offenbart und gelehrt, d. h. wer und wie einer gerecht ist und wird vor sich und den Menschen. Allein im Evangelium aber wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart (d. h. wer und wie einer gerecht ist und wird vor Gott) allein durch den Glauben, durch den dem Wort Gottes geglaubt wird. (...) Und hier wiederum darf unter .Gerechtigkeit Gottes' nicht diejenige verstanden werden, durch die er gerecht ist in sich selbst, sondern [die,]
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WA 54, 186.
LUTHERS Gerechtigkeitsverständnis und die Problematik einer politischen Ethik 3 3 7 durch die wir von ihm her gerechtfertigt werden, was durch den Glauben an das Evangelium geschieht."36
Auch hier schließt sich - unter Berufung auf AUGUSTIN - die Distanzierung von der Tradition des ethischen Aristotelismus an, nach der „die Gerechtigkeit folgt und geschieht aus den Handlungen (ex actibus)" ; denn „nach göttlicher Ordnung geht sie den Werken voran und die Werke entstehen aus ihr". Auch die Wendung der Gottesprädikate ins Soteriologische findet sich bereits in diesem Zusammenhang, wenn es in den Glossen zu Rom 1,16 („virtus enim Dei est in salutem omni credenti") heißt: „Wer an ihn glaubt, ist von Gott her mächtig und weise über alles."37
Wenn LUTHER in diesen Aussagen, die fur das Verständnis seiner reformatorischen Theologie Schlüsselbedeutung haben, entschiedene Distanz zur philosophischen Tradition signalisiert, so wird es allerdings nicht angebracht sein, zur Charakterisierung der hier eingeleiteten Denkbewegung auf den anfangs versuchsweise angewendeten Ausdruck „Berührungsscheu" zurückzugreifen. Die Berührung mit der aristotelisch geprägten Scholastik konnte und wollte LUTHER nicht vermeiden. Er stand, was die Schulung seines eigenen Denkens anging, ganz auf ihrem Boden. Wo es darauf ankam, sich von ihr abzugrenzen., sollte das nicht in der Form eines Rückzugs geschehen, sondern im Sinne einer produktiven Auseinandersetzung. Es galt dabei, dem subtil ausgearbeiteten scholastischen Begriffssystem sehr prägnante Formulierungen entgegenzusetzen, in denen die neue theologische - und zugleich auch anthropologischethische - Sicht dargestellt und begründet wurde. Ein Forum dafür bot die wissenschaftliche Disputation; LUTHER hat in zwei Thesenreihen aus den Jahren 1517 und 1518, der „Disputatio contra scholasticam theologiam"und der Heidelberger Disputation seinen neugefundenen Standpunkt offensiv vertreten. So heißt es gegen den Aristotelismus: „Nicht .werden wir gerecht, indem wir gerecht handeln', sondern nachdem wir gerecht gemacht worden sind, handeln wir gerecht."38 Und daraufhin: „Tota fere Aristotelis Ethica pessima est gratia inimica."39 Und schließlich nochmals: „Nicht der ist gerecht, der viel wirkt, sondern wer ohne Werk viel glaubt an Christus."40 In den Probationes
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WA 56, 171 f. WA 56, 10. Disp. c. schol. phil., Th. 40; WA 1, 226. Ebenda (Anm. 38), Th. 41. Heidelb. Disp. Th. 25; WA 1, 354.
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zu dieser letzten These beruft sich LUTHER ausdrücklich auf den Satz „Iustus enim ex fide vivit" aus Rom 1 und erläutert dazu: „Die Gerechtigkeit Gottes wird nicht kraft häufig wiederholter Akte erworben, wie Aristoteles gelehrt hat, sondern sie wird durch den Glauben eingeflößt. (...) Daher möchte ich jenes ,ohne Werk' so verstanden wissen, nicht daß der Gerechte nicht wirkt, aber daß seine Werke nicht seine Gerechtigkeit erzeugen, sondern eher seine Gerechtigkeit seine Werke. Denn ohne unser Werk wird Gnade und Glauben eingeflößt; unter ihrem Einfluß folgen dann die Werke."41
Eine Berührungsangsi LUTHERS spricht aus diesen Sätzen nicht nur nicht gegenüber der scholastischen Tradition; es spricht auch keine systematischtheologische Scheu aus ihnen, seine soteriologische Grunderkenntnis auf ihre ethischen Konsequenzen hin zu bedenken. Perhorresziert wird allein die in soteriologischer Hinsicht verhängnisvolle Verwechslung von Voraussetzungen und Konsequenzen, die LUTHER bei ARISTOTELES angelegt sah. Und gerade um dieser Verwechslung vorzubeugen, durfte die Aufgabe nicht vernachlässigt werden, auch die ethische Problematik im Blick zu behalten. Daher konnte LUTHER auch nicht daran gelegen sein, das Wort „Gerechtigkeit" allein fur die Rechtfertigungslehre zu beanspruchen und seine Verwendung im Zusammenhang ethischer Problemstellungen gewissermaßen zu sperren. Im Gegenteil: Sein Interesse mußte darin liegen, sich für einen unterscheidenden Gebrauch des Wortes einzusetzen. Es war daher nur folgerichtig, daß LUTHER dieses Problem wiederholt anging, mit dem deutlich erkennbaren Willen zu prinzipieller systematischer Klarheit, aber auch in der Bereitschaft, einen einmal formulierten Lösungsversuch erneut zur Disposition zu stellen. Daß LUTHER innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitraums zwei Predigten zum Gerechtigkeitsverständnis hielt, die Sermones „de triplici" und „de duplici iustitia", in denen die geforderte Unterscheidung in analoger, aber jeweils unterschiedlicher Systematik durchgeführt wird, dokumentiert diese Bereitschaft eindrucksvoll.42 Dabei ist es außerordentlich interessant, wie frei und streng zugleich LUTHER hier mit den Begriffen umgeht. Im ersten Sermon - in dessen lateinischer Überschrift übrigens als deutsche Übersetzung von iustitia das Wort „fromkeyt" angeboten wird - geht LUTHER methodisch - nicht im materialen Sinn - durchaus in der Weise der aristotelischen Ethik vor: Wie ARISTOTELES die Tugenden von den Lastern her bestimmt, erschließt LUTHER hier die Arten 41 42
A.a.O. (Anm. 40), 364. Sermo de triplici iustitia, 1518, WA 2, 43-47; Sermo de duplici iustitia, 1519, WA 2, 145-152.
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Gerechtigkeitsverständnis und die Problematik einer politischen Ethik 3 3 9
der Gerechtigkeit von den Sünden her, denen sie entgegengesetzt (contrariae) sind. So steht 1.) dem „peccatum criminalis" die iustitia, „quae est ex lege", gegenüber, 2.) dem „peccatum essentiale, natale, originale, alienum" die „iustitia ... natalis, essentialis, originalis, aliena, quae est iustitia Christi", und 3 .) dem peccatum „actúale, quod est fructus originalis" die iustitia „actualis, fluens ex fide et iustitia essentiali".43 Freilich ist LUTHERS Interesse hier so sehr auf den soteriologischen - und dem ihm entsprechenden hamartiologischen - Aspekt konzentriert, daß in dem Sermon kein Raum für die positive Entfaltung eines ethischen Gerechtigkeitsverständnisses bleibt. Im Gegenteil: So wird jene Gerechtigkeit, die dem peccatum criminale entgegengesetzt ist (und dem später so benannten usus politicus legis entspricht) kaum in ihrer Bedeutung für das menschliche Zusammenleben, sondern vor allem unter dem Gesichtspunkt der Selbsttäuschung betrachtet, der der Mensch, der auf sie fixiert ist, gewöhnlich verfallt; sie sei eine Gerechtigkeit „nicht der Kinder, sondern der Sklaven", sie bringe „Heuchler" hervor, „hochmütig in ihres Herzens Sinn".44 Auch das Wesen der iustitia actualis wird vor allem nach ihrer problematischen Seite betrachtet, weil mit den ihr entsprechenden guten Werken traditionell der Verdienstgedanke verbunden ist, der die entscheidende Erkenntnis verdunkelt, daß „unsere Werke, wenn man sie fur sich betrachtet, Sünden" sind, denn „Gott gefallen" können sie nur „in Christus".45 So wird also hier der Gerechtigkeitsgedanke einer umfassenden soteriologischen Kritik ausgesetzt, so daß für eine weiterführende ethische Reflexion der Weg verschlossen bleibt. Der Sermon „De duplici iustitia" führt hier weiter. Die soteriologische Radikalität ist nicht abgeschwächt; die Konfrontation mit Werkgerechtigkeit und Verdienstgedanken ist durch die Beschränkung auf lediglich zwei Aspekte der Gerechtigkeit sogar noch präziser herausgearbeitet. Aber es wird Raum dafür geschaffen, wenigstens die Grundzüge „christlicher Ethik vor dem Hintergrund der iustitia Dei" 46 zu umreißen. LUTHER unterscheidet hier die erste Gerechtigkeit der Christen, „aliena et ab extra infusa, haec est qua Christus iustus est, et iustificans per fidem"47, von der zweiten, die „est
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A. a. O. (Anm. 42), 43-46. A. a. O. (Anm. 42), 43 f. A. a. O. (Anm. 42), 46. S. MOHLMANN in der Hinleitung zur Edition von LUTHERS Sermon, in: Martin Luther, Studienausgabe 1, Berlin 1979, 221. -MÜHLMANNS Ausgabe des Sermons bietet neben dieser Einleitung auch eine vor allem auch rechtsgeschichtlich sachkundige Kommentierung des Textes mit reichhaltigen Literaturangaben. WA 2, 145.
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nostra et propria", aber „nicht weil wir sie allein bewirken, sondern weil wir mit jener ersten und fremden zusammenwirken" 48 Schon bei der Erläuterung zur ersten, „fremden"Gerechtigkeit hatte es geheißen: „Durch den Glauben an Christus wird die Gerechtigkeit Christi unsere Gerechtigkeit, und alles, was ihm zugehört und darüber hinaus er selbst wird unser." Nun wird dieser soteriologische Grundgedanke ausdrücklich ins Ethische gewendet und es wird, gut neutestamentlich, von der „Frucht des Geistes" gesprochen, 49 denn, so zitiert und interpretiert LUTHER Paulus, „,Die Frucht des Geistes' - das heißt des geistlichen Menschen, der durch den Glauben an Christus entsteht - , [ist] Liebe, Freude, Friede, Geduld, Güte' u. s. w." 5 0 Grundgedanke einer Lehre vom christlichen Handeln, die sich hieran orientiert, ist, und damit folgt LUTHER treulich dem Episteltext Phil 2,5 ff., der diesem Sermon zugrundeliegt, der der Nachfolge Christi: „So ahmt [diese Gerechtigkeit] das Beispiel Christi nach und wird seinem Bilde gleichförmig. Denn das verlangt Christus, daß, wie er selbst alles für uns getan hat, und nicht fragte, was das seine, sondern nur was das unsere ist und darin Gott dem Vater im höchsten Sinn gehorsam war, so auch wir das gleiche Vorbild den Nächsten darbieten." Was hier angedeutet wird, ist eine Ethik der Dienstbereitschaft·. „Apostolus [Paulus, Phil 2,5 ff.] id vult, ut singuli Christian! exemplo Christi fiant alterius servi."51
Aber ist hier nicht eine Einrede von der Wirklichkeit her erforderlich? Kann der Christ, der sich in dieser Welt zu bewähren hat, dem Beispiel Christi auch darin folgen, daß er als durch Christus Gerechter nun seinerseits den Ungerechten entschuldigt, statt ihn zu verurteilen? Denn darin besteht doch „das Beispiel Christi uns gegenüber: ,Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, um die Welt zu richten, sondern daß die Welt durch ihn gerettet werde.'" 5 2 LUTHER stellt sich dem Einwand, ob es denn nicht richtig sei, Sünden zu strafen: „Wer ist nicht gehalten, die Gerechtigkeit zu verteidigen?" Er antwortet: „Es kann hier keine einfache Lösung geben; darum muß bei den Menschen unterschieden werden. Es gibt nämlich Privatpersonen und Menschen in öffentlichen Ämtern. Diejenigen, die in öffentlicher Verantwortung stehen und [damit] im Dienst Gottes eingesetzt sind ..., betrifft das nicht, was [vorhin] gesagt wurde. Denn ihre Sache ist es von Amts wegen, die Bösen zu strafen und zu richten, die Unterdrückten zu befreien
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WA 2, 146. WA 2, 147. Ebd. (Anm. 49, Zitat Gal 5,22); nächstes Zitat ebenda. WA 2, 148. WA 2, 150; Zitat Joh 3,17.
LUTHERS Gerechtigkeitsverständnis und die Problematik einer politischen Ethik 3 4 1 und zu verteidigen, weil nicht sie, sondern sondern Gott das tut, dessen Diener wir in dieser Sache sind." 53
Was LUTHER dazu zwingt, hier zu differenzieren und den Grundsatz der Nachfolge Christi zu relativieren, ist ausgerechnet eine Frage nach dem Ort und Rang der Gerechtigkeitspflege innerhalb eines vom Evangelium her bestimmten christlichen Lebens. Tritt hier unvermerkt neben der zweifachen Gerechtigkeit des Christen doch noch eine dritte Gerechtigkeit in Erscheinung, die, gewissermaßen unpersönlich und objektiv, im öffentlichen Amt zu praktizieren ist und die erst den für eine politische Ethik eigentlich gültigen Wertbegriff darstellt? Es muß aber festgehalten werden, daß LUTHER hier nicht und nirgends, wo er den Problemkreis der (später so genannten) „Zwei-ReicheLehre" berührt, hinter die Wirklichkeit der Glaubensgerechtigkeit zurückgreift. Auch hört ja der Inhaber eines Amtes nicht auf, zugleich auch Privatperson zu sein. Er kann daher in Konfliktsituationen geraten. LUTHER entwikkelt am Ende seines Sermons in knappen Grundzügen eine Kasuistik der Gerechtigkeitspflege unter diesen Gesichtspunkten: Für Amtsinhaber gilt der Grundsatz, daß ihr Dienst immer nur den anderen zu gelten hat; niemand soll in eigener Sache entscheiden, denn wer Partei ist, kann nicht Richter sein, sondern braucht einen anderen als „Stellvertreter Gottes" 54 . Für den, der als Privatmann seine Angelegenheiten vor den Richter bringt, unterscheidet LUTHER drei Möglichkeiten. Erstens könnte er geneigt sein, das eigene Recht und die Strafe des ihm gegenüber schuldig Gewordenen rigide zu fordern; diese Haltung verwirft LUTHER mit Hinweis auf 1 Kor 6 , 7 . 1 2 . Zweitens gäbe es den Weg, im Sinne von Mt 5,40 auf Vergeltung, ja auf das eigene Recht ganz zu verzichten. Die, die so handeln, nennt LUTHER „Kinder Gottes, Brüder Christi, Erben der künftigen Güter" ; es sind fur ihn die „Waisen, Unmündigen, Witwen, Armen, deren Vater und Richter Gott genannt werden will", und er nimmt zwar den Einwand auf, „Wer könnte in dieser Welt bestehen, wenn er das täte?", aber antwortet darauf sehr trocken, es sei nichts Neues, daß wenige gerettet werden und die Tür eng ist, die zum Leben fuhrt, ja er hält der Einrede entgegen: „Wenn niemand das täte, wie würde dann die Schrift Geltung behalten, die Arme, Waisen, Unmündige als das Volk Chrisü preist?"
betont, daß gerade durch diese Haltung die Gerechtigkeit nicht vernachlässigt, sondern auf eine spezifische Art verwirklicht wird, denn sie sei
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WA 2, 150 f. - Es folgt ein Zitat aus Rom 13. WA 2, 151; nächste Zitate ebenda.
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eher geeignet, den Schuldigen von seiner Sünde abzubringen, als das Vergeltungsprinzip. Eine dritte Haltung kennzeichnet LUTHER mit den Worten, daß sie affectu der zweiten gleiche, nicht aber effectu: Es wird zwar Strafe gefordert, aber nicht zur Vergeltung, sondern zur Besserung. Auch dafür können Schriftworte angeführt werden; aber LUTHER weist auf die Gefahr hin, daß jemand, der meint, aus „Liebe zur Gerechtigkeit" so zu handeln, nachträglich erkennen muß, er habe es „eher aus Zorn und Unduldsamkeit getan". Die Unterscheidung erfordere einen besonders hohen Grad geistlicher Reife. 55 Die Grenze, an der die soteriologisch begründete Individualethik in eine politische Ethik übergeht, wird von LUTHER also sehr sorgfaltig und mit Zurückhaltung, im Bewußtsein der Risiken und der nicht ausgesetzten theologischen Verantwortung betreten. Es sind wohl die Erfahrungen der folgenden Jahre, die LUTHER dazu drängten, hier weitere Schritte zu tun. Deutlich aber dürfte schon bisher geworden sein, daß für LUTHER die Fragen einer Ethik der öffentlichen Verantwortung nicht einfach durch einen Rückgriff auf den aristotelischen Gerechtigkeitsbegriff beantwortbar werden. Es handelt sich in jedem hier ins Auge zu fassenden Fall vielmehr um spezielle Konkretisierungsformen der „zweiten", abgeleiteten Gerechtigkeit, die der „ersten", göttlichen niemals autonom gegenüberstehen kann.
4. LUTHERS politisches Jahrzehnt
Bei den Versuchen, LUTHERS Lebensgang in Perioden aufzugliedern, spielen meist Gesichtspunkte seiner theologischen Entwicklung oder seines reformatorischen Wirkens eine maßgebende Rolle. Für den Zusammenhang unserer Themenstellung ist es ganz aufschlußreich, daß die Impulse, die LUTHER empfing, um seine Gedankengänge zur politischen Ethik zu präzisieren, im Wesentlichen in die Jahre von 1520 bis 1530 fallen, in die Zeit also zwischen dem Jahr der Bannbulle, der großen reformatorischen Schriften und dem Jahr des Reichstags von Augsburg, in deren Mitte die Erfahrung des Bauernkrieges fällt; es sei gewagt, geradezu von seinem „politischen Jahrzehnt" zu sprechen. Zu Beginn dieses Jahrzehnts, 1520, noch vor den bekannter gewordenen drei reformatorischen Schriften, erschien der Sermon „Von den guten Werken". Daß diese zu einem kleinen Buch angewachsene Predigt über die Gebote des Dekalogs dem sächsischen Herzog JOHANN, dem Bruder von 55
WA 2, 152.
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LUTHERS Landesherrn, gewidmet ist, bezeugt - zu dem Zeitpunkt, da sich der Konflikt mit der römischen Kirche immer unausweichlicher zuspitzte, wohl nicht zufällig - eine Hinwendung zu den Trägern der weltlichen Macht, zumal LUTHER seine erste in diesem Jahr veröffentlichte Schrift, die „Tessartadecas consolatoria", bereits dem Kurfürsten FRIEDRICH selbst gewidmet hatte. 56 Und es steht auch in einer wohl nicht zufälligen Beziehung dazu, daß in „Von den guten Werken" eine Anleitung zum christlichen Leben dargeboten wird, in der wichtigen Aspekten politischer Ethik ihr systematischer Ort und ihre geistliche Bedeutung zugewiesen wird. Daß LUTHER, obwohl für ihn Gesetzesdienst und Werkgerechtigkeit in einer soteriologisch verhängnisvollen Beziehung stehen, nachdrücklich auf den Dekalog hinweist, wenn es darum geht, dem Dasein der Christen eine konkrete sittliche Lebensform zuzuordnen, ist kein Widerspruch. LUTHER hatte ja nie Zweifel daran gelassen, daß sich in den Geboten der Willen Gottes offenbart und daß eine christliche Lebensordnung diesem Willen entsprechen müsse; als Frucht freilich, nicht als Voraussetzung der Rechtfertigung durch Christus. Konnte aber unter Zugrundelegung des biblischen Dekalogs ein vollständiges Bild von evangelischer Lebensbewährung zu Beginn des bürgerliches Zeitalters gegeben werden? LUTHER bot eine Vergegenwärtigung und damit eine Umdeutung der alttestamentlichen Normen dar, aber er sah sich damit im Einklang gerade mit der biblischen Überlieferung selbst, die in ihrer tausendjährigen Geschichte nie den Weg der historischen Fixierung auf einen festgelegten Urstatus, sondern den des geschichtlichen Mitgehens und der jeweils erneuerten, reformierten Verwirklichung gegangen war. So wird es LUTHER möglich, Grundmotive einer politischen Ethik in „Von den guten Werken" sogleich in der Auslegung des „erste[n] GebotfsJ der ander taffei Mosi [:] Du solt dein Vatter und Mutter ehrenn"zur Sprache zu bringen.57 LUTHER fragt hier (wie sonst bei Gebotsauslegungen) zuerst nach dem „Werk" dieses Gebotes. Dabei vermittelt er dem Leser sofort den Anspruch, die Geltung des Gebots über den Bereich der Familie hinaus zu erweitern: „Nach den hohen wercken der ersten drey gebot" gebe es „kein besser werck", als „gehorsam und dienst aller der / die uns tzur ubirkeit gesetzt sein". Das „Werk" des Gebots ist also „Gehorsam" und die Bezugsinstanz dieses Gehorsams ist die „Obrigkeit" im weitesten Sinn des Wortes. Es muß freilich gefragt werden, ob unser Wort „Obrigkeit" - das einerseits eine lautliche Modernisierung des von LUTHER gebrauchten Ausdrucks darstellt, andererseits von uns dennoch als veraltet (nicht nur im sprachlichen, sondern auch im 56 57
WA 6, 104-134. WA 6, 250; nächstes Zitat ebenda. (Texte zitiert in der Fassung von BoA 1, 227 ff.).
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materialen Sinn) empfunden wird 58 - überhaupt geeignet ist, den umfassenden Begriff wiederzugeben, den LUTHER im Sinn hatte. 59 Um ein sachgerechtes Verständnis zu erreichen, dürfte es notwendig sein, die allgemeine und anschauliche Vorstellung einer Überordnung zugrundezulegen. Jede denkbare Fixierung der Bedeutung auf bestimmte Institutionen wäre erst aus dieser allgemeinen Vorgabe abzuleiten. LUTHER geht bei seiner Auslegung des 4. Gebots von der Voraussetzung aus, daß es bestimmte vorgegebene Ordnungsbeziehungen gibt, aus denen sich verschiedenartig abgestufte Verantwortungen ableiten. Grundgedanke dabei ist, daß es nie nur Verantwortlichkeit in einer Richtung gibt und daß die Überordnung in keiner der Beziehungen den Charakter der Absolutheit besitzt. So konkretisiert und differenziert sich der von LUTHER aus dem Gebot abgelesene Gehorsamsgedanke in die jeweils bestehende Lebenssituation des einzelnen hinein: Familie, Kirche, Staatsund Erwerbswesen haben je ihre eigene Funktion im menschlichen Zusammenleben, aber sie sind durch die gemeinsame Verantwortungs- und Gehorsamsstruktur nicht nur einander analog, sondern in vielfältiger Weise untereinander verflochten. Es mag heute naheliegen, diese Konstruktion, die jede Art von Über- und Unterordnung als „elterliche" versteht, sich also auf ein patriarchalisches Gesellschaftsverständnis gründet, als schon zu LUTHERS Zeit eigentlich überlebt abzuwerten. Aber es darf doch auf zwei Momente hingewiesen werden, die auch im Rückblick noch zu ihren Gunsten sprechen: Einmal sehen wir hier einen Entwurf, in dem die Fragen der politischen Moral nicht isoliert von den übrigen Themenkreisen der Ethik abgehandelt werden, sondern einbezogen in den gesamten Lebenszusammenhang. 60 Und zum anderen darf darauf hingewiesen werden, daß es für die weitere Entwicklung wohl nicht gleichgül58
Vgl. G. KEMPCKE (Hrsg.), Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Berlin 1984, Bd. 2, 837, Art. „Obrigkeit": „ veraltend".
59
Es darf überhaupt gefragt werden, ob das von LUTHER verwendete Wort „Überkeit" einfach mit „Obrigkeit" gleichgesetzt werden darf. DWb hat 13, 1115 f. bzw. 23, 334 verschiedene Artikel für beide Stichworte und vermerkt zu Überkeit (mit Berufung auf LUTHER) als erste Bedeutung „Vorrang". - An anderer Stelle (s. u. Text zu Anm. 61) findet sich übrigens auch die Form „obirkeit". (Die Aussagekraft orthographischer Varianten darf allerdings nicht überschätzt werden; vgl. zum Text des Erstdrucks StA 2, 13). - Das mit dem Begriff „Obrigkeit" berührten Sachproblem dürfte übrigens insofern nicht ohne Aktualität sein, als auch heute, fast 500 Jahre nach dem „Ewigen Landfrieden" von 1495, in der Frage nach dem Gewaltmonopol des Staates keine völlige Übereinstimmung besteht.
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Der gerade der lutherischen Ethik oft angelastete Hang, die Eigengesetzlichkeit des Politischen in verhängnisvoller Weise zu betonen, findet also in diesem Luthertext gerade keinen Rückhalt.
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tig gewesen ist, daß LUTHER in dem geschichtlichen Augenblick, in dem die Feudalordnung des Mittelalters durch bürgerliche Autonomie auf der einen und fürstlichen Absolutismus auf der anderen Seite abgelöst wurde, für sein Modell von „Obrigkeit" ein Leitbild wählte, das nicht den Machtanspruch, sondern die Fürsorgepflicht zum Ausdruck brachte. Im übrigen bot dieses konservative Modell LUTHER genügend Raum, seinem Entwurf von Würde und Pflicht der „weltlichen obirkeit"61 außerordentlich kritische Züge zu verleihen. Es wird kein idealisiertes Bild von philanthropischen Landesvätern entworfen. Daß der gebotene Gehorsam - LUTHER beruft sich dafür auf Rom 13, Tit 1 und 1 Petr2 - eine harte Pflicht ist, wird von der ersten Zeile an nicht in Zweifel gezogen; sie gilt für LUTHER dennoch uneingeschränkt: „Dann ob sie gleich unrecht thun / wie der kunig von Babylonien dem Volk Israel / dennocht wil got / yhn gehorsam gehalten haben / on all list und gefahr."62
Es ist deutlich: Gerechtigkeit im absoluten Sinn kann bei der weltlichen Obrigkeit nicht gesucht werden. Freilich gibt es eine Toleranzgrenze gegenüber dem Mißbrauch der Macht: „Es were dan das sie öffentlich dringen wolt widder got odder menschen unrecht zuthun. (...) Dan unrecht leydenn vorterbt niemend an der sele / ia es bessert die seien ... Aber unrecht thun das vorterbet die sele / ob es gleich aller weit gut zutrug."
LUTHER weiß in diesem Zusammenhang manches zu sagen von Korruption der Herrschenden63, ungerechten Kriegen64 und vor allem von tiefgreifenden sozialen und sittlichen Mißständen, die unter der Verantwortung der Machthaber zu beheben wären.65 Das Bild, das LUTHER skizziert, ist kein utopischer Entwurf, sondern eine Zusammenstellung möglicher Reformen, ein realistisches Arbeitsprogramm, getragen aber nicht von einer politischen Doktrin, sondern von dem vorgegebenen soteriologischen Grundansatz: „Nu sihe das sein wenig werck der ubirkeit angetzeigt / aber doch ßo gut und ßovil / das sie überflüssig gutte werck / und got zu dienen hat alle stund. Disse werck aber wie die andern sollenn auch ym glauben gahn / ia den glaubenn üben / dan nit yemandt durch die werck furnehm got gefallenn / ßondern durch zuvorsicht seiner huid / solch
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WA 6, WA 6, WA 6, WA 6, WA 6,
258. 259; nächstes Zitat ebenda. 260. 260 f. 261 f.
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Systematische Theologie werck seinem gnedigen lieben got nur zu ehre unnd lob thu / daryn seinem nehsten zu dienen und nutz sein."66
LUTHERS umfang- und wirkungsreichster Beitrag zu unserem Thema, die Schrift „Von weltlicher Oberkeit" erschien 1523 und war wiederum dem Herzog JOHANN VON SACHSEN gewidmet. 67 Unmittelbarer noch als in den früheren Schriften kommt hier die Verantwortung christlicher Regenten in den Blick, die als Glaubende von der befreienden Kraft der Gerechtigkeit Gottes wissen und zugleich unter dem Anspruch ihres Amtes für irdisches Recht zu sorgen haben. Die Spannung zwischen der für die Nachfolge Christi konstitutiven Gewaltlosigkeit und dem Gewaltmandat der Obrigkeit ist für LUTHER unausweichlich. LUTHER hat sie in dieser Schrift durch das Bild von den „zwei Reichen", denen der Christ zugeordnet, und den „zwei Regimenten" (d. h. Herrschaftsformen), denen er dementsprechend untersteht, anschaulich zu machen versucht. 68 LUTHER bestätigt, daß alle, die zum „reych Gottis" gehören, nämlich „alle recht glewbigen ynn Christo ... keyns welltlichen schwerdts noch rechts" bedürfen. Unter den Christen also „sollte welltlich schwerd und recht" nichts „zuo schaffen finden"69 Gerade an dieser Stelle des Gedankengangs nun findet sich eine für unsere Thematik hochbedeutsame Wendung. Warum, so läßt sich LUTHER fragen, brauchen die Christen kein Gesetz? Und er antwortet: „Darumb / das der gerechte von yhm selbs alles und mehr thutt denn alle recht foddern."
Hier wird in unüberbietbarer Prägnanz die lebenspraktische Bedeutung des Rechtfertigungsgeschehens aus LUTHERS Sicht aufgezeigt: Der gerechtfertigte Sünder ist gerecht vor Gott, aber die iustitia passiva, die er an sich geschehen läßt, setzt sich auch notwendig um in ein Tun, das an Rechtlichkeit alle Gesetze überbietet. Freilich ist damit für LUTHER nicht bewiesen, daß Gesetz und Gewalt im öffentlichen Leben überflüssig geworden sind. Allgemein gilt: Da „keyn mensch von Natur Christen odder frum ist / sondern altzumal sunder und boese sind / weret yhnen Gott allen durchs gesetz / daß sie eußerlich yhr boßheytt mit wercken nicht thueren nach yhrem muttwillen üben". Alle, die nicht Christen sind, aber gehören nun zum anderen der zwei Reiche, zum 66 67
68 69
WA 6, 263. WA 11, 245-281; es sei auch hier auf die Textedition von S. MÜHLMANN, StA 3, Berlin 1983, 27-71, besonders auch wegen der beigegebenen Bibliographie, verwiesen, nach der wir im folgenden zitieren. WA 11, 37 ff. (WA 11, 249 ff.). WA 11, 38; folgendes Zitat ebenda.
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„reych der wellt" und unterstehen dementsprechend auch einem andern „regiment" als die Christen; sie sind „unter das schwerd geworffen".70 Die allgemeine Gültigkeit dieses Regiments ergibt sich daraus, daß „unter tausent kaum ein rechter Christ ist", daß also auch die meisten derer, die den Christennamen tragen, der Herrschaft der Sünde und damit des Gesetzes noch nicht vollständig entwachsen sind. So bestehen beide Regimente neben- und ineinander und sind von Gott „verordnet": „Das geystliche / wilchs Christen unnd fnim leutt macht durch den heyligen geyst unter Christo / unnd das welltliche / wilchs den unchristen und boeßen weret / das sie eußerlich muessen frid hallten und still seyn on yhren danck."71
LUTHER hat Wert darauf gelegt, diese beiden Regimenter zu unterscheiden und beides „bleyben"zu „lassen".72 Aber es geht ihm dabei ganz und gar nicht darum, das „weltliche Regiment"von nun an sich selber zu überlassen. Selbstgenügsame Spontaneität ist ja viel eher beim „geistlichen Regiment" vorauszusetzen. Das weltliche aber bedarf der theologischen Kritik und Anleitung, um wirklich zu seiner gottbestimmten Aufgabe zu finden. Auch die Praxis des weltlichen Regiments ist ja unter ein christliches Vorzeichen zu stellen. Das „schwerd" ist ein „gottlicher stand" ; 7 3 und für den Christen gilt: „Es ist eyn werck / des du nichts bedarffest / aber gantz nutz und nott aller wellt und deinem nehisten."74
Staatliche Machtausübung ist also ein Liebesdienst, nicht ein Privileg-, das ist es, was LUTHER grundsätzlich zur Anleitung zu sagen hat; und es wird von ihm im letzten Teil der Schrift nochmals ausdrücklich bekräftigt: Ein christlicher Fürst müsse „ansehen syn unterthan" er dürfe nicht denken „land und leutt sind meyn / ich wills machen wie myrs gefeilet / ßondern alßo. Jch byn des lands und der leutt / ich soils machen / wie es yhn nutz und guot ist." 75 Dabei ist es wichtig, das Recht nicht formalistisch starr zu handhaben: Ein Fürst muß „das recht ia so fast ynn seiner hand haben / als das Schwerd / unnd mit eigener Vernunft messen / wenn wo das recht der strenge nach zuo brauchen odder zu lindern sei"und sich in zweifelsfallen „wider auf todte buecher /
70 71 72 73 74 75
WA WA WA WA WA WA
11, 39. 11, 39 f. 11,41. 11,36. 11, 43 f. 11,64.
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Systematische Theologie
noch auff lebendige koepffe verlassenn / sondernn sich bloß an Gott hallten / yhm ynn den oren ligen / unnd bitten umb rechten verstandt."76 Für Konflikte gilt: „Wo er unrecht nitt straffen kan on groesser unrecht / da lassz er seyn recht faren / es sey wie billich es wolle."77
Insoweit hat LUTHERS Obrigkeitsschrift den Charakter eines evangelischen „Fürstenspiegels". Aber gerade wenn wir das Bild des Spiegels im strengen Sinne nehmen, sollte deutlich sein, daß es zu dessen Zweckbestimmung gehört, zur Selbstkritik anzuregen. So sind in der Schrift tatsächlich die zahlreichen kritischen Motive nicht zu übersehen, die LUTHER zur Geltung bringt. So lassen sich alle zusammenfassen in dem Gedanken der Grenzen der staatlichen Macht: Genau dort, wo die Machthaber ihre legitimen Kompetenzen überschreiten, endet die Gehorsamspflicht der Untertanen. Das gilt für zwei konkrete Situationen. In der ersten - und das war diejenige, in der die Reformatoren sich immer wieder sahen - bedrohten staatliche Anordnungen die Glaubens· und Gewissensfreiheit. Demgegenüber ist zu sagen: „Der seelen soll und kan niemandt gepieten / er wisse denn yhr den weg zuo weyßen gen hymel / Das kan aber keyn mensch thun / sondern Got alleyn."78
Die Freiheit des geistlichen Lebens von staatlicher Bevormundung war für LUTHER die notwendige und positive Konsequenz der Unterscheidung von Gottes- und Weltreich. - Die zweite Situation einer Kompetenzüberschreitung lag dann vor, „wenn denn eyn fürst unrecht hette": Dann war im Konfliktfall das Volk grundsätzlich von seiner Gehorsamspflicht entbunden: „Denn wider recht gepuert niemant zuo thun."79
Das Gewaltmonopol des Staates in Fragen des weltlichen Rechts wird dadurch freilich nicht in Frage gestellt. Die Konflikte und Herausforderungen, denen LUTHER in seinem „politischen Jahrzehnt", besonders in dessen Mitte und wieder gegen Ende, ausgesetzt war, können aus der Sicht unseres Themas als Bewährungsproben fur sein bis zur Obrigkeitsschrift hin entwickeltes Verständnis von Gerechtigkeit und von den Grundzügen einer politischen Ethik betrachtet werden. 76 77 78
79
WA 11, 63. WA 11, 67. WA 1 1 , 5 3 . - Der unmittelbare An]aß für LUTHERS Schrift war eine Anordnung des Herzogs GEORG VON SACHSEN, die die Verbreitung von LUTHERS Übersetzung des Neuen Testaments in seinem Herzogtum verbot. WA 11,68.
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Angesichts des Bauernkriegs, den LUTHER „offenbar" als ,,einzige[r] unter den Reformatoren ... als eine Anfrage an die Reformation erkannte" 80 , bringt er, besonders in seiner „Ermahnung zum Frieden", die von uns hervorgehobenen Grundsätze der Trennung und gegenseitigen Durchdringung von geistlichem und weltlichem Regiment in aktualisierender Zuspitzung und zugleich mit seelsorgerlicher Dringlichkeit zur Geltung - ohne freilich die Ereignisse wesentlich zu beeinflussen. LUTHER wendet sich in der Schrift zuerst „An die Fürsten und Herrn", die er mit äußerst massiver Kritik angreift und für das Unheil verantwortlich macht. Er wirft ihnen nicht nur vor, „noch heuttigs tages verstockt ... zu tobenn und wueten widder das heilige Euangelion", sondern auch „ym welltlich regiment" nicht mehr zu tun, „denn das yhr schindet und schätzt / ewern pracht und hochmut zu füren / bis der arme gemeine man nicht kan noch mag lenger ertragen".81 LUTHER rät den Fürsten, in dem ausgebrochenen Konflikt die Konfrontation nicht auf die Spitze zu treiben „weicht eyn wenig umb Gottes willen dem zorn" 82 und vor allem den berechtigten Forderungen der Bauern nachzugeben. „Denn obirkeit nicht drumb eingesetzt ist / das sie yhren nutz und mutwillen an den underthanen suche / sondern nutz und das beste verschaffe bey den underthenigen."83
Anrede „An die Bawrschafft"ist viel ausfuhrlicher. Er bestätigt, daß der Protest gegen die Fürsten, „so das Euangelion zu predigen verbieten / und die leute so untreglich beschweren" berechtigt ist, und daß sie es „wol verdienet haben / das sie Gott vom Stul stuertze".84 Aber er mahnt und warnt sie nun auch: LUTHERS
„Lieben herrn und brueder / sehet ia mit vleis was yhr macht."85
Die große Gefahr, in der LUTHER die Bauern sieht, ist die, „Gottes namen unnuetzlich [zu] fueren", wenn sie gegen das Mandat, „der oberkeit unterthan [zu] sein" in Gottes Namen verstoßen, wenn sie „furgeben Gotes recht / und doch unter dem selben namen widder Gottes recht streben".86 Den Einwand „die oberkeit ist zu boese und unleidlich" läßt LUTHER nicht gelten: 80
H. KIRCHNER in der Einleitung zu seiner Edition von LUTHERS „Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikle der Baauernschaft in Schwaben" (1525) in StA 3, Berlin 1983. Wir zitieren diese Schrift (= WA 18, 291-333) nach StA. 81 StA 3, l l l f . 82 StA 3, 114. 83 StA 3, 115. 84 StA 3. 85 StA 3, 116. 86 StA 3, 117.
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Systematische Theologie „Das die oberkeit boese und unrecht ist / entschuldigt keyn rotterey noch auffruhr / Denn die bosheyt zu straffen / das gebuert nicht eym iglichen / sondern der welltlichen oberkeyt."
