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German Pages [537] Year 2020
Christopher Spehr / Siegrid Westphal / Kathrin Paasch (Hg.)
Reformatio et memoria Protestantische Erinnerungsräume und Erinnerungsstrategien in der Frühen Neuzeit
Academic Studies
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Refo500 Academic Studies Herausgegeben von Herman J. Selderhuis In Zusammenarbeit mit Christopher B. Brown (Boston), Günter Frank (Bretten), Bruce Gordon (New Haven), Barbara Mahlmann-Bauer (Bern), Tarald Rasmussen (Oslo), Violet Soen (Leuven), Zsombor Tóth (Budapest), Günther Wassilowsky (Frankfurt), Siegrid Westphal (Osnabrück).
Band 75
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Christopher Spehr/Siegrid Westphal/ Kathrin Paasch (Hg.)
Reformatio et memoria Protestantische Erinnerungsräume und Erinnerungsstrategien in der Frühen Neuzeit
Vandenhoeck & Ruprecht
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-016530389 ISBN 978–3–666–51702–0
Inhalt
Christopher Spehr, Siegrid Westphal, Kathrin Paasch Vorwort ..........................................................................................
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Sascha Salatowsky Einführung ..................................................................................... 11 I.
Akteure reformatorischer Erinnerungskultur
Siegrid Westphal Fürsten und Fürstinnen als Träger von Erinnerungskultur am Beispiel der Ernestiner...................................................................... 33 Joachim Bauer Reformationsgedächtnis, Universitätsgründung und Krisenmanagement... 53 Wolf-Friedrich Schäufele Caspar Sagittarius (1643–1694) als Historiograph der Reformation......... 69 Kathrin Paasch »Damit er nicht mit fremden Augen sehen müste.« Ernst Salomon Cyprians Bibliotheken ................................................. 85 Daniel Gehrt Ernst Salomon Cyprian und die Erinnerungspolitik Herzog Friedrichs II. von Sachsen-Gotha-Altenburg im Rahmen des Reformationsjubiläums 1717 ............................................................. 117
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Inhalt
II.
Gedächtnis-Speicher, -Orte und -Medien der Reformation
Dagmar Blaha »Es sind tote Papiere …«. Das Ernestinische Gesamtarchiv .................... 157 Andreas Lindner Historia Reformationis in Nummis: Christian Junckers Guldene[s] und Silberne[s] Ehren-Gedächtniß Des Theuren Gottes-Lehrers D. Martini Lutheri, 1706. Memoria in Zeiten konfessioneller Verunsicherung .............................. 171 Stefan Laube Prosit Reformation! Perlende Worte als Treibstoff der Erinnerung .......... 203 Matthias Müller Bildliche Memoria als räumliche Disposition. Bildorte und Bildräume konfessioneller Erinnerung im frühneuzeitlichen Fürstenstaat ........................................................... 243 Stefan Rhein »Luthers Nazareth«. Der Erinnerungsort Mansfeld ............................... 287 Christopher Spehr Die Lutherausgaben des 16. bis 18. Jahrhunderts. Initiierung, Programmatik und Memoria ............................................ 315 Christiane Wiesenfeldt »Musica efficax«. Dimensionen des Singens in der lutherischen Musikanschauung der Frühen Neuzeit ................................................ 365
Inhalt
III.
Reformatorische Erinnerungskulturen
Thomas Fuchs Erinnerungsstrategien der reformatorischen Bewegung. Die Apokalypsekommentare von Johann Funck und Michael Stifel ......... 379 Stefan Dornheim Erinnerungsagentur. Eigengeschichtsschreibung und konfessionelle Gedenkkultur im lutherischen Pfarrhaus (1550–1850)...... 397 Thomas Klöckner Reformiertes Selbstbewusstsein um 1617 am Beispiel Heinrich Alting (1583–1644) .......................................................................... 423 Wolfgang Flügel Reformationsgedenken im Konflikt – die Säkularfeier 1717 ................... 451 Sascha Salatowsky Kampf um die Reformation. Aspekte lutherischer Erinnerungskultur...... 483 Abkürzungsverzeichnis ..................................................................... 519 Register .......................................................................................... 521 Autor*innenverzeichnis .................................................................... 533
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Christopher Spehr, Siegrid Westphal, Kathrin Paasch
Vorwort Reformation und Memoria gehören zusammen. Schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstanden Formen der Erinnerung, die einerseits einer Verlebendigung des Glaubens und der Verbreitung der evangelischen Lehre, andererseits der Konfessionalisierung und obrigkeitlichen Profilierung dienten. Mit dem Tod der Reformatoren entwickelten sich zudem spezifische Erinnerungskulturen, durch die das Bild der Reformation und ihrer Hauptakteure geprägt, vermittelt und immer wieder neu anverwandelt wurde. Insbesondere in lutherischen Territorien und Städten – allen voran in den ernestinischen Fürstentümern – bildeten sich seit dem späteren 16. Jahrhundert Erinnerungsräume, welche für die Konfessionskulturen in der Frühe Neuzeit charakteristisch wurden, bisher aber kaum in interdisziplinärer Perspektive erforscht sind. In Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017 wurden diese Beobachtungen aufgegriffen und im ›Netzwerk Reformationsforschung in Thüringen‹ vertieft. Diese auf wissenschaftlicher Ebene eingerichtete Arbeitsgemeinschaft führte Forscherinnen und Forscher der verschiedenen Thüringer Universitäten, Museen und Stiftungen zusammen, förderte den interdisziplinären Austausch und sorgte für neue Impulse in der Reformations- und Frühneuzeitforschung. Unter dem Motto »Thüringen als Erinnerungsraum der Reformation« wurden seit 2014 in mehreren eintägigen Workshops Aspekte und Einzelthemen bearbeitet und diskutiert sowie hinsichtlich der reformatorischen Erinnerungskultur reflektiert. Als Höhepunkt dieser Bemühungen veranstaltete das Netzwerk im Juni 2017 eine Doppeltagung unter dem Titel »Reformatio et memoria«. Der erste Teil, der als Nachwuchstagung gestaltet war und vom 12. bis 14. Juni 2017 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena stattfand, rückte »Die lutherische Reformation in ihren Kernlanden« in den Mittelpunkt. Hierbei wurden insbesondere die Orte und Territorien berücksichtigt, in denen Luthers Lehre zwischen 1520 und 1540 wirkte und Früchte trug. Anders als bei dieser Veranstaltung, bei der aufgrund des Laborcharakters auf eine explizite Dokumentation der Vorträge verzichtet wurde, widmete sich der zweite Teil der Doppeltagung der »Memoria«, genauer den »Neueren Forschungen zum Protestantismus in der Frühen Neuzeit«. Diese Konferenz fand vom 21. bis 23. Juni 2017 in Gotha an der Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt statt und reflektierte
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die protestantischen Erinnerungsräume und Erinnerungsstrategien. Durch die facettenreichen Vorträge von Historikerinnen und Historikern, Kultur-, Musik- und Kunstwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen sowie Kirchenhistorikern konnte der identitätsstiftende Zusammenhang von Reformation und Erinnerungskultur veranschaulicht werden. Ein Großteil der Vorträge dieser Konferenz wird nun im vorliegenden Band präsentiert. Nach einer in die gegenwärtige Forschung einleitenden Einführung von Sascha Salatowsky werden in einer ersten Sektion die »Akteure reformatorischer Erinnerungskultur« exemplarisch untersucht. Die zweite Sektion rückt die »Gedächtnis-Speicher, -Orte und -Medien der Reformation« in den Mittelpunkt. Die dritte Sektion befasst sich mit den »Reformatorischen Erinnerungskulturen«, indem sie die lutherische Perspektive um die reformierte und interkonfessionelle erweitert. Dass der Schwerpunkt auf den mitteldeutschen, vornehmlich ernestinischen Raum gelegt wurde, entspricht den Forschungsschwerpunkten des Thüringer Netzwerkes. Schließlich gilt es zu danken: Allen Autorinnen und Autoren, die durch ihre gehaltvollen und forschungsrelevanten Aufsätze zum Gelingen des Bandes beigetragen haben. Herrn Dr. Sascha Salatowsky für die Vorbereitung und Durchführung der Gothaer Tagung und die konstruktive Mitarbeit am Tagungsband. Den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Annika Schmitt (Osnabrück), Marina Stalljohann-Schemme (Osnabrück), Tobias Stäbler (Jena) und besonders Maja Menzel (Jena), welche die redaktionellen Arbeiten übernahmen. Dem Kollegen Prof. Dr. Herman J. Selderhuis (Apeldoorn) und den Mitherausgebern für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Refo500. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und Herstellung. Sowie den finanziellen Unterstützern der Tagungen: der Thüringer Staatskanzlei, der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, der jenacon-foundation sowie dem Freundeskreis der Forschungsbibliothek Gotha e.V. Sie alle haben dazu beigetragen, dass dieser Band über die Rekonstruktionen der Reformationsmemoria jetzt erscheinen kann.
Sascha Salatowsky
Einführung Der Titel »Reformatio et memoria« des vorliegenden Sammelbandes rückt die enge Beziehung eines historischen Ereignisses und seines Festhaltens im »kollektiven Gedächtnis«1 in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Bereits früh erfolgte die Verdichtung »der« Reformation2 – die ja an sich umfassendere »Vorgänge«3 beschreibt, die erst rückblickend als eine eigene Periode
1 Zum Begriff vgl. etwa Assmann, Der lange Schatten, 29. 2 Der Begriff der Reformation ist differenziert zu betrachten. Vgl. hierzu die Überblicksartikel von Wolgast, Reform; Mahlmann, Reformation; Seebaß, Reformation. Danach haben die Begriffe »reforma«, »reformare« und »reformatio« eine lange »vorreformatorische« Geschichte. Sie werden hierbei früh exakt im Sinne einer Forderung nach einer »Besserung« der bestehenden kirchlichen und sittlichen Verhältnisse verwendet, so 1215 mit der elementaren Forderung, dass man eine »Reformation der gesamten Kirche anstreben« (Wolgast, Reform, 314, Anm. 16) müsse. Auch die Reformkonzilien in Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449) belegen eine Verwendung dieses Begriffs. Selbst die katholisch-humanistischen Reformtheologen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts benutzten den Reform-/Reformationsbegriff im Blick auf die Missstände in der eigenen Kirche. Besonders häufig fand er auf dem Konzil von Trient (1545–1563) Verwendung. Vgl. z. B. die einzelnen decreta de reformatione zu der 5., 6., 7., 13., 14. sowie 21. bis 25. Sitzung in: Petz, Des heiligen ökumenischen Concils von Trient Canonen und Dekrete, 23, 55, 68, 108, 143, 187, 219, 242, 290 und 363. Hieran anknüpfend diskutierte der Jesuit Francisco Suárez (1548–1617) in seinem voluminösen Werk De religione – in vier Bänden von 1608 bis 1625 veröffentlicht – die Frage, ob jemand zum Gehorsam gegenüber einer früheren Ordensregel gezwungen werden könne, nachdem diese reformiert worden sei (vgl. Suárez, De religione, t. III, p. II, l. X, cap. VIII, 641–643). Suárez verstand unter einer Reformation allerdings keine »additio supra regulam, sed restitutio moraliter necessaria ad perfectam regulae observationem« (ebd., 643a). Eine Reformation war immer nur innerhalb der gegebenen Regeln der Kirche möglich, nicht außerhalb ihrer. In dieser Äußerung darf man wohl eine Spitze gegen die Protestanten vermuten. Zwischenzeitlich spricht man häufig auch von Reformationen im Plural, nicht nur, um innerhalb des Protestantismus die Eigenheiten der (Wittenberger, Genfer etc.) Reformationen zu betonen, sondern auch, um der zeitgenössischen Überzeugung, dass die katholische Kirche sich im 16. Jahrhundert reformiert habe (vgl. Suárez), Ausdruck zu verleihen. So heißt es jüngst bei Eire, Reformations, XI: »This book accepts the concept of multiple Reformations wholeheartedly, and also seeks to deepen that concept, paying equal attention to all of the different movements and churches that emerged in the sixteenth and seventeenth centuries, stressing their interrelatedness.« Aber es bleibt kein Zweifel, dass die protestantische Reformation sich als einzig »legitime« und »wahrhaftige« Reformation verstand. 3 Köpf, Reformation, 145.
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Sascha Salatowsky
oder gar Epoche der Kirchengeschichte verstanden werden sollten4 – in einem historischen Moment, d. h. in Martin Luthers Thesenanschlag, mag er nun am 31. Oktober oder 1. November 1517 in Wittenberg stattgefunden haben. Exakt zehn Jahre später, am 1. November 1527, erinnerte Luther in einem Brief an Nikolaus von Amsdorff an die zehnjährige Wiederkehr dieses Ereignisses: »Wittenberg, am Tag Allerheiligen, im zehnten Jahr der niedergetretenen Ablässe, auf deren Andenken wir in dieser Stunde beiderseits beruhigt anstoßen, 1527.«5 Damit war das Datum einer reformatorischen Erinnerungskultur gesetzt, an das die nachfolgenden Generationen im Rahmen der Reformationsjubiläen anknüpfen konnten. Die »klassischen Erben«6 der Reformationen auf deutscher und schweizerischer Seite erinnerten die Bevölkerung immer wieder an die »Errungenschaften« des neuen Glaubens, die es gegen Anfechtungen aller Art nach innen und außen zu verteidigen galt. Die öffentlich verkündete, gespielte oder gezeigte Memoria7 war gleichsam der Gedächtnisbogen, der die Gegenwart 4 Vgl. Ortmann, Die Reformation als Ereignis, Epoche oder Periode? Mörke, Reformation, 5 spricht vom »Ereigniskomplex Reformation«, der von Kontinuitäten und Diskontinuitäten geprägt sei und einen komplexen Handlungszusammenhang zwischen Theologie, Politik und Gesellschaft markiere. Schilling, Reformation, 11 fragt, ob die Reformation als »Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes« zu verstehen sei. Dingel, Reformation, 10 definiert die Reformation jüngst als einen »historische(n) Prozess, der auf eine umfassende kirchlichtheologische Erneuerung zielte und zugleich tiefgreifende Wirkungen in Kultur, Gesellschaft und Politik hervorbrachte«. All diese begrifflichen Umkreisungen machen deutlich, dass die Reformationen als komplexe Vorgänge zu verstehen sind, die sich einfachen Zuschreibungen entziehen, auch wenn ungefähr deutlich wird, worauf man sich bezieht. 5 Vgl. WAB 4, 275 (Brief an Nikolaus von Amsdorff): »Wittembergae die Omnium Sanctorum, anno decimo Indulgentiarum conculcatarum, quarum memoria hac hora bibimus utrinque consolati, 1527.« 6 Gemäß einer Bezeichnung von Baur, Luther. 7 Die memoria war ein bedeutender wissenschaftlicher Gegenstand der De anima-Traktate, seien sie aristotelischer, platonischer oder lullistischer Tradition, sowie der Medizin, die sich bevorzugt mit dem geschädigten Gedächtnis als Sitz der memoria beschäftigte. Sie gehört zu jenem geistigen Vermögen (virtus & potentia rationalis) des Menschen, das ihn mit seiner Erkenntnisleistung insgesamt von den Tieren unterscheidet. Bereits Aristoteles hat festgestellt, dass die Erinnerung wesentlich in der Zeit verläuft, deren Wahrnehmung den Tieren nicht eignet (vgl. Aristoteles, Über Gedächtnis und Erinnerung 450a, in: Ders., Kleine naturwissenschaftliche Schriften, 89). Die Erinnerung ist die Repräsentation eines Widerfahrnisses (τό πάθος), eines »Bildes«, das in der Seele verbleibt. Am Ende einer langen Sach- und Begriffsgeschichte definierte der Jenaer Mediziner Tobias Vogel (1643–1701) die Erinnerung in seiner Schrift Mnemosynologia von 1676 wie folgt: »Est autem memoria facultas animae sensitivae, quae species sensibiles a phantasia cognitas recipit, reservat, & ubi opus est, reddit.« (Vogel, Mnemosynologia, c. I, 17f.) Diese doppelte Funktion des Bewahrens und Wieder-Hervorholens beschreibt zum einen den »Ort« des Erinnerns, der seit Augustinus (vgl. Augustinus, Confessiones/Bekenntnisse, X 8,13) oft metaphorisch als »Halle« (Aula) bezeichnet wird, wo die
Einführung
mit den Anfängen der lutherischen bzw. reformierten Gemeinden verband. Stärker als ein zentrales Gedenkdatum wirkten zunächst die lokalen Jubiläen, die viel unmittelbarer den Übergang einer Gemeinde zum neuen Glauben in der Erinnerung behielten. Erinnerung gestaltete auf diese Weise die eigene Geschichte. Damit ist ein wichtiger Aspekt benannt, der eingangs vertiefend – auch im Blick auf unsere eigene, sich wandelnde Stellung zur Geschichte – betrachtet werden soll. Die Erinnerung hat (kultur-)philosophisch betrachtet einen sehr viel tieferen Sinn, als bei den heutigen offiziellen Festivitäten auch nur annähernd vermittelt werden kann. Denn dass sich der Mensch nur in und durch die Geschichte verstehe, hat nicht zuletzt der Philosoph und Kulturprotestant Wilhelm Dilthey (1833–1911)8 in Erinnerung gerufen, und daran anknüpfend hat der Philosoph Joachim Ritter (1903–1974) den Geistes- und Kulturwissenschaften die gewaltige Aufgabe auferlegt, der »Geschichtslosigkeit« der modernen Gesellschaft das Erinnern als nicht bloß äußere Handlung, sondern als inneres Prinzip entgegenzusetzen: Während sonst die Mnemosyne in der realen Kontinuität des geschichtlichen Lebens das je die Gegenwart selbst repräsentierende Vergangene und nur dies erinnert, übernehmen es die Geisteswissenschaften, das zu vergegenwärtigen, was ohne sie und da, wo der reale Prozess der Entgeschichtlichung sich selbst ohne die Möglichkeit der Korrektur überlassen bliebe, notwendigerweise für die Gesellschaft mehr und mehr bedeutungslos werden und schließlich überhaupt aus dem Zusammenhang ihrer Welt verschwinden müsste.9
zuvor wahrgenommenen und erkannten sinnlichen Formen eines Gegenstands gleichsam abgelegt sind. Gedächtnis- und Erinnerungsräume sind also nichts anderes als vom Geist gestaltete »innere« Orte. Dass äußere Orte zu solchen Gedächtnis- oder Erinnerungsräumen – wie z. B. Luthers Wohnhaus – werden, geschieht nur durch eine Übertragungsleistung, da die Erinnerung selbst immer »innen« bleibt. Hierbei entstehen gleichsam gemeinsame Akte des Erinnerns, die sich an einem äußeren Ort orientieren. Der Akt selbst bleibt stets individuell, kann aber gemeinsam erlebt werden. Die doppelte Funktion der Erinnerung beschreibt zum andern den Akt des Erinnerns selbst, die ἀνάμνησις bzw. reminiscentia, die Wieder-Hervorholung eines Bildes, die aus der Vorstellung (phantasma) eines oder vieler, im Gedächtnis bewahrter Dinge zur Vergegenwärtigung eines anderen Dings, das nicht sichtbar ist, führt. Wichtig ist hierbei der zeitliche Aspekt des Erinnerns: Es handelt sich um eine vergangene Form, die als gegenwärtig erinnert wird (vgl. Vogel, Mnemosynologia, c. I, 18). Die interessante Frage hierbei ist, wie das Vergangene erinnert wird. 8 Vgl. Dilthey, Aufbau der geschichtlichen Welt, 277f: »Die geschichtliche Welt ist immer da, und das Individuum betrachtet sie nicht von außen, sondern es ist in sie verwebt. […] Wir sind zuerst geschichtliche Wesen, ehe wir Betrachter der Geschichte sind, und nur weil wir jene sind, werden wir zu diesen.« Ebd., 279: »Der Mensch erkennt sich nur in der Geschichte, nie durch Introspektion.« 9 Ritter, Geisteswissenschaften, 399. Hervorhebung im Original.
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Erinnern ist kein beiläufiges Geschäft, das man auch sein lassen könnte, sondern ein Erfordernis gegen das der modernen Gesellschaft eigentümliche Vergessen. Gegen diese Tendenz des Vergessens ist in den letzten Jahrzehnten in der Bundesrepublik Deutschland der Versuch unternommen worden, das Erinnern als einen bewussten kulturellen Akt tief in die politisch-gesellschaftlichen Grundüberzeugungen zu verankern. Darüber hinaus hat die kulturwissenschaftliche Forschung die Grundlagen der Erinnerungskultur reich herausgearbeitet. Insbesondere die Studien von Aleida Assmann haben diesem Thema wichtige Impulse gegeben. Dies gilt vor allem für ihre Monographie »Erinnerungsräume. Formen und Wandel des kulturellen Gedächtnisses« von 1999.10 Aleida Assmann beschreibt dort nicht nur die Funktionen des Gedächtnisses und den Zusammenhang von Geschichte und Gedächtnis, sondern erläutert auch die Medien der Erinnerung (Schrift, Bild, Körper und Orte) und thematisiert die Gedächtnisspeicher, d. h. die Archive, Bibliotheken und Museen, die das historische Gedächtnis einer Gesellschaft bewahren. Unter Rückgriff auf den Reichtum des individuellen Gedächtnisses, das persönlich involviert ist und über eigene Erfahrungen verfügt, die allerdings vergänglich sind, transformiert das kulturelle Gedächtnis jenes historische Wissen mithilfe von materiellen Trägern wie Denkmälern, Gedenkstätten, Museen und Archiven in einen dauerhaft verfügbaren Erinnerungsraum. Die »gezielte Erinnerungs- bzw. Vergessenspolitik«11 dient dabei einem wichtigen Ziel: Den »Zusammenhang von Erinnerung und Identität«12 lebendig zu halten. Nur wer sich erinnert (oder auch bewusst vergisst), kann eine Identität ausbilden, die die Vergangenheit über die eigene Gegenwart hinweg mit der Zukunft verknüpft. Kurzum: Kollektive Erinnerung vergegenwärtigt, wo man herkommt, wofür man einsteht und welche Ziele man verfolgt. Das kollektive Sich-Erinnern als identitätsbildende bzw. -fördernde Maßnahme ist nun sichtbar ein Kennzeichen des konfessionellen Zeitalters, das sich im Nachgang der Reformation bildete und die Geschicke Europas bis ins frühe 18. Jahrhundert bestimmen sollte. Der »Zusammenhang von Erinnerung und Identität« entzündete sich hierbei immer wieder am Reformationsjubiläum, dessen Gründungsdatum eben das Jahr 1517 markiert. Es symbolisierte gleichsam die Trennung der Konfessionen, die den gelebten Glauben durch die Erinnerung an seine Herkunft fundieren wollten.
10 Vgl. Assmann, Erinnerungsräume. 11 Assmann, Erinnerungsräume, 15. Zu den politisch umstrittenen Aspekten der Erinnerung vgl. Assmann, Der lange Schatten; Dies., Das neue Unbehagen. 12 Assmann, Erinnerungsräume, 18.
Einführung
Der Konflikt, der hier sichtbar wird, lässt sich passend auf die Formel »Kampf um das Gedächtnis«13 bringen, wie dies Emil Brix und Hannes Stekl im Blick auf die öffentlichen Gedenktage einmal genannt haben. In der Tat ging es bei den Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum um die Vorherrschaft über das kollektive Gedächtnis innerhalb Europas. Damit sind nicht nur die innerprotestantischen Konflikte zwischen den Lutheranern und Reformierten gemeint, sondern auch, wie erwähnt, die Auseinandersetzungen mit dem Katholizismus, der eine ganz andere Art des Gedenkens pflegte. Denn das historische Jubiläum ist eine besondere Facette der kirchlichen Jubiläen, wie sie das Judentum und später das Christentum seit je gefeiert haben.14 So entwickelte sich das historische Jubiläum aus dem jüdischen »Jobeljahr«, mit dem die Israeliten alle 50 Jahre die Freigabe von Sklaven und verkauftem Grundbesitz feierten. Im christlichen Mittelalter adaptierte die katholische Kirche diesen Brauch, indem sie die Freigabe gleichsam spiritualisierte im Sinne einer Befreiung des Menschen aus der Knechtschaft der Sünde, diese Befreiung allerdings zunehmend mit dem irdischen, d. h. monetären Aspekt des Ablasshandels verknüpfte. Im Jahr 1300 kam dann die Einführung des Heiligen Jahres unter Papst Bonifatius VIII. (um 1235/1294–1303) hinzu. Alle 25 Jahre gab es für die römisch-orthodoxen Christen nunmehr die Möglichkeit, bei einer Pilgerfahrt nach Rom einen vollkommenen Ablass zu erhalten, der einen Erlass aller Sündenstrafen umfasste.15 Ein zwiespältiges Geschäft, das den Anstoß für Luthers Reformation gab. Dass Rom unter Papst Paul V. (1552/1605–1621) im Juni 1617 überraschend »pro Ecclesiae necessitatibus« ein mit einem Ablass verbundenes außerordentliches Jubeljahr ausrief,16 verdeutlicht nur, wie sehr die katholische Erinnerung zwischenzeitlich auch von konfessionellen Erwägungen bestimmt wurde: Das Jubiläum zur Wittenberger Reformation konnte und durfte nicht ohne eine Demonstration der aus katholischer Sicht allein wahren und das Heil versprechenden Kirche durchgeführt werden. In den letzten Jahren sind bereits eine Reihe von Einzelaspekten zur Erinnerungskultur der Wittenberger (weniger der Genfer) Reformation untersucht worden.17 Hierbei standen naturgemäß die Reformatoren Luther und Melan13 Brix/Stekl, Kampf um das Gedächtnis. 14 Für einen geeigneten Einblick in den Zusammenhang von Jubiläum, Geschichte und Erinnerung vgl. etwa die Einleitung von Müller im Sammelband Müller, Das historische Jubiläum. 15 Vgl. hierzu Loosen, Die ›Universalen Jubiläen‹, 121f. Eine wichtige Voraussetzung war, dass der Ablass mit einer Beichte und Kommunion verbunden blieb. Vgl. hierzu Spehr, Der Ablass. 16 Vgl. Müller, Jubiläen und Heiligenlegenden, 122. 17 Vgl. etwa Rau, Geschichte; Sandl, Interpretationswelten; Boettcher, Memoria; Fuchs, Reformation; Flügel, Konfession, sowie den Sammelband Dingel, Memoria, mit Aufsätzen zu den Luther- und Melanchthonbildern u. a. von Hendrix zu Georg Spalatin, von Kohnle zu Johannes Mathesius, von Ilić zu Matthias Flacius Illyricus und von Osten-Sacken zu Nikolaus Selnecker.
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chthon im Mittelpunkt des Interesses, deren Stilisierung zu Heroen bereits zu Lebzeiten begann und auch das 17. und 18. Jahrhundert hindurch anhielt. Seltener wurde bisher beleuchtet, wie sich diese Erinnerungskultur »materialisierte«. Hier setzt der vorliegende Sammelband an, der die Ergebnisse der Gothaer Tagung »Reformatio & Memoria. Neuere Forschungen zum Protestantismus – Erinnerungsräume der Reformation« zusammenführt. Die hier abgedruckten Beiträge befassen sich vor allem mit dem lutherisch geprägten mitteldeutschen Raum vom späten 16. bis ins frühe 18. Jahrhundert. Diesen Horizont erweitern zusätzliche Beiträge, die andere Gegenden im Alten Reich in den Blick nehmen. Der mitteldeutsche Fokus lässt sich damit begründen, dass hier die Ursprünge der Wittenberger Reformation liegen und dass sich hier die authentischen Luther- und Reformationsorte, die Gedächtnis-, Wissensund Erinnerungsorte mit ihren Schlössern, Burgen, Kunstkammern, Kirchen, Wohnhäusern, Museen, Archiven und Bibliotheken, befinden. Anknüpfend an die vielfältigen Forschungen zu den Reformationsjubiläen soll vor allem danach gefragt werden, wie es zur Ausprägung eines kollektiven Gedächtnisses in diesen Gebieten kam. Wer waren die Akteure, und worauf zielten sie ab? Wie initiierte man so etwas wie ein kollektives Erinnern, und welche Änderungen bzw. Entwicklungen lassen sich feststellen? Wie und mit welchen Medien wurde erinnert? Wurde hier bloß ein Status quo festgehalten, oder gab es eine »dynamische« Erinnerungskultur, die den Blick auf die Reformationen selbst veränderte? Wie wurde die Reformation im Rahmen der lutherischen (Kirchen-)Geschichtsschreibung wahrgenommen? Diese Fragen werden in drei Sektionen verhandelt. Die erste Sektion widmet sich unter der Überschrift »Akteure reformatorischer Erinnerungskultur« den Initiatoren, Machern und Gestaltern des Gedenkens.18 Siegrid Westphal verdeutlicht in ihrem Beitrag »Fürsten und Fürstinnen als Träger von Erinnerungskultur am Beispiel der Ernestiner« die enorme Bedeutung dieser Dynastie für die Entwicklung einer spezifisch lutherischen Es ist offensichtlich, dass die Erinnerungskultur zur Genfer und Zürcher Reformation deutlich anders akzentuiert ist, da Calvin und Beza nie diesen Status von »Heiligen« zugesprochen bekamen. Vgl. hierzu knapp Dingel, Lehrer. Zur Calvin-Rezeption vgl. den umfangreichen Sammelband Hofheinz/Lienemann/Sallmann, Calvins Erbe. 18 Hierzu lassen sich gemäß dem Abschnitt »Akteure und Netzwerke« im Handbuch »Reformation« von Schnabel-Schüle u. a. Theologen (auch Pfarrer und Superintendenten), Universitäten, Schulen, Höfe, Juristen, Buchdrucker, Künstler und Ateliers sowie die Landstände zählen (vgl. ebd., 58–124). Zu den »Akteure(n) und Vermittler(n)« in der Reformationszeit vgl. die Aufsätze von Wischmeyer, Verantwortungsträger, und Lotz-Heumann, Lutherische Pfarrer, im Sammelband von Dingel/Lotz-Heumann, Entfaltung und zeitgenössische Wirkung der Reformation, 173–213. Hier werden u. a. das Zusammenspiel von Theologie, Jurisprudenz und Politik sowie die Bedeutung der Pfarrer für die Vermittlungsarbeit aufgezeigt.
Einführung
Gedächtniskultur unter herrschaftspolitischen Gesichtspunkten.19 Die Ernestiner, die mit ihren zahlreichen Duodez-Herzogtümern die mitteldeutsche Landschaft prägten, bewahrten und verteidigten nach der Niederlage des protestantischen Heeres unter der Führung von Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen in der Schlacht bei Mühlberg von 1547 gegen die Truppen Karls V. in ihren Territorien nunmehr als die wahren Sachwalter des Luthertums das ursprüngliche reformatorische Andenken und hielten es privat und öffentlich in vielfacher Form wach. Ihr Beitrag für die Formung der mitteldeutschen lutherischen Konfessionskultur kann daher nicht hoch genug veranschlagt werden. Siegrid Westphal weist diese Bedeutung anhand der ernestinischen Grablegen mit ihren spezifischen Inschriften und anhand einiger Leichenpredigten nach, in denen die konfessionspolitische Identität widergespiegelt wird. Mit dem Verlust Wittenbergs sorgten die Ernestiner auch für die Aufwertung der Hohen Schule in Jena zu einer Universität, deren Nutritoren sie über lange Zeit blieben. Joachim Bauer beleuchtet in seinem Beitrag »Reformationsgedächtnis, Universitätsgründung und Krisenmanagement« vor allem anhand des Theologen Victorin Strigel (1524–1569) und des Poeten Johann Stigel (1515–1562) den Gründungsmythos der Salana, die am Tiefpunkt der politischen Macht einen wesentlichen Bestandteil der lutherischen Identitätsbildung bilden sollte.20 Die Einmischungen der Herzöge bei der Berufungspolitik vor allem im 16. Jahrhundert mussten sich jedoch dort negativ bemerkbar machen, wo sie in den Strudel der theologischen Zerwürfnisse innerhalb des Luthertums gerieten. Dass die Salana einen wichtigen Beitrag zur entstehenden Reformationsgeschichtsschreibung leistete, zeigt Wolf-Friedrich Schäufele in seinem Beitrag »Caspar Sagittarius (1643–1694) als Historiograph der Reformation«. Sagittarius, Inhaber des Lehrstuhls für die Universalgeschichte in Jena, verfasste ein umfangreiches Werk zur Kirchengeschichte von der Apostelgeschichte bis in seine eigene Gegenwart, ein Werk, das allerdings, so das Ergebnis der Studie, für die Reformationsgeschichte erstaunlicherweise wenig beiträgt. Wolf-Friedrich Schäufele weist nach, dass eher die Geschichte Johann Friedrichs des Großmütigen Sagittarius’ Ruf als Historiograph der Reformation festigte. Freilich zeigt sich auch hier, dass der im Jahre 1680 erschienene, 1692 nochmals wesentlich erweiterte Commentarius historicus et apologeticus de Lutheranismo des ehemaligen Kanzlers am Gothaer Hof Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692) 19 Den Ernestinern wurde 2016 eine große Landesausstellung in Thüringen gewidmet. Vgl. hierzu den umfangreichen Ausstellungskatalog Freitag/Kolb, Die Ernestiner. Begleitend erschien die Aufsatzsammlung Greiling u. a., Die Ernestiner. Eine Kulturgeschichte der Ernestiner bietet der Sammelband Westphal u. a., Die Welt der Ernestiner. 20 Vgl. hierzu auch Bauer, Universitätsgeschichte.
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eine ganz andere Qualität reformationsgeschichtlicher Forschung präsentierte. Überhaupt entwickelte sich in Gotha eine Reformationsgeschichtsschreibung, zu deren prominentesten Vertretern neben Seckendorff vor allem Wilhelm Ernst Tentzel (1659–1707) und Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) gehörten. Kathrin Paasch beschreibt in ihrem Beitrag »›Damit er nicht mit fremden Augen sehen müste.‹ Ernst Salomon Cyprians Bibliotheken« die Bedeutung umfangreicher Büchersammlungen für die entstehende Kirchen- und Reformationsgeschichtsschreibung. Als Direktor der Herzoglichen Bibliothek sorgte Cyprian für einen gezielten und systematischen Bestandsaufbau der Sammlungen, um seine vom Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1676–1732) geförderten Editions- und Forschungsprojekte insbesondere zur Reformationsgeschichte und ihren Nachwirkungen realisieren zu können. Auch seine eigene umfangreiche Privatbibliothek diente dem Zweck einer lutherischen Kirchengeschichtsschreibung, die vor allem Gottfried Arnolds Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie widerlegen sollte. Beide Bibliotheken, so kann Kathrin Paasch zeigen, dienten auf diese Weise als Quellenreservoir und Erinnerungszentrum zugleich, zum einen, um mit ihrer Hilfe das lutherische Erbe zu bewahren, zum andern, um Standortbestimmungen des Protestantismus in einer veränderten Welt vornehmen zu können. Wie sich die memorialkulturellen Aspekte der Politik des Gothaer Hofes mit den wissenschaftlichen Interessen eines Ernst Salomon Cyprian an einer umfassenden Reformationsgeschichtsschreibung trafen, stellt Daniel Gehrt in seinem Beitrag »Ernst Salomon Cyprian und die Erinnerungspolitik Herzog Friedrichs II. von Sachsen-Gotha-Altenburg im Rahmen des Reformationsjubiläums 1717« dar. Hatten die Ernestiner bereits im 16. und 17. Jahrhundert zahlreiche Editionsprojekte zu Luthers Schriften und zur Geschichte der Reformation initiiert und finanziert, so sorgte der Gothaer Herzog Friedrich II. mit seinem Auftrag einer umfassenden Dokumentation des Reformationsjubiläums 1717 in den protestantischen Ländern für ein Novum in der Erinnerungspolitik der Zeit. Dass Cyprian nicht nur die hieraus resultierenden Hilaria evangelica, sondern auch noch bedeutende Quellen zur Reformationsgeschichte aus den Beständen der Herzoglichen Hofbibliothek veröffentlichte, verdeutlicht einmal mehr, wie sehr die reformatorische Erinnerung mit einer wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte der Reformation zusammenging. Bereits hier zeigt sich: Die Überlieferung zur Reformation findet sich in den Gedächtnisspeichern, in den zahlreichen Archiven und Bibliotheken, die an die Wirkmächtigkeit des Wortes als der eigentlichen Leistung der Reformation erinnern. Diese sind im heutigen Thüringen besonders prominent vertreten. Sie in den Mittelpunkt zu stellen, war eine der Ausgangsideen für die Gothaer Tagung.
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Gleich mehrere Beiträge widmen sich verschiedenen Gedächtnisspeichern21 , -orten22 und -medien23 der Reformation. Dagmar Blaha – sie leitet die Sektion II »Gedächtnis-Speicher, -Orte und -Medien der Reformation« ein – zeigt in ihrem Beitrag »›Es sind tote Papiere…‹ Das Ernestinische Gesamtarchiv« wie auch das 1572 eingerichtete Weimarer Archiv Wissensspeicher und Forschungsinstrument in einem war. Es sollte nicht nur dem »passiven« Sammeln wichtiger Dokumente für eine geordnete Herrschaftsverwaltung dienen, sondern zugleich ein Instrument für die »aktive« Gestaltung von Erinnerung sein. Als der Weimarer Hofrat und Archivar Friedrich Hortleder (1579–1640) und der bereits erwähnte Seckendorff ihre historischen Forschungen zur Reformationsgeschichte vorbereiteten, geschah dies unter Rückgriff auf genau jene umfangreichen, schriftlich fixierten GedächtnisSpeicher, die diese an den Quellen orientierten Darstellungen überhaupt erst ermöglichten. Die selbstgewählte Funktion der Ernestiner als Sachwalter und Erinnerungsagenten des Luthertums erscheint im Rückblick als unerlässliche Bedingung für die Einrichtung derartiger Speicher, die die historische Bedeutung der Reformation als Ereignis auf Dauer festhielten. In seinem Beitrag »Historia reformationis in Nummis. Christian Junckers Guldene[s] und Silberne[s] Ehren-Gedächtniß Des Theuren Gottes-Lehrers D. Martini Lutheri, 1706. Memoria in Zeiten konfessioneller Verunsicherung« rückt Andreas Lindner eine weitere Form der Erinnerungskultur in den Blick, die wenig später auch in Cyprians Hilaria evangelica eine große Rolle spielen sollte: Münzen und Medaillen als Transport- und Gedächtnis-Medien der 21 Ergänzend sei verwiesen auf den Ausstellungskatalog Zerbe, Wissensspeicher der Reformation, in dem die Marienbibliothek sowie die Bibliothek des Waisenhauses in Halle vorgestellt werden. Die Bedeutung der Kirchen als Erinnerungsorte beschreibt ausführlich im Blick auf Wittenberg Zerbe, Reformation der Memoria. 22 Steiger hat in seiner zweibändigen Ausgabe »Gedächtnisorte der Reformation« die sakrale Kunst im Norden Europas vom 16. bis 18. Jahrhundert dokumentiert. Vgl. ferner Steiger, Bildmediale Gedächtnisorte. 23 Das Thema liegt seit einigen Jahren im besonderen Fokus der Forschung. Vgl. z. B. den Abschnitt »Medialität von Reformation« im Handbuch »Reformation« von SchnabelSchüle, wo Flugschriften, Reformationsliteratur, Musik und Kunst beschrieben werden (vgl. ebd., 311–345). Gleiches gilt für die Beiträge von Slenczka, Cranachs Kunst, Jürgens, Evangelium und Heidrich, Musik zur Sektion »Kommunikation und Medien« im Sammelband Dingel/Lotz-Heumann, Entfaltung und zeitgenössische Wirkung der Reformation, 66–134. Hier werden Cranachs Kunst, die evangelischen Gesangbücher und Johann Walters Kirchenmusik als Beiträge zur Bildung reformatorischer Identitäten dargestellt. Zu Cranach vgl. ferner den Ausstellungskatalog der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha und Museumslandschaft Hessen Kassel »Bild und Botschaft«, insbesondere den Beitrag von Trümper, Inszenierungsstrategien der Ernestiner. Zu den konfessionsspezifischen lutherischen Bekenntnisgemälden, die die Confessio Augustana in den Mittelpunkt der Memoria setzten, vgl. Brückner, Lutherische Bekenntnisgemälde.
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Gottesunmittelbarkeit fürstlicher Herrschaft. Der sächsische Historiograph und Numismatiker Christian Juncker (1668–1714) hat in seinem Werk nicht weniger als 200 Gedenk-Münzen und -Medaillen beschrieben, die allesamt Luthers Leben, bedeutende Geschichten der Wittenberger Reformation sowie ihre Jubiläen zum Gegenstand haben und damit einen wichtigen Teil der damaligen Erinnerungskultur bildeten. Gerade hier konnten die Herrschenden wichtige Inhalte und Errungenschaften der Reformation anhand durchdachter Bildprogramme künstlerisch zur Geltung bringen und dynastische Ansprüche formulieren. Einen wenig beleuchteten Aspekt der lutherischen Erinnerungskultur beschreibt Stefan Laube in seinem Beitrag »Prosit Reformation! Perlende Worte als Treibstoff der Erinnerung«. Durch die Publikation von Luthers Tischreden eröffnete sich ein anderer Blick auf den Reformator. Er ermöglichte nicht nur eine materielle Erinnerung in Form von Trinkbechern und -gläsern sowie Masken,24 sondern verdeutlichte auch den sakramentalen Zusammenhang von Trinken und Gedenken. Das Abendmahl als gemeinschaftsbildendes Erinnerungsritual markierte hierbei die schmale Grenze zwischen der erlaubten ebrietas als »leichter« Trink- und Rauschfreude im Namen des Herrn und der verwerflichen ebrositas als »schweres« Saufgelage, die das Maß der Nüchternheit verfehlt. Stefan Laube entdeckt in dieser Brückenfigur zwischen Rausch und Nüchternheit ein weiteres Kennzeichnen für die von Luther abgelehnte weltfremde Vergeistigung, die sich vor dem Ende aller Tage in die kalte Abstinenz flüchtet. In seinem Beitrag »Bildliche Memoria als räumliche Disposition. Bildorte und Bildräume konfessioneller Erinnerung im frühneuzeitlichen Fürstenstaat« belegt Matthias Müller detailliert anhand des Schlosses Torgau, wie sehr die Ernestiner neben den Kirchen auch ihre Schlösser als Luthermemoria im höfischen Raum gestaltet haben. Eingebettet in die »konfessionelle Landschaft«25 Sachsens als Makroraum ist das Schloss als »Mikro-Erinnerungsraum« anzusehen, in dem vom Außenbau wie der berühmten Treppenanlage bis hin zu den Innenräumen wie dem Neuen Saalbau mit den acht großen Ölgemälden von Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553) ein durchdachtes Bildprogramm realisiert worden ist. Es ist eine Memorialkultur des Sehens, die uns hier begegnet, eine Memorialkultur, zu der auch die fürstlichen Sammlungen mit ihren »Reliquien der lutherischen Märtyrer« gehören wie jener Harnisch und Stiefel des Kurfürsten Johann Friedrich I. von Sachsen (1503–1554), die er bei der verlorenen Schlacht am Mühlberg trug. Orte, Räume und Objekte vereinten sich hier zu
24 Vgl. hierzu Laube, Luthers Maske. 25 Vgl. zum Begriff Oberdorfer, Binnendifferenzierung und Einheit, 119.
Einführung
einem reformatorischen Erinnern, das aktiv gestaltet wurde, um Identität und Glauben zu befestigen. Hieran anknüpfend beschreibt Stefan Rhein in seinem Beitrag »Luthers Nazareth. Der Erinnerungsort Mansfeld« das Werden eines der originären Lutherorte über die Jahrhunderte hinweg. Bereits 1562 fand dort, wo Luther von 1484 bis 1497 seine Kindheit und Jugend verbrachte, wohl die erste reformatorische Erinnerungsfeier überhaupt statt. Anlässlich des Geburtstages des Reformators hielt der damalige Pfarrer und Generaldekan Cyriacus Spangenberg (1528–1604) am 11. November 1562 eine Gedenkfeier mit zwei Predigten ab, um die Erinnerung an den berühmten Stadtsohn wachzuhalten.26 An ihrem Beispiel wird zum einen deutlich, dass die Luther-Memoria analog zu den politischen Gedächtnisfeiern konstruiert wurde, und zum andern, dass ihr Ursprung auf die innerlutherischen Konflikte zurückgeht, die in den 1560er Jahren zwischen den sogenannten Gnesiolutheranern und Philippisten virulent waren. Doch auch hier ging die Zeit über vieles hinweg, was einst bedeutend erschien. Wie Stefan Rhein zeigt, gelang es Mansfeld erst im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, eine im Stadtbild sichtbare Luther-Memoria aufzubauen, obwohl die von Spangenberg gestiftete Erinnerungskultur stets präsent blieb. Ihren zentralen Bezugspunkt hatte die Memoria in Luthers Schriften selbst, die als Erbauungs-, Streit- oder Programmschriften in lateinischer oder deutscher Sprache das Berühmtwerden des Wittenberger Theologieprofessors überhaupt erst ermöglichten. Schon früh entstanden ersten Sammelausgaben von Luther-Schriften, die aber erst Ende der 1530er Jahre durch die Wittenberger Werkausgabe eine neue Editionsweise erfuhren und seitdem zum memorialen Denkmal in mehrfacher Hinsicht avancierten. In seinem Beitrag »Die Lutherausgaben des 16. bis 18. Jahrhunderts. Initiierung, Programmatik und Memoria« spürt Christopher Spehr den verschiedenen Lutherwerkausgaben nach, die von der ersten Sammelausgabe 1518 über das von Luther mitgetragene Projekt der Wittenberger Lutherausgabe und dessen Konkurrenzunternehmen der Jenaer Lutherausgabe im 16. Jahrhundert bis hin zur Hallischen Ausgabe im 18. Jahrhundert reichen. Dass die Ausgaben des 16. und 17. Jahrhunderts zugleich in den unmittelbaren Dienst der landesherrlichen Memoria gestellt wurden, wird ebenso aufgezeigt, wie die Wandlung hin zur verlegerisch-bürgerlichen Memoria in den Ausgaben des 18. Jahrhunderts. Mit den Lutherausgaben widmet sich Christopher Spehr somit einem grundlegenden Gedächtnismedium, das abschließend noch einmal die immense Bedeutung der Schriftkultur für die Erinnerungskultur vor Augen führt. Eine wichtige Rolle in der Luther-Memoria spielte auch die Musik. Denn was wäre die Reformation, was das Luthertum ohne sie gewesen? Bereits der 26 Vgl. Spangenberg, Die Erst und Ander Predigt.
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Reformator selbst schätzte sie als »Herrin und Lenkerin der menschlichen Affekte«27 , weshalb er sie musica efficax28 nannte, und als ideale Verkünderin des Wortes Gottes. Das verbum Dei sollte mit nichts enger verbunden sein als mit der Musik. Christiane Wiesenfeldt stellt in ihrem Beitrag »Musica efficax. Dimensionen des Singens in der lutherischen Musikanschauung der Frühen Neuzeit« genau diesen Zusammenhang von Wort, Musik, Raum und Affekt bei Luther und im Luthertum vor. Nicht nur ereignete sich in der »singenden Nahbeziehung zu Gott« eine Intensivierung des erlebten Glaubens, vielmehr dienten Gesang und Musik der Bildung der Gemeinde, verstärkten die Bindung an Gottes Wort und bewirkten mit der Übereinstimmung von Affekt und Intellekt eine »lutherische« Realitätsformung im Sinne einer Bildung des Glaubens in der diesseitigen Welt für die erhoffte ewige Zukunft. Christiane Wiesenfeldt kann so zeigen, wie die Erinnerungsräume der Reformation wesentlich durch die klingende Musik geprägt waren. Im Rahmen der Sektion III »Reformatorische Erinnerungskulturen« widmet sich Thomas Fuchs in seinem Beitrag »Erinnerungsstrategien der reformatorischen Bewegung. Die Apokalypsekommentare von Johann Funck und Michael Stifel« dem Problem der von der Reformation geprägten Geschichtsdeutung. Sie bekam in ihrer Naherwartung der Wiederkunft des Herrn einen apokalyptischen Charakter, der eine Historisierung der Ereignisse der Reformation zunächst ausschloss. Hier wird eine gegenläufige Denkfigur sichtbar: Während die Apokalyptik als Kontingenzbewältigung eines absoluten Krisenphänomens – verstanden als göttliche Zerstörung der Welt – eine Enthistorisierung beschreibt, d. h. die Aufhebung jeglicher Geschichte, markiert ihr Gegenmodell – die Säkularisierung als Kontingenzbewältigung menschlichen Lebens ohne Transzendenz – die totale Historisierung von Geschichte, da die Ereignisse egal welcher Couleur gleichberechtigt in den Strom der kalendarischen Zeit eingeordnet werden.29 Thomas Fuchs diskutiert in seinem Beitrag die Frage, inwieweit die konfessionell gebundene lutherische Erinnerungskultur des 16. Jahrhunderts sich mit einer Apokalyptik vertrug, die ein überkonfessionelles Deutungsschema von Geschichte beschrieb. Er kann hierbei zeigen, dass 27 WA 50, 368–374, hier: 371,1-4 (Vorrede von der Himlischen Kunst Musica, 1538): »[…] Musicam esse vnam, quae post verbum Dei merito celebrari debeat, domina et gubernatrix affectuum humanorum (de bestiis nunc tacendum est) quibus tamen ipsi homines, ceu a suis dominis, gubernantur et saepius rapiuntur.« 28 Vgl. WA 50, 371,5–9: »Sive enim velis tristes erigere, sive laetos terrere, desperantes animare, superbos frangere, amantes sedare, odientes mitigare, et quis omnes illos numeret dominos cordis humani, scilicet affectus et impetus seu spiritus, impulsores omnium vel virtutum vel vitiorum? Quid invenias efficatius quam ipsam Musicam?« Vgl. hierzu ausführlich Block, Verstehen durch Musik, insbes. 43–49. 29 Vgl. hierzu Fuchs, Reformation.
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Stifel (1487–1567) und Funck (1518–1566) zwar mit apokalyptischen Szenarien spielten – so sagte Stifel den Weltuntergang für das Jahr 1533 voraus –, den eigenen Geschichtsverlauf aber nicht mehr streng mit der Offenbarung parallelisierten. Der apokalyptische Heilsplan blieb in Kraft, wurde aber enthistorisiert. Damit wurde die Basis gelegt für ein neues innerweltliches Verständnis von Geschichte, das sich nach und nach auch im Luthertum durchsetzen sollte. Die Reformation wurde auf diese Weise der Endzeitgeschichte entzogen und ein Teil der Kirchengeschichte. Wie sehr die reformatorische Erinnerungskultur von den Pfarrern geprägt ist, kann kaum unterschätzt werden. Ihnen wurden in den letzten Jahren einige Studien gewidmet.30 Stefan Dornheim beschreibt in seinem Beitrag »Erinnerungsagentur – Eigengeschichtsschreibung und konfessionelle Gedenkkultur im lutherischen Pfarrhaus (1550–1850)« in einem ausgreifenden Panorama, wie stark das lutherische Pfarrhaus in den Gemeinden ganz buchstäblich als Ort des Erinnerns funktionierte und wie sehr die Geistlichen selbst als Entwickler, Gestalter und Förderer einer konfessionsspezifischen Fest- und Erinnerungskultur wirkten. Sie waren, wie Stefan Dornheim betont, Erinnerungsspezialisten. Sie hatten die Aufgabe, die lutherische Lehre rein und die Erinnerung an die Reformation wachzuhalten. Sie standen mit ihrem Leben und Glauben selbst für diese Reformation ein. Schule, Kirche und Kirchhof bildeten eine innige Einheit zur Prägung der Gemeinde als Teil der reformatorischen Geschichte. Ja, die Pastoren sorgten mit ihren Gemälden und Grablegen selbst für eine Ausgestaltung des Kirchenraums als Erinnerungsraum und wirkten als Chronisten der eigenen Gemeinde, der eigenen Stadt oder des eigenen Herzogtums. Die Kirchenbücher und Pfarrarchive sind daher bis heute wichtige Quellen für die Rekonstruktion der Reformation und ihrer Folgen. Wie die reformierte Konfession sich zu den Reformationsjubiläen verhielt, untersucht Thomas Klöckner in seinem Beitrag »Reformiertes Selbstbewusstsein um 1617 am Beispiel Heinrich Alting (1583–1644)«. Sofern die Reformierten eine auf die Zürcher und Genfer Reformation eines Huldrych Zwingli (1484–1531) und Johannes Calvin (1509–1564) ausgerichtete Theologie vertraten und darüber hinaus im Alten Reich weder von den Katholiken noch von den Lutheranern als Partner des Augsburger Religionsfriedens von 1555 anerkannt wurden, gestaltete sich ihre (konfessions-)politische Situation dort schwierig. Gleichwohl vertraten Theologen wie Heinrich Alting eine selbstbewusste Haltung, die sich in der Ansicht von einer Gleichstellung Wittenbergs und Zürichs bzw. Genfs äußerte. Schärfer noch konnte formuliert werden,
30 Vgl. nur Schorn-Schütte, Evangelische Geistlichkeit; Dies., Zwischen ›Amt‹ und ›Beruf‹; Seidel/Spehr, Das evangelische Pfarrhaus, Dornheim, Der Pfarrer als Arbeiter am Gedächtnis.
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dass Wittenberg zwar im Blick auf den Ursprung der Reformation ein Vorrang zukomme, Zürich aber im Blick auf die Reinheit und Klarheit der Lehre. Dass die Reformierten mit der Feier des Reformationsjubiläums von 1617 im Alten Reich daher eigene Ziele verfolgten, kann Thomas Klöckner an Altings in Heidelberg gehaltener Oratio secularis zeigen, die bereits mit ihrem Titel De miseria ecclesiae sub tyrannide papali ihre anti-katholische Stoßrichtung verdeutlichte und die Reformation selbst als »neues Zeitalter« feierte. Alting verzichtete in dieser Rede weitestgehend auf eine innerprotestantische Polemik, um das Gemeinsame in der Lehre und die Abgrenzung zum Katholizismus als dem wahren Feind zu betonen. Hier wird eine Irenik sichtbar, die freilich im Luthertum auf nur wenig Gegenliebe stieß. Wie stark sich die (konfessions-)politische Situation einhundert Jahre später verändert hatte, zeigt das oben erwähnte Beispiel von Cyprian. Wolfgang Flügel erweitert diese Perspektive in seinem Beitrag »Reformationsgedenken im Konflikt – die Säkularfeier 1717«, in dem er die verschiedenen Konfliktlinien, vor allem in Bezug auf Kursachsen, aufzeigt, die die Handlungsspielräume und Strategien der Akteure bestimmten. So betrieb der Kurfürst von Sachsen und König von Polen Friedrich August I. eine Doppelstrategie, indem er einerseits das Reformationsjubiläum in Sachsen erlaubte, andererseits jedoch gegen das Corpus Evangelicorum die Durchführung einer gemeinsamen Feier aller evangelischen Stände hintertrieb. Die Theologen wiederum, allen voran Valentin Ernst Löscher (1673–1749), traten dieser politischen Strategie entgegen und feierten das Jubiläum explizit unter Berufung auf die Schriften und Predigten der Gedenkfeier einhundert Jahre zuvor. Gerade die möglichst exakte Wiederholung des Reformationsjubiläums sollte die Beständigkeit der lutherischen Konfession im immer noch währenden Wirken Gottes belegen. Mancher Pfarrer ging dabei so weit, wie Wolfgang Flügel zeigen kann, auf das Widerstandsrecht zu verweisen, sofern die weltliche Obrigkeit versuchen sollte, Einfluss auf den Glauben und die Gewissensfreiheit zu nehmen. Die Erfüllung der Gehorsamspflicht gegenüber der Obrigkeit war hier an den Fortbestand des Luthertums in Kursachsen geknüpft. Diese enge Verschränkung von Politik und Religion konnte erst mit dem weiteren Vordringen der Aufklärung und der damit einhergehenden Privatisierung des Glaubens durchbrochen werden. Auf diese Weise änderte sich freilich auch die Funktion der Theologen und Pfarrer in der Gesellschaft, die noch wesentlich deren Geschick bestimmten. Auch der letzte Beitrag »Kampf um die Reformation. Aspekte lutherischer Erinnerungskultur« von Sascha Salatowsky beschäftigt sich mit den Konfliktlinien rund um die lutherische Memorialkultur. Er setzt bei den theologischdogmatischen Debatten zwischen Katholiken und Lutheranern ein, die im Blick auf die Bewertung der Reformation vom späten 16. bis ins frühe 18. Jahrhundert hinein untersucht werden. Hierbei zeigt sich, dass sich der dogmatische Kampf
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um die Reformation wesentlich um Luthers Leben und Werk drehte: Entweder wurde er verdammt oder heroisiert. Dieser polemische Kampf zog jedoch auf beiden Seiten die wissenschaftliche Aufgabe nach sich, die Geschichte der Reformation solide und objektiv aus den Quellen aufzuarbeiten. Louis Maimbourg (1610–1686) und Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692) sind hierfür zwei herausragende Beispiele, welche die Grundlage für eine Historisierung der Reformation legten. Damit löste sich die Reformation von der Heilsgeschichte, die beide zunächst strikt aufeinander bezogen waren. Ein dritter Aspekt der lutherischen Memorialkultur zeigt sich im Blick auf das Luthertum selbst, das im Laufe der Zeit einen Bedeutungswandel im Verständnis der Reformation vollzog. Sascha Salatowsky belegt dies exemplarisch an den beiden Gothaer Theologen Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) und Karl Gottlieb Bretschneider (1776–1848), die 1717 bzw. 1817 auf sehr gegensätzliche Weise an das Reformationsjubiläum erinnerten. Er kann damit deutlich machen, dass die Reformation als Teil einer im 18. und 19. Jahrhundert stattfindenden Historisierung der Kirchengeschichte selbst zu einem historischen Ereignis geworden war. Was blieb, das war die zu verteidigende Freiheit des Denkens als beanspruchtes Merkmal des Protestantismus. Reformatio et Memoria, das zeigen die nachfolgenden Beiträge, ist als ein zentraler Aspekt der Reformationsgeschichte selbst anzusehen. Literatur Quellen Aristoteles, Kleine naturwissenschaftliche Schriften (Parva naturalia). Übersetzt und herausgegeben von Eugen Dönt, Stuttgart 1997. Augustinus, Confessiones/Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart, Frankfurt a. M. 1987. Luther, Martin, Werke. Kritische Gesamtausgabe, 127 Bände, Weimar 1883–2009. Petz, Franz (Hg.), Des heiligen ökumenischen Concils von Trient Canonen und Dekrete in neuer deutscher Übersetzung, Passau 1888. Spangenberg, Cyriacus, Die Erst und Ander Predigt. Von der Geistlichen Haushaltung und Ritterschafft D. Martin Luthers. Zum Exempel allen rechtschaffenen Lerern, Erfurt 1566. Suárez, Francisco, Operis de religione pars secunda, quae est de statu religionis, ac tomus tertius in ordine, Lyon 1624. Vogel, Tobias, Mnemosynologia, sive de memoria libellus medicus theoreticopracticus, Jena 1676.
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Sascha Salatowsky
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I.
Akteure reformatorischer Erinnerungskultur
Siegrid Westphal
Fürsten und Fürstinnen als Träger von Erinnerungskultur am Beispiel der Ernestiner 1.
Hinführung
Die Memoria, das rituelle Totengedenken, spielte für alle Dynastien im Alten Reich eine zentrale Rolle. Zum einen ging es – wie für alle Menschen – darum, den Tod durch rituelle Handlungen zu kultivieren und damit zu verarbeiten. Ziel dieser Handlungen war »das Festhalten der Erinnerung an den Verstorbenen – sei es durch Bildnisse, Schriftzeugnisse, Grabzeichen oder liturgische« Zeremonien.1 Der Verstorbene sollte über die Zeit hinweg bis zum jüngsten Tag mit allen seinen Verdiensten und Tugenden präsent bleiben und der Hoffnung auf Auferstehung teilhaftig werden. Das Grab war der Ort, an dem die Lebenden den Toten begegneten und durch ihr Gebet den Verstorbenen in die religiöse Gemeinschaft miteinbezogen. Neben der individuellen und religiösen Erinnerung an die Verstorbenen entwickelten Dynastien jedoch eine spezifische Memoria, die aus ihrem Anspruch auf Dauerhaftigkeit resultierte. Wenn der regierende Herrscher verstarb, konnte sein Tod zu einem Machtvakuum führen mit der Folge von Unsicherheit und Gefahr für die Herrschaft der Dynastie und die politische Ordnung. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, instrumentalisierten Dynastien kulturelle Erinnerungsstrategien zu eigenen Zwecken. Signifikantes Beispiel sind hier die Familiengrablegen, die durch die in einem Raum versammelten Gräber der verstorbenen Dynastiemitglieder die Kontinuität der Herrschaft in verdichteter Form vor Augen führen, zudem einen stark repräsentativen Charakter besitzen und auch dazu dienen sollten, den Herrschaftsanspruch des Nachfolgers zu legitimieren. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts gestalteten Dynastien Kirchen zu Memorialbauten um,2 und vor allem lutherische Dynastien erhoben die Begräbnisfeiern immer stärker zu einem Medienereignis. Ausführliche Leichenpredigten mit einem Lebenslauf wurden zusammen mit Epicedien (Trauergedichten) und Trauerkompositionen, Abbildungen eines castrum doloris, Beschreibungen der Trauerprozession und der Beerdigungsfeierlichkeiten in sogenannten Funeral-
1 Seher, Grablegen, 11. 2 Vgl. Andermann, Kirche; Brinkmann, Grabdenkmäler; Fleck, Repräsentation; Schütte, Raum.
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Siegrid Westphal
werken publiziert.3 Dabei sind nach Ansicht von Inga Brinkmann »deutliche inhaltliche Parallelen zur Gestaltung von Grabdenkmälern und Grablegen« festzustellen.4 Nun verweisen kunsthistorische Befunde darauf, dass es im lutherischen Bereich zwischen den Dynastien kaum Unterschiede in der Gestaltung von Grablegen gegeben habe.5 Dynastische und personale Repräsentation haben Brinkmann zufolge im Vordergrund gestanden. Es wird sogar eine signifikante Kontinuität zur vorreformatorischen Ausgestaltung trotz unterschiedlicher Funktionen des Grabmals in theologischer Hinsicht und einer divergierenden lutherischen Sterbekultur konstatiert.6 Das ikonographische Programm habe zumeist keine eindeutig lutherischen Merkmale besessen, alle Motive seien überkonfessionell und auch im katholischen Raum zu finden. Konfessionelle Deutungen seien visuell nicht wahrnehmbar. Ein Verweis auf die Bekenntniszugehörigkeit sei laut Inga Brinkmann allenfalls durch Inschriften, nicht durch bildliche Darstellungen zu finden.7 Diese Befunde stehen in einem gewissen Widerspruch zu den Forschungen im Umfeld der thüringischen Landesausstellung im Jahr 2016, die gezeigt haben, dass die Ernestiner eine spezifische, geschickt inszenierte und gesteuerte Erinnerungskultur ausbildeten, in der ganz bewusst der besonderen Rolle der Dynastie als Beschützerin des wahren Luthertums gedacht und die eigene Geschichte mit der Geschichte der Reformation verknüpft wurde.8 Warum soll diese Erinnerungskultur ausgerechnet bei der Memoria, die dezidiert das Erinnern an die verstorbenen Dynastiemitglieder in den Fokus rückte, nicht zum Tragen gekommen sein? Diese Frage bildet den Ausgangspunkt des Beitrags, der sich den Ernestinern als Trägern einer spezifischen Erinnerungskultur widmet, die aus der besonderen Rolle der Dynastie für die Reformation resultierte. Dabei wird in folgenden Schritten vorgegangen: Zunächst steht die Bedeutung des dynastischen Denkens im Fokus, dann wird kurz das Selbstbild der Ernestiner skizziert und schließlich am Beispiel von Leichenpredigten geprüft, ob die für die Grablegen festgestellten Befunde tatsächlich auch für diese Art der Memoria zutreffen.
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Vgl. Bepler, Ansichten; Dies., Monumentum; Dies., Funeralwesen. Brinkmann, Grabdenkmäler, 100. Vgl. ebd., 337. Vgl. ebd., 376 Vgl. ebd., 337. Vgl. Westphal, Verlust; Dies., Einführung; Bomski/Seemann/Valk, Mens; Freitag/Kolb, Ernestiner; Greiling/Müller/Schirmer/Walther, Ernestiner.
Fürsten und Fürstinnen als Träger von Erinnerungskultur am Beispiel der Ernestiner
2.
Dynastisches Denken und Memoria
Dynastien basieren auf der Idee, auf Dauer ausgerichtet zu sein. Entstehung und Verfestigung von Dynastien werden als Ergebnis gezielter Praktiken und Strategien der Dynastiemitglieder gesehen.9 Dazu zählt vor allem der Rückgriff auf die eigene Geschichte, in dem sich der jeweils regierende Fürst in eine lange Reihe von Ahnen einschreibt. Die Anciennität des Hauses sollte den Anspruch auf Unverwechselbarkeit und Exklusivität sichern, der vor allem gegenüber anderen regierenden Häusern formuliert wurde. Denken und Handeln einer Dynastie waren somit fortwährend auf ihren Ursprung bezogen. Dieser musste eine Kraft bereitstellen, die der Dynastie »ihre Unverwechselbarkeit und Unterscheidbarkeit von anderen« Dynastien garantierte.10 Nicht zuletzt deshalb spielte die Dynastiegeschichte seit dem Ende des 15. Jahrhunderts an den europäischen Höfen eine wichtige Rolle. Im Mittelpunkt stand dabei das jeweils regierende Herrscherhaus. Genealogien, Wappen, Stammtafeln oder Sukzessionsreihen dienten dazu, die besondere Herkunft historisch herzuleiten und zu legitimieren.11 Seine Überzeugungskraft bezog genealogisches Denken daraus, dass es als natürlich gegeben erschien, als »in den biologischen Grundgegebenheiten der menschlichen Fortpflanzung« verankert.12 Häufig wurde ein Gründungsmythos propagiert, der die Abstammung von besonders ausgezeichneten historischen, ja sogar mythischen Stammvätern und Geschlechtern konstruierte, um Ruhm, Ansehen und Ehre bei anderen Standesgenossen, aber auch den Untertanen zu generieren. Durch göttliche und heroische »Spitzenahnen« sollte die eigene Genealogie aufgewertet und das dynastische Prestige als symbolisches Kapital erhöht werden.13 Dies erschien besonders dann notwendig, wenn die Herrschaft umstritten war. Abgesehen von der Legitimation politischer Herrschaft einer Dynastie diente der Rückgriff auf die eigene Geschichte auch der Identitätsstiftung und Integration aller Familienmitglieder. Häufig wurde die Geschichte des Herrscherhauses mit der Geschichte seiner Territorien gleichgesetzt und gemeinsame Traditionen wie Identitätsmuster festgeschrieben. Dabei kam der Konfession bzw. der Abwehr von Glaubensfeinden in der Frühen Neuzeit eine wichtige Rolle zu. Wesentlich für das dynastische Selbstverständnis war es auch, einen als wertvoll verstandenen Besitz an die eigenen Nachkommen weiterzugeben. Dafür musste einerseits ein Bewusstsein für die historische Bedeutung der Familien9 Vgl. Weber, Dynamiken; Ders., Dynastiesicherung; Weber, Bedeutung. 10 Heck/Jahn, Genealogie, 4. 11 Vgl. Bauer, Wurzel. 12 Heck/Jahn, Genealogie, 3. 13 Siewert, Bewusstsein, 332.
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und Verwandtschaftsbeziehungen existieren, andererseits die Vorstellung verankert sein, dass nicht nur materielle Güter und Herrschaftsrechte, sondern auch immaterielle Werte an die Nachkommenschaft vererbt werden konnten. In der Frühen Neuzeit war zudem die »Vorstellung des Vererbens an die Nachkommen mit dem religiös fundierten« Wunsch verbunden, die Erbenden mögen der toten Erblasser gedenken und in ihrem Sinne agieren. Materielle und immaterielle Formen des Erbes wurden laut neuesten Forschungsergebnissen offenbar mit der religiösen Jenseitsökonomie verknüpft, »gewissermaßen als Gabentausch zwischen Toten und Lebenden.«14 Diese Einstellung findet sich auch bei den Ernestinern. 3.
Das Selbstbild der Ernestiner
Über die Weitergabe des Besitzes und der damit verknüpften Herrschaftsrechte hinaus verstanden die Ernestiner auch die eigene Konfession und ihr Selbstbild als Sachwalter des wahren Luthertums als Erbe, das an die Nachfahren weitergegeben werden musste und wofür diese der Verstorbenen gedenken sollten. Materieller Besitz und religiöse Ausrichtung der Dynastie waren also aufs Engste miteinander verzahnt. Im Zentrum des dynastischen Selbstbildes als Sachwalter des wahren Luthertums stand Kurfürst Johann Friedrich (1503–1554) als »Märtyrer und neuer Heiliger«, wobei er bereits zu seinen Lebzeiten selbst zur Verbreitung dieses Mythos beitrug.15 Durch vielfältige Formen der translatio versuchten die Ernestiner, die bereits in Wittenberg von ihnen initiierte Erinnerungskultur auf das ihnen nach dem Schmalkaldischen Krieg verbliebene Herrschaftsgebiet zu übertragen und den Verlust der Kurwürde sowie den damit verbundenen politischen Abstieg zu kompensieren.16 Dazu gehörte nicht nur die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf die Kurwürde, sondern auch die Gründung der Universität Jena (1548/58) als »Hort des wahren Luthertums« und als neues reformatorisches Zentrum sowie der Wille, aus ihrem Herrschaftsgebiet ein »Musterland« der Reformation zu machen. In Abgrenzung zu den konkurrierenden Albertinern, die sich zur Legitimation ihrer Herrschaft ebenfalls in die Wittenberger Tradition einordnen wollten, war es für die Ernestiner unbedingt notwendig, das von ihnen entworfene Selbstbild nicht nur zu bewahren, sondern auch an die nächsten Generationen zu übertragen. Am Beispiel der Hausgesetze, in denen »familiäre Gewohnheiten 14 Wille/Weigel/Jussen, Erbe, 17. 15 Vgl. Westphal, Verlust. 16 Vgl. Flügel, Bildpropaganda.
Fürsten und Fürstinnen als Träger von Erinnerungskultur am Beispiel der Ernestiner
und Traditionen in dauerhaft und für alle Familienmitglieder verbindliche Regelungen transformiert wurden«,17 konnte gezeigt werden, dass die Ernestiner ihr Selbstbild über dieses Medium vermittelten.18 Das Festhalten am wahren Luthertum wurde in den Hausgesetzen für alle Dynastiemitglieder normativ festgeschrieben. Diese Strategie war durchaus erfolgreich. Keiner der regierenden ernestinischen Herzöge konvertierte, alle blieben dem streng lutherisch ausgerichteten Glauben verhaftet. Angesichts der zunehmenden Fürstenkonversionen ab dem 17. Jahrhundert, die fast ausschließlich Konversionen zum katholischen Glauben waren, muss dies eigens hervorgehoben werden. Denn letztlich traten auch die innerdynastischen Rivalen, die Albertiner, zum katholischen Glauben über. Sowohl im Spiegel ihrer Hausgesetze als auch durch ihre Praktiken zur Weitergabe ihres Selbstbildes erweisen sich die Ernestiner damit de facto als Erinnerungsgemeinschaft. 4.
Memoria und schriftliche Zeugnisse
4.1 Grabinschriften Sichtbarer Ausdruck der ernestinischen Memoria ist die Grablege der weimarischen Herzöge und Herzoginnen in der Weimarer Stadtkirche mit einem Freigrab »im Zentrum der Grablege, um welches herum die Grabmäler mehrerer Generationen auf dem Boden und/oder an den Wänden versammelt sind«.19 Visueller Mittelpunkt des Freigrabes ist der Epitaphaltar der Cranach-Werkstatt (datiert 1555), der mit den davor befindlichen Gräbern des gewesenen Kurfürsten Johann Friedrich und seiner Ehefrau Sibylle von Cleve (1512–1554) als Einheit zu sehen ist.20 Lange Zeit hat sich die Forschung in erster Linie mit dem Bildprogramm des Altars beschäftigt und die Verbindung zum Grab ignoriert. Entscheidend zum Verständnis der Memoria ist jedoch die unter dem Triptychon befindliche lateinische Grabinschrift auf der Predella, die erst 2014 wiederhergestellt wurde und die als das eigentliche Epitaph zu sehen ist.21 Dort heißt es in deutscher Übersetzung: Den Eltern, die trotz grausamer Waffengewalt mit standhafter Frömmigkeit den gerecht machenden Glauben bekannten, setzt die den Frommen dankbare Nachkommenschaft – drei Brüder einstimmigen Herzens – aus Liebe zur Frömmigkeit diese Tafel, damit sie
17 18 19 20 21
Schönpflug, Netzwerke. Vgl. Westphal, Selbstverständnis. Seher, Grablegen, 293. Vgl. Görres, Cranach. Vgl. Hecht, Bildpolitik.
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im Fortgang der Jahre ein Denkmal sei des behaupteten Glaubens und ein Unterpfand der Liebe.22
Mit dem Grabmal gedachten die Söhne nicht nur ihrer verstorbenen Eltern, sondern sie hinterließen der Nachwelt gleichzeitig ein Fidei monumentum, ein Bekenntnisbild der Dynastie.23 Rezipiert wurde bis weit ins 18. Jahrhundert vor allem die Inschrift, die sich sogar noch in Zedlers Universallexikon findet.24 Entscheidend für die dynastische Memoria war also nicht das Triptychon, sondern die Inschrift, die einen Bezug zum Selbstbild der Dynastie als Sachwalter des wahren Luthertums herstellt. Damit wird zum einen die kunsthistorische Forschung bestätigt, die auf die besondere Funktion der Inschriftenplatten als Ort des konfessionellen Bekenntnisses verweist.25 Zum anderen zeigt sich, dass sich die Untersuchung der Memoria einer Dynastie nicht allein auf die bildlichen Ausdrucksformen beschränken darf, sondern alle Medien einbezogen werden müssen. Dazu zählen vor allem die schriftlichen Medien, die nicht nur als gleichberechtigt neben den manifesten Grabmälern zu sehen sind, sondern von den Zeitgenossen offenbar als überlegenere Form der Memoria angesehen wurden. 4.2 Funeralwerke Auf diese Zusammenhänge verweist bereits das zeitgenössische Verständnis der Funeralwerke. Der Weimarer Generalsuperintendent Nicolaus Zapf (1600–1672) argumentierte 1666 in seiner Vorrede zum Christ-Fürstliches Traur-Gedaechtnueß Uber das hoechstselige Absterben von Herzog Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar (1598–1662) und seiner Ehefrau Eleonore Dorothea (1602–1664), dass der menschlichen Vergesslichkeit mit »scheinbaren und wehrhafften Grab- und Denckmahlen vorgebauet« werden müsse. Allein darum werden die Graeber der Toden/welche gezieret sind/Gedaechtnisse/oder Denckmahle genennet/weil sie die jenigen/welche den Augen der Lebendigen durch den Tod entzogen sind/damit sie nicht auch durch Vergessenheit denselben aus den Hertzen kommen/erinnern/und ihrer zugedencken (gleichsam) anmahnen.26
Die Kinder des verstorbenen Herzogspaares seien höchst bestrebt gewesen, ihren Eltern ein Ehren-Gedächtnis zu errichten. Diese haben zwar selbst ein herrliches Begräbnis erbauen lassen, aber die Kinder wollten den letzten Willen 22 23 24 25 26
Ebd., 64. Vgl. ebd., 67. Vgl. ebd., 63. Vgl. Seher, Grablegen, 157. Zapf, Traur-Gedaechtnueß.
Fürsten und Fürstinnen als Träger von Erinnerungskultur am Beispiel der Ernestiner
ihrer Eltern erfüllen und zu deren Ruhm beitragen, indem sie alle eingelieferten Trauer-, Klag- und Trostschriften veröffentlichten, zu deren »unvergeßlichen Grabmahl und Ehren-Gedaechtnis«.27 Ähnlich argumentierte 1728 der Dresdner Stadtprediger Christian August Hausen (1663–1733), der in einer schwierigen politischen Situation eine rund 2.000 Seiten umfassende Sammlung von Leichenpredigten über sächsische Fürsten unter dem Titel Gloriosa Electorum Ducum Saxoniae Busta, Oder Ehre Derer Durchlauchtigsten und Hochgebohrnen Chur-Fürsten und Hertzoge zu Sachsen Leichen-Grueffte zusammenstellte.28 Anliegen Hausens war es, die »Gerechten im Glauben« in Erinnerung zu rufen. Daher wollte er nach antiker Manier ein Toten-Register gestalten. Es sollten all diejenigen darin versammelt werden, die »GOtt selbsten mit hohen herrlichen Gaben gezieret, zu Werckzeugen gebraucht, grosse Thaten durch sie auszurichten«,29 Dazu zählte Hausen vor allem die ernestinischen Kurfürsten, deren Taten für die Reformation des ewigen Gedächtnisses wert seien. Am besten waren dazu seiner Meinung nach die Leichenpredigten geeignet, weil man darin eine ausführliche »Geschichts-Verfassung« der ernestinischen Kurfürsten finde, »durch deren Protection nicht nur die wahre Lehre herfuergebrochen; sondern auch biß auf unsere gegenwaertige Zeiten erhalten worden« sei.30 Fasst man die beiden Begründungen für die Sammlung von Leichenpredigten zusammen, so galten die Leichenpredigten offenbar als dauerhaftere Form der Erinnerung als die Grabmale. Gegenüber den fest an einem Ort verankerten steinernen Grabmalen hatte das »papierne Monument« laut Inga Brinkmann »den Vorteil der problemlosen überregionalen Rezeption«.31 Die dynastische Memoria konnte somit auch zu einer öffentlichen Memoria werden. Gerade Leichenpredigten auf Personen aus lutherischen Fürstenhäusern besaßen eine hohe Auflage und wurden nicht nur im eigenen Herrschaftsterritorium wahrgenommen, sondern auch an andere Höfe verschickt. Schätzungen gehen von einer Auflagenhöhe zwischen 300 und 1.800 Exemplaren aus.32 Auch deshalb wurden die Leichenpredigten, die vor allem im Luthertum weite Verbreitung fanden, immer aufwändiger gestaltet. Die eigentliche Predigt wurde zunächst durch einen Lebenslauf (Personalia) ergänzt. Dann kamen Gedichte, Grabreden, Lieder sowie grafische Abbildungen hinzu, die beispielsweise ein Porträt der verstorbenen Person zeigten oder Darstellungen der Aufbahrung bzw. des Trauergerüstes oder des Trauerzuges mit genauer Auflistung der 27 28 29 30 31 32
Ders., Vorrede. Hausen, Gloriosa. Ders., Vorrede. Ebd. Brinkmann, Grabdenkmäler, 12. Vgl. Bepler, Erinnerung, 175.
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Beteiligten und ihres Platzes im Trauerzug, um ihren Rang zu verdeutlichen.33 Dies verweist auf die repräsentative Funktion der Funeralwerke, die in der Regel von den hinterbliebenen Familienmitgliedern beim Hofgeistlichen in Auftrag gegeben wurden, um nicht nur an die verstorbene Person zu erinnern, sondern auch den eigenen Herrschaftsanspruch und die Bedeutung der Dynastie zu veranschaulichen.34 In erster Linie dienten die Funeralwerke jedoch als religiöse Schriften für die Hinterbliebenen. Sie boten die Möglichkeit, Trost und Erbauung über die Verdienste einer verstorbenen Person zu vermitteln, deren Leben und Sterben als vorbildlich für andere Christen dargestellt wurde. Mit Blick auf die Ernestiner und ihr Selbstverständnis als Sachwalter des wahren Luthertums bedeutete dies, den Einsatz der verstorbenen Person und ihre Verdienste um den lutherischen Glauben besonders hervorzuheben, um die Nachfahren zu ermutigen, sich in gleicher Weise für die einzig wahre Lehre einzusetzen. Häufig wurden zu diesem Zweck gleich mehrere Leichenpredigten auf verstorbene Fürsten und Fürstinnen zu einer Sammlung zusammengebunden. 4.3 Öffentliche Memoria Dies zeigt sich beispielsweise an der Sammlung von vier Leichenpredigten anlässlich des Todes von Kurfürst Johann Friedrich und seiner kurz vor ihm verstorbenen Frau Sibylle, die am 5. März 1554 in der Weimarer Stadtkirche bestattet wurden und von deren Grabmal bereits die Rede war.35 Die Personalia des gewesenen Kurfürsten und seiner Ehefrau dienten den Predigern dazu, die Söhne zu ermahnen, sich wie ihre Eltern zum wahren Luthertum zu bekennen. Die erste Leichenpredigt stammt vom Hofprediger Johann Stoltz (1514–1556) und bezieht sich auf Sibylle.36 Anhand des Regiments von König Josaphat werden einige ausgewählte Aspekte eines vorbildlichen Christseins thematisiert. Am Anfang der Predigt steht jedoch die Aufforderung an die Kinder, den Eltern nachzufolgen. Der Heilige Geist pflege in den Historien der Könige Israels und Juda anzuzeigen, »[o]b die Kinder der Eltern Exempel gefolgt/oder zu wider gehandelt haben/auff das die Jugent lerne/jrer fromen Eltern exempeln und tugenten gemes zu leben.«37 Das höchste Lob vor Gott und den Menschen sei es, wenn sich die Kinder an den frommen Eltern orientieren, die höchste Schande, wenn sie nicht in die Fußstapfen ihrer Eltern treten würden. Diese Metapher findet sich in den meisten Leichenpredigten wieder und bildet gleichsam einen Topos neben vielen anderen, der die Verstorbenen als gottesfürchtige, fromme und Gott wohlgefällige Gläubige charakterisiert. 33 34 35 36 37
Vgl. ebd. Vgl. Brinkmann, Grabdenkmäler, 100. Amsdorf/Stoltz, Trostpredigten. Stoltz, Trostpredigt. Ebd., A2v .
Fürsten und Fürstinnen als Träger von Erinnerungskultur am Beispiel der Ernestiner
Die Leichenpredigten der Ernestiner gehen jedoch häufig über diese gattungsspezifischen Zuschreibungen hinaus und verweisen auf das dynastische Selbstbild als Sachwalter des wahren Luthertums mit dezidierten Rückbezügen auf die historischen, aber auch aktuellen Verdienste der Dynastiemitglieder um das Bekenntnis. Bei Sibylle wird beispielsweise betont, dass sie Gott oft dafür gedankt habe, dass er sie aus der babylonischen Gefangenschaft des Papsttums in das Kurfürstentum und damit zur Erkenntnis Jesu Christi gebracht habe.38 Sie habe außerdem dafür gedankt, dass sie durch Gottes Hilfe Lesen und Schreiben gelernt habe, um die sechs Jahre dauernde Abwesenheit ihres Ehemanns und das schwere Kreuz von dessen Gefangenschaft tragen zu können. Sie hätten sich beide durch Trostschriften gegenseitig helfen können.39 Insbesondere die Zuflucht zu den Trostbüchern Luthers sei dabei für sie wichtig gewesen. Der Hofprediger bezeichnet Sibylle deshalb auch als Heldin40 und Vorbild an Demut.41 Nicht zuletzt ihre Haltung zum Interim wird in diesem Zusammenhang hervorgehoben. Sie habe immer der Ausbreitung des Wortes Gottes gedient: »Falscher lere ist sye feind gewesen/und da jr vom Keiser geboten/auch von jren verwandten geraten/sye solt das Jnterim annemen/hat sye das bestendig widersprochen/und lieber verlassen und arm mit Gott/denn reich und gros one Gott sein wollen.«42 Die Predigt gipfelt in der Aufforderung: »Also das sye mit yrem Herrn/bey unsern nachkomen ein Spiegel sein werden des Creutzs und bestendiger Bekenntnis des glaubens/auch mitten in der groesten verfolgung.«43 Noch auffälliger sind die Bezüge auf das ernestinische Selbstbild als Sachwalter des wahren Luthertums und dessen Übertragung auf die Nachfahren in der Leichenpredigt von Nikolaus von Amsdorf (1483–1565) auf Kurfürst Johann Friedrich (1503–1554). Auch er wendet sich im Widmungsbrief dezidiert an die drei Söhne (Johann Friedrich den Mittleren [1529–1595], Johann Wilhelm [1530–1573] und Johann Friedrich den Jüngeren [1538–1565]) des verstorbenen Landesherrn.44 Amsdorf bittet Gott darum, dass sich alle, einschließlich der jungen Fürsten, vor der »Adiaphoristen ketzerey/welche unter allen die fehrlichste ist« hüten und davor bewahrt werden.45 »Und das E. f. G. in die Fusstappen jres gnedigen Herrn und Vaters hochloeblicher Gedechtnus tretten/und daraus nicht weichen/sondern unbeweglich feste darinne stehen und 38 39 40 41 42 43 44 45
Vgl. ebd., Dr . Vgl. ebd., D2r . Vgl. ebd., D3v . Vgl. ebd., D4r . Ebd., E1v . Ebd., E2r . Vgl. Amsdorf, Fuersten. Ebd., A3r .
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bleiben.«46 Siegfried Bräuer verweist in diesem Zusammenhang auf die damit verbundene Erwartungshaltung, dass die Söhne »keine andere Kirchenordnung bewilligen als die, die Christus und die Apostel befohlen haben.«47 Gleich mehrfach ermahnt Amsdorf die Herzöge, ihrem Vater nachzufolgen, der mit unerschrockenem Herzen und unter Gefahr seines Lebens Vorbild im Glauben für sie sein solle. Auch hier erfolgt die Mahnung, »wer aus den fustappen tritt und weicht/gebotene Tradition menschlicher andacht willigt/oder annimpt/der ist ein Heuchler/und dienet Gott vergeblich.«48 Die Strafe Gottes würde nicht lange auf sich warten lassen. Die jungen Herren sollten deshalb nur diejenigen in ihren Landen und Kirchen zu Predigern zulassen, die das reine Wort Gottes predigen.49 In der eigentlichen Leichenpredigt wird dann die gesamte Palette der mit dem Mythos Johann Friedrich verbundenen Aspekte entfaltet. Vor allem stehen seine ablehnende Haltung zum Interim und sein öffentliches Bekenntnis zum lutherischen Glauben von 1548 im Fokus, das wortwörtlich einschließlich der lateinischen Formel für die eigenhändige Unterschrift in die Leichenpredigt aufgenommen wurde.50 Die Forschung leitet daraus ab, dass auf diese Weise der »dokumentarische Charakter« unterstrichen werden sollte.51 Amsdorf wendet sich in diesem Zusammenhang dezidiert an die Landschaft und alle Untertanen, damit sie sich am Vorbild ihres Landesherrn orientieren. Sein Bekenntnis soll ihnen als Vorbild für ihr eigenes Bekenntnis dienen. Sie sollen Gott für diese Haltung ihres Landesherrn danken, da sie durch Johann Friedrich drei große Wohltaten empfangen hätten, wie Bräuer herausstellt: »1. Gottes Wort sei rein geblieben. 2. Die Heuchelei gegenüber dem Antichrist durch Zeremonien […] sei ihnen erspart worden. 3. Im Gegensatz zu den Nachbarländern hätten sie im Frieden leben können.«52 Hier zeigt sich, wie aus einer dynastischen Memoria eine öffentliche Memoria wird. Die Leichenpredigt wurde bis ins 19. Jahrhundert mehrmals neu aufgelegt und trug dazu bei, dass Johann Friedrich als Märtyrer des Glaubens und Bekenner des wahren Luthertums nicht nur bei den Dynastiemitgliedern, sondern auch in breiteren Kreisen in Erinnerung blieb. Ähnliche Strategien lassen sich bei einem weiteren zentralen Beispiel für Bekenntnistreue der Ernestiner im 16. Jahrhundert feststellen. Ernst Koch und Daniel Gehrt haben darauf verwiesen, dass Herzogin Dorothea Susanna von 46 47 48 49 50 51 52
Ebd., A3r . Bräuer, Nikolaus, 119. Amsdorf, Fuersten, A4r . Vgl. ebd., B1v . Vgl. ebd., C3v –D3v . Bräuer, Nikolaus, 123. Ebd., 124.
Fürsten und Fürstinnen als Träger von Erinnerungskultur am Beispiel der Ernestiner
Sachsen-Weimar (1544–1592) die Pflege der Memoria ihres verstorbenen Mannes Johann Wilhelm zwischen 1573 und 1577 ebenfalls gezielt einsetzte, um ihre Söhne im Sinne der väterlichen Glaubensausrichtung zu unterweisen und das Territorium vor den aus ihrer Sicht schädlichen Einflüssen der vormundschaftlichen Regierung Kurfürst Augusts von Sachsen (1526–1586) zu bewahren.53 Damit handelte sie im Sinne der traditionell einer Witwe zukommenden Aufgabe, die Erinnerung an den verstorbenen Gemahl zu pflegen, agierte dabei aber gleichzeitig mit einer eigenen Bekenntnisschrift entsprechend des dynastischen Selbstverständnisses als Beschützerin des wahren Glaubens. Über die Errichtung des Grabmals für Johann Wilhelm in der Weimarer Stadtkirche hinaus, setzte sie sich zudem für den Druck der Leichenpredigten auf ihren Mann ein und versuchte auf diese Weise, über den engeren dynastischen Kreis und den Weimarer Hof hinaus eine öffentliche Memoria zu stiften. Es wundert daher nicht, dass in den Leichenpredigten auf die Söhne von Dorothea Susanna und Johann Wilhelm, Friedrich Wilhelm (1562–1602) und Johann (1570–1605), ebenfalls die Bekenntnistreue und die Funktion der Ernestiner als Sachwalter des wahren Luthertums hervorgehoben wurden.54 In diesem Zusammenhang finden sich auch Hinweise auf die besondere Rolle, die Dorothea Susanna bei der Erziehung ihrer Söhne im wahren Glauben gespielt hat. In der Leichenpredigt des Weimarer Hofpredigers Abraham Lange (1565–1615) auf den 1605 im Alter von 36 Jahren verstorbenen Herzog Johann von Sachsen-Weimar wird zunächst der übliche Topos angeführt, dass Johann in die Fußstapfen seiner »Hochlöblichen Vorfahren der Chur und Fürsten zu Sachsen rhümlichen getretten«.55 Besonders hervorgehoben wird der Einsatz seiner Mutter Dorothea Susanna, »welcher Beständigkeit bey der reinen Evangelischen recht Lutherischen Lauterkeit und Warheit/und was sie zu Erhaltung und Fortpflantzung desselben gethan und gelidden/nicht wird vergessen werden/weil die Sonne scheint.«56 Im Folgenden wird die schwierige Situation erläutert, nachdem Johanns Vater 1573 verstorben war und die noch unmündigen Söhne unter die Vormundschaft des Kurfürsten August von Sachsen gerieten.57 Die in diesem Zusammenhang vorgenommenen Entlassungen und Verfolgungen von Geistlichen in Sachsen-Weimar werden als schwere Zeit für die fürstliche Familie charakterisiert.58 Gleichzeitig wird jedoch August
53 54 55 56 57 58
Vgl. Koch, Herzogin; Gehrt, Herzogin. Lange, Leichpredigten Friderich Wilhelms; Lange, Leichpredigten Johansen. Lange, Leichpredigten Johansen, 25v . Ebd. Vgl. Carius, Konfessionspolitik, 205. Vgl. Lange, Leichpredigten Johansen, 26r .
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von Sachsen von jeder Schuld frei gesprochen. Er sei vielmehr falsch beraten worden; ein häufig verwendeter Topos, um Fürsten nicht in ihrer Ehre zu schmälern. Der Hofprediger Lange betont jedoch, dass die Söhne – trotz dieser Umstände – nicht vom wahren Glauben gewichen seien. Gott habe sie in diesen gefährlichen Zeiten beschützt und dafür gesorgt, »daß sie durch falsche Lehr nicht verführet/sondern durch den Fleiß jrer getrewen lieben Fraw Mutter und praeceptorum, in reiner und gesunder Lehr/lauter und unanstößig unterwiesen und erhalten worden« seien.59 Gleiches Verdienst habe sich, laut Lange, Herzog Johann erworben, der auch dafür gesorgt habe, dass seine Söhne im wahren Glauben erzogen wurden. Folgerichtig benennt der Hofprediger als erste zu würdigende Tugend des Herzogs seine wahre Gottseligkeit. Denn J. F. G. [war] nicht allein der waren Christlichen und Lutherischen Religion von Herzen zugethan/sondern [habe] sich auch von allen Rotten und Secten abgesondert/die Bibel von Jugend auff gerne und mit Fleiß gelesen/nechst derselben auch die Schrifften deß heiligen Mannes Gottes Lutheri und anderer reiner und richtiger Theologen lieb gehabt.60
Aber auch über die Ehefrauen der Fürsten konnte das Selbstbild der Ernestiner als Beschützer und Sachwalter des wahren Luthertums transportiert werden. Dies wird beispielhaft deutlich an der von dem Weimarer Generalsuperintendenten Antonius Probus (1537–1613) verfassten Leichenpredigt auf die im Alter von 27 Jahren verstorbene Ehefrau von Friedrich Wilhelm, Sophia (1563–1590).61 Probus betont nachdrücklich, dass sie die reine lutherische Lehre »von grund jres hertzen geliebet« habe.62 Dies habe sie dadurch bezeuget, das sie fur jhrem seligen Ende/als sie vermerckt/es wuerde an ein scheiden gehen/jhren hertzliebsten Herrn unter andern auch gebeten hat/er wollte bey der reinen Lutherischen Bekentnis und lehre der Kirchen in diesem Fuerstenthumb/bestendig bleiben/ und sich dauon nichts abwenden lassen.63
Diese auf dem Totenbett formulierte Bitte nimmt Probus zum Anlass, Gott darum zu bitten, dass er den Nachfahren den Mut gebe, »in jrer löblichen Christlichen Eltern unnd Voreltern Fusstapffen [zu] tretten/unnd auch denselbigen bestendig nachschlagen moegen«.64 Der frühzeitig eingetretene Tod der 59 60 61 62 63 64
Ebd., 26v . Ebd., f. 32r . Probus, Leichpredigt. Ebd., E1r . Ebd. Ebd.
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Fürstin bietet Probus zudem die Möglichkeit, über die unglücklichen Folgen eines unzeitigen Todes zu reflektieren und in diesem Zusammenhang auf Luthers Tod zu sprechen zu kommen, der zu einem großen »Lärmen« in Deutschland geführt habe. Die Gefangennahme des Kurfürsten Johann Friedrich im Schmalkaldischen Krieg, die Einnahme Wittenbergs durch kaiserliches Kriegsvolk, das Interim und die Verfolgung evangelischer Prediger werden so in einen Zusammenhang mit dem Tod des Reformators gebracht, der laut Probus all dies vorhergesagt habe. Ähnliche Folgen misst er dem Tod Herzog Johann Wilhelms, dem Vater von Friedrich Wilhelm, bei, auf die er aber nicht näher eingeht, da sie allen noch frisch im Gedächtnis seien. Dass es den Ernestinern immer wieder gelang, den für eine Dynastie eigentlich problematischen Verhaltensweisen einzelner Dynastiemitglieder einen positiven Sinn zu geben, zeigt sich auch an Herzog Johann Casimir von SachsenCoburg (1564–1633), der für seine in Gefangenschaft verstorbenen Eltern, Herzog Johann Friedrich den Mittleren (1529–1595) und seine Frau Elisabeth von der Pfalz (1540–1594), von 1595 bis 1598 ein prächtiges Alabaster-Epitaph in der St. Morizkirche zu Coburg als Denkmal und Familiengrablege errichten ließ, um an sie zu erinnern und ihre Verdienste um den wahren Glauben zu würdigen. Als er selbst 1633 verstarb, verfassten eine Reihe von Geistlichen ausführliche Würdigungen seiner Person, u. a. der bekannte lutherische Theologe und Professor an der Universität Jena, Johann Gerhard (1582–1637).65 In seinem EhrenGedaechnueß 66 preist Gerhard nicht nur das Haus Sachsen und führt die Herkunft bis auf Karl den Großen (742/7–814) zurück, sondern er verweist auch auf den Eifer für die Religion, den dieses Haus zu allen Zeiten ausgezeichnet habe. Insbesondere die Entdeckung der evangelischen Wahrheit durch Gottes sonderbare Gnade sei in ganz Europa bekannt. Dieses Haus habe als erstes die evangelische Lehre angenommen, in seinen Landen geduldet und bis in die Gegenwart unverfälscht erhalten. Für letztere Aussage erbringt Gerhard den Nachweis, indem er, angefangen bei der Märtyrergeschichte Kurfürst Johann Friedrichs, auf das Schicksal von Johann Casimirs Vater, Johann Friedrich den Mittleren, verweist, der im Zusammenhang mit den Grumbachschen Händeln geächtet und in Haft genommen wurde, der sich aber laut Gerhard durch Gelehrsamkeit und Frömmigkeit ausgezeichnet habe. Zwei Tugenden werden schließlich bei Johann Casimir gepriesen: Gerechtigkeit und Gottseligkeit. Die wahre Gottseligkeit bestehe aus zwei Elementen: Zum einen beinhalte sie, dass man Gott den Herrn aus seinem Wort recht erkenne. Zum zweiten 65 Vgl. Friedrich/Salatowsky/Schorn-Schütte, Konfession. 66 Gerhard, Delineatio. Das Ehrengedächtnis Gerhards auf Johann Casimir in lateinischer und deutscher Sprache ist Teil einer Sammlung von Leichenpredigten auf Fürsten, die sich um Deutschland verdient gemacht haben.
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bedeute die wahre Gottseligkeit, dass man ihn nach der Regel des göttlichen Worts gebührlich ehre. Zur wahren Erkenntnis Gottes gehöre es vor allem, die von allen päpstlichen, calvinistischen und anderen Ketzern gereinigte Lehre inniglich zu lieben. Indem Gerhard konstatiert, dass dies bei Johann Casimir der Fall gewesen sei, ordnet er ihn damit in die lange Reihe der standhaften und bekenntnistreuen ernestinischen Vorfahren ein. Nicht jede Leichenpredigt auf einen ernestinischen Fürsten enthält in gleichem Umfang Hinweise auf die Festlegung der Nachfahren auf das dynastische Selbstbild als Sachwalter des wahren Luthertums. Mitunter erschöpfen sich die Zuschreibungen in einer Reihe von Topoi. Dazu gehört der Verweis auf die Erziehung in der wahren lutherischen Lehre durch reine und unverdächtige lutherische Hofmeister. Bei den Tugenden findet sich immer zuerst der Hinweis auf wahre Gottseligkeit. Zudem wird in fast jeder Leichenpredigt hervorgehoben, dass der Landesherr für die Predigt der reinen göttlichen Lehre gesorgt habe. In diesem Zusammenhang taucht immer wieder der Hinweis auf die besondere Wertschätzung und Pflege der Universität Jena als Hort der reinen Lehre auf. Am häufigsten betonen die Verfasser der Leichenpredigten, dass die Verstorbenen in die Fußstapfen der Eltern getreten seien. Gerade bei jung verstorbenen Dynastiemitgliedern oder in Zeiten, die in konfessioneller Hinsicht in ruhigen Bahnen verliefen, scheint jedoch die Notwendigkeit, die Nachfahren oder eine breitere Öffentlichkeit durch eine ausgeprägte Memoria auf das Selbstbild der Dynastie festzulegen, weniger ausgeprägt gewesen zu sein. Je stärker die lutherische Konfession in den ernestinischen Territorien gefestigt wurde, desto mehr scheinen die Ernestiner zudem ihre Schutzfunktion für den wahren Glauben auf verfolgte Lutheraner außerhalb der Stammlande wahrgenommen und in der Memoria verbreitet zu haben. Erste Hinweise finden sich ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. So heißt es beispielsweise in der Trostpredigt des Eisenacher Superintendenten Caspar Rebhan (1606–1683) auf den 1662 verstorbenen Weimarer Herzog Wilhelm IV. (1598–1662): GOtt hatte auf Jhre Durchlaeuchtigkeit von Jhren Christ-löblichen Vorfahren her gebracht/das Liecht und Erkaentnis/der wahren/reinen und allein seligmachenden Evangelischen Religion; Der sind Sie auch von Hertzen ergeben gewesen/darueber haben Sie Zeit Jhrer Regierung steif und fest gehalten/auch biß in Dero selig Ende/darbey/als dem rechten Grund der himmlischen Warheit/mit freudiger Bekaentnis bestaendig beharret.67
Der Eifer sei nicht nur durch den beständigen Besuch des Gottesdienstes und die Anhörung der Predigt, sondern auch »mehrmals mit beweglichen interces67 Rebhan, Klag- und Trost-Predigt, 47.