Und LUTHER sieht sich hier nicht nur durch Altes und Neues Testament, sondern auch durch das „natuerlich recht / und alle billickeyt" bestätigt, nach dem „niemand soll noch muege seyn eygen richter seyn / noch sich selbs rechen".87 Was LUTHER offenbar vorschwebt, ist eine sittliche und staatliche Lebensform, in der jeder einzelne durch die im Glauben empfangene Gerechtigkeit vor Gott in der Weise zum Handeln mit und für den Mitmenschen und auch im Amt staatlicher Verantwortung befreit wird, daß jede Forderung äußerer Gerechtigkeit Erfüllung findet. Die Glaubensgerechtigkeit nimmt den Gedanken der iustitia distributiva in ihrem Wirkungsfeld auf und verhilft ihm zur Erfüllung. Und die weltliche Macht hält den Raum frei, in dem die Glaubensgerechtigkeit ihre verwandelnde und befreiende Wirkung entfalten kann. Im Vertrauen auf das Gelingen dieser Konstruktion konnte LUTHER mit seinen Mitarbeitern zur Weiterfuhrung des Reformationswerks in der wichtigen Frage der Visitationen, das heißt bei der Neubelebung dessen, was er als Kern des Bischofsamtes verstand - „Denn eigentlich heisst ein Bischoff ein auffseher odder Visitator"88 - um landesfürstliche Mitwirkung bitten und damit die Periode des landesherrlichen Kirchenregiments einleiten. Denn die „äußerliche Gerechtigkeit", deren Bewahrung der Auftrag der Obrigkeit war, widerstrebte ja nicht der „christlichen Gerechtigkeit", d. h. der Vergebung der Sünden, sondern setzte sie voraus und machte sie zugleich immer wieder nötig.89 LUTHER unterwarf also die Kirche damit nicht der staatlichen Autorität, sondern erbat von dieser einen Dienst am kirchlichen Aufbau.
5. LUTHER und das Problem einer politischen Ethik Am Ende seiner Darstellung der Philosophiegeschichte des Mittelalters hat KURT FLASCH gegen LUTHER den Vorwurf erhoben, durch sein Denken und Wirken sei es zur „Etablierung eines Dualismus von Glauben und Wissen, von Christentum und Vernunft, von Innerlichkeit und politisch-rechtlicher Welt87 88 89
StA 3, 117f. Vorrede zum „Unterricht der Visitatoren" (1528), WA 26, 196; zit. nach StA 3, 407. Vgl. LUTHERS „Sermon von christlicher Gerechtigkeit oder Vergebung der Sünden", 1529, WA 29, 564ff.; zit. nach EA 214, 206; 210; 214; 216.
LUTHERS
Gerechtigkeitsverständnis und die Problematik einer politischen Ethik 351
Ordnung"90 gekommen. Er konnte sich dabei besonders auf LUTHERS Auseinandersetzungen mit den Wortführern der Bauernerhebung, mit seinem ehemaligen Kollegen und Mitstreiter KARLSTADT und mit ERASMUS VON ROTTERDAM berufen. Im Streit mit KARLSTADT hatte LUTHER sein berühmtes und berüchtigtes Wort über „Frau Hulde, die natürliche Vernunft" formuliert, die er „des Teufels Hure"nennt.91 Inwieweit FLASCHS Urteil berechtigt ist, soweit es die Wirkungsgeschichte der lutherischen Reformation betrifft, können wir jetzt nicht untersuchen. Soweit es sich auf LUTHERS eigenen Denkansatz und Denkstil bezieht, greift es zweifellos zu kurz, wenn es ihm einen blinden Irrationalismus und doktrinären Dualismus unterstellt. LUTHER hat dem Vernunftgebrauch nicht nur in den Fragen weltlicher Gerechtigkeit einen hohen Stellenwert eingeräumt,92 auch in theologischen Streitfragen bedient er sich ständig rationaler, KARLSTADT gegenüber vor allem exegetischer Argumente. Was LUTHER allerdings von früh an, zumal in der Auseinandersetzung mit der Scholastik, bewegt hat, ist die Frage nach den Grenzen der rein rationalen Argumentation.9·3 Die Reichweite der Vernunft ist für LUTHER dadurch eingeschränkt, daß der ganze Mensch und damit auch und besonders sein höchstes Vermögen wegen der Hingabe an die Sünde seiner ursprünglichen Bestimmung94 entfremdet ist. Gerade in den letzten Fragen ist der Blick der auf sich selbst gestellten Vernunft also so getrübt, daß sie dem Menschen keinen Ausweg zeigen kann. Und LUTHER hat nicht - was doch wohl der Vorwurf des Dualismus besagen will - weltliche und geistliche Wirklichkeit auseinandergerissen, sondern sein ganzes Lebenswerk bestand darin, sie wohl zu unterscheiden, aber zugleich in produktiver Weise aufeinander zu beziehen. Für Gerechtigkeitsverständnis und Gerechtigkeitspflege bedeutete das, daß LUTHER
90 91
K. FLASCH, Das philosophische Denken im Mittelalter, Stuttgart 1988, 598. WA 18, 164; hier ziüert nach EA 29, 241. - Vgl. dazu den ganzen in LUTHERS Schrift „Wider die himmlischen Propheten" folgenden Text, besonders den Abschnitt „Von Frau Hulda der klugen Vernunft", WA 18, 182 ff.; EA 29, 261 ff. 92 Vgl. dazu die oben zu Anm. 76 zitierte Aussage. 93 Welch hohen Rang die Vernunft für LUTHER nicht nur in einer philosophischen, sondern auch in der theologischen Anthropologie einnimmt, dokumentiert eindrucksvoll noch die Disputatio De homine aus dem Jahre 1536. Dort wird die ratio „pulcherrima illa et excelentissima res rerum ... post peccatum relicta" genannt, die freilich nun „sub potestate diaboli concluditur." WA 39, 1, 176; ziüert nach G. EBELING, Lutherstudien, Bd. II, 1, Tübingen 1977, 20. 94 „Homo est creatura Dei carne et anima spirante constans, ab initio ad imaginem Dei facta sine peccato, ut generaret et rebus dominaretur nec unquam moreretur." EBELING, a. a. O. (Anm. 93), 19.
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die aristotelische iustitia distributiva aus der Theologie ausschließen wollte, ihr aber in der Ethik ihren Platz durchaus zugestand; und zugleich daß er sich in Predigt, Seelsorge und in politischem Handeln darum bemühte, beide als integrierenden Bestandteil des christlichen Lebens erkennbar zu machen. Es lag also nicht in seinem Sinn, daß Berührungsängste zu einer sterilen Diastase zwischen doktrinärer Dogmatik und pragmatischer Ethik fuhren sollten. Gibt LUTHERS Gerechtigkeitsverständnis und -praxis heute Impulse für eine integrative politische Ethik? Es ist deutlich, daß es dabei nicht um eine Erneuerung der altkirchlich-mittelalterlichen Synthese gehen dürfte. Mit ihr hatte LUTHER gebrochen, als er erkannt hatte, daß die Gerechtigkeit Gottes nicht iustitia distributiva war. Aber die Frage ist, ob nicht LUTHERS neues, (nicht im konfessionellen, sondern im wesentlichen Sinn) evangelisches Verständnis von Gerechtigkeit Gottes hineinwirken müßte auch in das Gerechtigkeitsverständnis einer wirklich evangelischen Ethik. Die Frage, um die es uns hier geht, ist in der neueren Literatur berührt, aber oft eben nur berührt worden. KARL BARTH, der allerdings und ja mit Recht an der „Diastase zwischen Rechtfertigung und Recht, zwischen ekklesia und polis, die Fremdlingschaft der Christen in diesem anderen Bereich" festhält, betont, daß „die Christen den irdischen Staat nicht nur erdulden, sondern wollen müssen, und daß sie ihn ... nur als Rechtsstaat wollen können".95 Und er vertieft das, indem er sagt, „daß die entscheidende Leistung der Kirche für den Staat schlicht darin besteht, daß sie ihren Raum als Kirche behauptet und ausfüllt". Denn darin erschöpfe sich das „was von der göttlichen Rechtfertigung aus zu der Frage und zu den Fragen des menschlichen Rechtes zu sagen ist: die Kirche muß die Freiheit haben, die göttliche Rechtfertigung zu verkündigen."96 Damit hat BARTH bis unmittelbar an die Grenze dessen herangeführt, worum es uns hier geht; freilich eben nur so weit. Denn die brennend dringliche Frage ist doch in einer Zeit hybrider Ratlosigkeiten gerade in den Fragen öffentlicher Gerechtigkeit: Könnte, müßte nicht etwas anders werden auch gerade im Umgang mit gewaltsam bedrohten oder gewalttätig behaupteten Rechten, wenn diese Rechte in den Händen von Menschen liegen, die sich von der Gerechtigkeit Gottes getragen und verwandelt wissen? Die Aufgabe, die wir hier sehen, ist jedenfalls in einem der großen Werke zur Theologischen Ethik, die in den vergangenen Jahrzehnten entstanden sind, klar ausgesprochen: HELMUTH THIELICKE weist auf ihre Notwendigkeit hin, indem er seine Analyse über den „theologischen Ort des Rechts" mit einer Gegenüberstellung zwischen dem 95
K. BARTH, Rechtfertigung und Recht (1938), Zürich 3 1 9 4 8 , 44.
96
A.A.O. (ANM. 95), 45.
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„interimistisch-pragmatischen Charakter der justitia terrena" und der „Unbedingtheit der Liebe Gottes" abschließt: Diese könne zwar „nie zum direkten Prinzip der Weltverfassung werden und gleichsam als Gesetz in sie eingehen - genausowenig wie die Bergpredigt. Aber ebenso wie diese ist sie gleichwohl das indirekt ordnende und erhaltende Prinzip schlechthin."Das zu sehen, bedeute, „die Klammer um die beiden Reiche und damit die Verbindung zwischen der justitia Dei und der justitia terrena ernst zu nehmen und in Kraft zu setzen"97. Für die Entfaltung einer politischen Ethik, die in der Gerechtigkeit Gottes ein „ordnendes und erhaltendes Prinzip" sieht, wäre es nun wichtig, zu klären, welchen Sinn es hat, darauf zu rekurrieren, wenn dieses Prinzip doch nur indirekt zu Wirkung kommt. Es darf daran kein Zweifel sein, daß dieser Grundsatz der Indirektheit nicht in Frage gestellt werden darf. In dem Versuch, die Gerechtigkeit Gottes zum Gesetz menschlichen Handelns zu erheben, läge ja die Anmaßung, wie Gott handeln zu können. Wohl aber darf gefragt werden, ob die grundlegende Bedeutung dieses Prinzips nicht doch in der Weise in das Bewußtsein der verantwortlich Handelnden treten kann, daß sittliche - und das heißt in unserem speziellen Fall: politische — Entscheidungen spürbar und nachweisbar dadurch beeinflußt werden. Zwei Ebenen sind dabei ins Auge zu fassen. Auf der personalen Ebene tritt der einzelne ins Blickfeld, der sich in einer Entscheidungssituation befindet. Kann oder soll er sich sogar bei seinen Entschlüssen davon beeinflussen lassen, daß er ein durch die Gerechtigkeit Gottes Wiedergeborener ist? Und verhilft er, falls das der Fall ist, der irdischen Gerechtigkeit zum Durchbruch? Eine rein formale, unpersönliche Gesetzlichkeit scheint hier viel höhere Sicherheit zu gewähren. Mit Recht wird ja vor Willkür gerade auf diesem Entscheidungsfeld gewarnt. Andererseits ist zu bedenken, daß selbst KANTs Kategorischer Imperativ nicht zu einseitig formalistisch gedeutet werden darf: 98 Es ist ja die Person daraufhin angeredet, ob sie wollen kann, daß ihre Maxime allgemeines Gesetz werde. Und es ist auch zu beachten, daß das Wort 97 98
H. THIELICKE, Theologische Ethik, 3. Bd., Tübingen 2 1968, 379 f. Wir beziehen uns hier auf die Form, die KANT ihm in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten gegeben hat: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde."(l./2. Aufl., 51). - Auch für ein „Weltethos" (vgl. H. KONG, Projekt Weltethos, München 1990) müßte ja konstitutiv sein, daß es nicht aus fortgesetzter Abstraktion, sondern nur aus einer Fülle selbstverantworteter Entscheidungen der Partner und partizipierenden Gruppen erwachsen kann. (KONG, a. a. O., 166: „Optimale Treue zum eigenen religiösen Glauben und maximale Öffnung gegenüber anderen schließen sich nicht aus.").
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„Willkür" ursprünglich und vor allem „Freiheit", „freie Wahl" bedeutet und erst in einem abgeleiteten pejorativen Sinn „Eigenmächtigkeit" 99 Die im Bewußtsein präsent gehaltene innerlich bestimmende. Beziehung auf die Gerechtigkeit Gottes (im Sinne LUTHERS) könnte also nur einen Zuwachs an Entscheidungsfreiheit bewirken. Wohin das fuhren kann, läßt sich aber nur erkennen, wenn wir uns der zweiten, der materiellen Ebene zuwenden. Ein Zuwachs an Entscheidungsfreiheit kann nur dann konkret verwirklicht werden, wenn auch die Menge der Möglichkeiten wächst, die der Entscheidung vorgegeben sind - oder wenn die Entscheidung neue Möglichkeiten überhaupt erst hervorbringt. Das Wesen solcher produktiven Entscheidungen läge darin, die Hilflosigkeit aufzubrechen, in die ein scheinbar auswegloses Entweder-Oder fuhrt, indem eine Alternative aufgespürt wird. Es könnte sein, daß auf diesem Wege Denk- und Verhaltensweisen beschreibbar werden, die den klassischen Bestand der vier Kardinaltugenden von einem christlichen Daseinsverständnis her erweitern und ergänzen. Wir wollen aber hier nichts dem Zufall oder der dann doch eigenmächtigen individuellen Willkür überlassen, sondern uns auf Hinweise beschränken, die der biblische Kanon in seinen Kernbereichen bietet. Gerade soteriologische Zentralbegriffe des Neuen Testaments haben ja ohnehin eine ethische Bedeutungskomponente, so daß es naheliegt, sich hier an sie anzuschließen. Das gilt in eminentem Maße vom Begriff der Versöhnung. Er wird Mt 5 und 1 Kor 7 auf zwischenmenschliche Beziehungen, sonst im soteriologischen Sinn auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch bezogen. 100 Versöhnung ist, auf Konfliktsituationen bezogen, ein drittes neben Aggression und Unterwerfung. Man könnte die Haltung der Versöhnlichkeit fast als jene Mitte zwischen zwei Extremen betrachten, die ja im Sinne des ARISTOTELES das Wesen der Tugend ausmacht. Freilich wäre das eine moralisierende Verharmlosung des neutestamentlichen Versöhnungsgedankens. Die entscheidende Frage an christliche Versöhnungsbereitschaft ist ja gerade die, ob ihr jenes
99 DWb 30, 205; 210. 100 Von einer Unterscheidung zwischen διαλλάσσομαι (Mt 5,24), καταλλάσσω (paulinische Briefe) und άποκαταλλάσσω (deuteropaulinische Briefe) meinen wir hier absehen zu dürfen; H. MERKEL bezeichnet κατ- und διαλλάσσω ( E W N T 2II, 644-650, 645) zweimal als in der außerbiblischen Literatur bedeutungsgleich. Im übrigen gehen wir ja aber nicht von einer Gleichheit des menschlichen mit dem göttlichen Handeln aus, freilich auch nicht lediglich von einer Analogie, sondern betrachten im Sinne LUTHERS jenes durch dieses schöpferisch hervorgerufen.
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schöpferische Moment innewohnen kann, das den Gegenpart nicht nur beruhigt, sondern gewinnt. Dem Gehör, der Fähigkeit und Bereitschaft zu hören, kommt in der biblischen Überlieferung insgesamt eine Schlüsselbedeutung in der Beziehung zwischen Menschen und Gott zu. Das „Höre, Israel" ist zum Glaubensbekenntnis geworden; König Salomon erbittet sich von Gott ein „hörendes Herz" (1 Kön3,9); andererseits ist es der hörende Gott, an den sich die Gebetspsalmen wenden. Und für Paulus ist die Predigt die hörbare Kunde, die den Glauben bewirkt (Rom 1 0 , 1 7 ) . Was läge näher, die Hörfähigkeit als Tugend aufzufassen, die nicht so sehr der Gerechtigkeit Gottes korrespondiert als durch sie hervorgebracht wird? Wie sehr die Welt ihrer in einem Zeitalter bedürfte, in der mit der Intensivierung technischer Kommunikationsmöglichkeiten nicht das Verstehen, sondern das Überhören erschreckend wächst, braucht hier nicht ausgemalt zu werden. 101 Schließlich sei die Tugend des Annehmens genannt, zu der Paulus hinfuhrt, wenn er schreibt „Nehmt euch einander an, wie Christus uns angenommen hat, zum Preise Gottes" (Rom 1 5 , 7 ) . Als Grundlage eines tragfähigen menschlichen Zusammenlebens genügt nicht Toleranz, soviel auch damit gewonnen wäre, wenn sie überall zum Durchbruch käme. Es gehört dazu die Zustimmung zum Dasein des anderen; jene Zustimmung, die Gott uns gewährt hat im Akt seiner Gerechtigkeit. Ist es tatsächlich möglich, Soteriologie in dieser Weise in Ethik umzusetzen, so daß sie nicht nur die Lebenspraxis der Christen faktisch bestimmt, sondern bewußt und rational in das Kalkül christlichen Handelns aufgenommen wird? Es scheint mir nicht nur möglich, sondern notwendig zu sein. Es scheint mir der Weg zu sein, wie die Vollkommenheitsforderung der Bergpredigt verwirklicht werden kann, der Weg zu einer „besseren Gerechtigkeit". Was dieser Gerechtigkeit in der Welt, gerade der von heute, im Wege steht, ist nicht unbedingt der Mangel an gutem Willen, nicht genuine Bosheit, sondern die Verzweiflung, K I E R K E G A A R D S „Krankheit zum Tode", in der jeder aus letzter und eigentlich schon aussichtsloser Sorge, das Seine zu verlieren,
101 D. SOLLE hat mit Recht auf die vorwärts weisende Rolle der Phantasie gegenüber einem erstarrten Gehorsamsprinzip hingewiesen (Phantasie und Gehorsam, Stuttgart 1968). Es darf aber nicht übersehen werden, daß das in dem Wort „Gehorsam" enthaltene Element „Hören" für das christliche Ethos konstitutiv ist. - Daß übrigens auch Phantasie pervertiert werden kann, beweist eine Gestalt wie die des hemmungslosen Phantasten HITLER; vielleicht sind es gerade „Ideen" wie die seinen, unter deren obsessivem Einiluß sich Gehorsamsbereitschañ ins Destruktive verkehrt.
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es riskiert, die ganze Welt aufs Spiel zu setzen. In etwas anderen Worten hat RILKE diese fundamentale Angst und ihre Konsequenzen in dem Vers formuliert: „Töten ist eine Gestalt unseres wandernden Trauerns."102
Die Gerechtigkeit Gottes erneuert das kindliche Grundvertrauen, das Seine ohne Selbstbehauptungskrampf bewahrt zu wissen. Das ist Glaube. Daran hält sich das christliche Ethos. Aus empfangener Gerechtigkeit erwächst Gerechtes.
102 Sonette an Orpheus, 2. Teil, XI; Sämtl. Werke I, Wiesbaden 1955, 758.
Christliche Ethik und gesellschaftliches Subsidiaritätsprinzip* Aleksander Radler, Halle/Saale
In seinem bekannten Werk „Clio. Dialogue de l'histoire et de l'âme païenne"1 vergleicht der französische Poet und Religionsphilosoph CHARLES PÉGUY den Lebenszyklus eines Wortes, eines Begriffes mit dem eines Menschen. Auch Begriffe erleben die Kraft der Jugend, die Reife des Sommers und das Altern und Sterben von Herbst und Winter. Wir alle wissen, welche Begriffe heute dem Verfall und der Verachtung preisgegeben werden, und wir alle ahnen zumindest, weshalb der Terminus Subsidiarität sich heute einer so großen Beliebtheit erfreut2. Natürlich wissen die wenigsten Leitartikelverfasser in Europa und Nordamerika, daß dieses sogenannte s-word ursprünglich in einer der ganz großen Sozialenzykliken, nämlich in der Sozialenzyklika Papst Pius XI. Quadragesimo anno aus dem Jahre 1931 von dem Jesuiten und Professor an der Gregoriana GUSTAV GUNDLACH 3 geprägt wurde. Hierbei ist zu bedenken: die Sache ist eigentlich uralt, nur der Name ist neu, denn daß der Einzelne, das Individuum gegenüber dem Staate eine Selbständigkeit besitzt und daß der Staat nicht Selbstzweck ist, sondern den Bürgern zu dienen hat, dieser Gedanke ist keineswegs neu. Und gleichwohl scheint die grundlegende theologische Auseinandersetzung um den Subsidiaritätsbegriff bis in die allerletzten Jahre hinein, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine rein innerkatholische Angelegenheit gewesen zu sein. Die wenigen protestantischen Stimmen sind zumeist negativ4, und in dem an sich guten und * 1 2 3
4
Gehalten als Antrittsvorlesung an der Theologischen Fakultät der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg am 6. Oktober 1993. CHARLES PÉGUY, Clio. Dialogue de l'histoire et de l'âme païenne: Oeuvres en prose de Charles Péguy 1909-1914, 241 ff., Paris 1961. Vgl. M. SPIEKER, passim. GUSTAV GUNDLACH Si, 1892-1963. Hauptwerk: Die Ordnungen der menschlichen Gesellschaft, I/II, 1964; im Hinblick auf die Problematik des Subsidiaritätsprinzips besonders wichtig: Sozialphilosophische Grundlegung (a. aO., Band I, 57-201). Vgl. C. CORDES, Kann evangelische Ethik sich das Subsidiaritätsprinzip, wie es in der Enzyklika „Quadragesimo anno" gelehrt wird, zu eigen machen?: ZEE 3, 1959,
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ausfuhrlichen nordischen theologischen Lexikon „Nordisk Teologisk Uppslagsbok"5 fehlt nicht nur ein Artikel über den Begriff Subsidiarität, sondern der Begriff kommt überhaupt nicht vor. Wir werden deshalb unseren Artikel wie folgt gliedern: (1) versuchen, eine inhaltliche Beschreibung des Subsidiaritätsprinzips anhand der päpstlichen Enzykliken und hier besonders der Sozialenzyklika Quadragesimo anno von 1931 zu geben. (2) versuchen, den systematischen Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Sozialprinzipien und dem Naturrecht als ihrer Grundlage aufzuzeigen und (3) danach fragen, inwieweit dem Subsidiaritätsprinzip heute in der evangelischen Ethik noch eine Bedeutung zukommen könnte.
1.1. Die Quellen Zur inhaltlichen Formulierung des Subsidiaritätsprinzips haben sich besonders drei Enzykliken geäußert, nämlich die erste päpstliche Enzyklika zur sozialen Frage LEO XIII., die sogenannte „Magna Charta" der Arbeiterfrage Rerum novarum aus dem Jahre 1891, die bereits oben erwähnte Enzyklika Pius XI. Quadragesimo anno aus dem Jahre 1931 und schließlich die bekannteste, aber in unserer Frage keineswegs beste Enzyklika JOHANNES XXIII. Mater et magistra aus dem Jahre 1961. Für den Zweck unseres Beitrages, dem es nicht darum geht, die vielschichtige Entwicklung des Subsidiaritätsprinzips genetisch zu beschreiben, sondern dem es um eine systematische Darstellung dieses Prinzips geht, reicht jedoch der Rückgriff auf die Enzyklika Pius XI. Quadragesimo anno, denn hier werden die Impulse von Rerum novarum in großer Treue aufgegriffen und systematisch vertieft. Dies gilt aber auch im Hinblick auf die vielgerühmte Enzyklika JOHANNES XXIII. Mater et magistra. Sie erscheint heute vielen als die Sozialenzyklika schlechthin, und niemand kennt mehr die alten Sozialenzykliken, sondern alle zitieren Mater et magistra. Der Grund hierfür liegt zum einem in dem sensiblen Verständnis für die brennen-
5
145 - 166, und besonders die pointierte Darstellung von T. RENDTORFF, Kritische Erwägung zum Subsidiaritätsprinzip: Der Staat. Zeitschrift flir Staatslehre, öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte (34), 1962, 4 0 5 - 4 3 0 . Nordisk Teologisk Uppslagsbok, I-III, 1952 -1957. (Ein Gemeinschaftswerk aller nordischen Länder).
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den sozialen Probleme. Die Enzyklika JOHANNES XXIII. argumentiert nicht mehr wie ihre Vorgängerinnen philosophisch, in strenger naturrechtlicher Systematik, sondern JOHANNES XXIII. strukturiert seine Enzyklika nach der Mannigfaltigkeit seiner empirischen Vorlagen. Es ist richtig, daß dieser Weg in der Sache eine große Befreiung darstellte, aber gleichzeitig ein großes Risiko, denn die Enzyklika äußerte sich immer mehr über Bereiche, die im Grunde außerhalb der sachlichen Kompetenz des Heiligen Stuhles lagen und deshalb oft leicht zu falsifizieren waren. Hinzu tritt die sachliche Verschiebung von der „liberalen" Subsidiarität zur „sozialeren" Solidarität. Zur systematischen Klärung des SubsidiaritätsbegrifFs trägt diese Enzyklika kaum etwas bei. Deshalb ist eine Konzentration auf die Enzyklika Quadragesimo anno befugt. Der Anlaß dieser Enzyklika waren weniger direkte Veränderungen sozialer Art als die ideologischen geistesgeschichtlichen Gegebenheiten, welche 40 Jahre nach dem Erscheinen von Rerum novarum das Bedürfnis nach einer neuen päpstlichen Stellungnahme wach werden ließen. Auf Anregung des damaligen Jesuitengenerals WLADIMIR LEDOCHOWSKI6 beauftragte der Papst den deutschen Jesuiten OSWALD VON NELL-BREUNING7 mit der Erstellung eines Schreibens. NELL-BREUNING sammelte eine Expertengruppe um sich, als deren führender Kopf binnen kurzer Zeit G. GUNDLACH hervortrat, „der nicht nur in allen sozialphilosophischen, sondern auch in allen gesellschaftspolitischen Grundsatzfragen die Haltung des Kreises maßgeblich bestimmt hat"8.
Das Ziel bei der Erarbeitung dieser Enzyklika, und dies geht aus den Dokumenten deutlich hervor, war die Erarbeitung einer grundsätzlichen Gesellschaftsform und Gesellschaftstheorie und dies vor allem unter Wahrung des freilich Sozialpflichtigen Privateigentums und der subsidiär zu unterstützenden Einzelperson bzw. ihrer kleineren Gruppe. Im Vordergrund der Enzyklika stand damit das Subsidiaritätsprinzip, als Gegengewicht zum Solidaritätsprinzip. Die Enzyklika umfaßt 148 notae und nur 5 behandeln das Subsidiaritätsprinzip im engeren Sinne, aber auf Grund des systematischen Aufrisses kommt ihnen zweifellos die Schlüsselfunktion hinzu, denn sie bestimmten den 6
WLADIMIR LEDOCHOWSKI SJ, 1866-1942. Seit 1915 Ordensgeneral der Societas Jesu. Über LEDOCHOWSKI vgl. V . NAUMANN, Profile, 1925, 3 4 9 - 3 5 8 .
7
8
OSWALD VON NELL-BREUNING SJ, 1890-1992. Seit 1928 Professor für Ethik und christliche Soziallehre an St. Georgen in Frankfurt am Main. Hauptwerke: Baugesetze der Gesellschaft. Solidarität und Subsidiarität, 1990; Gegenseitige Verantwortung Hilfreicher Beistand, 1969; Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, 21985. J. SCHWARTE, G. Gundlach, 1975, 38.
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Argumentationsgang der ganzen Enzyklika. Unwillkürlich wird man an die berühmten vier Kapitel über die Prädestination in CALVINS Institutio erinnert, die quantitativ auch nur einen kleinen Teil des Gesamtwerks ausmachen und gleichwohl seine Struktur bestimmen. Jetzt zum Text. Die Definition des Subsidiaritätsprinzips findet sich in der nota 79 der Enzyklika Quadragesimo anno: Fixtum tarnen immotumque manet in philosophia sociali gravissimum illud principium quod ñeque moveri neque mutari potest: sicut quae a singularibus hominibus proprio marte et propria industria possunt peifici, nefas est eisdem eripere et communitati demandare, ita quae a minoribus et inferioribus communitatis effici praestarique possunt, ea ad maiorem et altiorem societatem avocare iniuria est simulque grave damnum ac recti ordinis perturbatio; cum socialis quaevis opera vi naturaque sua subsidium afierre membris corporis socialis debeat, numquam vero eadem destruere et absorbere 9 .
Besonders an zwei Stellen empfiehlt es sich, auf den lateinischen Text zurückzugreifen. Im ersten oben zitierten Satz finden wir die lateinische Formulierung gravissimum illud principium für das Subsidiaritätsprinzip. Zwei Übersetzungen bieten sich an. Die meisten Übersetzer, wie ROHRBASSER10 und NELL-BREUNING11 übersetzen diese Formulierung mit „hochbedeutsamer Grundsatz", während die offiziell vom Vatikan beglaubigte Übersetzung noch einen Schritt weitergeht und das Subsidiaritätsprinzip als Jenen obersten sozialpolitischen Grundsatz" beschreibt. Rein sachlich, und dies wird der weitere Argumentationsgang zeigen, erscheint die letztgenannte Übersetzung als zu hochgegriffen, und es ist deshalb der Deutung von NELL-BREUNING den Vorzug zu geben. Der entscheidende Grundgedanke der Definition findet sich im zweiten Satz des Zitates: Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf 9
10 11
Quadragesimo anno, nota 79. Deutsche Übersetzung: Trotzdem ist an jenem hochbedeutsamen Grundsatz der Sozialphilosophie nicht zu rütteln, der keine Verschiebung und keine Änderung duldet. Was von den einzelnen Menschen mit eigener Kraft und durch eigene Tätigkeit geleistet werden kann, darf ihnen nicht entrissen und der Gemeinschaft übertragen werden. Ebenso ist eine Ungerechtigkeit und zugleich eine schwere Verletzung und Störung der rechten Ordnung, wenn Aufgaben, die von den kleineren und untergeordneten Gemeinschaften bewältigt und ausgeführt werden können, der höheren und übergeordneten Gesellschaft zugeschoben werden. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist j a ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen. A. ROHRBASSER, Quadragesimo anno, 1945. Ο. v . NELL-BREUNING SJ, Texte, 120.
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sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen. Der erste Halbsatz fuhrt den Begriff „subsidiär" ein, den der zweite Halbsatz dann erklärt: Die Tätigkeit der Gemeinschaft soll hilfreicher Beistand sein, aber nicht das Gegenteil davon. Der lateinische Urtext drückt dies nicht mit zwei Hauptsätzen aus, deren zweiter den ersten erklärt, sondern der lateinische Urtext sagt: Die Tätigkeit der Gemeinschaft hat ihrem Wesen und Begriff nach den Gliedern des Sozialkörpers Hilfe zu bringen subsidium afferre, jedoch darf die Gemeinschaft niemals versuchen, kleinere Gruppen oder Einzelpersonen total in die Gesellschaft aufzusaugen. Der deutsche Begriff „subsidiär" hat heute rein sprachphilosophisch einen negativeren Klang als seine lateinische Vorlage und erweckt oft nicht so sehr die Vorstellung von Hilfe schlechthin, sondern vielmehr von Aushilfe oder Nothilfe, eine Deutung, die in anderen europäischen Sprachen auch ihre Entsprechung hat. Diese sprachliche Wertung fuhrt zu sachlichen Konsequenzen, wofür die scharfe Kritik von T. R E N D T O R F F 1 2 ein Beweis darstellt.
1.2. Inhaltliche Bestimmung Die Abgrenzung der Quellen erleichtert eine inhaltliche Bestimmung des Subsidiaritätsprinzips. Das Subsidiaritätsprinzip versteht sich nach der oben wiedergegebenen Definition unmittelbar als eine Abgrenzung gegen den Kollektivismus. Die Machtbefugnisse des Souveräns dürfen sich niemals so weit erstrecken, daß sie die Aktivitäten des Einzelnen oder die Tätigkeiten kleiner Gruppen behindern. Eine zentralistische Machtstruktur bricht a priori gegen die Gerechtigkeit und gegen das autonome Recht der kleinen Gruppen. Mittelbar ist aber das Subsidiaritätsprinzip auch eine Abgrenzung gegenüber dem Individualismus, wobei der Staat und die gesetzliche Machtausübung die natürliche Grenze bilden. Die Rechte des Staates und des Einzelnen werden also im begrenzten Umfange anerkannt, aber gleichzeitig erstrebt man eine Anzahl unterschiedlicher Gruppierungen, die zwischen dem Einzelnen und dem Staate stehen. Diese funktionelle Einteilung kann mit einer Anzahl konzentrischer Ringe 12
Vgl. T. RENDTORFF, passim, sowie in seinem noch nicht publizierten Vortrag „Öffentliche Verantwortung einer diakonischen Kirche im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft", Vortrag auf der Diakonischen Konferenz am 13. Oktober 1992 in Görlitz.
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verglichen werden, die den Einzelnen umschließen. In der vorliegenden Definition des Subsidiaritätsprinzips werden diese Gruppierungen nicht ausdrücklich benannt, aber eine fast einstimmige Deutungstradition der nota 79 entwirft folgendes Schema: der Einzelne, die Ehe, die Familie, die Schule, die Berufsstände und die Ortsgemeinschaft, die sich zur Gewerkschaft erweitern, die Kommunen und Territorialstaaten und schließlich die weltumspannende Lebensgemeinschaft. Obwohl innerhalb der Kirche auch das Subsidiaritätsprinzip herrschen soll, erhält die Kirche innerhalb dieses Ordnungsschemas keinen Platz. Der Grund hierfür ist sachlicher Art, denn die Kirche gehört nicht der natürlichen, sondern der übernatürlichen Ordnung an und sie wird deshalb mit allen Punkten der genannten Ordnung gleichzeitig konfrontiert. 13 Der Aufbau der Gesellschaft von unten nach oben ist also gegeben. Das Beschlußrecht wird innerhalb der Gesellschaft dezentralisiert und liegt nicht nur bei den höchsten Organen, sondern es wird versucht eine pluralistisch fungierende Gesellschaft zu errichten. Jede Gemeinschaftsform erhält eine bestimmte Aufgabe und soll versuchen, ihre natürliche Funktion ohne Einmischung, aber bei Bedarf mit Hilfe der größeren Gemeinschaft zu erfüllen. Für die kleineren gesellschaftlichen Einheiten, wie Eheleute, Familie und Schule bedeutet dies, daß sie ihre eigentlichen Aufgaben erfüllen können und für die größeren, wie die Gewerkschaften, die Kommunen und die Staaten, daß sie versuchen sollen, diese Aktivitäten dann zu koordinieren. Das Prinzip geht davon aus, daß Hilfe immer zur Selbsthilfe führen soll, so daß die Verantwortung immer bei der kleineren Einheit bleibt. Die Hilfe wendet sich mit anderen Worten immer nur an den Funktionsträger und übernimmt niemals die Funktion selbst. Nur in Grenzfällen, wie der Erziehung von elternlosen Kindern, übernimmt die größere Einheit auch die Funktion.
13
M. J. CONGAR Ο. P. bemerkt in seinem bekannten Werk „Divided Christendom" (1939), 68, hierzu: „The Catholicity of the Church is the universal capacity of her unity. She ist the fullness of Christ, His growth and accomplishment in humanity, the sphere of His saving power and, as it were, His mystical incarnation in all humanity. For each one personally and for humaity as a whole, the Church is the gathering together and fulfilment in unity our Peace in Christ. St. Thomas primarily conceives of the Church within the plan and categories of life and not primarily within the plan and categories of the sociological. If the Church is a ,body', it is not only in the sociological sense of the word, rather it is conceived in a manner which must remain profundly mysterious, in the biological sense of the word." Vgl. hierzu auch M. SCHMAUS, Katholische Dogmatik, III/I: Die Lehre von der Kirche, s 1958, besonders § 173: Die Wesenseigenschaften der Kirche, 5 4 2 - 6 3 8 .
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Im Hinblick auf die Problemstellung unserer Untersuchung sind vor dem gezeichneten Hintergrund deutlich drei Schwerpunkte zu erkennen, nämlich: (1) Die naturrechtliche Grundlage des Subsidiaritätsprinzips. (2) Die negative und positive Seite des Subsidiaritätsprinzips. (3) Daran anschließend, eine dynamische Deutung des Subsidiaritätsprinzips, die die naturrechtlichen Schranken durchbricht und auf das Solidaritätsprinzip hinweist.
2.1. Kritik der naturrechtlichen Grundlegung des Subsidiaritätsprinzips
Das Subsidiaritätsprinzip wurde im vorhergehenden Abschnitt als Zuständigkeitsprinzip beschrieben. Hierbei wird ziemlich schnell deutlich, daß die natürlich gewachsenen Größen den Vorrang haben. In diesem Zusammenhang wird im Anschluß an FERDINAND TÖNNIES grundsätzlich zwischen menschlicher Gemeinschaft und menschlicher Gesellschaft unterschieden. 14 Die Gemeinschaft, wie zum Beispiel die Familie, ist in der Natur des Menschen begründet, sie wird von einer Wertgemeinschaft getragen und ist in jeder Weise konstitutiv, die Gesellschaft hingegen hat vorwiegend öffentlichen Charakter, wird von einer pragmatischen Grundeinstellung gesteuert und folgt nicht dem Naturrecht, sondern dem positiven Recht, das dem Wandel der Zeit unterworfen ist. Kern und Fundament der herkömmlichen katholischen Soziallehre im Allgemeinen und des Subsidiaritätsprinzips im Besonderen ist also das Naturrecht. Man kann das Naturrecht definieren als „das uns von Natur innewohnende Licht der Vernunft, durch welches wir erkennen, was wir tun und meiden sollen, die uns vom Schöpfer durch die Natur mitgeteilte Erkenntnis, daß wir die unserer Natur entsprechende Ordnung im Handeln einhalten sollen" 15 .
Entscheidend für unsere Fragestellung sind nun folgende naturrechtliche Positionen. Durch das obige Zitat aus der klassischen Moralphilosophie von CATHREIN wurde schon deutlich, daß das Naturrecht das Recht ist, das dem Menschen zusammen mit seiner Natur gegeben ist. Da es essentiell zum Menschen gehört, ist es auch fur alle Menschen verpflichtend. Es existiert - im Gegensatz zum positiven Recht - unabhängig von allen äußeren Einwirkungen 14 15
H. E. HENGSTENBERG, Philosophische Begründung des Subsidiaritätsprinzips: A. F. UTZ (Ed.), Subsidiaritätsprinzip, 1 9 - 4 4 . V. CATHREIN SJ, 3 1 5 - 3 1 6 .
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und verfugt über eine normierende Kraft auf die faktischen Rechtsverhältnisse. Seinen Grund hat das Naturrecht in der relativ ungestörten Ähnlichkeit zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf, die durch die analogia entis beschrieben wird. Dieser Analogie entspricht das Verhältnis zwischen dem göttlichen Gesetz, der lex aeternae, und dem natürlichen Gesetz, der lex naturae. Aus diesem Schema ergibt sich auch die genaue Begrenzung des Naturgesetzes, die fur die Definition des Subsidiaritätsprinzips so wichtig sein wird. Die Wirkung des Naturgesetzes ist nach oben und unten hin begrenzt. Nach unten hin besteht die Abgrenzung darin, daß das Naturrecht wie eine Klippe in der Brandung der Vergänglichkeit steht und deshalb nicht der Entwicklung des positiven Rechts unterworfen ist. Diese feste Position besteht positiv in dem oben erwähnten analogen Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf, negativ darin, daß der Sündenfall die Natur des Menschen nicht verdorben, sondern nur verletzt hat. Auf der anderen Seite hat das Naturrecht aber auch eine Grenze nach oben hin, die es von dem Übernatürlichen der Gnade und Offenbarung trennen. Diese Distinktion bedeutet an und für sich nicht, daß man die Gültigkeit des Naturrechts in Frage stellt. Die Gnade tritt nur dort ein, wo die Natur verletzt ist, heilt sie und gibt ihr ihre alte Kraft wieder. Gleichzeitig damit überbietet aber die sakramentale Gnade der Kirche das Naturrecht, indem die Gaben des Heiligen Geistes und die theologischen Tugenden, Glaube, Hoffnung, Liebe, sowie die evangelischen Räte, Armut, Keuschheit und Gehorsam in die Sphäre der übernatürlichen Gnade verweisen. Diese Gedankengänge sind in der Enzyklika Quadragesimo anno aus dem Jahre 1931 in einer bewundernswerten Stringenz und Geschlossenheit durchgeführt worden, sie weisen dem Subsidiaritätsprinzip einen klaren Platz zu und man kann eigentlich nirgends - im Gegensatz zu den späteren Sozialenzykliken - an den Intentionen zweifeln. Von dem Aspekt der argumentativen Klarheit und Stringenz her, stellen alle späteren Sozialenzykliken inklusive die entsprechenden Passagen des Vaticanums II einen klaren Verfall dar. Fragt man nun aber danach, ob diese Art Subsidiaritätsprinzip von Wert für die protestantische Ethik sein kann, so kann die Antwort im besten Fall ambivalent ausfallen. Berührungspunkte gibt es zweifellos zur lutherischen Schöpfungsordnungstheologie und in gewissen skandinavischen und nordamerikanischen Spielarten kann man sogar die Konturen eines eigenen Subsidiaritätsprinzips sehen16. Aber ansonsten ist die immer wieder gestellte Frage: 16
An diesem Punkt kann man, ohne zu generalisieren, von einem deuüichen Unterschied zwischen der deutschen auf der einen und der angelsächsisch-skandinavischen Tradi-
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„Kann evangelische Ethik sich das Subsidiaritätsprinzip, wie es in der Enzyklika Quadragesimo anno gelehrt wird, zu eigen machen?"17 weitgehend verneint worden, und überblickt man die nicht allzu umfangreiche Literatur, dann reichen die Argumente von einer angeblichen Vermischung von Vernunft und Offenbarung in der katholischen Soziallehre, über die angeblich laxe Sündenauffassung, dem Menschenbild bis zur Geringschätzung des modernen Sozialstaates durch die Anhänger des Subsidiaritätsprinzips18. Gleichwohl muß man diese fast generelle Kritik nicht teilen, denn bereits in der Enzyklika Quadragesimo anno gibt es Öffnungen, die das statische Naturrechtsschema brechen und damit auch das Subsidiaritätsprinzip nicht mehr als konstitutives, sondern vielmehr als regulatives Prinzip ansehen. Auch hier setzt der Argumentationsgang bei der Unterscheidung von Natur und Gnade ein, eine Unterscheidung, die es in dieser Radikalität in der neueren katholischen Theologie seit H. DE LUBACS Surnaturel aus dem Jahre tion auf der anderen Seite sprechen. Seit den Tagen des Kirchenkampfes, in dem das deutsche Luthertum nun wirklich nicht an der Spitze des Widerstandes stand, und wo die „Theologie der Ordnungen" (1934; 2 1935) von PAUL ALTHAUS eine Art theologische Gegenposition zur Banner Theologischen Erklärung bildete, war eine Schöpfungstheologie, ja eine Theologie des Ersten Artikels durch die Vertreter der herrschenden Dialektischen Theologie immer mit dem Verdikt einer reaktionären politischen Ethik verbunden worden. Daß diese Deutung einer Schöpfungsordnungstheologie zwar plakativ, aber doch höchst einseitig ist, wurde immer wieder von den skandinavischen und amerikanischen Lutheranern hervorgehoben: historisch-kritisch auf dem Gebiet der Lutherforschung, erwähnt sei nur DAVID LÖFGRENS „Die Theologie der Schöpfung bei Luther" (1960) und systematisch-theologisch durch den Entwurf einer eigenständigen Schöpfungsordnungstheologie, der deutliche Parallelen zu den Neuansätzen innerhalb der katholischen Theologie aufwies, auf die noch weiter unten eingegangen werden wird. Beispeilhaft ist hier das Werk GUSTAF WINGRENS „Skapelsen och lagen" (Schöpfung und Gesetz) aus dem Jahre 1958. Entscheidend ist hier, wie in der Theologie HENRI DE LUBACS, die Verknüpfung von Schöpfung und Evangelium. Dadurch wird eine Theologie der Schöpfung nicht zu einer Art Ordnungstheologie, die die real existierende politische Form als gottgewollt darstellt, sondern zu einer Schöpfungstheologie, die vom ununterbrochenen Handeln in der Welt spricht, und Gott handelt in der Welt nicht nur durch das Evangelium, sondern auch durch das Gesetz, das einmal hilft, Leben zu bewahren und das auch in seinem zweiten Gebrauch, in seinem tiefen Ernst, die Voraussetzung dafür ist, das Evangelium in seiner ganzen Tragweite aufnehmen zu können. Innerhalb dieser Ordnungen ist dem Menschen die Möglichkeit einer cooperatio mit dem schöpfungserhaltenden Werk Gottes gegeben - Gedanken, die der unten wiedergegebenen Neuformulierung des Subsidiaritätsprinzips in vielem entsprechen. 17 18
Vgl. o. Anm. 4. Vgl. T. RENDTORFF (Anm. 12), Verantwortung, passim.
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1946 nicht mehr gibt. Jetzt wird die Einheit der Schöpfiings- und Erlösungsordnung betont und das heißt, daß die sogenannte Natur des Menschen nicht etwas in sich selber Geschlossenes und Vollendbares ist, sondern zumindest als zu dem übernatürlichen Ziel hin offen, ja selbst schon von der göttlichen Gnade getragen und ausgerichtet verstanden wird 19 . Im Gespräch mit der reformatorischen Theologie konnte nun betont werden, „daß die Übernatürlichkeit der Gnade nicht bedeutet, daß der faktische Mensch ein geschlossenes, in sich völlig aufgehendes und fertiges System seines natürlichen Daseins entwerfen könne, dem die Gnade nur wie ein reiner Überbau aufgesetzt wäre"20.
Konkret bedeutet dies nun, daß das Verhältnis von Natur und Gnade völlig anders geworden ist und daß der Moraltheologe sich nicht bloß an das halten darf, was die Vernunft über die menschliche Natur und die natürliche Sittlichkeit erkennen kann, sondern dann, so der Fundamentaltheologe BÖCKLE, „muß das Naturrecht stetig an den biblisch-heilsgeschichtlichen Forderungen kritisch begrenzt werden"21.
Andererseits vermindert sich damit der Unterschied zwischen der sittlichen Erkenntnis der menschlichen Vernunft und deijenigen, die der Theologe auf der Grundlage der Offenbarung gewinnen kann, denn: sittliche Erkenntnis des Menschen ohne Offenbarung aus seiner konkreten Natur, d. h. das ins Herz geschriebene Gesetz nach Rom 2, ist bereits übernatürlich modifiziert. Sie ist getragen von einem erlebten Dynamismus auf jenen Gott hin, der der Gott des übernatürlichen Lebens ist. Sie will die Bewahrung der Würde und des konkreten Wesens des Menschen. Daraus kann sich eine christologische Orientierung der gesamten Ethik ergeben, die in vielem an den Ansatz KARL BARTHS erinnert. In die glasklare Kühle des alten Naturrechtsgedankens ist die Unruhe des Evangeliums hineingetragen worden und wenn man diesen Dynamismus ernst nimmt, dann muß es innerhalb der Soziallehre und innerhalb der Formulierung des Subsidiaritätsprinzips zu Spannungen kommen, denn zwischen Naturrecht und Evangelium sind Konflikte nicht auszuschließen und wenn sie auftreten, dann wird vom Christen eine Option für das Evangelium des Kreuzes verlangt. Daß diese neue Deutung des Verhältnisses von Natur und Gnade auch Rückwirkungen auf das Subsidiaritätsprinzip haben muß, liegt auf der Hand.
19 20
Vgl. hierzu die noch unveröffentliche Ethik (o. J.) von INGO KLAER, 46 ff. K. RAHNER, Natur und Gnade. Schriften zur Theologie, IV, 4 1964, 218.
21
F . BÖCKLE, 1 8 5 .
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2.2. Positive und negative Aspekte des Subsidiaritätsprinzips
Überblickt man die gegenwärtige Diskussion um das Subsidiaritätsprinzip in der Tagespresse und auch in der Kontroversliteratur, dann scheint es nur negative Aspekte des Subsidiaritätsprinzips zu geben. Wenden wir uns zuerst dem positiven Aspekt des Subsidiaritätsprinzips zu. Die Gemeinschaft soll ihren Gliedern hilfreichen Beistand leisten und dies nicht etwa so, daß sie erst dann aktiv werden soll, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, sondern schon lange vorher. Dieser Beistand soll auf zweierlei Weise geschehen, einmal darin, daß die Gemeinschaft das tut, was das Glied für sich selbst schlechterdings nicht tun kann, zum anderen darin, daß sie das Glied unterstützt bei dem, was es nicht allein, sondern nur mit Hilfe anderer leisten kann. Am deutlichsten wird diese Problematik in der Wirtschaftsethik und in der von RENDTORFF in seinem Vortrag angeschnittenen Frage der staatlichen Subventionen für die Diakonie. Wenden wir uns dem ersten Problemkreis zu. Es ist zu bedauern, daß wirtschaftswissenschaftliche Theoriebildung bislang nur begrenzt im theologischen Denken rezipiert wird, denn die positive Seite des Subsidiaritätsprinzips spielt als makroökonomisches Modell in den Beschäftigungstheorien von JOHN MAYNARD KEYNES22 „The General Theory of Employment, Interest, and Money" von 1936 und darauf aufbauend im schwedischen Modell der sogenannten Stockholmer Schule um GUNNAR MYRDAL23 und BERTIL OHLIN 24
eine bedeutsame Rolle. In der stark revidierten schwedischen Ausgabe von GUNNAR MYRDALS klassischem Werke „Value in Social Theory" (1958) mit dem Titel „Vetenskap och politik i nationalekoniomin" 1972 wird die positive Seite des Subsidiaritätsprinzips als Wasserscheide zwischen der kommunistischen Staatswirtschaft und der gemischten Volkswirtschaft des Schwedischen Modells, die gerade von einer Verstaatlichung Abstand nimmt, um nicht alle
22 23
24
J. M. Baron KEYNES OF ΤΠ-ΤΟΝ, 1883 -1946. Seit 1920 Professor für Nationalökonomie in Cambridge, britischer Unterhändler bei der Friedenskonferenz in Paris 1919. C. MYRDAL, 1898- 1987. Professor für Nationalökonomie in Stockholm 1933 - 1950; Professor für Internationale Ökonomie 1960-1967; Nobelpreis für Ökonomie 1974; weitere Hauptwerke: An American Dilemma. 1944; Asian Drama, 1968. B. OHLIN, 1899-1979. Professor für Nationalökonomie in Kopenhagen 1924-1929; Professor für Nationalökonomie in Stockholm 1929-1965; Vorsitzender der schwedischen Liberalen 1944-1967; Handelsminister 1944/45; Nobelpreis für Ökonomie 1977; wichtige Werke: The Problem of Employment Stabilization, 1949; Liberal utmaning, 1963.
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Eigeninitiative zu ersticken, die aber auf der anderen Seite durch eine bewußte und wirklich aktiv eingreifende Steuer- und Beschäftigungspolitik den Schwachen der Gesellschaft beizustehen versucht. Der Unterschied zum deutschen, von ALFRED MÜLLER-ARMACK und der sogenannten Freiburger Schule entworfenen Modell der sozialen Marktwirtschaft liegt an einem entscheidenden Punkt. Die soziale Marktwirtschaft hat die beiden Grundpfeiler von marktwirtschaftlicher Ordnung und S oziai Verpflichtung der Wirtschaft, ansonsten hält sich der Staat im Hintergrund. Das von G. MYRDAL in Anlehnung an J. M. KEYNES entwickelte Modell der positiven Subsidiarität in seinem oben erwähnten Werk Value in Social Theory geht hingegen davon aus, daß die Beschäftigung nicht nur, wie in der klassischen Ökonomie, Resultante der Arbeitsmarktgegebenheiten und der auf diesem Markt wirkenden flexiblen Preise ist, die zusammen automatisch für Vollbeschäftigung sorgen, sondern er will gerade jenen Prozeß beschreiben, der für die gegenwärtige Situation in Ostdeutschland so signifikant ist und der jederzeit eine längerdauernde Abweichung von der Vollbeschäftigung zustande bringen und zum Phänomen der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit fuhren kann. Grundlegend ist der Unterschied zwischen Real- und Nominallohn, d. h. dem Lohn, den der Arbeiter ausgehandelt hat und der nicht immer, wie etwa der Reallohn, im Verhältnis zur Produktivität steht. Bei einem Konjunktureinbruch sind die Arbeiter nicht bereit, von ihrem ausgehandelten Nominallohn abzugehen und sich mit einem Reallohn zufrieden zu geben. Die Nominallöhne sind deshalb nach unten hin starr und die Wirtschaft muß aus Kostengründen Entlassungen vornehmen. Eine mögliche Beschäftigungserhöhung, die die bei starren Nominallöhnen entstandene unfreiwillige Arbeitslosigkeit beseitigen soll, läßt sich demnach nur über den Weg eines steigenden Preisniveaus erreichen. Hier und aus anderen Gründen sind Eingriffe des Staates nicht nur finanzpolitisch, sondern vor allem auch sozialpolitisch notwendig 25 . Deshalb sind in Skandinavien auch z. B. die
25
JOHAN MYHRMAN und HANS TSON SÖDERSTRÖM schreiben i n „Svensk stabiliserings-
politik och nya villkor" (Schwedische Stabilisierungspolitik und neue Bedingungen) hierzu: „Man var inte längre beredd att passivt acceptera deflation och arbetslöshet. Erfarenheten ansâgs visa att de künde bekämpas pâ politisk väg och det blev nu politikerna som fick ansvaret for ,dáliga tider'. Prioriteringen av sysselsättningsmälet blev mycket stark och kravet pâ ,full sysselsättning' blev med tiden överordnat de andra ekonomisk-politiska mâlen. Variationer i skatter och offentliga utgifter fick därmed avsevärda effekter pâ hela samhällsekonomin. Statsmakterna har ocksâ fätt tillgâng üll en forsvarlig uppsättning stabiliseringspolitiska medel i form av skattesatser, bidrag, statlig konsumtion, investeringar etc." (Svensk ekonomi. Ett samlingsverk redigerat av Bo Södersten, 1987, 7 7 - 1 1 5 , 83 f.).
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Sozialversicherungssysteme staatlich, weil sie die Möglichkeiten einer sozialpolitischen Intervention zur Hand geben 2 6 . Inwieweit ist es nun richtig, daß die Stockholmer Schule sich auf den Begriff der positiven Subsidiarität berufen kann? Ihr Anliegen ist es immer weder, gerade gegenüber den kollektivistischen Systemen des Osten, den arbeitenden Menschen, aber auch den wirtschaftlichen Unternehmen ein Höchstmaß an Freiheit und individueller Selbstentfaltung zu gewähren. Dieser Punkt wird immer von neuem hervorgehoben, so daß man fast schon von einem negativen Aspekt der Subsidiarität sprechen kann. Ahnlich ist auch die nüchtern-realistische Einschätzung des Menschen, die seine Unvollkommenheiten und sozialen Schwächen einbezieht. Gerade deshalb dürfen nicht Angebot und Nachfrage Ziel- und Zwecksetzung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sein, sondern umgekehrt, die sozialen, personalen und gesellschaftlichen Ansprüche der Gesellschaftsordnung müssen die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft setzen 27 . Der zweite Punkt gilt der Frage der staatlichen Subventionen von diakonischen Einrichtungen. Nach der oben wiedergegebenen Distinktion von Gemeinschaft und Gesellschaft und der Vorordnung gemeinschaftlicher Größen vor staatlichen Institutionen, sollen diejenigen vorrangig zur Hilfe gerufen werden, die der betroffenen Person am nächsten stehen. Dies mag für die Familie gelten, aber es ist in der Tat nicht statthaft, wenn man mit Hilfe des
Deutsche Übersetzung: Man war nicht länger bereit, in passiver Weise Deflation und Arbeitslosigkeit zu akzeptieren. Man ging davon aus, daß die Erfahrung gezeigt hatte, daß sie mit politischen Mitteln zu bekämpfen seien, und die Verantwortung für „schlechte Zeiten" bekamen jetzt die Politiker. Der Vorrang der Beschäftigung wurde deutlich, und die Forderung nach „Vollbeschäftigung" wurde allmählich allen anderen wirtschaftspolitischen Zielen übergeordnet. Die Änderungen bei den Steuern und die öffentlichen Ausgaben bekamen deshalb entscheidende Auswirkungen für die gesamte Volkswirtschaft. Die staaüichen Behörden hatten außerdem ein entsprechendes Instrumentarium von stabilitätspolitischen Mitteln in Form von Steuersätzen, Unterstützung, staatlichen Ausgaben, Investitionen etc. 26 Die Sozialversicherungssysteme stehen bewußt im Dienst einer gerechteren Verteilung der erarbeiteten Werte: „Utifirän ovan skisserade utgângspunkter kan socialpolitiken efter det demokratiska genombrottet till stor del ses som ett résultat av medborgamas försök att via politiken pâverka fördelningsprocesserna pà marknaden" (als der Versuch der Staatsbürger, mit Hilfe der Politik die Verteilungsprozesse des Marktes zu beeinflussen). ( W . KORPI, S. OLSSON u n d ST.-Â. STENBERG, S v e n s k
socialpolitik:
B. SÖDERSTEN [Ed.] fAnm. 25], Svensk ekonomi, 258-297, 264). 27 Vgl. die grundlegende Untersuchung von OTTO STEIGER, Studien zur Entstehung der Neuen Wirtschaftslehre in Schweden. Eine Anti-Kritik, Wirtschaftswissenschaftliche Abhandlungen, Heft 28, 1971).
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Subsidiaritätsprinzips die Frage stellt, ob die Kirche nicht dem Nächsten a priori näher stehe, als der säkulare Staat, was dann konkret bedeuten würde, daß die kirchlichen Einrichtungen, weil sie von der Kirche betrieben werden, personennäher wären, als staatliche Einrichtungen. Wenn sich RENDTORFF28 in einem noch nicht veröffentlichten Vortrag mit Vehemenz und subtiler Schärfe gegen eine derartige Argumentationskette wendet, dann dürfte er eigentlich bei guten katholischen Theologen nur offene Türen einrennen, denn wir erwähnten ja oben, daß die Kirche bewußt aus dieser Rangordnung Personennähe - Personenferne ausgeklammert worden ist, weil sie nicht der natürlichen, sondern der übernatürlichen Ordnung angehört. Gleichwohl bleibt die Frage der staatlichen Subventionen im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip ein Problem. NELL-BREUNING äußert sich hierzu recht salomonisch: „Wenn der Staat der Kirche Besteuerungsrechte einräumt und ihr seine Hilfe zur Veranlagung der Kirchensteuern leiht, so kann er es gegebenenfalls der Kirche überlassen, die für ihre caritativen Aufgaben benötigten Mittel über Kirchensteuern aufzubringen. Dem Subsidiaritätsprinzip kann hier auf sehr verschiedene Weise Genüge getan werden; entscheidend wird es darauf ankommen, eine Regelung zu finden, bei der die Lasten gerecht verteilt sind"29.
Über die negativen Aspekte des Subsidiaritätsprinzips - vor allem den Schutz des Einzelnen vor Übergriffen des Staates - können wir uns kurz fassen, sie sind bekannt und bestimmen das einseitige Bild, das von diesem Prinzip im öffentlichen Bewußtsein existiert. Als Politiker, der sich 12 Jahre lang mit schwedischer Sozialpolitik beschäftigt hat, kann ich sagen, daß in den siebziger und achtziger Jahren ein Nachdenken über die negativen Seiten des Subsidiaritätsprinzips dem selbstherrlichen Wohlfahrtsstaat nur gut getan hätte. Aber jetzt haben sich die Akzente und Gewichte verlagert und heute angesichts der Massenarbeitslosigkeit und des beginnenden Elends vor dem Hang zur Bequemlichkeit zu warnen, dies wäre reiner Zynismus. Wir leben in harten, erbarmungslosen Zeiten, die von einem rapiden Werte- und Kulturverfall begleitet werden und heute ist es gerade für uns Theologen wichtig, gegen den Strom zu schwimmen und von der biblisch-theologischen Dimension her auf den tieferen Zusammenhang zwischen den Prinzipien von Subsidiarität und Solidarität zu verweisen.
28
V g l . T . RENDTORFF ( A n m . 12), Verantwortung, 13.
29
Ο. V. NELL-BREUNING (Anm. 7), Baugesetze der Gesellschaft, 52.
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2.3. Das Solidaritätsprinzip als Vollendung des Subsidiaritätsprinzips
Fassen wir das bisher Gesagte zusammen, dann ergibt sich folgendes Bild: Grundlage der Theorie vom Subsidiaritätsprinzip sind rein quellenmäßig zwei Größen: (1) Die päpstlichen Sozialenzykliken. Verbindlicher Interpret des Naturrechts, des natürlichen Sittengesetzes ist das Lehramt, deshalb sind die Grundtexte der katholischen Soziallehre, und dies gilt auch für die Ausführungen über das Subsidiaritätsprinzip, die päpstlichen Sozialenzykliken. Dieses ist der Grund dafür, daß wir unsere Darstellung mit einer Analyse der Enzyklika Quadragesimo anno beginnen ließen. (2) Die Prinzipien der katholischen Soziallehre fußen auf dem Naturrecht. Es erhebt in seiner klassischen Form den Anspruch, allgemein rational einsichtig zu sein. Erst in der letzten Zeit wurde die Einheit von Schöpfüngs- und Erlösungsordnung betont, die dann eine neue christologische Orientierung möglich macht. Die Voraussetzungen der katholischen Soziallehre und damit des Subsidiaritätsprinzips sind nicht empirischer, sondern metaphysischer Art. Von diesen beiden Punkten wird nun auch versucht werden, auf die Frage zu antworten, ob das Subsidiaritätsprinzip der gegenwärtigen protestantischen Ethik noch etwas sagen kann.
3. Die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips für die gegenwärtige protestantische Ethik
Die bisherigen Ausführungen haben uns gezeigt, daß die wichtigsten Bausteine der Gesellschaft für die katholische Soziallehre (1) das Personalitätsprinzip, als die kleinste Einheit, (2) das Subsidiaritätsprinzip und schließlich (3) das Solidaritätsprinzip sind. Obwohl die katholische Soziallehre auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist und sich immer am Ganzen orientiert, steht doch der Einzelne als Person im Zentrum:
372
Systematische Theologie „Ausgangspunkt und Wesensziel des Gemeinschaftslebens bildet die Wahrung, Entfaltung und Vervollkommnung der menschlichen Persönlichkeit. Der Mensch ist der Träger, Schöpfer und das Ziel aller menschlicher Einrichtungen."30
Dies bedeutet, daß die Individualethik immer der Sozialethik vorgeordnet ist. Aber der Mensch ist keine Monade, sondern er ist wesenhaft ens sociale. So wie das Subsidiaritätsprinzip, so gehört auch das Solidaritätsprinzip zum Wesen des Menschen. Sie sind Seinsprinzipien, d. h. sie wurzeln unmittelbar in dem, was der Mensch wesenhaft ist. Das Solidaritätsprinzip gehört zur inneren Struktur der Gesellschaft, während die äußere Struktur durch das Subsidiaritätsprinzip bestimmt wird. Wenn wir verstehen, daß beide in einem dialektisch-dynamischen Verhältnis zueinanderstehen, in einem Verhältnis, das nie statisch, sondern immer beweglich ist, dann kann die Zuordnung von Subsidiaritätsprinzip und Solidaritätsprinzip ein großer Gewinn auch für die evangelische Ethik werden. Das Subsidiaritätsprinzip zeigt uns, daß das Gemeinwohl kein absoluter höchster Wert ist, dem man in jedem Fall das Wohl des Einzelnen opfern müßte, und daß der Mensch mitten in seiner sozialen Aktivität doch letztlich mit seinen großen existentiellen Problemen wie Schuld und Tod allein vor Gott steht, aber je größer Not und Einsamkeit empfunden werden, desto stärker wird der Mensch an den Nächsten verwiesen, desto mehr versteht er, daß Solidarität nicht ein Königsweg, sondern auch das Tragen des Kreuzes Christi ist. Diese Spannung können wir in diesem Leben nicht überwinden, denn sie macht seinen Reichtum und seine Tiefe aus. In dieser Hinsicht ist das Subsidiaritätsprinzip kein Prinzip, insofern etwas urhaft Statisches damit gemeint sein könnte, „aus dem" dann alles übrige abgeleitet werden oder „zu dem" es zurückgeführt werden kann. Es ist vielmehr Ausdruck einer erlebten Wirklichkeit, die über die oft dürren Worte einer Enzyklika hineinweist in das Ur-Dynamische des Glaubenslebens, wo rastloser Dienst am Nächsten seine Stärke auch aus der Erfahrung der Ferne, aus dem Schweigen und der Ruhe nimmt.
30 Mater et magistra, Nr. 219, (Ο., V. NELL-BREUNING [ED.] [Anm. 11], Texte zur katholischen Soziallehre).
Christliche Ethik und gesellschaftliches Subsidiaritätsprinzip
373
Literaturverzeichnis (in Auswahl)
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374
Systematische Theologie
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PRAKTISCHE THEOLOGIE
„Die Praktische Theologie lechzt nach Tatsachen Eine praktisch-theologische Erinnerung an PAUL DREWS Christian Grethlein, Halle/Saale
Der tiefe gesellschaftliche Umbruch infolge der politischen Wende 1989 betrifft an der Martin-Luther-Universität auch die Theologische Fakultät in mehrfacher Weise. Äußerlich gesehen wurde sie (wieder) personell verstärkt und die Bibliothek ausgebaut; sie kann sich für interdisziplinäres Arbeiten öffnen. Hinter diesen neuen Möglichkeiten stehen vor allem zwei Faktoren, die zu einer Veränderung der theologischen Arbeit an der Fakultät drängen: • Allgemein ist die frühere DDR-Gesellschaft einem starken Differenzierungsprozeß 2 ausgesetzt, der besonders durch die damit verbundene Individualisierung3 für die kirchliche Arbeit neue Anforderungen mit sich bringt.4 In dieser Situation bedarf Kirche in hohem Maß der theologischen Beratung, um ihre Organisation und Angebote in der neuen Gesellschaft so zu gestalten, daß sie ihrem Auftrag - Begegnung der Menschen mit dem Evangelium zu ermöglichen - nachkommen kann. Vor allem im Bildungsbereich stehen tiefgreifende Veränderungen an: Aufbau des schulischen Religionsunterrichtes und der Evangelischen Erwachsenenbildung; Neukonzeption der gemeindepädagogischen Angebote. Der besonders radikal in Halle von einigen Pfarrern propagierte Versuch, die Einführung des Religionsunterrichts an den öffentlichen Schulen zu verhindern, zeigt in seinem fast ausschließlichen Bezug auf „Befindlichkeiten" kirchlicher Mitarbeiterinnen 1 2 3
4
P. DREWS, „Religiöse Volkskunde", eine Aufgabe der praktischen Theologie, in: MKP 1 (1901), 4. Siehe ζ. B. für den weltanschaulichen Bereich P. L. BERGER, Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1980 (1979), 30-35. Siehe z. B. U. BECK, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986, 121-253 (vgl. aber die Modifizierung der Individualisierungsthese bei G. SCHULZE, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M . - N e w York 1993 [1992], 75-78). Siehe ζ. Β. aus kirchenleitender Sicht H. ZEDDIES, „Was ist aus uns geworden?" Von der Loccumer Erklärung zur Vereinigung der Kirche, in: PTh 82 (1993), 500-512.
378
Praktische Theologie und Mitarbeiter und seiner damit gegebenen religionspädagogischen Argumentationsschwäche deutlich die Ängste vor dem Modernisierungsschub.
•
Die neuen Möglichkeiten und Verpflichtungen der Kirche zu öffentlichem Wirken haben für die Lehre der Theologischen Fakultät unmittelbare Konsequenzen. Während in der DDR nur auf den Pfarrerberuf hin ausgebildet wurde und deshalb diese Tätigkeit als berufliches Leitbild für das Theologiestudium galt, werden mittlerweile Studiengänge für die verschiedenen Lehrämter und Magisterabschlüsse angeboten. Daraus ergibt sich, daß das Studienangebot dementsprechend modifiziert und differenziert werden muß.
Die Praktische Theologie, zu deren Aufgabenfeldern auf jeden Fall die Reflexion des gegenwärtigen kirchlichen Handelns und die Grundlegung von Handlungsorientierungen für Kirche gehört, 5 ist von diesen Veränderungen besonders betroffen. Sie muß sich in genauer Analyse der neuen Situation orientieren. In einer solchen Lage kann ein Blick in die eigene Disziplingeschichte hilfreich sein. Denn sie enthüllt vielleicht verschüttete Optionen oder regt wenigstens - durchaus auch im Widerspruch - eigenes Nachdenken an. Dabei stößt man in Halle sowohl aus sachlichen als auch persönlichen Gründen schnell auf PAUL DREWS, den bedeutendsten Praktischen Theologen, der bisher an der Fakultät lehrte: 6 • DREWS beschäftigte sich als Praktischer Theologe eingehend mit dem Problem der Individualisierung. In letzter Zeit machte V. DREHSEN nachdrücklich auf seine daraus resultierende fundamentale Bedeutung für die praktisch-theologische Theoriebildung aufmerksam: „Das sich hierbei (sc. bei DREWS, C. G.) herauskristallisierende Thema der Praktischen Theologie ist das methodisch angemessen zu erschließende Verhältnis von Allgemeinheit und Individualität in der gegenwärtig gelebten religiös-sittlichen Praxis unter den tatsächlichen Verstehens- und Handlungsbedingungen neuzeiüicher Kultur und moderner Gesellschaft".7
5 6
7
Vgl. D. RÖSSLER, Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin - New York 1986, 3-21. Siehe die Zusammenstellung von zeitgenössischen Würdigungen DREWS' nach seinem Tod bei V. DREHSEN, Neuzeiüiche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie Bd. 2 (Anmerkungen), Gütersloh 1988, 285 f., Anm. 1. V. DREHSEN, Neuzeiüiche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie Bd. 1, Gütersloh 1988, 449; dementsprechend verlagert sich „der Gewißheitsgewinn der Erkenntnis vom Resultat des Wissens auf den epistemologischen Weg, auf dem man zu einem Resultat überhaupt erst gelangt" (a. a. O., 354).
„Die Praktische Theologie lechzt nach Tatsachen ..."
•
379
DREWS entwickelte seine Vorstellungen von Praktischer Theologie in engem Zusammenhang mit Vorschlägen zur Reform des theologischen Studiums, nicht zuletzt auf Grund seiner Einsicht in die Bedeutung dieses Fachs für die „Universitätspädagogik".8 G. KRAUSE konstatiert zu Recht: „Sein (sc. DREWS', C. G.) Vorschlag, Das Problem der Praktischen Theologie zur .Reform des theologischen Studiums' zu gestalten ... war ... seiner Zeit voraus und ist trotz didaktischer Mängel ... unveraltet."9
•
Schließlich ist das Werk DREWS' mehrfach eng mit der Hallenser Theologischen Fakultät verbunden. Sie zeichnete den jungen Extraordinarius in Jena bereits 1896 mit dem Ehrendoktor aus. Der Geehrte revanchierte sich dadurch, daß er sein Grundlagenwerk „Das kirchliche Leben der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche des Königreichs Sachsen", mit dem er 1902 selbst die von ihm herausgegebene „Evangelische Kirchenkunde" 10 begann, „Der hochwürdigen theologischen Fakultät Halle-Wittenberg" widmete. Schließlich nahm DREWS 1908 den Ruf aus Halle auf das Ordinariat für Praktische Theologie an, 11 das er bis zu seinem frühen Tod (1912) versah.
Aus diesen Gründen liegt es nahe, heute in Halle beim Nachdenken über die neuen praktisch-theologischen Aufgaben und Herausforderungen und ihre Konsequenzen für die Organisation des Theologiestudiums an DREWS' Überlegungen zu erinnern. Vieles von ihm Vorgeschlagene ist von fast erschrekkender Aktualität - nicht zuletzt in Folge der erzwungenen, langjährigen Isolation von Kirche und Theologie in der DDR und des Versuchs der SEDMachthaber, den neuzeitlichen Differenzierungsprozeß in simple Schablonen wie „Kollektiv", „Solidarität" u. ä. zu kanalisieren. Dabei sind nicht unbedingt die einzelnen Argumentationen von DREWS originell, wie er mehrfach selbst betont; aber ihre Zusammenstellung verleiht seinen Schriften ein erhebliches Gewicht 12 und macht ihn vielleicht sogar zum wichtigsten Praktischen Theologen der Jahrhundertwende, eines für die Konstitution dieses Faches als we-
8
P. DREWS, Das Problem der Praktischen Theologie. Zugleich ein Beitrag zur Reform des theologischen Studiums, Tübingen 1910, 80.
9
G. KRAUSE, Art.: Drews, Paul Gottfried ( 1 8 5 8 - 1 9 1 2 ) , in: TRE 9 (1982), 190.
10
In dieser Reihe erschienen bis 1919 insgesamt sieben Bände, die jeweils eine Landeskirche in umfassender und heute noch lesenswerter Weise vorstellten. 11 Nach den Fakultätsakten wurden im Berufungsvorschlag neben DREWS dem Minister noch P. ALTHAUS und F. RENDTORFF genannt, wobei die Fakultät eindeutig DREWS präferierte. 12
Vgl. V. DREHSEN (Arnn. 7), 382.
380
Praktische Theologie
sentlichem Bestandteil der wissenschaftlichen Theologie entscheidenden Zeitabschnitts. 1 3 Als Ausgangspunkt für eine von den gegenwärtigen Fragen und Problemen geleitete, praktisch-theologische Beschäftigung mit DREWS eignet sich gut dessen programmatische Abhandlung „Das Problem der Praktischen Theologie" (1910), die - wie zahlreiche Rezensionen zeigen 14 - erhebliches Aufsehen erregte und bis heute von Bedeutung für die praktisch-theologische Theoriebildung ist. 15
1. „Das Problem der Praktischen Theologie"
DREWS geht in seinen Überlegungen zu einer Neukonzeption der „Praktischen Theologie" von Problemen der Studienorganisation und des Pfarrberufs aus. 1.1. Aktuell - und indirekt vor heute wieder grassierenden „ Abfall'-Theorien warnend - klingen seine Feststellungen zur Studiensituation: „Wir können wohl ohne Uebertreibung von einem Studenten- und Examenselend sprechen." 1 6 Und: „So wird die Tendenz, das ganze Studium nur als Examensstudium zu treiben, immer stärker. Das eigentlich wissenschaftliche Interesse ist im Schwinden" 17 . Dahinter steht fur ihn das grundsätzliche Problem, daß das 13
14
15
In der Literatur wird DREWS zusammen mit O. BAUMGARTEN (siehe H. VON BASSI, O. Baumgarten. Ein „moderner Theologe" im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. - Bern - New York 1988) und F. NIEBERGALL (siehe H. LUTHER, Religion, Subjekt, Erziehung. Grundbegriffe der Erwachsenenbildung am Beispiel der Praktischen Theologie Friedrich Niebergalls, München 1984) zum „Triumvirat" der „modernen Theologie" gerechnet (VON BASSI, a. a. O., 347). Siehe ζ. Β. Ο. BAUMGARTEN, Paul Drews' „Problem der praktischen Theologie", in: EvFr 10 (1910), 1 7 9 - 1 9 1 ; M. SCHIAN, Das Problem der Praktischen Theologie, in: ThR 13 (1910), 3 2 9 - 3 4 7 . Siehe z . B . den Teilabdruck der Schrift bei: G. KRAUSE (Hg.), Praktische Theologie. Texte zum Werden und Selbstverständnis der praktischen Disziplin der evangelischen Theologie, Darmstadt 1972, 2 5 1 - 2 6 8 ; zum gesamten Schrifttum DREWS' siehe die Bibliographie bei DREHSEN (Anm. 6), 5 8 3 - 6 0 2 ; die historischen, vor allem liturgieund reformationsgeschichtlichen Arbeiten bleiben im folgenden unberücksichtigt, doch weist deren Fülle auf ihr Gewicht fur DREWS selbst hin und erklärt auch sein Insistieren auf die geschichtlichen Grundlagen empirischer Forschung (vgl. zum Einfluß A. VON HARNACKS auf DREWS: V . DREHSEN [Anm. 7], 3 6 3 - 3 7 1 ) .
16
P . DREWS ( A n m . 8 ) , 4 f.
17
P . DREWS ( A n m . 8 ) , 5.