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sionalibus fuer die verfolgten Evangelischen/mit Fuerstl. Treu und Mildigkeit gegen die Vertriebenen/mit Darsetzung Gutes und Blutes bezeuget« worden.68 Bei dem 1732 verstorbenen Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha (1676–1732) tritt dieser Gedanke – neben dessen Einsatz für die beiden Reformationsjubiläen 1717 und 1730 – noch stärker in den Vordergrund. In der Leichenpredigt des Altenburger Superintendenten Christian Löber (1683–1747), die 1732 bei der Beisetzung in der Hofkirche auf dem Friedenstein gehalten wurde, heißt es: Und muß hier auch insonderheit zu Sr. hochseligsten Durchlauchtigkeit wohlverdientem Ruhm und Andencken noch gemeldet werden, daß Sie zu Foerderung der evangelischen Religion nicht nur denen in der Pfaltz befindlichen Geistlichen, wegen der ihnen von widrigen Religions-Verwandten entzogenen Salarien, auch denen in Ungarn, Pohlen und andern frembden Laendern gedruckten evangelischen Glaubensgenossen mit starcken milden Gaben zustatten kommen.69
Besonders hervorgehoben wird sein Einsatz für die Lutheraner in der calvinistischen Hochburg Genf. So habe sich der Herzog bei dem Magistrat der Stadt dafür verwendet, dass »der evangelischen Prediger vor die dasige Lutherische Gemeinde von Jhnen, und Dero Durchlauchtigsten Herren Successoren, jedesmahl, mit gutem Willen der Vorsteher, verordnet werden duerffe, wie Sie dann schon zu zweyen mahlen nacheinander habile Subjecta dahin geschicket, und zu ihrem vorhin schon gehabten Salario eine besondere milde Stifftung von etlichen tausend Guelden beygefueget« habe.70 Inwiefern dieser Einsatz für verfolgte oder in der Minderheit befindliche Lutheraner schon ein erster Schritt der Ernestiner in Richtung Mission gewesen sein könnte, muss weiteren Forschungen mit Schwerpunkt auf dem 18. Jahrhundert überlassen bleiben. Friedrich III. (1699–1772) scheint sich jedenfalls verpflichtet gefühlt zu haben, dieses Engagement seines Vaters für die lutherische Gemeinde in Genf fortzuführen. Denn in der fünften Leichenpredigt des Ehren-Gedaechtnis, die von dem Vorsteher und Adjunkten der lutherischen Gemeinde in Genf mit der Abkürzung J. R. J. verfasst wurde, erfährt man, dass auch Friedrich III. sich für die Genfer Lutheraner eingesetzt hat, denn ihm wird ausdrücklich für sein Versprechen gedankt, die lutherische Gemeinde in Genf weiterhin zu unterstützen. Wie sich die Memoria der Ernestiner in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gestaltete, lässt sich über das Medium der Leichenpredigten jedoch nicht mehr aussagen, da diese Gattung zunehmend aus der Mode geriet. 68 Ebd. 69 Löber, GOTT, 73. 70 Ebd.
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Fazit
Fasst man die wesentlichen über die Leichenpredigten der Ernestiner vermittelten Aspekte der frühneuzeitlichen Memoria dieser Dynastie zusammen, so lässt sich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts Folgendes feststellen: 1. Die Auswertung der Leichenpredigten hat gezeigt, dass auch die ernestinische Memoria der Vermittlung des dynastischen Selbstbildes als Beschützerin des wahren Luthertums dienen sollte. Allerdings wird dies eher in den Texten als in den Grablegen manifest. Das Wort galt als eindeutigeres Zeugnis als das steinerne Monument. 2. Fürstinnen konnten wie Fürsten dabei gleichermaßen als Träger der Erinnerungskultur dienen, wobei den Fürstinnen seit dem Mittelalter traditionell die Aufgabe zufiel, die Memoria ihres Ehemannes zu pflegen. 3. Durch den Druck der Leichenpredigten wurde die dynastische Memoria zudem zur öffentlichen Memoria. 4. Die Thematisierung des dynastischen Selbstbildes als Beschützer und Sachwalter des wahren Luthertums scheint ein krisenabhängiges Phänomen gewesen zu sein. Immer dann, wenn die Lehre der lutherischen Konfession nach Einschätzung der Ernestiner gefährdet schien, griff man auf dieses Selbstbild zurück und instrumentalisierte es zur Konsolidierung und Stärkung des Luthertums und damit gleichzeitig zur Sicherung der Herrschaft der Dynastie. 5. Darüber hinaus erscheint der Verweis auf das Selbstbild der Ernestiner als Beschützer und Sachwalter des wahren Luthertums häufig als Topoi. 6. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kam es zu einer Erweiterung des Selbstbildes. Mit der zunehmenden Verfolgung von Lutheranern wurde der Anspruch der Dynastie als Beschützer des wahren Glaubens auf außerernestinische Territorien übertragen. Hier deutet sich die Idee der lutherischen Mission an. 7. Bisher ist die Forschung davon ausgegangen, dass mit dem Tod von Friedrich II. von Sachsen-Gotha und den zunehmenden aufklärerischen Einflüssen das Selbstbild der Ernestiner als Beschützer des wahren Luthertums an Kraft verlor. Das Versprechen von Friederich III. an die lutherische Gemeinde in Genf deutet jedoch darauf hin, dass diesem Zeitraum noch genauere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte.
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Reformationsgedächtnis, Universitätsgründung und Krisenmanagement Während die Gestade Sachsens, durch ihr Schicksal zerrissen und den Kriegen preisgegeben, ihren gefangenen Fürsten beweinten und auch die Kirchen trauerten und die ihnen beigegebenen Pflanzstätten, die Schulen, die dem Geiste das, was die wahren Güter sind, vermitteln; da hat jener, den Wissenschaften und schönen Künsten geneigt, hier − trotz seiner Abwesenheit − den aonischen Chören [= den neun Musen] erwünschte Ruh gegeben. Die drei Brüder, hochgesinnte Nachkommen des Vaters, ihm gleich an Gesinnung und an Frömmigkeit, schmückten diese Zierde noch weiter aus. Christus, du höchster Beschützer und Hüter deiner Gemeinde, verleihe Frieden, damit du durch gute Studien verherrlicht werdest.1
Mit diesen Worten hat der Melanchthon-Schüler, Poet und Jenaer Professor Johann Stigel (1515–1562) die Gründungsgeschichte der Jenaer Hohen Schule bis zur Erteilung des Universitätsprivilegs 1557 feierlich besungen. Die lateinische Inschrift ziert noch heute den Turm im Collegium Jenense, der Gründungsstätte der Jenaer Universität. Alle Universitätsbeschreibungen aus der Hand Jenaer Akademiker griffen fortan auf Stigels richtungsweisende Dichtungen zurück und formten den Stiftungsmythos vom wahren Luthertum von Generation zu Generation weiter aus: Nach der Niederlage des Schmalkaldischen Bundes und dem Verlust der Wittenberger Universität sei mit der Gründung der Hohen Schule durch die ernestinische Herrschaft 1548 in Jena für das Luthertum eine neue Heimat geschaffen worden. Die Ernestiner, deren Herrschaft seit Kurfürst Friedrich dem Weisen (1463–1525) eng mit der Reformation und Luther in der öffentlichen Wahrnehmung verbunden wurde, beanspruchten in dieser Krisensituation und in Abgrenzung zu den obsiegenden Albertinern unter Moritz von Sachsen (1521–1553) auch weiterhin die Führung unter den Protestanten. Die neugegründete Jenaer Universität wurde damit allen nachfolgenden Generationen als Garant lutherisch-reformatorischen Aufbruchs angepriesen. Eine schriftliche Festschreibung, wie sie in Stigels Epigramm zur Umsetzung kommt, ist wesentlicher Bestandteil lutherischer Identitätsbildung. Um eine kollektive Identität ausprägen zu können, bedarf es vor allem der schriftlichen Fixierung, also einer »fundierenden Erzählung«2 , wie Jan Ass1 Hallof, Inschriften, 49f, Nr. 69. 2 Assmann, Gedächtnis, 18.
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mann es benennt, wenngleich es in modernen Gesellschaften mehr um das angestrebte Ziel, nicht um das tatsächliche Erreichen kollektiver Identität geht.3 Der Blick richtet sich in der Frühen Neuzeit vor allem auf die Geschichtsbücher bzw. auf die dauerhafte schriftliche Sicherung und weitere Ausformung eines Mythos bzw. einer Erinnerungsfigur.4 Jena verfügt über eine große Vielfalt solcher Ausformungen und steht damit – neben dem seit der romantischen Zeit in Bild und Dichtung als idealtypisch geschilderten Heidelberg – an der Spitze der deutschen Universitätslandschaft. Doch es sind nicht nur die fundierenden Erzählungen, die frühzeitig als Säulen der Erinnerungskultur fungierten und das Gedächtnis an die Reformation formten. Blickt man auf unser Beispiel, die Jenaer Universität, wirkten als Erinnerungsmedien in gleicher Weise die aus Wittenberg überführte kurfürstliche Bibliothek Electoralis und die Jenaer Lutherausgabe, die seit 1555 erschien und noch vor der Wittenberger fertiggestellt werden konnte.5 Erwähnenswert sind auch die Professorengemälde, Epitaphe, das den Stifter verewigende Universitätssiegel oder das große ernestinische Wappen am Turm der Kollegienkirche. Besondere Bedeutung erlangte die Ausschmückung der Jenaer Stadtkirche St. Michael als lutherischer Gedächtnisort und Begräbnisplatz für die von Wittenberg nach Jena gekommenen Professoren und ernestinischen Amtsträger. Die vorbildhafte Bedeutung, die der Jenaer Universität über Jahrhunderte hinweg zugesprochen wurde, gründet vor allem auf einer engen Verschränkung zwischen Universitätsgründung, Krisenmanagement nach dem Verlust der Kurwürde und sich formendem Reformationsgedächtnis. Diese Beobachtung soll nachfolgend anhand konkreter Beispiele nachgezeichnet und belegt werden. Eingangs stehen die herrschaftlich initiierte Universitätsgründung und deren Verknüpfung mit dem sich zeitgleich formenden Stiftungsmythos am Beispiel der Eröffnungsreden 1548 im Mittelpunkt. Im zweiten Teil der Darlegungen geht es dann um die Übergabe der Erinnerungskonstruktion vom wahren Luthertum an die nachfolgenden Generationen am Beispiel der Ausgestaltung der Jenaer Stadtkirche durch Universitäts- und Stadtgemeinde sowie durch die ernestinische Herrschaft.
3 Zur kollektiven Identität vgl. Niethammer, Kollektive Identität. 4 Zur Ausprägung der Geschichtserzählungen seit dem 17. Jh. vgl. auch Assmann, Erinnerungsräume, 48–50. 5 Vgl. Michel, Kanonisierung der Werke Martin Luthers; Bauer, Universitätsgeschichte und Mythos, 96−112, 197−210.
Reformationsgedächtnis, Universitätsgründung und Krisenmanagement
1.
Von der Gründung einer Universität auf dem Tiefpunkt politischer Macht
1546 bahnte sich eine Konfrontation zwischen dem protestantischen Schmalkaldischen Bund und Kaiser Karl V. (1500–1558) und seinen Verbündeten an. Die Auseinandersetzungen eskalierten im sogenannten Schmalkaldischen Krieg, der 1546 ausbrach. In der Schlacht bei Mühlberg an der Elbe am 24. April unterlag Kurfürst Johann Friedrich I. von Sachsen (1503–1554) den angreifenden kaiserlichen Verbündeten, unter ihnen auch sein Vetter Herzog Moritz von Sachsen (1521–1553).6 Vor allem für die Ernestiner hatte dies katastrophale Folgen – Aberkennung der Kurwürde, großer Territorialverlust einschließlich Wittenbergs und seiner Universität sowie kaiserliche Gefangenschaft Johann Friedrichs I., deren Dauer unvorhersehbar war. Doch bereits im März 1548, noch während seiner Gefangenschaft, hatte Johann Friedrich I. unter Beteiligung seiner Söhne, Räte und Theologen in Jena eine Hohe Schule ins Leben gerufen. Der Weg bis zur Gründung war aber keineswegs geradlinig verlaufen, denn der alte Kurfürst tat sich anfangs schwer mit der Gründung einer neuen Lehranstalt. In einem Brief an den Kanzler Jobst von Hayn († 1550) vom 21. August 1547 gab er zu verstehen: »Das wir aber auch ein groß[e] schuel ufrichten und in allen kunsten legenten undterhalt[en] sollten, das will aus denen ursach[en] unser schulden und a[us] ungelegenheit halben ain unmuglich[es] werk sein«.7 Einen Monat später sprach er schon von der »anrichtung einer cleinen schulen« in Jena.8 Mobilisierend wirkte das Bedürfnis Johann Friedrichs I., seine weitbekannten Juristen, auf die er durch den Verlust der Wittenberger Universität nicht mehr zurückgreifen konnte, wieder in Hofnähe zu ziehen.9 Er benötigte sie als Berater in den langwierigen Liquidationsverhandlungen mit der albertinischen Linie des Hauses Wettin, die die Übertragung der Kurwürde mitsamt dem Kurkreis an die Albertiner zum Gegenstand hatten.10 Dies blieb nicht der einzige Grund und ebenso wenig der oft in der Literatur herangezogene Umstand, wonach die Ausbildung neuer Beamter notwendig geworden sei. Denn eine universitäre Neugründung war ein komplexer Vorgang und ein großes Unterfangen. Seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gehörten die nun landesherrlich 6 Vgl. Held, Schlacht bei Mühlberg. 7 LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. L fol. 510–525 G 2, Bl. 59r –60v ; Abdruck bei Blaha, Dokumente, 117f. 8 LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. K fol. 29–32 EE 15, Bl. 3v –4r ; Abdruck bei Blaha, Dokumente, 126f. 9 Vgl. Bauer, Von der Gründung, 31−88, bes. 60; zu den gesamten Bemühungen um die Wittenberger Gelehrten vgl. ebd., 38f, 62f. 10 Zu den unmittelbaren Folgen der Niederlage vgl. Held, Schlacht bei Mühlberg, 100–113.
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initiierten Universitätsgründungen zur vordringlichen Machtdemonstration im Prozess der Territorialisierung. Damit verbunden war seit der Goldenen Bulle (1356) ein verstärkter Landesausbau in den Territorien des Reichs, der sich auf alle gesellschaftlichen Gebiete niederschlug und den Weg zu moderner Staatlichkeit ebnete.11 Der Historiker Ernst Schubert (1941–2006) betonte zudem, dass die Universitätsgründungen seit dieser Zeit als ein »frommes Werk« im Sinne der Kirchenreform galten und zu einem »Bildungsaufbruch« führten.12 Sein Kollege Peter Baumgart (geb. 1931) erweiterte die Perspektive und sah im folgenden Konfessionalismus eine die Universitätslandschaft dynamisch verändernde Kraft. Die Landesherren hätten ihre konfessionellen Herrschaftsansprüche durch die Universitäten theologisch zu begründen und über die Pfarrerausbildung, Zensur und Gerichtsbarkeit durchzusetzen gesucht, ohne dass der traditionelle Lehrkanon und das Wissenschaftsverständnis der mittelalterlichen Universität samt den humanistischen Überformungen gravierend verändert worden seien.13 Den besiegten Ernestinern fehlte freilich für all das die materielle Basis. Doch waren ihr Anspruch und ihre Zuversicht kaum gebrochen und eine Krisenbewältigung oberstes Ziel. Mit der Gründung der Hohen Schule versuchten sie in Jena ein neues geistiges Zentrum zu etablieren und damit den Anspruch auf das wahre Luthertum gegenüber den Albertinern geltend zu machen. Dafür waren auch die Theologen gefragt. Seit September 1547 setzte sich unter den Ernestinern und ihren Räten ein Kurs durch, der schließlich zur erfolgreichen Gründung der Hohen Schule führte.14 Der Eröffnungstag, der 19. März 1548, fiel in die Passionszeit. Das Datum wurde als Montag nach Judika, dem (5.) Sonntag in der engeren Fastenzeit, dem Sonntag vom Leiden des Herrn (»Richte mich«) bewusst gewählt. Denn es ist die Zeit, in der das Opfer Jesu am Kreuz für die Gläubigen zentrale Bedeutung erhält. Die darauffolgenden Wochentage werden im evangelisch-lutherischen Verständnis meist mit Passionsandachten begangen. Beide Gründungsprofessoren begannen sofort nach der Eröffnung mit den Vorlesungen. Der vormals auch in Wittenberg lehrende und mit nach Jena gewechselte Theologe Victorin Strigel (1524–1569) las programmatisch die Leidensgeschichte und einen Teil des Römerbriefes. Sein Kollege Stigel thematisierte Ciceros Bücher über die Redner.15
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Vgl. Moraw, Verfassung. Schubert, Zusammenfassung, 256. Vgl. Baumgart, Universitäten im Zeichen, 147–168 sowie Petry, Reformation, 317–353. Vgl. Bauer, Von der Gründung, 60–71. Vgl. Schwarz, Jahrzehnd, 27, 126–131.
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Zudem unterstreicht ein weiteres wichtiges, mit der Gründung der Hohen Schule verbundenes Datum, wie überlegt die Gründungsereignisse aus lutherischer Sicht inszeniert wurden. Das für den sozialen Organismus Universität so wichtige Konviktorium (Communität), ursprünglich bestehend aus vier Tischen für »arme Gesellen« und einen Oekonomen, wurde vom Weimarer Kanzler Jobst von Hayn am 20. Mai 1548 – zu Pfingsten also – feierlich eröffnet.16 Damit fand die Grundlegung der Jenaer Hohen Schule im Rahmen des Osterzyklus einen würdigen Abschluss. Denn der christlichen Überlieferung folgend, empfingen die Jünger Jesu am 50. Tag nach Ostern die Gabe des Heiligen Geistes (Apg 2,1–41) und die christliche Gemeinde nahm ihren Anfang. Es ist somit die Geburtsstunde der Kirche. Sie bzw. die christliche Gemeinde übernimmt fortan Eigenverantwortung. Im lutherischen Verständnis vollendet sich die Offenbarung Gottes in Vater, Sohn und Heiligem Geist. Diese Gründungsoption musste der Hohen Schule, aus der Sicht der Zeitgenossen, eine glänzende Perspektive eröffnen. Zur Eröffnung der Hohen Schule hielten die Professoren Stigel und Strigel im Paulinerkloster ihre Laudationes. Sie gaben der neuen akademischen Gemeinschaft für das sich nun ausformende Selbstverständnis wichtige Grundlagen mit auf den Weg.17 Der Poet Stigel, dessen Rede über den Nutzen des Studiums der Beredsamkeit handelte, ging von einer, seiner Meinung nach allen Anwesenden vor Augen stehenden, kollektiv getragenen Gründungsintention aus, ohne diese jedoch auszuformulieren. Zugleich suchte er Anknüpfungspunkte für kollektive Gedächtnisleistungen zu schaffen. So würdigte Stigel jene Wohltaten, die die wettinische Linie für das Reich und Europa vollbracht habe. Das »Sachsenhaus« bewahre vor allem das »Lob« der Gerechtigkeit, Tapferkeit und Frömmigkeit schon über Generationen hinweg.18 Dieses Verdienst sei in das Andenken und Bewusstsein aller Völker und Gutgesinnten eingegangen und werde überall öffentlich gerühmt. Daran könnten weder Neid noch Gewalt etwas ändern. Der Poet griff aus der Genealogie des »Sachsenhauses« drei Fürsten heraus, deren Lebensleistungen seinen Zeitgenossen die Bedeutung der ernestinischen Linie besonders erinnerungswürdig erscheinen lassen mussten und die zugleich eine Verknüpfung mit der Gründung der Salana ermöglichten. Kurfürst Friedrich zeichnete sich demnach vor allem durch Weisheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit aus und erhielt deshalb auch den Beinamen der Weise. Sein Bruder Johann (1468–1532) habe, so der Redner, die brüderlichen Tugenden nie vernachlässigt 16 Vgl. ebd., 32f. Es handelt sich nicht um »Kanzler von Hagen«, sondern um Jobst »von Hayn«! Vgl. UAJ, A 17, Bl. 13r –14v . 17 Zur Eröffnung und den Reden vgl. Schwarz, Jahrzehnd, 27f, 125–131; Schmid, Einweihung, 8–24. 18 Schmid, Einweihung, 17f.
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und vor allem Gottseligkeit und Frömmigkeit eingebracht. Deshalb nenne man ihn den Frommen. Soweit die Ausführungen Stigels. Mit diesem rhetorischen Brückenschlag wurden die in seiner Laudatio eingangs dem Hause Sachsen pauschal zugesprochenen traditionellen Tugenden (Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Tapferkeit) für die Festgemeinde konkret vermittelbar und in die aktuellen Zeitereignisse eingebunden. Friedrich der Weise und Johann der Fromme (Beständige) hatten sich demnach durch ihre proreformatorischen Leistungen bleibende Verdienste erworben. Mit ihrer Person verbanden sich nun alle Erinnerungen an den reformatorischen Aufbruch. Diese Grundüberzeugungen gingen in den Neuanfang der Jenaer Salana identitätsstiftend ein. Es wurde eine untrennbare Verflechtung der Ernestiner mit der Hohen Schule als Ort und Garant des wahren Glaubens im Luthertum konstruiert. In Stigels Konstruktion sollte aber alles auf den Stifter der Salana zulaufen. Johann Friedrich I., so der Redner, müsse erst noch ein Beiname zugedacht werden. Das hielt Stigel nicht davon ab, die für eine kollektive Erinnerung wesentlichen Eigenschaften des Fürsten herauszustellen. Johann Friedrich, das »Licht und Auge des Nordens«19 , sei immer ein guter Fürst und Vater gewesen. Sein Schutz und seine Frömmigkeit hätten das Reich Christi in einer vom Untergang bedrohten Welt bereichert. Ihn, den Kurfürsten, erwarte man mit Sehnsucht aus der Gefangenschaft zurück, denn er sei zum Hirten der Völker auserwählt. Natürlich hatte sich auch Johann Friedrich I. um die Reformation verdient gemacht.20 Doch auch der militärische wie politische Untergang des Schmalkaldischen Bundes, in dessen Folge das Evangelium den Protestanten mehr denn je als bedroht erschien, wurde mit ihm in Verbindung gebracht. Während sein Onkel wie auch sein Vater nach ihrer erbrachten Lebensleistung als der Weise und der Fromme der kollektiven Erinnerung übereignet wurden, schien die Mission des Nachkommen noch unerfüllt. Auf der Folie einer vom Untergang bedrohten Welt blieb dem namenlosen, in Gefangenschaft und Erniedrigung verharrenden Glaubenskämpfer noch eine Aufgabe: Er musste bald zurückkehren und als Hirte das Volk Gottes auf dem steinigen Weg einer lutherisch-protestantischen Erneuerung zur Erlösung führen. Den dafür erforderlichen Großmut, so kann man schließen, galt es aber noch unter Beweis zu stellen. Schon im 17. Jahrhundert war die Überformung bzw. Weiterführung dieser Gedächtniskonstruktion, gefördert vor allem durch die ernestinischen Erben in Weimar und Gotha, vollzogen und Johann Friedrich fand als konfes-
19 Ebd., 18. 20 Vgl. Mentz, Johann Friedrich der Großmütige, pass.; Bünz, Glaube und Macht, pass.
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sionell standhafter Verteidiger seinen dauerhaften Platz als der Großmütige in der Erinnerung.21 Beim Symbol des Hirten, das Stigel ausgewählt hatte, handelt es sich um ein zentrales, wie die Überlieferungen im Alten und Neuen Testament belegen.22 Es ist in der christlichen Ikonographie des 16. Jahrhunderts allgegenwärtig. Bestand und Wachstum der Herde liegen in der Verantwortung des Hirten. Ihm obliegen Zucht, Pflege, Zählung, Beschaffung von Weidegrund und Wasser sowie der Schutz vor Raub und wilden Tieren. Für eingetretene Schäden ist der Hirte verantwortlich. Im Neuen Testament waren die Zeugen der Weihnachtsgeschichte Hirten23 und das Bild des Hirten mit seiner Herde taucht schließlich in den biblischen Überlieferungen an jenen Stellen auf, wo vom König und den Führern des Volkes24 bzw. von den Führern der Gemeinde25 die Rede ist. Zu David, der selbst Hirte war26 , kamen die Stämme Israels. Denn er hatte von Gott den Auftrag erhalten, das Volk Israels zu hüten und als Oberhaupt zu führen.27 Doch boten die prophetischen Bücher des Alten Testaments noch andere Weissagungen, die ebenso auf Johann Friedrich bezogen werden konnten. So berichtet der Prophet Hesekiel davon, dass Gott die sich selbst weidenden und dabei die Herde vernachlässigenden Hirten Israels strafen wollte und das Volk Israels fortan unter seinen Schutz stellte. Dazu habe er seinen Knecht David erweckt, der das Amt des Hirten und Fürsten über Israel ausüben sollte.28 Manchem Zeitgenossen erschien auch Johann Friedrich I. als der von Gott erwählte Hoffnungsträger. Trotz aller Bemühungen, so resümierte schließlich Stigel, könne er weder die vergangenen noch die gegenwärtigen Verdienste der Ernestiner ausreichend würdigen. Es blieben lediglich ein dankbares Herz und die Verwahrung im Gedächtnis. Damit kam er wieder auf die Gegenwart und auf die Gründung der Hohen Schule zurück. Denn durch die allen Zeitgenossen gegenwärtige Gründungstat werde den aus der Verbannung zurückgekehrten Musen eine neue Herberge eröffnet.29 Anderthalb Jahrhunderte später war Johann Friedrichs Gründungstat bereits Legende. In einer 1699 anlässlich der Erbhuldigung für Herzog Johann Wil-
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Vgl. Klinger, Kurfürst. Vgl. Schlatter, Calwer Bibellexikon, 528f. Vgl. Lk 2,8. Vgl. 2Sam 5,2; 7,7f; Jer 2,8; 3,15; 25,34–36; Hes 34,2–23. Vgl. Joh 21,15–17; Eph 4,11. Vgl. 1Sam 16,11. Vgl. 2Sam 5,1f. Vgl. Hes 34,1–23. Vgl. Schmid, Einweihung, 18.
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helm von Sachsen (1530–1573) dargebrachten »Abend-Music […] von denen sämtlichen Academicis« hieß es: Jan-Friedrich hat der Cronen Pracht Vor Gottes Stuele längst empfangen/ Der zu dem Musen-Bau den ersten Riß gemacht/ Dem dessen Folger nachgegangen/ Vor diese reiche ich in jener Märter-Schaar Dem hochgelobten Gott viel tausend Opfer dar.30
Der andere Redner von 1548, der Theologe Strigel, würdigte in seiner Laudatio ebenso die Verdienste der sächsischen Fürsten um Kirche und Schule, vor allem die der letzten beiden Generationen.31 Der Neugründung wolle er durch seine Vorlesungen über die Leidensgeschichte Jesu und den Römerbrief Rechnung tragen. In ihnen sei der Grund christlicher Lehre am deutlichsten enthalten und die gesamte Kirche habe die Schriften hochgeschätzt. Der Theologe war der festen Überzeugung, dass Christus versprochen habe, die öffentlichen Gebete zu erhören. Unter Rückgriff auf Mt 18,20 (»Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen«) hob er den Gründungsakt in seiner Bedeutung für die Entwicklung der christlichen Kirche noch einmal hervor. Fürbitte sollte vor allem um einen erfolgreichen Anfang der Schule, um die Rückkehr des Fürsten und um die Erleuchtung seiner Söhne geleistet werden, die ihre Regierungsgeschäfte erfüllen und das Evangelium erhalten müssten. Dazu gehöre auch der Schutz der bedrängten Schulen und Kirchen, die gegenwärtig im Ernestinischen eine Aufnahme fänden.32 Strigel dankte nach seinem Gebet all jenen, die die Neugründung in Jena ermöglicht hatten: den Ernestinern, Bischof Nikolaus Amsdorf (1483–1565), den geheimen Räten und den Pfarrern sowie Vorstehern der Stadt Jena. »Sarepta« sei nun den Pflegern der Kirche, den erlauchten Fürsten anempfohlen.33 2.
Die Stadtkirche St. Michael – ein lutherischer Gedächtnisort
In den ersten Jahrzehnten nach Gründung der Jenaer Universität stand die Kollegienkirche als »templum Academicum Jenense« nicht zur Verfügung. Feierlichkeiten und Gottesdienste wurden in der Stadtkirche und im Rahmen der Stadtgemeinde begangen. Die akademische Erinnerungsgemeinschaft hatte sich räumlich noch nicht von der städtischen getrennt. Dies geschah erst mit dem Umbau und der (Wieder-)Eröffnung der Kollegienkirche als sakralem 30 Huldigungs-Pflicht, 1699. 31 Vgl. die Edition von Victorin Strigel, Oratio in qua exponuntur, 1548; Schmid, Einweihung, 21–24, Schwarz, Jahrzehnd, 125–131. 32 Vgl. Schmid, Einweihung, 21f. 33 Vgl. ebd., 23f.
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Raum zwischen 1592 und 1595.34 Die Stadtkirche stieg nach 1548 für längere Zeit zur Memorialstätte für herausragende Vertreter der Gründergeneration auf.35 Hier befand sich auch der erste Ort des akademischen Totengedenkens. In der Kirche waren die großen Epitaphe und Grabplatten für die ersten Professoren, die aus Wittenberg nach Jena übergesiedelt waren, zu sehen36 , auch die Grabplatte des Reformationskanzlers Gregor Brück (1483/84–1557). Die zweifellos größte »Reliquie« war aber die Grabplatte Luthers. Sie wurde im Auftrag Johann Friedrichs I. bei einem Erfurter Glockengießer in Arbeit gegeben, der zunächst ein nach einem Cranachbild (1548) gestaltetes Holzmodell von einem Holzschnitzer fertigen ließ. Nach Anweisung Johann Friedrichs I. wurde die Grabplatte seit 1549 in Weimar deponiert.37 1571 übergab sie Herzog Johann Wilhelm der Universität Jena zur Verwahrung. Ursprünglich sollte sie in der zu dieser Zeit als Studentenburse genutzten Kollegienkirche aufgestellt werden, wie eine Rechnung über »D. Martin Luthers bildnuß und deßselben halben angestellten bau in der Kirchen des Collegii, und vor fertigung eines gegitters darüber, Ao. 1571« ausweist.38 Ihren Platz fand sie jedoch stattdessen in der Michaeliskirche in Jena, eingefasst in einem epitaphartigen Rahmen im Renaissancestil.39 Über der Platte (Giebelarchitrav), die Luther in Lebensgröße abbildet, wurde im Auftrag Johann Wilhelms, als dem Sinn-Stifter, eine erläuternde Inschrift angebracht. Er habe diese Erinnerungstafel nicht aufgestellt, um den Reformator anbeten zu lassen, sondern zum Gedächtnis. Unter dieser Inschrift folgt ein Luther zugeschriebener Vers: »Eine Krankheit war ich als Lebender; im Sterben werde ich dein Tod sein, Papst.«40 Auf der Grabplatte selbst wird Luthers Bildnis durch 34 Vgl. Schreiber/Färber, Jena, 91; Weimarische Landtagsverhandlungen, 1818/1819, V. Heft, 373. 35 Die umfassendste Überlieferung über die Leichensteine und Epitaphe bei Koch, Architectus Jenensis, 269–274 bzw. in seinem handschriftlichen Nachlass vgl. Beier, Athenae Salanae; Hallof/Hallof, Inschriften, XLIIff.; Hallof, Untersuchungen, 7–9; Wahl, Collegium Jenense, 641–661. 36 Vgl. Bauer, Mythos, 112−130. 37 Vgl. Briefwechsel Johann Friedrich I. zu Luthers Grab und der Grabplatte vgl. u. a. LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. L pag. 231–239 C1 Bl. 75r , C2 Bl. 24v , 28r –28v , 38r , 41r ; Reg. K fol. 373 Nr. 9 Bl. 52. 38 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. S fol. 122a Nr. 4; Wahl, Collegium Jenense, 647. 39 Vgl. zusammenfassend Koch, Luther, 22–24; Möbius, Stadtkirche, 107−117; Slenczka, Lebensgroß; zum Erfurter Holzrelief vgl. Schoder, Pflege, 207f; zur Inschrift vgl. Hallof/Hallof, Inschriften, 41 Nr. 61, 67 Nr. 87; Bauer, Reformation in Jena, 6−10; Slenczka, Bemalte Bronze hinter Glas?; Möbius, Stadtkirche, 111−113. 40 »PESTIS ERAM VIVUS, MORIENS ERO MORS TUA PAPA.« Übersetzung von Manfred Simon, Bronze-Epitaph. Eine Abbildung des Ensembles ist in der ersten Ausgabe der Weimarer Kurfürstenbibel »Biblia, Das ist: Die gantze H. Schrifft […] Im Jahr Christi/M DC.XXXI
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eine Umschrift eingefasst, die der historischen Situation nach Luthers Tod 1546 Rechnung trägt.41 Im Zentrum steht die Nachricht von Luthers Tod in Eisleben am 18. Februar 1546. Der Reformator habe bis an sein Lebensende aufrecht bezeugend an seiner Lehre festgehalten und der Kirche Gottes in dieser Stadt, gemeint war Wittenberg, mehr als 30 Jahre lang gedient.42 Wie ein Sockel, auf dem die Grabplatte zu ruhen scheint, wirkt eine weitere Schrifttafel. Sie beinhaltet würdigende Verse von Hieronymus Osius (um 1530–1575/76) und ist offensichtlich erst nach Herzog Johann Wilhelms Verfügung (1571) entstanden, wie aus dem Text zu schlussfolgern ist. So, wie der Herzog seinen Stiftungsauftrag über der Grabplatte Luthers verewigt wissen wollte, scheint auch die Gemeinde mit der Dichtung ihres Professors Hieronymus Osius das aus ihrer Perspektive Erinnerungswürdige unter dem Relief ins Bewusstsein gerufen zu haben. Dem Betrachter wird eingangs offeriert, weshalb das Kunstwerk nicht seiner Zweckbestimmung nach Luthers Grab in Wittenberg bedecke. Die unsicheren Zeiten, die damals alle Dinge in Aufruhr versetzt und das Vaterland zerrissen hätten, seien der Hinderungsgrund gewesen. Herzog Johann Wilhelm habe deshalb geboten, das Kunstwerk der Kirche und der Stadt Jena zu weihen. Dieser Rahmenhandlung folgt eine Deutung dessen, was sich im Erinnerungsort bewahren sollte. Die Aufstellung sei nicht geschehen, damit eitler Glaube durch diese Zweckentfremdung gefeiert werde, sondern zur Erinnerung an Luther. Seine Züge sollen selbst daran gemahnen, dass unter seiner Führung den Deutschen der Betrug offenbart wurde, mit welchem die Christenheit durch das ruchlose Rom unterdrückt worden sei. Davon abgesetzt schlug Osius schließlich einen Bogen zur Universität, die damit in eine Tradition eingebunden wurde. Der aus edlem Geschlecht stammende Johann Friedrich I., der als einer der »sieben Männer« (Kurfürsten) die kaiserlichen Ehren des Lateinischen Reiches trug, habe am schönen Saalestrand eine Schule gegründet. Sie sollte eine strenge Beschützerin der heiligen Lehre sein und mit gelehrten Worten die aufgeblasenen Sophisten zerstreuen und es nicht zulassen, dass falsche Lehren den wahren Glauben unterdrückten.43 Wie schon im Stigel-Epigramm am westlichen Treppenturm der Kollegienkirche folgt abschließend ein gleichsam aus der Erfahrung der Vergangenheit und Gegenwart gespeister und in die Zukunft sich richtender Wunsch, der nun Nürnberg […] abgedruckt.« Vgl. auch Jahn, Kurfürstenbibel, 25; Hallof/Hallof, Inschriften, 41 Nr. 61 (Grabplatte), 67 Nr. 87 (Umrahmung und Epigramm des Osius), vgl. auch Koch, Luther, 23f; Bau- und Kunst-Denkmäler Thüringens, Bd. 2, 98f; Möbius, Stadtkirche, 107−116. Zur Überlieferungssituation im 17. Jh. vgl. Koch, Architectus Jenensis, 274f. 41 Vgl. Hallof/Hallof, Inschriften, 41 Nr. 61; Möbius, Stadtkirche, 107−111. Zu Luthers Tod und den Überlieferungen vgl. Bauer, Luther; Kohnle, Luthers Tod. 42 Zur ausführlichen Interpretation vgl. Möbius, Stadtkirche, 107−111. 43 Vgl. Hallof/Hallof, Inschriften, 67 Nr. 87.
Reformationsgedächtnis, Universitätsgründung und Krisenmanagement
aber der Situation um 1570 angepasst erscheint. Da die kranke Zeit bald den Weltuntergang bringe, wuchere gegenwärtig des Irrtums Saat in Form zahlreicher Irrlehren. Christus möge deshalb die Gemeinde bei seinem geheiligten Wort halten, so dass es noch Menschen gebe, die ihn in wahrer Frömmigkeit verehrten.44 Aus der Perspektive der sich über Ausgleichsverhandlungen langsam wieder annähernden übergreifenden Erinnerungsgemeinschaft lutherischer Protestanten wurde der Sinn, den Luthers Grabplatte erfüllen sollte, durch seine Grabstätte in Wittenberg vorgegeben. Es war offensichtlich schon für die Zeitgenossen Anfang der 1570er-Jahre erklärungsbedürftig, warum sie in Jena auf eine Grabplatte Luthers stießen, die es als die echte auszuweisen galt, ohne dass ein Grab als dazugehöriger Ort des Totengedenkens existierte. Genau an dieser Stelle waren die erläuternden Beigaben des Herzogs und der Gemeinde notwendig. Sie gaben den Sinn vor. Der Grund für die Überführung nach Jena lag demzufolge in nicht näher zu benennenden bzw. im Sinne historiographischer Darstellung auszudifferenzierenden Umständen. Es ging um mythische Perspektiven, nicht um konkrete Gegenwartsbezogenheit. Darauf aufbauend wurden der Erinnerungsort und Erinnerungszweck definiert: keine Reliquienverehrung, sondern andächtiges Gedenken an den großen Reformator und Bekenner des wahren Glaubens. Jenas Verdienst und seine besondere Bedeutung im Vergleich zu anderen Gedächtnisorten und vor allem zu Wittenberg wurden von nun an durch die Hohe Schule bzw. Universität bestimmt. Die Botschaft war offensichtlich: Johann Friedrichs Gründungstat galt als der eigentliche Garant dafür, dass Luthers Vermächtnis für die Gegenwart und Zukunft unverfälscht erhalten blieb. Damit erschließt sich auch der Zusammenhang von Universitätsgründung, Krisenmanagement und Reformationsgedächtnis. 3.
Arbeit am Mythos – ein kurzes Fazit
Ab dem 19. Jahrhundert wurde der Gründungsmythos durch einen zweiten ergänzt. Jetzt erfolgt die Vermittlung zweier zentraler Perspektiven. Dem Stiftungsmythos vom wahren Luthertum in Jena wird im Zeitalter anbrechen44 Vgl. ebd. Hallofs Interpretation, die Steinmetz, Geschichte der Universität Jena, Bd. 1, 42–45 folgt, wonach der im Gedicht angeschlagene sehr scharfe Ton vor allem die gnesiolutherischen Positionen des seit 1567 allein regierenden Johann Wilhelm I. widerspiegelten, scheint zu kurzschlüssig. Das wird auch nicht durch den Hinweis auf den besonders in den Jahren 1569–1573 erfolgten Ausbau Jenas gegen Wittenberg als ein Zentrum lutherischer Orthodoxie ausreichend plausibel. Die Zusammenhänge sind wesentlich komplexer und auf reichspolitischem Hintergrund zu interpretieren. Dazu vgl. Gehrt, Konfessionspolitik, 287–435; vgl. auch Möbius, Stadtkirche, 113−116.
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der Nationalstaatsbildung der Mythos vom »nationalen« Jena zu Seite gestellt. Dieser nimmt die Gedächtniskonstruktion auf.45 Beide korrespondieren eng miteinander, denn bereits der Mythos vom wahren Luthertum und die damit verbundene Freiheits-Metapher der Reformation zielen auf nationale Wirkung und erhalten im »nationalen« Aufbruch nach 1813 eine Erweiterung und Überformung. Die Botschaft wird offensichtlich in der Beschreibung des Jenaer Professors und Bibliothekars Georg Gottlieb Güldenapfel (1776–1826) aus dem Jahre 1816: Die Akademie Jena blühte auf mit der Morgenröthe der Aufklärung in Deutschland. Was Luther und die übrigen Helden der Reformation mit Kraft und Muth errungen, das ward ihrer sorgsamen Pflege anvertraut, das hat sie, als würdige Tochter des Protestantismus, treu bewahrt. Sie ward gestiftet, die Reinheit der Religion zu erhalten, Aufklärung zu befördern, Wahrheit zu verbreiten […]. So konnte Jena sich bis auf die neuesten Zeiten rühmen, die Pflanzschule für deutsche Akademien, der Zufluchtsort des freyen Forschungsgeistes, die Mutter wahrer Aufklärung und Geistescultur zu seyn.46
Festzuhalten bleibt, dass beide Mythen bis heute zentrale Bestandteile des korporativen Erinnerungsschatzes der Jenaer Universität sind. Der Gründungsmythos brachte nicht nur Rückhalt und Zuversicht zur Zeit der Stiftung der Hohen Schule/Universität, die durch die Ernestiner auf dem Tiefpunkt ihrer Macht erfolgte und als Mittel der Krisenbewältigung praktiziert wurde. Auch nachfolgende Generationen konnten auf diesem Fundament ihr Selbstverständnis entfalten. Der ab dem frühen 19. Jahrhundert hervortretende »nationale« Mythos verdrängt den Gründungsmythos nicht, sondern greift ihn auf, ergänzt ihn und bietet damit ein neues Fundament für die Erinnerungskultur. Beide Mythen lieferten wesentliche Alleinstellungsmerkmale der Salana, die ihren Fortbestand über die Jahrhunderte sicherten. Ihre An- und Aufnahme und schließlich ihre Propagierung durch die Mitglieder der Korporation bilden ein grundlegendes Element des korporativen Selbstverständnisses bis in die Gegenwart. Sie sind aber zugleich auch ein Teil des kulturellen Gedächtnisses der Erinnerungsgemeinschaft der lutherischen Protestanten und darüber hinaus auch der Deutschen geworden.
45 Bauer, Universitätsgeschichte und Mythos, 361–436. 46 Güldenapfel, Literarisches Museum, 56f, 66.
Reformationsgedächtnis, Universitätsgründung und Krisenmanagement
Literatur Quellen Beier, Adrian, Athenae Salanae, UB Jena HSA, Ms. Prov. q. 15. Güldenapfel, D. Georg Gottlieb (Hg.), Literarisches Museum für die Grossherzogl.[ich] Herzogl.[lichen] Sächsischen Lande, Jena 1816. Huldigungspflicht Der Jenaischen Musen Als der Durchlauchtigste Fürst und Herr Herr Johann Wilhelm zu Sachsen […] Die Erb-Huldigung empfinge […] Jena [1699]. Stigel, Johann, Oratio de Utilitate Studiorum eloquentiae habita à M. Ioanne Stigelio in Academia Ienensis. [1548] Abgedruckt in: Selectarum Declamationum, Professorum Academiae Ienensis. Tomvs Primvs. Editvs A M. Iohanne Goniaeo Q. Argentoratense. I. C. Argentorati excudebat Blasius Fabricius Chemnicensis, M.D.LIIII, 1–21. Strigel, Victorin, Oratio in qua exponuntur graues causs[a]e, cur his miseris & luctuosis temporibus discendum sit, habita Ihenae à M. Victorino Strigelio Anno 1548. Mart. 19. Abgedruckt in: Selectarum Declamationum, Professorum Academiae Ienensis. Tomvs Primvs. Editvs A M. Iohanne Goniaeo Q. Argentoratense. I. C. Argentorati excudebat Blasius Fabricius Chemnicensis, M.D.LIIII, 22–36. Weimarische Landtags-Verhandlungen, Weimar u. a. 1818/1819, V. Heft. Forschungsliteratur Assmann, Aleida, Erinnerungsräume. Formen und Wandel des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Bauer, Joachim, Martin Luther. Seine letzte Reise, Rudolstadt 1996. –, Von der Gründung einer Hohen Schule in »elenden und betrübten Zeiten«, in: Ders./Dagmar Blaha/Helmut G. Walther (Hg.), Dokumente zur Frühgeschichte der Universität Jena 1548 bis 1558, Jena 2003, 31–88. –, Universitätsgeschichte und Mythos, Erinnerung, Selbstvergewisserung und Selbstverständnis Jenaer Akademiker 1548−1858, Stuttgart 2012. –, Reformation in Jena und im Saaletal, Jena 2016. Baumgart, Peter, Die deutschen Universitäten im Zeichen des Konfessionalismus, in: Alexander Patschovsky (Hg.), Die Universität in Alteuropa, Konstanz 1994, 147–168. Blaha, Dagmar, Dokumente zur Gründungsgeschichte der Hohen Schule in Jena, in: Joachim Bauer/Dies./Helmut G. Walther (Hg.), Dokumente zur Frühgeschichte der Universität Jena 1548 bis 1558, Jena 2003, 89–168.
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Caspar Sagittarius (1643–1694) als Historiograph der Reformation Mit Caspar Sagittarius begann, so schrieb Werner Mägdefrau (geb. 1931) in der zum 400. Gründungsjubiläum erschienenen Geschichte der Universität Jena, eine »neue Phase der Geschichtswissenschaft« an der Salana.1 Dieses Urteil bezog sich vor allem auf die entschiedene Zuwendung zur deutschen Geschichte. Besonders auf dem Gebiet der sächsisch-thüringischen Landesgeschichte hat Sagittarius sich große Verdienste erworben. Stark theologisch interessiert, widmete er aber auch der Kirchengeschichte ein besonderes Augenmerk. Nach Franz Xaver von Wegele (1823–1897) gehörte Sagittarius »zu den angeseheneren und verdienteren deutschen Geschichtforschern [sic!] seiner Zeit«.2 Seine literarische Produktivität war notorisch. So berichtete sein Schüler Johann Franz Buddeus (1667–1729), dass Sagittarius »von grosser Gelehrsamkeit und ungemeinen Fleiß war / daß er bißweilen von früh um 3 Uhr bis 12 Uhr aufm Mittag geschrieben, ohne die Feder abzulegen«.3 Wirklich hat Sagittarius rund 90 gedruckte und mehr als 30 im Manuskript überlieferte Schriften hinterlassen. Es erscheint daher lohnend, nach dem Beitrag von Sagittarius zur Reformationsgeschichtsschreibung zu fragen. 1.
Caspar Sagittarius – Leben und Werk
Caspar Sagittarius4 wurde 1643 in Lüneburg als Sohn des dortigen Gymnasialrektors gleichen Namens (Caspar Sagittarius sen., 1597–1667) geboren. Nach dem Besuch der Gymnasien in Lüneburg und Lübeck studierte er von 1661 bis 1667 an der Universität Helmstedt Politik, Geschichte und Theologie. Zu seinen Lehrern zählten Hermann Conring (1606–1681) und Georg Calixt (1586–1656). Von Helmstedt aus unternahm er Studienreisen nach Leipzig, 1 Mägdefrau, Aufstieg, 154. 2 Wegele, Sagittarius, 171. 3 [Buddeus], Eines vornehmen Theologi Warhafftige und Gründliche Historische Erzehlung, 61f. 4 Zur Biographie vgl. Sagittarius, Programma ad quo audiendam Orationem Valedictoriam, 58–66 (bis 1670); Schmidt, Commentarius de vita et scriptis Casparis Sagittarii; Art. Sagittarius, 581–589; Wegele, Sagittarius; Menk, Sagittarius, 351f; Heutger, Sagittarius, 1176f; Hiller, Geschichtswissenschaft; Mägdefrau, Aufstieg, 153–156.
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Wittenberg und Jena, aber auch nach Altdorf und bis nach Kopenhagen, wo er sich bedeutenden Gelehrten vorstellte. 1668 kam er auf Vermittlung seines Vetters, des Altenburger Generalsuperintendenten Johann Christfried Sagittarius (1617–1689),5 der als Herausgeber der Altenburger Lutherausgabe bekannt wurde, nach Thüringen. Bis 1671 amtierte er hier als Rektor der Stadtschule von Saalfeld, um dann an der Universität Jena eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Unter dem Vorsitz des Geschichtsprofessors Johann Andreas Bose (1626–1674)6 erwarb er den philosophischen Magistergrad und trieb anschließend überwiegend theologische Studien. 1674 starb Bose, und Sagittarius erhielt dessen Professur. Damit begann seine zwanzigjährige Lehrtätigkeit als Historiker an der Philosophischen Fakultät. Eidlich hatte er sich verpflichten müssen, auf ein späteres Aufrücken in die Theologische Fakultät zu verzichten.7 Immerhin erwarb er am 14. Mai 1678 mit einer Disputation über die Märtyrer der Alten Kirche den theologischen Doktorgrad. Am selben Tag vermählte er sich mit der Witwe seines Amtsvorgängers Anna Barbara Bose (1635–1685), geborene Kummer; die Ehe – für seine acht Jahre ältere Gemahlin war es bereits die dritte – blieb kinderlos. Sagittarius’ Amtszeit in Jena war von verschiedenen Streitigkeiten überschattet. Der ebenso streit- wie schreibfreudige Professor sah sich dadurch bald im Kollegenkreis isoliert. Vor allem sein Anspruch, als Doktor der Theologie bei protokollarischen Anlässen einen Platz unmittelbar hinter den theologischen Ordinarien, also noch vor den Professoren der höheren Fakultäten der Jurisprudenz und der Medizin, einzunehmen, war nicht geeignet, ihm Freunde zu machen; dass er nach zehnjährigen juristischen Auseinandersetzungen Recht bekam, machte die Sache nicht besser.8 Auch zu den Professoren der Theologischen Fakultät war das Verhältnis gespannt. Der Konflikt entzündete sich 1679 an der Absicht von Sagittarius, an der Theologischen Fakultät Vorlesungen zur Kirchengeschichte zu halten. Die Theologen erwirkten dagegen zunächst ein herzogliches Reskript, doch, unterstützt vom Prorektor und den drei anderen Fakultäten, konnte Sagittarius beim Weimarer Hof zum Winter 1682 eine Entscheidung zu seinen Gunsten erreichen. Das gleiche wiederholte sich in den Jahren 1690 bis 1694.9 Nicht ohne Auswirkungen auf sein Verhältnis zu den orthodoxen Theologieprofessoren blieb auch die Tatsache, dass Sagittarius sich als erster Jenaer Professor literarisch für den Pietismus einsetzte.10 Bereits 1677 5 Wagenmann, Sagittarius, 170f. 6 Zu diesem vgl. Mägdefrau, Aufstieg, 151–153. 7 Hiller, Geschichtswissenschaft, 18. 8 Ebd., 19. 9 Mägdefrau, Aufstieg, 155; Hiller, Geschichtswissenschaft, 23f. 10 Wallmann, Pietismus.