„Die Praktische Theologie lechzt nach Tatsachen . Theologiestudium
zu stark historisch ausgerichtet
ist und darüber
381 das
„Gegenwärtige" zu kurz kommt. 1 8 Demgegenüber ist sein Studienziel die „Theologische Bildung", d. h. „die Fähigkeit, das Wesentliche und das Unwesentliche zu unterscheiden" 19 . „Niemand wird leugnen können, daß der nicht den Anspruch auf wirkliche theologische Bildung wird erheben können, der zwar über das Alte und Neue Testament wohl Bescheid weiß und die methodische Fähigkeit erworben hat, hier mit zu reden, oder der, der zwar einen genauen Uebeiblick über die Kirchengeschichte hat und weiß, um welche großen Fragen es sich zu den verschiedenen Zeiten gehandelt hat, oder endlich der, der zwar eine gediegene dogmatische und ethische Bildung besitzt, der aber von dem Tatsächlichen und Charakteristischen unsres gegenwärtigen kirchlichen Lebens keinen wirklich zusammenhängenden, geordneten und wohlbegründeten Begriff hat, der keine klare und gesicherte Vorstellung besitzt von den Kräften, die heute in der Kirche wirken, oder gegen die die Kirche anzukämpfen hat, der die Tendenzen nicht scharf erkennt, von denen das kirchliche Leben bestimmt wird u. s. f." 20 Um dies zu erreichen schlägt
DREWS
eine klare Unterscheidung zwischen der
Praktischen Theologie „für den Studierenden der Theologie an der Universität"und der „für den im Amt stehenden Geistlichen" vor. 2 1 Dazu empfiehlt er - damals keineswegs selbstverständlich - die allgemein verbindliche Einrichtung von Predigerseminaren, 22 deren Nutzen er konkret in seiner Gießener Lehrtätigkeit am Beispiel von Friedberg erfahren hatte. 2 3 Solch eine Unterscheidung ermöglichte es, im Universitätsstudium die Praktische Theologie als eigenständige theologische Disziplin zu profilieren, da sie vom Unterricht in den „spezifisch technischen Fächer(n): Homiletik, Katechetik, Seelsorge, Liturgik" 24 entlastet wäre.
18 Konkret fordert DREWS hier: „Wohl aber müssen wir die alttestamentlichen und die historischen Fächer einschränken." (a. a. O. [Anm. 8], 9). Und: „Ob man die Kenntnis des Hebräischen selbst, wie man gefordert hat, fallen lassen soll? Ich wage das nicht zu vertreten. Aber ich begreife, wie ein solcher Gedanke aufsteigen kann ..." (a. a. O. [Anm. 8], 10). 19
P . DREWS ( A n m . 8), 8.
20
P. DREWS ( A n m . 8), 5 4 f.
21
P . DREWS ( A n m . 8), 4 3 .
22
V g l . P. DREWS ( A n m . 8), 5 0 f.
23
Siehe P. DREWS, Der wissenschaftliche Betrieb der praktischen Theologie in der theologischen Fakultät zu Gießen, Gießen 1907, 48; vgl. DREWS' Schüler und Nachfolger in Halle K. EGER, P. Drews' theologische Arbeit, in: ThStKr 90 (1917), 21.
24
P . DREWS ( A n m . 8 ) , 7 9 .
382
Praktische Theologie
1.2. Weiterhin erfüllt nach DREWS' Urteil die Praktische Theologie ihre Aufgabe hinsichtlich der Pfarrer ebenfalls nicht. Sie ist eine .„unpraktische' Praktische Theologie"25. Vier Gründe sind für dieses Versagen verantwortlich, die zugleich deutlich die Abgrenzung DREWS' von früheren Fachvertretern markieren: • ein „bewußtes Streben nach Systematisierung der Praktischen Theologie als eines Ganzen"26. Hiermit setzt sich DREWS gegen Versuche vor allem bei Κ. I. NITZSCH und in dessen Nachfolge ab. „Vor allem aber ist dies der Schaden, der mit dieser Sucht und eigentümlichen Mode, die Praktische Theologie zu systematisieren, angerichtet worden ist: Man baute Gedankenkonstruktionen auf, Theorien, die weit ab vom wirklichen Leben lagen ... Bis an die Grenzen des Komischen hat man sich verirrt" 27 .
•
„eine einseitige Deduktionsmethode"28, die aufs engste mit dem eben genannten Problem der Systematisierung zusammenhängt. DREWS fragt: „Wo bleibt da das wirkliche Leben mit seinen konkreten Aufgaben und Schwierigkeiten? Im ,Unendlichen' verliert sich das .Endliche' - zum Schaden der Sache" 29 .
•
„ein einseitiger Biblizismus"30. Hier grenzt sich DREWS Z. B. - neben NITZSCH - g e g e n G. v. ZEZSCHWITZ und T. HARNACK ab. Denn: „Indem das Interesse des Praktischen Theologen in so besonderer Weise der Bibel sich zuwandte, trat sein Interesse an dem Gegenwärtigen zurück ... Das gegenwärtige Leben will in seiner Eigenart nach jeder Seite hin berücksichtigt werden" 31 .
•
„ein verkehrter Historizismus"32, der sich ζ. B. bei E. CHR. ACHELIS fin-
det. Hier sieht DREWS, der ja selbst auf verschiedenen Gebieten historische Arbeiten verfaßte, vor allem die Gefahr, dafl historische Spezialforschung zu einer grundsätzlichen Abwehr gegenüber der unverzichtbaren „geschichüiche(n) Fundamentierung" fuhren könne. 33
25
P. DREWS ( A n m . 8), 19.
26
P. DREWS ( A n m . 8), 20.
27
P. DREWS ( A n m . 8), 24.
28
P. DREWS ( A n m . 8), 20.
29
P. DREWS ( A n m . 8), 29.
30
P. DREWS ( A n m . 8), 20.
31
P. DREWS ( A n m . 8), 36.
32
P. DREWS ( A n m . 8), 20.
33
Siehe P. DREWS (Anm. 8), 41.
,Die Praktische Theologie lechzt nach Tatsachen .
383
Diese vier Tendenzen versperren nach DREWS den Weg der Praktischen Theologie zum Gegenwärtigen und machen sie so letztlich als eigene theologische Disziplin neben Dogmatik bzw. Kirchengeschichte überflüssig. Vielmehr muß sie „das kirchliche Leben der Gegenwart in allen seinen Verzweigungen, seinen mannigfaltigen
Ausgestaltungen
schaftlich ... erfassen und dar ( . . . )
und Erscheinungsformen
stellen" 3 4 .
wissen-
Eine Praktische Theologie, die
sich dieser Aufgabe verpflichtet weiß, muß weithin empirisch arbeiten. Dafür schlägt DREWS eine neue praktisch-theologische Fächeraufteilung vor:
2. Praktische Theologie als empirische Disziplin
Grundsätzlich zielt DREWS in seinen praktisch-theologischen Schriften konsequent darauf, das „Gegenwärtige" in die theologische Arbeit einzuholen und so die Ausbildung der künftigen Pfarrer praxisnäher (nicht praktischer!) zu gestalten. Dazu schlägt er eine Erweiterung des praktisch-theologischen Fächerkanons vor, nämlich durch Kirchenkunde, religiöse Volkskunde und religiöse Psychologie, ohne daß aber diese neuen Unterdisziplinen in allen Veröffentlichungen DREWS' in gleicher Weise einander zugeordnet wären. Entsprechend dem Begründungszusammenhang dieser drei Fächer in den Defiziten praktisch-theologischer Arbeit, wie sie besonders im Versagen gegenüber der Ausbildungsaufgabe hervortreten, und nicht in einer enzyklopädisch interessierten Wissenschaftstheorie, wechselt ihre Verhältnisbestimmung. In DREWS' Aufsatz „Religiöse Volkskunde"bildet die religiöse Volkskunde, die „eine wirkliche Kenntnis des gegenwältigen religiösen Lebens innerhalb und ausserhalb der Landeskirchen"35 vermitteln will, den Mittelpunkt der Überlegungen. Hier tritt „ergänzend an die Seite" eine „religiöse Psychologie" 36 und findet in einer „Kirchenkunde" eine „besondere Ausprägung"37. Neun Jahre später bildet die Evangelische Kirchenkunde das Zentrum, „eine Disziplin, ohne die die Praktische Theologie in Zukunft nicht soll gedacht werden können"38. Als deren „Hauptzweig" nennt DREWS die
34
P. DREWS, Dogmatik oder religiöse Psychologie?, in: ZThK 8 (1898),134- 151, 145.
35
P. DREWS, ( A n m . 1), 1.
36
P . DREWS, ( A n m . 1), 7 .
37
P . DREWS, ( A n m . 1), 7 f.
38
P . DREWS ( A n m . 8 ) , 5 5 .
384
Praktische Theologie „religiöse Volkskunde"39, der wiederum die „religiöse Psychologie" „zur Seite (tritt), weil in ihr wurzelnd"40.
Betrachtet man die ζ. T. nur skizzenhafte Explikation der hier vorgeschlagenen neuen Arbeitsbereiche der Praktischen Theologie genauer, wird schnell deutlich, daß sie auch untereinander kaum abgrenzbar sind, vielmehr ein gemeinsames Ziel in unterschiedlicher, ζ. T. sogar von Publikation zu Publikation wechselnder Nuancierung verfolgen. 2.1. Am deutlichsten arbeitete DREWS das Profil der religiösen Volkskunde aus. 41 Programmatisch stellt er ihre Notwendigkeit und Aufgaben 1901 vor: „Die Voraussetzung einer besonnenen und wirksamen Beeinflussung des kirchlichen Lebens und der kirchlichen wie nicht kirchlichen Kreise ist eine wirkliche Kenntnis des gegenwärtigen religiösen Lebens innerhalb und ausserhalb der Landeskirchen. Das erforderte eine beschreibende Darstellung des religiösen Lebens der Gegenwart im Zusammenhang mit seinem geschichtlichen Werden auf Grund einer eindringenden psychologischen Analyse des Volkscharakters wie der Gruppen- und individuellen Typen, mit denen der Geistliche zu rechnen hat." 42 selbst ist sich drei aktueller Motive für diese Forderung einer religiösen Volkskunde bewußt: „So trieb zunächst die Notlage und Hilflosigkeit des Pfarrerstandes zur religiösen Volkskunde. Dazu kam aber auch die Wendung zum Volk, die soziale Stimmung der christlichen Kreise in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts ... Endlich kam dieser Bestrebung eine allgemeine Bewegung zum Volkstümlichen, eine nationale Stimmung ... entgegen." 43 DREWS
Interessant und bis heute aktuell ist, daß DREWS durch diese entschlossene Zuwendung zur Empirie „Wirklichkeiten" in den Blick bekam, die bisher in einer entweder nur auf vorfindliche kirchliche Praxis bezogenen oder theologisch spekulativ entworfenen Praktischen Theologie unbedacht blieben. Neben der Notwendigkeit, sich mit dem „modernen Sektenwesen", „Aberglauben" 4 4
39
P . DREWS ( A n m . 8 ) , 6 0 .
40
P . DREWS ( A n m . 8 ) , 6 5 .
41
Zum biographischen Hintergrund DREWS' hierfür vgl. den Hinweis von DREHSEN (Anm. 6), 418f. Anm. 355, auf die große Bedeutung der Volkskunde in Gießen während DREWS' dortiger Lehrtätigkeit.
42
P . DREWS ( A n m . 1), 1.
43 44
P. DREWS, Art.: Predigt. Geschichte der Predigt, in: 'RGG Bd. 4 (1913), 1747. Vgl. hierzu die interessante Beobachtung in DREWS' „Das kirchliche Leben der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche des Königreichs Sachsen", Tübingen - Leipzig 1902 (EKKd 1), 350: „Die Stütze des Kirchenglaubens ist in vielen Fällen der Aber-
„Die Praktische Theologie lechzt nach Tatsachen ..." und „modernem Mystizismus" zu beschäftigen, 45 weist er auf weite Gebiet der Surrogate für die christliche Religion, die heute fentlichen Markte feilgeboten werden" 46 , als Forschungsgebiet schen Theologie hin. Wie das konkret aussieht, zeigt DREWS z. Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie.
385 „das ganze auf dem öfder PraktiB. in seiner
Hier fordert er am Beginn seiner publizistischen Wirksamkeit nicht nur „furchtlos den idealen Kern in der sozialdemokratischen Bewegung anzuerkennen" sondern auch „für ihren Wahrheitsgehalt unerschrocken einzutreten"47. Denn zum einen stellt DREWS sozialkritisch fest: „Äußere Not kann so abstumpfend, geisttötend wirken, daß der religiöse Trost auf keinen Anknüpfungspunkt mehr rechnen kann"48; zum anderen enthüllt er das theologische Recht der Emanzipationsforderungen des vierten Standes: „Dieser Drang nach voller Selbständigkeit, das ist der sittliche Kern der sozialdemokratischen Bewegung ... Er (sc. der Arbeiter, C. G.) fordert unbedingt diejenigen Rechte, die die Menschenwürde verleiht und die das Christentum endgiltig bestätigt, ja in ihrer Heiligkeit erst voll erkennen lernt."49 Dabei klingt bereits an, daß sich die religiöse Volkskunde nicht im Suchen von Daten und Beobachtungen erschöpft. Zu ihr gehört vielmehr noch „die Frage nach den Ursachen dieser religiösen Zustände" 50 . „Gewiss liegen die letzten Gründe religiösen Lebens, wie allen Lebens, im Dunkeln, aber wichtige mitwirkende Faktoren lassen sich dennoch mit Sicherheit feststellen. So werden wir bei der religiösen Eigenart einer Volksschicht die ethnographischen, die sozialen, die geschichtlichen Verhältnisse und Vorbedingungen energisch ins Auge fassen müssen."51 Dabei geht DREWS davon aus, daß „auch dem religiös-sittlichen Leben ... bestimmte Gesetze zu Grunde" 52 liegen.
glaube; stürzt dieser, so folgt jener sehr leicht nach. Dieser zum Aberglauben gewordene christliche Glaube ist in den Massen lebendig und von diesem aus wird die Verkündigung des Pfarrers verstanden und gedeutet." 45
Vgl. P. DREWS (ANM. 1), 4 f.
46
P. DREWS ( A n m . 1), 5.
47 P. DREWS, Mehr Herz fürs Volk, Evangelisch-soziale Zeitfragen 1. R_, LH., Leipzig 1891, 12; dahinter steht die Einsicht: „Was die kirchliche und staatliche Gemeinde nicht bietet, bietet der sozialdemokratische Verein." (ebd., 47). 48
P. DREWS ( A n m . 47), 38.
49
P. DREWS ( A n m . 47), 45.
50
P. DREWS ( A n m . 1), 5.
51
P. DREWS, ebd.
52
P. DREWS, ebd.
386
Praktische Theologie
2.2. Bereits drei Jahre vor den eben rekonstruierten Ausführungen zur religiösen Volkskunde skizzierte DREWS seine Vorstellungen zur religiösen Psychologie. 53 In Auseinandersetzung mit M. SCHIAN, der die Bedeutung der Individualität für die „Glaubensgewinnung" und „Glaubensgestaltung" herausarbeitete und daraus Vorschläge für eine neue Form der Dogmatik entwickelte, 54 nahm DREWS dessen auf die Berücksichtigung des Individuellen gerichtetes Interesse auf und zog daraus fur die Praktische Theologie Konsequenzen. Er forderte ein neues praktisch-theologisches Arbeitsfeld, eben die religiöse Psychologie. Während er - unter Rekurs auf W. HERRMANN55 - für die Dogmatik das Wesen des Glaubens an Christus als einen der empirischen Methodik entzogenen Gegenstandsbereich beschreibt, geht es für ihn in der Praktischen Theologie um „das thatsächliche, empirische religiöse Leben"56.
„Was wir brauchen ist ... eine Psychologie des religiös-sittlichen Lebens als eine besondere Disziplin der praktischen Theologie ... Es wird darauf ankommen festzustellen, von welcher Bedeutung sowohl bei der ,Glaubensgewinnung', als auch bei der , Glaubensausgestaltung' persönliche Veranlagung wie umgebende Verhältnisse sind. Man muß auf Hinderungen und Förderungen achten, die sich auf verschiedenen Altersstufen einstellen, die sich aus den sozialen Verhältnissen, aus der dauernden Lebensbeschäftigung, aus der Macht der Sitte, aus dem Autoritätsbedürfnis u.s.w. ergeben." 57 DREWS selbst arbeitete aber - im Vergleich etwa zu F. NLEBERGALL58 - diesen Gesichtspunkt der „modernen" Praktischen Theologie materialiter nicht weiter aus.
53 -P. DREWS (s. o. Anm. 34); zu den psychologischen Kenntnissen, soweit sie durch DREWS' Studienverlauf und Veröffentlichungen zu rekonstruieren sind, siehe DREHSEN (Anm. 6 ) , 4 3 3 f. Anm. 3 8 3 . 54 M. SCHIAN, Der Einfluß der Individualität auf Glaubensgewinnung und Glaubensgestaltung, in: ZThK 7 (1897), 513 ff. 55 Siehe P. DREWS (Anm. 34), 142: „Indem Herrmann daran geht, uns in seinem .Verkehr des Christen mit Gott' das Wesen des christlichen Glaubens klar zu machen, schildert er in seiner unübertrefflichen Weise, wie Gott durch das innere Leben Christi sich uns als Wirklichkeit aufdrängt und den Verkehr mit uns eröffnet ... Herrmann muüte sich ein Subjekt denken, das durch nichts gehindert, Jesum wirklich mit voller Empfänglichkeit auf sich wirken läßt." Vgl. zur Kontinuität dieser Überlegung zu pietistischen Vorstellungen DREHSEN (Anm. 6), 356 f. Anm. 182. 56
P. DREWS ( A n m . 3 4 ) , 144.
57
P. DREWS ( A n m . 3 4 ) , 146; v g l . DENS. ( A n m . 8), 6 6 .
58
Siehe z. B. F. NIEBERGALL, Die Bedeutung der Religionspsychologie für die Praxis in Kirche und Schule, in: ZThK 19 (1909), 411-474.
,Die Praktische Theologie lechzt nach Tatsachen
387
2.3. Schließlich ist noch auf die Kirchenkunde hinzuweisen, die DREWS in seinem Aufsatz „Das Problem der Praktischen Theologie" so stark herausstellte und an deren Ausarbeitung er sich durch seine umfangreiche Monographie zur sächsischen Landeskirche beteiligte. Allgemein formuliert ist es die Aufgabe der Kirchenkunde - und hier tritt ihr innerer Zusammenhang mit der religiösen Volkskunde hervor -, „Wirklichkeitssinn (zu) schaffen, die Wirklichkeit (zu) zeigen" 59 . Auch hier ist es DREWS' vordringliches Ziel, in der Fülle des empirischen Materials die den konkreten Verhältnissen zugrundeliegenden Gesetze, eben des kirchlichen Lebens, herauszuarbeiten. „Sie (sc. die Kirchenkunde, C. G.) muß aus der großen Fülle des Mannigfaltigen das Typische herausfinden, aus dem Wechsel das sich Gleichbleibende und damit die Tendenz, in der sich unser kirchliches Leben bewegt"60.
Gegenüber dem Vorwurf des Empirismus betont DREWS, „daß die Kirchenkunde ... durchaus kritisch vorgeht. Ueberall legt sie Maßstäbe an das Bestehende an, überall richtet sie Ziele auf, überall macht sie Normen geltend" 61 . Inhaltlich scheint dabei immer wieder die Hochschätzung des früheren Dresdener Pfarrers DREWS fur die SULZEschen Gemeindereformvorschläge durch. 62 Methodisch ist die Kirchenkunde historisch orientiert, denn: „Nur aus der Vergangenheit kann die Gegenwart verstanden werden. Aber die Geschichte tritt hier lediglich als Erklärungsmittel des Gegenwärtigen auf, nicht hat sie hier einen Selbstzweck." 63 2.4. Zusammengehalten werden die drei von DREWS empfohlenen neuen praktisch-theologischen Fächer inhaltlich durch ihren pädagogischen Bezug auf die pastorale Tätigkeit. Damit gewinnen sie einerseits ihre Weite, sind aber andererseits von Engfuhrung bedroht. Bisher nicht hinreichend praktischtheologisch Bearbeitetes kommt dadurch in den Blick, daß DREWS den Pfarrerstand auch in seiner kulturellen Bedeutung wahrnimmt. So beginnt er seine kulturgeschichtliche Monographie „Der evangelische Geistliche in der deutschen Vergangenheit" mit dem Satz: „Einen so lebendigen Anteil am geistigen
59 60
P. DREWS (Anm. 8), 57. P. DREWS, Zur Psychologie des Kirchenbesuchs. Ein Kapitel aus der Evangelischen Kirchenkunde, in: DE 2 (1911), 27.
61
P. DREWS ( A n m . 8), 6 2 f.
62
Siehe z.B. DREWS (Anm. 44), 175; vgl. z.B. E. SÜLZE, Die evangelische Gemeinde, Gotha 1891.
63
P. DREWS ( A n m . 8), 6 4 .
388
Praktische Theologie Leben unseres Volkes, wie ihn der evangelische Pfarrstand genommen hat, hat wohl kaum ein andrer Stand aufzuweisen." 64
Aus der engen Verbindung der Pfarrer mit dem Volk resultiert, „daß die kulturelle Entwicklung der Gesamtheit mehr oder weniger deutlich sich in der Geschichte des evangelischen Pfarrstandes abspiegelt" 65 . Das bereits festgestellte Ineinander von Kirchenkunde und religiöser Volkskunde hat also in der besonderen Geschichte der christlichen Kirche in Deutschland, greifbar in der Geschichte des evangelischen Pfarrstandes, ihren Grund. Die pastoraltheologische Konzentration der Praktischen Theologie bei D R E W S , die damals in hohem Maß der kirchlichen Praxis entsprach, kann aber, auch wenn sie von ihm nicht exklusiv durchgeführt wurde, 66 zu einer Engfiihrung werden. Dies wird später bei den Überlegungen zu D R E W S ' aktueller Bedeutung näher auszuführen sein. Methodisch bildet die Suche nach „Gesetzen" hinter den individuellen Erscheinungsformen die Klammer für die unterschiedlichen Fächer, wobei auch hierfür die Abzweckung auf die pastorale Ausbildung bestimmend ist.
3. Heutige Bedeutung des praktisch-theologischen Programms
DREWS'
DREWS' Programm einer Praktischen Theologie als der empirisch ausgerichteten Form von Theologie hat bis heute nicht an Aktualität verloren. Wie weit er damit vorausgriff, zeigt sich auch daran, daß teilweise seine Veröffentlichungen hinter dem eigenen konzeptionellen Anspruch zurückblieben. 67 Dazu
64 65 66
67
P. DREWS, Der evangelische Geistliche in der deutschen Vergangenheit, Jena 1905 (MDKG 12), 6. P. DREWS, ebd. So gibt DREWS (Anm. 44), IX, nach den Fachkollegen, Kandidaten und jungen Geistlichen auch „kirchlich interessierte Laien, besonders Gemeindevertreter" als Adressaten für seine sächsische Kirchenkunde an. Vgl. auch den Hinweis auf die wissenschaftsorganisatorische Problematik bei DREHSEN (Anm. 6), 382 f. Anm. 274: „Der ambivalente Charakter der von Drews durchgeführten .Empirisierung' der Praktischen Theologie besteht also darin, daß er einerseits durch die Einführung von evangelischer Kirchenkunde, religiöser Volkskunde und Religionspsychologie die in ihren jeweils repräsentierten Sachdimensionen gleichsam für die Praktische Theologie dauerhaft installiert, sie andererseits aber in ihrer Fassung als besondere (Unter-)Disziplinen gerade deren Eigendynamik ausliefert, so daß die Dimensionen ihrerseits vergegenständlicht, reifiziert und als solche seperate Gegen-
„Die Praktische Theologie lechzt nach Tatsachen ..."
389
verhinderte der frühe Tod eine eingehendere materiale Ausarbeitung seines Programms durch ihn selbst. 3.1. Die Bedeutung des „Gegenwärtigen" für praktisch-theologische Theoriebildung, ja für Theologie überhaupt ist zwar heute weithin unbestritten, aber noch keineswegs inhaltlich eingeholt. Erst seit einigen Jahren ist die jahrzehntelange Dominanz dialektisch-theologischer Vorgaben überwunden. Fast prophetisch nahm DREWS die mißliche Entwicklung von Theologie und Kirche im Zeichen der BARTHschen Theologie vorweg: „Wollen wir die Berührung, die Einströmung der Kultur von unserer Religion fernhalten ..., so würde unsere Religion innerlich verwesen und ihre weltüberwindende Kraft verlieren. Die christliche Religionsauffassung, die kultur- und theologiefeindlich wird, verliert sich in Extravaganzen, macht Nebensächliches zur Hauptsache und läßt die christliche Religion von ihrer reinen Geistigkeit herabgleiten."68 Die Rückwendung zur sog. Sache, in einer besonderen politischen Bedrängnis wie dem Kirchenkampf oder der Lage der evangelischen Kirchen in der D D R als Abgrenzungsstrategie verständlich und vielleicht notwendig, führte zu einer in heutiger Sicht fatalen Abkoppelung der Theologie vom allgemeinen wissenschaftlichen Diskurs, eine gerade für die Praktische Theologie bedrohliche Entwicklung, weil der Bezug zur Empirie auf der Strecke blieb. Exemplarisch sei darauf am Beispiel der Homiletik und der Religionspädagogik hin69
gewiesen. 7 • Die Betonung der Predigt als einer Form des gestalteten „Wortes Gottes" bei BARTH implizierte eine „Beziehungslosigkeit ... zwischen der Predigt als menschlich zu vollbringender Handlung und der Predigt als Verkündigung des Wortes Gottes" 70 . W. GRÄB zeigt auf, wie im BARTHschen Predigtkonzept die praktischen Fragen einer Prinzipalisierung zum Opfer fallen: „Es ist der dem Auftrag der Kirche Gehorsame, von ihr zum Dienst am Worte Gottes Berufene, der sich in der Handlungsstruktur des Glaubens im treuen Zeugendienst betätigt. Als ein so Bestimmter weiß er, was er zu
standsbereiche behandelt zu werden drohen, deren interne wie externe Verhältnisbestimmung dann sekundär wiederum übermäßige Aufmerksamkeit an sich bindet". 68
P. DREWS, AUS der G e m e i n s c h a f t s b e w e g u n g , in: C W 2 2 (1908), 293.
69 Für die Seelsorge ließe sich Ähnliches anhand von Arbeiten E. THURNEYSENS zeigen (siehe z.B. R. RIESS, Seelsorge, Göttingen 1973, 184-186), für die Liturgik anhand der Konzeptionen, die zur Agende 1 führten (siehe z.B. P. CORNEHL, Art.: Gottesdienst VIH, in: T R E 14 (1985), 7 5 - 7 8 ) .
70 W. GRÄB, Predigt als Mitteilung des Glaubens. Studien zu einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht, Gütersloh 1988, 56.
390
Praktische Theologie tun hat, konfrontiert mit der Heiligen Schrift lind seine Gemeinde vor Augen. Die Entwicklung eines homiletischen, den Prozeß der Predigtvorbereitung selber noch einmal reflektierenden und in seine Komponenten zerlegenden Verfahrens ist von daher gesehen geradezu überflüssig."71 Und: „Die Frage, wie von diesem Ort aus gesehen, in den Vorgang hineinzukommen ist, der die Predigt auf die adressatenbezogene, sich dem Hörer applizierende Proklamation und Explikation des Evangeliums ausrichtet, wird aus der Entfaltung der homiletischen Ausfuhrungsbestimmungen daher auch mit Absicht ausgeklammert."72 Zwar liegen mittlerweile konzeptionsgeschichtliche Arbeiten vor, die die Praxisferne dialektisch-theologischer Predigtlehre zu überwinden versuchen, 7 3 doch sind diese bemerkenswert wenig an der empirisch vorfindlichen Predigtpraxis orientiert. 74 DREWS' in erweiteter Form publizierter Vortrag „Die Predigt im 19. Jahrhundert" ist zwar nur skizzenhaft ausgearbeitet, doch wird hier die mögliche homiletische Bedeutung der religiösen Volkskunde sehr deutlich, die in ihrer Gemeindemäßigkeit liegt. Erst durch die „lokale Farbe, ein zeitgeschichtliches Gewand" 75 , wird die Gemeinde erreicht.
71
W . GRAB, e b d . , 2 4 2 .
72
W . GRAB, e b d .
73
Siehe z. B. W. STECK, Das homiletische Verfahren. Zur modernen Predigttheorie, Göttingen 1974 (APTh 13), der interessanterweise bei der „modernen" Theologie, vor allem bei F. NIEBERGALL, ansetzt; J. HERMELINK, Die homiletische Situation. Zur jüngeren Geschichte eines Predigtproblems, Göttingen 1992 (APTh 24), der versucht, E . LANGES Konzeption als Weiterführung der Wort-Gottes-Theologie zu verstehen; W. GRAB (Anm. 70), der sich vor allem an F . SCHLEIERMACHER und E. HIRSCH orientiert. 74 Der Hinweis von GRAB (Anm. 70), 49, auf den durch seine Orientierung auf das Problem des Zusammenhangs von prinzipieller und praktischer Homiletik erzwungenen Verzicht einer direkten Bezugnahme auf die konkrete Predigtpraxis überzeugt von DREWS' Programm her nicht. Die sich vor allem im letzten Teil der GRÄBschen Arbeit steigernde Abstraktion ist ein typisches Beispiel einer primär im Systematisierungsinteresse getriebenen „unpraktischen Praktischen Theologie", die letztlich keinen Raum für empirische Erkenntnisse hat. So überspringt GRABS Behauptung: „Sich selbst wahrnehmend, hat der Prediger immer auch seine Hörer als die in ihren individuellen und psychosozial verdichteten Lebensbezügen vom Evangelium Angeredeten im Blick" (262 f.), die homiletisch wichtige Diskrepanz zwischen dem „Wissen" der geisteswissenschaftlich ausgebildeten Theologen und Theologinnen und den Plausibilitäten der Gemeindeglieder, die mehrheitlich durch andere Lebensbereiche bestimmt sind, abgesehen von der ungenannten Frage nach der Bedeutung des Geschlechts für Predigtproduktion und -rezeption. 75 P. DREWS, Die Predigt im 19. Jahrhundert. Kritische Bemerkungen und praktische Winke, Gießen 1903, 58.
„Die Praktische Theologie lechzt nach Tatsachen .
391
Lobend hebt DREWS Z. B. A. Brrzius hervor: „Alle seine Predigten sind aus dem völligen Verwachsensein mit seiner Gemeinde, aus der genauesten Kenntnis ihrer Interessen, ihres religiösen und sittlichen Standes geboren."76 Für den Gegenstand der Predigt bedeutet dies die Empfehlung eines „kasuellen" bzw. „speziellen" Charakters, 77 die anhand der genannten konkreten Predigtbeispiele aus der Geschichte didaktisch geschickt nahe gebracht wird. Heute würde wohl eine in der religiösen Volkskunde verankerte Predigtkonzeption auf Grund der durch die Massenmedien veränderten Rezeptionsbedingungen grundsätzlich die Frage nach der Angemessenheit der Kanzelrede als der dominanten Form kirchlicher Verkündigung stellen müssen. 7 8 •
In der Religionspädagogik führte die dialektisch-theologische Engfiihrung zum Konzept der „Evangelischen Unterweisung", 79 das mit seiner zumindest tendenziellen „Verleugnung des Kindes" eine lange Trennung von der allgemeinpädagogischen Forschung nach sich zog. Hiergegen legte der Pädagoge W. LOCH seinen Protest ein: „Seit dem Erscheinen von Böhnes epochemachenden Buch ,Das Wort Gottes und der Unterricht' (1929) ... hat sich die Evangelische Pädagogik in dem Maße, wie sie sich von einer pädagogischen in eine theologische Disziplin verwandelte und dogmatisch verfestigte, immer weniger mit der Wirklichkeit der kindlichen und jugendlichen Lebens- und Glaubenslage be-
76
77
P. DREWS ( A n m . 7 5 ) , 52.
Siehe ζ. B. die Beurteilung der ScHLEiERMACHERschen Predigten, a. a. O. (Anm. 75), 23; vgl. in diesem Zusammenhang den originellen Vorschlag von K.-P. JÖRNS, Das .ordinierte Amt' als Problem des Gemeindeaufbaus, in: DERS., Der Lebensbezug des Gottesdienstes, Göttingen 1988, 36-38, daß Pfarrer und Pfarrerinnen ihren Dienst in der Gemeinde mit einer „Zeit amtlichen Schweigens" beginnen sollten, damit sie herausfinden können, „mit wem sie e s zu tun h a b e n werden" (ebd., 36). 78 Vgl. JÖRNS (Anm. 77), 38, der vermutet: „Nach der Zeit des amtlichen Schweigens können die Pfarrerinnen und Pfarrer dann auch in dem Gemeindegottesdienst predigen. Aber sicher werden sie auch häufig(er) Lust dazu haben, mit den anderen Gottesdienstteilnehmern gemäß 1 Kor 14,26 die Schrift gemeinsam zu lesen und auszulegen." 79 Zusammenfassend formulierte H. KITTEL, Vom Religionsunterricht zur Evangelischen Unterweisung, Wolfenbiittel-Hannover 1947, dieses Programm; vgl. zur in der Religionspädagogik jedoch anders als in der Homiletik verlaufenden Rezeptionsgeschichte der BARTHschen Theologie F. KROTZ, Die religionspädagogische Neubesinnung. Zur Rezeption der Theologie K.Barths in den Jahren 1924-1933, Göttingen 1982 (GTA 23).
392
Praktische Theologie schäftigt."80 Und: „Dieses Schwinden der theologischen Bedeutsamkeit des empirisch gegebenen Menschen vor der absolut gesetzten Wirklichkeit der Offenbarung fuhrt zwangsläufig zu einem Wirklichkeitsbegriff der Theologie, der mit dem Wirklichkeitsbegriff der anderen Wissenschaften, besonders der anthropologischen Disziplinen, inkommensurabel ist."81
Die mit dem Ausgreifen auf eine Evangelische Pädagogik verbundene Trennung von den allgemein pädagogischen Bemühungen hatte Folgen, die erst langsam aufgearbeitet werden, indem zum einen die Bedeutung der Pädagogik für die religionspädagogische Arbeit und umgekehrt die von religionspädagogischen und theologischen Erkenntnissen für die pädagogische Reflexion erkannt wird. 82 DREWS wies in seinen Forderungen einer religiösen Psychologie hier bereits einen Weg, der erst in den letzten Jahren von Religionspädagogen mit dem heutigen methodischen Instrumentarium beschritten wird. Dabei ist interessant, daß schon bei DREWS „die individual-, sozial- und entwicklungspsychologischen Seiten ... dieser Disziplin"83 angedeutet sind. Sein Hinweis auf die Bedeutung sozialer Zugehörigkeit kann darüber hinaus vor allem die kognitionspsychologische Forschung bereichern.84 Die Anregung DREWS', „auf Hinderungen und Förderungen (zu) achten, die sich auf verschiedenen Altersstufen einstellen, die sich aus den sozialen Verhältnissen, aus der dauernden Lebensbeschäftigung, aus der Macht der Sitte ... ergeben"85, ist in der religionspädagogischen Brisanz bis heute nicht ausgeschöpft. Erst 80
W. LOCH, Die Verleugnung des Kindes in der Evangelischen Pädagogik. Zur Aufgabe einer empirischen Anthropologie des kindlichen und jugendlichen Glaubens, Essen 2
1 9 6 8 ( 1 9 6 4 ) , 15.
81
W . LOCH, ebd.
82
Siehe hierzu die materialreichen Ausführungen von K. E. NLPKOW, Religion in der Pädagogik?, ZP 38 (1992), 215 - 234; vor allem der Begriff „Bildung" scheint sich auf Grund seiner theologischen Herkunft und zugleich seiner gegenwärtigen einheitsstiftenden Bedeutung in der Pädagogik als kategoriale Grundlage für ein gemeinsames Gespräch anzubieten (siehe hierzu K. E. Nipkow, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung. Kirchliche Bildungsverantwortung in Gemeinde, Schule und Gesellschaft, Gütersloh 1990, vor allem 2 5 - 6 1 ) .
83
V . DREHSEN ( A n m . 7 ) , 4 9 5 .
84
Vgl. hierzu F. SCHWEITZER, Auf der Suche nach eigenem Glauben. Zur Glaubensentwicklung von Margret E., in: Comenius-Institut, Münster, (Hg.), Religion in der Lebensgeschichte: interpretative Zugänge am Beispiel der Margret E., Gütersloh 1993, 117 f., der neben der Vernachlässigung der psychosozialen Entwicklung, der gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhänge in den Stufentheorien auf das Desiderat einer Entwicklungspsychologie hinweist, die die Geschlechtsspezifität religiöser Entwicklung untersucht.
85
P. DREWS ( A n m . 3 4 ) , 1 4 6 .
,Die Praktische Theologie lechzt nach Tatsachen
393
ansatzweise orientieren sich gemeindepädagogische Angebote an sozialpsychologischen Überlegungen; 86 die implizite kritische Potenz dieses Ansatzes gegenüber der gegenwärtigen „Risiko-" und „Erlebnisgesellschaft" mit ihren lebensbedrohenden und -behindernden Elementen, die religiöser Bildung entgegenstehen, ist vielfach noch kaum begriffen. 3.2. Konnte eben an zwei Beispielen gezeigt werden, wie der Ruf D R E W S ' nach „Gegenwärtigem" in der Praktischen Theologie noch heute nicht hinreichend Gehör findet, so wird andererseits seine bleibende Bedeutung auch an den Stellen deutlich, wo Schwächen in seiner Konzeption unübersehbar sind. Es geht hier um die pastoraltheologische Engfuhrung der Praktischen Theologie, die Verhältnisbestimmung zwischen Praktischer Theologie und Dogmatik sowie die Frage nach der angemessenen empirischen Methodik. • War die in DREWS' Programmschrift „Das Problem der Praktischen Theologie" enthaltene Abzweckung auf die Reform des Theologiestudiums die interessante empirische Zuspitzung einer allgemeinen Problematik, so enthält sie zugleich die Gefahr, daß Praktische Theologie pastoraltheologisch eng geführt wird. Gewiß ist bis heute die Ausbildung künftiger Pfarrerinnen und Pfarrer eine wichtige Aufgabe praktisch-theologischer Arbeit an der Universität. Aber schon der Hinweis auf die religionssoziologischen und -psychologischen Fragestellungen durch D R E W S weist der Praktischen Theologie weitere Horizonte zu. Konnte zu seiner Zeit die Konzentration dieser neuen Fragestellungen auf die Berufsvorbereitung künftiger Pastoren noch selbstverständlich sein, muß mittlerweile - auch abgesehen von den Erfordernissen interdisziplinärer Arbeit an der Universität - zur Kenntnis genommen werden, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil von Studierenden an den Theologischen Fakultäten andere Berufsziele, vor allem das schulische Lehramt, verfolgt. 87 Die Tatsache, daß diese Studierenden auf eine Tätigkeit vorbereitet werden, in der sie zumindest in 86
Das Modell eines in der 4. Jahrgangsstufe erteilten Vorkonfirmandenunterrichts, wie es vor allem in der Hannoverschen Kirche praktiziert wird, ist ein erster Schritt in dieser Richtung (siehe hierzu F. SCHWEITZER, Konfirmandenunterricht mit Zehnjährigen in lebensgeschichtlicher Perspektive - Impulse aus der Religions- und Entwicklungspsychologie, in: M. M E Y E R - B L A N C K , [Hg.], Zwischenbilanz Hoyaer Modell, Hannover 1993 [Arbeiten zum Konfirmandenunterricht 4], 9 2 - 1 0 8 ) .
87
Die Finanznot der Kirchen in den neuen Bundesländern und die zugleich notwendige Besetzung vieler freier Stellen für Religionslehrerinnen und -lehrer lassen mittelfristig erwarten, daß die Mehrzahl der Studierenden an der Hallenser Theologischen Fakultät nicht mehr das Pfarramt anstrebt.
394
Praktische Theologie
den neuen Bundesländern wesentlich mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben werden, die weder getauft noch irgendwie christlich bzw. kirchlich sozialisiert wurden, 88 weist deutlich darauf hin, daß die von DREWS zwar programmatisch geforderte, aber schnell wieder ekklesiastisch domestizierte Ausweitung der praktisch-theologischen Arbeit auch auf außerkirchliches Gebiet mittlerweile unerläßlich ist. Die bisherige Tendenz, theologische Studiengänge, die nicht das Pfarramt als Berufsziel haben, als quasi abgemagerte Pfarramts-Studiengänge anzubieten, ist für eine am „Gegenwärtigen" interessierte Theologie inakzeptabel. Die in dieser neuen Situation notwendigen Erweiterungen, nicht zuletzt dadurch, daß Orte geschaffen werden, an denen die Studierenden ihre Kenntnisse aus anderen, von ihnen belegten Studienfachern in die Theologie einbringen können, ist eine wichtige - in DREWSscher Terminologie - universitätspädagogische Aufgabe, die horizonterweiternd auch den künftigen Pfarrerinnen und Pfarrern zugute käme. Angesichts dessen muß - DREWS folgend - heute erneut nach Studieninhalten gefragt werden, die entfallen können, um der Begegnung mit dem „Gegenwärtigen" ausreichenden Raum einzuräumen. Die Frage der alten Sprachen ist von DREWS ZU einer Zeit aufgeworfen worden, wo fast alle Studienanfänger über ausreichende lateinische und griechische Sprachkenntnisse verfugten. Die heutige Situation, in der immer mehr Studierende keine der drei geforderten alten Sprachen auf der Schule erlernten, verschärft dieses Problem noch erheblich. Bei dem unzweifelhaften großen Gewicht der geschichtlichen Dimension für das Studium der evangelischen Theologie ist doch zu fragen, ob unter solchen Umständen die traditionellen Sprachanforderungen noch aufrecht erhalten werden können und so de facto ein Viertel des Theologiestudiums durch Sprachenerlernen besetzt wird. •
DREWS wurde wie anderen „modernen" Theologen immer wieder vorgeworfen, er liefere sich der Empirie blindlings aus und gäbe dabei wichtige christliche Glaubenssubstanz auf. Dies widerlegt aber ein genaueres Studium seiner Schriften. Problematisch ist vielmehr, daß seine Praktische Theologie zumindest an zwei Punkten durch normative Vorgaben bestimmt wird, die er nicht eigens reflektierte. Zum einen trennt DREWS scharf zwischen Glauben im dogmatischen Sinn als einem „Idealtypus",
88
Siehe I. EIBEN, Kirche und Religion - Säkularisierung als sozialistisches Erbe?, in: Deutsche Shell, (Hg.), Jugend '92, Bd. 2, 91-104; J. ZINNECKER, Lebensorientierungen Jugendlicher in Deutschland, in: KatBl 116 (1991), 675-685.
,Die Praktische Theologie lechzt nach Tatsachen
395
der „alles Zufallige, rein Persönliche, zeitgeschichtlich Bedingte" abstreift, und der religiösen Individualität, die empirischer Untersuchung offen steht. 89 Dies begründet er damit, daß „der christliche Glaube, in welcher Verbindung er auch erscheinen mag, welche rein individuelle Ausgestaltung er auch gefunden haben mag, im letzten Grunde überall und immer sich gleich bleibt: er war, er ist und er bleibt Vertrauen zu dem in Christo offenbaren Gott" 90 . Hierbei droht der von DREWS anderweitig so vehement eingeforderte Gegenwartsbezug verloren zu gehen. Gerade neuere Untersuchungen zeigen den ästhetischen und damit der praktisch-theologischen Nachfrage zugänglichen Charakter von Offenbarung im biblischen Sinn. 91 Zudem enthüllt die Semiotik die „unausweichliche Diskontinuität zwischen (einst) wahrgenommenen Ereignissen und notwendigen Interpretationen" 92 und erweist damit die Annahme eines ein fur alle mal feststehenden Glaubensgrundes als Fiktion. Theologisch ist zudem noch darauf hinzuweisen, daß erst bei Akzeptanz dieses Sachverhaltes die so wichtige Frage auftritt, „was das jetzt zu bedeuten habe" 93 . Religionspädagogisch wird dieses Problem in der Reflexion des Zusammenhangs von Glauben und Lernen bearbeitet. Dabei stellt sich heraus, daß zwar Glauben nicht im Sinne einer zielgerichteten Bemühung gelehrt werden kann, daß aber Glauben mit Lernprozessen zu tun hat, die sich - wie vieles andere pädagogische Tun - der Verfügbarkeit entziehen. 94 Zum weiteren setzt - wie erwähnt - DREWS das SULZEsche Gemeindeideal als die anzustrebende Form von kirchlicher Gemeinschaft voraus. Zwar öffnet es ihm wohl den Blick für die jenseits des nur Politischen liegende Funktion sozialdemokratischer Verbände, doch ist heute angesichts des hohen Grades von Mobilität in bestimmten Bevölkerungsschichten kritisch zu fragen, ob dieses Gemeindeideal nicht von vornherein viele
89
V g l . P . DREWS ( A n m . 3 4 ) , 1 3 7 .
90
P . DREWS, e b d .
91 92
Siehe A. GRÖZINGERS „Kleine .Ästhetische Phänomenologie' der Emmaus-Perikope" in: Praktische Theologie und Ästhetik, München 1 9 8 7 , 9 9 - 1 0 4 . W . ENGEMANN, Semiotik und Theologie - Szenen einer Ehe, in: D E R S . / R . VOLP (Hg.), Gib mir ein Zeichen. Zur Bedeutung der Semiotik für theologische Praxis- und Denkmodelle, Berlin - New York 1992 (AzPrTh 1), 11.
93
W . ENGEMANN ( A n m . 9 2 ) , 16.
94
Vgl. J. WERBICK, Glauben als Lemprozeß. Fundamentaltheologische Überlegungen zum Verhältnis von Glauben und Lernen - zugleich ein Versuch zur Verhältnisbestimmung von Fundamentaltheologie und Religionspädagogik, in: K . BAUMGARTNER, u. a. (Hg.), Glauben lernen - Leben lernen, FS E. FEIFEL, St. Ottilien 1985, 3 - 1 8 .
396
•
Praktische Theologie
Menschen ausschließt. Im Vollzug des DREWSschen Programms einer religiösen Volkskunde müßte heute vordringlich nach den Orten gefragt werden, an denen solche Menschen der Frage nach dem Sinn des Lebens begegnen, wo sie sich Zuspruch und Ansporn erhoffen - hier müßte das Nachdenken über Gemeindeorganisation ansetzen. 95 Schließlich wirft die Beschäftigung mit DREWS' Programm die Frage nach einer für praktisch-theologische Theoriebildung angemessenen empirischen Methodik auf. Die hinter DREWS' Suche nach „Gesetzen" stehende Vorstellung „über die Erklärungskraft von Kausalitätsreihen und statistischen Regelmäßigkeiten" 96 gehört einem vergangenen Methodenverständnis an. 97 Dabei ist aber nicht das hinter dieser Auffassung stehende Interesse an der Aufklärung über Gegenwärtiges überholt. Heute treten zunehmend sog. qualitative Verfahren an die Stelle quantitativer Methoden. Dies ist für praktisch-theologische Forschung darin begründet, daß ihr Gegenstand von vielen Menschen in einer Sprache formuliert wird, die von traditioneller religiöser Sprache weit entfernt ist und erst in ihrem religiösem Anliegen interpretativ aufgewiesen werden muß. 98 Diese Entwicklung ist auch im Sinne des DREWSschen Plädoyer für Individualität zu begrüßen. Allerdings ist damit die Frage nach Gemeinsamkeiten vieler Menschen in ihren Einstellungen und Auffassungen nicht beantwortbar. Gerade die von G. SCHULZE herausgearbeitete Erkenntnis, daß sich heute Gemeinsamkeiten im Wissensvorrat auf einer mittleren Ebene bilden, 99 kann gut von der DREWSschen Forderung nach einer lokalbezogenen religiösen Volkskunde begriffen werden. So bleibt uns heute - auf dem Hintergrund von auf ganz Deutschland bezogenen Repräsentativumfragen und
95
Siehe die noch unveröffentlichte Habilitationsschrift von H. LINDNER, Glauben im Lebensraum. Konziliare Perspektiven der Ortsgemeinde (Hamburg 1993).
96
V . DREHSEN ( A n m . 7 ) , 4 1 0 .
97
Auch die 3. EKD-Mitgliedschaflsumfrage bezieht - im Gegensatz zu den beiden vorhergegangenen Befragungen - qualitative Forschungsmethoden ein (siehe Studienund Planungsgruppe der EKD [Hg.], Fremde Heimat Kirche. Ansichten ihrer Mitglieder, Hannover 1993, 5). Siehe die Vorstellung der verschiedenen interpretativen Verfahren anhand von zwei Interviews einer jungen Frau in: Comenius-Institut (s. o. Anm. 84). Siehe SCHULZE (Anm. 3), der das heutige wissenssoziologische Grundproblem als die Frage nach „neue(n) Gemeinsamkeiten unter der Bedingung der Individualisierung" formuliert (75) und feststellt: „Im Bestand existentiellen Wissens haben die besonders allgemeinen Inhalte ebenso abgenommen wie die besonders speziellen ... Zugenommen hat dagegen das Wissen mittlerer Kollektivitätsstufe: Wir registrieren einen Relevanzgewinn milieuspezifischer Segmentierung des Wissens auf der Meso-Ebene."
98 99
„Die Praktische Theologie lechzt nach Tatsachen ..."
397
von Tiefeninterviews einzelner Menschen - die Aufgabe, jeweils für einzelne Milieus und auch Regionen das „Wissen" zu erfragen, das die Menschen prägt und also das zu erarbeiten, was innerhalb der anderen kirchlichen Verhältnisse bei DREWS „Kirchenkunde" hieß.
Christen als Minderheit bei AUGUST HERMANN FRANCKE und heute Eberhard Winkler, Halle/Saale
Dreihundert Jahre nachdem Α . H . FRANCKE die Arbeit als Pastor in Glaucha und Professor in Halle aufnahm, gehören in dieser Stadt 8 % der Bevölkerung zur evangelischen Landeskirche. Rechnen wir etwa halb so viele katholische und 1 % freikirchliche Christen hinzu, so sind 13 % der Einwohner Halles Mitglieder einer Kirche oder christlichen Gemeinschaft. Außer einer kleinen jüdischen Gemeinde - die es heute wieder gibt - waren alle Bürger von Glaucha und Halle zu FRANCKES Zeit Christen. Dennoch hielt FRANCKE eine Predigt über „die Wenigkeit der rechten Kinder Gottes" 1 , und oft stellte er das Christsein der „meisten unter denen so genannten Evangelischen Christen" 2 in Frage. Inmitten der Volkskirche - die natürlich von FRANCKE noch nicht so genannt wurde - sah er nur eine Minderheit wahrer Christen. Damit provozierte er den Protest nicht nur orthodox-lutherischer Pastoren, sondern auch vieler Gemeindeglieder. Mit welchem Recht disqualifizierte FRANCKE die Mehrheit der Kirchenchristen? Ist sein Urteil über die Mehrheit der „sogenannten Evangelischen Christen" nur von historischem Interesse, oder drücken sich darin Strukturprobleme jeder Mehrheitskirche aus? Welche Bedeutung hat FRANCKES Urteil für eine zur Minderheit gewordene evangelische Kirche? Diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen. Dafür ist zunächst auf die Tradition einzugehen, in der FRANCKE mit dem Urteil, die wahren Christen seien eine Minderheit, steht.
1 2
A.H. FRANCKE, Schriften und Predigten, hg. von Ε. PESCHKE, Bd. 9 (= Predigten I), Berlin-New York 1987, 328-353. A. a. O. (Anm. 1), 54, 69.
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Praktische Theologie
1. Der seltene Vogel „Ein Christ ist ein seltener (,seltzamer') Vogel"3, sagt LUTHER. Die wenigsten wissen die christliche Freiheit recht zu gebrauchen. Der große Haufe geht den breiten Weg, wenige sind auf dem schmalen.4 LUTHER empfand das als Anfechtung: „Wir sind so ein gering arm heufflin ... sollen wir denn widder alle wellt rhumen und trotzen das unser ding allein recht sey?"5 Die Christen bilden eine Minderheit, denn „die wellt und die menge ist und bleybt unchristen, ob sie gleych alle getaufft und Christen heyssen. Aber die Christen wonen (wie man spricht) fern von eynander"6. Die Kirche ist ein „klein heufflein ... quae est dispersa unter das gross buben volck, et est mirabilis margarita, ubi unus Christianus reperitur in magnitudine"7. Der eine Christ, der wie eine wunderbare Blume in der Menge gefunden wird, lebt dem Reich Gottes gemäß, das ein Reich der Gnade ist. Der Christ ist ein seltener Vogel, weil so wenige ihr ganzes Leben vom Glauben bestimmen lassen. Die fides histórica war für die Mehrheit der Zeitgenossen LUTHERS kein Problem, der „garstige Graben" des geschichtlichen Abstands versperrte noch nicht den Zugang zur biblischen Geschichte. Daß „Christus eyn solch man sey, wie er hie und ym gantzen Evangelio beschrieben und gepredigt"8 wird, glaubten die meisten. Es geht aber darum, das „pro me" des Glaubens zu erfassen und dadurch das ganze Leben verändern zu lassen. Solcher Glaube ist „non levis ars, sed ein hoch trefflich ding, daran homo zu lernen hundert tausend (ergänze: Jahre brauchte), si viveret"9. Gegen die katholische Polemik und im Kampf gegen die Antinomer mußte LUTHER zur Geltung bringen, daß die Rechtfertigung sola fide nicht libertinistisch mißverstanden werden darf. „Quantum credis, tantum diligis, econtra"10. Rechter Glaube bewährt sich in der Liebe und in der Heiligung. Eine falsch verstandene christliche Freiheit auf Kosten der Mitmenschen läßt sich damit nicht vereinbaren. LUTHER litt darunter, daß so viele auf evangeli-
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WA 20, 579, 21. WA 32, 503, 10; vgl. Mt 7,13 f. WA 32, 501, 11-13; vgl. 500, 12-37. WA 11, 251, 35-37; vgl. H. RJESS, „Abscondita ecclesia et valde dispersa", in: Reformation und Praktische Theologie, F S W. JETTER, hg. von H . M . MÜLLER und D. RÖSSLER, Göttingen 1983, 190-201. 7 WA 17/1460, 28-31. 8 WA 10/12 24,4. 9 WA 29, 494, 14-15; vgl. 30/1 192, 20-21. 10 WA 20, 755, 5-6.
Christen als Minderheit - bei AUGUST HERMANN FRANCKE und heute
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scher Seite den Glauben und die durch ihn geschenkte Freiheit in einen praktischen Egoismus verkehrten. Das „christliche, heilige Volk", als das LUTHER die wahre Kirche versteht, ist deshalb eine Minderheit. „Christliche Heiligkeit" wird es durch diese Minderheit immer auf Erden geben, „und solten gleich Nur zween oder drey oder allein die kinder sein" 11 . Der Teufel hat „weit ein grösser volck" als Gott. „Man gleubt jm auch leichter und lieber in seinem verheissen" 12 als Christo. Christus „wil durch seinen Heiligen Geist die Leute heilig und from machen an leib und seele", doch das „ist zu schweer denen, so nicht gern from sein oder sunde lassen wollen" 13 . Die Christen sind also eine Minderheit, weil die Mehrheit nicht das alte Leben in der Sünde aufgeben will. Der Christ ist nicht deshalb ein seltener Vogel, weil es für die meisten zu schwierig ist, Gesetz und Evangelium einander richtig zuzuordnen, sondern weil sie es vorziehen, im alten Leben zu bleiben. FRANCKE konnte sich auf LUTHER berufen, wenn er forderte, daß der wahre Glaube sich im Kampf gegen die Sünde bewähren muß, und wenn er beklagte, daß die meisten Christen die Heiligung als Frucht des Glaubens vernachlässigen. Darin wurde er durch JOHANN ARNDT bestärkt, dessen „Vier Bücher vom wahren Christentum" dieses als Praxis von „heilsamer Buße, herzlicher Reue und Leid über die Sünde und wahrem Glauben, auch heiligem Leben und Wandel der rechten wahren Christen" auslegt, wie der Untertitel sagt. 14 ARNDT sieht die Kirche seiner Zeit so, daß „sich jederman einen Christen nennet/ vnd doch nichts Christliches thut" 15 . „Wir wollen alle Christen seyn/ und wenig sind jr/ die Christi Leben nachfolgen" 16 . Der wahre Christ ist deshalb ein „rechter Gast und Frembdling in dieser Welt" 17 . ARNDT denkt in Kontrasten: Wer das Joch Christi auf sich nehmen will, muß „des TeufFels Joch fahren lassen/ das ist/ das fleischliche/ sichere/ ruchlose Leben" und darf „das Fleisch nicht herrschen lassen vber den Geist" 18 . „Ein fleischlich Mensch ist/ der nach Ehren trachtet/ und gern etwas seyn wolte/ ein Geistlich Mensch ist/ der Demut lieb hat in Christo/ und der gern nichts seyn wolte. Alle Men11 12 13 14
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WA 50, 627, 12-13. WA 50, 645,23-25. WA 50, 646, 1-4. Im folgenden zitiert nach dem Druck bei I. FRANCKE, Magdeburg 1620 (Hauptbibliothek der Franckeschen Stiftungen [34 E 3]). Nach dem Kapitel (=c.) wird jeweils die Seite in dieser Ausgabe genannt. I c. 9, 52. I c. 14, 84. Ic. 15,93; 17, 102. Ic. 11, 3.
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Praktische Theologie
sehen befleissigen sich etwas zu seyn/ aber niemand will lernen nichts seyn" 19 . Streng genommen, hieße das: Niemand will ein geistlicher Mensch sein, alle streben nach dem Fleischlichen. Das Denken in Gegensätzen fuhrt zu sprachlichen Übertreibungen. Zugleich drückt ARNDT etwas Zutreffendes aus: Niemand will nichts sein. Das natürliche Streben wird als fleischlich diffamiert. ARNDTS mystisches Anliegen der Mortifikation verbindet sich nicht nur in biblisch begründeter Weise mit der Aufforderung zur Nachfolge Christi, sondern auch mit einer unbiblischen Abwertung des natürlichen Menschseins. Einerseits rühmt ARNDT, allein der Mensch sei so geschaffen, „daß er sich dessen frewe, was er hat" 20 . Andererseits behauptet er, mystischer Tradition folgend, kein leibliches Ding sei unserer Liebe würdig. ,Herwegen/ weder vnser eigen Leib/ weder die Thiere/ weder Gold noch Silber/ weder Sonn noch Mond/ weder Bäwme oder Elementa/ oder Häuser oder Ecker/ sind wirdig unser freyen Liebe" 21 . Der mystische Drang nach der Gemeinschaft mit Gott stellt nicht nur in biblischer Weise die Gottesliebe an die erste Stelle, aus der die Nächstenliebe sich ableitet, sondern verwirft zugleich die Liebe zu den „toten Kreaturen" und, was ebenso gravierend ist, die Selbstliebe. Zwischen Egoismus und theologisch begründeter Selbstliebe wird nicht unterschieden. 22 So entsteht ein ethischer Rigorismus, der Widerstände erzeugt, und zwar nicht nur solche, die als Sünde zu beurteilen sind. Diesen Rigorismus finden wir bei FRANCHE wieder, und es ist verständlich, daß die orthodoxen Lutheraner sich dagegen wandten. Von der Freude an der guten Schöpfung, die ARNDT im 4. Buch eindrucksvoll würdigte und von der in FRANCKES Naturalienkabinett etwas sichtbar und pädagogisch wirksam wurde, hat die pietistische Verdammung aller irdischen Lust wenig übriggelassen. Es war nicht immer Unglauben oder der Widerstreit des Fleisches gegen den Geist, wenn die Menschen sich
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Ic. 11,64. IV/2 c. 7, 140. IVd/2 c. 29, 186. Es war wohl auch eine Reaktion auf den pietistischen Rigorismus, wenn man in der Aufklärung dichten konnte: „Dein Wille ist's, o Gott! ich soll mich selber lieben. O laß mich diese Pflicht nach deiner Vorschrift üben..." (zitiert nach: H.-M. BARTH, Wie ein Segel sich entfalten. Selbstverwirklichung und christliche Existenz, München 1979, 36). BARTH versteht das Selbst des Menschen als ein Geschenk, das er nicht von sich aus „verwirklichen" kann (54). Im Zuge der Selbstverwirklichung Gottes hat aber die Selbstverwirklichung des Glaubenden ihren Platz und ihre Gewähr (65). Vgl. „Selbstverwirklichung als theologisches und anthropologisches Problem" hg. von F. DE BOOR, Halle (Saale) 1988 = Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Wissenschaftliche Beiträge 1988/7 (A104).
C h r i s t e n a l s M i n d e r h e i t - bei AUGUST HERMANN FRANCKE u n d h e u t e
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dieser Aufforderung zur Selbst- und Weltverleugnung verweigerten. Wenn nur wenige den radikalen Weg von ARNDT und FRANCKE mitgingen, so entspricht das der Minderheit jener, die in der katholischen Kirche ins Kloster gehen oder sich sonst strengen, Verzicht fordernden Regeln unterwerfen. Nennt LUTHER den Christen in rhetorischer Übertreibung einen „seltzamen Vogel", so drückt er eine Erfahrung aus: Viele Christen verbinden Lehre und Leben nicht Gottes Willen entsprechend. Sie hören die Lehre, ohne danach zu leben. An diesem Widerspruch stießen sich auch die Vertreter der sogenannten Reformorthodoxie und des Pietismus. Im Unterschied zu LUTHER, auf den sie sich häufig beriefen, verstärkten sie den Widerspruch durch ihre rigorosen Forderungen. „Die Wenigkeit der rechten Kinder Gottes" war jedenfalls zum Teil die Folge von wenig Verständnis für die irdischen Bedürfnisse „der meisten", die zu undifferenziert als gegen den göttlichen Geist gerichtete Fleischeslust verworfen wurden.
2. Die Christen als Minderheit bei FRANCKE FRANCKE unterscheidet scharf zwischen der großen Zahl derer, die sich Christen oder auch evangelische Christen nennen, und den wenigen wahren Christen. Die meisten leben „in dem falschen Wahn, weil sie von Christlichen Eltern gezeuget und gebohren wären, so könte es ihnen nicht fehlen, sie müsten gute und wahre Christen seyn"23. In Halle ist nach FRANCKES Meinung „wol der hunderte Teil ... noch nicht zu GOtt dem HErrn bekehret. Und solte eine rechte Untersuchung geschehen und angestellet werden, so würde man befinden, daß auch die meisten in offenbaren Wercken des Fleisches einhergehen, daß man sie daher unmöglich für Christen halten kan"24. Immer wieder beklagt FRANCKE die geistlichen und moralischen Defizite der meisten Gemeindeglieder. „Die meisten unter denen so genannten Evangelischen Christen" sind außerstande, über ihren Glauben Rechenschaft zu geben. Viele wissen nicht „den Grund, darauf sie ihre Seligkeit bauen müssen", der größte Haufe tappt „wie die Blinden nach der Wand". „Die meisten derer, die sich Lutherisch nennen"25, haben den Glauben nicht im Sinne LUTHERS verstanden. Dem Mangel an geistlicher Er23 24 25
A. H. FRANCKE (Anm. 1), 332, 35-37. A. a. O. (Anm. 1), 333, 49-53. A.a.O. (Anm. 1), 54, 69ff.; 55, 14f.
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Praktische Theologie
kenntnis entspricht ein unchristliches Leben. Die meisten (immer wieder gebraucht FRANCKE diesen Superlativ!) gehen sicher dahin und erkennen nicht einmal ihr Verderben. Der große Haufe lebt „in Pracht und Üppigkeit, Fressen und Sauffen, oder in Geitz und sündlicher Bauch-Sorge, in Hadern und Zancken, oder sonst in einem ungöttlichen Wesen"26. Die Mehrheit praktiziert nach FRANCKES Urteil ein äußerliches Christentum, das sich mit fleischlichem Leben verbindet. Sie will ohne Bekehrung, also ohne eine innere Umwandlung, die das ganze Leben erneuert, selig werden.27 Die allerwenigsten haben den rechten Willen, sich zu Gott zu bekehren,28 denn sie lieben das Irdische mehr als das Himmlische und Ewige. 29 „Der wahrhaftige Christus wird von den meisten derer, die sich nach seinem Namen nennen, in der Wahrheit verleugnet ... Die Meisten bilden sich einen recht welt-förmigen Christum ein"30. „Es rühmen sich viel tausend des Glaubens, die doch den Glauben nicht haben, sondern einen blossen Wahn- und historischen Glauben, sonderlich diejenigen, die äusserlich noch etwa ein erbar Leben fuhren" 31 . Den „Wahn- und historischen Glauben" sieht FRANCKE also dort, wo er den Menschen nicht innerlich erneuert, und dort, wo aus dem Glauben nicht das empirisch erkennbare neue Leben folgt. Sehr nachdrücklich dringt FRANCKE darauf, daß der Glaube in der Liebe tätig wird. Führt die neue Beziehung zu Gott nicht zur praktischen Nächstenliebe, so ist alles ein Geschwätz.32 Problematisch werden FRANCKES Kriterien, wenn er das äußerlich ehrbare Leben von Christen dem Wahnglauben zuordnet, weil die Bekehrung nicht nach seinem Verständnis zu verzeichnen ist. Offenkundig wird die Schwierigkeit am Beispiel einer Predigt, in der FRANCKE drei „Arten und Klassen der Menschen"unterscheidet.33 Der erste, größte Teil, der in fleisch-
26 27 28 29 30 31 32 33
A. a. O. (Anm. 1), 62, 94-96. Vgl. a. a. O. (Anm. 1), 338, 83. Vgl. a. a. O. (Anm. 1), 340, 47. Vgl. a. a. O. (Anm. 1), 342, 32-61. A. a. O. (Anm. 1), 123, 19-25. A.a.O. (Anm. 1), 187, 39-41. Vgl. a. a. O. (Anm. 1), 210, 58f. Es handelt sich um die erste vollständig überlieferte Predigt FRANCKES, 1691 in Erfurt gehalten. PESCHKE weist im Vorwort (s. o. Anm. 1) darauf hin, daß FRANCKE „insbesondere diese Predigt bis in die letzten Jahre als besten Beweis dafür angeführt" hat, „daß er sich in seiner Lehre nicht geändert habe"(a. a. O., 6). Die Predigt trägt die Überschrift „Vom Rechtschaffenen Wachsthum des Glaubens/ Oder: Von der wahren Glaubens-Gründung/ Kräftigung/ Stärckung und Vollbereitung" (a. a. O., 7-33).
Christen als Minderheit - bei AUGUST HERMANN FRANCKE und heute
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licher Sicherheit lebt, zerfallt in drei Untergruppen. Einige leben in rohen, offenbaren Werken des Fleisches, andere in bürgerlicher Ehrbarkeit, die dritten enthalten sich sogar von vielen Werken des Fleisches, schwätzen viel von geistlichen Dingen, tun aber nicht rechtschaffene Buße. Hier dürfte FRANCKE vor allem an seine Gegner unter den orthodoxen Lutheranern gedacht haben. Die zweite Klasse umfaßt Menschen, die ihr Elend unter dem Gesetz erkennen, wobei manche nie ernsthaft auf Hilfe aus sind. Drittens nennt FRANCKE diejenigen, die vom Gesetz zur Gnade gelangt sind „in einem wahren und lebendigen Glauben" 34 . Das Ziel dieser Klassifizierung besteht darin, daß die Hörer ihren Status erkennen und zur dritten Klasse gelangen. Bedenklich ist daran, daß FRANCKE ihnen nicht nur einen geistlichen Spiegel zur Selbsterkenntnis vorhält, sondern seinerseits die Menschen einordnet und damit mehrheitlich als Christen disqualifiziert. Daß nicht nur die orthodoxe Pfarrerschaft, sondern auch erhebliche Teile der Gemeinde sich dagegen auflehnten, spiegeln FRANCKES Predigten und andere Schriften wider. Dieser Widerstand ist verständlich. Liest man im „Geistlichen Handbuch der Kinder Gottes" von J. OLEARIUS, das dessen Sohn, FRANCKES Widersacher J. CHR. OLEARIUS 1692 herausgab, wie ernst und eingehend diese orthodoxen Lutheraner die Bekehrung darstellen, so ist FRANCKES negatives Urteil über „die meisten" generell und über die Stadtgeistlichkeit speziell in Frage zu stellen. Daß Leute wie OLEARIUS sich nicht von FRANCKE in den großen Haufen der fleischlich Lebenden einordnen lassen wollten, ist gut zu verstehen. OLEARIUS urteilte nicht so eng über die weltliche Lust wie FRANCKE, für den es eine Verleugnung der göttlichen Kraft bedeutete, wenn jemand „noch unter lustige Gesellschaft" ging oder tanzte. 35 OLEARIUS meinte unter Berufung auf LUTHER, „daß von dem Tantzen ebenmäßig behutsam und vorsichtig zu reden sey" 36 , nämlich daß man es in guter Weise tun und dann keine Sünde daraus machen soll. FRANCKES Leipziger Gegner, J. B. CARPZOV jr. spricht in einer Leichenpredigt mit dem bemerkenswerten Thema „Studenten=Lust" sehr positiv von den Freuden des Studentenlebens: „GOtt will nicht traurige/ sondern fröliche Studenten haben", deshalb ist Tanzen, Reiten und dgl. „nicht untersaget/wenns fein moderat ... geschieht". 37
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A. a. O. (Anm. 1), 29, 87. A.a.O. (Anm. 1), 311, 20f. J. CHR. OLEARIUS, a. a. Ο., 1469. J.B. CARPZOV jr., Auserlesene Trost= und Leichen=Spriiche, Leipzig 1684, 603. 598. Vgl. E. WINKLER, Die Leichenpredigt im deutschen Luthertum bis Spener, München 1967, 196-198.
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Praktische Theologie
FRANCKES rigoroses Urteil wird durch sein Verständnis der Ordnung Gottes begreiflich.38 Das lutherische Erbe kommt in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zur Geltung: „Für die Ruchlosen gehöret das Gesetz, welches keinen Trost hat; für die Bußfertigen und ihrer Sünden wegen betrübte Sünder gehöret das Evangelium, welches voller Trostes, Friede und Freude ist" 39 . Wer sich nicht bekehren will - und das ist die Mehrheit - beurteilt nach FRANCKE die Predigt der Wahrheit als zu gesetzlich. Das Evangelium kann nur Bußfertigen Trost, Friede und Freude bringen. 40 Der Acker des Herzens muß mit dem Pflug des Gesetzes umgearbeitet werden, sonst erstickt der Samen des Evangeliums.41 FRANCKE wehrt sich gegen die billige Gnade. Ohne den Tod des alten Menschen kann der neue nicht leben. Diese Ordnung Gottes wird mit einer Strenge verkündigt, die gesetzlich wirkt. FRANCKE lehnt jeden faulen Kompromiß mit der Welt ab. Zur Ordnung Gottes gehören wie bei ARNDT Kontraste: Mortifikation und Vivifikation, Erniedrigung und Verherrlichung, wahrer Glaube und Wahnglaube, fleischliche und geistliche Gesinnung usw. Hinter allem steht die eschatologische Alternative: Rettung oder ewige Verdammnis. FRANCKE denkt auf das Gericht hin. Er weiß sich fur seine Gemeinde unter dem Gerichtshorizont verantwortlich und möchte unschuldig sein am Blut derer, die Gottes Gericht verfallen. 42 Der Gerichtsgedanke spitzt allerdings die Problematik der „Wenigkeit der rechten Kinder Gottes" zu. Gott „kan keines einzigen Menschen Verderben und Verdammniß haben wollen" 43 . Er will aber auch „die Menschen nicht mit Gewalt zu ihrer Seligkeit bringen" 44 . Deshalb muß der Prediger so hart um die Seelen der Menschen ringen. Er kann es um ihretwillen und um seines eigenen göttlichen Auftrags willen nicht hinnehmen, daß die meisten laodizäischer und pharisäischer Art sind, also ohne wahren, lebendigen, tätigen Glauben. 45 FRANCKE ruft so penetrant zur Bekehrung auf, weil er sich nicht damit abfinden kann und darf, daß so wenige als rechte Kinder Gottes leben. Andererseits 38 Vgl. E. PESCHKE, Studien zur Theologie Α. H. Franckes I, Berlin 1964,1. Teil. 39 Α. H. FRANCKE, a. a. O. (Anm. 1), 67,15-18. 40
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Vgl. a.a.O. (Anm. 1), 103f.: Je mehr das Wasser der Bußtränen fließt, desto mehr schenkt Gott den Wein seiner Freuden ein. Alle müssen sich „in diese Ordnung Chrisü schicken" (102, 31), daß eine von Herzen kommende Selbsterniedrigung seiner Hilfe vorherzugehen hat. Vgl. a. a. O. (Anm. 1), 96, 72-75. Vgl. a. a. O. (Anm. 1), 301, 69ff.; 127, 80ff. A. a. O. (Anm. 1), 334, 4. A. a. O. (Anm. 1), 336, 8. A. a. O. (Anm. 1), 130, 73, 97.
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genügt die einmalige Bekehrung nicht, sondern auf die grundlegende muß die tägliche Buße folgen, die Heiligung muß zum Wachstum des Glaubens im Stand der Gnaden fuhren. 46 Dabei legt FRANCKE die Latte so hoch, daß man fragen muß: Schreckt er nicht „die meisten", die er so hart kritisiert, davon ab, den Sprung zu wagen? Wer die Kirchenzucht so konsequent praktizieren möchte wie FRANCKE, schreibt damit praktisch „die Wenigkeit" derer fest, die diesen Ansprüchen genügen. Theologisch folgt FRANCKE der lutherischen Rechtfertigungslehre, aber er wendet sie nicht auf die Ekklesiologie an. Empirische Befunde und subjektive Beobachtungen werden von ihm in nicht akzeptabler Weise theologisch gewertet, nämlich im Gerichtshorizont zu letztgültigen Kriterien erhoben. Wer nur 1 % der Getauften als bekehrt und damit als wahre Christen anerkennt, kann die Mehrheit nicht gewinnen. Oder will er es gar nicht?47 Ist ihm eine Minderheit entschiedener Christen lieber als der „große Haufe", der nur als corpus permixtum existieren kann? Für FRANCKE ist es „unmüglich, daß viel rechtschaffene Christen seyn, und also viele zur ewigen Seligkeit gelangen solten", da es heißt: „.Viele sind beruffen, aber wenig sind auserwehlet'. GOtt will sie zwar gern alle mit einander haben, aber wenige schmücken sich mit dem rechten hochzeitlichen Kleide".48 Nur wenige wollen selig werden, jedenfalls unter den gegebenen Bedingungen. Andererseits erklärt FRANCKE in derselben Predigt sicher mit Recht, es würde auf eine entsprechende Frage niemand in der Kirche sagen, er wolle nicht selig werden. Selig werden möchten die Leute, aber sie wollen nicht „in die Ordnung sich begeben, darinnen man die ewige Seligkeit erlangen kann"49. Die Frage ist, ob FRANCKE mit seiner Sicht der Ordnung Gottes Barrieren errichtete, die jene Mehrheit verstärkte, die sich einer solchen Ordnung nicht unterwerfen wollte. FRANCKES Abwertung der nicht seinem Frömmigkeitsideal entsprechenden Mehrheit steht dem sog. linken Flügel der Reformation mit MÜNTZER, KARLSTADT und den Täufern näher als LUTHER, auf den er sich häufig beruft. 46
V g l . E . PESCHKE ( A n m . 3 8 ) , 6 3 .
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FRANCKE wollte wie SPENER die Kirche reformieren. Die Frage ist, ob sein Urteil über „die meisten" ungewollt dieser Absicht widersprach. Der von FRANCKE sehr geschätzte Rostocker Reformtheologe T. GROSSGEBAUER ging in seiner „Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion" (Rostock 1661), cap. 17, davon aus, daß immer in der Minderheit ist, wer die Kirche reformieren will, daß aber einer anfangen muß. „Darum müssen wir uns an dem kleinen und geringen Anfang der Werke GOTTES nicht irren; dann dieselbige haben eine heimliche durchdringende Krafft bey dem Häufflein der Gerechten/ und unserm Glauben würden viel Gemeinen durch GOTTES Segen nachfolgen". A. a. O. (Anm. 1), 346, 25-29. A.a.O. (Anm. 1), 337, 29f.