Caspar Sagittarius (1643–1694) als Historiograph der Reformation
hatte er den Kontakt zu Philipp Jacob Spener (1635–1705) gesucht, 1689 hatte er August Hermann Francke (1663–1727) kennengelernt und Freundschaft mit ihm geschlossen. Seit dem Sommer 1691 unterstützte Sagittarius den inzwischen in Erfurt tätigen Francke gegen seine dortigen Gegner. Seine Theses Theologicae de Pietismo Genuino (1691), die zugleich auch auf Deutsch unter dem Titel Theologische Lehr-Sätze von dem Rechtmässigen Pietismo erschienen, bildeten den Auftakt zu einem Streitschriftenwechsel mit mehreren orthodoxen Gegnern, darunter dem Querfurter Superintendenten Johann Schwartze (1637–1725), der erst mit Sagittarius’ Tod im Jahr 1694 ein Ende fand. Sagittarius stellte, wie eingangs erwähnt, statt der antiken die ältere deutsche Geschichte ins Zentrum seiner historischen Arbeit. Dabei widmete er sich einerseits als Schüler Hermann Conrings einer staatsrechtlich orientierten Reichsgeschichte. Sein bereits 1675 veröffentlichter Nucleus historiae Germanicae gilt als die erste Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte von den Anfängen bis zur eigenen Gegenwart.11 Andererseits machte sich Sagittarius auf dem Gebiet der Landes- und Stadtgeschichte einen Namen, wobei er teils zu Territorien und Städten seiner niedersächsischen Heimat, vor allem aber zu solchen des sächsisch-thüringischen Raumes arbeitete.12 Dafür wurde ihm 1688 der Titel eines sächsischen Hofhistoriographen (Historicus Saxonicus) verliehen, obwohl er, von einer kleinen Biographie des letzten ernestinischen Kurfürsten Johann Friedrich I. (1503–1554) abgesehen, kaum Beiträge zur Dynastiegeschichte der Ernestiner geleistet hatte. Im Zusammenhang seiner landesgeschichtlichen Forschungen unternahm Sagittarius immer wieder Reisen, auf denen er umfangreiche Bibliotheks- und Archivrecherchen anstellte, so besonders in Gotha und Wernigerode. Sein landesgeschichtliches Opus magnum war eine Gesamtdarstellung der Geschichte Thüringens, von der bei seinem Tode fünf Bände vorlagen, die bis ins 13. Jahrhundert reichten.13 Das kirchengeschichtliche Hauptwerk von Sagittarius ist die unvollendete Introductio in historiam ecclesiasticam et singulas ejus partes, mit deren Ausarbeitung er 1692 begann und an der er, durch einen Schlaganfall gelähmt, noch an seinem Todestag, dem 9. März 1694, arbeitete. Sein Freund, der Jenaer Philosophieprofessor Johann Andreas Schmidt (1652–1726), gab wenige Wochen später den ersten, mehr als 1.200 Seiten starken Band des Werkes heraus. Erst 1718 ließ Schmidt, seit 1695 Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Helmstedt, den aus dem Nachlass von ihm zusam-
11 Hiller, Geschichtswissenschaft, 29–33. 12 Ebd., 40−74. 13 Ebd., 53−62.
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mengestellten zweiten Band folgen; der geplante dritte Band erschien nicht mehr.14 Ich sichte im Folgenden das gedruckte historische Werk von Sagittarius unter dem Aspekt seiner Bedeutsamkeit für die Historiographie der Reformation. Außer Betracht bleiben dabei die praktischen Aspekte der gelehrten historiographischen Arbeit von Sagittarius, wie sie demnächst die Hamburger historische Dissertation von Jacob Schilling behandelt. Ebenfalls unberücksichtigt bleibt der Briefwechsel zwischen Sagittarius und Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692). 2.
Sagittarius als Kirchenhistoriker
Es ist wichtig, sich in unserem Zusammenhang den enzyklopädischen Ort der Kirchengeschichte an den deutschen Universitäten des späteren 17. Jahrhunderts zu vergegenwärtigen.15 Erst seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts war die Geschichte unter dem Einfluss des Humanismus zu einem Gegenstand des akademischen Studiums geworden, eigene historische Professuren gab es an deutschen Universitäten erst seit Anfang des 16. Jahrhunderts. Angesiedelt waren sie an der Philosophischen Fakultät, zumeist waren sie mit der Poetik, manchmal auch mit der Rhetorik oder der Ethik verbunden. An der Salana in Jena bestand seit der Universitätsgründung 1558 eine Geschichtsprofessur. Hatte die humanistische Geschichtswissenschaft sich vor allem dem Studium der antiken Geschichtsschreiber gewidmet, so etablierte sich unter dem Einfluss Melanchthons und seiner Schüler seit etwa 1560 eine erneuerte Universalgeschichte, die die gesamte Weltgeschichte in der Verbindung von politischen und religiös-kirchlichen Gesichtspunkten zum Gegenstand nahm. Im 17. Jahrhundert erlebte die Geschichtswissenschaft dann einen raschen Aufschwung und eine fortschreitende Differenzierung. Aus der alten Universalgeschichte entwickelte sich einerseits eine eigenständige, politisch und staatsrechtlich konturierte Reichs- und Staatengeschichte, die zur wichtigen Hilfswissenschaft der Jurisprudenz avancierte. Andererseits begann sich die Kirchengeschichte zu verselbständigen und aus der Philosophischen Fakultät auszuwandern, um auf Dauer an der Theologischen Fakultät ihren Ort zu finden. In Jena war dieser Prozess zu der Zeit von Sagittarius gerade im Gange. Die Verselbständigung der Kirchengeschichte hatte mit seinem Amtsvorgänger Johann Andreas Bose begonnen, der schon 1656 in seiner Antrittsvorlesung De Historia
14 Ebd., 75f. 15 Vgl. Scherer, Geschichte und Kirchengeschichte.
Caspar Sagittarius (1643–1694) als Historiograph der Reformation
Ecclesiastica Nostro Praesertim Tempore Diligentivs Colenda16 die Etablierung einer evangelischen Kirchengeschichtswissenschaft eingefordert hatte, die ein Gegengewicht gegen den übermächtigen Einfluss des katholischen Kirchengeschichtswerks von Caesar Baronius (1538–1607) schaffen und den immer zahlreicheren Konversionen zum Katholizismus entgegenwirken sollte. Bose hatte es den Universitätsverantwortlichen anheimgestellt zu entscheiden, an welcher Fakultät dies geschehen sollte, doch hielt auch er selber in späteren Jahren an der Philosophischen Fakultät kirchengeschichtliche Vorlesungen, aus denen sein Schediasma de comparanda notitia scriptorum ecclesiasticorum hervorging.17 Nicht zufällig hat Sagittarius beide Schriften Boses, die Antrittsvorlesung wie das Schediasma, später neu herausgegeben. Doch im Verfolg seiner eigenen kirchengeschichtlichen Interessen musste er bereits erleben, dass nunmehr die Theologische Fakultät dieses Fach für sich beanspruchte. Gegen die einschlägigen Ambitionen des Geschichtsprofessors Sagittarius verwiesen die Theologen auf den engen Zusammenhang der Kirchengeschichte mit der Kontroverstheologie, und seit 1682 hielt der als Nachfolger von Johannes Musaeus (1613–1681) berufene Theologieprofessor Valentin Veltheim (1645–1700) auch kirchengeschichtliche Kollegs.18 Die eigene Beschäftigung von Sagittarius mit im engeren Sinne kirchengeschichtlichen Themen war vor allem auf das ältere Christentum und auf die christliche Literaturgeschichte konzentriert. Zur ersten Richtung gehören seine Arbeiten zur Märtyrergeschichte19 und seine Untersuchung zu den Anfängen des Christentums und der kirchlichen Organisation in Thüringen.20 Literaturgeschichtlich orientiert war Sagittarius’ dreibändige Harmonia historiae passionis zur Geschichte der Darstellungen der Passion Jesu (1684). Dasselbe gilt für das kirchengeschichtliche Hauptwerk von Sagittarius, die Introductio in historiam ecclesiasticam et singulas ejus partes.21 In chronologischer und thematischer Anordnung stellte Sagittarius hier in beeindruckender Vollständigkeit die kirchengeschichtliche Literatur von der Apostelgeschichte bis ins 17. Jahrhundert vor, mit antiquarischen Notizen zur Biographie der Autoren und zu Entstehung und Anlage ihrer Werke, mit Nachrichten über die verschiedenen Ausgaben, Übersetzungen, Fortsetzungen und Gegenschriften und 16 Bose, Oratio Inavgvralis De Historia Ecclesiastica Nostro Praesertim Tempore Diligentivs Colenda. 17 Bose, Schediasma de comparanda notitia scriptorum ecclesiasticorum. 18 Mägdefrau, Aufstieg, 155. 19 Sagittarius, De martyrum cruciatibus in primitiva ecclesia; Ders., De martyrum natalitiis in primitiva ecclesia liber. 20 Sagittarius, Antiquitates Gentilismi et Christianismi Thuringici. 21 Sagittarius, Introductio. Vgl. Hiller, Geschichtswissenschaft, 75f.
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über die Aufnahme und Beurteilung der Werke. Dabei berücksichtigte er auch die universalgeschichtliche und reichsgeschichtliche Literatur. Unter den Gesamtdarstellungen der Kirchengeschichte waren den Magdeburger Zenturien und den Annales ecclesiastici des Baronius eigene Kapitel gewidmet.22 Die übrigen Gesamtdarstellungen der Kirchengeschichte aus nachreformatorischer Zeit behandelte er getrennt nach lutherischen, reformierten, katholischen und sozinianischen Autoren.23 Es schlossen sich Zusammenstellungen von Kirchengeschichtswerken zu einzelnen Ländern, Territorien und Städten sowie zu Spezialthemen wie der Kaiser-, Papst-, Ketzer- und Konziliengeschichte an. Der Ertrag der Introductio für die Reformationsgeschichte ist gering. Im Kapitel über die Magdeburger Zenturien24 teilt Sagittarius immerhin die Lebensgeschichten von Matthias Flacius (1520–1575), Johannes Wigand (1523–1587), Matthäus Judex (1528–1564) sowie weiteren Mitarbeitern – besonders ausführlich von Markus Wagner (um 1527–1597) – mit. Flacius tadelt er für seine heterodoxe Auffassung von der Erbsünde, meint aber, er hätte wegen seiner anderweitigen Verdienste eine glimpflichere Behandlung verdient gehabt; vielleicht sei dies aber auch die gerechte Vergeltung für seine eigene Schärfe gegenüber dem Irrweg Melanchthons gewesen. Sonst spielt die Reformationsgeschichte eine erstaunlich geringe Rolle. Wenig ertragreich in dieser Hinsicht sind auch die Kapitel über die Kontroversliteratur zum Papsttum; in einem eigenen Abschnitt über Literatur zur Frage, wo die wahre Kirche vor Luther gewesen sei, erwähnt Sagittarius wenigstens kurz den Catalogus testium veritatis des Flacius.25 3.
Sagittarius als Polemiker
Wie im Falle von Flacius und den Zenturiatoren diente die Kirchengeschichte auch zur Zeit von Sagittarius weithin noch der Kontroverstheologie und Konfessionspolemik als Arsenal. Auch Sagittarius selbst hat sich als Autor polemischer Literatur betätigt und dabei auch historisch argumentiert. Die Gegner, mit denen er sich auseinandersetzte, waren die Erfurter Jesuiten, namentlich die Brüder Marcus Schönmann (1614–1683)26 und Heinrich Schönmann. 1664 war Erfurt dauerhaft unter kurmainzische Herrschaft gekommen, und die Lage der Evangelischen in der Stadt drohte sich nicht zuletzt durch das Wirken der 22 23 24 25 26
Sagittarius, Introductio, Kap. 13 (240–282) bzw. Kap. 14 (282–323). Ebd., Kap. 15–18 (323–382). Ebd., Kap. 13 (240–282). Ebd.,783f. Geboren in Heiligenstadt/Oberfranken, gestorben in Erfurt als Professor der Universität Erfurt (Art. Schönman, Markus).
Caspar Sagittarius (1643–1694) als Historiograph der Reformation
Jesuiten zusehends zu verschlechtern. Seit 1677 schaltete sich Sagittarius mit mehreren kleineren und größeren Kontroversschriften in die dortigen Auseinandersetzungen ein. So gab er 1679 eine Predigt Jakob Heerbrands (1521–1600) von 1584 über das Fronleichnamsfest mit einer eigenen Vorrede neu heraus.27 Im selben Jahr veröffentlichte er eine ausführliche Widerlegung einer Streitschrift Marcus Schönmanns, die 1678 unter dem Titel Das Unüberwindtliche Catholische Zeug-Hauß in Erfurt gedruckt worden war. Die Entgegnung von Sagittarius trug den Titel Ausgeleertes und Entwehrtes Catholisches Zeughauß und sollte, wie der Untertitel verkündete, eine gründliche Vertheidigung der Lehre und Lebens des Sel. H[err]n D. Martini Lvtheri bieten. In der Widmungsvorrede an Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen (1613–1680) versprach Sagittarius: »Ich behaupte die Lehre des theuren Mannes Lutheri […]. Sein Leben befreye ich von allen falschen Aufflagen / und so viel an mir / wolte ich seine Gebeine […] von dem Jesuwidrigschen Ottern-Gezichte unbenaget wissen«.28 Trotzdem bleibt auch hier der reformationsgeschichtliche Ertrag überschaubar. Sagittarius stellt klar, dass Luther die Reformation auf Betreiben des Heiligen Geistes, von seinem Gewissen und der drängenden Not der Kirche bewegt und mit Zustimmung der weltlichen Obrigkeit begonnen habe (320) und nimmt ihn gegen die Schmähungen Schönmanns – Luther sei vom Teufel geleitet, meineidig, stolz, wankelmütig, ein unkeuscher entlaufener Mönch und ein Ketzer gewesen (49–51) – in Schutz. Der Kelchentzug, der erst im 11. Jahrhundert begonnen und sich erst mit dem Konzil von Konstanz durchgesetzt habe, sei weder die erste noch die einzige Ursache der Reformation gewesen, vielmehr sei es damals in erster Linie um Ablass und Rechtfertigung gegangen (270–278). Luther habe das Fasten nicht schlechthin abgeschafft, und er habe auch keine kanonischen biblischen Bücher verworfen, sondern nur apokryphe. Die von Schönmann beanstandete Bezeichnung »Protestierende« sei auf dem Zweiten Speyerer Reichstag aufgekommen (369–371). Bemerkenswert erscheint, dass Sagittarius gegen Schönmann daran festhält, dass es ein Luthertum vor Luther gegeben habe, dass er aber nicht mehr wie ehedem Flacius auf konkrete historische Wahrheitszeugen rekurriert, was angesichts der Erwähnung von Hus in Schönmanns Zeug-Hauß nahegelegen hätte. Vielmehr benennt er pauschal vier Kategorien von Gliedern der wahren Kirche, die es zu allen Zeiten gab: die unmündigen Kinder, die verborgenen wahren Christen, die öffentlichen Bekenner und die im Vertrauen auf das Verdienst Christi Verstorbenen (208–217). Zur letzten Kategorie zählt er übrigens keinen Geringeren als Kaiser Karl V., der, wie Sagittarius unter Berufung auf Jacques Auguste de Thou (Thuanus, 27 Sagittarius, Jacob Heerbrands Predigt von dem Papistischen Fronleichnams-Fest. 28 Sagittarius, Ausgelehrtes und entwehrtes Catholisches Zeughauß, Zuschrifft (unpaginiert). – Weitere Belege aus dieser Schrift in runden Klammern im fortlaufenden Text.
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1553–1617) mitteilt, in der fides specialis auf das Verdienst Christi gestorben sei und auf dem Totenbett den lutherischen Glauben gutgeheißen habe.29 Sehr viel stärker historisch angelegt war demgegenüber der 1680 von Sagittarius vorgelegte Kurze[r] historische[r] Bericht, was es mit der Professione Theologiae Augustanae Confessionis auff der Universität zu Erffurt eigendlich für eine Bewandnis hat.30 Angesichts von Versuchen der Jesuiten, die Zugehörigkeit des lutherischen Theologieprofessors zur Erfurter Universität in Zweifel zu ziehen, zeichnete er hier die Geschichte dieser Professur seit ihrer Einrichtung 1560 und dem ersten Inhaber Andreas Poach (1516–1585) bis auf den damaligen Amtsinhaber Nikolaus Stenger (1609–1680) nach und führte den Beweis für ihre rechtliche Absicherung durch den Westfälischen Frieden, den Kaiserlichen Restitutions-Rezess von 1650 und die kurfürstlich mainzische Versicherung über die freie Ausübung der lutherischen Religion von 1664. Der Ehrenrettung Luthers diente auch eine weitere antikatholische Streitschrift: die Dissertatio historica et apologetica pro doctrina Doct. Lutheri de missa, die Sagittarius 1685 in Jena veröffentlichte. Darin widmete er sich der Widerlegung einer Schrift des französischen Zisterzienserabtes Louis-Géraud de Cordemoy (1651–1722) mit dem Titel Récit de la conférence du diable avec Luther.31 Cordemoy hatte darin den berühmten Abschnitt über die Disputation mit dem Teufel aus Luthers Schrift Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe (1533)32 in der gekürzten lateinischen Übersetzung von Justus Jonas abgedruckt und in französischer Sprache polemisch kommentiert, um Luther als Teufelsbündner zu denunzieren. Sagittarius druckte Cordemoys Schrift in lateinischer Übersetzung abschnittsweise nach und rückte eigene Kommentare ein, in denen er historische Fehler – so etwa, dass Jonas der Hauslehrer von Luthers Kindern gewesen sei – und falsche Zitate berichtigte und im Übrigen vor allem Luthers Abendmahlslehre verteidigte. 4.
Die reichs- und landesgeschichtlichen Werke
Den Schwerpunkt der historischen Arbeit von Sagittarius bildete, wie erwähnt, die Landes- und Stadtgeschichte. Doch gebührt ihm auch das Verdienst, mit dem Nucleus historiae Germanicae (1675, ²1682) die erste Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte vorgelegt zu haben.33 In diesem seinem Lehrer Con29 30 31 32 33
Ebd., 349. Vgl. de Thou, Historiarum Sui Temporis Opera, 402f. Jena 1680. De Cordemoy, Récit de la conférence du diable avec Luther. WA 38, 197–205. Sagittarius, Nucleus Historiae Germanicae. – Belege aus der ersten Auflage im Folgenden in runden Klammern im laufenden Text.
Caspar Sagittarius (1643–1694) als Historiograph der Reformation
ring gewidmeten Übersichtswerk machte Sagittarius aus seiner protestantischen Positionierung kein Hehl. In der Darstellung der mittelalterlichen Reichsgeschichte legte er den Fokus auf die Auseinandersetzungen zwischen Papsttum und Kaisertum, wobei er den päpstlichen Machtanspruch klar zurückwies. Gegen die Vorstellung einer translatio imperii betonte er, Karl der Große (747/48–814) habe sein Kaisertum nicht vom Papst erhalten, sondern es allein durch seine militärischen Erfolge errungen (49). Auf gerade einmal sechs Seiten (172–177) beschrieb Sagittarius die Regierungszeit Karls V. (1500–1558). Dabei kam er erstaunlicherweise überhaupt nicht auf die Reformation zu sprechen; lediglich beiläufig erwähnte er die Befreiung von Johann Friedrich von Sachsen (1503–1554) und Philipp von Hessen (1504–1567) durch Moritz von Sachsen (1521–1553) als Grund für Karls Abdankung (177). Auch der Augsburger Religionsfriede kommt nur stichwortartig in einem Halbsatz vor (178). Demgegenüber nehmen in den landesgeschichtlichen Werken von Sagittarius Ereignisse und Personen der Reformationsgeschichte aus der Perspektive des jeweiligen Territoriums etwas mehr Raum ein. Doch ist die Darstellung fast durchweg knapp und chronikalisch und kann nicht als bedeutende historiographische Leistung gelten. Das zeigt sich beispielhaft etwa an der 1683 publizierten naumburgischen Bischofsgeschichte.34 Sagittarius verfolgt hier, gestützt auf die Naumburger Domakten, die Geschichtswerke von Friedrich Hortleder (1579−1640), Joachim Camerarius (1500−1574) und Lukas Osiander d.Ä. (1534−1604) und auf das Kirchenrechtswerk von Johannes Schilter (1595−1663), die Reihe der Bischöfe und Administratoren von der Gründung des Bistums Zeitz im Jahre 968 bis zum seinerzeitigen Administrator Herzog Moritz Wilhelm von Sachsen-Zeitz (1664−1718). Dabei berichtet er auf gerade einmal zwei Seiten in dürren Worten von der Bischofswahl Julius Pflugs (1499–1564) 1541, seiner Absetzung durch Kurfürst Johann Friedrich zugunsten von Nikolaus von Amsdorf (1483–1565) und seiner Wiedereinsetzung nach dem Schmalkaldischen Krieg,35 ohne darüber hinaus in weitergehende Erörterungen einzutreten. In seiner Geschichte der brandenburgischen Markgrafen und Kurfürsten von der Eroberung der Stadt Brandenburg 925 bis zur Gegenwart36 berichtet Sagittarius, wie Kurfürst Joachim I. (1484–1535) beim Wormser Reichstag 1521 zusammen mit anderen Fürsten versuchte, Luther zum Widerruf zu bewegen, und wie er auf dem Augsburger Reichstag 1530 im Auftrag des Kaisers Kurfürst
34 Sagittarius, Historia episcoporum Numburgensium. Vgl. Hiller, Geschichtswissenschaft, 65f. 35 Sagittarius, Historia episcoporum Numburgensium, 51f. 36 Sagittarius, Historiam marchionum ac electorum Brandenburgensium. – Belege im Folgenden in runden Klammern im fortlaufenden Text.
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Johann von Sachsen von der evangelischen Partei zu trennen suchte (65). Ebenso berichtet er (67f) vom evangelischen Glauben von Joachims Sohn Markgraf Johann von Brandenburg-Küstrin (1513–1571). Im Abschnitt über Kurfürst Joachim II. (1505–1571) erwähnt Sagittarius die Einführung der Reformation in Brandenburg und den Rechtfertigungsbrief des Kurfürsten an den polnischen König, seine Bundesgenossenschaft mit dem Kaiser im Schmalkaldischen Krieg und bei der Belagerung Magdeburgs und seinen Einsatz für die Begnadigung Johann Friedrichs von Sachsen (69, 71). Kurfürst Johann Georg (1525–1598) wird als Förderer des Luthertums und Verbündeter des evangelisch gesinnten Kölner Erzbischofs Gebhard Truchsess von Waldburg (1547–1601) vorgestellt (76), von Johann Sigismund (1572–1620) wird sein Übertritt zum reformierten Bekenntnis notiert (93). Fast ganz uninteressiert an reformationsgeschichtlichen Aspekten zeigt sich Sagittarius in seiner Geschichte der Fürsten von Orange.37 Weder spielt in den Abschnitten über Wilhelm und Moritz von Nassau der niederländische Freiheitskampf noch im Abschnitt über Wilhelm III. die Glorious Revolution eine Rolle. Demgegenüber begegnen in den Memorabilia Historiae Gothanae (Jena 1689), einer aus archivalischen Quellen gearbeiteten umfangreichen Geschichte der Stadt Gotha, immer wieder Spuren der Reformation, allerdings kleinteilig gebrochen in der Beschreibung der Klöster und Kirchen und der Listen der Superintendenten, Pfarrer und Lehrer. Ereignisse wie die Visitationen von 1528 und 1534 oder die Durchreise Luthers auf dem Rückweg vom Schmalkaldener Bundestag 1537 werden knapp erwähnt. Eine zusammenhängende Behandlung der gothaischen Reformationsgeschichte sucht man allerdings vergeblich. Von der ebenfalls geplanten Stadtgeschichte Jenas kam nur eine Darstellung der Geschichte der Kollegienkirche zustande.38 Auf die Reformationszeit, die Plünderung der Kirche durch die aufständischen Bauern, ihren Leerstand nach der Aufhebung des Dominikanerkonvents und ihre Wiedereinrichtung als Universitätskirche 1694 verwendete Sagittarius gerade zwei Seiten; die sonstige Reformationsgeschichte Jenas blieb unberücksichtigt. 5.
Die Geschichte Johann Friedrichs des Großmütigen
Wenn es so etwas wie ein reformationsgeschichtliches Hauptwerk von Sagittarius gibt, so ist dies seine Lebensgeschichte Johann Friedrichs I. des Großmütigen
37 Sagittarius, Origines Et Svccessionem Principvm Aravsionensivm Vsqve Ad Wilhelmvm III. 38 Sagittarius, Monumenta historica et monumenta templi Jenensis.
Caspar Sagittarius (1643–1694) als Historiograph der Reformation
von Sachsen (1503–1554).39 Allenfalls wäre ihr noch die in Zedlers UniversalLexicon – und in der Wikipedia – unter Sagittarius’ Schriften verzeichnete umfangreiche Historia vitae Georgii Spalatini40 an die Seite zu stellen. Doch der Autor dieser Dissertation war in Wahrheit nicht der Praeses Sagittarius, sondern der mit denselben Initialen zeichnende Respondent Christian Schlegel (1667–1722) aus Saalfeld gewesen. Zwar beruht das Werk wesentlich auf einer Reihe von Briefen Spalatins, die Sagittarius im Ratsarchiv von Saalfeld aufgefunden hatte und die im Anhang abgedruckt sind, doch kann es selbst nicht als Schöpfung des Jenaer Geschichtsprofessors in Anspruch genommen werden. Anders verhält es sich mit der Historia Johannis Friderici I., die auf eine Disputation vom 7. Dezember 1678 zurückgeht, bei der der Student Johann Friedrich – nomen est omen! – aus Plauen als Respondent fungierte. Diese Biographie des letzten ernestinischen Kurfürsten beruht nicht auf eigenen Quellenstudien, sondern schöpft aus älteren Geschichtsdarstellungen, namentlich der Geschichte des Schmalkaldischen Krieges von Friedrich Hortleder (1579–1640), aber etwa auch aus Johannes Sleidanus (1506–1556), Jacques Auguste de Thou, David Chytraeus (1531–1600) und Lukas Osiander d.Ä. Daneben gibt Sagittarius, der Mode seiner Zeit entsprechend, auch Inschriften und Münzbilder wieder. Insofern mag das harte Urteil von Lotte Hiller, die das Buch »keineswegs wertvoll« fand, gerechtfertigt sein.41 Ungeachtet dessen zählt das keine 90 Seiten umfassende Büchlein zu den erfolgreichsten Werken von Sagittarius; es wurde 1715, 1739 und 1743 nachgedruckt und bis ins 19. Jahrhundert hinein benutzt.42 Sagittarius referiert im Wesentlichen die Ereignisgeschichte, die er chronologisch verfolgt. Die 31 Kapitel decken den Zeitraum von der Geburt Johann Friedrichs in Torgau im Jahre 1503 bis zu seinem Tod in Weimar 1554 ab. Dabei sind ab 1530 fast jedem Jahr ein oder mehrere Kapitel gewidmet. Den Schwerpunkt der Darstellung bildet der Schmalkaldische Krieg, der in nicht weniger als sieben Kapiteln behandelt wird.43 Obwohl Sagittarius auch hier im Wesentlichen beim Referat der Fakten bleibt, kommt er doch einer wirklichen Geschichtserzählung und -deutung näher als in seinen sonstigen Schriften. Das 39 Sagittarius, Historia Johannis Friderici I. 40 Schlegel, Historia vitae Georgii Spalatini Theologi, Politici Primique Historici Saxonici. Vgl. Art. Sagittarius, 588, sowie https://de.wikipedia.org/wiki/Caspar_Sagittarius_(Historiker) [abgerufen am 09.12.2017]. 41 Hiller, Geschichtswissenschaft, 65. 42 2. Aufl. Halle: Christoph Andreas Zeitler, 1715; 3. Aufl. (»editio novissima«, ohne Name des Respondenten) Jena: Johann Friedrich Ritter, 1739; 4. Aufl. (»editio novissima«, ohne Name des Verfassers.) unter dem Titel: »Vita, facta et fata Johannis Friederici I. Magnanimi electoris Saxoniae pii constantis«, Jena: Krebs, 1743. 43 Sagittarius, Historia Johannis Friderici I., Kap. 17–22 (Nr. 17 ist zweimal vergeben), 28–56. – Seitenzahlen aus dieser Ausgabe im Folgenden in runden Klammern im laufenden Text.
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ist vor allem der Dichte und Anschaulichkeit der zusammengestellten Nachrichten zu verdanken. Doch auch die wiederholte Aufnahme anekdotischen Materials trägt zur Belebung der Darstellung bei – so, wenn Sagittarius eine treffende Entgegnung des jungen Kurprinzen an die altgläubigen Priester auf dem Augsburger Reichstag 1530 zitiert (12), wenn er von der Krankheit und Heimreise Luthers vom Schmalkaldener Bundestag 1537 berichtet (19) oder wenn er davon erzählt, wie Johann Friedrich am Morgen der Schlacht von Mühlberg trotz dem Nahen der kaiserlichen Truppen noch das Ende der Predigt in seinem Feldgottesdienst abwartete (39). Bemerkenswert erscheint das zwanzigste Kapitel, in dem Sagittarius Berichte über Prodigien im Umkreis der Schlacht von Mühlberg zusammenstellt – von einer Prophezeiung aus dem Jahr 1512 bis zum Blitzeinschlag aus heiterem Himmel in den Meißener Dom am Tag nach der Schlacht (44–48). Immer wieder sind auch Ansätze literarischer Gestaltungsambitionen zu beobachten, so etwa, wenn Sagittarius seine Darstellung des Schmalkaldischen Krieges mit den rhetorisch durchgeformten Sätzen beginnt: »aetate brevissimum, mole maximum, eventu fuit tristissimum. Obstat ejus magnitudo calamo, rerumque varietas aciem fere intentionis abrumpit« (28). Wiederholt streut Sagittarius auch sentenzartige Bemerkungen ein. So leitet er den Bericht über Luthers Tod und Bestattung mit einer Betrachtung über die Unausweichlichkeit des Sterbens ein44 und den Bericht über den Tod von Herzogin Sibylle (1512–1554), der Ehefrau Johann Friedrichs, mit einer Sentenz über die Unbeständigkeit des Glücks.45 Im Ganzen entsteht so eine farbige, faktengesättigte Geschichtserzählung von einer sonst nicht erreichten Geschlossenheit. Selbstverständlich ist das Urteil, das Sagittarius über den tragischen Helden Johann Friedrich fällt, durchweg positiv; er war ein weiser Herrscher und tapferer Bekenner des rechten Glaubens, und die Beinamen eines Pius, Magnanimus, Constans und Inclytus wurden ihm ganz zu Recht beigelegt. Auf diese Weise hat das schlichte Büchlein, das trotz seiner lateinischen Sprache schließlich eine weite Leserschaft fand, nicht wenig zur Verbreitung und Festigung der ernestinischen Deutung der Reformationsgeschichte beigetragen, und ihm vor allem dürfte sich Sagittarius’ Ruf als Historiograph der Reformation und der Ernestiner verdanken. Er selbst trug Sorge dafür, dass es auch am Gothaer Hof gebührend bekannt wurde.46
44 »Omnia nata interire, neque quidquam mortalitatis legem effugere, suo etiam exemplo docuit summus Evangelicae veritatis praeco Lutherus« (ebd., 25). 45 »Nunquam diu eodem fastigio stare fortunam […]« (ebd., 73). 46 Vgl. dazu demnächst die Dissertation von Jacob Schilling.
Caspar Sagittarius (1643–1694) als Historiograph der Reformation
6.
Ergebnis
Das kirchengeschichtliche Interesse von Sagittarius hat sich nur wenig in seinen historiographischen Werken niedergeschlagen. Sein kirchenhistorisches Hauptwerk, die Introductio in historiam ecclesiasticam, ist eine Literaturgeschichte. Eine eigene Darstellung der Reformationsgeschichte hat Sagittarius nicht hinterlassen. Als Kontroversschriftsteller hat er nur in begrenztem Umfang auf kirchengeschichtliches Wissen zurückgegriffen – am ehesten noch in seiner Geschichte der lutherischen Theologieprofessur in Erfurt. In seinen zahlreichen reichs- und landesgeschichtlichen Arbeiten werden immer wieder auch Ereignisse und Personen der Reformationsgeschichte berührt, doch bleibt die Darstellung fast durchweg knapp und auf die dürren Fakten beschränkt. Welches Potential Sagittarius als Historiograph der Reformation besaß, wird allein an seiner Historia Johannis Friderici I. deutlich, die – anders als viele seiner landesgeschichtlichen Arbeiten – nicht auf eigener Quellenarbeit beruht, aber durch die Dichte und Farbigkeit der Darstellung und Elemente der Deutung und Wertung eine veritable und beim Publikum beliebte Geschichtserzählung war. Literatur Quellen [Anonym], Art. Sagittarius, Caspar, in: Johann Heinrich Zedler (Hg.), Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste 33, Leipzig 1742, 581–589. Bose, Johann Andreas, Schediasma de comparanda notitia scriptorum ecclesiasticorum antehac privatim traditum, post suasu amicorum recensitum, publicatum ac nunc denuo recusum, Jena 1673 [²1686]. −, Oratio Inavgvralis De Historia Ecclesiastica Nostro Praesertim Tempore Diligentivs Colenda, hg. v. Caspar Sagittarius, Jena 1690 [²1721]. [Buddeus, Johann Franz], Eines vornehmen Theologi Warhafftige und Gründliche Historische Erzehlung alles dessen / was zwischen denen heute zu Tage so genannten Pietisten / und den andern Theologis der Lutherischen Kirche vorgegangen ist, Lichtenberg ²1712. de Cordemoy, Louis-Géraud, Récit de la conférence du diable avec Luther, fait par Luther même dans son livre de la messe privée et de l’onction des prestres. Avec des remarques sur cette conference […] de Cordemoy, Paris ³1684.
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Sagittarius, Caspar, Programma ad quo audiendam Orationem Valedictoriam […] humaniter invitavit, in: Ders., Introitus et exitus Salfeldensis duabus orationibus, Jena 1671. −, De martyrum cruciatibus in primitiva ecclesia, Jena 1673, Frankfurt/Leipzig ²1696. −, Nucleus Historiae Germanicae Origines, Incrementa ac Imminuitionem Germanici Imperii per singulorum Caesarum historiam ad praesens aevum per compendium exhibens, Jena 1675 [²1682]. −, Historia Johannis Friderici I. electoris Saxoniae Pii Magnanimi Constantis Inclyti, Jena 1678. −, De martyrum natalitiis in primitiva ecclesia liber, Jena 1678, Frankfurt/Leipzig ²1696. − (Hg.), Jacob Heerbrands Predigt von dem Papistischen Fronleichnams-Fest, so 1584 gedruckt mit einer Vorrede an alle Evangelische Christen in der Stadt Erfurt, Jena 1679. −, Ausgeleertes und Entwehrtes Catholisches Zeughauß. Das ist Gründliche Vertheidigung der Lehre und Lebens des Sel. H[err]n D. Martini Lvtheri […], Jena 1679. −, Kurze[r] historische[r] Bericht, was es mit der Professione Theologiae Augustanae Confessionis auff der Universität zu Erffurt eigendlich für eine Bewandnis hat, Jena 1680. −, Historia episcoporum Numburgensium a prima episcopatus origine ad praesentem statum repetita, Jena 1683. −, Historiam marchionum ac electorum Brandenburgensium ab origine Marchiae ad praesentem usque statum repetitam […] exponit […], Jena 1684. −, Harmoniae historiae passionis Jesu Christi libri tres, Leipzig 1684. −, Antiquitates Gentilismi et Christianismi Thuringici. Das ist: Gründlicher und ausführlicher Bericht von dem Heiden- und Christentum der alten Thüringer […], Jena 1685. −, Monumenta historica et monumenta templi Jenensis adacemici quod vulgo vocant »Collegen-Kirche« [sic!], Jena 1685 [²1720]. −, Theses Theologicae de Pietismo Genuino, s.l. [Erfurt] 1691. −, Theologische Lehr-Sätze von dem Rechtmässigen Pietismo, s.l. [Erfurt] 1691. −, Origines Et Svccessionem Principvm Aravsionensivm Vsqve Ad Wilhelmvm III. Magnae Britanniae Regem explicabunt […], Jena 1691. −, Introductio in historiam ecclesiasticam et singulas ejus partes, hg. v. Johann Andreas Schmidt, Frankfurt/Leipzig 1694. Schlegel, Christian, Historia vitae Georgii Spalatini Theologi, Politici Primique Historici Saxonici […], Jena 1693. Schmidt, Johann Andreas, Commentarius de vita et scriptis Casparis Sagittarii […], Jena 1713.
Caspar Sagittarius (1643–1694) als Historiograph der Reformation
de Thou, Jacques Auguste, Historiarum Sui Temporis Opera, Bd. 1, Frankfurt 1625. Forschungsliteratur Art. Schönman, Marcus, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www. deutsche-biographie.de/pnd122833902.html [18.03.2020]. Heutger, Nicolaus, Art. Sagittarius, Caspar, BBKL 8, 1994, 1176f. Hiller, Lotte, Die Geschichtswissenschaft an der Universität Jena in der Zeit der Polyhistorie (1674−1763), ZVThG 6, 1937, 15–77. Mägdefrau, Werner, Der Aufstieg und die erste Blütezeit der Universität Jena in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Max Steinmetz (Hg.), Geschichte der Universität Jena 1548/58−1958. Festgabe zum vierhundertjährigen Universitätsjubiläum, Bd. 1: Darstellung, Jena 1958, 111–165. Menk, Gerhard, Art. Sagittarius, Caspar, NDB 22, 2005, 351f. Scherer, Emil Clemens, Geschichte und Kirchengeschichte an den deutschen Universitäten. Ihre Anfänge im Zeitalter des Humanismus und ihre Ausbildung zu selbständigen Disziplinen, Freiburg i.Br. 1927. Wagenmann, Julius August, Art. Sagittarius, Johann Christfried, ADB 30, 1890, 171. Wallmann, Johannes, Der Pietismus an der Universität Jena, PuN 37, 2011, 36–85. von Wegele, Franz Xaver, Art. Sagittarius, Caspar, ADB 30, 1890, 171.
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»Damit er nicht mit fremden Augen sehen müste.« Ernst Salomon Cyprians Bibliotheken
Als Ernst Salomon Cyprian (1673−1745) im Jahr 1713 zum Kirchenrat und Assessor des Oberkonsistoriums nach Gotha berufen wurde, übertrug ihm Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1676−1732) zugleich »die Aufsicht über unsere Bibliothec […] damit dieselbe in gute Ordnung gebracht, und zu Erlangung des damit abgeziehlten heylsamen Endzwecks nutzbar gemacht werde«.1 Diesem in einer Instruction festgehaltenen Auftrag gingen zwölf andere Aufgaben voraus. So sollte Cyprian unter anderem predigen, die Prinzenerziehung beaufsichtigen, an Visitationen teilnehmen, Inspektionen der oberen Klassen des Gymnasiums durchführen sowie die Theologiestudenten und jungen Pfarrer des Herzogtums unterrichten. All diese Verpflichtungen wiesen dem vierzigjährigen Cyprian eine wichtige Stellung im Gothaer Regierungsund Verwaltungsapparat zu, die er durch die Übernahme zahlreicher weiterer Ämter im Laufe der Zeit noch ausbaute.2 Im Jahr 1736 wurde er zum Vizepräsidenten des Gothaer Oberkonsistoriums und damit zum kirchenleitenden Theologen des Herzogtums berufen. Dieses Amt und die Leitung der Hofbibliothek, die auch Herzogliche oder Fürstliche Bibliothek genannt wurde, hatte er bis zu seinem Tod 1745 inne. »Was er noch an Zeit übrig hat«, so hieß es weiter in den Anweisungen für Cyprian von 1713, »soll auf andern von uns zu Aufnahmen des studij Theologici anzielenden nützlichen Arbeiten, benanntlich aber und vor allen dingen zu Verfertigung der albereit unter handen habenden Vollständigen Historiae Ecclesiasticae angewendet werden«.3 1 Instruction Herzog Friedrichs II. von Sachsen-Gotha-Altenburg für Ernst Salomon Cyprian, Gotha, 1713 (LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv UU III Nr. 18, Bl. 3r −8r ), 7r . 2 So hatte er die Direktion des herzoglichen Münzkabinetts, die Mitaufsicht über das Geheime Archiv, die Aufsicht über die evangelisch-lutherische Gemeinde in Genf sowie die Gothaer Waisenhäuser inne und beriet den Herzog in auswärtigen Religionsangelegenheiten. Zu seinem Leben Fischer, Cyprian. 3 Instruction Herzog Friedrichs II. von Sachsen-Gotha-Altenburg für Ernst Salomon Cyprian, Gotha, 1713 (LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv UU III Nr. 18, Bl. 3r −8r ), 7r−v . Diese Aufgabe und das Bibliotheksdirektorat sind in der Instruction, deren Aufgaben ansonsten von den Instruktionen für andere Konsistorialräte übernommen worden sind, neu. Vgl. Koch, Kirchenleitung, 286.
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Der in den Anweisungen hergestellte Konnex zwischen bibliothekarischer und kirchenhistoriographischer Tätigkeit war in der Geschichte des 1640 gegründeten Gothaer Herzogtums nicht neu. Er steht in engem Zusammenhang mit der Schaffung einer »eigenständigen gothaischen Erinnerungskultur«,4 die zur Legimitierung der erst spät gegründeten Sachsen-Gothaer Linie innerhalb der sich als Garant des Luthertums stilisierenden Ernestiner-Dynastie beitragen sollte. So erstellte der Staatstheoretiker Veit Ludwig von Seckendorff (1626−1692) im Dienst des Gothaer Staatsgründers Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha (1601−1675) 1657 das erste uns bekannte Bücherverzeichnis der Herzoglichen Bibliothek5 und markierte mit seinem zwischen 1660 und 1665 herausgebrachten Compendium Historiae Ecclesiasticae den Anfang jener Gothaer Kirchengeschichtsschreibung, an deren Ende Cyprian stand. Wie füllte Cyprian nun das Amt des Hofbibliotheksdirektors und seine kirchenhistoriographische Tätigkeit aus? Welche Rolle kam dabei seiner privaten Büchersammlung zu, die anders als die in der Forschungsbibliothek Gotha auf uns gekommene Hofbibliothek nur in Bruchstücken überliefert ist und nach seinem Tod zerstreut wurde? Zur Beantwortung dieser Fragen soll im Folgenden zunächst der Blick auf den Theologen und Kirchenhistoriker Cyprian und danach auf den Büchersammler im herzoglichen Auftrag und in eigener Sache gerichtet werden. Abschließend sollen Cyprians kirchengeschichtliche und bibliothekarische Aktivitäten in Beziehung zueinander gesetzt werden. 1.
Der Theologe und Kirchenhistoriker
Religion bestand für Cyprian grundsätzlich »im Erkäntnis und Dienst Gottes«, wie er gleich zu Beginn seiner Gothaer Tätigkeit in dem von ihm »für die Kirchen im Fürstenthumb Gotha« neu herausgegebenen Concordien-Büchlein schrieb.6 Cyprian war zeit seines Lebens fest im Luthertum verwurzelt; zum Doktor der Theologie promoviert wurde er nicht an der Landesuniversität Jena, wo er studiert hatte, sondern in Wittenberg. Er verteidigte auch dann die lutherische Lehre, wenn er das evangelisch-lutherische Territorialkirchensystem als provinziell kritisierte.7 Cyprian war auf seinen vielen Handlungsfeldern im Dienst seiner Kirche ausgesprochen produktiv. Sein Ruf als Kirchenhistoriker und wahrscheinlich auch die Unterstützung durch Gottfried Wilhelm Leibniz (1646−1716) verhalfen ihm zur auswärtigen Mitgliedschaft an der Königlich 4 5 6 7
Westphal, Verlust, 182. Vgl. Brandsch, Bibliothekskatalog, 402. Cyprian, Concordien-Büchlein, A7r ; vgl. Koch, Kirchenleitung, 289. Ebd., 296.
»Damit er nicht mit fremden Augen sehen müste.«
Preußischen Societät der Wissenschaften.8 Mit den Mitteln der Kirchengeschichtsschreibung schrieb Cyprian seit seiner Studienzeit in Jena gegen die Papstkirche an.9 Während seiner außerordentlichen Professur für Philosophie an der Universität Helmstedt 1699, die er unter anderem durch Leibniz Fürsprache erhalten hatte, und erst recht in seiner Zeit in Coburg, wohin er im Jahr darauf als Direktor des Gymnasium Casimirianum wechselte, verteidigte er in Wort und auch Tat10 entschieden das Luthertum gegen jegliche aus seiner Sicht dissidente Strömung. »Mag auch alles erlaubt sein«, schrieb Cyprian bitter und sarkastisch im ersten seiner Coburger Schulprogramme von 1701, »nicht erlaubt ist es, orthodox zu sein – das ist der Ruhm unseres Jahrhunderts«.11 Er lehnte entschieden die politisch-kirchliche Union mit den Evangelisch-Reformierten ab, auch wenn er ein hartes Urteil über die Uneinigkeit der evangelischen Konfessionen fällte.12 Seinen Zeitgenossen bekannt wurde Cyprian vor allem als energischer publizistischer Gegner von Gottfried Arnolds (1666−1714) im Jahr 1699 erschienener Unpartheiischer Kirchen- und Ketzer-Historie. Cyprians ausgesprochen »starke Persönlichkeit«13 polarisierte, selbst wenn sein theologischer Rang neben den bekanntesten lutherisch-orthodoxen Theologen Valentin Ernst Löscher (1673−1749) und Erdmann Neumeister (1671−1756) von seinen Zeitgenossen nicht bestritten wurde. Der evangelische Kirchenhistoriker Johann Matthias Schröckh (1733−1808) schrieb 23 Jahre nach Cyprians Tod, dieser sei »fast der einzige unter seinen [Gottfried Arnolds, K.P.] Gegnern, der noch gelesen zu werden verdient, weil er unter denselben der gelehrteste Kenner der Kirchengeschichte war«.14 Stand Cyprian 1735 wegen seiner Gelehrsamkeit auf der Besetzungsliste für das Amt des Prorektors der Göttinger Theologischen Fakultät, so urteilte einer der Berater des Begründers der Universität Göttingen, Gerlach Adolph von Münchhausen (1688−1770), ablehnend: »Ich halte ihn pro Theologo solide docto und da er überdies grosze reputation hat, so wär er der rechte Mann vor Göttingen. Aber ich fürchte den spiritus haeresificationis. […] Ich fürchte dieser Mann, der des Herschens gewohnet, werde […] verdrus causiren«.15 8 So Fischer, Cyprian, 17 und Oppel, Noctes, 7. 9 Zu Cyprians Leben bis zu seinem Wechsel nach Gotha vgl. Oppel, Briefwechsel und Ders., Direktor. 10 Zu Cyprians Anteil an einem Prozess gegen einen radikalen Pietisten vgl. Weigelt, Auseinandersetzung, sowie Oppel, Noctes, 7. 11 Oppel, Briefwechsel, 79, Übersetzung aus dem Lateinischen bei Koch, Kirchenleitung, 297. 12 Wetzel, Kirchengeschichtsschreibung, 307. 13 Baur, Anfänge, 212. 14 Schröckh, Kirchengeschichte, 180f. 15 Georg David Strube an Gerlach Adolph von Münchhausen, Hildesheim, Mai 1735, in: Rössler, Gründung, 250f. Zitat in umgekehrter Reihenfolge auch bei Baur, Anfänge, 212f.
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Auch Cyprians Gothaer Dienstherr, Herzog Friedrich II., hatte Cyprian bei dessen Amtsantritt angewiesen, sich »alles ärgerlichen Gezäncks [zu] enteußern«.16 Verdruss bereitete der im hohen Alter wohl immer unerbittlichere Cyprian dann dem seit 1732 regierenden Herzog Friedrich III. von SachsenGotha-Altenburg (1699−1772), der sich, als starke lutherische Kraft im protestantischen Lager agierend, als aufgeklärt verstand. Heftigen Spott wegen seines Glaubenseifers zog sich Cyprian von dessen Gemahlin Luise Dorothea (1710−1767) noch Jahrzehnte nach seinem Tod zu.17 Cyprian selbst schien die Hoffnung für eine Zukunft seiner theologischen Positionen und mithin seiner Kirche in den letzten Lebensjahren verlorengegangen zu sein. In sein Handexemplar der dritten Ausgabe seiner Historia der Augspurgischen Confession schrieb er 1741: Nach diesem von mir sehr fleissig revidirten Exemplar, […], muss anno 1830 mit Gott diese H[istoria der] A[ugsburgischen] C[onfession] gedruckt werden. Die evangelische Kirche wird alsdann mehr wegen deß innerlichen atheismi und des Thomasianischen Unglaubens betränget seyn als vom Papst. Sie muss Busse thun!18
Cyprian gilt heute als der »am meisten in Vergessenheit geratene« unter den Hauptvertretern der lutherischen Spätorthodoxie.19 Das dieser Richtung zugeschriebene Verdikt einer Abwehrbewegung gegen Pietismus und Aufklärung hat sein Vergessen befördert und auch den Blick auf den Bibliothekar und Büchersammler Cyprian verstellt.20 2.