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Praktische Theologie
Spiritualistische und mystische Züge färben sein lutherisches Denken, das stark von JOHANN ARNDT beeinflußt ist. Im Unterschied zu GOTTFRIED ARNOLD neigt FRANCKE nie dem Separatismus zu, aber - wenn es erlaubt ist, spätere Begriffe vorwegzunehmen - er denkt im Unterschied zu seinen lutherisch-orthodoxen Gegnern eher freikirchlich als volkskirchlich. Das gilt keineswegs in Bezug auf das Verhältnis von Kirche und Staat, das sich bei FRANCKE eng und positiv gestaltete, 50 sondern hinsichtlich der inneren Strukturen des Gemeindelebens. FRANCKES rigorose Forderungen nach Kirchenzucht waren volkskirchlich nicht durchsetzbar, und ihre Praktizierung mit Hilfe staatlichen Zwanges - von FRANCKE gelegentlich gewünscht - hätte verheerende Folgen gehabt. FRANCKEs orthodoxe Kontrahenten sahen die Mängel der Kirche durchaus. Gedanken der sog. Reformorthodoxie wirkten bei ihnen weiter. V. E. LÖSCHER listete 1710 dreizehn „grobe Greuel"im kirchlichen Leben auf, die dringend der Änderung bedürfen. 51 Merkwürdig unkonkret bleiben allerdings die Hinweise zur notwendigen Besserung. Wenn die orthodoxen Lutheraner von einem „florentissimus Ecclesiae status" sprachen und damit FRANCKES Protest erregten, 52 meinten sie damit in der Regel nicht, es bestehe kein Bedarf an geistlicher Erneuerung. Sie fürchteten, daß aus der „Wenigkeit" der von FRANCKE und anderen führenden Pietisten als rechte Kinder Gottes Anerkannten eine Sekte wird. Gegen den Vorwurf, „daß man aus dem rechtschaffenen Wandel in Christo eine neue Secte machen will", wehrte sich der FRANCKE nahestehende H. FERGEN 1694. 53 FERGEN beklagt, daß die antipietistische Predigt in Gotha „bey dem grösten Hauffen Beyfall" fand. Die Gegner warfen den Pietisten vor, „die Leuthe würden melancholisch gemacht/ und müsten verzweiffein/ das Christentum mache nicht betrübt und traurig/ sondern lustig und frölich". So unsachlich die antipietistische Polemik oft war, fehlte ihr doch gerade im Blick auf die Stellung zu weltlichen Freuden nicht jede Berechtigung. Das legitime Anliegen einer Sammlung derer, „die
50
51
Vgl. K. DEPPERMANN, Der Hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. (I.), Göttingen 1961; C. HINRICHS, Preußentum und Pietismus, Göttingen 1971. V. E. LÖSCHER, Evangelische Zehenden I, Magdeburg/Leipzig 1710, 250 f.
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V g l . PESCHKE ( A n m . 3 8 ) , 144.
53
H. FERGEN, Waarhaffiiger Bericht/ anstatt einer gründlichen Beantwortung auff die unverdiente Beschuldigungen/ damit er und andere mehr in einer Lästerschrifft genannt ausfuhrliche Beschreibung des Unfugs der Pietisten zu Halberstadt belegt worden, Jena 1694 (Hauptbibliothek der Franckeschen Stiftungen [33 D 5]).
Christen als Minderheit - bei
AUGUST HERMANN FRANCKE
und heute
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mit Ernst Christen wollen sein" 54 , kann in eine sektenhafte Isolation von Gruppen übergehen, deren Ernst intolerante Züge annimmt. Wer sich dadurch angegriffen fühlt, mag mit so aggressiver Intoleranz reagieren wie OLEARIUS, dessen haarsträubende Vorwürfe und haltlosen Unterstellungen die Wahrheitsmomente seiner Kritik unkenntlich machten. FRANCKES weiter Horizont bewahrte ihn vor dem Weg ins geistige Ghetto. Sein ökumenisches Denken und seine bei allen Unterschieden zu LUTHER doch durchgehaltene Verankerung in der Rechtfertigungslehre kompensierten die Verengungen seiner Frömmigkeit. In mancher Hinsicht bewies er mehr Offenheit als seine Gegner. Die orthodoxen Kontrahenten vertraten einen Klerikalismus, der weit von LUTHERS Sicht des allgemeinen Priestertums entfernt war und eine folgenschwere Entmündigung „der meisten" in der Kirche darstellte. Während die Pietisten sich bemühten, das „geistliche Priestertum" aller Gläubigen in Kraft zu setzen, verfolgten die Orthodoxen argwöhnisch jede Äußerung geistlicher Mündigkeit der Laien und konservierten so eine andere Form der „Wenigkeit", nämlich die Beschränkung des Verkündigungsdienstes auf die Pfarrer. 55
3. Die Christen als Minderheit heute
3.1. Die säkulare Diaspora F. FÜHR, der bis 1956 als Propst von Nordhausen für die evangelische Diaspora im Eichsfeld, dem größten Gebiet katholischer Volkskirche in der DDR zuständig war, wandte seit 1958 den Diasporabegriff auf die schrumpfende Volkskirche in der DDR an. 56 1958 erreichte die Kirchenaustrittswelle in der DDR unter staatlichem Druck ihren ersten Höhepunkt. Noch gehörte die Mehrheit der Bevölkerung zur evangelischen Kirche, aber die Krise der Volkskirche zeigte sich besonders in den Städten bereits deutlich, wo die Jugendweihe in wenigen Jahren die Konfirmation weitgehend verdrängte. In der 54
55 56
Vgl. WA 19, 75, 5. Auf den dort geäußerten Plan beriefen sich pieüstische Reformer immer wieder, zuletzt K. EICKHOFF, Gemeinde entwickeln für die Volkskirche der Zukunft, Göttingen 1 9 9 2 , 1 9 4 f., wo die Hauskirche unter Berufung auf LUTHER als die volkskirchliche Gestalt der Zukunft dargestellt wird. Vgl. H.-M. BARTH, Einander Priester sein. Allgemeines Priestertum in ökumenischer Perspektive, Göttingen 1990. Vgl. H.-J. RÖHRIG, Diaspora - Kirche in der Minderheit, Leipzig 1991, 213-219.
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Praktische Theologie
Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, der stabilsten und lebendigsten Landeskirche in der DDR, sank das Verhältnis der evangelischen Taufen zu den Geburten von 64 % im Jahre 1956 auf 31 % im Jahre 1961 und erreichte 1981 mit 17% den tiefsten Stand.57 In den Großstädten, besonders in Neubaugebieten, liegt die Taufrate weit darunter. Es gibt in den neuen Bundesländern Stadtteile, in denen weniger als 3 % der Einwohner zur evangelischen Kirche gehören. In manchen Bezirken dürften die Christen der verschiedenen Konfessionen zusammen kaum 3 % ausmachen. Die Anonymität der Wohnblöcke macht diese extreme Minderheitssituation vermutlich noch nicht einmal so bewußt wie auf den in manchen Gebieten - nicht zuletzt im Umkreis von Halle - stark entkirchlichten Dörfern, wo mitunter auch nur etwa 10 % der Einwohner Mitglieder einer Kirche sind.58 Es ist angemessen, diese neue Minderheitssituation als „säkulare Diaspora" zu bezeichnen, da sie durch die Säkularisierung der Gesellschaft in den letzten vier Jahrzehnten entstand. Säkularisierung wird hier nicht im Sinne GOGARTENS positiv als „notwendige und legitime Folge des christlichen Glaubens" verstanden, die vom Säkularismus als einer Entartung der Säkularisierung zu unterscheiden wäre, 59 sondern negativ als Verlust von institutionalisierten Beziehungen zwischen den Menschen in der Gesellschaft und den Institutionen des Christentums. Das Attribut „säkular" drückt aus, daß die Christen in einer Umwelt leben, die sich negativ von der Situation der konfessionellen Diaspora unterscheidet. In der konfessionellen Diaspora kann die Nähe der anderen, stärkeren Kirche trotz mancher Belastungen auch belebend wirken. Evangelische Diasporagemeinden in katholischer Umgebung werden meist stärker zum Gottesdienst motiviert als Gemeinden, denen dieser Anreiz durch die Konkurrenz fehlt. In der säkularen Diaspora gibt es solche positiven Impulse durch die Umwelt nicht. Nicht erfüllt hat sich die Erwartung, die Reduzierung der Volkskirche könne sich als Gesundschrumpfung erweisen, der Verlust von Ballast werde die kleinere Kirche beweglicher und wirksamer machen. Eine quantitative Verringerung fuhrt keineswegs ohne weiteres zu einer qualitativen Belebung
57
58 59
Nach: Fremde Heimat Kirche. Ansichten ihrer Mitglieder. Studien- und Planungsgruppe der EKD - Erste Ergebnisse der dritten EKD-Umfirage über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 1993, 46. Vgl. E. WINKLER, Die neue ländliche Diaspora als Frage an die Praktische Theologie, ThLZ 112, 1987, 161-170. Vgl. F. GOGARTEN, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theologisches Problem, Stuttgart 1953, 139.
C h r i s t e n a l s M i n d e r h e i t - bei AUGUST HERMANN FRANCKE u n d h e u t e
411
der Kirche. Abgesehen davon, daß die Kirche den Verlust von Menschen nicht als Verzicht auf Ballast interpretieren darf, da es nicht um Sachen, sondern um Personen geht, ist die Annahme einer Selbstreinigung der Kirche durch sozialpsychologischen Druck unzutreffend. Eine zahlenmäßig schwächere Kirche ist nicht automatisch geistlich stärker. Diese Beobachtung wird durch die dritte EKD-Umfrage über Kirchenmitgliedschaft bestätigt. Obwohl in den ostdeutschen Gliedkirchen der EKD 1991 nur noch 27% der Bevölkerung zur evangelischen Kirche gehörten, unterschied sich weder die aktive Beteiligung am kirchlichen Leben noch die Bereitschaft zum Kirchenaustritt signifikant von den Befunden in den westlichen Landeskirchen. „Der Minorisierungsprozeß bewirkte keinen qualitativen Umschlag, keine die Kirchenmitgliedschaft revolutionierenden Ereignisse und Aktivitäten"60, lediglich bei den 18-29jährigen war im Osten ein stärkeres kirchliches Engagement zu verzeichnen als bei der Vergleichsgruppe im Westen. Dieser Befund könnte ein Hinweis darauf sein, daß positiv qualitative Folgen der quantitativen Reduzierung sich erst langfristig einstellen. Die heute 18-29jährigen haben keine Volkskirche mehr erlebt und auch die oft mit harten Konfrontationen verbundene Phase des Zusammenbruchs der Mehrheitskirche nicht kennengelernt. Die säkulare Diaspora ist für sie selbstverständliche Voraussetzung ihrer Beziehungen zur Kirche und ihres Lebens als Christen in der säkularisierten Gesellschaft. In der DDR versuchten einige Theologen, die säkulare Diaspora als positive Herausforderung und Chance zu verstehen und zu nutzen. Das gilt fur den erwähnten F. FÜHR und in profilierter Weise fur W. KRUSCHE, der 1973 als Bischof der besonders stark von der Säkularisierung betroffenen Kirchenprovinz Sachsen davon ausging, die Kirche lebe in der DDR nicht nur in einer säkularen Diaspora, die es auch in den weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften (seil, des Westens) gebe, sondern: „Wir haben es mit einer ideologischen Diaspora zu tun ... In dieser Diaspora-Situation sehen sich die Glieder der Kirche dauernd der heimlichen Erwartung ausgesetzt, ihren Glauben aufzugeben oder ihn jedenfalls für sich zu behalten und es zu unterlassen, andere dafür gewinnen zu wollen"61. KRUSCHE wollte angesichts dieser Anfechtung dazu helfen, daß wir „uns freihalten von dem Ressentimentkomplex, der sich bei Minderheiten so leicht einstellt" und stattdessen „in aller Ängstigung Diaspora als eine sinnvolle Situation ansehen, die ihre eigenen Chancen hat"
60 61
A.a.O. (Anm.57), 39. W. KRUSCHE, Verheißung und Verantwortung, Berlin 1990, 96 f.
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Praktische Theologie
in der „Konzentration auf das Entscheidende ", in einem Gewinn an Intensität und vielleicht auch Qualität. 62 Die ideologische Komponente verlor nach 1973 zunehmend an Bedeutung, insofern sich immer klarer zeigte, daß die marxistische Ideologie ebenso wie der christliche Glaube nur von einer Minderheit getragen wurde, die allerdings über Machtmittel zur Durchsetzung ideologischer Ansprüche verfugte. Nach dem Zusammenbruch dieser Ideologie änderte sich die Situation der säkularen Diaspora in den neuen Bundesländern nicht. Der missionarische Impuls, den KRUSCHE mit Recht gegen die Gefahr der Resignation weitergeben wollte, ist in der evangelischen Kirche sehr schwach bis überhaupt nicht zur Wirkung gekommen. 1973 wollte KRUSCHE trotz der eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten der Kirche einen Lernprozeß anstoßen, der zur Weitergabe des Evangeliums, zur Lebensgestaltung der Gemeinde und zur Mitarbeit in der Gesellschaft befähigt, also zu einer missionarischen und diakonischen Existenz der Christen in der Minderheit. Ein hervorgehobener Satz lautete: „Wie ein Alptraum zieht durch unsere Gespräche die Klage: Wir können ja nichts machen"6·'. Leider bestimmt dieser Alptraum noch heute weithin das Denken, Reden und Handeln, nachdem die von KRUSCHE zutreffend erwähnten Einschränkungen hinfällig geworden sind. Die neu entstandenen Verunsicherungen zeigen, daß der von KRUSCHE angeregte Lernprozeß weiter notwendig ist. Mit der Wiedervereinigung fielen nicht nur Einschränkungen weg, sondern es ergab sich ein ganzes Bündel neuer Probleme, das die Defizite in der Verarbeitung des Minorisierungsprozesses aufdeckte. Nur mit Hilfe der aus Kirchensteuern stammenden Finanzmittel der (westdeutschen) EKD konnten die Kirchen in der DDR die aus der Volkskirche übernommenen Strukturen bewahren. Durch das Ziel der allmählichen Angleichung der Gehälter verschärfte sich nach der Wiedervereinigung der Widerspruch zwischen volkskirchlichen Strukturen und faktischer Diaspora in den östlichen Gliedkirchen, ohne daß letztere praktikable Alternativen zu entwickeln vermochten. 64
62
KRUSCHE ( A n m 6 1 ) , e b d . u n d 9 8 .
63 64
A.a.O. (Anm61), 112. Die Zeitschrift „Die Zeichen der Zeit" enthält seit 1990 zahlreiche Beiträge, in denen die jüngste Kirchengeschichte im Osten Deutschlands reflektiert und über Perspektiven nachgedacht wird. Vgl. ζ. Β. H. FALCKE, „Kirche im Sozialismus" als Kompromißformel?, ZdZ 47, 1993, 82-86, wo 83 f. „die Spannung zwischen der Minorisierung der Kirche und ihrem gesamtgesellschaftlichen Auftrag" bedacht wird. W . RATZMANN handelt im selben Heft über „Kirche ohne Privilegien - Utopie oder Feigenblatt?" (86-92). Vgl. auch J. HEMPEL, „Stellungnahme zu uns selbst" - Wider die einfachen Antworten, a. a. O., 42-48; P. BINGEL, Die Aufgaben der Kirche in den östlichen Bun-
Christen als Minderheit - bei AUGUST HERMANN FRANCKE und heute
413
KRUSCHE wies im genannten Vortrag darauf hin, daß die besondere Form der Diaspora in der D D R mit der Geschichte der evangelischen Kirche in diesem Raum zusammenhängt und sich darin von der Diasporasituation der Freikirchen unterscheidet. „Wir müssen als Kirche einer Minderheit mit der Wirkungsgeschichte der Volkskirche mit ihrem Segen und ihrer Last fertig werden und können nicht aus ihr ausscheren. Hier erwächst uns eine Aufgabe, die den Freikirchen nicht gestellt ist und von der wir noch nicht wissen, wie wir sie lösen sollen" 65 Viel zu große und zu zahlreiche Gebäude sind den kleinen Gemeinden zur Last geworden. Infolge der politischen Wende weitete sich der institutionelle Rahmen der Minderheitskirche sogar noch weiter aus, insbesondere auf diakonischem Gebiet, 6 6 aber auch im Bildungswesen. 6 7 „Die Wenigkeit der Christen", von der FRANCKE sprach, wirft heute die Frage auf, in welchem Maß gesellschaftliche Aufgaben von der Kirche erfüllt werden können, ohne daß sie ihre Identität verliert und ihr Proprium unsichtbar wird. Wir benötigen neu die Besinnung auf die von KRUSCHE unter ideologischem Druck erkannte Chance zur Konzentration auf das Entscheidende. 68 Sie ist in
desländern heute, a. a. O., 12-18; D. MENDT, Kirche zwischen Körperschaft des öffentlichen Rechts und Salz der Erde, a. a. O., 145-147; E. WINKLER, Aufgaben und Möglichkeiten der evangelischen Kirchen in der DDR, ZdZ 44, 1990, 87-91. Vgl. ferner H. TSCHOERNER, Volkskirche oder Bekenntniskirche - Erfahrungen und Perspektiven der Christen in der früheren DDR, in: LKW 40, 1993, 53-71 und das Themenheft „Das missionarische Wort" 45, 1992/H. 3: „Chancen und Hindernisse des Glaubens im vereinigten Deutschland". 65
W . KRUSCHE ( A n m 6 1 ) , 9 7 .
66 Vgl. R. TURRE, Die soziale Frage im deutschen Einigungsprozeß, in: Diakonie 1990 (Sondernummer), 1 1 - 1 5 ; DERS., Im Prozeß der sozialen Einigung, in: ZdZ 4 7 , 1993, 5 8 - 6 3 ; DERS., Perspektiven für ein geeintes diakonisches Werk, in: ZdZ 4 5 , 1 9 9 1 , 50-53.
67
Vgl. EvErz 43, 1991, Themenheft „Religionsunterricht in den neuen Bundesländern?", 1-97; R BIEWALD, Zurück zur Volkskirche? Der Bildungsauftrag der Kirche und ihr Selbstverständnis - aus ostdeutscher Sicht, in: Christenlehre 46, 1993, 332-339. 68 Vgl. W. KRÖTKE, Kirche für alle?, in: ZdZ 46, 1992, 194-201, wo der Auftrag der Kirche von Barmen VI aus und bezugnehmend auf die Minderheitskirche in der neuen Situation bedacht wird. „Die Aufgabe der Kirche in der Krise der Gegenwart" schließt fiir K.-P. HERTZSCH eine Prioritätenliste ein, in der die missionarische Aufgabe der Kirche „lebensnotwendig wie nur jemals" ist (ZdZ 46, 1992, 44-49, 48). Vgl. auch den Beitrag von E. KONUKIEWITZ: Auf dem Wege von der Mehrheit zur Minderheit. Aspekte des volkskirchlichen Wandels aus der Sicht eines Gemeindepfarrers, in: Kirche an der Grenze. FS G. MARÓN, hg. von J. HAUSTEIN und G. P. WOLF, Darmstadt 1993, 181-195.
414
Praktische Theologie
der pluralistischen Gesellschaft ebenso notwendig wie in der „ideologischen Diaspora". Bei der Frage nach den Prioritäten können wir von der konfessionellen Diaspora lernen. Ihre personellen und finanziellen Kräfte sind zu schwach, eine solche Fülle von Institutionen zu tragen, wie es der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihren Gliedkirchen bisher möglich ist. Diasporakirchen müssen viel entschiedener theologisch begründete Schwerpunkte setzen. 69 Was KRUSCHE die „Konzentration auf das Entscheidende" nennt, ist bei LUTHER wie bei FRANCKE der Ruf zum Glauben als einer das ganze Leben bestimmenden Wirklichkeit. Auch wenn man FRANCKES zu enges Bekehrungsschema ablehnt, ist doch sein missionarisches Werben, das Menschen vom Unglauben oder Wahnglauben zum wahren, das heißt aus der Umkehr erweckten und im neuen Leben sich bewährenden Glauben fuhren will, unverzichtbar. Der Begriff „säkulare Diaspora" soll einen Zustand beschreiben: Infolge der Säkularisierung finden Christen sich als Minderheit vor. Diese Feststellung hat nichts mit Larmoyanz zu tun, 70 aber auch nichts mit einem positiven Urteil über die Säkularisierung. Die von GOGARTEN eingeführte Unterscheidung von Säkularisierung und Säkularismus 71 hilft nicht über die Folgen beider Phänomene hinweg. In den Kirchenkreisen ostdeutscher Landeskirchen werden gegenwärtig als sehr belastend empfundene Diskussionen über die künftigen Stellenpläne gefuhrt, die auf drastische Einsparungen von Planstellen hinauslaufen. Hier wirken sich die Folgen der Säkularisierung auf finanziellem Gebiet aus. Viel stärker als der Verlust finanzieller Ressourcen müßte uns der Verlust der Menschen bewegen. So plausibel soziologische Erklärungen teilweise sind, so wenig werden damit die Christen insgesamt von ihrem missionarischen Auftrag entbunden.
69
70 71
Vgl. aus der ev. Kirche Siebenbürgens die Beiträge von M. GROSS, Der Dienst der Kirche an sterbenden Gemeinden, in: EvDia 62, 1993, 45-56 und H. PITTERS, Die Zurüstung der Gemeinde in einer sich wandelnden Diaspora, EvDia 59, 1990, 49-67 sowie aus Frankreich A. GREINER, Die Zuriistung zum geistlichen Amt in einer sich wandelnden Diaspora, EvDia 59, 1990, 69-77. Das meint CHR.-E. SCHOTT, Das Gustav-Adolf-Werk und die Diasporapflege heute, in: Im Dienst der Diaspora, hg. von G. BECK, Köln-Bonn 1993, 267-281. Vgl. Anm. 59.
Christen a l s Minderheit - bei AUGUST HERMANN FRANCKE und heute
415
3 .2. Ekklesia und Diaspora E. LANGE gebrauchte den Diasporabegriff, um die Zerstreuung der Christen im Alltag der Welt als Korrelat zu ihrer Versammlung in der Gemeinde, die er mit dem Ekklesiabegriff bezeichnete, zu beschreiben. LANGE variierte damit das Begriffspaar „Sammlung und Sendung". „In der Versammlung geht es darum, die Verheißung im Licht der Wirklichkeit wahrzunehmen. Da helfen viele Augen und viele Ohren mit. In der Zerstreuung geht es darum, die Wirklichkeit im Licht der Verheißung wahrzunehmen. Da ist der Glaubende auf seine eigenen Augen und Ohren angewiesen"72, er ist als einzelner gefordert. Der Gottesdienst „verspricht" Verheißung und Wirklichkeit, die Ekklesiaphase dient der Bewährung in der Diaspora. Diese Verschränkung von Diaspora und Ekklesia gilt in der Volkskirche ebenso wie in der Minderheitskirche. Im Alltag der Welt leben die Christen immer in der Diaspora. Die einzelnen brauchen die Gemeinde, um in der Ekklesiaphase die Verheißung zu hören, in deren Licht sie dann in der Diasporaphase die Wirklichkeit wahrnehmen. LANGE denkt vor allem an die Laien, wenn er von der Diaspora spricht. Sie stellen die Verbindung zwischen Ekklesia und Diaspora her, indem sie den Gottesdienst im Alltag des beruflichen und gesellschaftlichen Lebens praktizieren. Die Gemeinschaft der Ortsgemeinde hilft den einzelnen dabei in der Ekklesiaphase. Diese neue Verwendung des Diasporabegriffs geht davon aus, daß jeder Christ für sich, als einzelner unter Andersdenkenden, seinen Glauben zu vertreten hat. Eine Kollegin im Betrieb, eine Schülerin in ihrer Klasse, ein Soldat in seiner Kasernenstube, sie finden sich als einzelne in der Situation vor, daß andere Rechenschaft von ihrem Glauben erwarten. Diese Herausforderung stellt sich auch dort, wo „die meisten", von denen schon FRANCKE sprach, Mitglieder der Kirche sind. LUTHER hob am Beginn seiner berühmten Invokavitpredigten hervor, daß jeder in der Todesstunde auf sich gestellt ist: „ein yeglicher mueß für sich selber geschickt sein in der zeyt des todts ... so muß ein yederman selber die hauptstück so einen Christen belangen/ wol wissen vnd gerüst sein"73. Die Todesstunde ist sozusagen die extreme Diasporasituation, in der sich zu bewähren hat, was in der Ekklesia verkündigt und vernommen wurde. Die christliche ars moriendi besteht in ihrem Kern darin, die Wirklichkeit des Todes im Licht der Verheißung wahrzunehmen und in der Verheißung die Wirklichkeit des Auferstehungslebens vorwegzunehmen. 72 73
E. LANGE, Chancen des Alltags, 142 f. Vgl. K. LIEDTKE, Wirklichkeit im Licht der Verheißung, Würzburg 1987, 121. WA 10/III 1, 10; 2, 1 f.
416
Praktische Theologie
Man kann fragen, ob es um der begrifflichen Klarheit willen ratsam ist, die Bewährungssituation des Glaubens der einzelnen als Diaspora zu bezeichnen. Es empfiehlt sich, die Begriffsverwendung auf den ekklesiologischen Bereich zu beschränken. Es geht primär um die Minderheitssituation der Gemeinde in einer bestimmten Umwelt, die durch eine anders konfessionelle oder säkularisierte Mehrheit geprägt ist. Die spezifische Situation der konfessionellen oder säkularen Diaspora kann sich zwar auf die im persönlichen Bekenntnis gegebene und im Sterben zugespitzte Herausforderung des Glaubens auswirken, doch ist diese Herausforderung nicht mit dem Diasporabegriff zu beschreiben. Für E. LANGES Verständnis der Ekklesia war bei aller Kritik an der volkskirchlichen Institution die Abgrenzung von ihr nicht wesentlich. Das ändert sich in der sehr verbreiteten „Theologie des Gemeindeaufbaus" von F. und
CHR. A . SCHWARZ ( 1 9 8 4 ) ,
wo
in A n l e h n u n g a n E . BRUNNER,
H.-J.
KRAUS und H. GOLLWITZER eine kritische Distanz der Ekklesia zur Kirche behauptet wird. 74 Ekklesia wird positiv definiert als „eine personale Gemeinschaft mit Jesus und mit Schwestern und Brüdern, deren Glaube in der Liebe tätig wird" 75 . Solche Gemeinschaft entsteht durch Gemeindeaufbau, der ausdrücklich nicht eine ecclesiola in ecclesia anstrebt. 76 SCHWARZ/SCHWARZ zitieren GOLLWITZER: „Das Ereignis der Kirche will nicht ein paar Inseln der Seligen, ein paar Ghettos der Gerechten schaffen, sondern Strahlungskerne, die ihre Umgebung verändern" 77 . Zu dieser Umgebung gehört die Mehrheit der volkskirchlichen Christen ebenso wie die Gesellschaft insgesamt. Gemeindeaufbau im Sinne der Ekklesiabildung kann für SCHWARZ/SCHWARZ auch deshalb nicht eine ecclesiola irt ecclesia intendieren, weil damit die kirchliche Institution als Ekklesia bezeichnet wäre. Bei allem Bemühen, die volkskirchliche Institution positiv dem Gemeindeaufbau dienstbar zu machen, entsteht doch eine Schwarz-weiß-Malerei, bei der die dunkle Folie der Volkskirche dazu dient, das helle Licht der Ekklesia erstrahlen zu lassen. Das erinnert an FRANCKES Schema, in dem sich die wenigen Bekehrten von den vielen Halboder Unbekehrten abheben. Auch die Ekklesia kann nur ein corpus permixtum sein, ein Feld, auf dem Weizen und Unkraut zusammen wachsen (Mt 13,24-30).
74
75 76 77
Theologie des Gemeindeaufbaus. Ein Versuch. Neukirchen 3 1987, 186: „Die Ekklesia steht im Spannungsverhältnis zu jeder Institution, die sich mit Ekklesia identifiziert", 27: „Kirche und Ekklesia dürfen nicht miteinander identifiziert werden". A. a. O. (Anm. 74), 34 u. ö. A.a.O. (Anm. 74), 50f. A. a. O. (Anm. 74), 47.
Christen als Minderheit - bei AUGUST HERMANN FRANCKE und heute
417
Der Hinweis auf das corpus permixtum darf allerdings nicht dazu dienen, daß die Unterschiede zwischen Glauben und Unglauben verwischt oder als irrelevant erklärt werden. „Der Ruf zum Glauben hat nur dann einen Sinn, wenn es eine Grenze zwischen Glaube und Unglaube gibt", erklären 78 SCHWARZ/SCHWARZ mit Recht, und sie fügen hinzu: „Natürlich entscheidet der Herr selbst über die Grenzen der Ekklesia"79. Wie verhält sich aber die im letzten Satz getroffene eschatologische Aussage zu der im ersten Satz vorgenommenen pragmatischen Erklärung? Die eschatologische Aussage, die das entscheidende Urteil dem Kyrios vorbehält, relativiert die Rede von der Grenze, ohne sie aufzuheben. Unglauben gibt es auch in der Ekklesia, wie SCHWARZ/SCHWARZ, BRUNNER und KRAUS sie verstehen. Der Satz „Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben!" (Mk 9,24) hebt aber nicht auf, daß zum Leben im Glauben eine Grundentscheidung gehört, mit der ein prinzipieller Unterschied zum Leben im Unglauben gesetzt wird. Ob diese Grundentscheidung sich wie bei FRANCKE in einer dramatischen, biographisch genau datierbaren Form oder in einem langen Prozeß der Einübung in den Glauben vollzieht, ist zweitrangig. Die Geschichte der Frömmigkeit weist eine große Bandbreite hinsichtlich der Intensität und Bewußtheit der praxis pietatis auf. Eine Ekklesia im Sinne von SCHWARZ/SCHWARZ als „eine personale Gemeinschaft mit Jesus und mit Schwestern und Brüdern, deren Glaube in der Liebe tätig wird", hat nie die Mehrheit der Bevölkerung gebildet. Zur Verbindlichkeit einer in der Liebe sich bewährenden Glaubenspraxis im Sinne der ,Freiheit eines Christenmenschen" bei LUTHER fand sich immer nur eine Minderheit bereit. Daraus ergeben sich die Gefahren der elitären Absonderung einerseits und der bequemen Anpassung andererseits. Die Volkskirche braucht die Impulse der wenigen in ihr, die Verbindlichkeit und eine klare Identität fordern, damit aus der „Institution der Freiheit"80 nicht eine Organisation der Beliebigkeit wird. Ebenso benötigt die Minderheit der „Ekklesia" die Mehrheit der anders Denkenden und auch anders Glaubenden und Lebenden, damit die „personale Gemeinschaft" nicht zum Ghetto wird. Wer von Christen als Minderheit oder Mehrheit spricht, trifft soziologische Aussagen und bewegt sich ekklesiologisch auf der Ebene der sichtbaren Kirche. Die auf lutherischer Seite unaufgebbare Rede von der unsichtbaren 78 79 80
A. a. O. (Anm. 74), 42. A. a. O. (Anm. 74), 44. So wird die Volkskirche verstanden in einer Studie des Theologischen Ausschusses der VELKD: „Volkskirche-Kirche der Zukunft7', Hamburg 1977.
418
Praktische Theologie
Kirche erinnert daran, daß die Kirche immer in der Spannung von geglaubter und erfahrener Kirche lebt.81 Die Glaubenden bleiben nicht bei den oft enttäuschenden Erfahrungen stehen, trennen sich nicht von der frustrierenden sichtbaren Kirche,82 sondern sehen im Licht der Verheißung die Möglichkeiten Gottes. Alle negativen Erfahrungen mit der Kirche, auch im eigenen protestantischen Umfeld, hinderten LUTHER nicht, im Großen Katechismus zu bekennen: „Ich gläube, daß da sei ein heiliges Häuflein und Gemeine auf Erden eiteler (= von lauter) Heiligen unter einem Häupt, Christo, durch den heiligen Geist zusammenberufen, in einem Glauben, Sinne und Verstand, mit mancherlei Gaben, doch einträchtig in der Liebe, ohn Rotten und Spaltung. Derselbigen bin auch ich ein Stück und Glied"83. Ein solches Bekenntnis wäre fromme Vertuschung der oft traurigen kirchlichen Realität, wenn das Geglaubte nicht neue Erfahrungen bewirkte. FRANCKE sagte im Blick auf die Defizite der Gemeinde: „was ihr nicht seyd, das könnet ihr werden"84. Seine Predigt zielt darauf, daß „endlich alle gewiß seyn (mögen), daß uns nichts scheiden mag von der Liebe GOttes, die in CHristo JEsu unserm HErrn ist"85. Das Ziel der Predigt besteht also nicht darin, die wenigen Frommen von den weniger Frommen und ganz Unfrommen abzuheben, sondern alle für die Gewißheit des Glaubens zu gewinnen. Die Grenzen der empirischen Betrachtung und Unterscheidung werden gesprengt durch die Perspektive der Hoffnung, in der nicht mehr irgendeine menschliche „Klasse und Ordnung"86, sondern allein Gottes Liebe entscheidend ist.
81
83
Vgl. das Votum des Theologischen Ausschusses der EKU „Kirche als .Gemeinde von Brüdern' (Barmen III)", Bd. 2, hg. von A. BURGSMÜLLER, Gütersloh 1981, 37 ff. Die Gefahr, daß evangelikale und charismatische Gruppen aus den Landeskirchen ausscheiden, sollte von letzteren in der Weise ernstgenommen werden, daß deren Stimmen in den Kirchen mehr als bisher Gehör finden. BSLK 657, 26-33.
84
A . H. FRANCKE ( A n m . 1), 3 2 , 2 7 .
85 86
A.a.O. (Anm. 1), 33, 38f. A. a. O. (Anm. 1), 32, 25.
82
CHRISTLICHE KUNST
Die „Verklärung Jesu" an der Westwand des Heiligen Grabes in der Stiftskirche zu Gernrode* Christian Macholz, Heidelberg
KURT-VICTOR SELGE HANS-JÜRGEN HERMISSON
sexagenaries
Die Stiftskirche St. Cyriacus in Gernrode, vom Markgrafen GERO vor 960 begonnen, ist „eines der bedeutendsten und im Gesamteindruck besterhaltenen Zeugnisse ottonischer Architektur"1. Und WILHELM VON KüGELGEN, der „Alte Mann", damals Kammerherr des geisteskranken letzten Herzogs von Anhalt-Bernburg, schrieb am 3. Juni 1861 2 nach Estland an seinen Bruder GERHARD:
„Könnte ich Dir doch die alte Abteikirche in Gernrode aus dem neunten (!) Jahrhundert zeigen, gebaut von dem Markgrafen Gero. Es ist unbegreiflich, wie diese Alten, denen wir so wenig Kenntnis zuzutrauen geneigt sind, doch einen so überaus sublimen Geschmack haben konnten. Diese alten Kirchen sind versteinerte Psalmen. Von der Reformationszeit an hat man nichts mehr bauen können. (...) Das Christentum war früher Tat und Leben und Genuß, dann wurde es Lehre und Wissenschaft und Begriff. In einer Kirche wie der Gernroder kann die Predigt zur Not wegfallen, weil die Steine
*
1 2
Diese kleine Studie ist eine Neben-Frucht des Sommersemesters 1992, in dem ich an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität arbeitete. Ich versuche in dieser Untersuchung, ein Bild zu „lesen" und zu „exegesieren". Das tue ich als kunsthistorischer Dilettant; ich hoffe aber, daß es für die Kunsthistoriker anregend ist. Ich versuche, die Dinge nicht „fachsprachlich" zu formulieren. Außerdem mag Theologisches fur Theologen, Kunsthistorisches für Kunsthistoriker allzu elementar erscheinen - aber so ist das Ganze hoffentlich für jeden Interessierten „lesbar". EDGAR LEHMANN, zitiert bei K. VOIGTLÄNDER, Die Stiftskirche zu Gernrode, Das christliche Denkmal, Heft 68, 1990 (im folgenden abgekürzt „CD"), 1. K. VOIGTLÄNDER (siehe Anm. 3) irrtümlich: „7. November 1861".
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Christliche Kunst predigen. Das Herz wird himmelan gerissen. Wir haben noch so eine Kirche in Frohse, auch von Gero gebaut und von gleicher Schönheit"3.
In d a s südliche Seitenschiff der Kirche, der E i n g a n g s t ü r schräg g e g e n ü b e r , ist ein „Heiliges G r a b " eingebaut, „eine ü b e r a u s k o s t b a r e N a c h b i l d u n g d e s G r a b e s Christi in J e r u s a l e m " 4 . D e r Einbau g e s c h a h u m 1100; im w e i t e r e n V e r l a u f
Das Heilige Grab in der Stiftskirche zu Gernrode (Westwand: Ausschnitt)
3
4
Zitiert nach den „Lebenserinnerungen des Alten Mannes in Briefen an seinen Bruder Gerhard", hg. von OTTO v. TAUBE, 1952, 317f. Das Z i t a t - i n einer leicht veränderten Mischform - setzte K . VOIGTLÄNDER vor seine Arbeit „Die Stiftskirche zu Gernrode und ihre Restaurierung 1858-1872", (1980) 2. Auflage 1982. Das war ein Bekenntnis. Ob es wirklich eine „Nachbildung" des in der Jerusalemer Grabeskirche gezeigten Grabes Christi sein will oder kann, sei dahingestellt. Eine solche gibt es aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Görlitz; eigentlich ist es ein ganzes Ensemble aus Kreuzkapelle, Salbungskapelle und Grabkapelle, mit „Ölberg"und „Via dolorosa". Die Alttestamentier interessiert es besonders, daß GUSTAF DALMAN darüber gehandelt hat: „Das Heilige Grab in Görlitz und sein Verhältnis zum Original in Jerusalem", SonderAbdruck aus dem Neuen Lausitzischen Magazin, Bd. 91 (1915), Reprint Görlitz o. J. (1990/91).
Die „Verklärung Jesu" an der Westwand des Hl. Grabes in Gernrode
423
des 12. Jahrhunderts wurde das Hl. Grab umgebaut. Die westliche - der Orgel zugekehrte - Außenseite des Hl. Grabes ist die „Pracht- und Schauwand der Anlage" 5 .
1.1. Beschreibung der Westseite im ganzen Das großteilige Mittelstück der Westwand zeigt wohl die trauernde Maria vor dem Grabe. Dies Bild ist an allen Seiten von zwei Rahmen umgeben: einer schmalen äußeren Zierleiste und, zwischen ihr und dem Mittelstück, einer figurenreichen breiteren Leiste. Diese innere Leiste zeigt Tiergestalten und in der linken und rechten oberen Ecke je eine Menschengestalt. Diese Gestalten sind von Ranken umgeben. Die Ranken gehen von einem doppelt gewundenen „Stamm" in der Mitte des Innenrahmens aus. Sie „umschlingen" die Tiere auf dem unteren Teil und den Seitenteilen des Rahmens; sie gehen hinter den beiden Menschengestalten in den oberen Ecken vorbei; sie „umkreisen" die Tiere auf dem oberen Teil des Rahmens und treffen sich um dessen Mittelfigur 6 . Der Baum ist der Lebensbaum. Die Führung seiner Ranken zeigt, daß die obere Leiste des Innenrahmens „offenbar ihrer Bedeutung wegen ausgezeichnet ist" 7 . Dieser oberen Leiste wende ich mich im folgenden zu.
1.2. Beschreibung der oberen Leiste des Innenrahmens Die Mittelfigur, bei der die Lebensbaum-Ranken, sie umkreisend, sich vereinigen, stellt ein Lamm dar. Dessen Kopf ist mit einem Nimbus (sozusagen einem senkrechten Heiligenschein) hinterlegt. In dessen Mitte ist ein Kreuz. Das Lamm hält mit seinem rechten Vorderlauf einen Stab mit einem Kreuz an der Spitze. Das Lamm bezeichnet in der christlichen Kunst seit jeher Jesus Christus als den Erlöser der Welt: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt", so sagt nach dem Johannesevangelium Johannes der Täufer von Jesus (Joh 1,29; vgl. auch V. 36 und „das Lamm" in der Offenbarung des Johannes).
5 6
CD, 29. Die Unterscheidung von „umschlingen" und „umkreisen" nach VOIGTLÄNDER, CD, 29.
7
K . VOIGTLÄNDER, C D , 2 9 .
424
Christliche Kunst
Hier ist Jesus Christus als der Erlöser der Welt dargestellt, nicht als der Leidende, sondern - die um ihn sich vereinigenden Ranken des Lebensbaums zeigen es - als der Auferstandene, der den Tod besiegt hat 8 . Auf den Erlöser zeigen die beiden männlichen (weil bärtigen) Gestalten in den oberen Winkeln der Innenleiste. Sie blicken „aus dem Bild heraus", das Gesicht dem Betrachter zugewandt; die Körper sind in 45-Grad-Drehung zur Mitte gekehrt. Sie zeigen mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf Christus. Der linke Mann (vom Bild aus gesehen - vom Betrachter aus also der rechte) hat ein knöchellanges Gewand an. Mit der linken Hand rafft er es zu einem Bausch, in dem er eine Platte hält. Diese Platte ist sein „Identifikationszeichen" Der Mann ist Mose; was er hält, ist die Gesetzestafel, die er auf dem Berg Sinai von Gott empfangen hat - genauer: eine der beiden „Tafeln des Zeugnisses, die waren steinern und beschrieben mit dem Finger Gottes" (Ex31,18; vgl. 32,15 f.); auf ihnen stehen „die Worte des Bundes, die Zehn Worte" (Ex 24,28), d. h. die Zehn Gebote. Daß Mose nur eine Tafel hält, wird „technische Gründe"haben: zwei Tafeln wären in diesem kleinen Format nicht deutlich darzustellen gewesen. Daß aber die Gesetzestafeln gemeint sind - und nicht ein Buch 9 - , das zeigt die Art, wie die Tafel gehalten ist: nämlich nicht mit der bloßen Hand. Die Tafel mit der Gottesschrift direkt zu berühren, wäre Sakrileg, zumindest Mangel an Ehrerbietung. Darum ist die haltende Hand vom Stoff des Gewandes verhüllt. Der rechte Mann (ebenfalls vom Bild aus gesehen - vom Betrachter aus der linke) hält in der linken Hand einen kurzen Stab mit einem Kreuz an der Spitze (wie das Lamm) und ist mit einem knielangen Zottelgewand bekleidet. Dies Gewand ist sein „Identifikationszeichen": Er ist Johannes der Täufer: „Johannes aber war bekleidet mit Kamelhaaren und mit einem ledernen Gürtel um seine Lenden" (Mk 1,6; vgl. Mt 3,4).
8
9
Es trifft m. E. nicht ganz zu, was G. W. VORBRODT sagt: „Dieses Lamm ... steht fur den Opfertod des Herrn" (GÜNTER W. VORBRODT, Die Stiftskirche in Gernrode. Ein kunstgeschichtlicher Beitrag, in: HANS K. SCHULZE, Das Stift Gernrode, Mitteldeutsche Forschungen [ 3 8 ] , 1 9 6 5 , 9 1 ff. [über das Hl. Grab hier: 1 1 2 - 1 2 2 ] - eine zusammenfassende Aufnahme von VORBRODTS Dissertation „Die Plastik und Ornamentik am Heiligen Grabe zu Gernrode", Diss, phil., Jena 1 9 5 3 ) . So WERA v. BLANKENBURG, Heilige und dämonische Tiere. Die Symbol-Sprache der deutschen Ornamentik im frühen Mittelalter, Leipzig 1943, 135: „Die ... Tiere in der obersten Reihe ... werden von Johannes dem Täufer und Johannes dem Evangelisten rechts und links gerahmt" (Hervorhebung von mir. W. v. BLANKENBURG gibt keine Begründung für ihre Deutung, die schon VORBRODT [s. Anm. 8 ] in seiner Anm. 4 9 zurückweist).
Die „Verklärung Jesu" an der Westwand des Hl. Grabes in Gernrode
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Johannes der Täufer steht übrigens merkwürdig verrenkt da, mit überkreuzten Armen, so daß die linke Hand nach außen, die rechte nach innen gerichtet ist. Aber das muß so sein: Auf Christus zeigen darf er nur mit der rechten, der „guten" Hand. Deshalb muß der rechte Arm von außen nach innen gefuhrt werden. Und die den Kreuzstab haltende Linke darf nicht an der linken, der inneren Körperseite bleiben; da würde sie den Zeige-Gestus der Rechten beeinträchtigen. So muß der linke Arm von innen nach außen gefuhrt werden, damit jede Hand für sich zu sehen ist. (Die Armhaltung ist also nicht ästhetisch begründet - etwa so, daß der Künstler vermeiden wollte, daß die Außenseite „leer " bleibt: auch die Außenseite bei Mose ist ja „leer", und der freie Raum ist mit einer Extra-Ranke gefüllt). So ist eindeutig, was die obere Bildseite darstellt: Johannes den Täufer und Mose, die auf das „Lamm Gottes", Jesus Christus, den Erlöser der Welt und „Lebensfürsten", deuten.
2. Interpretation der oberen Bildleiste
2.1. Fragestellung Aber was bedeutet diese Darstellung? G. W. V O R B R O D T , der die „Plastik und Ornamentik am Heiligen Grabe zu Gernrode "in seiner Jenenser Dissertation von 1953 untersucht hat, sieht in der Darstellung „in strengem Aufbau ... das Wunder der Auferstehung des Herrn erneut wiederholt und gesteigert, bis es in dem jedem mittelalterlichen Menschen verständlichen Symbol des Lammes eine letzte gültige Formulierung findet"10. Ja wohl - aber warum dann Johannes der Täufer und Mose, die auf das Lamm deuten? Auch K. V O I G T L Ä N D E R , in seinem schönen kleinen Führer durch die Stiftskirche, stellt diese Frage gar nicht, geschweige denn, daß er sie beantwortete. Es gibt eine bedenkenswerte Deutung; O. VON HEINEMANN gab sie vor mehr als hundert Jahren: Mose und Johannes der Täufer „als erster und letzter Prophet des alten Bundes und Verkündiger des Messias mit der rechten Hand auf das Lamm Gottes in der Mitte deutend" 11 . Freilich steht auf dem Bilde
10
G. W . VORBRODT ( A n m . 8 ) , 114.
11
O. VON HEINEMANN, Geschichte der Abtei und Beschreibung der Stiftskirche zu Gernrode, Quedlinburg 1877; Zitat Seite 52.
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Johannes der Täufer und nicht Mose zur Rechten des Gotteslammes, also an hervorgehobener, sozusagen erster Stelle. Das ließe sich aber erklären von dem Wort Jesu her „Unter allen, die vom Weibe geboren sind, ist keiner aufgestanden, der größer sei als Johannes der Täufer" (Mt 11,11; in der Parallele Lk 7,28 heißt es sogar ausdrücklich „... ist kein größerer Prophet als Johannes der Täufer"). Dann hätte der Täufer als der „größte Prophet"die Vorrangstellung im Bild noch vor Mose. Dennoch scheint mir diese Deutung, daß Mose und Johannes der Täufer „als erster und letzter Prophet ... und Verkündiger des Messias" dargestellt seien, kaum zuzutreffen. Denn sie ist zu abstrakt, zu lehrhaft-reflektiert. Die Westwand des Hl. Grabes ist eine „Predigt in Stein" 12 , aber keine Vorlesung in Stein. Und das ganze Skulpturenprogramm des Hl. Grabes verweist auf Erzählungen, nämlich auf neutestamentliche Ostergeschichten, und zwar wie nach einer „Evangelienharmonie" aus dem Markus- und dem Johannes-Evangelium 13 . Es scheint mir sehr wahrscheinlich, ja fast sicher zu sein, daß auch die Darstellung des „Gotteslamms" Christus mit Johannes dem Täufer und Mose zu seinen Seiten auf eine Erzählung verweist. Die Tiergestalten zwar „symbolisieren"14 - wenn es auch nicht eindeutig ist, was sie symbolisieren15. Doch biblische Gestalten „erzählen" eine biblische Geschichte, genauer: Sie verweisen auf eine neutestamentliche Geschichte.
2.2. These Daß der obere Bildfries an der Westwand des Hl. Grabes eine neutestamentliche Geschichte darstelle, schien mir, als ich ihn zum ersten Mal sah, ganz selbstverständlich. Und ich sagte spontan: „Das sind nicht Mose und Johannes der Täufer, sondern Mose und Elia zu Seiten Christi; und das ist die Geschichte von der Verklärung Jesu" Was da Spontaneität schien, war wohl eher eine Assoziationskette, wie sie bei einem Exegeten des Alten Testaments, der auch mit dem Neuen Testament vertraut ist und weiß, daß die Gestalt des
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W. v. BLANKENBURGS Bemerkung (s. Anm. 9), S. 133 - in Bezug auf die „Tierfolgen" des Frieses m.E. nicht zutreffend - ist im Blick auf das Ganze richtig: „...Bilderschrift des Evangeliums oder als eine in Bildern aufgeschriebene Predigt, verständlich auch für solche Menschen, die des Lesens unkundig sind". - Vgl. auch das KÜGELGEN-Zitat zu Anfang dieser Studie. Vgl. dazu den „Anhang" am Schlufl dieser Studie. Vgl. VORBRODTS Dissertation (siehe oben Anm. 8). Vgl. die gegenüber VORBRODT vorsichtigeren Formulierungen VOIGTLÄNDERS in CD.
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Mose im Neuen Testament nur in der Verklärungsgeschichte vorkommt, geradezu automatisch abläuft. Und diese kleine Studie ist das Ergebnis der Nachprüfung und Ausarbeitung jener spontanen Deutung. Dabei hat sich, um es vorweg zu sagen, diese „Exegese" der Westwand des Hl. Grabes bestätigt und vertieft16. Das einzige, was bei ihr nicht stimmte, war die Bestimmung der rechten Gestalt als „Elia und nicht Johannes der Täufer". Denn diese Gestalt zeigt Johannes den Täufer als Elia. Das alles will begründet und erläutert sein.
3.1. Mose und Elia in der Geschichte von der Verklärung Jesu Die Geschichte von der „Verklärung" Jesu ist in den drei ersten, den „synoptischen"Evangelien überliefert: Mt 17,1-«; Mk 9,2-8 und Lk 9,28-36. Ich zitiere sie in der Fassung des ältesten, des Markus-Evangeliums: (Mk 9,2) „Und nach sechs Tagen nahm Jesus zu sich Petrus, Jakobus und Johannes und führte sie auf einen hohen Berg, nur sie allein, und ward vor ihnen verklärt. (3) Und seine Kleider wurden ganz leuchtend weiß, wie sie kein Bleicher auf Erden so weiß machen kann. (4) Und es erschienen ihnen Elia mit Mose, und sie redeten mit Jesus. (5) Und Petrus fing an und sprach zu Jesus: Rabbi, hier ist gut sein. Lasset uns drei Hütten machen, dir eine, Mose eine und Elia eine. (6) Er wußte aber nicht, was er redete; denn sie waren bestürzt. (7) Und es kam eine Wolke, die überschattete sie. Und eine Stimme geschah aus der Wolke und sprach: Das ist mein lieber Sohn; den sollt ihr hören. (8) Und auf einmal, als sie um sich blickten, sahen sie niemand mehr bei sich als Jesus allein."
Die „Pointe" dieser Geschichte ist das, was die Stimme Gottes sagt. „Das ist mein lieber Sohn; den sollt ihr hören".
Denn es ist Gottes Stimme: In der „Wolke" verhüllt „erscheint" nach dem Alten Testament die „Herrlichkeit des Herrn" (vgl. Ex 40,34 u. ö ). Gott selbst legitimiert, ja proklamiert also Jesus als den Messias 17 .
Ich bin der Kunsthistorikerin Frau Dr. SEELIGER-ZEISS und dem Neutestamentler dankbar für anregende Gespräche. 17 Die „Stimme" aus der Wolke sagt hier - im ersten Satz - eben das, was bei der Taufe Jesu durch Johannes den Täufer die „Stimme" aus dem Himmel sagt: „Mein lieber Sohn". Aber da ist es nur zu Jesus gesagt. So nach Mk 1,11 (und Lk3,22). Nach Mt3,17 wird Jesus schon bei seiner Taufe öffentlich von Gott legitimiert. 16
HARTWIG THYEN
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Was die Stimme aus der Wolke den Jüngern sprachlich sagt, das sagen ihnen Mose und Elia nicht-sprachlich; sie sagen es allein durch ihr „Erscheinen'' Jesus ist der Christus, der Messias. (Denn die Christenheit hat seit je einheitlich „christologisch" verstanden, was im Alten Testament auf verschiedene Weise von der Endzeit und dem endzeitlichen Heilsbringer gesagt ist.) Mose bezeichnet durch sein Erscheinen Jesus als den Moses redivivus, den endzeitlichen Mittler des Gotteswillens. Denn nach Dtn 18,15 hat Mose den Israeliten verheißen, wie Gott ihm gesagt hatte (18,18): „Einen Propheten wie mich wird der Herr, dein Gott, dir erwecken, auf den sollt ihr hören".
Dies Wort bezieht sich im Zusammenhang des Deuteronomiums und der folgenden Bücher auf den jeweiligen Propheten, der Israel im Lauf der Geschichte den Willen Gottes kundtut. Aber später verstand man es als Verheißung einer endzeitlichen Gestalt, des endzeitlichen „neuen Mose". Eben dieses Verständnis ist in der Verklärungsgeschichte vorausgesetzt: Die Gottesstimme sagt: „Das ist mein lieber Sohn; den sollt ihr hören" - das ist ja ein Zitat von Dtn 18. Elia zeigt durch sein Erscheinen, daß der „Tag des Herrn" anbricht: Er ist auf feurigem Wagen mit feurigen Rossen lebendig in den Himmel „entrückt" worden. Er ist also bei Gott; und von dort wird er wiederkommen: Am Ende des letzten Prophetenbuches heißt es im Alten Testament: „Siehe, ich will euch senden den Propheten Elia, ehe denn da komme der große und schreckliche Tag des Herrn". (Maleachi 3,23 oder, nach der Zählung der lateinischen Bibel, wie sie den Auftraggebern des Gernroder Künstlers geläufig war: Kap. 4, V. 5).
Diese Erwartung der Wiederkunft Elias zeigt sich später auch im „apokryphen" Buch Jesus Sirach (48,10). Dort heißt es dann von Elia: „Wohl denen, die dich sehen und mit Liebe geschmückt sein werden! Da werden wir das rechte Leben haben" (48,11 und 12)18. Das alles war den Evangelisten Markus und Matthäus und den frühchristlichen Gemeinden, fur die sie ursprünglich schrieben, ganz geläufig - anders als den meisten Menschen heute, auch Christen. Ja, die Evangelisten setzen
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Dann bekennt Petrus „Du bist der Christus", der Messias (Mk 8,29 - gerade vor der Verklärungsgeschichte!). Und jetzt, auf dem Berge, wird es den Jüngern von Gott selbst offenbart, d. h. im Zusammenhang des Markus-Evangeliums: bestätigt. So die schöne „Übersetzung" LUTHERS, mit der er den kaum verständlichen lateinischgriechischen Text auf seine Weise versteht. (Der hebräische Text ist an dieser Stelle nur bruchstückhaft erhalten).
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voraus, daß man weiß, woran Mose und Elia erkannt werden: Sie sagen einfach, daß Mose und Elia erscheinen, und sie lassen auch die drei Jünger die beiden erkennen, wie der Vorschlag des Petrus zeigt. Es scheint fast, daß damals schon so etwas wie „Identifikations-Merkmale" zumindest für Mose und Elia bekannt waren. Für Elia ist das sogar sicher, wie gleich gezeigt werden wird. In der neutestamentlichen Geschichte von der Verklärung Jesu „be-deuten" also Mose und Elia schon allein durch ihr Erscheinen: Jesus ist der Messias, der Christus Gottes.
3 .2. Johannes der Täufer als wiedergekommener Prophet Elia So weit, so gut. Die ikonographisch entscheidende Frage aber ist: Wie kann Johannes der Täufer am Hl. Grab in Gernrode der wiedergekommene Elia sein? Antwort: Weil er das schon im Neuen Testament ist. Daß Johannes der Täufer der wiedergekommene Elia und also der „Vorläufer" des Christus ist, das sagen die Evangelien nach Markus und Matthäus von Anfang an 19 . Sie sagen es nicht-sprachlich, aber für jeden mit dem Alten Testament Vertrauten unmißverständlich: „Johannes aber war bekleidet mit Kamelhaaren und einem ledernen Gürtel um seine Lenden" (Mk 1,6; Mt 3,4).
Diese Kleidung, sagte ich oben, ist in der christlichen Kunst das Identifikationszeichen Johannes' des Täufers. Im Neuen Testament aber ist sie genannt, weil sie das Identifikationszeichen des Propheten Elia ist: „Wie war der Mann gekleidet, der euch begegnete?", so fragt der König von Israel seine Boten; die hatten ihm berichtet, daß sie auf dem Wege zum Orakel des Baal-Sebub zu Ekron 20 von einem Mann aufgehalten und zurückgeschickt worden seien, der ihnen gesagt habe. „Ist denn kein Gott in Israel, daß du hinsendest, zu fragen
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Lukas allerdings nicht! Er läßt die „Elia-Kleidung" des Täufers unerwähnt; er läßt nach der Verklämngsgeschichte die Jünger-Belehrung Jesu, daß Elias endzeitliche Wiederkunft schon geschehen sei, weg; er läßt bei der Verklärung die beiden, Mose und Elia, Jesu seine Passion ankündigen. Sollte die „Zielgruppe" des Lukas-Evangeliums oder gar dessen Verfasser selbst die eschatologische Bedeutung des Täufers als Elia nicht gekannt und die Bezugnahme nicht verstanden haben? „Baal-Sebub", „Fliegen-Baal" ist im Alten Testament der Name des Gottes der Philisterstadt Ekron. Eigentlich ist sein Name „Baal-Sebul", Fürst Baal. Später dann wurde aus dem Götzen „Fliegen-Baal" ein Teufel: „Beelzebub, der Oberste der Teufel" (Mt 12,24).
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Baal-Sebub, den Gott Ekrons?" - „Wie war der Mann gekleidet", fragt also der König, und „sie sprachen zu ihm: Er hatte eine rauhe Haut an und einen ledernen Gürtel um seine Lenden. Er aber sprach: Das ist Elia, der Thisbiter".
Für jeden Bibelkundigen sind also, wie schon für den König Ahasja, Fellkleid und Ledergürtel die Identifikationszeichen des Propheten Elia. Bei Matthäus und Markus soll Johannes der Täufer, wenn seine Kleidung mit einem Zitat von 2 K ö n l , 8 beschrieben wird, als der wiedergekommene Elia identifiziert werden, der das Kommen der messianischen Zeit signalisiert. Das geschieht am Anfang der Evangelien, und es geschieht, wie gesagt, nichtsprachlich. Aber es wird auch ausdrücklich formuliert, und zwar als ein Wort Jesu selbst. Und das geschieht bemerkenswerterweise im unmittelbaren Anschluß an die Verklärungsgeschichte: (Mk 9,9) „Da sie aber vom Berge herabgingen, gebot ihnen Jesus, daß sie niemand sagen sollten, was sie gesehen hatten, bis des Menschen Sohn auferstünde von den Toten. (...) (11) Und sie fragten ihn und sprachen: Die Schriftgelehrten sagen doch, daß zuvor Elia kommen muß. (12) Er aber sprach zu ihnen: Ja, zuvor kommt Elia und bringt alles wieder zurecht. Und wie steht geschrieben von des Menschen Sohn, daß er viel leiden soll und verachtet werden? (13) Aber ich sage euch: Elia ist schon gekommen, und sie haben an ihm getan, wie sie wollten, wie von ihm geschrieben steht."
Das bezieht sich auf Johannes den Täufer, von dessen Tod vorher in Markus 6 (V. 27) berichtet worden war. Matthäus (17,13) fugt, damit es auch ja richtig verstanden werde, hinzu: „Da verstanden die Jünger, daß er von Johannes dem Täufer zu ihnen geredet hatte". Ich fasse zusammen: Schon im Alten Testament wird Elia als der „Vorläufer" des Tages des Herrn erwartet. Schon im Alten Testament sind seine Identifikationszeichen Fellkleid und Ledergürtel. Wenn das Neue Testament Fellkleid und Ledergürtel als Kleidung Johannes' des Täufers nennt, so identifiziert es diesen als den wiedergekommenen Elia, den Vorläufer des Messias. Und Jesus selbst sagt, Elia sei in der Tat in der Gestalt Johannes' des Täufers gekommen. Das berichten die Evangelien unmittelbar nach der Geschichte von der Verklärung Jesu, bei der Mose und Elia durch ihr Erscheinen
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Jesus als den Messias „legitimiert" haben und Gott selbst ihn als seinen Sohn, den Messiaskönig, und als „neuen Mose" proklamiert hat 21 . Das in diesem dritten Teil Gesagte ist wohl zureichende Begründung meiner These, die ich zusammenfassend ausführe: Die Darstellung auf der Westwand des Hl. Grabes in der Gernroder Stiftskirche, in der Johannes der Täufer und Mose auf das „Lamm Gottes" zeigen, verweist auf die neutestamentliche Geschichte von der Verklärung Jesu. Johannes der Täufer ist durch sein Fellgewand als der wiedergekommene Elia bezeichnet. Weil der „ verklärte " Christus nicht als eine menschliche Gestalt dargestellt werden konnte, ist er durch das „Lamm Gottes" als der Erlöser der Welt und Lebensfürst bezeichnet. Mag diese These auch, wie ich hoffe, in sich plausibel sein, so kann man doch fragen, warum gerade die Verklärungs-Geschichte am Hl. Grab in Gernrode dargestellt sei 22 . Um diese Frage zu beantworten, muß man sich den „Sitz im Leben" solcher „Heiligen Gräber" - nicht nur des Gernroder Hl. Grabes! - klar machen (was übrigens in der Kunstgeschichte bis in die neueste Zeit allzu selten geschehen ist, obwohl man ein mittelalterliches Kirchen-Kunstwerk kaum recht verstehen kann, wenn man nicht weiß, daß und wie es dem gottesdienstlichen Gebrauch dienen sollte). Das Hl. Grab ist ja nicht geschaffen worden als „Kunst am - bzw. im Bau" und schon gar nicht als Touristen-Attraktion, sondern, wie gesagt, als „Gebrauchs-Gegenstand". So wissen wir von den Osternachts-Spielen, die am und im Hl. Grabe zu Gernrode stattfanden. Solche Spiele - auf die ich hier nicht eingehen kann fanden allerdings nur einmal im Jahr statt. Aber auch an den anderen Tagen des Jahres wird das Hl. Grab den Laien, welche an den Gottesdiensten teilnahmen, gezeigt worden sein - und das heißt: es mußte ihnen durch die StiftsGeistlichen „erklärt" werden. Die Laien waren im zehnten Jahrhundert weder 21
In der neutestamentlichen Wissenschaft ist die Auffassung vertreten worden, die Verklärungsgeschichte sei eigentlich eine Ostergeschichte; das ist neuerdings bestritten worden. Dabei scheint mir richtig zu sein, daß die Verklärungsgeschichte überlieferungsgeschichtlich in der Tat keine Ostergeschichte ist. Aber redaktionsgeschichtlich ist sie es in gewissem Sinne doch: Denn Markus hat mit dem abschließenden „Schweigegebot" bis zur Auferstehung (9,9) und der anschließenden Belehrung der Jünger durch Jesus, in der er seine Passion mit dem Tode Johannes' des Täufers als des wiedergekommenen Elia verbindet, die Verklärungsgeschichte sozusagen auf Ostern hin interpretiert
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Für diese Frage bin ich DIETER NESTLE dankbar.
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des Lesens noch der Bibel kundig (und also, wenigstens was Bibelkenntnis betrifft, den Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts sehr ähnlich). Diesen Laien wird durch die erläuternde Nacherzählung der Verklärungsgeschichte vor der Westwand des Hl. Grabes zuerst einmal gesagt, wer denn der Jesus war und ist, von dessen Tod und Auferstehung das Heilige Grab „spricht": Gottes Sohn, von Gott selbst so genannt, und der Erlöser der Welt und Lebensfürst, durch das Lamm Gottes als solcher bezeichnet. So fügt sich die Darstellung der Verklärung Jesu an der Westwand ganz in das „Bildprogramm" des Hl. Grabes, nämlich Ostern. Sie eröffnet und erschließt dies „Proramm" - und faßt es einführend zusammen. Diese Funktion des einführenden Erschließens gilt aber nicht nur für das Hl. Grab selbst und seine figürlichen Darstellungen. Die Westwand des Hl. Grabes ist ja für jeden, der die Stiftskirche betritt, von Westen oder, wie heute, von Südwesten, das erste bildliche Detail, auf das er im Kirchenraum trifft. Wird sie dem Gottesdienstbesucher, der sie zum ersten Mal betritt, als Verklärungsgeschichte erklärt, so ist solche Erklärung eine Erklärung der Gottesdienste in dieser Kirche überhaupt; sie sagt, wem diese Gottesdienst gelten, und sie sagt, was in diesen Gottesdiensten geschieht: Verkündigung des Evangeliums, der frohen Botschaft: „Das ist mein lieber Sohn, den sollt ihr hören " sagte Gott in der Verklärungsgeschichte den Jüngern, welche den verklärten Jesus und zu seinen Seiten Elia und Mose vor sich sahen, so wie der Besucher der Stiftskirche sie hier vor sich sah und sieht.
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Anhang Die neutestamentlichen Grundlagen der Darstellungen am Hl. Grab der Gernroder Stiftskirche Das „Bildprogramm" der Skulpturen ist die Auferstehung Christi; das ist klar. Aber die Darstellungen zeigen, daß nicht alle vier Evangelien als „Texte" zugrundeliegen, sondern (nur) das Evangelium nach Markus und das Evangelium nach Johannes: 1) Die drei Frauen - ursprünglich wohl gegenüber den Osterengeln, auf der südlichen Innenseite des Hl. Grabes: „Und da der Sabbat vergangen war, kauften Maria Magdalena und Maria, des Jakobus Mutter, und Salome Spezerei, daß sie kämen und salbten ihn" (Mk 16,1).
Nur bei Markus ist von drei Frauen die Rede; Lk 24 berichtet von einem größeren Kreis von Frauen, von denen dann drei besonders genannt werden; Matthäus spricht von zwei Frauen (Johannes nur von einer). 2) Die beiden Engel zu Seiten des leeren Grabes an der nördlichen Innenseite: „... und sieht zwei Engel in weißen Kleidern sitzen, einen zu den Häupten und den anderen zu den Füßen, da sie den Leichnam Jesu hingelegt hatten" (Joh 20,12).
Nur bei Johannes zwei Engel; Mk 16 und Mt 28 wissen nur von einem „Engel" oder „Jüngling"; Lk24 weiß von zwei Gestalten, nennt sie aber „Männer". 3) Der „ Jüngerwettlauf " in der Vorkammer des Grabes: „Da ging Petrus und der andere Jünger hinaus und kamen zum Grabe. Es liefen aber die zwei miteinander, und der andere Jünger lief zuvor, schneller als Petrus, und kam als erster zum Grabe" (Joh 20,3 f.).
Nur im Johannesevangelium23. 4) Die „Noli me tangere-Szene " auf der Nordwand: Die weinende Maria Magdalena meint, man habe die Leiche Jesu weggenommen; sie wendet sich um
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In Lk 24 erwähnt nur der sogenannte „Reichstext", daß Petrus - und nur er - zum Grabe „gelaufen" sei. Die Lutherbibel hat das als Lk 24,12: LUTHER übersetzte aus ERASMUS' griechischem Neuen Testament, das den „Reichstext" bot.
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Christliche Kunst „und sieht Jesum stehen und weiß nicht, daß es Jesus ist... Sie meint, es sei der Gärtner". Als der Auferstandene sie mit Namen anredet, erkennt sie ihn. „Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an" (lateinisch: J^oli me tangere") (Joh20,ll ff.).
Ebenfalls nur im Johannesevangelium. 5) Der Engel mit dem Schriftband rechts vom Sarkophag. Er weist mit der rechten Hand auf das Grab; in der linken hält er ein Schriftband, auf dem noch die lateinischen Worte SVRREXIT NON EST HIC zu erkennen sind: „Er aber sprach zu ihnen: Entsetzet euch nicht! Ihr suchet Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten; er ist auferstanden und ist nicht hier. Siehe da die Stätte, da sie ihn hinlegten" (Mk 16,6).
Die Auferstehungsbotschaft nur bei Markus in dieser Reihenfolge; bei Matthäus und Lukas anders herum: „Er ist nicht hier; er ist auferstanden" (bei Johannes fragen die Engel nur, sagen die Osterbotschaft nicht). Man sieht: Durchweg beruht das „Bildprogramm" auf den beiden Evangelien nach Markus und Johannes. (Ich frage mich - und gebe diese Frage zuständigkeitshalber an die Kirchenhistoriker w e i t e r - : Könnte dieses Bildprogramm, das dem Künstler, wenn er nicht selber Mönchspriester war, von einem Priester „aufgegeben" worden sein dürfte, auf eine „Oster-Evangelienharmonie" aus Mk und Joh zurückgehen? Freilich, zwischen TATIAN, EUSEB, AUGUSTIN, HIERONYMUS e i n e r s e i t s u n d GERSON u n d OSLANDER a n d e r e r s e i t s
wissen wir kaum etwas von Evangelienharmonien.) Zu diesen Beobachtungen paßt auch der Befund auf der Westseite des Hl. Grabes, an der ich die Verklärungsgeschichte dargestellt sehe. Johannes der Täufer/Elia steht rechts von Christus, dem Gotteslamm, also an bevorzugter Stelle. Das entspricht der Markusversion der Verklärungsgeschichte, in der Elia zuerst genannt wird: Und es erschienen ihnen Elia mit Mose ... (9,4). Matthäus und Lukas (Johannes hat die Verklärungsgeschichte nicht) haben die „historische"Reihenfolge „Mose und Elia". (Diese Beobachtung mag die oben entwickelte These zusätzlich stützen; als Argument zu ihrer Begründung verwende ich sie nicht.)
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Personenregister
A Abd-Ru-Shin 250-252 S. auch Bernhardt, O. E. Abderhalden, E. 20 Achelis, E. Chr. 383 Aland, B. 69 Aland, K. 57; 69; 77; 230 Alexander d. Gr. 79; 83f.; 86 Althaus, P. 263; 366; 379 Ammer, H. 22; 308 Anton, P. 50-59; 71; 220-222 Aquin, Th. von 51f.; 293; 330-335 Aristoteles 300; 326-328; 331; 333; 338; 354 Arndt, E. M. 17 Arndt, J. 160; 189; 401-403; 406;408 Arnold, G. 408 Arnoldi, U. 225 Augustin 51; 53; 337; 434 Β Bade, K. J. 201 Barnett, Α. E. 65 Barth, H.-M. 402; 409 Barth, K. 87f.; 97; 99; 352; 366; 389-391 Barth, U. 267-302
380 Bassi, Η. von Bauer, H. 21; 261 Baumgarten, O. 380 Baumgarten, S. J. 22 lf.; 225 396 Baumgartner, K. Baur, F. C. 49; 58 Bayer, O. 94f. 414 Beck, G. 269f.; 285; Beck, L. W. 290; 292 Beck, U. 377 43; 45 Becker, J. Beglich, J. 12; 15 Beintker, M. 303-322 Bender, K.-M. 258 110 Benjamin, W. Benz, E. 107 53f. Berdot, D. N. Berger, K. 98 377 Berger, P. L. Bergmann, E. A. 252f. 250; 254 Bernhardt, Ο. E. Bernstein, M. 263 77 Berthold, H. Bertschinger-Eicke, E. 257f. Besant, A. 239; 24lf. 94 Bethge, E. Betz, H. D. 77; 86 Beyreuther, E. 56; 211f.; 215 Beyschlag, W. 198; 200f.
Bieritz, Κ. H. 303 413 Biewald, R. Binder, H. 90 412 Bingel, P. Bischofberger, O. 241; 263 Bisping, A. 58 Bister, U. 217 Bittner, R. 275; 296f. Bitzius, A. 391 Blankenburg, W. von 425 245 Blattmann, G. Blavatsky, Η. P. 239-241 373 Bless, J. Bloth, P. C. 314 Bobrowski, J. 113f.; 123 Bock, E. 235; 244 366f.; 373 Böckle, F. Boehmer, J. 20 Bohatec, J. 287 116 Boll, H. Bonhoeffer, D. 94; 103; 314 Bomhäuser, K. 206 66 Borse, U. Bousset, W. 98 Brecht, M. 191 Brehmer, R. G. jr. 373 52; 55; Breithaupt, J. J. 213f.; 218; 221 Brox, N. 61 Brunner, B. 255; 257
436 416; 417 Brunner, E. 7; 8 Brunner, H. Buber, M. 6; 15 217f. Buddeus, J. F. Bultmann, R. 76; 82; 90; 97 116 Burakov, Ju. N. 92 Bürge, G. M. Burgsmüller, A. 320;418 C Callenberg, J. H. 222 Calvin 360 405 Carpzov jr., J. B. Cathrein, V. 363; 365; 373 160 Chemnitz, M. 12 Childs, Β. S. 197 Christlieb, Th. Clauswitz, Β. G. 222 Comlin, J. 373 Congar, M. J. 363; 373 Cordes, C. 357 Cornehl, P. 389 Cramer, K. 267; 272; 275; 296f. 325 Cremer, H. Criisemann, F. 33 Cullmann, 0. 76; 82 D 252-254 Däbritz, M. Dahl, Ν. Α. 84 Daiber, Κ.-F. 314 Dalman, G. 22; 423 Dandamaev, M. A 9; 1 If.; 15 Darnmann, F. C. 232 Darwin, Ch. 242; 253 79 Davies, W. D. 239 Davis, A. J. 157f.; 191; de Boor, F. 211; 216; 402 309 Degen, R. 27f. Dehn, G. 89 Deissmann, A. 222 Dekels, M. G. N.
Register Delitzsch, F. 4 ; 12; 15 73-86 Delling, G. Denz, H. 262 408 Deppermann, Κ. 28; 306 Dibelius, O. 34 Dietrich, W. Dionysius 328; 330; 334 Dirlmeier, F. 327 Ditteri, Κ. é ; 11; 15 76 Dobschütz, E. von Donner, H. 13 Drehsen, V. 378-380; 384; 386; 389; 392; 396 Drews, P. 206; 377-397 Dreyhaupt, J. C. von 217f.; 222 108 Drost-Abgarjan, A. 247 Dudde, B. 4; 6; 15 Duhm, B. Düsing, K. 270 E 351 Ebeling, G. Ebertin, B. R. 262 Eger, K. 382 258 Eggebrecht, G. Eggenberger, O. 241; 248f. Ehrlich, Α. B. 6; 15 394 Eiben, I. Eichhorn, J. G. 58; 61 409 Eickhoff, K. Eißfeldt, O. 21-23; 26; 29; 35 Elliger, K. 3; 5; Í ; 11; 15 Endter, W. M. 159 95 Engels, F. Engemann, W. 395 433 Erasmus 434 Euseb F Falcke, H. Feder, A. Feifei, E. Felmy, K. Chr.
412 262 396 111
408 Fergen, H. 80 Fiedler, M. J. Finkelstein, L. 79 Fitzer, G. 68 350f. Flasch, K. 6f.; 15 Fohrer, G. 245f. Forsboom, B. Forschner, M. 297 52-57; Francke, A. H. 107; 157-193; 211-232; 399-418 214 Francke, A. M. 158; 160; Francke, G. A. 191; 211-232 401 Francke, J. Freyer, H. 216 Freylinghausen, J. A. von 212t; 219-221; 226; 229 263 Friedli, R. Friedrich (Kurfürst; 343 Friedrich II. 222; 231 Friedrich Wilhelm I. 212f.; 218-222 Friedrich, G. 82; 90 Friedrich, W. 235 244f. Frieling, R. 206 Frohnes, H. 409; 411 Führ, F. 79 Fuks, A. 373 Furger, F. G Galling, K. 15 242 Gasper, H. 58 Gass, J. C. 109 Geiss, I. Georg (Herzog) 348 421 Gero (Markgraf) Gersdorf, E. W. von 223 434 Gerson 10 Gesenius, W. Geyer, J. 12 287 Gisel, P. 235 Goethe, J. W. von 410; 414 Gogarten, F.
437
Personenregister Gollwitzer, H. 416 107-155 Goltz, H. 59 Good, S. F. 282;390 Grab, W. Grabmann, M. 330 258 Grand, G. u. M. 200 Graul, Κ. 254f. Greber, J. Greiner, Α. 414 Greshake, G. 263 Greßmann, H. 34 377-397 Grethlein, Ch. Grimm, W. 6; 11; 15 400; 414 Groß, M. Großgebauer, T. 161; 407 Grözinger, Α. 395 G rundemann, R. 197 Gueinzius, M. J. Chr. 222 357; 359 Gundlach, G. 18-22 Gunkel, H. H 248; 258 Haack, F.-W. 178 Haage, J. Β. 116 Haass, F. J. Hackmann, F. Α. von 220 242 Haeckel, E. 35; 74; 90 Hahn, F. Haller, M. 6; 12; 15 Härle, W. 93; 101; 305 Harnack, A. von 49; 69; 328; 380 382 Harnack, T. 51; 57; Harrison, P. Ν. 59; 65 240 Hartmann, F. Hartmann, J. L. 158f.; 161; 191; 225 113f. Haufe, E. 80 Haupt, D. Haupt, E. 49; 199; 201; 203 207 Haußleiter, G. Haustein, J. 413 Hegermann, H. 80 269 Heidegger, M.
Heineccius, J. M. 107f.; 218 425f. Heinemann, 0 . von Heinrici, G. 76 Heinzelmann, G. 27 Helck, W. 6 Heller, J. 8 Hellmich, P. 253 Hemer, C. 82 20; 412 Hempel, J. 91 Hengel, M. 365 Hengstenberg, H. E. 308 Henkys, J. Henrich, D. 269 Herbst, M. 303 Hering, H. 195f.; 1981".; 202; 204; 206; 208f. Hermelink, J. 390 Hermisson, H.-J. 10; 15; 421 101; 271 Herms, E. 34 Herrmann, S. 288; 386 Herrmann, W. 219 Herrnschmid, J. D. Hertzsch, K.-P. 413 9; 32; 34 Hesse, F. Heßler, E. 7; 9; 11; 15 Heydenreich, A. L. Chr. 57f. 204 Hey se, P. 434 Hieronymus 303 Hild, H. Hinrichs, C. 408 Hirsch, E. 99; 288; 390 Hirsching, F. C. G. 225 355 Hitler, A. 5; 15 Hitzig, F. Höflner, J. Kardinal 373 Hoffmann, H. 20 243 Hoflmeister, M. Hofius, O. 90 Hollatz, D. 323 Holm-Nielsen, S. 36; 40f. Holtz, G. 308 Holtz, T. 7 3 ί ; 77; 80; 88 Holtzmann, H. J. 49; 58-60; 65f. Honecker, M. 324; 373
Hornung, E. 7 213 Hoyer, E. 305f.; 320 Huber, W. 80 Hübner, H. Humboldt, W. von 102 242; 263 Hummel, R. Hutten, Κ. 244; 247-250; 254; 256 I Ivanov, V.