Der Bibliothekar und Büchersammler
In der neueren Forschung gilt Cyprian als einer der »Repräsentanten des Mehrheitsprotestantismus«21 seiner Zeit oder auch als »rechts«.22 Als Bibliothekar 16 Instruction Herzog Friedrichs II. von Sachsen-Gotha-Altenburg für Ernst Salomon Cyprian, Gotha, 1713 (LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv UU III Nr. 18, Bl. 3r −8r ), 3v . 17 Vgl. Luise Dorothea von Sachsen-Gotha-Altenburg an Friedrich II. von Preußen, 30.05.1764, in: Berger, Vetternwirtschaft, 217. 18 Cyprian, Historia, gegenüber Titelblatt. 19 Wallmann, Orthodoxie, 10. 20 Vgl. Koch, Ernst Salomon Cyprian. Selbst in der Gothaer Bibliotheksgeschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert wurde Cyprians private Bibliothek lediglich als nach seinem Tod nicht in die Hofbibliothek übernommene Sammlung thematisiert. Zum Nachlass erstmals Mitscherling, Nachlaß. 21 Wallmann, Orthodoxie, 15. 22 Der vollständige Satz bei Baur, Anfänge, 212, lautet: »Noch höher und noch entschiedener nach ›rechts‹ zielten in Hannover Erwägungen [zur Besetzung des Prorektorenamtes der Theo-
»Damit er nicht mit fremden Augen sehen müste.«
und Büchersammler im Auftrag der Gothaer Herzöge und in eigener Sache war er ein ebenso repräsentatives wie unverwechselbares Mitglied der Respublica litteraria.23 Über sein privates Büchersammeln und seine mit öffentlich zugänglichen Bibliotheken in Verbindung stehenden Aktivitäten in den ersten vierzig Jahren seines Lebens und damit vor seiner Übersiedlung nach Gotha wissen wir nicht viel. Dennoch ermöglichen uns die umfangreich überlieferten handschriftlichen Quellen und wenigen gedruckten Materialien einen Einblick.24 Cyprian begann nach eigenen Aussagen mit neun oder zehn Jahren, Bücher zu sammeln.25 Spätestens in Coburg baute er seine Bibliothek aus. In dieser Zeit erwarb er unter anderem mehrere Handschriften aus Franken,26 die lateinische Handbibel des Reformators Friedrich Myconius (1490−1546), die er um 1730 der Herzoglichen Bibliothek Gotha schenkte,27 und gedruckte Werke.28 Aufgestellt gewesen sein wird die Büchersammlung in seinem Studierzimmer im Gymnasium Casimirianum und in seiner Wohnung, die sich in der Etage unter dem Studierzimmer befand.29 Als Direktor des Coburger Gymnasiums beschäftigte er sich intensiv mit der dortigen Bibliothek,30 deren Grundstock die Sammlung Herzog Albrechts von Sachsen-Coburg (1648−1699), eines Sohnes Herzog
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logischen Fakultät an der Universität Göttingen, K.P.], die dem Gothaer Oberkonsistorialrat Ernst Salomo Cyprian galten.« Vgl. Adam, Bibliotheken; Ders., Privatbibliotheken; Streich, Büchersammlungen. Die Forschungsbibliothek Gotha erschließt derzeit den Nachlass Cyprians, der sich hier und im LATh – StA Gotha befindet, im Verbundkatalog Kalliope. Dies ist aus einem Briefentwurf Cyprians an Gottlob Friedrich Wilhelm Juncker (1703−1746), mit dessen Vater, dem Eisenacher Historiographen und Bibliothekar Christian Juncker (1688−1714), Cyprian befreundet gewesen war, von 1742 zu rekonstruieren. Cyprian schrieb: »Ich habe die Bibliotheque fast vor 60 Jahren hier mühsam gesamlet.«, in: Akten, den Verkauf der Bibliothek Cyprians betreffend (LATh – StA Gotha, Schloßkirche, Nr. 88), 370v. Z.B. Forschungsbibliothek Gotha, [nachfolgend: FB Gotha], Chart. A 396, vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 705−707. Cyprian, Ernst Salomon, Notiz zu Schenkungen an die Kunstkammer und die Herzogliche Bibliothek Gotha, [Gotha], ca. 1730 (FB Gotha, Chart. A 1380), 3r . 1708 kaufte er eine hochpreisige, 1678 erschienene Folioausgabe der bedeutenden Annales ecclesiastici des italienischen Kirchenhistorikers Caesar Baronius (FB Gotha, Theol 2° 235/3). Weiterer überlieferter Druck: FB Gotha, Ant 2° 297/1. Reissinger, Gründung, 178. In seiner Einladung zu der von ihm ins Leben gerufenen literarischen Gesellschaft, den Noctes Casimirianum, ging Cyprian auf die Bücherschätze seines Studierzimmers ein (lateinischer Text in: Ludwig, Ehre, 300f; Übersetzung von Reissinger, Gründung, 178: »Das Studierzimmer sei zwar ärmlich, aber in ihm lebten die Toten, die sprächen und schwiegen doch, sie ließen sich befragen und antworteten – stumm«.). Zu einem der bedeutendsten Werke der Schulbibliothek, der später Gothaer Chorbuch genannten Handschrift (FB Gotha, Chart. A 98), schrieb Cyprian in seiner Schrift De propagatione haeresium per cantilenas von 1708. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 344f.
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Ernsts I. von Sachsen-Gotha, bildete. Von einer auf diese Schulbibliothek 1701 gehaltenen Rede zeugt ein Schulprogramm, das Cyprian unter dem Titel De ornatu librorum veröffentlichen ließ. Darin gab er einen historischen Abriss der Einband- und Buchgestaltung und stellte einige der Handschriften des Gymnasiums vor.31 Von Coburg aus reiste Cyprian 1704 in die Niederlande mit dem Ziel, Dokumente zu sehen und zu erwerben, die zu der von ihm zu schreibenden Kirchengeschichte notwendig waren.32 Schließlich kaufte er »zu Utrecht, Amsterdam, Rotterdam, Gräwenhaag, Leyden, Franecker-Loewarden und Groeningen«33 »vortreffliche subsidia zur theologia polemica und historia ecclesiastica«,34 traf berühmte Persönlichkeiten,35 sprach mit »Leuten von allerhand Secten«, besuchte öffentlich zugängliche Bibliotheken und durfte private Büchersammlungen einsehen.36 Cyprians Bibliothek, die er auch seinen »literarischen Hausrat« nannte,37 muss bei seiner Übersiedlung nach Gotha bereits groß gewesen sein, denn der damals noch Unverheiratete bat um eine Wohnung »von 4. Stuben, welche Er wegen seiner vielen Bücher nöthig hat« sowie um die Übernahme der Transportkosten nach Gotha.38 Cyprians Aufgabe als Direktor der Herzoglichen Bibliothek Gotha war es dann, »Vorsorge zu haben, daß dieselbige in wolgefaste ordnung möge gebracht, auch der Catalogus in zuverläßige Richtigkeit gesetzet werden«.39 Ausleihe und Nutzerbetreuung vor Ort hatten dabei, wie bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts üblich,40 keinen Vorrang. So ließ Herzog Friedrich II. die
31 Cyprian, De ornatu. 32 Vgl. Oppel, Briefwechsel, 55; Die Akten zur Reise hat Oppel 1978 im Staatsarchiv Coburg (L Reg. Sonderlokat 421) eingesehen, sie befinden sich heute wieder in Gotha (LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv EEE XVIII f – Landesregierung Gotha Nr. 214). 33 Akten, den Verkauf der Bibliothek Cyprians betreffend (LATh – StA Gotha, Schloßkirche, Nr. 88), 30r . 34 Unter den wenigen aus Cyprians Privatbibliothek überlieferten Werken verweist lediglich ein Titel auf Cyprians Bücherkäufe auf der Reise, es handelt sich um eine Biographie des reformierten Separatisten Jean de Labadie (1610−1674), die Cyprian in Amsterdam erworben hat (FB Gotha, Biogr 8° 1097/1). 35 Z.B. Pierre Bayle (1647−1706) in Rotterdam. Vgl. Cyprian, Ernst Salomon, Reiseaufzeichnungen, s.l. 1704 (FB Gotha, Chart. A 297, 419–430), 424. 36 Fischer, Cyprian, 19; Vgl. auch Cyprian, Ernst Salomon, Reiseaufzeichnungen, s.l. 1704 (FB Gotha, Chart. A 297, 419–430). 37 »[…] in huius literariae supellectilis […]«. Cyprian, Bibliotheca, 1733, Praefatio nova, [1r ]. 38 Bericht an Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, Coburg, 27.07.1713 (LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv UU III, Nr. 18, 2r −2v ). 39 Reskript Herzog Friedrichs II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, Gotha, 15.11.1714 (LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv UU XXXIX Nr. 11, 2r −4r ), 2r . 40 Vgl. Plassmann, Grundlagen, 147.
»Damit er nicht mit fremden Augen sehen müste.«
Bibliothek 1714 vorübergehend schließen, damit »alle hinterniße […] mögen abgestellt und vermieden bleiben«41 und die Bibliotheksmitarbeiter unter Anleitung Cyprians den Katalog der »gedruckten Bücher und materien wegen der angemerckten großen confusion« der vorhandenen Verzeichnisse von Besuchern ungestört erstellen konnten.42 Dazu befreite der Herzog Cyprian sogar zeitweilig von der Arbeit im Gothaer Konsistorium – ein Indiz dafür, welche Bedeutung aktuellen Katalogen nicht nur für die Nutzung der Bibliothek, sondern schließlich auch für die Reputation ihres fürstlichen Besitzers zukam.43 Cyprians Arbeit für die Herzogliche Bibliothek verlief unspektakulär, er korrespondierte mit gelehrten Nutzern, betreute die bedeutende Sammlung an Handschriften und die vor allem theologische Literatur enthaltende und mit ihren wertvollen Einbänden wohl in erster Linie repräsentativen Zwecken dienende Bibliotheca selecta.44 Cyprian waren ein Bibliothekar und ein Sekretär unterstellt, welche die Geschäfte des Erwerbens,45 Katalogisierens, Entleihens und der Revision der Bibliothek zu besorgen hatten. Unter Cyprians Leitung genoss die Bibliothek einen ausgezeichneten Ruf. »Die berühmten Fürstlichen Bibliothequen in Teutschland«, heißt es 1719 in einem der wichtigsten Kompendien der Hausväterliteratur, »sind die Berlinische, die Wolffenbüttlische, die Sachsen-Gothaische, die Weimarische und andere mehr«.46 Auch Cyprians Dienstherr, Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, lobte Cyprian, »daß unter Eurer Direction unsere Bibliotheque an manuscriptis und considerablen gedruckten operibus merklich augmentiret, auch in Ordnung gebracht, und in orbe literato allenthalben bekannt gemacht worden«.47 Cyprian ging dem Bibliothekarsamt mit Leidenschaft und Interesse nach. Das der Aufgabe innewohnende ordnende und systematisierende Element scheint seiner Persönlichkeit geradezu entsprochen zu haben. »Ich bin der bibliotheque nach bestem wißen und gewißen, sonder allen Eigennutz vorgestanden«, schrieb Cyprian 1730 auf einen Leihschein, seinen korrekten Umgang mit den 41 Reskript Herzog Friedrichs II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, Gotha, 15.11.1714 (LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv UU XXXIX Nr. 11, 2r −4r ), 3v . 42 Ebd., 2r . 43 Vgl. ebd., 2v −3r . Zur Bedeutung von Katalogen vgl. Raabe, Bibliothekskataloge. 44 Nach Jacobs, Beiträge, 20, leitete Cyprian den Ankauf dieser Bibliothek. Sie wurde jedoch wohl bereits in den 1680er-Jahren erworben, vgl. Paasch, Schätze, 31, 34. 45 Vgl. Cyprians Notiz »Mit Rechnungen habe ein nicht Zuthun gehabt, sondern solche nebst Erkundigung deß Werths der Bücher Herrn Meiern überlaßen, dem es gehöret, und der eine Zeit dafür hat.« In: Akten zum Testament Ernst Salomon Cyprians, 1740 (FB Gotha, Chart. A 1380), 8r . 46 Florinus, Oeconomus, 128. 47 Reskript Herzog Friedrichs II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, Gotha, 03.02.1727 (LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv UU XXXIX Nr. 11, 8r −9v ), 8r .
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herzoglichen Büchern bezeugend.48 Akribisch ordnete er 1735 – für den Fall seines Todes vorsorgend – chronologisch Quittungen und Rechnungen zu seinen eigenen Bucherwerbungen und die Verträge zu seinen Publikationen nach Buchhändlern, Verlegern und Auktionen, denn, so Cyprian, »es giebt böse leute«.49 Geradezu notorisch verwies er dabei darauf, niemandem größere Summen Geldes schuldig zu sein. Schwer lesbare Belege transkribierte er sogar, verärgert über die Schludrigkeiten seines Handelspartners.50 Diese Ordnung führte er bis zu seinem Tod 1745 fort.51 Dabei trennte er die Belege zur Herzoglichen und zu seiner Privatbibliothek sorgfältig voneinander.52 Denn Buchhändler schickten mit ein und derselben Lieferung Bücher an den Bibliothekar Johann Philip Meier († 1746), der im Auftrag Cyprians auch bei den Frühjahrs- und Herbstmessen in Leipzig orderte und bei Auktionen mitbot.53 Für seine eigene Bibliothek beauftragte Cyprian Bekannte, ihm Bücher aus Frankreich und Italien mitzubringen54 und auf Auktionen im mitteldeutschen Raum sowie in Gotha selbst zu erwerben.55 Seine Verwandten bezog Cyprian ebenso ein56 wie seinen Schüler und Gehilfen Georg Grosch (1698−1771).57 Cyprians Begeisterung für Bücherkäufe scheint in den Reise-Instruktionen auf, die er im Auftrag Herzog Friedrichs II. von Sachsen-Gotha-Altenburg an Christian Sigismund Liebe (1687−1736) und Georg Grosch für deren Reise 1722 in die Niederlande und nach England erteilte. Beide sollten »vortreffliche Bücher […] falls sie vor billigen Preis zuhaben […] einkauffen«.58 Dabei galt es laut Cyprian,
48 Cyprian, Ernst Salamon, Zeugnis seines korrekten Umgangs mit Büchern der Herzoglichen Bibliothek, Gotha, 15.11.1730 (FB Gotha, Chart. A 1380, 8r ). 49 Cyprian, Ernst Salamon, Schriftliche Nachrichten, s.l. [Gotha], 1735−1745 (LATh – StA Gotha, Schlosskirche Gotha, Nr. 87), besonders 1r . 50 Vgl. die Notiz Cyprians: »Diese Quittung ist etwas unleserlich geschrieben: heißet aber also […]« ebd., 51r . 51 Die letzte Rechnung datiert nur wenige Tage vor seinem Tod vom 04.09.1745, ebd., 107r . 52 Cyprian verwies 1735 am Beginn des Konvoluts mit seinen Belegen auf die getrennt aufbewahrten »Quittungen der f[ürstlichen] Bibliotheque und der Buchhändler von f[ürstlicher] Bibliothec«, welche »die fr[au] Vicepr[äsidentin; d. h. Cyprians Ehefrau, K.P.] das nöthigste paquet in ihrem zuschluss« habe, ebd., 2r . 53 Vgl. Quittungen Meiers ebd., 3r −8v . 54 Vgl. die Belege zu den Käufen des Gothaer Hofpredigers Johann Benjamin Huhn (1684−1744), der Cyprian Bücher aus Paris mitbrachte, ebd., 181r −196r . 55 Vgl. Belege ebd., 216r −342r . 56 Vgl. die Belege von Auktionen in Hamburg und Wien, die Cyprians Neffe Johann Ernst für ihn erworben hat, ebd., 207r −213r , 216r −342r . 57 Vgl. ebd., 269r . 58 Cyprian, Ernst Salomon, Reise-Instruktionen für eine Reise Christian Siegismund Liebes und Georg Groschs im Auftrag Herzog Friedrichs II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, 1722 (FB Gotha, Chart. A 446, 289r –291r ), 290r .
»Damit er nicht mit fremden Augen sehen müste.«
»nicht nur vornehme Buchläden, sondern auch die Büchertrödelmärckte und geringe örther, wo manuscripta und Bücher verkaufft werden, zubesehen«.59 Cyprians Praktiken der Bewahrung, Ordnung und Bekanntmachung der Herzoglichen Bibliothek – theoretische Überlegungen zur Ausübung seines Amtes fehlen – unterschieden sich kaum von denen für seine eigene Büchersammlung. So trug er in beiden Bibliotheken für die angemessene Aufbewahrung der wertvollen Handschriften Sorge. »Das wetter, die mäuse und länge der zeit haben einige 100. Stücke unbrauchbar gemacht, und noch mehr sind geborget und nicht wieder erstattet, oder auch aus der bibliotheque selbst hinweg gestohlen worden […]«, konstatierte er für handschriftliche Dokumente der Herzoglichen Bibliothek,60 ließ Bände binden oder lose Blätter befestigen.61 Wegen »Alters und der bisherigen Sorglosigkeit« in schlechtem Zustand befindliche Autographen, die er für seine eigene Sammlung erworben hatte, ließ er reparieren.62 Allerdings legte er auf eine einheitliche Gestaltung der Einbände keinen Wert.63 Cyprian las mit der Feder in der Hand. Während er jedoch die Handschriften der Herzoglichen Bibliothek durcharbeitete, indem er sich auf zusätzlichen Blättern Notizen machte,64 stehen seine Anmerkungen zu seinen eigenen Büchern auf den wertvollen Autographen selbst.65 Ordnende Hand legte er nicht nur an die herzoglichen Bücher an.66 Er beschriftete auch die Handschriftenbände seiner Privatbibliothek,67 nummerierte die gedruckten Werke in seinem Besitz68 und ordnete sie platzsparend nach 59 60 61 62 63
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Ebd., 291r . Cyprian, Uhrkunden, 358. FB Gotha, Chart. A 336−338. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 621. So der Vermerk Cyprians von 1711 in seiner Sammlung reformationsgeschichtlicher Autographen (FB Gotha, Gym 5, 4r−v ). In einem Entwurf für einen Vertrag zum Verkauf seiner Sammlung lässt Cyprian schreiben: »Der Verkäuffer [d.i. Cyprian, K.P.] meldet zum Voraus, daß die Bücher nicht alle Frantzösische, oder sonst zierliche Bände haben, und demnach werden sie angenommen, wie sie in einer Bibliotheque, so lang gestanden hat, und aus vielen Ländern zusammen gesucht [Einschub von Cyprians Hand: viel 1000 piecen nach Erforderung der Gleichheit der Materien gebunden] worden, zu seyn pflegen«. Akten, den Verkauf der Bibliothek Cyprians betreffend (LATh – StA Gotha, Schloßkirche, Nr. 88), 368v . So hat Cyprian den 280 Dokumente zählenden Briefwechsel Stephan Gerlachs, der während seiner Amtszeit in die Herzogliche Bibliothek Gotha kam, mit zusätzlichen Blättern, auf denen er sich Notizen zum Briefwechsel gemacht hatte, binden lassen (FB Gotha, Chart. A 407). Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 789. Inhaltsangaben zu einzelnen Handschriftenbänden notierte er auf gesonderten Blättern, z. B. Chart. A 379, 5r−v . Z.B. in FB Gotha, Gym. 5. So beschriftete er die Handschriftenbände, vgl. z. B. Titelschild auf FB Gotha, Chart. A 407. Vgl. Titelschilder von Cyprians Hand auf FB Gotha, Chart. A 263, 266. In seinem ersten Testament gibt Cyprian an, alle in seinem gedruckten Katalog aufgeführten Bücher »unten mit numern bezeichnet« zu haben (Cyprian, Ernst Salomon, Erstes Testament,
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Formaten.69 Auch stellte er – in diesem Falle anders als in der Herzoglichen Bibliothek, in der Drucke und Handschriften organisatorisch voneinander getrennt aufbewahrt wurden – handschriftliches und gedrucktes Material thematisch zusammen und beließ auch nur wenige Seiten zählende Drucke bei den Briefen, in denen sie ihm von Gelehrten mitgeschickt worden waren.70 Natürlich nutzte Cyprian Bücher der Herzoglichen Bibliothek für seine eigenen Studien, entlieh sie auch und lieferte sie »richtig und wohl zurück«.71 Cyprian kommentierte eine Quittung ausführlich: Umb Richtigkeit willen will ich nun gar kein Buch von fürstl. bibliotheque borgen. Oder da ich ie zu Serenissimi dinst einige erborgen müßte, will ich Zeddel drüber geben, auch Jahr und tag dazu schreiben. Demnach würde kein Zeddel von mir gültig seyn, wenn nach meinem seel. Todt welche vorgezeiget würden, es müsste denn NB. iahr und tag, und zwar über den XI. Januarii 1725 hinaus darauf stehen. Scrib. D. 12. Jan. 1725. Gotha.72
Sollte Cyprian hier tatsächlich säumig gewesen sein oder wollte er auch für sich selbst keine Ausnahme von der erst von ihm wieder eingeführten Praxis der Entleihung mittels Leihschein73 machen? Es ließe sich vermuten, dass Cyprians Einfluss auf den Bestandsaufbau und die für ihn leichte Zugänglichkeit der Herzoglichen Bibliothek die Zusammensetzung der eigenen Sammlung geprägt haben könnten. Doch dass Cyprian Bücher allein nur deshalb für die Herzogliche Bibliothek erwarb, weil er sie selbst nicht erwerben konnte oder wollte, lässt sich aus den überlieferten Quellen nicht belegen. Seiner Aussage, er habe nach 1733 keine Bücher mehr erworben, weil er »die hochf[ürst]l[ichen] Bibliothequen zu gebrauchen« habe, 74 ist nicht zu trauen. Dagegen sprechen die von Cyprian sorgfältig aufbewahrten Rechnungen75 und die zahlreichen, im Katalog von 1733 verzeichneten Wer-
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Gotha, 09.02.1740, FB Gotha, Chart. A 1380, 11r −19v , 17r ). Tatsächlich sind an den wenigen überlieferten Bänden fortlaufende Nummern am unteren Teil des Buchrückens sichtbar. Dies lassen die Ordnung des gedruckten Bibliothekskatalogs, die nach Formaten erfolgte, und die Zählung des Nachlassverwalters (vgl. Anm. 100) vermuten. Z.B. Aktensammlung (LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv MMM Nr. 9, Titelschild, Vorderdeckel) und FB Gotha, Chart. A 447. Cyprian, Ernst Salomon, Schriftliche Nachrichten, s.l. [Gotha], 1735−1745 (LATh – StA Gotha, Schlosskirche Gotha, Nr. 87), 347r . Davon zeugen Quittungen, die der Bibliothekar Meier für Cyprian ausstellte, z. B. Meier, Quittung. Ebd. So Jacobs, Beiträge, 16. Akten, den Verkauf der Bibliothek Cyprians betreffend (LATh – StA Gotha, Schloßkirche, Nr. 88), 371r . Vgl. z. B. Cyprian, Ernst Salomon, Schriftliche Nachrichten, s.l. [Gotha], 1735−1745 (LATh – StA Gotha, Schlosskirche Gotha, Nr. 87), 160r −180r .
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ke, welche die Nachlassverwalter nach seinem Tod zählten.76 Cyprian besaß zahlreiche hochpreisige Bücher, darunter Nachschlagewerke, die auch in einer fürstlichen, auf Repräsentation ausgerichteten Büchersammlung wie der Gothaer nicht fehlen durften.77 Und er befand sich mit seinen Bücherwünschen durchaus in Konkurrenz zu Herzog Friedrich II., seinem Dienstherrn. »Deß Chrysostomii opera habe ich nicht bekommen«, notierte Cyprian und schrieb weiter: »Sondern Serenissmus haben sie vor dero bibliotheque genommen und behalten«.78 Auch tauschten Friedrich II. und Cyprian Bücher, 1723 etwa erhielt der Gelehrte zwölf Dubletten gedruckter Werke aus der Herzoglichen Bibliothek für zwei seiner Handschriften.79 Diejenigen Schriften, mit denen Cyprian bis zu seinem Tod zu Hause arbeitete, fanden seine Nachlassverwalter geordnet in der Studierstube seines Hauses in Wechmar, einem neun Kilometer südöstlich von der Residenzstadt Gotha gelegenen Ort, vor.80 Wohlverwahrt neben den Büchern befanden sich der Schlüssel zu seinem Arbeitszimmer in der Herzoglichen Bibliothek,81 drei von Cyprian in seiner Funktion als Assessor des Gothaer Oberkonsistoriums angelegte Aktenbände82 und Cyprians Auffassung nach brisante Papiere, die nach seinem Tod »verbrandt, oder doch wohl verwahret« werden sollten.83 Solche Materialien zu Hause aufzubewahren, war durchaus gängige zeitgenössische Praxis,84 deutet jedoch auch darauf hin, wie wichtig sie Cyprian waren 76 Vgl. Akten, den Verkauf der Bibliothek Cyprians betreffend (LATh – StA Gotha, Schloßkirche, Nr. 88), 38v . 77 Vgl. z. B. die in Anm. 28 angegebenen Folianten. Bei Stichproben anhand des Privatbibliothekskatalogs von Cyprian und der überlieferten Herzoglichen Bibliothek Gotha konnten zwar zahlreiche gleiche Titel in beiden Bibliotheken ermittelt werden. Da der Erwerbungszeitpunkt der überlieferten Bände aus der Herzoglichen Bibliothek nicht festgestellt werden konnte oder nach Cyprians Tod liegt, können derzeit keine nachweisbaren Beispiele angeführt werden. 78 Cyprian, Ernst Salomon, Schriftliche Nachrichten, s.l. [Gotha], 1735−1745 (LATh – StA Gotha, Schlosskirche Gotha, Nr. 87), 200v . 79 Cyprian erhielt für zwei Handschriften mit Ciceros Tusculanae disputationes (heute FB Gotha, Memb. II 102) und Werke von Poggio Bracciolini (heute FB Gotha, Memb. II 110) zwölf gedruckte Werke. Vgl. Akten zum Testament Ernst Salomon Cyprians, 1740 (FB Gotha, Chart. A 1380), 2r −3v . 80 Vgl. Cyprian, Ernst Salomon, Zweites Testament, Gotha, 03.09.1745 (FB Gotha, Chart. A 1379a, 1−20), 16r ; Golde, Protokoll, 166r −186v . 81 Freiesleben, Bestätigung. 82 Die Bände schenkte Cyprian testamentarisch seinem Neffen, der sie weitergab. Sie kamen fast ein halbes Jahrhundert nach Cyprians Tod in das Archiv des Gothaer Oberkonsistoriums (LATh – StA Gotha, Oberkonsistorium Generalia, Loc. 129 Nr. 6b). 83 Aktensammlung Ernst Salomon Cyprians zur Abendmahlsfrage bei der Vermählung der Gothaer Prinzessin Augusta mit dem Prince of Wales, 1722−1736 (LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv MMM Nr. 9), Titelschild auf dem Vorderdeckel. 84 Vgl. Friedrich, Geburt, 143f.
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und als wie eng miteinander verwoben er seine kirchenleitenden und kirchenhistorischen Arbeiten verstand. Seinem »Arbeitscabinett« in der Herzoglichen Bibliothek stiftete Cyprian übrigens sein großes Ölporträt, weil er »darinnen viel gebethet und gearbeitet, auch der Bibliotheque keine Unehre gemacht« habe.85 Cyprian wollte mit seinen Bibliotheksaktivitäten öffentlich wirken. Die Bedeutung handschriftlicher und gedruckter Kataloge war ihm dabei bewusst.86 Schon ein Jahr nach seinem Amtsantritt als Direktor der Herzoglichen Bibliothek veröffentlichte er den ersten gedruckten Katalog zu ihren Handschriften,87 der noch am Ende des 18. Jahrhunderts in Reiseberichten als Markenzeichen der Bibliothek galt.88 In diesem Katalog ging es Cyprian keineswegs um Vollständigkeit, sondern er publizierte pointiert und ausführlich die kirchengeschichtlichen Handschriften. Den Katalog seiner eigenen Bibliothek ließ er gleich zweimal, 1726 und 1733, drucken.89 Das war nicht ungewöhnlich, denn die Bücherkenntnis galt nach Cyprians eigenen Worten nicht nur als »Werkzeug der Weisheit« und »Zierde des gebildeten Mannes«.90 Gedruckte Bibliothekskataloge waren Ausweis eigener Gelehrsamkeit und, indem sie das verfügbare Wissen ordneten, zugleich Nachschlagewerke für die Respublica litteraria.91 Im Vorwort seines Katalogs stellte er diesen mit der Aufzählung großer Privatbibliotheken und ihrer Kataloge in die Reihe vorbildlich gearbeiteter Bibliographien. Cyprian hatte in seinem Katalog die Titel nach Formaten sowie innerhalb dieser nach der konfessionellen Zugehörigkeit ihrer Verfasser geordnet,92 den Katalog durch ein 85 Akten zum Testament Ernst Salomon Cyprians, 1740 (FB Gotha, Chart. A 1380), 32v . Herzog Friedrich III. bewilligte die Aufstellung des Gemäldes in der Bibliothek. 86 So instruierte Cyprian Liebe und Grosch für ihre Reise in die Niederlande 1722 »die gedruckten catalogus berühmter Bibliothequen […] bedachtsam [zu] lesen« und sich »die geschriebenen vorzeigen [zu] laßen«. Cyprian, Ernst Salomon, Reise-Instruktionen für eine Reise Christian Siegismund Liebes und Georg Groschs im Auftrag Herzog Friedrichs II. von Sachsen-GothaAltenburg, 1722 (FB Gotha, Chart. A 446, 289r –291r ), 290r . 87 Cyprian, Catalogus. 88 Vgl. z. B. Will, Briefe, 149. 89 Cyprian, Bibliotheca, 1726 und 1733. Beide Kataloge sind ähnlich aufgebaut. Zu einer weiteren Ausgabe nach Cyprians Tod, 1747, mit verändertem Titelblatt und neu gesetzter erster Lage vgl. Mitscherling, Nachlaß, 235. 90 »[…] est enim, ut linguarum, ita librorum notitia nudum sapientiae instrumentum, eruditi hominis decus […]«. Cyprian, Bibliotheca, 1733, Praefatio nova, 3v . 91 Vgl. grundlegend Conring, De bibliothecae. 92 Wollen wir heute anhand der Erscheinungsjahre Rückschlüsse auf die Aktualität der Bibliothek in ihrer Zeit ziehen, so ist dies kaum möglich, da bei den in deutschen Territorien gedruckten Werken Erscheinungsorte und -jahre fehlen. Der (zeitgenössische) Katalognutzer, so Cyprian im Vorwort seines Katalogs, habe diese Daten nicht nötig, da er die Werke einzuordnen wisse.
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Inhaltsverzeichnis sowie mehrere Sachregister erschlossen und mit einem Verzeichnis seiner eigenen Schriften versehen. Um eine annotierte Bibliographie handelt es sich jedoch bei diesem Katalog nicht, denn nur vereinzelt finden sich bibliographische Notizen,93 Verweise auf andere Titel94 oder ein Provenienzvermerk.95 Cyprian nannte seinen fast 800 Seiten umfassenden Katalog liebevoll sein »Büchlein meiner Büchlein«.96 Die erste Auflage von 1726 enthält etwa 6.000, die zweite von 1733 etwa 8.000 ausschließlich gedruckte Werke.97 Die Herzogliche Bibliothek Gotha hatte im letztgenannten Jahr nur etwa dreimal so viele Bände.98 Mindestens 70 Handschriftenbände, die nicht in den Katalogen aufgeführt sind, vermachte Cyprian testamentarisch seinem Neffen Georg Caspar Brehm (1713−1782).99 Und der zweiten Auflage seines gedruckten Katalogs, so Cyprians Nachlassverwalter, seien noch »über 80 Folianten, 220 Quartanten, 350 octav und über 60 duodez bände« hinzuzuzählen.100 So gehörte Cyprians Bi93 Vgl. Cyprian, Bibliotheca, 1733, 14. 94 Z.B. »Opus hoc plurima continet de vetere Thuringia. Vid. Indicem vocabulo: Thuringia.« Cyprian, Bibliotheca, 1726, 76. 95 Z.B. »Donum editoris«. Cyprian, Bibliotheca, 1733, 12. 96 »[…] Libellum de libellis suis […]«. So in der handschriftlichen Widmung Cyprians in einem Exemplar seines Bibliothekskatalogs von 1726, das er der Bibliothek des Coburger Gymnasiums schenkte (Landesbibliothek Coburg, Cas A 4523). Vgl. Bibliotheca Casimiriana, 15. In der Landesbibliothek Coburg sind auch weitere Bände vorhanden, die Cyprian im Laufe seines Lebens nach Coburg schenkte (vgl. Landesbibliothek Coburg, Cas B 86, Cas A 2257, Cas B 419, A IV 1/6, Cas A 3879, Cas A 324, S II 6/59). 97 Zahlen nach Mitscherling, Nachlaß, 234. Die einzelnen Titel des Bibliothekskatalogs sind nicht nummeriert. Eine seitenweise Auszählung des Katalogs, wie sie Mitscherling vorschlägt, und damit eine exakte Umfangsermittlung der Bibliothek gelänge nur bei intensiver bibliographischer Recherche zu jedem einzelnen Titel, da eine Unterscheidung zwischen einem selbstständig erschienenen Werk und einem beigedruckten bzw. beigefügten Werk oder einer Inhaltsangabe ebenso wenig möglich ist wie die Entscheidung, ob die einzelnen Teile eines mehrbändigen Werkes eine eigene Buchbindereinheit darstellen oder mit anderen Teilen des jeweiligen Titels zusammengebunden sind. – Die Durchsicht beider Kataloge ergab, dass Cyprian zwischen 1726 und der Drucklegung des zweiten Katalogs, 1733, zwar zahlreiche Titel neu angeschafft, jedoch keine Werke aus seiner Bibliothek entnommen hat. 98 25.048 Bände, die bei der Bestandsrevision anlässlich des Todes Herzog Friedrichs II. von Sachsen-Gotha-Altenburg und der Amtsübernahme durch seinen Sohn durch die Bibliotheksmitarbeiter und Cyprian ermittelt und am 08.10.1733 an den Herzog gemeldet wurden. Vgl. Akten zur Herzoglichen Bibliothek Gotha (LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv, UU XXXIX, 11a, 20r −22v ). 99 Brehm verkaufte sie 22 Jahre nach Cyprians Tod, 1767, an die Herzogliche Bibliothek. Vgl. Mitscherling, Nachlaß, 240. 100 Akten, den Verkauf der Bibliothek Cyprians betreffend (LATh – StA Gotha, Schloßkirche, Nr. 88), 38v . In weiteren Akten ist wiederholt von einem handschriftlichen Katalog der
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bliothek am Ende seines Lebens zu den großen Privatsammlungen lutherischer Theologen seiner Zeit.101 Cyprians Bibliothekskatalog war seine Visitenkarte, er wurde breit rezipiert.102 Cyprian verschenkte den Katalog unter anderem an seine ehemalige Wirkungsstätte, das Gymnasium Casimirianum nach Coburg.103 Gelehrte wie der mit Cyprian befreundete Theologe Erdmann Neumeister baten Cyprian auf der Suche nach Literatur, sowohl in der Herzoglichen Bibliothek als auch in seiner eigenen Büchersammlung nachzusehen.104 Über den Nachweis von Literatur hinaus verfolgte Cyprian mit seinem Katalog weitere Anliegen. So sollte der Katalog seiner »kleinen Bibliothek«105 der theologischen Ausbildung von Theologen dienen und ihnen Quellen und Hilfsmittel zum Studium an die Hand geben.106 Konkret hatte Cyprian seinen Katalog für die Unterrichtung der angehenden Gothaer Pfarrer bestimmt,107 für die er zuständig war. Doch Cyprian diente der Katalog auch dazu, seine gedruckte108 Bibliothek geschlossen zu verkaufen. Und dazu verschickte er seinen Katalog. Bereits ein Jahr nach der ersten Veröffentlichung des Katalogs bot er sie der Herzoglichen Bibliothek im benachbarten Weimar an.109 1733 versuchte der mit Cyprian
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»nachgekauften«, d. h. nach der Veröffentlichung des zweiten gedruckten Katalogs von 1733 angeschafften Bücher bzw. von einem dem Katalog »beigefügten geschriebenen Supplemento« die Rede (Akten zum Verkauf der Bibliothek Ernst Salomon Cyprians, 1746 (LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv, XX VI, 81, 2 bzw. Schläger, Schreiben, 10.02.1746, 6r ). Dieses Supplement ist nicht überliefert. Vgl. Streich, Büchersammlungen. Cyprian hatte in seinem Handexemplar acht Rezensionen notiert (FB Gotha, Buch 8° 00059/01). Vgl. Anm. 96. »Ich melde mich mit einer angelegenen Bitte […]. Wofern in der fürstlichen oder in I[hro] Magnif[icenz] Bibliothek Tetzels zwo Disputationen contra Lutherum, zu Frankfurt gedruckt, sich befänden, so wollte gehorsamst ersucht haben, sie auf meine Kosten jemand abschreiben […] zu lassen«. Zitiert nach Wotschke, Briefe, 153. »Der Undanck, welchen ich in meinem Leben verschlucken müssen, kostet mich vielmehr Geldes, als meine kleine Bibliothek«. So Fischer, Cyprian, 45. Vgl. auch das Zitat in der folgenden Fußnote. »[…] ut ministerii ecclesiastici candidatorum, qui scholas nostras theologicas freqentant, utilitatibus serviens bibliotheculam«. Cyprian, Bibliotheca, 1733, Vorwort, 2. Fischer, Cyprian, 108. Handschriftliche Materialien sind nicht im Katalog enthalten. Sie wollte Cyprian an ausgewählte Personen oder auch an die Herzogliche Bibliothek verschenken. Das geht aus einem Gutachten Johann Matthias Gesners (1691−1761) vom 29.10.1727 hervor. Cyprian hatte 5.000 Taler gefordert, Gesner bewertete die Bibliothek mit 4.707 Talern, wobei für etwa 2.040 Taler Dubletten darunter wären, die verkauft werden könnten. Gesner riet zum Kauf, da die Bibliothek Cyprians reich an polemischer Theologie sei. Ein weiterer Interessent für die Bibliothek war der Wittenberger Buchhändler Knoch, dem der Katalog vom Verleger
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befreundete Gothaer Diplomat Gustav Adolf von Gotter (1692−1762)110 über den dänischen Gesandten am Kaiserhof in Wien, Christian August von Berkenthin (1694−1758), Cyprians Anliegen an die Universität Kopenhagen zu vermitteln.111 Zwischen 1738 und 1742 schließlich bemühte sich der Historiker und russische Hofkammerrat Gottlob Friedrich Wilhelm Juncker (1703−1746), Sohn des mit Cyprian befreundeten Historiographen Christian Juncker (1668−1714), um Übernahme der Sammlung an den Hof der russischen Kaiserin Elisabeth (1709−1762, reg. 1741−1762).112 Alle Bemühungen scheiterten. Die Gründe für seine Verkaufsabsichten hat Cyprian nicht schriftlich festgehalten. Von Geldnöten war bei ihm nie die Rede, selbst wenn er anlässlich seiner Versuche, die Bibliothek zu verkaufen, von seinen »schwehren Kosten« sprach.113 Doch Cyprian war nach Aussagen seines Biografen Fischer »von Leibes-Constitution schwach gewesen, und hat das zwey und dreyßigste Jahr zu erleben nicht verhoffet«.114 Auch blieben seine beiden Ehen kinderlos.115 Auf seine Geschwister und ihre Familien war Cyprian, abgesehen von seinem Neffen Brehm, nicht gut zu sprechen.116 1735 ordnete er in Erwartung seines
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Johann Andreas Reyher zugesandt worden war. Vgl. Blumenthal, Regesten. Für den Auszug aus den Regesten danke ich Dr. Jürgen Weber. Die Originalakten, auf deren Grundlage die Regesten erstellt worden sind, sind 1945 in der Auslagerungsstelle des Archivs in Bad Sulza verbrannt (Freundliche Auskunft von Dr. Michael Knoche). Gotter war bis 1732 außerordentlicher Gesandter Herzog Friedrichs III. von Sachsen-GothaAltenburg am Kaiserhof in Wien und kaufte 1734 das Rittergut Molsdorf in der Nähe Gothas. Vgl. Beck, Gotter. Nach Cyprians Tod erwarb Gotter auf der ersten Verauktionierung von Cyprians Bibliothek eine Reihe von Drucken. Elf dieser Drucke sind heute in der Forschungsbibliothek Gotha überliefert, da Gotters Bibliothek zusammen mit der Schlossbibliothek Molsdorf 1823 in die Herzogliche Bibliothek Gotha integriert wurde. Vgl. Liste der Drucke bei Seifert, Rekonstruktion, 28f. Cyprian, Ernst Salomon, Schriftliche Nachrichten, s.l. [Gotha], 1735−1745 (LATh – StA Gotha, Schlosskirche Gotha, Nr. 87), 356r −361r . Ebd., 362r −377v . Akten, den Verkauf der Bibliothek Cyprians betreffend (LATh – StA Gotha, Schloßkirche, Nr. 88), 30r . Fischer, Cyprian, 47. Seine Kinderlosigkeit thematisierte Cyprian anlässlich seiner Bemühungen, seine Bibliothek nach Russland zu verkaufen. Danach hätte er auch der Zerstreuung seiner Bibliothek nach ihrem Ankauf durch die russische Kaiserin zugestimmt. Vgl. Cyprian, Ernst Salomon, Schriftliche Nachrichten, s.l. [Gotha], 1735−1745 (LATh – StA Gotha, Schlosskirche Gotha, Nr. 87), 371r . In seinem zweiten Testament schrieb Cyprian: »Es ist meine Meynung, gar nicht, daß sie die Mobilien in natura bekommen sollen. Nein! Das würde nur großen Aufenthalt und Zänkereyen verursachen. Kein eintziges Stück darff an sie kommen, sie haben sich auch gar nicht in den Verkauff einzumischen, sondern blos und allein bares Geld sollen sie haben«.
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Todes seine Unterlagen.117 1740 verfasste er sein erstes Testament, in dem er seinen Besitz seiner Ehefrau übereignete. Seine Bibliothek bestimmte er jedoch zum Verkauf in einer Auktion, wobei die erlöste Summe auf der Gothaer Landschaftskasse angelegt werden und deren Zinsen dann seinen Geschwistern zukommen sollten.118 Nur wenige Tage vor seinem Tod 1745 ließ er sein zweites Testament aufsetzen, wobei er an seiner Verfügung zur Bibliothek nichts änderte.119 3.
Cyprians Bibliotheken im Dienst der Kirchengeschichtsschreibung
Cyprian setzte Bücher sehr bewusst als Medien der Verbreitung religiöser und theologischer Inhalte ein. Gleich mit seinem Amtsantritt als Konsistorialrat gab er normative theologische Texte für Sachsen-Gotha-Altenburg heraus.120 Darüber hinaus initiierte er den Ankauf von seelsorgerlicher, speziell für das Herzogtum erstellter Literatur für alle Pfarreien des Territoriums.121 Cyprian wurde von Herzog Friedrich II. – erinnert sei an die eingangs zitierte Instruktion zu seinem Dienstantritt – gerade wegen seiner Expertise auf dem Feld der Kirchengeschichte und konkret zum Abschluss des vom Herzog Historia Ecclesiastica genannten Compendium Historiae Ecclesiasticae Gothanum nach Gotha geholt.122 Und gerade für die Möglichkeit, nicht nur als Kirchenrat tätig zu sein, sondern auch seine kirchengeschichtlichen Aktivitäten fortsetzen
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Cyprian, Ernst Salomon, Zweites Testament, Gotha, 03.09.1745 (FB Gotha, Chart. A 1379a, 1−20), 17r −17v . Vgl. Cyprian, Ernst Salomon, Schriftliche Nachrichten, s.l. [Gotha], 1735−1745 (LATh – StA Gotha, Schlosskirche Gotha, Nr. 87). Cyprian, Ernst Salomon, Erstes Testament, Gotha, 09.02.1740 (FB Gotha, Chart. A 1380, 11r −19v ), 15r . Cyprians Bestimmungen zur Bibliothek in den Paragrafen 4 bis 6 (15r −17v ). Vgl. auch die ausführlichen Ausführungen Cyprians in: Akten, den Verkauf der Bibliothek Cyprians betreffend (LATh – StA Gotha, Schloßkirche, Nr. 88), 15r−v . Cyprian, Ernst Salomon, Zweites Testament, Gotha, 03.09.1745 (FB Gotha, Chart. A 1379a, 1−20). Die Änderung war notwendig, da sich der Tod von Cyprians zweiter Ehefrau, Anna Sophia Cyprian, geb. Bachoff (1707−1745), die sein Erbe antreten sollte, abzeichnete. Sie starb dann auch wenige Tage vor Cyprian. Den Verkauf bzw. die Verauktionierung der Bibliothek übernahm das Gothaer Oberkonsistorium. Vgl. Koch, Kirchenleitung, 287f. Koch, Bedeutung, 28. Vgl. Zitat oben und Anm. 3. Die Aussage »zu Verfertigung der albereit unter handen habenden Vollständigen Historiae Ecclesiasticae« bezieht Gehrt, Arnold, 55, auf die Widerlegung der Ketzerhistorie Arnolds durch Cyprian. Meines Erachtens ist hier jedoch tatsächlich das Compendium Historiae Ecclesiasticae Gothanum gemeint, das unter Seckendorff begonnen worden war.
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zu können, dankte Cyprian dem Herzog ausdrücklich.123 Das Compendium Gothanum hatte Veit Ludwig von Seckendorff im Auftrag Herzog Ernsts I. von Sachsen-Gotha in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begonnen. Mit dem Abschluss des Werkes durch Cyprian setzte Herzog Friedrich II. bewusst die Erinnerungspolitik seines Großvaters fort. Und Cyprian formulierte im Compendium Gothanum nicht weniger als die »historische Identität« des orthodoxen Luthertums.124 Als Dank für die Fertigstellung des Werkes übernahm Herzog Friedrich II. die Druckkosten für den Katalog von Cyprians Privatbibliothek.125 Zu Lebzeiten Cyprians wurde das Compendium Gothanum an mehreren evangelisch-lutherischen Universitäten als kirchengeschichtliches Lehrbuch eingesetzt.126 Cyprian verfasste nicht nur die Fortsetzung des Compendium Gothanum und dokumentierte in seiner Schrift Hilaria evangelica die Aktivitäten in den protestantischen Territorien für das Reformationsjubiläum 1717.127 Er schrieb in Gotha weitere 29, meist umfangreiche Werke und edierte zahlreiche Quellen.128 Mit seinen Publikationen verteidigte Cyprian das Luthertum schlechthin. »Es hielte nemlich Herr D. Cyprian«, so sein Schüler und Biograf Fischer, »die Reformation Lutheri mit Grund der Wahrheit für das allerwichtigste Werck, so sich nach der Apostel zeiten in der Kirchen zugetragen. Darum sammlete er die darzu gehörigen Documenta mit so großen Fleiß, damit er nicht mit fremden Augen sehen müste«.129 Denn keinem der christlichen Lehrer, so stellte Cyprian im Vorwort zu seinem gedruckten Bibliothekskatalog ausdrücklich fest, sei es möglich, mit fremden Augen zu sehen oder aus dem Unbekannten zu urteilen. Daher sei es für jeden am vernünftigsten, zu den Quellen zu eilen.130 Die Nutzung von Originalen zeigte damit nicht nur Cyprians Nähe zu den historischen Akteuren, sondern bezeugte die Vertrauenswürdigkeit seiner eigenen Arbeit, die dadurch
123 Cyprian, Ernst Salomon, Dankschreiben an Herzog Friedrich II. von Sachsen-GothaAltenburg, Coburg, 03.08.1713 (LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv UU III, Nr. 18, 11r −12r ), 11r . 124 Fleischer, Strukturwandel, 144. 125 Vgl. Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, Erklärung zur Übernahme der Druckkosten von Cyprians Privatbibliothekskatalog, Gotha, 17.04.1724 (FB Gotha, Chart. A 1379, 19r ). 126 In Leipzig 1727, in Rostock 1725 und in Altdorf 1725. So Wetzel, Kirchengeschichtsschreibung, 304. 127 Vgl. den Beitrag von Daniel Gehrt in diesem Band und Cordes, Cyprian. 128 Vgl. das kommentierte Verzeichnis von Cyprians Schriften in Fischer, Cyprian, 70−114. 129 Ebd., 67. 130 »Nemini enim doctorum christianorum, quascunque tandem opiniones sequatur, alienis videre oculis, aut de incognitis iudicare fas est: unde sapientissimum quemque properare ad fontes, […].« Cyprian, Bibliotheca, 1733, Präaefatio nova, [2r ].
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»unwiederleglich worden«.131 Die »Beweißthümer der Warheit«, so Cyprian an anderer Stelle, könne man nur »aus denen Original-Acten, und Zeugnissen des Gegentheils erhohlen wollen«.132 Diese »Original-Acten« zitierte er in großem Umfang in den Anmerkungen seiner kirchengeschichtlichen Werke und reihte dort zahlreiche Belege aneinander. Auch erwarb er originales handschriftliches Material oder verbürgte Abschriften sowohl für die Herzogliche als auch für seine private Büchersammlung und baute »seine« Bibliotheken so zu Orten der Sammlung, Speicherung und Verarbeitung kirchengeschichtlicher Informationsquellen ersten Ranges aus. »Aus dem Staube« habe er das Material aufgesammelt, notierte Cyprian auf einem Aktendeckel.133 Es war »nicht anders«, so Cyprians Biograf, »als wenn, während seiner Direction über die […] Bibliothek […] seinem gnädigsten Herrn die Original-Documenta, und rare Stücke, zuflögen«.134 Herzog Friedrich II., dessen Sammelleidenschaft bekannt war,135 ging mit Cyprian, der ihn ausgesprochen schätzte,136 geradezu eine Symbiose ein. Mit Cyprians »reichlich angeschaffte[n] Hülffs-Mittel[n]«,137 die diesem Grundlage seiner kirchengeschichtlichen Publikationen waren, setzte der Herzog nicht nur die Erinnerungspolitik, sondern zugleich die Sammelpolitik seines Großvaters und seines Vaters fort, die beide für Seckendorff umfangreiches Material hatten zusammentragen lassen.138 In der Herzoglichen Bibliothek erarbeitete Cyprian seine Werke, für Herzog Friedrich II. war sie Versammlungsort. Hier traf er
131 »Es ist nunmehro ein Buch, welches durch die vortreffliche documenta unwiederleglich worden«. So Cyprian, Pro memoria Serenissimi, in: Cyprian, Historia, [vor dem Titelblatt eingeheftete Handschrift Cyprians]. 132 Cyprian, Historia, 14. 133 LATh – StA Gotha, Oberkonsistorium Generalia, Loc 29b, Nr. 68. 134 Fischer, Cyprian, 47. 135 Vgl. Friedrichs II. Huldigung durch Erdmann Neumeister als »Auge der evangelischen Kirche«: »[…] daß Regenten, welche vor andern der Gottseligkeit obgelegen, und die Beförderung der Religion zu ihrem vornehmsten Geschäffte gesetzet haben, sich auch besonders die Bibliothecken angelegen seyn lassen«. Neumeister, Widmung, 3r . 136 Von Cyprians Vorhaben, eine Biographie über Friedrich II. zu verfassen, zeugt eine überlieferte handschriftliche Gliederung, die nicht ausgeführt wurde. Vgl. Cyprian, Ernst Salomon, Gliederung einer Biographie über Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, [vor 1745] (FB Gotha, Chart. A 1092 [3]). 137 Cyprian, Historia, 9. 138 Laut Seckendorff hatte Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha(-Altenburg) ihm mehr als »hundert Stöße Akten« zur Verfügung gestellt, die der Herzog von seinen Vorfahren erhalten oder selbst gesammelt hatte. Herzog Friedrich I. von Sachsen-Gotha-Altenburg stellte Seckendorff mehr als 420 Handschriftenbände aus dem EGA Weimar zur Verfügung. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, XXIV.