129
J 195 f.; Jacobi, J. L. 198f.; 208f. Jaeger, F. 99f.; 102 Jenssen, Η. H. 308 Jeremias II. (Patriarch) 107 Jetter, W. 400 342; 346 Johann (Herzog) Johannes XXIII. (Papst) 358f. 6 Jones, G. H. 373 Jonung, L. 391 Jörns, Κ. P. Josephus 74f.; 78; 84; 86 Juncker, F. C. 219; 226f. Κ 118 Kaffka, Η. 18; 21f. Kahle, P. Kähler, M. 98f.; 195f.; 198f.; 202f.; 206-209 11 Kaiser, O. 4 Kambyses Kant, I. 257; 267-302; 353 9 Kapelrud, A. S. 236-238; Kardec, A. 245f.; 255 351; 407 Karlstadt 196f. Kasdorf, H. 94 Kassel, M. Kattenbusch, F. 108 373 Kaufmann, A. Kautzsch, E. 10; 202
438 241 Keller, C. A. Kellermann, U. 39; 42f. 344 Kempcke, G. 373 Kenney, J. F. 262 Kerkhofs, J. 63 Kertelge, K. Keynes, J. M. 367Í;373 80 Keyser, P.-G. Keyserlingk, A. 286 355 Kierkegaard, S. Kiesewetter, C. 236 Kimminich, 0. 373 304 Kistenbrügge, A. 391 Kittel, H. 367 Klaer, I. Kleemann, J. 314 Klein, H. 90 Klemme, H. 267 Klepper, J. 212f. Klostermann, E. 76f.; 107 215Í;219; Knapp, J. G. 222; 224; 229; 232 Koch, H. 9; 15 12 Koch, Κ. Kochanek, H. 263 108 Köckert, F. Kohler, H. 91 26 If. König, M. Konukiewitz, E. 413 Kopelew, L. 114-116; 123 Korpi, W. 372 161 Kortholt, Chr. Köster, B. 230 198 Köstlin, J. Kramer, G. 215 Kratz, R. G. 4 ; 9f.; 12; 15 Kraus, H.-J. 4; 6; 15; 416f. 379f. Krause, G. 7 Krauss, S. Kretzschmar, G. 308; 310 Kreutzer, C. 243 Krieger, B. 212 Krötke, W. 309; 413 391 Krotz, F. Krusche, W. 309; 314;
Register 411-414 Kügelgen, G. von 421 Kügelgen, W. von 421; 426 Kuharic, F. Kardinal 109 Kühn, U. 304 49; 83 Kümmel, W. G. Küng, H. 353 Kutsch, E. 32 3-16 Kyros d. Gr. L 5f.; 12; 16 Laato, A. Lachmann, K. 235 Lämmle, F. M. 248; 257 Lampe, A. 258 390; 415 Lange, E. 222 Lange, J. Ledochowski, V. u. W. 359 Lehmann, A. 26; 203 421 Lehmann, E. Lehofer, G. J. 248 74 Leipoldt, J. Lenz, J. 244 Leo XIII. (Papst) 358 Lepsius, J. 108 Lessing, G. E. 235 211 Leube, H. Liedtke, K. 415 Lindner, H. 396 Link, E. 373 49-71 Lips, H. von Liwak, R. 9; 12 Loch, W. 392 Löfgren, D. 366 Lohff, W. 303 Lohfink, G. 65 Lohse, E. 303 Loofs, F. 108; 201Í; 204 Lorber, J. 246-249 Löscher, V. E. 408 365f. de Lubac, H. Lubsczyk, H. 6; 15 Ludolf, H. W. 107 Luther, H. 380 Luther, M. 22; 28; 160;
323-356; 400f.; 403; 405; 407; 409; 414f.; 417t;433 Lüthi, K. 304 Lutz, W. 247 M 22 Maass, F. Macholz, Chr. 42M34 Majer, J. A. 54; 57 Mal'cev, A. 119 Malter, R. 267 Maltzew, A. P. 119 Maron, G. 413 Marti, K. 4 ; 6; 12; 15 267 Marty, F. 14; 16 Matheus, F. 126 de Matons, J. G. Matthias, M. 191 Meckenstock, G. 271 Mehlhausen, J. 93 Meier, K. 306 Meinhold, A. 3-16 263 Meinhold, W. J. Meißner, A. 112;116 90 Meli, U. 114 Mendel, H.-D. 412 Mendt, D. Menzer, P. 272 Merk, O. 90; 96 354 Merkel, H. Meyer-Blanck, M. 393 222 Michaelis, Chr. B. 57 Michaelis, J. D. 16 Michel, D. 84 Michel, O. 246 Michel, P. Mirbt, C. 200f.; 211 Moddy, R. A. 262 303 Mohaupt, L. 303 Moltmann, J. 373 Moody, J. N. 288t Moore, G. E. Moser, J. J. 224f. 20 Mowinckel, S.
Personenregister Mühlenberg, H. M. 230 Muhler, E. 373 Mühlmann, S. 339; 346 Muilenburg, J. 4; 12; 15 Müller, G. 308Í Müller, H. M. 400 Müller, J. 24 lf. Müller, L. 25 Müller, Ν. 323-356 Müller-Armack, Α. 368 Müntzer, T. 407 Murphy-O'Connor, J. 70 Mußner, F. 91f. Myhrman, J. 370 Myrdal, G. 367-369; 373 Ν Naumann, V. 359 217 Nebe, A. Negev, A. 8 Nell-Breuning, O. von 359-361; 370; 372-374 Nestle, D. 433 Neuburger, A. 6; 7 Niebergall, F. 20; 380; 387; 390 Niebuhr, K.-W. 73-86 Niemand, Chr. 91 112f. Nikolaj (Bischof) Nipkow, Κ. E. 392 Nitzsch, Κ. I. 382 Nötscher, F. 7 Nygren, A. 334 Nyssen, W. 108 O Obst, H. Ohlin, B. Olcott, H. S. Olearius, J. Olearius, J. Chr. Olsson, S. Onasch, K. Oslander Otto, E.
235-263 367; 369 239 405; 409 405 372 108 434 6
Otzen, B.
439
10 Rau, G. 303 196; 200 Raupp, W. Ρ Rauscher, A. 374 Pannenberg, W. 278 42 Reich, Κ. Pasche, F. W. 230 Reimer, H.-D. 252; 258 Patsch, H. 58 Reinmuth, E. 81f. 357 Rendtorff, F. 379 Péguy, Ch. Pesch, Ο. H. 357; 361f.; 335 Rendtorff, T. 366f.; 370; 372; 374 Peschke, E. 53; 57; 157-193; 216; 399; 404; 406-408 Renz, H. 98 267 Petersen, J. E. 223 Ricken, F. Petersen, J. W. 223 Ridderbos, J. 4; 12; 15 Philon 74f.; 78f. Riedel, M. 272 275 Riehl, A. 269 Pistorius, H. A. 414 Riehm, Ε. Κ. A. 198 Pitters, H. 357f. Riess, H. 400 Pius XI. (Papst) 389 Plath, C. H. 200 Riess, R. Platon 326; 328; 333 Rijckenborgh, J. van 241 f. 356 Pleines, J.-E. 300 Rilke, R. M. 8 Poell, I. H. 374 Ringgren, H. Pölitz, Κ. H. L. 301 Rittelmeyer, F. 244 108 Preuß, H. D. 11; 16 Ritter, Α. M. 129 Rivail, H. L. D. Princeva, G. A. Pross-Werth, H. 114 Siehe auch Kardec Przybylski, H. 303 Roaf, M. 9 66 Pseudo-Dionysius 328-330; Robinson, J. Α. T. 334 360 Rohrbasser, A. 409 Pseudo-Phoky lides 74f.; 79 Röhrig, H.-J. 129 Rolffs, E. 20 Pucko, V. Roloff, J. 60 Romanos der Melode 126 Q de Quervin, A. 374 Rössler, D. 378; 400 Rotterdam, E. von 351 R Ruiz, M. 92 239; 241 f.; Rachais, J. G. 223 Ruppert, H.-J. 252; 254; 256 Rachals, J. H. 223 34 Rüsen, J. 99f.; 102 Rad, G. von Radier, A. 357-374 Radonez, S. von 119 S Rahnenführer, D. 31; 33 80 Ssebo, M. Rahner, K. 367;374 Sandmel, S. 75; 86 Rambach, J. J. 217f. Sapunov, Β. V. 129 Ranke, L. von 6 100 Sauer, G. Rathke, H. 314 Sawyer, J. F. A. 1; 6; 11; 15 Ratzmann, W. 309; 412 Scheiber, A. 12
440 51; 70 Schelkle, Κ. Η. Schenk, W. 51; 59; 62 Schian, M. 380;386 197; Schirrmacher, Th. 200; 203 Schlatter, Α. 65; 76 Schleiermacher, F. D. E. 58; 6If.; 305; 326; 390f. Schlosser, J. G. 235 Schlottmann, K. 198; 209 303 Schloz, R. 364 Schmaus, M. Schmid, Η. Η. 93 Schmid, J. 161 17-29 Schmidt, Η. lOf. Schmidt, W. H. Schmithaïs, W. 63; 69 16 Schmitt, H.-Chr. Schmölz, F.-M. 374 Schneckenburger, M. 17 87-103 Schnelle, U. Schönbora, Chr. 263 261 Schopenhauer, Α. 414 Schott, Chr.-E. 324 Schott, E. Schräder, W. 50; 56; 203; 212; 217; 219; 222; 227 Schroeder, H. W. 244 Schröer, H. 320 304 Schultze, H. Schulze, G. 377; 397 Schulze, Η. Κ. 424 Schumann, G. 218 Schüpphaus, J. 35f.; 38; 39 Schürer, E. 78 Schürmann, H. 84 Schüssler-Fiorenza, E. 94 Schuster, J. Β. 374 359 Schwarte, J. Schwarz, Chr. Α. 416f. Schwarz, F. 416f. Schwarz, K. 120 Schwarzenbach, A. W. 8f. Schweitzer, A. 96; 287 Schweitzer, F. 392f.
Register Seeberg, R. 18 Seitz, M. 303 421 Selge, K.-V. Selimoski, J. 109 Seybold, K. 32 Silber, J. R. 270 6 Simon, U. Slenczka, R. 97 Smend, R. 11 21 Smend, R. d. Ä. Södersten, B. 372 Söderström, Η. T. 370 Söding, Th. 88f.; 91; 93; 100 Soggin, J. A. 11 Solle, D. 355 Solshenizyn, A. 115 Spener, Ph. J. 158; 160; 165; 172; 180; 185; 189; 191; 405; 407 Spenn, M. 157Í; 161; 191 Spicq, S. 59 Spieker, M. 357; 374 Stählin, G. 75 Stammler, E. 320 Steck, O. H. 13; 16; 42 Steck, W. 390 Stegemann, W. 82 Steiger, O. 372 Steinberg, R. 116 Steiner, R. 241-245 Steinpach, R. 251 Stenberg, St.-A. 372 Stern,L. 28 Sternberg, Th. 100 Stevenson, I. 262 Stichel, R. 127 Stiglmayr, J. 329 248 Stössel, H. Sträter, U. 191; 211-232 32; 35 Strauss, Η. Strecker, G. 81 Strobel-Nepple, C. 373 Strohm, Th. 303 Strohmidel, K.-O. 230 Stürmer, Chr. 217
Suchla, B. R. Sülze, E. Swedenborg, E. 239; 246 S Sachovskaja, Ν. Β Scerbatovi S. St.
328 387 236;
115f. 116
Τ 161 Tarnow, P. Tatian 434 Taube, O. von 422 Tcherikover, V. 79 Thielicke, H. 99; 352f. Thiessen, W. 70 Tholuck, F. A. G. 196 Thomas, J. C. 91 220 Thomasius, Chr. Thurneysen, E. 389 Thyen, H. 427 Tönnies, F. 363 Trautmann, W. 262 Troeltsch, E. 94; 98; 100; 288 Tröger, K.-W. 248 Tröger, S. 248 Trümmer, P. 61; 63-67 Tschoerner, H. 412 Turre, R. 413 U Utz, A. F.
365; 374
V 242 Valentin, F. 34 Veijola, T. Vesme, C. B. Ritter von 236 Vielhauer, Ph. 96 Voigtländer, K. 421-425 395 Volp, R. Volz, P. 4; 13; 15 424-427 Vorbrodt, G. W. 108 Vulgaris, E.
Personenregister w Waldenstrom, P. 204f. 6; 17-29 Wallis, G. Wallmann, J. 191 Walter, Ν. 74; 77; 79f. 7f. Wanke, G. 195-209 Warneck, G. 196 Warneck, J. Waschke, E.-J. 5; 7; 31^16 94f.; 102f. Weder, H. Wegscheider, J. A. L. 57 69 Weiss, J. 249f. Weissenberg, J. Wellhausen, J. 21 45 Welten, P. 107 Wendebourg, D. Wendland, H.-D. 303;374 Weniger, P. 112 Werbick, J. 396 6; 11; Westermann, C. 14-16;42 81 Wettstein, J. J.
306 Wiehern, J. H. 241 Wickland, C. 207 Wiefel, W. Wiesendanger, H. 263 26 Wiesenhütter, A. 246 Willigis Wilson, G. H. 42 268 Wimmer, R. 267 Wimmer, R.. Windisch, H. 76 Wingren, G. 366 399-418 Winkler, E. 82 Winter, B. Wirsén, C. D. von 204 248; 257f. Wittek, G. Wohlenberg, G. 51f.; 57-59 99 Wolf, E. 413 Wolf, G. P. 81 Wolff, Chr. Wolter, M. 61 245 Wulfhorst, I. Würthwein, E. 45
441 Y Yamauchi, Ε. M.
llf.; 16
Ζ Zahn, F. M. 199; 201 Zahn, Th 60 Zeddies, H. 377 Zeim, M. 217 Zeldin, M.-B. 287 Zenger, E. 42 Zezschwitz, G. von 382 Ziegenhagen, F. M. 219 Zinnecker, J. 394 Zinzendorf, N. L. von 213; 216 Zöckler, O. 197 Zöller, G. 269 Zulehncr, P. M. 262 Zurhellen-Pflciderer. E. 20
Sachregister
A Abendmahl 183-185; 187 für Kinder 170 fur Kranke 184 Verweigerung 175; 183f. Zulassung 183 Aberglaube 237f.; 385 Absolution 181; 185 Achämenide 4; 10-12 Adam 121f.; 124; 127 affect Ägypten
161 7
Aufklärung
313-315; 317; 319; 321; 409-413 324-326; 334f.; 95 Denken 337; 350f.
235; 259; 402
Auslegungsgeschichte 50; 52 Autonomie
christliches 328 Β griechisches 328 Babylon 11; 12; 14 6; 10; 13-16 Barmen 305f , 318; 320; 322 Deuterojesaja Theologie 13; 15 Beichte 180-183, 188; 190 Bekehrung 196f.; 216; Deutschland 19f.; 23; 404-407 25f.; 28; 115f.; 120; 304 Bekehrungserlebnis 216; Einheit 304 223 Ost 304; 315
Akathistos U l f ; 118, 129 Alexanderroman 79 Alkohol 18-24; 26 Amerika 220; 230 Analytik 268-270; 273-276; 281; 284-286; 289f.; 297; 299f. Anamnese Siehe Erinnerung Ananda Marga 261
Berlin
18,21,28;
Anfechtung 176 Anstalten zu Glaucha 214; 219; 222; 228f., 399 Anthropologie 240; 243 Anthroposophie 239; 241-245 Antike 74 hellenistisch-römische 74 klassische 74
49; 63; 69f. Buddhismus 239; 262 Buße 401; 405; 407 byzantinisch 108; HOf.
212f.; 219; 225; 230 Bestrafung 173f.; 176 Betteln 165 Bewußtsein 291; 296; 301 Bibel 238; 244; 253f,; 257; 260 Bibelkritik 76 Breslau 18f.; 23 Briefsammlung, paulinische
West 315 Diakonie 367; 374; 413 Dialektik 268-270; 281-290; 299f. dialektisch-theologisch 389-391 Diarium 183 Diaspora 82; 84, 86; 307f.; 314; 409-^16 Diasporajudentum 74f. Dienstboten 168 Differenzierungsprozeß 379 Divine Light Mission 261 Doorn 19
Drei-Stände-Lehre 324 Dt. Ev. Institut f. Altertumswissenschaft d. Hl. Canon Muratori 51 ; 6 9 Landes 21 Christengemeinschaft 244f. ChristlicherOsten 107 Antisemitismus 24 Chrislologie 89f.; 101; 111 E 10 Apokatastasis 236; 260 Corpus Hellenisticum 74-82; Ebed 86 Ekklesia 111; Apokryphen 77 306; 322; 415^117 Arbeit 161f.; 168; 180 Corpus Pastorale Elia 426^134 Siehe Pastoralbriefe Arbeitslosigkeit 368; 370 Emanuel-Kreis 245 ars moriendi 415 Empirie 269; 383 Athos 108 D 247; 253; 255; 258 Auferstehung 238; 254; David 33; 34; 37; 41-45 Engel 307 DDR 304; 307-311; Entkirchlichung 260; 263
Sachregister Ephesus 111 Eibsünde 240; 260 Erinnerung 87; 91f. Erkenntnisvorsprung 87; 95 Erlebnisgesellschaft 377; 393 Erlösung 248; 250f.; 253f.; 256 Erwählung 33; 40; 85 Erweckungsbewegung 196 Eschatologie 3 If.; 34; 258; 260 Ethik 272; 275; 278; 285-287; 296-300; 323-356; 357-374 Euthanasieprogramm 24 Eva 121f.; 124Í; 127 Evangelisch-Johannische Kirche 249f. Evangelium 74; 88-92; 96; 102; 324; 333; 336f.; 341; 366 Evolution 236; 239 Exegese 54; 57 Extemporieren 171 F Fegefeuer 260 Fiat Lux 258 Fleisch 401 Fleiß 162; 171 flosculi oratorii 172 Freiheit 400f.; 417 Freikirchen 413 Freiwilligenkirche 307f. Frömmigkeit 18; 23; 79; 115; 126 Frühjudentum 73-86 Fußwaschung 91 G Gebet 167; 171; 173; 176; 188 Gefangenschaftsbrief 49 Geist 401-403; 418
Heiliger 87-103 Geistige Loge Zürich 255-258 Geistwirklichkeit 91 Gekreuzigter 111; 123; 126 Geld 165; 169; 187 Gemeindeaufbau 309; 312; 416 Georgenkirche 228 Georgia 230 Gerechtigkeit 89; 101; 237; 238; 246; 252-254; 323-356 Gericht 406 Gerichtsprophetie 13 Gerichtswort 3; 5; 13f. Gernrode 421f.; 424^126; 429; 431 Gerücht 170; 182 Geschichte 3; 7; 10f.; 13; 15; 76; 83 Geschlechterwechsel 237; 239; 243; 247; 253; 257 Gesellschaft 307; 311-315; 319; 321; 360 Gesetz 81; 83 Gesetz und Evangelium 401; 406 Gesetzlichkeit 353 Gewaltlosigkeit 346 Gewaltmonopol 344; 348 Glauben 400f.; 403-407; 41 lf.; 414—418 Gnade 249; 251; 254; 258 Gnosis 64; 71; 82 Gottesbund - Loge Tanatra 247f. Gottesdienst 410; 415 Gottesgebärerin 111 ; 117f.; 125; 131; 139; 143; 147; 151; 155 Gottesmutter 107-155 Ikonographie 115 Troparion 119 Gotteswort 88; 90; 93
443 Gralsbewegung 250-252 Griechenland 108 Gustav-Adolf-Werk 414 Guttemplerorden 19 H Halle 17f.; 21-23; 25; 28; 50; 52-54; 58; 73; 76f.; 80f.; 107f.; 112; 195f.; 198f.; 201-206; 209; 378f.; 382; 399; 403; 410 S. auch Theol. Fakultät S. auch Universität Hallesche Missionskonferenz 198f. Hare Krishna 241; 261 Hauptbrief 49; 69 Heidenmission 199; 209 Heil 242 Heiliges Grab 422f. 429; 431-434 Heiligung 400f.; 407 Heilsgeschichte 76 Heilswerk 91 Heimholungswerk Christi 257f. Hellenismus 74; 81f.; 86 Hermeneutik 88; 94f.; lOOf.; 103 Hinduismus 239; 262 Historismus 99f.; 102 Hörfähigkeit 355 Horpeniten 252; 254 I Ideologie, marxistische 412 Ikone 110-153 Ikonenmalerei 110; 127; 129 Indien 220; 230 Individualisierung 378; 397 Injurienprozesse 184 Institutio 360 Intoleranz 94 Investitur 166 Irrlehren 173
444
Register
4f. Israel 10; 84 Kyros-Orakel iustitia, activa / passiva L 336; 346 Laien 409; 415 Lamm 423^125; 43 lf. J 5; 8f. Jerusalem 14; 22; 422f. Lehm Lehre des Johannes d. Täufer Amenemope 8 423-431; 434 Cheti 7 Johannes-Greber-Memorial405 Foundation 254 Leichenpredigt 91 Joseph und Aseneth 79; 86 Leidensgeschichte 56; 108 Jubiläenbuch 75 Leipzig Jugendweihe 409 Liber Antiquitatum Biblicarum 79; 81 Lichtkreis Christi 248 Κ Karma 239f.; Lichtzentrum Bethanien 248; 257 242-244; 251; 256;258 Keramik 7 Literatur antike 76 Kerygma 76 frühjüdische 75; 81; 84 biblisches 328 hellenistische 79 Kirche 305-322; 362; intertestamentarische 77f. 364; 370; 374; 399-401; jüdische 84 403;407-418 rabbinische 75 Kirchenkampf 366 230 Kirchenkunde 379; London Loiber-Gesellschaft 246 383f.; 387-389; 397 Kirchenmitgliedschaft 303; M 307; 310; 315f. 347 Kirchenschlaf 174 Machtausübung 18 kirchenslavisch 115; Magdeburg 120f.; 123Í; 129 Maria 111; 117; 123; Kirchensteuer 313; 315; 319 127; 423; 433 Kirchenzucht 407f. Mariologie 111; 127 Kollektivismus 361 Marktkirche zu Halle 218; 221; 227f. Konfessionskunde 107f. Königsideologie 31; 33 Marxismus/Leninismus 309 Königspsalmen 33f,; 41-46 Mater et magistra 358; 372f. 239f. Königtum 31-34; Materialismus Medien (geographisch) 12 37; 39f.; 42-45 167 Könnern 216f. meditatio 250 Konsistorium 173f.; Menschensohn Menschenwort 88f.; 94; 183; 187 99 Krankheit 176; 184 31-46 Kreuz 111; 118; 125f. Messias 3; 6; 9; 12 Kritizismus 269 Metaphorik
Militärseelsorge 317f. Minderheit 399-401; 403; 407; 409; 412-414; 417 Minderheitskirche 303-322 Minorität 167; 190 Mission 89; 195-209; 201-203; 309,412-414 Mißbrauch Beichtwesen 181 Taufe 187 Moral 267; 277; 284-287; 293; 295; 297;299-301 Mortifikation 402; 406 Mose 424^t32; 434 Moses redivivus 428 Moskau 1121'.; 115-117; 120; 124; 128 München 25; 28 Mysterienreligion 82 Mystisch 402; 408 Ν Nationalsozialismus 27-29 Nationalsozialisten 25 Naturrecht 358; 363f.; 366; 371; 373f. Naumburg i. Schlesien 18 Neuapostolische Kirche 26 lf. Neues Testament, Theologisches Wörterbuch 73; 75 New Age 241; 262 Nikotingenuß 24 Nobelpreis 203f. nova lex 333 NSDAP 23; 26 O Obrigkeit 162; 166; 174; 181-183; 190; 343-346; 348; 350 Offenbarung 364-366 Öffentlichkeit 31 lf. oratio 167 Ordination 166
445
Sachregister orthodox 107-111; 121; 357-360; 126; 399; 402; 405; 408 373f. Österreich 25 Ostkirchen 107 Qumran Ρ Pädagogik 392 Paedagogium Regium 215-217; 229 Palästina 21f. Judentum 82 Paraklet 92f. Paralipomena Jeremiae 79 Partei 23-25; 28 Pastoralbriefe 49-71 Paten 179f. Patron 163f.; 176 Paulus(briefe) 49-71 Pennsylvanien 230 Persis 12 Petersburg 113; 120; 122 Pfarrer(in) 378; 382f.; 385; 387f.; 391; 393f. Pflichtbegriff 279 Philosophie 267-272; 285; 287-289; 296 Philosophische Fakultät Halle 52 Jena 197 Pietismus 20; 51f.; 107; 403; 408 pietistisch 386; 402; 408f. Pluralismus 315 Pluralität 313-315,321 Pneumatologie 89; 92; 101 Prädestination 240 Predigerseminar 382 Predigt 385; 389-391 Preußentum 222f.;231 Priestertum 409 Pseudepigraphen 77 Pseudonymität 60f.; 65
Quadragesimo anno
364f.;
371;
75
R Rajneeshismus 261 Ras Schamra 21 Rasse 243 Rechtfertigung 254; 407; 409 Reformation 52; 55; 107; 177; 186; 198; 208; 349-351; 407; 421 reformatorisch 107; 302; 324; 334f.; 342; 366 Reformorthodoxie 403; 408 Reinkarnation 235-263 Religion 267f.; 282; 286-288; 294f.; 300-302 Religionsgeschichte 77 religionsgeschichtlich 74; 82 Religionspädagogik 389; 391; 396 religionspädagogisch 378; 391-393; 395 Religionsphilosophie 267-302 Religionsunterricht 317; 319Í; 377f.; 391 religiöse Psychologie 383f.; 386; 392 religiöse Volkskunde 377; 383-389; 391; 396f. Rerum novarum 358f.;373 Risikogescllschaft 377 Rote Armee 115 Rußland 107; 112; 116; 120; 126; 129 S Saalkreis 214Í; 217; 221; 227 Sakrament 170; 185 Säkularisierung 410f.; 414; 416 Salzburger Emigranten 220;
230 Schmeichelei 165 Schöpfer 11; 83 Schöpfung 3; 13; 402 Scientology 262 Selbstverwirklichung 402 Septuaginta 75; 79; 83 Siebenjähriger Krieg 223; 228 Sittlichkeit 272; 289; 292f.; 295Í; 299 Solidarität 359; 363; 370-372; 374 Sondcrgemeinschaftcn 235-263 Soteriologic 252; 323; 331; 333; 355 Sowjetische Militäradministration 28 Sowjetunion 114f. Sozialdemokratie 385 Spiritismus 236; 239; 245f. spiritistisch 238f.; 241; 246; 249 Staat 326; 344; 348; 352 Staatskirche 305; 316; 318 Staatskirchenverträge 316f. Studenten 164; 169-172; 186; 190; 405 Studien im Amt 189 Subsidiarität 357-374 Sünde 401 f.; 405 Τ Tanzen 405 Taufe 177-180; 185; 187 tentatio 167 Testamente der Zwölf Patriarchen 75 Teufel 401 Theodizee 237; 240; 253; 257; 259 Theologie biblische 84
446
Register
173f.; 177; 180; 190 254;257 74f.; 80f. W Wahrheitsfrage 87; 94f. Waisenhaus 215; Verantwortung 359; 219Í; 226; 228f. 362; 366; 370; 372 Weimarer Republik 24 Verdammnis, ewige 240; Weissagung, messianische 260 32; 45 Verfasser 50; Welt 401; 404; 406; 415 53; 58; 61-66; 69-71 Weltgeschichte 13 Veritas 161 Weltkrieg, Erster 18f.; Verklärung Jesu 421-434 25; 28 Vernichtungslager 24 Weltverleugnung 403 Vernunft 94-96; 99; Wille 270f; 101; 238; 246; 253; 267 273-275; 277-280; 284272-275; 278; 281; 284: 286; 289f.; 293f. 298; 328; 347; 350f. Willensentscheidung, freie aufgeklärte 268 327; 330; 332 praktische 267-302 Wirklichkeit 90Γ; reine 269f.; 95; 101-103 277-279; 282; 297f. Wirkungsgeschichte 87; 93f. Vernunftgebrauch 273f. Wittenberg 18; 21; 107 Versaille 24 Versöhnung 354 Ζ U Verstand 293 Zion 10; 14-16 Ugarit 21 Volkskirche 303-322; Zionisten 29 Universität Halle 26; 399; 409^113; 415-417 Zwangsarbeitslager 115 28; 50; 55-57; 108; 207; Vorsicht 171; Zwei-Reiche-Lehre 324; 341 christliche 325 reformatorische 324Í Theologiestudium 378; 381 Theologische Fakultät Gießen 20; 382 Greifswald 20 Halle 23; 52; 55f; 218; 221; 225; 377-379; 394 Jena 213; 217Í; 227; 230 Tübingen 18-20; 22, 107 Theosophie 239; 241; 243; 245; 261 Theosophische Gesellschaft 239; 241 Tod 406; 415 Toleranz 94 Totalitarismus 109 Tradition messianische 31-46 prophetische 45 Trostamt 175 Tugend 323; 326f.; 332f.; 338; 354f.
21Ii;216 Urbibel Urchristentum
Stellenregister Altes und Neues Testament sowie außerkanonische Schriften
Altes Testament Genesis 2-3 2,7 3,16 f. 3,19 15,6 Exodus 3,14 24,28 31,18 32,15 f. 40,34 Deuteronomium 18,15.18 1. Samuel 2,10.35 16,6 20,15 20,42 24,7.11 26,9.11.16.23 2. Samuel 1,14.16 3,8 3,9 6,21 7 7,8 7,12 19,22 22,51
124 8 121 f. 8 325
1. Könige 2,4 2,33.45 3,6 3,9 8,16 8,24 ff. 9,5 11,13.32 11,34 14,7 16,2
13; 127 424 424 424 2. Könige 427 1,8 20,5
428 2. Chronik 6,16 6,41 f. 32 36,22 f. 32 40 Esra 40 1,2 33 9,2 33 Nehemia 2,16 33 40 1. Makkabäer 40 2,57 40 39 f.; 44 Hi ob 34 4,19 40 33,6 32 32; 40 Psalmen 2
40 40 34 355 40 34 40 34 40 34 34
430 34
40 32; 45 4; 9
4; 9 11
11
40
2,2 32 41 2,9 36 3 6 36 36 10 13-16 36 17,4 40 18,33.40 41 18,51 32; 40 19,2 124 20,2 124 20,7 32 f. 23,1 32 28,8 32 31,2 325 72,20 42 78,70 40 43 78,70-72 84,10 32 33; 40 89 89,4.5.20.30.36.37.50 40 89,20-38 44 89,39 f. 33 32 89,39.52 103,5 326 110 33 130,7 f. 42 131,3 42 33; 40 132 132,10.17 32 40 132,11
Sirach 8 33,10.13 9 38,29 f. 38,31-34 45,25 33 48,10-12
8 6 8 40 428
Register
448 Jesaja 5,5 10,6 11 11,4 11,9 13,17 25,8 28,15 29,16 41,1—4 41,2 f. 41,2.25 41,4 41,21-29 41,25aß 42,5-7 42,10-13 42,18-25 43,1.7.21 43,5 f. 43,10.13 43,12 43,14 f. 44,2.21 44,6 44,12 44,23 44,24-28 44,28a 45,1 45,laa 45,laß 45,1-7 45,2 f. 45,3b.4b 45,4bß.5b 45,5.14.21 45,6 45,7 45,8 45,9 45,9-13 45,11 45,18
7 7 39 41 41 12 123 5 8 10 5f.; 12 11 13 3-16 9 10 14 13 10 12 13 13 10 10 3 10 14 10 9 6; 32 9 5 10 12 5 4 3 11 f. 10 f. 14 8· 10 10 f. 10 3; 10
46,5 46,9 46,10 f. 47 48,12 48,14 48,14b 48,14ba 48,14b. 15 48,20 f. 49,5.8 49,13 51,3 52,9 f. 54,1-3 55,3 55,4 64,7 Jeremía 1,5 18,1-6 18,1-12 18,4 20,9 51,11 51,23.57 51,28 Klagelieder 4,2 4,20 5,20 Ezechiel 23,6.12.23 34,24 37,25 44,3 45,16 Daniel 5 Amos 3,8
13 3 5; 10-12 13 13 13 6 9 10 14 10 14 14 14 14 45 34 8
Nahum 3,14
5; 9
Habakuk 3,13
32
Sachaija 7,9 f. 9,9
116; 127 91
Maleachi 3,23
428
Neues Testament Matthäus 3,4 3,17 5 5,40 7,13 f. 11,11 12,24 13,24-30 17,1-8 17,13
10 8 7 7 89 12 11 11 Markus 1,6 1,11 8 6,27 32 8,29 45 9,2-8 9,4 9,9 11 9,24 34 16,1 34 16,6 34 34 Lukas 1,39-56 2,35 11 3,22 7,28 89 9,28-36
424; 429 428 354 341 400 426 431 416 427 430
424; 429 428 430 429 427 434 430;433 417 433 434
216 126 428 426 427
449
Stellenregister 10,38-42 Johannes 1,29.36 2,19 2,21 f. 7,39 12,16 13 13,1-17 13,7 14,6 14,16 14,23-31 14,26 15,26 16,13 16,14 16,18 16,20-22 20,3 f. 20,9 20, llfif. 20,12 20,21 f. Römer 1,5.11 1,8-11 1,16 1,17 4,16 8,14 8,28 ff. 9,19-21 10,14-17 10,17 11,35 13 15,7 15,13 16,25-27 1. Korinther 1,2
94
1,18 1,30 2,1-3 2,4 2,5 2,6 ff. 2,10 3,11 6,7.12 7 8,3 9,16 9,22 10,33 12,3 13,12b 14,1 14,34 f. 15,1-11 15,9 f. 15,45 15,59
423 91 91 92 91 91 91 91 87 92 228 92 92 92 92 92 122 433 91 434 433 2. Korinther 92 3,5 3,14ff. 3,17 69 4,5 66 4,6.13 101; 337 4,7 335 f. 4,13 90 5,17 89 11,6 90 13,3 f. 8 89 Galater 90; 355 1,1 330 1,12 341; 345 1,13-16 355 3,2 90 6,1 68 f. 6,15
69
Philipper 1,7
89 101 90 93 90 68 101 90 341 354 90 89 89 89 90 99 89 68 f. 97 67 89 309
90 101 89 90 90 90 90 90 90 90
1,23 1,29 1,30 2,5 ff. 2,17 3,12 3,14 4,13 1. Thessalonicher 1,3 ff. 1,5 1,6 f. 1,8 2,1 ff. 2,13 5,19
66 90 66 340 66 66; 90 66 66
88 88 90 69 90 88 89
1. Timotheus 1,1 1,3 1,9 f. 1,11-16 1,15 1,17 2,1 2,3-6 2,8 2,8 ff. 2,11 f. 3,10 3,16 6,3 6,20
2. Timotheus 67 1,3-5 101 1,3 IT. 67 1,9 f. 90 2,8 89 2,11-14 90 2,18 3,4-7 3,8.12 66 3,15
67 64; 67 68 67 64 68 53 64 69 57 68 53 64 64 64; 71
66 69 64 64 64 64 64 64 53
450 4,1.8 4,6-8 4,16-17 Titus 1 1,2 f.
Register 64 1. Petrus 66 2 66
Außerkanonische Schriften 345
Psalmen Salomos 17
31-46
Offenbarung 345 1,4 68 4,8 7,17 21,4
127 Sibyllinen 127 3,288 123 122 f.
40
ULRICH B A R T H
Die Christologie Emanuel Hirschs Eine systematische und problemgeschichtliche Darstellung ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen Groß-Oktav. X V I , 669 Seiten. 1992. Ganzleinen. ISBN 3-11-012894-2 CHRISTIAN
GRETHLEIN
Gemeindepädagogik Oktav. VII, 367 Seiten. 1994. Broschiert. ISBN 3-11-013766-6 (de Gruyter Studienbuch)
In
Vorbereitung:
CHRISTIAN
GRETHLEIN
Religionspädagogik Oktav. Etwa 5 2 0 Seiten. 1998. Gebunden. ISBN 3-11-014549-9 (de Gruyter Lehrbuch) UDO S C H N E L L E
Paulus Oktav. Etwa 520 Seiten. 1997. Gebunden. ISBN 3-11-012856-X (de Gruyter Lehrbuch) UDO S T R Ä T E R
Kirchengeschichte IV: Pietismus und Aufklärung Oktav. Etwa 4 8 0 Seiten. 1998. Gebunden. ISBN 3-11-014619-3 (de Gruyter Lehrbuch) E R N S T - J O A C H I M WASCHKE
Theologie des Alten Testaments Oktav. Etwa 5 0 0 Seiten. 1996. Gebunden. ISBN 3-11-013759-3 (de Gruyter Lehrbuch)
Walter de Gruyter
W DE G
Berlin · New York
AUGUST HERMANN FRANCKE
Schriften und Predigten Groß-Oktav. Ganzleinen
Band 1: Streitschriften Herausgegeben von Erhard Peschke XXIV, 408 Seiten. Mit 7 Abbildungen. 1981. ISBN 3-11-006566-5 (Texte zur Geschichte des Pietismus, I I / l )
Band 9: Predigten I Herausgegeben von Erhard Peschke XVIII, 651 Seiten. 1987. ISBN 3-11-007142-8 (Texte zur Geschichte des Pietismus, II/9)
Band 10: Predigten II Herausgegeben von Erhard Peschke X X V I , 639 Seiten. Mit 10 Abbildungen. 1989. ISBN 3-11-007143-6 (Texte zur Geschichte des Pietismus, 11/10)
In
Vorbereitung:
Band 4: Schriften zur Biblischen Hermeneutik I In Zusammenarbeit mit den Franckeschen Stiftungen zu Halle herausgegeben von Erhard Peschke Etwa 7 2 0 Seiten. 1995. ISBN 3-11-007137-1 (Texte zur Geschichte des Pietismus, II/4)
Band 5: Schriften zur Biblischen Hermeneutik II In Zusammenarbeit mit den Franckeschen Stiftungen zu Halle herausgegeben von Erhard Peschke Etwa 800 Seiten. 1997. ISBN 3-11-007138-X (Texte zur Geschichte des Pietismus, II/5)
Walter de Gruyter
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G
Berlin · New York