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sich mit seinen Beratern, zu denen auch Cyprian zählte, um die Kirchenunionsbestrebungen des Corpus Evangelicorum zu besprechen, »damit man«, wie Cyprians Biograf schrieb, »alle Documenta bey handen haben könnte«.139 Und neben der Herzoglichen Bibliothek verfügte Cyprian über seine private Büchersammlung, die als eine kirchengeschichtliche, den Kanon protestantischer Kirchengeschichtsschreibung repräsentierende Sammlung anzusprechen ist. »Nirgendwo«, so Cyprians Biograf Fischer, wird man die historiam und fontes sectarum, errorum und controversiarum leicht so schön und reichlich beysammen finden, als in dieser Bibliotheck. Die Liebhaber der Kirchen- und Civil-Historie finden in derselben einen so reichen, als raren Vorrath von alten und neuen Scribenten. Nicht leicht wird man irgendwo so viele Documenta der Reformations-Historie beysammen finden, als allhier.140
Auch wenn Fischer hier möglicherweise übertreibt – und ein Vergleich etwa mit den größeren kirchengeschichtlichen Sammlungen von Cyprians theologischen Mitstreitern Neumann und Löscher steht noch aus –, so treten Cyprians Interessen doch in seiner Privatsammlung sehr deutlich hervor: Cyprian sammelte Werke zur Herleitung der Reformation aus der vorchristlichen und christlichen Kirchengeschichte und trug die Schriften der lutherischen, reformierten und katholischen Kirchenhistoriker, die Dokumentationen der Reformationsjubiläen und die Literatur zu den vielfältigen Vereinigungsbestrebungen der unterschiedlichen Konfessionen zusammen. Ihn interessierten darüber hinaus die zeitgenössischen, abweichenden Strömungen, die Pietisten ebenso wie die »Arminianer, Sozinianer und Antitrinitarier«, die »Anabaptisten, Quäker und Fanatiker« sowie die »Naturalisten, Rationalisten und Atheisten«.141 Deren Werke führte Cyprian gleichberechtigt zu allen anderen Werken in seinem Bibliothekskatalog auf, helfe doch die Kenntnis dieser Bücher der Jugend ebenso bei ihren theologischen Studien.142 Unabdingbar für das Studium der Kirchengeschichte hielt Cyprian auch Werke der Universal-, Profan- und Lokalgeschichte, einen bibliographischen Handapparat mit Zeitschriften, Bibliotheks- und Münzkatalogen, Bibliographien, Briefsammlungen und Lebensbeschreibungen sowie Klassiker der römischen und griechischen Antike und erdkundliche Beschreibungen der europäischen 139 Fischer, Cyprian, 53. 140 Ebd., 67. 141 So die Überschriften in Cyprians gedruckten Bibliothekskatalogen: »Arminiani, Sociniani, et Antitrinitarii alii«, »Anabaptistae, Quackeri, et Fanatici alii«, »Philosophi, Naturalistae, Antiscripturarii et Athei«. Cyprian, Bibliotheca, 1733, Inhaltsverzeichnis. 142 Vgl. »tamen notitiae librorum comparandae nonnihil studii in adolescentia impendisse«. Cyprian, Bibliotheca, 1733, Praefatio nova, 3r .
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Städte und Territorien – sie hatte er deshalb in seinen Kosmos des Wissens, der sich heute in seinem Bibliothekskatalog manifestiert, eingeordnet. »Nebst dem worte gottes und Lutheri Catechismo«, so Cyprians Biograf, »war sein liebstes buch Grotius de iure belli et pacis, den er […] fast täglich zur Gemüths-Vergnügung gelesen hat«.143 Cyprian hatte den Band 1702 erworben, ihn durchgearbeitet und vermachte ihn testamentarisch der Herzoglichen Bibliothek.144 Das Grotius-Werk ist in einer anderen Ausgabe auch in Cyprians gedrucktem Bibliothekskatalog aufgeführt.145 Ob Cyprian alle die von ihm gesammelten gedruckten clandestinen Werke in seinen Katalog aufgenommen oder einige zurückgehalten hatte,146 wissen wir nicht. Jedoch kennen wir Drucke, die nicht im Katalog aufgeführt und gesondert aufgestellt waren. Dazu gehörten »Bücher, so zur täglichen Haußandacht gebrauchet worden«, und die vorrangig religiöse Schriften beinhaltende Manual-Bibliotheque seiner zweiten Frau.147 Ob das Kräuter-Lexicon und die Ausgabe des Robinson Crusoe, die in einem der Kataloge für die zwischen 1749 und 1754 durchgeführten Versteigerungen seiner Bibliothek enthalten sind,148 tatsächlich einen Blick auf Cyprians Lektüre in seinen Mußestunden freigeben, kann bislang nicht nachgewiesen werden.149
143 Fischer, Cyprian, 46. Cyprian schreibt selbst in seiner Verfügung zugunsten der Herzoglichen Bibliothek vom 31.08.1745: »Mein Grotius de jure belli et pacis in 8vo, an den ich beim täglichen Gebrauch sehr große Arbeit gethan«. Akten zum Testament Ernst Salomon Cyprians, 1740 (FB Gotha, Chart. A 1380), 33r . 144 FB Gotha, Chart. B 1427, Kaufvermerk auf dem Titelblatt; zur Übereignung an die Herzogliche Bibliothek vgl. Akten zum Testament Ernst Salomon Cyprians, 1740 (FB Gotha, Chart. A 1380), 34r . Der Band wurde dann für die Bibliotheca selecta neu eingebunden und beschnitten. Vgl. http://kalliope-verbund.info/de/ead?ead.id=DE-611-HS-2830887 [abgerufen: 01.05.2018]. 145 »Grotii de iure belli pacis libri III. Amstelodami 1632«. Cyprian, Bibliotheca, 1733, 938. 146 So Häfner, Bedeutung, 813, zur Praxis in frühneuzeitlichen Gelehrtenbibliotheken. 147 Die zur Hausandacht genutzten Bücher erhielten nach Cyprians Tod seine Diener, die Handbibliothek seiner Frau ging an deren Geschwister. Vgl. Golde, Johann Ernst, Protokoll über den Vollzug des Testaments von Ernst Salomon Cyprian 25.10.1745−28.09.1746 (FB Gotha, Chart. A 1379a, 166r −186v ), 180v . 148 »1144 de Franckenau Kräuter-Lexicon, 1736« und »1143 Robinson Crusoe Geschichte, 1721«. In: Pars Tertia, 72. Die Auktionskataloge zu seiner Bibliothek sind nicht sachlich gegliedert, sondern offensichtlich nach leichter zu verkaufenden Portionen geordnet. Innerhalb dieser Portionen sind die Bücher nach Buchformaten getrennt aufgeführt. Cyprians persönliche Anordnung der Bücher ist darin verlorengegangen. 149 Zu den Unwägbarkeiten der Auswertung von Auktionskatalogen vgl. Gebauer, Bücherauktion. Zum Phänomen der infizierten Auktionskataloge (»the salting of book-auction inventories«) und die Aussagekraft von Auktionskatalogen vgl. auch Suarez, Catalogues, bes. 324–332. Für den Hinweis danke ich herzlich Philipp Schmid (St Andrews).
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Mit seiner eigenen und der Herzoglichen Bibliothek verfügte Cyprian über eine bemerkenswerte Sammlung gedruckter kirchengeschichtlicher Literatur.150 Und beide Bibliotheken ergänzten sich hervorragend: Die in Cyprians Privatsammlung in so großem Umfang vorkommenden Drucke der zeitgenössischen inneren und äußeren Gegner der lutherischen Kirche, also Schriften, die zum Teil unter der Hand weitergegeben wurden oder nur wenige Seiten umfassten, sind kaum in der Herzoglichen Bibliothek zu finden. Solches gedruckte Kleinschrifttum galt als nicht sammelwürdig. So schrieb der Cyprian nachfolgende Bibliotheksdirektor Julius Carl Schläger (1706−1786) in seiner ablehnenden Stellungnahme zum Ankauf von Cyprians Sammlung nach dessen Tod, zwar sei dessen Bibliothek, »was die Kirchen Historie anbelanget, fast für complet anzusehen« und könnte »den großen Ruhm, den Ew Hochfürstlichen durchlauchten unvergleichlichen Bücherschatz durchgängig hat, vermehren«. Doch enthalte sie »eine recht grosse Menge von pieces volantes, disputationibus, programmatibus etc. […], dergleichen aber in keiner publiquen und zum Gebrauch eines illustren Hofes angelegten Bibliotheque Platz verdienen«.151 Auch im Bereich der handschriftlichen kirchengeschichtlichen Materialien sind zahlreiche Verbindungen zwischen Cyprians eigener Bibliothek und der Herzoglichen Bibliothek feststellbar: So schenkte der Regensburger Superintendent Georg Serpilius (1668−1723) Herzog Friedrich II. im Jahr 1719 eigenhändige Briefe von Philipp Melanchthon (1497−1560), von denen er zuvor Cyprian Abschriften angeboten hatte.152 Und 1727 schenkte Johann Gerhard Meuschen (1680−1743), der nach Cyprians Weggang am Coburger Gymnasium lehrte und dort Generalsuperintendent war, Cyprian Handschriften aus dem Nachlass Friedrich Brecklings (1629−1711) und bot sie zugleich – über Cyprian – auch Herzog Friedrich II. an.153 Daneben übernahm Cyprian zwei Handschriften aus dem Nachlass Brecklings in seine Bibliothek, die laut Meuschen »ein extraordinaires Licht in der Kirchen- u. Kezerhistorie unserer Zeit« gaben und dem Herzog ebenfalls zum Ankauf zugeschickt worden waren.154 Anderer-
150 Konkrete Umfangsangaben sind weder zu Cyprians Privatbibliothek (vgl. Anm. 97) noch zur Herzoglichen Bibliothek möglich. Zu letzterer sind keine Akzessionsjournale überliefert, Erwerbungsakten und Revisionsprotokolle einschließlich der Herzoglichen Kammerrechnungen sind summarisch geführt, so dass sich die unter Cyprian erworbenen gedruckten Titel höchstens in Ansätzen aus einzelnen Rechnungen rekonstruieren lassen. 151 Schläger, Julius Carl, Schreiben an Herzog Friedrich III., Gotha, 10.02.1746 (LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv XX VI, 70a, 6r −8r ), 7r . 152 Vgl. Gehrt, Melanchthon, 60. 153 Zur Schenkung und zum Angebot an den Herzog vgl. Hopf, Brecklingiana, 20−22. 154 Meuschen an Cyprian, s.l., 12.06.1728 (FB Gotha, Chart. A 432, 196r–v ), zitiert nach Hopf, Brecklingiana, 21.
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seits schenkte Cyprian Friedrich II. eine Handschrift aus seinem Besitz.155 So, wie Cyprian für die Herzogliche Bibliothek eine Sammlung von Autographen der Reformatoren aus verschiedenen Provenienzen anlegte,156 so hatte er auch für sich selbst eine solche Sammlung zusammengestellt, die er – als Reminiszenz an seine pädagogischen Aktivitäten und in Erinnerung an eine seiner Wirkungsstätten – am Ende seines Lebens dem Herzoglichen Gymnasium in Gotha schenkte.157 Finanzielle Gründe, eine Handschrift für die Herzogliche Bibliothek oder für seine eigene Bibliothek anzuschaffen, dürften für Cyprian danach nicht ausschlaggebend gewesen zu sein, auch wenn besonders hochpreisige Erwerbungen wie das Druckmanuskript Martin Luthers (1483−1546) zu seiner Übersetzung des Propheten Jeremia,158 die Bände aus den Nachlässen von Johannes Calvin (1509−1564) und Theodor Beza (1519−1605)159 sowie von dem Tübinger Theologen Stephan Gerlach (1546−1612)160 Cyprians Möglichkeiten überstiegen haben dürften. Um die Bedeutung seiner Bibliothek gegenüber Kaufinteressenten zu verdeutlichen, bezifferte Cyprian ihren Wert im Jahr 1742 auf 30.000 Taler,161 im Entwurf zu einem Kaufvertrag im selben Jahr dann auf 9.000 Taler.162 Die von Cyprian für die Herzogliche Bibliothek erworbenen Handschriften und Sammlungen dienten eben nicht nur fürstlicher Repräsentation, sondern waren ebenso wissenschaftlich relevant wie die Abschriften, die Cyprian für seine Sammlung anschaffte oder anfertigen ließ, etwa Abschriften eines Teils der Tischredensammlung Martin Luthers von Anton
155 Es handelt sich um eine Sammlung zum Würzburger Landkapitel, Wormser Edikt und Augsburger Interim sowie um Briefe und Dokumente von Friedrich Myconius und Justus Menius. Cyprian hatte Teile der Handschrift bereits in seiner Coburger Zeit erworben. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 705−707. 156 FB Gotha, Chart. A 379. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 669. 157 FB Gotha, Gym. 5, handschriftlicher Eintrag unter dem Porträt Luthers als junger Mönch. Der Band gelangte dann 1945 zusammen mit der Bibliothek des Gymnasiums in die ehemalige Herzogliche Bibliothek auf Schloss Friedenstein Gotha. 158 FB Gotha, Chart. B 142. Herzog Friedrich II. erwarb die Handschrift 1719 für 20 Joachimstaler. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 997. 159 FB Gotha, Chart. A 404, 405. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 751−785. Die Bände erwarb Cyprian für die Herzogliche Bibliothek vor 1722. 160 FB Gotha, Chart. A 386, 407. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 704. 161 Cyprian, Ernst Salomon, Schriftliche Nachrichten, s.l. [Gotha], 1735−1745 (LATh – StA Gotha, Schlosskirche Gotha, Nr. 87), 367r . Für ihren Transport nach Russland schätzte Cyprian das Gesamtgewicht seiner Sammlung auf »ohngefehr 150 Centner«, vgl. ebd., 368r . 162 Ebd. Unter diesem Preis wollte Cyprian sie jedoch nicht abgeben. Seine Nachlassverwalter setzten bei ihren Bemühungen, die Bibliothek nach Cyprians Tod doch noch geschlossen an den Herzog zu verkaufen, 6.000 Taler an, die jedoch der Bibliotheksdirektor Schläger als deutlich zu hoch erachtete. Vgl. Schläger, Julius Carl, Schreiben an Herzog Friedrich III., Gotha, 10.02.1746 (LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv XX VI, 70a, 6r −8r ), 6r .
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Lauterbach (1502−1569)163 oder die Sammlung des Erfurter Mediziners Petrus Avianus (1524−1578).164 Auch erhielt Cyprian umfangreiches Quellenmaterial geschenkt.165 Und nicht zuletzt ließ Cyprian Autographen aus der Herzoglichen Bibliothek für seine eigenen Publikationen exzerpieren.166 Den handschriftlichen Dokumenten galt Cyprians – ebenso wie Herzog Friedrichs II. – größtes Interesse. Cyprian suchte und fand, kaufte, kopierte, ordnete und edierte Handschriften – sowohl im Dienst des Herzogs als auch in eigener Sache. So erwarb er 1741 für die Herzogliche Bibliothek eine Handschrift aus dem Nachlass des Naumburger katholischen Bischofs Julius Pflug (1499−1564) und ordnete Pflugs Teilnachlass, der sich im 1722 für die Herzogliche Bibliothek angeschafften Briefwechsel der ermländischen Bischöfe befand. Aus diesen insgesamt fünf Bänden edierte er schließlich 1743 zahlreiche Materialien in seinem Tabularium ecclesiae Romanae seculi decimi sexti.167 Schließlich führte Cyprian ganz gezielt Handschriften in der Herzoglichen Bibliothek zusammen: Die Chronik der Reformation des Thüringer Reformators Friedrich Myconius holte Cyprian aus dem Gothaer Konsistorialarchiv168 und die berühmte, später Gothaer Chorbuch genannte Handschrift aus dem Coburger Gymnasium.169 Für die Zusammenstellung eines Bandes mit Reformatorenautographen veranlasste Cyprian Herzog Friedrich II., eine wertvolle Autographensammlung aus dem Besitz des Altenburger Sekretärs und Bibliothekars Johann Günther Förster zu kaufen.170 Wenn Cyprian ein Werk haben wollte, konnte er konsequent und bisweilen rücksichtslos vorgehen – egal, ob
163 FB Gotha, Chart. A 262. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 584−585. 164 FB Gotha, Chart. A 263. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 585−591. 165 Z.B. die Akten zur Einführung der Konkordienformel in der Grafschaft Henneberg (FB Gotha, Chart. A 1361; vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 846−850), eine Chronik der Stadt Erfurt (LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv E XVI 7; vgl. http://kalliope.staatsbibliothekberlin.de/de/ead?ead.id=DE-611-HS-2653602 [abgerufen am 02.05.2018]), Gelehrtenbriefe an Jenaer Professoren mit wertvollen Autographen des 17. Jahrhunderts (FB Gotha, Chart. A 411, vgl. http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/de/ead?ead.id=DE-611-BF-42547 [abgerufen am 02.05.2018]). 166 So transkribierte Grosch für Cyprians Melanchthon-Edition (FB Gotha, Chart. A 1395) Briefe der ermländischen Bischöfe (vgl. die folgende Anm.). 167 FB Gotha, Chart. A 381−384 und Chart. A 385. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 673−705. 168 Vgl. ebd., 850−851. FB Gotha, Chart. A 1932. 169 FB Gotha, Chart. A 98. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 344f. 170 Vgl. Gerlach, Sammeln, 12.
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für die eigene171 oder die Herzogliche Bibliothek.172 Der »Jähzorn« und das »hefftige Temperament«, das sich Cyprian attestierte,173 scheinen gelegentlich auch in seinen mit Bibliotheksaktivitäten in Verbindung stehenden Briefen auf.174 Bei dieser engen Verzahnung zwischen der kirchengeschichtlichen Sammlung der Herzoglichen Bibliothek und der Privatbibliothek Cyprians sowie aufgrund Cyprians Aktivitäten für beide, sind kaum Unterschiede zwischen ihnen auszumachen.175 Beide Bibliotheken bezog er bei Auskünften an Gelehrte ein und bot sie zur Nutzung an,176 beide erweiterte Cyprian im Gegenzug durch Informationen, die er aus seinem gelehrten Briefwechsel bezog. »An unpartheiligkeit und documenten«, so schrieb er, »habe kein mangel, weil was am letzten abgehet die correspondentz ersetzen kann«.177 Cyprians Privatbibliothek zeichnete sich gegenüber der Herzoglichen Bibliothek vor allem durch Material zu den zeitgenössischen theologischen Auseinandersetzungen seit der Wende zum 18. Jahrhundert aus. Den seiner Auffassung
171 Die Coburger Akten zum Prozess gegen einen radikalen Pietisten legen nahe, dass Cyprian eine Ausgabe der Werke Jacob Böhmes, die bei dem Pietisten konfisziert worden war, im Tausch gegen einen Druck des lutherischen Theologen Johann Gerhard an sich genommen habe. Dies bestritt Cyprian mit der Aussage, er habe das Böhme-Werk käuflich erworben. Vgl. Weigelt, Auseinandersetzung, 100f. 172 Nachdem Cyprian 1713 seine Arbeit in Gotha begonnen hatte, forderte er im Auftrag Herzog Friedrichs II. die Abgabe des Chorbuchs aus der Bibliothek des Coburger Gymnasiums, dem er bis dahin vorgestanden hatte, mit der Begründung, »dazu wir die übrigen Stück hier [in Gotha, K.P.] haben«. Zitiert nach Gehrt, Reformationshandschriften, 344. 173 Vgl. Fischer, Cyprian, 45. 174 So Cyprian an den Buchhändler Weidmann. Entwurf von Cyprians Hand, [Gotha] 1737: »hochgeehrtester Herr. I. Hierdurch wird ihme nochmahls zum überfluß notificiret, daß man gar kein bücher vor die f[ürstliche]. bibliotheque von ihm annehmen wird, als die von mir oder dem Herrn bibliothecari mit meiner signatur verschreiben werden mögten. Schicken sie welche, so sollen si nicht angerühret werden; sondern mögen nach so vielen Erinnerungen auf ihren Schaden in Post- oder Wirthshaus, so si abzuladen werden, verfaulen. Ich habe sie oft höflich gebeten, die f[ürstliche]. bibliothec mit zuschickung der Bücher zu verschonen und nur ihre catalogos zu schicken«. In: Cyprian, Ernst Salomon, Schriftliche Nachrichten, s.l. [Gotha], 1735−1745 (LATh – StA Gotha, Schlosskirche Gotha, Nr. 87), 113r . 175 Allerdings wäre ein quantitativer Vergleich beider kirchengeschichtlichen Sammlungen ausgesprochen schwierig, da weder der Umfang von Cyprians Privatbibliothek auf der Grundlage des überlieferten Bibliothekskatalogs exakt beziffert werden kann, noch belastbare Aussagen zur Herzoglichen Bibliothek aufgrund der schwierigen Überlieferungssituation möglich sind. 176 Neben Handschriften aus der Herzoglichen und seiner eigenen Bibliothek bot Cyprian dem Historiographen Johann Hermann Schmincke (1684−1743), der Material für seine hessische Geschichte zusammentrug, auch die Durchsicht der Kataloge der verschiedenen Archive der Albertiner und Ernestiner an. Vgl. Fuchs, Traditionsstiftung, 373. 177 Cyprian an Schmincke, 29.03.1721. Zitiert nach Fuchs, Traditionsstiftung, 373.
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nach sektiererischen Akteuren ebenso wie deren handschriftlichen und gedruckten Äußerungen galt seine besondere Aufmerksamkeit, sie hatte er bei seiner Reise in die Niederlande – zwischen Abscheu und Faszination schwankend – persönlich aufgesucht bzw. ihre Schriften gesucht.178 Die Originale, Abschriften, Gutachten und Stellungnahmen zur Widerlegung von Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie hatte Cyprian schließlich in einem mehrere Bände umfassenden und von ihm selbst so bezeichneten Apparatus ad historiam ecclesiasticam novam zusammengeführt. Alle Drucke, in denen Lehre und Kirchengeschichte der ›Sekten‹ besonders zusammengefasst waren, hatte er »im Verhältnis zu meinen Fähigkeiten«, wie er schrieb, gekauft.179 Seine Sammlung der zeitgenössischen, abweichenden Strömungen – wie sie sich in seinem Bibliothekskatalog widerspiegelt – war zwar im Verhältnis zur Fülle der fest auf dem Boden der christlichen Lehre zu verortenden theologischen Literatur in seiner Bibliothek vergleichsweise klein, doch bemerkenswert, führt man sich ihre in der Regel langwierige und schwierige Beschaffung vor Augen. Nach Cyprians Tod versuchten seine Nachlassverwalter die von Cyprian zusammengetragene private Büchersammlung geschlossen zu erhalten, nicht zuletzt, indem sie die Bibliothek dem seit 1732 regierenden Herzog Friedrich III. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1699–1772) anboten. Auch dieser Versuch scheiterte.180 So, wie die Herzogliche Bibliothek unter Friedrich II. allmählich als Instrument dynastischer und politisch motivierter Kirchengeschichtsschreibung an Bedeutung verloren hatte und mit ihr zugleich ihr Direktor Cyprian,181 so fand auch die Privatbibliothek Cyprians keine Aufnahme in die Herzogliche Bibliothek. Nach Cyprians Tod empfahl sein Nachfolger Schläger im aufgeklärten Impetus eine Kurskorrektur in der Bucherwerbungspolitik des Herzoghauses – weg von den theologischen und hin zu den historischen, philosophischen und literarischen Schriften, da, wie er schrieb, »die Bibliothek mit Büchern von der ersten Art schon genug versehen« sei.182 Cyprians Privatbibliothek wurde in 178 Cyprians Reise ebenso wie seine Bucherwerbungen auf dieser Reise galten in hohem Maße dem theologisch Abweichenden. Vgl. Cyprian, Ernst Salomon, Reiseaufzeichnungen, s.l. 1704 (FB Gotha, Chart. A 297, 419–430) und Fischer, Cyprian, 19. 179 »Pro ratione facultatum mearum«. Cyprian, Bibliotheca, 1733, Vorwort, 3v . 180 Vgl. Akten, den Verkauf der Bibliothek Cyprians betreffend (LATh – StA Gotha, Schloßkirche, Nr. 88), 36r −50r . 181 Friedrich III. setzte Cyprian zwar nicht ab, unterstellte jedoch die Bibliothek dem Hofmarschallamt, was Cyprian, der immer direkten Zugang zum Herzog hatte, als Reglementierung empfinden musste. Vgl. Cyprian, Ernst Salomon, Beschwerde an Herzog Friedrich III., Gotha, 27.09.1732 (LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv UU XXXIX, 1, Bl. 13r −15v ). 182 Schläger, Julius Carl, Schreiben an Herzog Friedrich III., Gotha, 16.03.1746. (LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv UU XXXIX Nr. 11, Bl. 33r −36v ), 34r .
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vier Auktionen versteigert,183 einige Bände wurden in die dem Gothaer Oberkonsistorium zugehörende Gothaer Schlosskirchenbibliothek übernommen,184 die nicht zu versteigernden Bücher wurden »bis 1755 zunehmend zu ermäßigtem Preis verschleudert«,185 nicht zu verkaufende Bücher wurden vor ihrer Makulierung für die Übernahme durch die einzelnen Kirchengemeinden des Herzogtums »zum andencken des […] Cypriani« freigegeben.186 4.
Zusammenfassung
Der Kirchenhistoriker Cyprian war als leitender Bibliothekar unmittelbar in die Geschäfte derjenigen Bibliothek eingebunden, auf deren reformationsgeschichtlichem Fundus seine kirchenhistoriographische Tätigkeit beruhte. Und diesen Fundus baute er – sich seiner privilegierten Stellung bewusst – in seiner Amtszeit gezielt aus und erweiterte ihn in seiner privaten Büchersammlung um zeitgenössisches Material. Cyprian ging es zeit seines Lebens darum, mit seinen historischen Methoden das zeitgenössische Luthertum, dem er sich uneingeschränkt verbunden fühlte, gegen die zahlreichen Anfeindungen innerhalb und außerhalb der evangelisch-lutherischen Kirche zu verteidigen. In den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, in denen die evangelische Kirchengeschichtsschreibung sich grundlegend wandelte187 und auch Cyprian wohl eine sachliche und kaum geschichtstheologische Deutung anstrebte,188 war sein Maßstab für die Beurteilung einer Position immer ihre Entfernung von der wahren, der lutherischen Lehre. Wissens- und Erkenntniszuwachs waren der Legitimation des Luthertums verpflichtet, ebenso wie sein Sammeln. Dazu baute er, ganz im Sinne Herzog Friedrichs II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, der sich die Fortsetzung der Kirchengeschichtsschreibung zu eigen gemacht hatte, 183 Vgl. Mitscherling, Nachlaß. Bücher aus Cyprians Besitz konnte ich bislang nur in der Anna Amalia Bibliothek Weimar (R 3: 30; die Titel gehören zu den Verlusten des Bibliotheksbrandes von 2004) und in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (H: P 633.4° Helmst. [1], H: T 960b.2° Helmst.) nachweisen. Es ist zu hoffen, dass durch zunehmende OnlineProvenienzverzeichnung noch weitere Bände auftauchen. 184 Vgl. Akten, den Verkauf der Bibliothek Cyprians betreffend (LATh – StA Gotha, Schloßkirche, Nr. 88), 88r . 185 So Koch, Bedeutung, 32. 186 Akten, den Verkauf der Bibliothek Cyprians betreffend (LATh – StA Gotha, Schloßkirche, Nr. 88), 65r . In bislang vier Thüringer Kirchenbibliotheken konnte Ernst Koch Bücher aus dem Besitz Cyprians ausmachen. Ich danke Prof. Dr. Ernst Koch (Leipzig) für die Überlassung der Signaturen. 187 Vgl. Fleischer, Strukturwandel und Ders., Kirchengeschichtsschreibung. 188 So Wetzel, Kirchengeschichtsschreibung, 308, im Zusammenhang mit Cyprians Compendium Gothanum.
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nicht nur ein Quellenreservoir und memoriales Zentrum des Herzogtums auf, sondern sehr bewusst eine auf zwei Standorte verteilte kirchengeschichtliche Bibliothek, ein Werkzeug der Selbstvergewisserung in Zeiten des Umbruchs und des theologisch-publizistischen Kampfes zugleich. Cyprians Sammelaktivitäten dienten ebenso wie seine publizistischen Unternehmungen der Bewahrung des lutherischen Erbes und der Standortbestimmung des Protestantismus. Die Überlieferungen sind heute ein bedeutendes Archiv zur Geschichte der protestantischen Bewegungen. Indem Cyprian seinen eigenen Briefwechsel von 26 Foliobänden mit 11.500 Briefen testamentarisch der Herzoglichen Bibliothek vermachte,189 schrieb er sich – über seine Publikationen hinaus – zugleich in diese Geschichte ein. Literatur Quellen Blumenthal, Hermann, Regesten von Akten des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar zur Bibliotheksgeschichte, um 1940 (Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar). Conring, Hermann, De Bibliotheca Augusta quae est in arce Wolfenbuttelensi, Helmstedt 1694. Cyprian, Ernst Salomon, Bibliotheca Cyprianica, sive Catalogus Librorum Historico-Theologicorum, Gotha 1726. –, Bibliotheca Cyprianica sive Catalogus Librorum Historico-Theologicorum, Leipzig 2 1733. –, Catalogus Codicum Manuscriptorum Bibliothecae Gothanae […], Leipzig 1714. –, Concordien-Büchlein deutsch […] für die Kirchen im Fürstenthumb Gotha, Gotha 1714. –, Historia der Augspurgischen Confession […] aus denen Original-Acten beschrieben […], Gotha 1731 (FB Gotha, Theol. 4° 343/4). –, Programma de ornatu librorum, Coburg 1701 [Schulprogramm]. –, Nützliche Uhrkunden zur Erläuterung der ersten Reformations-Geschichte, in: Wilhelm Ernst Tentzel, Historischer Bericht vom Anfang und ersten Fortgang der Reformation Lutheri […], Leipzig 1717.
189 Vgl. Cyprian, Ernst Salomon, Erstes Testament, Gotha, 09.02.1740 (FB Gotha, Chart. A 1380, 11r −19v ), 15r . 1747 schlägt Bibliotheksdirektor Schläger Herzog Friedrich III. vor, die seiner Auffassung nach brisanten Briefe aus dem Briefwechsel zu entfernen. Der Herzog stimmte dem Vorhaben zu. Zu dieser »Säuberungsaktion« vgl. Mitscherling, Nachlaß, 239.
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Ernst Salomon Cyprian und die Erinnerungspolitik Herzog Friedrichs II. von Sachsen-Gotha-Altenburg im Rahmen des Reformationsjubiläums 1717 WJewohl die Historie das Andencken von allem, was merckwürdiges in der Zeit vorgehet, denen folgenden Jahren zur Lehre, und also denen Zeiten zur Besserung aufzeichnet, der Vergessenheit entreisset, und vermittelst ihrer Feder die Zeit gleichsam zur Ewigkeit machet; so hat sie doch, nach der gemeinen Klage, keinen schädlichern Feind/ als die mehrgedachte sehr undanckbare Zeit, indem die traurige Erfahrung lehret, daß diese jener alle Uhrkunden und Hülffs-Mittel, ja selbst die durch Stein und Ertz bewaffnete Anerinnerungen vortrefflicher Thaten, nach Möglichkeit, hinweg nimmet, verderbet und zu nichte machet.1
Mit diesen Zeilen beschrieb der Gothaer Kirchenrat, Bibliotheksdirektor und renommierte Historiker Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) eine grundlegende Funktion der Geschichtsschreibung: die Erinnerung an Bemerkenswertes aus der Vergangenheit. Für Cyprian und viele seiner Zeitgenossen hatte diese Praxis eine moralische Komponente, denn die Geschichte sollte aus seiner Sicht auch der Unterweisung und Besserung nachfolgender Generationen dienen. Cyprian plädierte an dieser Stelle insbesondere für die Erinnerung an die Reformation und deren Wertschätzung, stammt doch das Zitat aus dem Vorwort zu einer Sammlung von Originalquellen aus der Hofbibliothek auf Schloss Friedenstein, die er anlässlich des 200. Reformationsjubiläums 1717 herausgab. Die als Feind bezeichnete »undankbare Zeit« bezog sich auf Zeitgenossen, die nach Cyprians Ansicht von den Errungenschaften der Reformation zwar profitierten, aber dennoch dieser Bewegung sehr kritisch gegenüberstanden und bestimmte Entwicklungen gar als Irrwege beurteilten. Dazu zählten nicht nur Vertreter der römisch-katholischen Kirche, sondern auch Kritiker innerhalb des Luthertums, allen voran der Historiker und Pietist Gottfried Arnold (1666–1714) und der frühaufklärerische Philosoph Christian Thomasius (1655–1728), die mit ihren breit rezipierten Schriften die Existenzberechtigung der evangelischen Landeskirchen radikal unterminierten und, so Cyprian, den Weg zum Atheismus und Libertinismus freimachten.2 Anstatt theologische Differenzen zu erörtern, entwickelte Cyprian in seinen apologetischen Schriften eine auf dem Naturrecht beruhende und damit auch konsensfähige argumentative Strategie 1 Tentzel/Cyprian, Historischer Bericht, Bl. a2r–v . 2 Vgl. Gehrt, Arnold und Cyprian.
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und legte besonderes Augenmerk auf die von Kritikern und Sympathisanten gleichermaßen geschätzten Freiheiten, Werte und Ideale seiner Zeit, die er der Reformation als Verdienst anrechnete.3 Cyprians apologetische Geschichtsschreibung stand zugleich im Dienst der Erinnerungspolitik seines lutherischen Landesherrn Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1676–1732). Zum einen verteidigte der Kirchenrat die Legitimität der landeskirchlichen Strukturen im Territorium, die stark unter dem Einfluss des Fürsten standen. Zum anderen beförderte er die Propagierung der Vorfahren des Herzogs, der ernestinischen Kurfürsten von Sachsen, als Schutzherren der Reformation und des theologischen Erbes Luthers.4 Diese Memorialpolitik erfuhr im Rahmen des 200. Jubiläums der Reformation 1717 eine merkliche Intensivierung, denn durch dieses öffentlichkeitswirksame Medium der Erinnerung erreichte das allgemeine Interesse an diesem historischen Ereignis seinen neuerlichen Höhepunkt. In der folgenden Studie werden einige memorialkulturelle Aspekte der Politik des Gothaer Hofes im Rahmen des Jubiläums aufgezeigt und analysiert. Zunächst wird die Verbindung machtpolitischer Ansprüche der Ernestiner mit dieser Erinnerungspolitik am Beispiel des Ringens um die Führung des Direktoriums des Corpus Evangelicorum 1717 erläutert. Dabei ist die lange dynastische Tradition hervorzuheben, größere historiographische und theologischeditorische Projekte zu fördern, um Deutungshoheit über die Reformationsgeschichte und das theologische Erbe Luthers zu erlangen. In dieser Tradition steht auch die von Herzog Friedrich II. in Auftrag gegebene Dokumentation der Jubiläumsfeierlichkeiten 1717. Sie war ein Versuch, die Erinnerung an das Reformationsgedenken in Europa bewusst zu gestalten und zu bewahren, um sie für die eigenen politischen Interessen zu instrumentalisieren. Das Jubiläum 1717 wurde zum Katalysator für die Entstehung von zahlreichen historiographischen und editorischen Projekten, die zum Teil in starker Konkurrenz zueinander standen. In diesem Wettstreit war der Gothaer Hof bestrebt, eine Führungsrolle einzunehmen. Ein wichtiges Moment für dieses neue Phänomen in der Jubiläumskultur bildete die Rivalität zwischen verschiedenen Stätten, die sich als »Erinnerungsorte« der Reformation verstanden und als solche profilieren wollten. Schließlich soll die Genese der Herzoglichen Bibliothek auf Schloss Friedenstein als Gedächtnisspeicher und metaphorischer Erinnerungsort der Reformation nachverfolgt werden. Untrennbar damit verbunden ist die Bedeutung der Bibliothek als Forschungsinstrument.
3 Vgl. demnächst dazu Gehrt, Cyprian. 4 Zu den dynastischen Motiven vgl. Gehrt, Konfessionspolitik; Westphal, Kurwürde.
Ernst Salomon Cyprian und die Erinnerungspolitik Herzog Friedrichs II. von Sachsen-Gotha-Altenburg
1.
Die Allianz zwischen Erinnerungs- und Machtpolitik
Hatte Kursachsen noch eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung und reichsweiten Ausbreitung der Jubiläumsfeierlichkeiten im Jahr 1617 gespielt, blieb die Unterstützung 1717 durch den 1697 vom Luthertum zum Katholizismus konvertierten albertinischen Kurfürsten Friedrich August I. von Sachsen (1670–1733) begrenzt. Dieser Konfessionswechsel war ein Akt politischen Kalküls, galt er doch als erforderliche Voraussetzung für die Übernahme der polnischlitauischen Krone im gleichen Jahr. Nach fünfjähriger Geheimhaltung ließ Friedrich August I. im Oktober 1717 auch den Übertritt des Kurprinzen, seines gleichnamigen Sohns (1696–1763), zum Katholizismus publik werden. Diese Nachricht löste eine intensive Diskussion über die Berechtigung des sächsischen Kurfürsten aus, das Direktorium des Corpus Evangelicorum – ein Organ, das die Interessen der evangelischen Reichsstände auf dem Immerwährenden Reichstag in Regensburg vertrat – weiterhin zu führen.5 Dabei erhob Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg erneut, wenn auch ohne greifbaren Erfolg, Ansprüche auf diese einflussreiche Position. Im Direktorialstreit nach seiner eigenen Bekehrung 1697 hatte Kurfürst Friedrich August I. mit dem Gothaer Herzog – dem damals politisch stärksten Mitglied der ernestinischen Linie im Haus Wettin mit zwei Virilstimmen auf dem Reichstag – lange und vielversprechend verhandelt,6 doch übertrug er seinem nächsten Agnaten Christian, dem Herzog des Sekundogenitur-Fürstentums von SachsenWeißenfels (1682–1736), die kommissarische Führung des Direktoriums. Die Ansprüche des Gothaer Herzogs in diesem Streit beruhten nicht nur auf seiner Verwandtschaft mit dem albertinischen Kurfürsten, seiner machtpolitischen Vorrangstellung im ernestinischen Gesamthaus und seiner konfessionellen Zugehörigkeit, sondern auch auf der einstigen Führungsrolle seiner Vorfahren unter den protestantischen Reichsständen zur Zeit der Reformation. Die Niederlage des ernestinischen Kurfürsten Johann Friedrich I. von Sachsen (1503–1554) 1547 im Schmalkaldischen Krieg hatte allerdings zu einem drastischen Machtverlust geführt, infolgedessen er die sächsische Kurwürde und die Kurlande um Wittenberg an die albertinische Linie im Haus Wettin verlor. Ernst Salomon Cyprian argumentierte 1717 mit diesem Auf- und Abstieg, um die Ansprüche seines Landesherrn auf das Direktorat ideell zu untermauern. In einem Memorandum führte er fundamentale »Freiheiten« an, die aus seiner Sicht überhaupt erst durch die entscheidende Förderung und Opferbereitschaft der ernestinischen Kurfürsten für die Sache der Reformation erlangt worden
5 Zum Direktorialstreit vgl. Vötsch, Kursachsen, 119–147. 6 Vgl. ebd., 67–75.
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seien. Dazu zählte Cyprian die Unabhängigkeit vom Machteinfluss der römischen Kirche, die die »Staaten« Europas in ihren Souveränitätsansprüchen wesentlich gestärkt habe, und die »Gewissensfreiheit«: […] und aber ganz Europa weis das die fürstl. Sachßen Ernestinische linie, durch klügliche beförderung deß heylsamen Reformations-wercks, den Römischen Keyser und alle Christliche Staaten in den standt gesezet, worein sie sich vorher durch viele schwere Kriege und unerschwingliche Kosten nicht zusetzen vermocht, daß nemlich der Papst ihnen, sie mögen gleich der Römischen oder evangelischen Religion beypflichten, nichts unbilliges mit effect anmuthen darff, demnächst auch dieses weltkundig ist, daß hochstgedachte Ernestinische Haus, umb die gewißens-freyheit und hoheit der Christlichen Potentaten herzustellen, die Churwürde, nebst deren Chur- und Clevischen Landen, […] verlohren […].7
Diese Argumentationsfigur zieht sich durch sämtliche Schriften, die Cyprian anlässlich des Reformationsjubiläums 1717 veröffentlichte. Machtpolitische Interessen stellten einen zentralen Beweggrund dafür dar, dass die Ernestiner über die Jahrhunderte hinweg großangelegte editorische und historiographische Projekte zur Propagierung und Etablierung ihres mit der Reformation verbundenen Selbstbildes als Schutzherren des Luthertums initiierten und finanzierten. Bereits zu Luthers Lebzeiten hatte Kurfürst Johann Friedrich I. eine erste Gesamtausgabe der Schriften des Theologieprofessors in die Wege geleitet. Zu diesem Zweck befreite er Georg Rörer (1492–1557) im Jahr 1537 von dessen Verpflichtungen als Diakon der Stadtkirche in Wittenberg und vertraute ihm die Redaktion dieses Vorhabens an. Nach dem Schmalkaldischen Krieg gab er eine zwölfbändige Konkurrenzausgabe in Auftrag, die in Jena, der neuen akademischen Bildungsstätte der Ernestiner, zwischen 1555 und 1558 erstmals erschien und bis 1615 mehrfach aufgelegt wurde.8 Mitte der 1630er Jahre regte der Weimarer Pädagoge Sigismund Evenius (1587–1639) eine kommentierte Ausgabe der Lutherbibel an, die unter der Patronage des Weimarer und ab 1640 Gothaer Herzogs Ernst I. (1601–1675) stand. Dieses sogenannte »Ernestinische Bibelwerk« galt von seiner Erstauflage 1641 bis weit ins 18. Jahrhundert hinein als führende kommentierte deutsche Bibelausgabe für lutherische Exegese.9 Schließlich gab der Altenburger Generalsuperintendent Johann Christfried Sagittarius (1617–1689) unter der Schirmherrschaft Herzog Friedrich Wilhelms II. von Sachsen-Altenburg (1603–1669) eine zehnbändige
7 FB Gotha, Chart. A 302, 141–148, hier 142f. 8 Zu beiden Ausgaben vgl. Michel, Kanonisierung, 110–236 sowie den Beitrag von Spehr, Lutherausgaben, in diesem Band. 9 Luther, Biblia, Das ist: Die gantze H. Schrifft, 1641. Zum Werk vgl. Koch, Bibelwerk, 53–58; Michel, Bibelwerk.
Ernst Salomon Cyprian und die Erinnerungspolitik Herzog Friedrichs II. von Sachsen-Gotha-Altenburg
deutsche Lutherausgabe heraus, die zwischen 1661 und 1664 erschien.10 Mit der Finanzierung und Mitgestaltung solcher Grundlagenwerke der theologischen Studien verfolgten die Ernestiner kein geringeres Ziel, als die Schriften Luthers zu kanonisieren, die biblische Auslegekultur im Luthertum wesentlich zu prägen und die Interpretationshoheit über das theologische Erbe Luthers zu erlangen. Parallel zu diesen theologischen Editionsprojekten gaben die Ernestiner mehrere monumentale historiographische Werke in Auftrag, welche sie selbst als fördernde und lenkende Akteure der reformatorischen Bewegung darstellten. Hatte Kurfürst Johann Friedrich I. Anfang der 1540er Jahre den sächsischen Hofhistoriographen und damaligen Altenburger Superintendenten Georg Spalatin (1484–1545) mit der Kompilation von zeithistorischen Nachrichten und Dokumenten vorzugsweise zur Religionspolitik seiner Dynastie seit dem Beginn der Reformation und insbesondere zur Politik des Schmalkaldischen Bundes beauftragt,11 machten er und Landgraf Philipp von Hessen (1504–1567) wenige Monate nach dem Tod Spalatins im Januar 1545 den Juristen und Diplomaten Johannes Sleidanus (1506–1556) offiziell zum Historiographen des Bundes, der eine grundlegende Darstellung der religiösen und politischen Verhältnisse im Reich unter Kaiser Karl V. verfassen sollte, beginnend mit dem Streit zwischen Luther und dem Dominikaner Johann Tetzel (1465–1519) 1517 um den Ablasshandel.12 Das Werk fand seinen Abschluss mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 und erfuhr eine enorme Rezeption. Als Ergänzung zu Sleidanus’ grundlegendem Werk publizierte der Prinzenerzieher, Historiker und Rat Friedrich Hortleder (1579–1640) im Auftrag der Weimarer Herzöge 1617 eine umfassende Kompilation von Akten zum Schmalkaldischen Krieg.13 Hortleder befasste sich mit den Ursachen für die Entstehung des Konflikts ebenso wie mit dem Krieg selbst. Er beendete die Darstellung nicht mit der Niederlage Kurfürst Johann Friedrichs I. 1547, der er generell wenig Beachtung schenkte, sondern mit dem erfolgreichen Aufstand der Reichsfürsten gegen den Kaiser 1552, der zum Passauer Vertrag und zur Befreiung des Ernestiners aus der kaiserlichen Gefangenschaft führte. Durch
10 Luther, Der […] Teil aller Deutschen Bücher und Schrifften, 1661–1664; vgl. dazu Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben: WA 60, 559–567 sowie Spehr, Lutherausgaben, in diesem Band. 11 FB Gotha, Chart. A 340–341. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 636–638. Abdruck in: Spalatin, Annales Reformationis, 1718. Zum Werk vgl. Gehrt, Spalatin, 129–133. 12 Sleidanus, De Statv Religionis, 1555. Zum Werk vgl. Haug-Moritz, Konstruktion, 363–366; Kess, Johann Sleidan. 13 Hortleder, Von den Ursachen des Teutschen Kriegs, 1617. Vgl. dazu Haug-Moritz, Konstruktion, 365f; Klinger, Geschichte.
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die bewusste Auswahl der Dokumente verfestigte Hortleder in der protestantischen Erinnerungskultur den Mythos dieses letzten ernestinischen Kurfürsten als Schutzherr des evangelischen Glaubens und als beständiger Bekenner angesichts der Rekatholisierungsversuche des Kaisers. 1641 betraute Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha seinen jungen Rat Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692) mit dem Verfassen einer grundlegenden Geschichte der Reformation im 16. Jahrhundert mit einem Fokus auf den sächsischen Territorien und unter Berücksichtigung des gesamten Reichs.14 Aufgrund der umfassenden Amtstätigkeiten des Rats geriet das Vorhaben jedoch ins Stocken.15 Erst 40 Jahre später, nachdem er seine Ämter als Kanzler und Konsistorialpräsident im Herzogtum Sachsen-Zeitz 1681 niedergelegt und sich auf sein Gut Meuselwitz zurückgezogen hatte, widmete sich Seckendorff diesem Unterfangen. Die Ursprungsidee erhielt jedoch ein recht enges Korsett, da sich Seckendorff streng am Aufbau der Histoire du Luthéranisme orientierte, die der Pariser Jesuit Louis Maimbourg (1626–1681) 1680 veröffentlicht hatte. Er war bestrebt, Maimbourgs weit rezipierte Schrift in französischer Sprache, die Luthers Handeln als Rebellion gegen Papst und Kaiser darstellte und somit auch die Integrität der ernestinischen Dynastie als Schutzherrin Luthers in Frage stellte, zu widerlegen.16 So erfasste das detailreiche und quellengesättigte Geschichtswerk, das 1692 erstmals vollständig unter dem Titel Commentarius historicus et apologeticus de Lutheranismo erschien, nicht das gesamte 16. Jahrhundert, sondern lediglich die Wirkungszeit Luthers, beginnend mit dem Jahr 1517.17 Wenige Jahre später erschien Gottfried Arnolds höchst umstrittene publizistische Sensation mit dem Titel Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie, die die ernestinische Dynastie vor eine neue Herausforderung stellte.18 Arnold dekonstruierte das Bild des Fürstenhauses, indem er zum einen die Entstehung und Etablierung der Landeskirchen in den Territorien als Anfang des Verfalls 14 Vgl. von Seckendorff, Ausführliche Historie, Bl. c1v –c2r . 15 Eine kurze, nur handschriftlich überlieferte Kirchengeschichte, die sich hauptsächlich mit Martin Luthers Wirken zwischen 1517 und 1546 befasst, wurde jedoch von einem ungenannten Autor im Auftrag des Herzogs unter dem Titel »Kirchen-Historie Von dem 1517 Jahr nach Christi Geburth, biß an das 1673 Jahr. Darinn die fortpflantzung der wahren reinen Evangelischen Lehre, der getreuen Lehrer und Bekenner der Christlichen warheit Leben und Gottseliger eyfer, und auch der Feinde der warheit gegenstreith und angestelte verfolgungen sampt andern beyleuffigen geschichten erzehlet und beschrieben werden […]« verfasst: FB Gotha, Chart. A 305, 127–190. 16 Maimbourg, Histoire Du Luthéranisme, 1680. 17 Von Seckendorff, Commentarius Historicus, 1692. Vgl. dazu Solveig Strauch, Veit Ludwig von Seckendorff; Dies., Reformationshistoriker, 149–155; Dies., Spalatin; Wöhe, Veit Ludwig von Seckendorff. 18 Vgl. Gehrt, Arnold und Cyprian, 55–57.
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des Protestantismus und zum anderen die Handlungsmotive Kurfürst Johann Friedrichs I. im Schmalkaldischen Krieg vorrangig als politisch opportunistisch und nicht als religiös interpretierte. In Arnolds Narrativ blieben die gravierenden machtpolitischen Verluste des letzten ernestinischen Kurfürsten gerechte Folgen der militärischen Niederlage ohne eine ideologische Aufwertung. Um solcher Kritik entgegenzutreten, unterstützten die Gothaer Herzöge Cyprian bei seiner zur Lebensaufgabe gewordenen Widerlegung der Ketzerhistorie. Anlässlich des Reformationsjubiläums 1717 gab Cyprian auch einige Vorarbeiten dieses Vorhabens vorzeitig heraus.19 Kein anderes Fürstenhaus im deutschen Reich beförderte die Herausgabe von Luthers Schriften und die Entstehung von historiographischen Darstellungen, die die Reformation betrafen, auch nur annährungsweise so vehement wie die Ernestiner. Diese wissenschaftlichen Formen der Erinnerungskultur bildeten einen wesentlichen Bestandteil ihrer Strategie, Ansprüche auf die Deutungshegemonie über das theologische Erbe Luthers und das reformatorische Geschehen sowie auf eine politische Führungsposition unter den protestantischen Reichsständen zu behaupten. 2.
Die Gestaltung der Erinnerung an das Reformationsgedenken 1717 in Europa
In dieser Tradition großangelegter identitätsstiftender Projekte zur Reformation stand auch eine nach Vollständigkeit strebende, zeitgeschichtliche Dokumentation der Feierlichkeiten im europäischen Luthertum anlässlich des 200. Reformationsjubiläums 1717. Mit diesem Unterfangen wollte Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg ebenfalls seine Ansprüche auf eine Führungsrolle unter den protestantischen Reichsständen untermauern. Entsprechend hält das Werk unter anderem die Ankündigung des Übertritts des sächsischen Kurprinzen wenige Wochen vor dem Hauptfesttag am 31. Oktober für die Erinnerung fest.20 Welche konkreten politischen Ziele verfolgte der Herzog bei seinen Bestrebungen, die Erinnerung an das Reformationsgedenken prägend zu gestalten und dauerhaft zu bewahren? Bei den überregionalen Verhandlungen über die feierliche Begehung des Reformationsgedenkens am 31. Oktober 1717 wollte Herzog Friedrich II. eine bestimmende Rolle einnehmen und einen möglichst breiten Personenkreis für eine Beteiligung am Jubiläum mobilisieren. So war Herzog August Wilhelm von
19 Siehe Abschnitt 3. 20 Vgl. Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 97–102.
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Braunschweig-Wolfenbüttel (1662–1731) bereits Anfang 1716 nach Gotha gereist, um mit ihm Planungen für das bevorstehende Jubiläum zu besprechen.21 Zudem trugen die Gesandten des Gothaer Herzogs am 21. Dezember 1716 den Vorschlag Landgraf Ernst Ludwigs von Hessen-Darmstadt (1667–1739) beim Corpus Evangelicorum in Regensburg vor, eine von sämtlichen protestantischen Reichsstände einheitlich durchzuführende Feier nach dem Vorbild der kursächsischen Verordnung von 1617 auszurichten.22 Der katholische Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen und der reformierte Kurfürst Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg (1688–1740), König von Preußen, blockierten jedoch entschieden ein solches gemeinsames Vorgehen. Nach längeren Verhandlungen beschloss das Corpus Evangelicorum am 8. April 1717, dass jedem Reichsstand überlassen werden sollte, die Gestalt und Durchführung der Feierlichkeiten im eigenen Herrschaftsraum zu bestimmen.23 Eine Demonstration von Geschlossenheit sollte vermieden werden, damit der Kaiser und die katholischen Reichsstände die Jubiläumsfeierlichkeiten nicht wie 1617 am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges als Provokation wahrnahmen. In diesem Sinne waren laut Vereinbarungen und in Übereinstimmung mit dem Westfälischen Frieden interkonfessionelle Polemiken explizit verboten. Anstelle von Abgrenzungsphänomenen sollten die Jubelpredigten, -reden und -schriften die allgemeinen Wohltaten der Reformation hervorheben. Während dieser Verhandlungen hatte der Gothaer Herzog versucht, in Mittelund Nordeuropa ein erhöhtes Interesse an dem Jubiläum zu wecken, Vorlagen für die Gestaltung der Feierlichkeiten zu bieten und somit die Politik der weitaus mächtigeren Reichsfürsten im Corpus Evangelicorum zu konterkarieren. Zu diesem Zweck erkundigte sich sein gut vernetzter Kirchenrat Cyprian über die Vorhaben verschiedener lutherischer Kirchen außerhalb des Reiches. Die Ergebnisse dieser Sondierungen fanden ihren Niederschlag in der Flugschrift, die Cyprian am 20. März 1717 unter dem Titel Vorläuffiger Bericht, welcher gestalt das Evangelische Jubel-Fest Anno 1717. in denen Fürstl. Gothaischen Landen mit Göttlicher Hülffe soll gefeyret werden verfasste.24 Cyprian beklagte grundsätzlich die Konfessionswechsel mehrerer mächtiger, einst lutherischer Herrschaftshäuser seit der ersten Säkularfeier 1617, die, so Cyprian, zum Teil aus politischem Opportunismus und religiöser Indifferenz erfolgt waren. Er ermutigte die lutherischen Kirchen, die sich zunehmender Kritik ausgesetzt sahen und an politischer Unterstützung einbüßten, und wies auf die bestehenden Pläne lutherischer Kirchen in verschiedenen Teilen Europas, wie etwa in den 21 22 23 24
Vgl. Wotschke, 284. Mehr dazu unter Abschnitt 4. Vgl. Flügel, Konfession, 137f. Vgl. ebd., 137–146. [Cyprian], Vorläuffiger Bericht, 1717.
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Königreichen Dänemark-Norwegen und Schweden25 sowie in den Metropolen London und Amsterdam, hin, ein Jubelfest auszurichten.26 Zum Schluss skizzierte Cyprian das dreitägige Fest, das für das Herzogtum Sachsen-GothaAltenburg geplant war,27 und verwies auf die im Druck befindliche deutsche Übersetzung des ersten Abschnitts von Seckendorffs Commentarius de Lutheranismo über das Jahr 1517 durch Wilhelm Ernst Tentzel. In der Vorrede zu diesem Werk argumentierte Cyprian ähnlich wie im Vorläuffigen Bericht. Aufgrund der aktuellen Zurückhaltung der Reformierten wies er auch darauf hin, dass sich diese Protestanten am Jubiläum 1617 beteiligt hatten. Zudem druckte er als Vorlagen für die Gestaltung der bevorstehenden Jubiläumsfeierlichkeiten Verordnungen des Hauses Sachsen aus dem Jahr 1617 ab.28 Um ebenfalls entsprechende Vorbilder rechtzeitig in Umlauf zu bringen, erstellte er zum Schluss der Vorrede ein mit Kurzbeschreibungen versehenes Verzeichnis der sich im Münzkabinett auf Schloss Friedenstein befindlichen Prägungen aus dem Jahr 1617.29 Der Gothaer Herzog war nicht nur daran interessiert, europaweit bei Obrigkeiten und Kirchengemeinden Zuspruch für das Reformationsgedenken zu mobilisieren, sondern auch die feierliche Begehung des Jubiläums zu dokumentieren. Das Werk sollte zum einen die breite Ausdehnung, Geschlossenheit, Kraft und Vitalität des Luthertums in Europa demonstrieren und somit diese durch mehrere religiöse und philosophische Bewegungen und politische Wendungen existenziell bedrängte Konfession stärken. Zum anderen war es als Orientierungsgrundlage für die Gestaltung künftiger Reformationsjubiläen gedacht. Schließlich wollte sich der Gothaer Herzog mit Hilfe des Projekts als Förderer der Wissenschaften stilisieren und die Sonderstellung seines Hofs für die Bewahrung und Gestaltung des kulturellen Gedächtnisses der Reformation festigen.30 25 Im Unterschied zu den anderen lutherischen Gebieten Europas wurde das 200. Reformationsjubiläum im Königreich Schweden erst am 17. März 1721 gefeiert. Vgl. Aurelius, Luther i Sverige, 84–95. 26 Ein Exemplar des Drucks und die entsprechenden Originalbriefe an Cyprian befinden sich in: FB Gotha, Chart. A 424, Bl. 23r –26v (Druck); Chart. A 424, Bl. 13r –14v und Chart. A 425, Bl. 34r –35v : Søren Lintrup, Kopenhagen, 5. Dezember 1716 und 28. [Januar] 1717; Chart. A 424, Bl. 17r–v : Caspar van den Broeck, Amsterdam, 4. Februar 1717; Chart. A 424, Bl. 18r –20v : B[althasar] Mentzer, London, 11. Februar 1717; Chart. A 425, Bl. 25r –26v : Erik Benzelius, Uppsala, 22. Februar 1717. 27 Die entsprechende Instruktion für das Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg wurde erst am 20. September 1717 ausgefertigt. Friedrich II., Instrvction, und Ordnung, [1717] 28 Tentzel/Cyprian, Historischer Bericht, Bl. c4v –d5r . Cyprian hatte die Vorrede bereits am 23. Februar 1717 verfasst. 29 Ebd., Bl. d5r –e6v . 30 Mehr dazu s. unten.
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Das imposante, nahezu 1.650 Folioseiten umfassende Werk erschien zur Leipziger Ostermesse 1719 unter dem Titel Hilaria Evangelica, Oder TheologischHistorischer Bericht Vom Andern Evangelischen Jubel-Fest.31 Der eigentlichen Dokumentation der Feierlichkeiten ist eine von Cyprian verfasste Abhandlung zur grundsätzlichen Verteidigung des Reformationsgedenkens mit dem Titel Historisch-Theologischer Bericht vom Andern Evangelischen Jubel-Fest, Welcher an statt einer abgenöthigten Schutz-Schrifft vor die Reformation, und überzeugenden Belehrung vom Ursprung, Wachsthum und Beschaffenheit des Pabstthums dienen kan/ aus der Heiligen Schrifft/ denen Kirchen-Lehrern/ und neuesten Scribenten der Römischen Kirchen vorangestellt.32 Historisch argumentierend, sprach er der Papstkirche jegliche Legitimation ab und untermauerte gleichzeitig die Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit der Reformation.33 Der erste Hauptteil des Werks enthält unter anderem obrigkeitliche und konsistoriale Anordnungen, Festankündigungen, Reden, Gebete, Gedichte, Zirkularschreiben, Verzeichnisse der zur Zeit des Jubiläums amtierenden Kirchenvertreter, Pfarrer und Professoren sowie lokale und regionale Berichte über die verschiedenen Veranstaltungen. Zwei festlich geschmückte Kirchenräume und drei Illuminationen, die im Text beschrieben sind, werden in ganzseitigen Kupferstichen dargestellt. Im zweiten Hauptteil folgen mehrere lateinische Reden, die an Universitäten im deutschen Reich und im dänisch-norwegischen Königreich gehalten wurden, einige Programmschriften zu den akademischen Feierlichkeiten und ein Gedicht. In einem dritten Hauptteil beschrieb der Numismatiker am Gothaer Hof Christian Schlegel (1667–1722) 177 Jubiläumsmünzen und -medaillen, die auf zwölf Kupferstichtafeln abgebildet sind. Als stattlicher Folioband erwecken die Hilaria evangelica den Eindruck der Vollständigkeit. Entsprechend der oppositionellen Politik des Gothaer Herzogs gegenüber den mächtigsten Ständen im Reich war Cyprian bestrebt, das Bild eines in weiten Teilen des evangelischen Europas feierlich begangenen Reformationsfestes zu vermitteln. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass sich die Feierlichkeiten im Wesentlichen auf das Königreich DänemarkNorwegen sowie auf einzelne Städte und Territorien des Reichs konzentrierten. Die Wahl des Wortes »evangelicus« im Titel täuscht darüber hinweg, dass die Reformierten sich nicht an den Feierlichkeiten beteiligten.34 Auch einige pietistische Bewegungen innerhalb des Luthertums nahmen eine eher reservierte 31 Cyprian, Hilaria, 1719. Zum Werk vgl. Benrath, Cyprian, 39–43; Cordes, Cyprian; Ders., Hilaria, 10–12; Hans-Schönstädt, Das Reformationsjubiläum 1717, 58f. 32 Cyprian, Hilaria, Bericht, 1–190. Diese Abhandlung diente als Grundlage für Cyprians mehrfach aufgelegte Schrift: Uberzeugende Belehrung, 1719. Vgl. dazu Bahlcke, Prediger, 316f. 33 Vgl. dazu Witt, Reformationsjubiläum. 34 Vgl. Schäufele, Pfaff, 96f.
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Haltung ein, obgleich Cyprian durch den Abdruck einzelner Schriften von Universitäten wie Halle und Gießen ein Bild innerlutherischer Geschlossenheit präsentieren wollte.35 Gemäß den von Kaiser und Reich im Vorfeld des Jubiläums verabschiedeten Zensurbestimmungen schloss Cyprian konfessionell motivierte Diffamierungen aus den Hilaria evangelica aus. Dennoch wird die römisch-katholische Kirche in vielen der dort abgedruckten Schriften in ein schlechtes Licht gerückt. 3.
Historiographische Publizistik in memorialkultureller Konkurrenz. Ein Novum der Jubiläumskultur 1717
Anders als im Jahre 1617 wurden bereits im Vorfeld des Reformationsjubiläums 1717 mehrere prestigeträchtige historiographische und editorische Projekte zur Aufarbeitung der Reformationsgeschichte in Angriff genommen. Gilt es heute als selbstverständlich, dass die Säkularfeier eines folgenreichen historischen Ereignisses den Anstoß für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Geschehen auch im Rahmen größerer Vorhaben bildet, stellte dieses Phänomen 1717 ein kulturhistorisches Novum dar.36 Die Säkularfeier von 1617 weckte zwar grundsätzlich unter Protestanten das historische Bewusstsein für die vergangenen einhundert Jahre. Dennoch gelten die lateinisch verfassten und lediglich in Ansätzen veröffentlichten Annalen des Heidelberger Hofpredigers Abraham Scultetus (1566–1625), die die Kirchengeschichte Europas chronikartig Dekade für Dekade aus reformierter Sicht darstellen wollten, aufgrund der Tatsache, dass 1617 erstmals überhaupt ein solches Jubiläum im gesamten Protestantismus feierlich begangen wurde und noch dazu relativ kurzfristig organisiert worden war,37 als Ausnahmeerscheinung.38 Nachträglich entstanden einzelne, meist nur handschriftlich überlieferte, lokal angelegte historiographische Arbeiten, die ihren Impuls vom Jubiläum erhalten hatten. Dazu gehören solch nahezu unbekannte Werke wie etwa die von dem Eischlebener Pfarrer Paul Wolf (1569–1626) kompilierte und sich über den Zeitraum von 1517 bis 1617 erstreckende Stadtgeschichte Weimars unter dem Titel Annales seculi Lutherani Vinarienses, oder Jahr verzeichnuß, was innerhalb 100 Jharen, seid 35 Vgl. Cordes, Cyprian, 98–101. 36 Die Frage nach den Ursprüngen dieses so selbstverständlich gewordenen Phänomens hat die Forschung bislang außer Acht gelassen. Dies trifft auch für die neuere Studie von Kollmann zu, die derartige Publizistik als ein typisches Merkmal historischer Jubiläen analysiert: Kollmann, Jubiläen. Vgl. auch Gehrt, Gelehrtenkultur, 215–219. 37 Vgl. Kaufmann, Reformationsgedenken, 285–303. 38 Scultetus, Annalium Evangelii, 1618; Ders., Decas Secunda, 1620. Vgl. dazu Benrath, Reformierte Kirchengeschichtsschreibung, 27–37; Gehrt, Gelehrtenkultur, 216f.
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Lutheri s[eligen] g[edächtnisses] Reformacion, sich sonderlich denckwurdiges zu Weimar zugetragen39 sowie das von dem Generalsuperintendenten Nicolaus Rebhan (1571–1626) verfasste Werk, das sich der Kirchengeschichte Eisenachs von der Gründung der Stadt im frühen Mittelalter bis in das Jahr 1616 hinein widmet.40 Im Gegensatz dazu weckte die große Erwartungshaltung im Vorfeld des Reformationsjubiläums 1717 das Bedürfnis vieler Gelehrter, historiographische Monographien und größere Editionen zur Reformation in dem Jahr zu veröffentlichen. Und in der Tat sollte 1717 das Interesse an dieser Erinnerungsfigur seinen neuerlichen Höhepunkt erreichen.41 Ein keineswegs vollständiger, aber wohl repräsentativer Überblick über die durch das Jubiläum ausgelöste Welle derartiger Publikationen lässt sich aus dem Verzeichnis der Drucke und Handschriften, die aus verschiedenen lutherischen Städten und Gebieten in Europa für die Entstehung der Hilaria evangelica eingesandt wurden,42 und den Buchrezensionen aus den Jahren 1717 und 1718 im Gelehrtenjournal Unschuldige Nachrichten von Alten und Neuen Theologischen Sachen erstellen.43 Daraus ergeben sich 24 Titel.44 Anhand dieser lassen sich einige Phänomene feststellen, die auch heute noch für die dynamische Beziehung zwischen Jubiläums- und Wissenschaftskultur charakteristisch sind. Unter den vielfältigen Publikationen sind zunächst allgemeinere Darstellungen der Reformation zu nennen. Neben der Kurzdarstellung des Dresdner Pfarrers Paul Christian Hilscher (1666–1730)45 veröffentlichten der Rektor des Gymnasiums in der Niederlausitzer Stadt Luckau, Gottfried Hecht (1683–1720),46 der Münsterprediger in Ulm, Johann Caspar Funcke (1680–1729),47 und der Oberpfarrer in Glaucha bei Halle, Johann Hieronymus 39 FB Gotha, Chart. A 666, Bl. 311r –330v . Vgl. dazu Gehrt, Gelehrtenkultur, 216f. 40 LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv E XVI Nr. 8. Vgl. dazu Gehrt, Gelehrtenkultur, 218f; Oesterheld, Beitrag, 14–17. 41 Zahllose Predigten und akademische Reden behandelten ebenfalls historische Aspekte der Reformation, dienten aber primär dem allgemeinen Informieren und Aufklären. Zu historischen Deutungen in den Jubelpredigten und -reden von 1717 vgl. Cordes, Hilaria, 130–272. 42 Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1046, 1048, 1054, 1056f, 1060f, 1077, 1083, 1086. 43 UnNachr (1717), Nr. XXVIII, 137–139; Nr. XXIX, 139–141; Nr. XXX, 141f; Nr. XX, 283; Nr. XXIV, 467–471; Nr. XX, 675f; Nr. XXI, 676f; Nr. XXII, 677f; Nr. XXIII, 678f; Nr. XXV, 679; Nr. XXV, 868f; Nr. X, 1035f; Nr. V, 1156f; Leipzig 1718, Nr. XXVI, 161f; Nr. XXVIII, 534–536; Nr. VI, 640f. Zum Journal vgl. Voigt-Goy, »Unschuldige Nachrichten«. 44 Es sind 16 Titel in den Hilaria und 18 in den Unschuldigen Nachrichten nachzuweisen. Dabei kommen zehn Titel an beiden Orten vor. 45 Hilscher, Die Historie, [ca. 1717]; Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1048. 46 [Hecht], Gründliche Reformations Historie, 1717; Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1048; UnNachr (1717), 868f, Nr. XXV. 47 Funcke, Kurtz-gefaßte Reformations-Historie, 1717; Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1083.
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Wiegleb (1664–1730),48 umfangreichere Monographien, die das Geschehen von 1517 bis 1530, 1546 bzw. 1555 verfolgten. Als überragende Gestalt der reformatorischen Bewegung bildete Luthers Leben und Wirken stets einen wichtigen Teil, wenn nicht den Hauptteil solcher Schriften. Dies trifft auch auf die anonym erschienene und mit zahlreichen Kupferstichen geschmückte Geschichte von Kirchenkritikern zu, die einen Bogen von John Wyclif (1330–1384) über Jan Hus (1369–1415) zu Luther schlägt.49 Hervorzuheben ist außerdem die von Johann Quodvultdeus Bürger (1680–1742), dem Archidiakon der Stadtkirche in Merseburg verfasste Monographie zum prägenden Lebensabschnitt des Wittenberger Reformators als Augustinereremit.50 Zudem hatten im Jahr 1717 Biographien über den Dominikaner Johann Tetzel als prominenten Protagonisten des Reformationsnarrativs Konjunktur.51 Hinzu kamen verschiedene Quelleneditionen, wie die ausführlich kommentierte Ausgabe des autobiographisch angereicherten Briefs des fränkischen Reichsritters Ulrich von Hutten an den Nürnberger Humanisten Willibald Pirckheimer vom 25. Oktober 1518, die der Professor der Beredsamkeit am Gymnasium in Hildburghausen, Jakob Burckhard (1681–1752), in drei Teilen zwischen 1717 und 1723 veröffentlichte.52 Von Gelehrten breit rezipiert wurde die Historia Literaria Reformationis, ein stattlicher Band mit raren Briefen, Dokumenten und Schriften, den der Helmstedter Professor für orientalische Sprachen und Bibliotheksdirektor Hermann von der Hardt (1660–1746) Anfang 1717 mit einleitenden Texten herausgab.53 In den ersten beiden Teilen stehen die Humanisten Erasmus von Rotterdam und Johannes Reuchlin im Mittelpunkt. Die beiden folgenden Teile enthalten Texte zu kirchlichen Missbräuchen und der frühen Reformation, einschließlich der editio princeps von Philipp Melanchthons (1497–1560) Loci communes theologici von 1521. Den fünften und letzten Teil bildet der Nachdruck der bereits erwähnten Annalen von Abraham Scultetus. Noch größeren Widerhall in der historischen Forschung fand Cyprians vierteilige Ausgabe von handschriftlichen Briefen, Dokumenten und Chroniken zur Reformationsgeschichte aus den Beständen der Hofbibliothek
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Wiegleb, Evangelische Kirchen-Historie, 1718; Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1061. [Anonym], Der Christliche Lutheraner, 1717; UnNachr (1717), Nr. XXV, 679. Bürger, Historische Nachricht, 1717; UnNachr (1717), Nr. XXX, 141f. Hecht, Vita Ioannis Tezelii, 1717. Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1048; UnNachr (1717), Nr. XXXI, 143f; Vogel, Leben Tetzels, 1717; Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1048; UnNachr (1717), Nr. XXII, 677f; Wismeider, historische Untersuchung, 1718; Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1054. 52 Burckhard, Vlrichi De Hvtten, 1717–1723; Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1057; UnNachr (1717), Nr. XXIX, 139–141. Der gemeinte Brief ist editiert in: Ulrichs von Hutten Schriften, hg. v. Eduard Böcking, Bd. 1, Leipzig 1859, 195–217. 53 Von der Hardt, Historia Literaria, 1717; UnNachr (1717), Nr. X, 1035f.
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auf Schloss Friedenstein.54 Neben der begonnenen, aber nicht über die Geschehnisse des Jahres 1517 hinaus gediehenen deutschen Übersetzung von Seckendorffs Commentarius de Lutheranismo durch den 1714 gestorbenen Gothaer Hofhistoriographen Wilhelm Ernst Tentzel enthalten die beiden ersten Teile insgesamt 132 Aktenstücke insbesondere zum Häresieprozess der römischen Kirche gegen Luther zwischen 1518 und 1522.55 Es folgen zeitgenössische Darstellungen der Reformation von den Superintendenten Friedrich Myconius (1490–1546) in Gotha56 und Georg Spalatin in Altenburg.57 Andere Publikationen anlässlich des Jubiläums widmeten sich bestimmten Gattungen. Der Arnstädter Konsistorialassessor, Archidiakon und Hymnologe Johann Christoph Olearius (1668–1747) gab einen raren Druck, das sogenannte »Achtliederbuch«, mit Liedern von Luther und Paul Speratus (1484–1551) heraus.58 Es gilt als die älteste überlieferte Vorläuferform eines modernen lutherischen Gesangbuchs. Der Rektor des Gymnasium Fridericianum in Altenburg, Christian Friedrich Wilisch (1684–1759), veröffentlichte zusammen mit mehreren gymnasialen Jubiläumsschriften eine historische Darstellung und ausführliche Bibliographie der Katechismen, die im Gebrauch der drei christlichen Konfessionen und der Sozinianer waren.59 Die Identifikation mit dem eigenen Gemeinwesen und der eigenen Herkunftsregion stellte einen entscheidenden Beweggrund für die Veröffentlichung mehrerer Schriften dar, in denen die evangelische Heilsgeschichte mit dem 54 Die einzelnen Stücke befinden sich heute in mehreren Handschriftenbänden: FB Gotha, Chart. A 113, Chart. A 336–338, Chart. A 340, Chart. A 379, Chart. A 379b; LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv QQ I Nr. 64–70. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, XXVI–XXIX, 474, 620–638, 666–670. 55 Tentzel/Cyprian, Historischer Bericht. Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1056; UnNachr (1717), Nr. XXVIII, 137–139; Nr. XX, 675f. [Cyprian], Der andere Theil Nützlicher Uhrkunden, 1718. Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1056; UnNachr (1718), Nr. XXVIII, 534–536. Vgl. dazu Benrath, Cyprian, 39–41. 56 Myconius, Historia Reformationis, 1718; Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1056; UnNachr (1718), Nr. XXVIII, 534–536. Moderner Abdruck auf der Grundlage des Originals (FB Gotha, Chart. A 339) in: Myconius, Geschichte der Reformation, 2 1990. Zum Werk vgl. Bollbuck, Reformationsgeschichte. 57 Spalatin, Annales Reformationis; Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1056; UnNachr (1718), Nr. XXVIII, 534–536. Lediglich der erste Band ist heute überliefert (FB Gotha, Chart. A 340). Cyprian gab aber auch den zu seinen Zeiten noch vorhandenen zweiten Band (Chart. A 341) heraus. Vgl. dazu Gehrt, Spalatin, 129–133. 58 Olearius, Jubilirende Lieder-Freude, 1717; Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1077; UnNachr (1717), Nr. XXI, 676f. Die eigenhändig von Olearius angefertigte Abschrift des Achtliederbuchs, die als Grundlage für die Drucklegung diente, in: FB Gotha, Cant. spir 8° 959 (1). Das private Exemplar des Drucks von 1717 mit eigenhändigen Einträgen von Olearius in: FB Gotha, Cant. spir 8° 671 (1). Vgl. dazu Meller, Schätze, Nr. 298, 290; Paasch, Lieder, 1, 74, 79f. 59 Wilisch, Ivbila Altenbvrgensia, 1717; Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1056.
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Verlauf der Reformation vor Ort verknüpft wurde. In Wittenberg befasste sich der Küster Matthäus Faber († ca. 1750) mit verschiedenen Aspekten seiner Arbeitsstätte, der Schlosskirche, einschließlich ihrer Bedeutung als Schauplatz der Reformation.60 Johann Jacob Vogel (1660–1729), Pfarrer des Dorfes Panitzsch bei Leipzig, veröffentlichte eine Monographie über Tetzel aufgrund der Überzeugung, dass der Dominikaner nicht in Pirna, wie heute allgemein angenommen, sondern in Leipzig geboren worden sei.61 Dieses Buch ging aus Vogels langjährigem Projekt hervor, Biographien sämtlicher Gelehrter der Handels- und Universitätsstadt zu verfassen.62 Hinzu kamen Darstellungen der Reformationsgeschichte der Reichsstädte Augsburg,63 Ulm64 und Hamburg65 sowie der Residenzstädte Coburg66 und Güstrow67 von Autoren mit biographischen Bezügen zu den entsprechenden Städten. Der Zittauer Syndikus Johann Benedict Carpzov (1675–1739) verstand seine Monographie über Lorenz Heidenreich (1480–1557), den ersten evangelischen Prediger seines Wirkungsorts, als historischen Beitrag zur gesamten Oberlausitz.68 Weitere regionale Darstellungen für Brandenburg stammten von Heinrich Schmidt (1686–1739), Prediger an der Nicolaikirche in Berlin,69 und für Pommern von Georg Adolf Caroc (1679–1730), Landsyndikus von Schwedisch-Pommern.70 Das Jubiläum gab nicht nur den Impuls zu neuen historiographischen Werken und Editionen, sondern bestimmte auch den Zeitpunkt für deren Vollendung. Daraus entstand ein Zeitdruck, der erheblichen Einfluss auf das Publikationsverhalten hatte. Mehrere größere Vorhaben konnten nicht, wie erhofft, innerhalb des Jubiläumsjahres vollständig abgeschlossen werden. Autoren in dieser Lage entschieden sich häufig für die Option einer ersten Teilveröffentlichung. Cyprian publizierte z. B. 1717 42 Briefe und Dokumente für seine Ausgabe von Nützlichen Uhrkunden zur Erläuterung der ersten Reformationsgeschichte und im folgenden Jahr die übrigen 90 Schriftstücke. Die beiden ersten Teile von Jakob Burckhards Kommentaren zu Huttens Brief an Pirckheimer erschienen 60 61 62 63 64 65
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Faber, Kurzgefaste Historische Nachricht, 1717. Vogel, Leben Tetzels; Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1048; UnNachr (1717), Nr. XXII, 677f. Vgl. ebd., Bl. A1r . Lomer, Sciographia, 1717; UnNachr (1717), Nr. XXIII, 678f. Funcke, Kurtz-gefaßte Reformations-Historie; Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1083. Kempe, Das Evangelische Hamburg, 1717; Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1086. Johann Friedrich Mayer hatte diese historische Darstellung erstmals 1693 unter dem Titel Evangelisches Hamburg herausgegeben. Vgl. dazu Rau, Geschichte und Konfession, 491. Schlegel, Initia Reformationis Cobvrgensis, 1717; Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1056; UnNachr (1717), Nr. V, 1156f. Thomas, Lutherus Biseclisenex, 1718; UnNachr (1718), Nr. XXVI, 161f. Carpzov, Memoria Heidenreichianna, 1717; UnNachr (1717), Nr. XXIV, 467–471. Schmidt, Kurtze Einleitung, 1718; UnNachr (1718), Nr. VI, 640f. [Caroc], Nachricht, 1717; Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1046.
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1717, der dritte und letzte Teil aber erst sechs Jahre später.71 Einige Werke wurden erst Jahre nach dem Jubiläum veröffentlicht, wie Valentin Ernst Löschers Vollständige Reformations-Acta und Documente für die Jahre 1517 bis 1519, die zwar 1718 in den Unschuldigen Nachrichten von Alten und Neuen Theologischen Sachen angekündigt wurden, aber erst zwischen 1720 und 1729 in drei Bänden auf den Buchmarkt kamen.72 Wegen des Jubiläums entschieden sich einige Gelehrte, Teile ihrer langfristigen Projekte vorzeitig als Separatdrucke zu veröffentlichen. So schickte Vogel seine Tetzel-Biographie als Teil seiner umfassenden Geschichte der Stadt Leipzig voraus73 und Cyprian seine Edition von Nützlichen Uhrkunden als Teil der Quellengrundlage für sein äußerst ambitioniertes Projekt zur Widerlegung von Gottfried Arnolds Unparteyische[r] Kirchen- und Ketzerhistorie.74 Schließlich gab das Jubiläum den Anreiz für die Neuauflage wichtiger Werke zur Reformationsgeschichte aus vergangenen Jahren. So beförderten Cyprian seine Ausgabe von Myconius’ Geschichte der Reformation75 und Erdmann Neumeister (1671–1756) die Chronik von Stephan Kempe (vor 1521–1540) über die Einführung der Reformation in Hamburg erneut zum Druck.76 Aufsehenerregend war die Neuauflage von Lutherbriefen, die Johann Franz Buddeus (1667–1729) erstmals 1702 herausgegeben hatte,77 denn er versah diese Zweitauflage von 1717 mit einem neuen Titel, der den Band fälschlich als Edition bisher unveröffentlichter Briefe ausgab.78 Der Druck erhielt demzufolge eine vernichtende Rezension: Dieser Titul wird zum Anfang bey den Liebhabern der ineditorum Lutheri einige Freude erwecken; die aber bald wegfallen wird, wenn man das im Wäysen-Hause bey Halle Anno 1702. gedruckte und verlegte, und von uns in diesem Jahr p. 887. recensirte Supplementum Epistolar. Luth. conferirt, denn beyde treffen von Blat zu Blat überein; nur daß eine neue Præfation des Hn. D. Buddei hinzu gethan ist, […].79
Dieses Beispiel zeigt deutlich den außerordentlich hohen Publikationsdrang im Rahmen des Reformationsjubiläums 1717. Einhundert Jahre zuvor wäre ein 71 Burckhard, Vlrichi De Hvtten; Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1057; UnNachr (1717), Nr. XXIX, 139–141. Der gemeinte Brief ist editiert in: [Von Hutten], Schriften, 195–217. 72 Löscher, Vollständige Reformations-Acta, 1720–1729; UnNachr (1718), Nr. VI, 817–824. 73 Vogel, Leben Tetzels. 74 Vgl. Gehrt, Arnold und Cyprian, 55. 75 Myconius, Historia Reformationis, 1715; siehe Ders., Historia Reformationis, 1718. 76 Kempe, Das Evangelische Hamburg, 1717. 77 Buddeus, Svpplementvm Epistolarvm Martini Lvtheri, [1702]. Vgl. hierzu Spehr, Jenaer Lutherrezeption, 100f. 78 Buddeus, Collectio Nova Epistolarvm Lvtheri, 1717; Cyprian, Hilaria, 1. Buch, 1054; UnNachr (1717), Nr. XX, 283. 79 UnNachr (1717), Nr. XX, 283.
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solcher Fall nicht denkbar gewesen, denn das bis dahin beispiellose Ausmaß der Feierlichkeiten war erst wenige Monate im Voraus zu erahnen. Die Erwartungshaltung 1717 war um ein Vielfaches größer und die Planungen erheblich langfristiger. Mit dem erhöhten historischen Bewusstsein und Interesse an neuen Erkenntnissen zur Reformationsgeschichte entfaltete sich eine Dynamik, die die Entstehung von zahlreichen Werken beförderte. Fortan stellten historische Jubiläen wichtige, periodisch wiederkehrende Impulse für die Forschung dar. In dieser jungen Tradition brachten bspw. Cyprian in Gotha80 und der Gymnasialdirektor in Wolfenbüttel, Christian August Salig (1692–1738),81 beachtliche Monographien anlässlich des 200. Jubiläums der Überreichung der Confessio Augustana 1730 hervor. 4.
Prestigeprojekte im Wettstreit der »Erinnerungsorte« der Reformation
Der persönliche wissenschaftliche Eifer einzelner Gelehrter und das Streben nach Renommee stellten wichtige Beweggründe für die Hochkonjunktur reformationshistorischer Publizistik um 1717 dar. Hinzu kam das Interesse mehrerer lutherischer Fürsten, Ansprüche auf eine Sonderstellung ihrer Dynastien, Höfe und Bibliotheken für die reformatorische Memorialkultur und somit auf die Deutungshoheit des historischen Ereignisses geltend zu machen. Ein ähnliches Movens ist bei Städten und Universitäten festzustellen, die sich als »Erinnerungsorte« der Reformation verstanden. Insbesondere Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg und sein Kirchenrat Cyprian nahmen bei diesen rivalisierenden Profilierungsbestrebungen eine führende Rolle ein. Ein Vergleich der oben betrachteten Titel weist dementsprechend den Gothaer Hof mit der vierteiligen Quellenausgabe von Cyprian und der Geschichte der Reformation in Coburg von dem Numismatiker und sächsisch-ernestinischen Hofhistoriographen Christian Schlegel als die produktivste Stätte der historiographischeditorischen Publizistik im Rahmen des Reformationsjubiläums 1717 aus. Über diese Projekte wollte der Herzog sich im Allgemeinen als Förderer der Wissenschaften und Künste stilisieren. Zugleich behauptete er damit erneut die Interpretationsmacht seiner Dynastie über die Reformation. Mit Gotha wetteiferten vor allem der Wolfenbütteler Hof und die Universität Wittenberg. Ein Blick auf mehrere um 1717 in Angriff genommene, aber nie vollendete historiographische und editorische Projekte lässt das Ausmaß und den katalysierenden Effekt der Konkurrenz erkennen. 80 Cyprian, Historia der Augspurgischen Confession, 1730. 81 Salig, Vollständige Historie Der Augspurgischen Confession, 1730–1734.
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Bereits Anfang 1716 hatten Gespräche zwischen Friedrich II. und Herzog August Wilhelm von Braunschweig-Wolfenbüttel wegen des bevorstehenden Jubiläums auf Schloss Friedenstein stattgefunden.82 Letzterer wollte nach dem Tod seines 1709 zum Katholizismus konvertierten Vaters mittels der kirchlichen und akademischen Feierlichkeiten sowie eines wissenschaftlichen Prestigeprojekts die Neuausrichtung seines Territoriums zum Luthertum öffentlichkeitswirksam demonstrieren. In Abstimmung miteinander förderte jeder Hof ein ambitioniertes profilbildendes Editionsprojekt, das im Rahmen des Jubiläums veröffentlicht werden sollte, um von dem allgemein erhöhten historischen Bewusstsein für die Reformation profitieren zu können. Sicherlich auch aus sammlungsbezogenen Erwägungen heraus sollte der Helmstedter Historiker Johann Andreas Schmidt (1652–1726) unter der Schirmherrschaft Herzog August Wilhelms eine Ausgabe von Luthers späteren Briefen publizieren. Vor Ort in der Helmstedter Universitätsbibliothek stand ihm der Nachlass von Luthers letztem Famulus Johann Aurifaber (ca. 1519–1575) zur Verfügung, der Mitte des 16. Jahrhunderts aus eigener Initiative eine Gesamtausgabe der Briefe angestrebt hatte. Es gelang Aurifaber zwar, die beiden ersten geplanten Bände für den Zeitraum zwischen 1507 und 1528 zum Druck zu befördern. Das Manuskript für den dritten Band blieb jedoch unveröffentlicht.83 Als komplementäres Projekt beauftragte der Gothaer Herzog Cyprian mit einer neuen und umfassenden Edition der Briefe des einflussreichen Wittenberger Reformators und europäischen Gelehrten Philipp Melanchthon. Überrascht dieses Vorhaben zunächst aufgrund der bekanntlich kritischen Haltung Cyprians und der ernestinischen Dynastie zu Melanchthons Rolle in der Reformation, unterstreicht es dagegen auch, welchen großen Wert der Gothaer Hof prinzipiell auf grundlegende Beiträge zur Reformations- und Gelehrtengeschichte legte. Um einen Großteil der Briefe zu bearbeiten, gewann der Gothaer Hof den Wittenberger Universitätsbibliothekar Samuel Cnauth (1665–1719), der persönlich eine stattliche Melanchthoniana-Sammlung in Drucken und Handschriften besaß. Mitten im Verlauf des Projekts, am 11. Februar 1717, entdeckte Cyprian überraschend in einer entlegenen Ecke der Herzoglichen Bibliothek eine Sammlung von aufschlussreichen, ursprünglich aus dem Ernestinischen Gesamtarchiv in Weimar stammenden Originalakten zur Frühreformation, die
82 Zum Folgenden vgl. Gehrt, Melanchthon, 52–60; Kawerau, Bemühungen, 13–17; Wotschke, Bemühungen, 281–290. 83 Heute befindet sich der Nachlass in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel unter der Signatur Cod. Guelf. 108 Helmst. Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel (1528–1589) hatte ihn Ende der 1570er Jahre von Aurifabers Witwe erworben. Vgl. Thüringer, Melanchthonhandschriften, 3.
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Seckendorff für seinen Commentarius de Lutheranismo verwendet hatte.84 Dieser Fund führte zu einer abrupten Änderung der bisherigen Editionspläne des Gothaer Hofes. Anstelle der Melanchthonbriefe veröffentlichte Cyprian diese Akten, die die ersten drei Teile seiner bereits mehrfach erwähnten vierteiligen Quellenausgabe zum Reformationsjubiläum bildeten. Schmidts Versuch, die späteren Lutherbriefe herauszugeben, scheiterte am enormen Ausmaß des Unterfangens. Als einziges bedeutendes Editionswerk, das im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel anlässlich des Jubiläums entstand, blieb die oben erwähnte Historia Literaria Reformationis des Helmstedter Professors und Bibliothekars Hermann von der Hardt. Dienten die Bestände der dortigen Universitätsbibliothek vermutlich als Vorlagen für seine Quellenausgabe, scheint es kein Anliegen von der Hardts gewesen zu sein, die Bibliothek durch einen entsprechenden Verweis zu profilieren. Die prestigeträchtigen Vorhaben in Gotha und Helmstedt fanden keinen Gefallen in Wittenberg, was der Theologieprofessor Gottlieb Wernsdorf (1668–1729) in mehreren Briefen zum Ausdruck brachte. Zum einen kritisierte Wernsdorf, dass die Lutherausgabe nicht in Wittenberg, der historischen Wirkungsstätte des Reformators, angesiedelt war, sondern an der Universität Helmstedt. Ihm war diese Akademie suspekt, da dort seit dem Wirken des Irenikers Georg Calixt (1586–1656) in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht ein streng lutherisches Bekenntnis, sondern eine liberale »synkretistische« theologische Haltung zur Einigung der christlichen Konfessionen vorherrsche.85 In Konkurrenz zu Johann Andreas Schmidt und auch Hermann von der Hardt bemühte sich Wernsdorf selbst um die Herausgabe von Luthers Briefwechsel und von seltenen Dokumenten zur Reformationsgeschichte, wobei er diese Vorhaben nie zu einem Abschluss brachte. Zudem wäre es Wernsdorf viel lieber gewesen, wenn Samuel Cnauths wertvolle Melanchthoniana-Sammlung nicht infolge des Gothaer Projekts auf Schloss Friedenstein gelangt wäre, sondern in der Universitätsbibliothek Wittenberg ihre dauerhafte Aufbewahrungsstätte gefunden hätte.86 An diesen beiden Beispielen wird die identitätsstiftende Bedeutung von Sammlungen, Editionen und historiographischen Arbeiten für das Selbstverständnis Wittenbergs als historischem Erinnerungsort der Reformation deutlich. Konnte in Wittenberg kein Editionsvorhaben im Rahmen des Reformationsjubiläums verwirklicht werden, so wusste doch Wernsdorf historiographische Werke anderer Autoren zu nutzen, um die Profilierung der Stadt und Universität als Erinnerungsort der Reformation zu festigen. In seiner Vorrede zu 84 Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, XXVIIIf. 85 Vgl. Kawerau, Bemühungen, 15, 17–19; Wotschke, Bemühungen, 284–287. 86 FB Gotha, Chart. A 424, Bl. 134r –135v , hier Bl. 134r–v .
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Matthäus Fabers Geschichte der Wittenberger Schlosskirche87 überhöhte er die Eingangstür dieses Sakralbaus metaphorisch zur Schwelle zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Himmel und Erde sowie zum Tor, das in weite Teile der Erde führt. Den Thesenanschlag, der genau an dieser Stelle vor zweihundert Jahren stattgefunden haben sollte, griff Wernsdorf als vernichtenden Stoß gegen den Papst bildlich auf.88 Jesus sei dann durch die Tür der Schlosskirche mit dem Evangelium erneut in die Kirche eingezogen und von hier aus habe sich die Reformation in die Christenheit und die Wahrheit in die Welt verbreitet. Darüber hinaus schrieb Wernsdorf der Tür Wunderkraft zu: Obgleich die Stadt in den vergangenen zwei Jahrhunderten mehrfach Bränden und Kriegen ausgesetzt gewesen war, blieb die Tür stets unversehrt.89 Auf diese Weise erhielt sie sakralen Charakter und wurde heilsgeschichtlich aufgeladen. Als topographischer, räumlich fassbarer Erinnerungsort der Reformation war Wittenberg konkurrenzlos. Bibliotheken wie die am Gothaer Hof oder an der Universität Helmstedt konnten sich aber im Unterschied dazu der auratischen Kraft zeitgenössischer Autographen in ihren Handschriftensammlungen bedienen, um sich als Erinnerungsorte im metaphorischen Sinn zu profilieren. 87 Faber, Kurzgefasste Historische Nachricht, 1717, Bl. )(3r –)(7v . »Da es itzo an dem ist/ daß wir das Gedächtnis der vor zwey hundert Jahren/ durch […] Lutherum, in dieser Stadt/ und bey dieser Universität/ zu erst angefangenen heilsamen Kirchen-Reformation feyren sollen; So haben wir dadurch eine solche Freude erlebet […]. Bedencken wir die dabey befindlichen Umstände/ so ist unser liebes Wittenberg hierbey um so vielmehr interessiret/ jemehr die darin befindliche Schloß- und Stiffts-Kirche zu Aller-Heiligen/ an dieser grossen von GOTT verliehenen Gnade Theil hat. Jch will zwar nicht gut dafür seyn/ daß noch eben diejenigen Nägel/ wie vorgegeben wird/ in der grossen Kirch-Thüre oder Pforte stecken/ womit der sel. Herr D. Lutherus An. 1517. den 31. Octobr. seine ersten Theses wider den bekandten Ablaß-Krämer/ Joh. Tetzeln, angeschlagen hat: Genug/ daß eben diese Pforte biß dato bey so mancherley hiesiger Orthen entstandenen wichtigen revolutionen/ auch nahen/ und entsetzlichen Bränden/ unversehrt geblieben/ auch mit diesem Anschlage dem Pabst ein unverwindlicher Stoß beygebracht/ und zur erfolgten heilsamen Reformation ein seeliger Anfang gemacht worden/ also/ daß man mit Wahrheit sagen kann/ es sey JESUS mit seinem Evangelio aufs neue durch diese Thüre in seine Kirche eingezogen. Anfangs war sie/ bekandter massen/ ein gar kleines unansehnliches Capellchen/ welches aber hernach zu einem ziemlich grossen und schönen Tempel erwachsen ist/ anzudeuten/ daß aus der einigen Disputation LVTHERI wider Tetzeln eine völlige Reformation der gantzen Kirche entstehen/ und die zu Wittenberg vorgetragene Wahrheit sich durch die gantze Welt ausbreiten würde. […]«, ebd., Bl. )(3r –)(4r . 88 Zu dem seit 1717 gängigen Motiv von Luther, der Thesen mit einem Hammer an den Türen anschlägt, vgl. Ott, Hammer. 89 Seit dem Beginn des 18. Jh. verbreiteten sich mehrere Berichte von verschiedenen Objekten, die unmittelbar mit Luther in Verbindung standen und auf wundersame Weise Brände überstanden haben sollten. Zu diesem Phänomen, das an den Heiligen- bzw. Reliquienkult im Katholizismus erinnert, vgl. Scribner, Incombustible Luther; vgl. auch Laube, Reliquie, 204–232.
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So schilderte Cyprian seine Entdeckung von Originalbriefen und -dokumenten im Februar 1717, aus denen die entscheidende Rolle Georg Spalatins bei den Verhandlungen über die causa Lutheri hervorgeht, mit starker Bildhaftigkeit: Der redliche Georgius Spalatinus, welcher bey dreyen Churfürsten zu Sachsen, nemlich Friderico III. Iohanne und Iohanne Friderico, Secretarius und vertrauter diener gewesen, stiege gleichsam mit seinen scripturen in diesem jubel=jahr, fast nach zweyen seculis, aus dem grab […].90
Mit der Beschreibung seines Funds evozierte Cyprian ein Bild, das an das Ausgraben von Artefakten erinnert, die die lange im Dunkeln gebliebenen Akteure und Handlungen der Vergangenheit plötzlich beleuchten. Das vor ihm liegende beschriftete Papier wurde somit zur Nahtstelle zwischen Gegenwart und Reformationszeit. 5.
Die Genese der Gothaer Hofbibliothek als Forschungsinstrument und Gedächtnisspeicher der Reformation in Europa
Herzog Friedrich II. und Ernst Salomon Cyprian führten eine bis dahin beispiellose Offensive zur Profilbildung der Hofbibliothek auf Schloss Friedenstein als Instrument und Ort der Wissensproduktion und zur Propagierung der dortigen Sammlungen als metaphorische Erinnerungsorte. Sie verfolgten diese Repräsentationspolitik sowohl über Medien von überregionaler Reichweite als auch über solche, die Anwesende vor Ort unmittelbar erfahren konnten. Mittel und Zielgruppe der Außenwirkung der Hofbibliothek benannte Cyprian prägnant in einem Brief von 1732, in dem er dem gleichnamigen Sohn und Nachfolger Herzog Friedrichs II. seine Verdienste erneut vor Augen führen wollte. Diese Einrichtung sei, so Cyprian: unter meiner saueren arbeit […] am Keyserlichen, Königlichen und Fürstlichen höfen, auch wohl in zwey drittheilen von Europa, bey denen berühmten leuten, in besonderes lustre gesetzet worden, wie davon viele gedruckte, und theils in der geheimen Cantzley befindliche schrifftliche Zeugnisse vor augen liegen; […] drey und dreyßigste jahre [habe ich] redlich gedienet, viele 100 documenta, zu dero glorwürdigsten Ahnnen unvergesslichen Ruhm, ans Licht gebracht, […].91
90 Vorrede Cyprians zu »Nützliche Uhrkunden zur Erläuterung Der ersten Reformations=Geschichte« in: Tentzel/Cyprian, Historischer Bericht, 355–360, hier 358. Zu der damit verbundenen Aufnahme Spalatins in das Kulturelle Gedächtnis vgl. Gehrt, Spalatin, 133f. 91 LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv, UU XXXIX Nr. 11, Bl. 13r –15v , hier Bl. 13r , 14v : Cyprian an [Herzog Friedrich III.], Gotha, 27. September 1732.
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Ziel der Außendarstellung war es, Höfe und Gelehrte sowohl im Alten Reich als auch in Italien, Frankreich, England, Holland, Dänemark-Norwegen und Schweden zu erreichen.92 Insbesondere die Edition von hervorragenden Schriftstücken aus den Beständen der Bibliothek sollte Aufmerksamkeit in der Gelehrtenrepublik erregen. Zum Zeitpunkt eines gesteigerten historischen Bewusstseins für die Reformation im Rahmen des Jubiläums 1717 war es deshalb ein besonderes Anliegen Cyprians, möglichst früh aufschlussreiche Dokumente zu diesem Ereignis in hoher Quantität und Qualität zu publizieren. Diese Leistung erbrachte durch die Gunst der Stunde einen mehrfachen Ertrag, denn Cyprians Quellenausgaben wurden noch rezipiert, als reformationsgeschichtliche Werke Hochkonjunktur hatten. So wurde z. B. der erste Teil seiner Nützlichen Uhrkunden zur Erläuterung der ersten Reformationsgeschichte, der im Frühjahr 1717 erschienen war, im gleichen Jahr zweimal in den Unschuldigen Nachrichten rezensiert.93 Zugleich wurde die Vortrefflichkeit seiner Arbeit in Vorreden zu Werken, die nur wenige Monate später auf dem Buchmarkt erschienen, gepriesen, wie etwa Gottfried Hechts Gründliche Reformations Historie94 und Johann Erhard Knapps Schauplatz Des Tezelischen Ablaß-Kram.95 Ebenso wichtig wie solche Editionen war die Einbeziehung der Bestände in historiographische Werke. Bereits die Angaben zu den Aufbewahrungsorten der referierten und zitierten Quellen in Seckendorffs breit rezipiertem Commentarius de Lutheranismo vermittelten einen Eindruck vom Reichtum der Bestände zur Reformationsgeschichte auf Schloss Friedenstein. Auch aus diesem Grund war Herzog Friedrich II. an Cyprians ambitioniertem Vorhaben interessiert, eine quellengesättigte Darstellung des europäischen Christentums von 1500 bis 1700 als Widerlegung von Gottfried Arnolds Unparteyische[r] Kirchen- und Ketzerhistorie zu schreiben.96 Als besonders wirksames Mittel, um Gelehrte europaweit zu erreichen, stellte sich der Handschriftenkatalog 92 Vgl. Cyprian, Uberzeugende Belehrung, Bl. a8r . 93 UnNachr (1717), Nr. XXVIII, 137–139; Nr. XX, 675f. 94 Gottlieb Wernsdorf schreibt, dass Hechts Schrift »so accurat gefasset/ und wohl gerathen ist, daß sie, meines wenigen Ermeßens/ allen andern hievon bißher edirten Schrifften/ denen sonst ihr gebührendes Lob billig lasse/ ausser des seeligen Herrn Tentzelii, von dem Hoch-Fürstl. Sächsischen Kirchen-Rathe zu Gotha/ Herrn D. Salomo Ernesto Cypriani, mit unvergleichichen Anmerckungen/ und Documenten/ herausgegebene Reformations-Historie/ vorgezogen zu werden verdienet«. Hecht, Gründliche Reformations Historie, 1717, Bl. )( )( 6v –)( )( 7r . 95 »[…] ich verweisse nur diejenigen, die nicht studiret haben auf Lutheri ersten Altenburgischen Theil, Seckendorffs Teutsches Lutherthum, Myconii Reformations-Historie, und Tenzels historischen Bericht von dem Anfang und ersten Fortgang der Reformation Lutheri, welche beyde letzte Schrifften der hochberühmte Herr […] Cyprian heraus gegeben; […]«. [Knapp], Schauplatz, 1717, Bl. A3r–v . 96 Vgl. Gehrt, Arnold und Cyprian.
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heraus, den Cyprian 1714 vollendet hatte.97 So waren gleichermaßen der Helmstedter Historiker Johann Andreas Schmidt, als er 1716 die Arbeit an seiner Lutherausgabe begann,98 und im Jahr 1722 der Rektor des Trinity College in Cambridge, Richard Bentley (1662–1742), über die Gothaer Sammlung informiert.99 Schließlich wurde der Bekanntheitsgrad der Herzoglichen Bibliothek durch Cyprians europaweit gespanntes Gelehrtennetzwerk erheblich erhöht, denn die dort vorhandenen Handschriften und Drucke nahmen in den Briefen seiner regen Korrespondenz immer wieder bemerkenswert viel Platz ein.100 Als Rückkopplungseffekt wurden dem Herzog kirchenhistorische Arbeiten gewidmet und Handschriften und Drucke geschenkt, die in das Sammlungsprofil der Hofbibliothek passten.101 Durch diese Aktivitäten wollte sich Herzog Friedrich II. vor allem als Förderer der Wissenschaften stilisieren. Diese Intention ist bspw. dem Kupferstich zu entnehmen, den der Leipziger Stecher Johann Georg Mentzel (1677–1743) speziell zur Illustrierung der Hilaria evangelica anfertigte (Abb. 1).102 Im Mittelpunkt steht die Büste des Fürsten auf einem Sockel mit der Inschrift »PIO IVSTO ET LITER[ARVM] MA[E]CEN[ATI]«.103 Zu deren rechten Seite sitzt eine schreibende allegorische Figur, deren Blick auf ein Buch mit dem Titel »HILAR[IA] EVANG[ELICA]« gerichtet ist. Sie ist umgeben von Attributen verschiedener Wissenschaften und Künste wie etwa Astronomie, Geometrie, Geographie, Architektur, Malerei und Altertumskunde. Unmittelbar hinter ihr befinden sich eine Garbe und ein Lorbeerzweig als Symbole für hohe Qualität und Produktivität. Als unerlässliches Fundament der wissenschaftlichen Studien steht im Bildhintergrund eine reichlich ausgestattete Bibliothek.
97 Cyprian, Catalogvs, 1714. Gleichzeitig wurde ein Katalog sämtlicher Drucke angestrebt, aber nie verwirklicht. Vgl. Rudolphi, Anderer Theil, 1717, 198. 98 Vgl. Wotschke, Bemühungen, 282–284. 99 So berichtete Georg Grosch während seiner peregrinatio academica 1722 an den Gothaer Hof, dass Bentley »von unserer Gothaischen Bibliotheque einen sehr guten concept« habe und dass er »den H[errn] Editorem des Catalogi MSS. Bibliothecae Gothanae [d. h. Cyprian] nicht nur wohl kannte, sondern auch viel estime vor seine gründliche Gelehrsamkeit bezeugte«. FB Gotha, Chart. A 446, Bl. 314r –319v , hier Bl. 316r–v . 100 26 Handschriftenbände mit annährend 4.000 Briefen aus seiner amtlichen Korrespondenz befinden sich heute in: FB Gotha, Chart. A 422–447. Die Briefe sind im Verbundkatalog Kalliope (http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/de/index.html) einzeln erschlossen. 101 Z.B. eine Sammlung von elf eigenhändigen Briefen von Melanchthon (FB Gotha, Chart. A 400), die der Regensburger Superintendent Georg Serpilius dem Herzog 1719 schenkte. Vgl. Gehrt, Melanchthon, 60; Ders., Reformationshandschriften, 728f. 102 Der Kupferstich wurde dreimal verwendet, um jeweils die erste Seite eines Hauptteils des Werks zu schmücken. 103 »Dem Frommen, Gerechten und Mäzen der Wissenschaften«.
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Abb. 1 Kupferstich in Ernst Salomon Cyprian, Hilaria evangelica, 1719. Quelle: FB Gotha, Th 4° 3085.
Ein Bezug zu Luther oder der Reformation fehlt im Bild. Eine derartige Assoziierung mit dem Gothaer Hof und dessen Bibliothek entstand vielmehr durch die Förderung von prestigeträchtigen historiographischen Werken. Ebenso wichtig wie die Bekanntmachung der Patronage der Herzöge waren dabei Hinweise auf hervorragende und unikale Bestände auf Schloss Friedenstein. In der Tat gelangte ein wesentlicher Bestandteil der reformationshistorischen Handschriftenbestände der Bibliothek nach Gotha, um repräsentative historiographische oder editorische Projekte zu verwirklichen. So schrieb Seckendorff, dass Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha ihm »mehr als 100. Stösse von Acten, so Jhro Durchl theils von dero Vorfahren bekommen, theils selbt gesammlet und hierzu dienlich wären«, zur Verfügung gestellt habe, nachdem er 1641 den Auftrag zur Verfassung einer Geschichte der Reformation erhalten hatte.104 Seckendorff hatte auch um diese Zeit entsprechende Akten im Ernestinischen Gesamtarchiv in Weimar gesichtet.105 Offenbar gelangten in diesem Zusammenhang mehrere Handschriften, die sich zeitlich von den Anfängen der Wittenberger Reformation bis zum Augsburger Reichstag 1559 erstrecken, aus dem gemeinsamen Besitz der ernestinischen Herzöge von Weimar nach Gotha.106 Da das Vorhaben ursprünglich die reichsweiten Entwicklungen im gesamten 16. Jahrhundert und nicht wie im Endergebnis 50 Jahre später, ausschließlich die Jahre zwischen 1517 und 1546 erfassen sollte, liegt die Vermutung nahe, 104 Von Seckendorff, Ausfürliche Historie, Bl. c2r . 105 Vgl. Blaha, Wissen und Macht, 30–32. 106 FB Gotha, Chart. A 113, Chart. A 267, Chart. A 336–338, Chart. A 340–341, Chart. A 379 und Chart. A 647 sowie LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv QQ I Nr. 64–70. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, XXVI–XXIX, 474, 599–601, 620–638, 666–670, 807–809.
Ernst Salomon Cyprian und die Erinnerungspolitik Herzog Friedrichs II. von Sachsen-Gotha-Altenburg
dass auch die auf Schloss Friedenstein früh nachzuweisenden Teilnachlässe von Theologen aus der zweiten und dritten Generation der Reformation ebenfalls zu diesem Zweck angeschafft wurden. Dazu zählen Handschriftenbände von dem Wittenberger Reformator Paul Eber (1511–1569),107 dem Augsburger Superintendenten und späteren Theologieprofessor in Wittenberg und Jena, Georg Mylius (1548–1607), sowie dem reformierten Herborner Theologieprofessor Johannes Piscator (1546–1625).108 In Verbindung mit den Bemühungen des Gothaer Hofes 1716/17 um eine neue Ausgabe von Melanchthons Briefen gewann Herzog Friedrich II. zudem eine bedeutende, aus Handschriften und alten Drucken bestehende Sammlung von Melanchthoniana für die Hofbibliothek.109 Seit der Anstellung Cyprians als Direktor des Gymnasium Casimirianum in Coburg im Jahr 1700 hatte der Herzog das Vorhaben dieses Kirchenhistorikers gefördert, Gottfried Arnolds Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistori zu widerlegen.110 Das gesamte Werk sollte nichts Geringeres leisten als die Geschichte des Christentums in Europa von 1500 bis 1700 umfassend zu behandeln.111 Nachdem Herzog Friedrich II. ihn 1713 zum Kirchenrat und Direktor der Bibliothek auf Schloss Friedenstein ernannt hatte, genoss dieser nicht nur uneingeschränkten Zugang zu den dort bereits reichlich vorhandenen Beständen, sondern erwarb mit großem Geschick und enormem Elan weitere Drucke und Handschriften für diese Einrichtung, die seinen Forschungszwecken dienten. Zu den unikalen Spitzenstücken zur Reformationsgeschichte gehören das Chorbuch von Johann Walter (1496–1570) für die Figuralmusik in der 1544 von Luther geweihten Kapelle im Schloss Hartenfels in Torgau,112 die lateinische Fassung des Prager Manifests von Thomas Müntzer (1489–1525) aus dem Jahr 1521,113 das Druckmanuskript zu Luthers deutscher Übersetzung des 107 FB Gotha, Chart. A 93–94; Chart. A 123–128; Chart. A 125a; Chart. A 380, Bl. 371r–v ; Chart. A 649, Bl. 28r –35v ; Chart. B 18; Chart. B 25; Chart. B 79 und Theol 2° 23/7. Zum Nachlass vgl. Gehrt, Melanchthon, 30–34; Ders., Reformationshandschriften, XVI–XVIII, 315–328, 484–552, 671–673, 889, 905–907, 986–996; Ders./Knüpffer, Nachfolger, 32–35. 108 FB Gotha, Chart. A 87 und Chart. A 91–92 (Mylius); Chart. A 130 (Piscator). Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, XXX, 292–315, 553–570. 109 FB Gotha, Chart. A 264; Chart. A 400–401; Chart. B 169; Chart. B 190; Phil 2° 104/2; Phil 4° 238/6; Phil 8° 1165/3–8; Phil 8° 1166/1–2; Phil 8° 1172a/4 und Theol 8° 210/2. Vgl. Gehrt, Melanchthon, 52–60, 103–105. Zu den Handschriftenbänden vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 591–593, 728–742, 1013–1021. 110 Vgl. Gehrt, Arnold und Cyprian, 55–58. 111 Verwirklicht wurde lediglich der erste Band, der die ersten 16 von insgesamt 34 Kapiteln zum 16. Jh. umfasste. [Cyprian]/Grosch, Nothwendige Verthaidigung, 1745. 112 FB Gotha, Chart. A 98 (CC BY-SA 4.0). Vgl. dazu Gehrt, Reformationshandschriften, 329–345. Zu Walter und seinem Wirken vgl. zuletzt: Herrmann, Johann Walter. 113 FB Gotha, Chart. A 379a. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 670.
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Propheten Jeremia114 und wichtige Originalakten zur Konkordienformel von 1577.115 Hinzu kommen Teilnachlässe von prominenten Vertretern aller drei Konfessionen, wie etwa von den Bischöfen Julius Pflug von Naumburg-Zeitz (1499–1564)116 und Stanislaus Hosius von Ermland (1504–1579),117 von den lutherischen Professoren Stephan Gerlach (1546–1612) und Martin Crusius (1526–1607) in Tübingen118 und Ägidius Hunnius (1550–1603) in Marburg und später in Wittenberg119 sowie von den Genfer Reformatoren Johannes Calvin (1509–1564) und Theodor Beza (1519–1605).120 Konnte Cyprians Projekt nie in seinem geplanten Umfang vollendet werden, entstand doch damit ein umfassendes, europäisch ausgerichtetes Reservoir von Wissen zur Reformationsgeschichte, das stets aktiviert werden konnte – und kann –, um neues Wissen zu produzieren.121 Da die Bibliothek immer wieder als Forschungsinstrument für bedeutende historiographische Projekte fungierte, wurde sie durch das im Laufe der Zeit angesammelte Material zu einem Gedächtnisspeicher der Reformation in Europa.122 Dieser Gedächtnisspeicher auf Schloss Friedenstein wurde in größeren Gelehrtenkreisen Europas insbesondere durch Publikationen und Korrespondenzen wahrgenommen. Gleichzeitig wollte Herzog Friedrich II. Besucher der Hofbibliothek durch Mittel der Repräsentation beeindrucken. Bei solchen Inszenierungen spielten freilich die räumliche Gestaltung und die Inneneinrichtung eine bedeutende Rolle. 1709 ließ der Herzog die Bücher- und Handschriftensammlungen in einen imposanten Bibliothekssaal im Ostturm des Schlosses verlegen.123 Auch die Medaillen- und Münzsammlung, die damals mit der Bibliothek eng verbunden war, wurde 1713 in einem eigens dafür ausgestalteten Raum im Ostflügel des Schlosses, dem sogenannten Numismatophylacium Fridericianum, wirkungsvoll in Szene gesetzt. Anlass dafür 114 FB Gotha, Chart. B 142. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 997. 115 Sie wurden lediglich zwischen 1722 und 1734 in der Herzoglichen Bibliothek Gotha aufbewahrt. Vgl. LATh – StA Gotha, Geh. Archiv E XIII A 7/2, Bl. 1r –4v ; Geh. Archiv XX VI 69 und 114; FB Gotha, Chart. A 427, Bl. 148r –149v . Abschriften von einem Teil der Sammlung heute in: FB Gotha, Chart. A 275. 116 FB Gotha, Chart. A 385; LATh – StA Gotha, Geh. Archiv QQ I Nr. 71–76. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 696–699. 117 FB Gotha, Chart. A 381–384. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 673–695. 118 FB Gotha, Chart. A 386; Chart. A 407 und Chart. A 1027. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 700–705, 789–799, 817–829. 119 FB Gotha, Chart. A 279. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 609–617. 120 FB Gotha, Chart. A 404–405. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 751–785. 121 Einführend zum Verhältnis zwischen Gedächtnisspeicher und Wissensproduktion: Friedrich, Geburt, 15–18. 122 Vgl. Paasch, Hofbibliotheken, 89f; Dies, Forschungsbibliothek, 21–26. 123 Vgl. Paasch, Hofbibliotheken, 86.
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war der Erwerb von mehr als 18.800 Münzen von Fürst Anton Günther II. von Schwarzburg-Sondershausen (1653–1716) zu Arnstadt im vorhergehenden Jahr, wodurch die Sammlung auf Schloss Friedenstein gewissermaßen über Nacht zu einer Sammlung von europäischem Rang avanciert war.124 Ein Kupferstich aus dem Jahr 1727 zeigt den zweifachen Verwendungszweck des Raumes (Abb. 2). Entsprechend dem Motto »Prodesse et dilectare« studieren zwei Männer die Münzen am Tisch im Hintergrund, während im Vordergrund ein Mann und eine Frau, begleitet von einem Hund, sich der Münzschränke und Postamente an der Seitenwand mit Büsten der römischen Kaiser sowie kleinformatigen Antikenkopien erfreuen.
Abb. 2 Münzkabinett auf Schloss Friedenstein, Kupferstich 1727. Quelle: FB Gotha, H 2° 1101.
Auch für die Hofbibliothek galt das Doppelziel, dem Fürsten, den Räten und Gelehrten ein grundlegendes Wissensreservoir für Regierung, Verwaltung, Bildung und Forschung zur Verfügung zu stellen und gleichzeitig Besucher des Hofes in Staunen zu versetzen.125 Nutzer der Bestände und andere Anwesende am Hof sollten auch die Präsenz der Humanisten, Theologen und Fürsten 124 Vgl. Eberle, Münzkabinett. 125 Zu letzterem Effekt lautet eine Beschreibung der Hofbibliothek aus dem Jahr 1717: »Wendet man sich nun in die dritte Stube derer Manu Scriptorum und der Antiquiteten/ so ist ein solcher Schatz daselbst anzutreffen/ der von den Durchreisenden sehr admiriret« wird. Vgl. Rudolphi, Anderer Theil, 197–199, Zitat 198.
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der Reformationszeit in der Sammlung gut wahrnehmen können. Zu diesem Zweck wurden unter anderem ein Triptychon mit Darstellungen von Luther als Augustinermönch, Junker Jörg und als älterer Mann sowie zwei weitere gemalte Porträts des Reformators aus dem 16. Jahrhundert in der Bibliothek aufgehängt, wobei noch unklar ist, ob sie auch die Wände des 1709 neugestalten Raums schmückten.126 Ihre räumliche Verortung weist darauf hin, dass die Bestände zu Luther und der Reformation einen Kernbestandteil der Bücher- und Handschriftensammlung bildeten.127 Zudem sollten die Schriften der Reformatoren stärker sichtbar und zugleich auch für die kirchenhistorischen Arbeiten von Cyprian und anderen Gelehrten nutzbar gemacht werden, indem zahllose Sammelbände mit gedruckten Werken ungeachtet ihrer Provenienz auseinandergenommen und nach Autoren oder Sachgruppen geordnet, neu gebunden und aufgestellt wurden.128 Dabei wurden die Schriften von Humanisten, Vorläufern der Reformation, Theologen der verschiedenen Konfessionen und radikalen Reformern chronologisch und zum Teil auch nach Sprache geordnet. Ferner entstanden thematisch zusammengestellte Bände bspw. zu Bekenntnissen und Bekennerfiguren, Täufern, Religionsgesprächen und zum Tridentinum. Besonders hervorzuheben ist eine 14-bändige Reihe mit der Rückenbeschriftung »Scripta historiam reformationis illustrantia«. Durch diese Aufbereitung der gedruckten Werke auf Schloss Friedenstein für historiographische und theologische Studien wurde zugleich der immense Umfang derartigen Schrifttums zu führenden Gestalten und zentralen Themenkomplexen der Reformationszeit auf eindrucksvolle Weise sichtbar gemacht. Schließlich ließ Herzog Friedrich II. seinen Bibliotheksdirektor 1717 eine repräsentative Sammlung mit Autographen von prominenten Theologen und Humanisten der Reformationszeit zusammenstellen, die ebenso wie die historiographischen Arbeiten Cyprians europäisch und konfessionsübergreifend ausgerichtet war.129 Diese und eine zweite, kurz darauf angelegte Autographensammlung,130 welche beide eine starke Ausstrahlungskraft besaßen, vermittelten den Besuchern eine Vorstellung von Größe und Bedeutung der Sammlung und versetzten die Betrachter in Staunen. Ähnlich wie die Tür der Wittenberger Schlosskirche bildeten diese »Artefakte« ein metaphorisches Portal zum Reformationsereignis und dessen Akteuren.
126 Vgl. Juncker, Vita D. Martini Lvtheri, 431–435; Hoffmann, Luthertriptychon, 33f. Vgl. auch Gehrt, Melanchthon, 27–30. 127 Zur Beziehung zwischen Porträts und Büchersammlungen in Bibliotheksräumen vgl. bspw. Forster, Johann Major, 151–153. 128 Vgl. Claus, Bibliotheca Gerhardina, 39. 129 FB Gotha, Chart. A 379. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 666–670. 130 FB Gotha, Chart. A 380. Vgl. Gehrt, Reformationshandschriften, 671–673.
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Fazit
1718 ordnete Herzog Friedrich II. ein jährlich wiederkehrendes Reformationsfest für das Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg an.131 Dieser Beschluss war eine konsequente Folge seiner Anstrengungen im Jahr zuvor, entsprechende Feierlichkeiten reichs- und auch europaweit anzuregen. Das 200. Reformationsjubiläum bildete ein besonderes Moment für die Intensivierung seiner Erinnerungspolitik, da es ihm Möglichkeiten eröffnete, eine Führungsposition unter den protestantischen Reichsständen zu behaupten. So hatte sein talentierter Kirchenrat und Historiker Ernst Salomon Cyprian die Ansprüche des Gothaer Herzogs bereits in einzelnen Schriften ideell untermauert, als die Bekanntmachung der Konversion des sächsischen Kurprinzen zum Katholizismus im Oktober des gleichen Jahres erneut ein Ringen um die kommissarische Wahrnehmung des Direktoriums im Corpus Evangelicorum auslöste. Das Jubiläum erweckte im Allgemeinen ein erhöhtes Interesse an der Reformation, mit der die Vorfahren des Herzogs, die ernestinischen Kurfürsten von Sachsen, unauflöslich verbunden waren. Um das kulturelle Gedächtnis an diese Erinnerungsfigur zu prägen, förderte Friedrich II. wie auch seine Vorgänger die Entstehung von entsprechenden Quellenausgaben und prestigeträchtigen historiographischen Werken. In dieser langen Tradition standen sowohl die Gestaltung und Bewahrung des Gedächtnisses des Reformationsgedenkens 1717 in den Hilaria evangelica, um in Opposition zu den mächtigsten Fürsten des Reichs eine europaweite Würdigung der Reformation und eine Geschlossenheit der Protestanten bei den Feierlichkeiten zu inszenieren, als auch Cyprians zur Lebensaufgabe gewordene Widerlegung von Gottfried Arnolds Kirchenund Ketzerhistorie. Durch beide Vorhaben wollte der Herzog grundsätzlich die neuerlich durch pietistische und frühaufklärerische Bewegungen allmählich zusammenbrechenden, staatlich geprägten lutherischen Kirchen stärken. Im Unterschied zu 1617 sahen viele Lutheraner bereits lange im Voraus dem Reformationsgedenken 1717 mit großen Erwartungen entgegen. So konnte das Jubiläum eine bis dahin beispiellose Dynamik entfalten, die eine Welle von wissenschaftlichen Editionen und historiographischen Werken auslöste, die zum Teil in brisanter Konkurrenz zueinander standen. Neben dem persönlichen Ehrgeiz vieler Gelehrter stellten die Bestrebungen einzelner Höfe, Universitäten und Städte, sich als »Erinnerungsorte« der Reformation und ihre Sonderstellung bei der Gestaltung und Bewahrung des entsprechenden kulturellen Gedächtnisses hervorzuheben, ein wichtiges Moment dar. In diesem kulturhistorisch neuartigen Wettstreit nahm der Gothaer Hof anfangs eine 131 Vgl. Schönstädt, Das Reformationsjubiläum 1717, 99. Bereits seit 1668 fand ein jährliches Reformationsfest in Kursachsen statt.
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führende Rolle ein. Seitdem ist der katalysierende Mechanismus historischer Jubiläen für die Entstehung wissenschaftlicher Projekte ein gängiges Phänomen. Mit Bezug auf seine Repräsentationspolitik profitierte der Gothaer Herzog immens vom Reformationsjubiläum 1717. Insbesondere durch die Hilaria evangelica konnte er seinen Führungsanspruch unter den protestantischen Reichsständen und seinen Gestaltungswillen für das Jubiläum im Reich auf ideeller Ebene behaupten. Durch den gezielten Ausbau der handschriftlichen und Drucksammlungen der Hofbibliothek auf Schloss Friedenstein für die Entstehung historiographischer und editorischer Prestigeprojekte wurde dieses stets wachsende Forschungsinstrument zu einem profilierten Gedächtnisspeicher der Reformation in Europa. Vermittelt wurden dessen Größe und Bedeutung nach außen durch entsprechende Publikationen und vor Ort durch die Raumgestaltung und die systematische Zusammenstellung der Bestände. Vor allem die zahlreichen eigenhändig verfassten schriftlichen Relikte vermittelten damals wie auch heute das Gefühl der Präsenz der verschiedenen Akteure der Reformation in der Sammlung. Literatur Quellen [Anonym], Der Christliche Lutheraner Stellet vor Die Kirchen-Historien Vom Jahr 1370. und was von selbiger Zeit darinnen ergangen […], s.l. 1717 (VD18 10600612). Buddeus, Johann Franz (Hg.), Svpplementvm Epistolarvm Martini Lvtheri, continens Epistolas CCLX. […], Halle [1702]. –, Collectio Nova Epistolarvm Lvtheri, Occasione Ivbilaei Evangelici In Lucem Data […], Halle: Waisenhaus, 1717 (VD18 11401834). Burckhard, Jakob, […] Vlrichi De Hvtten Ad B. Pirckheymer […] Epistola Qva Et Vitae Svae Rationem Et Temporvm In Qvae Aetas Ipsivs Incidit Conditionem Lvcvlenter Descripsit In Lvcem Denvo Protvlit Et Commentarivm […] Exponvntvr […], 3 Tle., Wolfenbüttel: Gottfried Freytag und Balthasar Pentzold, 1717–1723 (VD18 11188561). Bürger, Johann Quodvultdeus, Historische Nachricht von […] D. Martini Lutheri Münchs-Stand Und Kloster-Leben […], Leipzig/Merseburg: Johann Gottfried Schubarth, 1717 (VD18 1138087X). [Caroc, Georg Adolf], Nachricht, Wie es in Pommern zur Zeit der Reformation mit der allgemeinen und publicqven Abschaffung des Päbstlichen Kirchen-Wesens eigendlich bewandt gewesen […], Greifswald: Andreas Buße, 1717 (VD18 10316248).
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II.
Gedächtnis-Speicher, -Orte und -Medien der Reformation
Dagmar Blaha
»Es sind tote Papiere …« Das Ernestinische Gesamtarchiv
Wenn er sich über das Ernestinische Gesamtarchiv äußerte, geriet Leopold von Ranke (1795–1886) ins Schwärmen: Das gemeinschaftliche Archiv des sächsisch-ernestinischen Hauses zu Weimar, welches ich im August 1837 besuchte, bot mir dar, was ich wünschte. Es kann für die bezeichnete Epoche [gemeint ist die Reformationszeit], in der dieses Haus eine so große Rolle spielte, auch kein inhaltsreicheres Lokal geben als das Gewölbe, in welchem das Archiv desselben aufbewahrt wird. Wände und innere Räume sind von Aktenkonvoluten eingenommen, welche sich auf die damaligen Tätigkeiten und Verhältnisse beziehen. Man hat hier jeden eingegangenen Zettel, jeden Entwurf einer Antwort aufbewahrt. […] Man bedauere den nicht, der sich mit diesen anscheinend trockenen Studien beschäftigt und darüber den Genuß manches heiteren Tages versäumt! Es ist wahr, es sind tote Papiere; aber sie sind die Überreste eines Lebens, dessen Anschauungen dem Geiste nach und nach aus ihnen emporsteigt.1
Und nicht nur Leopold von Ranke rühmte das Ernestinische Gesamtarchiv, das heute eine Bestandsgruppe des Landesarchivs Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar ist und etwa 550 lfm Akten und ungefähr 6.000 Urkunden aus dem 12. bis 16. Jahrhundert umfasst. Ganzen Generationen von Forschern, vor allem Historikern, diente die dort zusammengefasste Dokumentation fürstlicher Regierungs- und Verwaltungstätigkeit als Grundlage für ihre Arbeit. 1.
Die Bildung des Ernestinischen Gesamtarchivs
Die Bildung des Ernestinischen Gesamtarchivs war ein Ergebnis der ersten Landesteilung der ernestinischen Linie der Wettiner, die notwendig geworden war, nachdem Kaiser Maximilian II. (1527–1576) die Söhne Johann Friedrichs II. (1529–1595) in dessen ehemalige Gebiete eingesetzt hatte.2 Der darüber ausgefertigte Vertrag vom 6. November 1572 regelte hinsichtlich der Archivalien, dass jedem die zu seiner Landesportion »gehorigen schrifftlichen documenten und 1 Ranke, Vorrede, VIII. 2 Burkhardt, Geschichte, 18–21.
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Dagmar Blaha
alten brifflichen urkunden, registern und anders dergleichen« auszuhändigen waren. Das war damals so üblich und wird in vielen Fällen bis heute praktiziert. Weiter wurde bestimmt, dass die »andern gemeinen, des löblichen hauses Sachssen hergebrachten urkund[en] an kayserlichen und koniglichen bullen, begnadungen, privilegien und was dergleichen dem gemeinen (gemeinsamen) fürstlich[en] wesen mehr anhengig ist«, hingegen ordentlich inventarisiert und von beiden Teilen gemeinsam »beigesetzt werden« sollten.3 Diese gemeinsam zu lagernden Dokumente bildeten fortan das Ernestinische Gesamtarchiv. Aber was war eigentlich so wichtig an den alten Papieren und Urkunden, dass sie mit einem eigenen Artikel im Teilungsvertrag bedacht werden mussten? Weshalb war Johann Friedrich I. (1503–1554) ausgesprochen erleichtert, als ihm seine Söhne im Juli 1547 in die Gefangenschaft meldeten, dass ein »großer mechtiger hauff« von Schriftstücken der fürstlichen Kanzleien aus den an Moritz von Sachsen (1521–1553) übergegangenen Residenzen Wittenberg und Torgau wohlbehalten in Weimar eingetroffen war4 und es sogar gelungen war, die nach der Schlacht bei Mühlberg in der Heide umherfliegenden Schriftstücke zu sichern?5 Das führt zur Frage nach der Begründung für die Bildung von Archiven und ihrer Funktion. Grundvoraussetzung für die Entstehung von Archiven war die Schrift. Ohne dieses Kommunikationsmittel war eine Informationsübermittlung nur mündlich realisierbar. Die Möglichkeit, Informationen so über mehrere Generationen hinweg zu erhalten, war sehr eng begrenzt, vor allem aber beliebig und zufällig. Schrift und Schriftlichkeit hatten seit dem 13. Jahrhundert für das gesellschaftliche Leben an Bedeutung gewonnen. Die schriftliche Fixierung von Rechtsbeziehungen löste die Abrede unter Zeugen ab. Daraus entstand das Bedürfnis, die der Machterhaltung und dem Machtausbau dienenden Informationen zu sammeln und sicher aufzubewahren. Damit einhergehend entwickelte sich eine positive Einstellung zur Schriftlichkeit als Möglichkeit der Sicherung von Beweismitteln. Schriftliches garantierte dauerhafte Erinnerbarkeit und vermeintlich immerwährende Zugänglichkeit. Dazu sei ein Beispiel erwähnt: Das älteste bekannte, von den Wettinern bewusst gesicherte Dokument ist die Urkunde Kaiser Friedrichs II. (1194–1250) aus dem Jahr 1243, in welcher die Wettiner als Erben der Landgrafschaft Thüringen bestimmt wurden.6 Den meißnischen Markgrafen sicherte das Diplom die Verfügungsgewalt über zwei Reichsterritorien: die Landgrafschaft Thüringen 3 4 5 6
LATh – HStA Weimar, EGA, Urkunden Nr. 1057, 11r . LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. L pag. 38–55 A 3, 46r . LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. K pag. 1–21 Nr. 1, 10v . LATh – HStA Weimar, EGA, Urkunden Nr. 947.
»Es sind tote Papiere …«
und die Pfalzgrafschaft Sachsen und zudem eine Steigerung ihres gesellschaftlichen Ansehens. Die Belehnung war allerdings nur für den Fall des Fehlens männlicher Erben aufseiten der Ludowinger zugesagt. Daher musste dieses in einer Pergamenturkunde verbriefte Recht sicher aufbewahrt werden, um es im entscheidenden Moment einfordern zu können. Der Aufbewahrung solcher Rechtstitel dienten Urkundendepots in verschiedenen Residenzorten der Wettiner, aber auch in geistlichen Einrichtungen und bei städtischen Räten.7 Diese Vorformen institutionalisierter Archive spielten beim Machtausbau territorialer Herrschaftsverhältnisse eine bedeutende Rolle. Spätestens seit der Reichskammergerichtsordnung von 14958 war die schriftliche Prozessführung im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation Standard. In diesem Zusammenhang erhielt der schriftliche Rechtsbeweis einen hohen Stellenwert, was letztlich zu einer Idealisierung von Archiven als »unproblematisch nutzbaren Garanten unhinterfragter, nicht interpretationsbedürftiger juristischer Wahrheit« führte.9 Die Schriftlichkeit diente jedoch nicht nur zur dauerhaften und juristisch unanfechtbaren Sicherung von Privilegien, sondern wurde in dem Maße, in dem Papier das teure Pergament als Beschreibstoff ablöste und in dem sich die Schreibfähigkeit aus den Klosterstuben hinaus entwickelte, zu einem immer wichtigeren Kommunikationsmedium. Neben der durch sie ermöglichten juristischen Fixierung von Sozialbeziehungen diente sie in wachsendem Maße auch der Beschaffung, der Sicherung und dem Austausch von Informationen.10 Diese erweiterte Kommunikationsfunktion brachte eine Flut von Dokumenten hervor, die bei weitem nicht alle im Archiv landeten. Die Erfassung und Sicherung von Informationen erwiesen sich bald als unverzichtbares Herrschaftsinstrument. Es war wichtig zu wissen, auf welche territorialen Bereiche sich welches Herrschaftsrecht (Grundherrschaft, Gerichtsherrschaft, Bergregal etc.) erstreckte und welche Einkünfte aus diesen Territorien zu erwarten waren. Ein Herrscher musste einen Überblick darüber haben, an wen er Land vergeben hatte, auf wessen Dienste er zurückgreifen konnte, wie vielen Untertanen er Schutz und Schirm bieten musste und von wem er Unterstützung durch Rat und Tat einfordern konnte. Von diesen Parametern hing es ab, ob er seine Macht erfolgreich behaupten und ausbauen konnte. Deshalb achtete man auf die Weitergabe solcher Informationen, die oft in der Form von Registern erfasst waren, an die nächste Herrschergeneration besonders penibel. Daneben nahm auch der Informationsaustausch der 7 Vgl. Kobuch, Anfänge, 127. 8 Deutsche Reichstagsakten 5, I/1, 380–428. 9 Friedrich, Archiv, 99f. 10 Vgl. ebd.
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Landesfürsten untereinander und mit dem Kaiser sowie zwischen Landesfürsten und Beamten, Beratern, Gelehrten, Dienern und Vasallen und damit die Dokumentenmenge erheblich zu. Die Aufbewahrung der geschaffenen Verwaltungshilfsmittel und der anderen Schriftstücke ermöglichte jederzeit einen Rückblick auf frühere Erfahrungen und Entscheidungen, die nicht selten als Grundlage und Prüfstein für die weitere Herrschaftspraxis dienten.11 Johann Friedrich der Ältere wusste sehr genau, dass mit der gelungenen Überführung der Kanzleiunterlagen und der Archivalien aus Wittenberg und Torgau neben den Rechtstiteln der Ernestiner auch ein immenser Wissens- und Erfahrungsschatz früherer Generationen geborgen und dank seiner schriftlichen Fixierung jederzeit verfügbar war. Deshalb legte er seinem ältesten Sohn Folgendes ans Herz: »Dein lib wolle gott furchten und die hofhendel in der ratstuben treulich […] lassen bevohlen sein und des studierens auch nit vergessen. Dein lib werdett […] whol befinden, wie nutzlich es deiner lib […] sein wirdett«.12 Diese Verfügbarkeit wichtiger Rechtstitel und Verwaltungsentscheidungen in Form von Schriftdokumenten sicherte die Kontinuität der ernestinischen Herrschaft. Solange die Anzahl der in den Urkundendepots verwahrten Dokumente gering war, genügte ihre serielle Durchsicht, um ein gesuchtes Schriftstück zu finden. Mit zunehmender Menge jedoch benötigte man Mittel, die einen schnellen Zugriff auf die gewünschte Information gewährleisteten. Ohne eine entsprechende Registrierung blieben Urkunden und Briefe ein Haufen beschriebenes Pergament und Papier mit bloßem Materialwert. Eine Auflistung kurzer Inhaltsangaben hingegen erfüllte zugleich zwei Bedürfnisse: 1. Konnte die Zugriffszeit auf Informationen verkürzt werden; darüber hinaus wurde 2. die Sicherheit erhöht, weil nun eine Kontrollmöglichkeit für die Vollzähligkeit der Schriften geschaffen war. Bei den ältesten überlieferten Archivinventaren der Wettiner handelt es sich allerdings nur um Ausleseverzeichnisse. Das Kriterium für die Auswahl der registrierten Dokumente war der gegenwärtige oder der vermutete zukünftige Wert eines Schriftstücks für die Herrschafts- und Verwaltungspraxis. Auch einfache Ordnungsprinzipien, zum Beispiel die Zusammenstellung von Urkunden gleicher Aussteller, sind in den Auflistungen zu erkennen. Für den wettinischen Bereich stammt das älteste Verzeichnis dieser Art aus dem Jahre 1330. In ihm sind die wichtigsten Urkunden, welche die Wettiner von König Ludwig dem Bayern (1282–1347) in den Jahren 1323 bis 1329 empfangen hatten, aufgeführt.13 Diese Liste ist der früheste Nachweis systematisierender 11 Vgl. ebd., 37. 12 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. K pag. 452 WW7, 1r . 13 LATh – HStA Weimar, EGA, Kopialbücher, Cop. F 33, 1r . Vgl. auch Lippert, Urkundenverzeichnis, 91–110; Kobuch, Anfänge.
»Es sind tote Papiere …«
und ordnender Aktivität in einem wettinischen Archivdepot, die es von einem bloßen Urkundendepot unterscheidet. Seit dem 14. Jahrhundert kann man im markmeißnisch-thüringischen Herrschaftsbereich von der Existenz von Archivstandorten in Weida, Rochlitz, Meißen, Colditz, Leipzig und auf der Wartburg ausgehen. Im Zusammenhang mit der Leipziger Teilung der Wettiner in eine albertinische und eine ernestinische Linie im Jahre 1485 wurden die Urkunden und Schriften aus allen wettinischen Archivdepots in einem Leipziger Briefgewölbe zusammengeführt und dort auf beide Linien aufgeteilt. Was nicht eindeutig zuzuteilen war, weil es die Belange beider Linien gleichermaßen betraf, blieb in Leipzig. Von den anderen Dokumenten nahm jeder der Fürsten nach der Landesteilung die das Territorium seiner Linie betreffenden Akten und Urkunden an sich und brachte sie in eine seiner Residenzen – Herzog Albrecht (1443–1500) nach Dresden und Kurfürst Ernst (1441–1486) nach Weimar. Friedrich der Weise (1463–1525) und sein Bruder Johann (1468–1532) nahmen, nachdem sie das Erbe ihres Vaters angetreten hatten, die wichtigsten Dokumente der ernestinischen Linie mit nach Torgau und Wittenberg.14 Für die nach Wittenberg überführten Urkunden war 1487/88 in Weimar ein Repertorium angelegt worden.15 Zu einer vollständigen Erschließung des gesamten Inhalts aller Urkunden und Schriften kam es jedoch bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts nicht. So war die beinahe ständige Suche nach bestimmten Dokumenten vorprogrammiert, denn an ihre vermeintlichen Lagerungsorte erinnerten sich stets nur wenige Beamte. Schon vor dem Transport der Schriften nach Weimar im Juni 1547 war der Ordnungszustand in der Kanzlei und dem angeschlossenen Archiv in Torgau recht desolat. Kurz nach der Niederlage von Mühlberg wurden die Kanzleiordnung und die Hofordnung vermisst. Trotz eifrigen Suchens musste Kanzler Jobst von Hayn (gest. 1550) seinem Herzog Johann Friedrich I. berichten, dass die »hoffordenung gar nicht zu finden« sei.16 Sie ist bis heute verschollen. Nach der Kanzleiordnung suchte man ebenfalls vergeblich; auch in dem Sack mit der Aufschrift »Fastnacht und andere Freuden« konnte sie nicht entdeckt werden.17 Dieser Zustand verschlimmerte sich noch durch die Überführung nach Weimar, wo es zudem an geeigneten Unterbringungsmöglichkeiten fehlte. Die Dokumente wurden in mehreren Räumen des Schlosses, die teilweise für die Aufbewahrung von Pergament und Papier völlig ungeeignet waren, eingelagert. So waren sie zumindest vor fremdem Zugriff geschützt. Am wichtigsten 14 15 16 17
Vgl. Lippert, Die ältesten wettinischen Archive, 84–96. LATh – HStA Weimar, EGA, Cop. F 29. Vgl. Schmidt-Ewald, Urkundenverzeichnis, 134–152. LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. L fol. 493–510 G1, 35v . LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. M pag 1–21 Nr. 1, 25r .
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aber war, die Unterlagen wieder in eine gewisse Ordnung zu bringen. Darauf machten die jungen Herzöge ihren Vater aufmerksam, denn »do sie nicht untterschieden und registrirt werden sollten (domit man wüste, was es ist und woe ein ides zu finden)«, waren die Papiere »wennigk oder gar nichts nutz«.18 Daher wurde die Ordnung der Händel den wenigen Beamten in Weimar zusätzlich übertragen, was sich als erhebliche Belastung herausstellte und in dieser Form einer systematischen Ordnung und Erschließung nicht zuträglich war. Außerdem machte der albertinische Vetter Moritz, dem nach der ernestinischen Niederlage in Mühlberg die Kurwürde samt den Kurlanden und weiteren Gebieten zugefallen war, Ansprüche auf Archivalien geltend. Er war überhaupt nicht damit einverstanden, dass die Beamten Johann Friedrichs I. alle Urkunden, Geschäftsbücher und Schriften nach Weimar geholt hatten. Fünf Jahre dauerten die Auseinandersetzungen um die Archivalien an, bis schließlich im Jahre 1554 der Naumburger Vertrag Folgendes festlegte: Johann Friedrich I. und seine Söhne hatten die brieflichen Urkunden über die Kur Sachsen sowie weitere Schriften und Rechtsgutachten in einem Gewölbe im Wittenberger Schloss zu hinterlegen. Außerdem sollten die gemeinsamen wettinischen Archivalien aus dem Leipziger Briefgewölbe dorthin gebracht werden. Wie aber diese Schriftstücke aus dem »großen mächtigen Haufen« ohne ein Verzeichnis finden? Die Ernestiner gaben sich ratlos. Kurfürst August von Sachsen (1526–1586), neben Herzog Johann Wilhelm (1530–1573) der Vormund der unmündigen Söhne von Johann Friedrich II., trieb deshalb die Ordnung der Archivalien mit Vehemenz voran, um die begehrten Unterlagen zu sichern. Er entsandte aus Dresden Beamte mit dem Auftrag nach Weimar, die dortigen Archivalien zu inventarisieren. Von März 1574 bis Mai 1583 ordneten insgesamt neun Personen19 die Unterlagen nach sachlichen Gesichtspunkten und verzeichneten sie in 42 mit fortlaufenden Buchstaben bezeichneten Findbüchern, Registranden genannt, die insgesamt 23.726 Seiten umfassten.20 Sie dienen heute noch als Findmittel. Die Archivalien wurden in Schubladen, Schränke und Kästen sortiert und waren hernach so angeordnet, dass man sie ohne weiteres wiederfinden konnte. Nun verfügten die ernestinischen Linien über ein geordnetes, bequem nutzbares und aussagekräftiges Archiv, dessen Entstehungskosten in Höhe von 10.188 Gulden, 7 Groschen und 6 Pfennigen – nach heutigen Maßstäben etwa 4 Millionen Euro – natürlich zu ihren Lasten ging.21 18 LATh – HStA Weimar, EGA, Reg. L pag. 35–38, A 3, 46r . 19 Mathias Prager, Lucas Weise, Georg Probst, Hiob Magdeburger, Heinrich Schneidewein, Adam Schönickel, Leonhard Fritsch, Sixtus Braun und Stephan Michel. 20 Vgl. Burkhardt, Abriss, 83. 21 LATh – HStA Weimar, Kunst und Wissenschaft – Hofwesen, A 10680, 123r –125v .
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Kurfürst August von Sachsen ließ etliche Urkunden und Briefe, die für ihn von Interesse waren, nach Dresden holen. Die Weimarer Archivräume wurden verschlossen und nur dann geöffnet, wenn eine der ernestinischen Linien bestimmte Dokumente benötigte. Einen Archivar, der den mit viel Mühe und finanziellem Aufwand geschaffenen Zustand bewahren und weitere Schriftstücke in das Archiv einarbeiten würde, glaubte man nicht zu benötigen – mit verheerenden Auswirkungen. Schon rund dreißig Jahre nach Abschluss der Ordnungsarbeiten herrschten erneut trostlose Zustände in den Weimarer Briefgewölben. Die bei späteren Teilungsverhandlungen oft erbittert geführten Auseinandersetzungen um die Verabfolgung von Teilen oder gar des gesamten Ernestinischen Gesamtarchivs machen deutlich, dass das Archiv neben seinem Wert für die praktische Regierungstätigkeit auch einen hohen Symbol- und Prestigewert für die Ernestiner besessen haben muss. Es erhielt im Jahre 1802 noch einmal Zuwachs. Die 1554 im Wittenberger Schloss eingelagerten gemeinsamen wettinischen Dokumente wurden zwischen Kursachsen und den Herzogtümern Sachsen-Weimar und Eisenach sowie Sachsen-Coburg und Gotha aufgeteilt.22 Allerdings waren die nach Weimar gelangenden Urkunden, Konvolute und Register nicht inventarisiert und daher weitgehend nutzlos.23 Nicht zuletzt die Bedeutung für die Reformationsgeschichte, die seit dem 16. Jahrhundert für die Ernestiner zunehmend identitätsstiftend wurde, rettete dem Archiv das Leben. »Für eine so zweckwidrige Archivverwahrung und Verwaltung künftig auch nur das geringste Geldopfer zu erbringen, müsste ich auf das Inständigste ehrerbietigst widerrathen«.24 urteilte der von den ernestinischen Linien Mitte des 19. Jahrhunderts mit einer Überprüfung der Archivverhältnisse beauftragte Altenburger Landesjustizrat Dr. Carl Wilhelm Schenk (1799–1877). Angesichts der großen Bedeutung des Archivs für die Geschichtsforschung empfahl Schenk jedoch eine grundlegende Ordnung, um die darin enthaltenen Schätze einer allgemeinen Benutzung zugänglich zu machen.25 Die Einstellung des Historikers Bernhard Röse (1795–1857) als Archivar im Jahre 1846 brachte für das Ernestinische Gesamtarchiv endlich die Wende. Mit ihm hatte man einen Mann gefunden, der mit Quellenarbeit vertraut war. Er begann, die seit 1802 umherliegenden, zum Teil inhaltlich zerrissenen Vorgänge aus dem Wittenberger Briefgewölbe in das Archiv einzuarbeiten. Sein Nachfolger Carl August Hugo Burkhardt (1830–1910)26 konnte endlich 22 23 24 25 26
Zu den Teilungsprinzipien vgl. Burkhardt, Abriss, 97f. Vgl. Burkhardt, Geschichte, 75–77. LATh – StA Gotha, Herzogliches Ministerium, Dep. I Loc. 8a Nr. 1 Vol. 2(3), 120r . Burkhardt, Geschichte, 77–79. Zur Person siehe Blaha/Boblenz, Burkhardt (1830–1910).
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1888 den ernestinischen Regierungen in Altenburg, Gotha, Meiningen und Weimar die Erledigung dieser Aufgabe melden. Darüber hinaus hat sich Burkhardt recht erfolgreich bemüht, etliche Unterlagen, die seit dem 17. Jahrhundert aus dem Ernestinischen Gesamtarchiv entnommen worden waren, wieder zurückzuführen. Sein größtes Verdienst jedoch besteht wohl darin, dass er sich erfolgreich für den Bau eines Archivgebäudes – eines der ersten in Deutschland – einsetzte und dieses wesentlich mitgestaltete. Am 18. Mai 1885 öffnete der Archivzweckbau am damaligen Alexanderplatz in Weimar für die Benutzung.27 Im Erdgeschoss des Magazintraktes fand das neu geordnete Ernestinische Gesamtarchiv seinen Platz. Dort befindet es sich noch heute. Wenngleich die wechselvolle Geschichte dieses bedeutenden frühneuzeitlichen Archivs hier nur angerissen werden konnte, wird dennoch deutlich, dass archivalische Überlieferung von sehr vielen Zufällen abhängig ist. Für das Ernestinische Gesamtarchiv gilt diese Beobachtung in besonderem Maße, weil hier – zusätzlich zu den äußeren Umständen – zum einen das Prestigedenken der einzelnen ernestinischen Linien und zum anderen deren Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen des Archivs zu einer bedauerlichen Dezimierung der Archivalien geführt haben. Leopold von Ranke kannte diese Geschichte offenbar nicht, als er 1837 euphorisch feststellte: »Man hat hier jeden eingegangenen Zettel, jeden Entwurf einer Antwort aufbewahrt.«28 2.
Die Benutzung des Ernestinischen Gesamtarchivs
Warum das ernestinische Gesamtarchiv einen herausragenden Platz als Wissensspeicher für die Geschichte der Reformation einnimmt, liegt auf der Hand: Hier sind die Dokumente überliefert, die in der Regierungs- und Verwaltungstätigkeit des Territoriums entstanden sind, in der die lutherische Idee geboren, zur Massenbewegung und schließlich zur politischen Wirklichkeit wurden. Quellenkritisch einschränkend muss aber bemerkt werden, dass alle die hier überlieferten Dokumente auf Veranlassung der ernestinischen Landesherren verfasst oder zusammengetragen wurden und das Archiv so durch diese auch geprägt ist. Es könnte sich also fatal auswirken, die memoria an die reformatio allein aus den Weimarer Archivalien zu konstruieren. Sie bietet lediglich die ernestinische Sicht. Als Beispiel mag ein kurzer Hinweis auf die unterschiedliche Bewertung des Fürsten Moritz von Sachsen aus albertinischer und ernestinischer Sicht genügen. Sie wirkt bis heute fort.
27 Zum Archivbau: Blaha, Archivneubau; Graupner, Archivzweckbau. 28 Ranke, Vorrede, VIII.
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Sowenig wie Archive als Selbstzweck entstehen, sind sie genuine Grundlage für die historische Forschung. Als landesherrliche Dokumentensammlungen sind sie zum Zeitpunkt ihrer Herausbildung ein Herrschaftsinstrument, mit dessen Hilfe die Landesverwaltung effizient gestaltet und die Kontinuität der Herrschaft gesichert werden kann. Dieser Zweck prägte auch das Verhältnis der Ernestiner zu ihrem gemeinschaftlichen Archiv, mindestens bis zum Ende des Alten Reiches. Zahlreiche politische Entscheidungen wurden erst nach Beiziehung der entsprechenden Archivalien getroffen, viele Diskussionen auf der Grundlage von Erkenntnissen aus dem Studium von Dokumenten geführt. Obwohl der Zugang zum Ernestinischen Gesamtarchiv schwierig war, weil jede Linie einen Beamten mit Schlüssel zur Öffnung eigens abordnen musste, wurden die hier lagernden Dokumente häufig in den Prozess politischer Entscheidungsfindung eingebunden. Mehrmals im Jahr öffnete man das Archiv, weil Dokumente verlangt wurden. 1582 beispielsweise wurden den Theologen Martin Chemnitz (1522–1586), Nikolaus Selnecker (1532–1592) und Timotheus Kirchner (1533–1587) – offensichtlich für ihre Arbeiten an der Apologie des Konkordienbuches – etliche Abschriften von theologischen Gutachten zugestellt, welche die Reformatoren in den Jahren 1529 bis 1545 für die ernestinischen Kurfürsten angefertigt hatten.29 Eine weitere Form der Nutzung von Archivmaterial für herrschaftliche Zwecke waren Archivgutachten. Dazu mussten die Archivbeamten nicht nur in der Lage sein, die für eine Fragestellung relevanten Dokumente zu ermitteln und aufzufinden, sondern auch dazu, deren Auswertung vorzunehmen. Für das Ernestinische Gesamtarchiv ist in diesem Zusammenhang insbesondere Tobias Pfanner (1641–1716) hervorzuheben.30 Seit 1678 von allen ernestinischen Linien als Archivar angestellt, erarbeitete er auf der Grundlage von Archivmaterial sowohl Stellungnahmen zu Grundsatzfragen – etwa über das hegemoniale Verhältnis der ernestinischen Herzöge zu den Grafen und Herren im Territorium31 – aber auch Gutachten zu politischen Tagesfragen, beispielsweise darüber, ob Kurfürst August I. von Sachsen (1670–1733) nach seiner Konvertierung zum katholischen Glauben die Verwaltung des Stiftes Naumburg übernehmen könne.32 Diese Archivgutachten bilden gewissermaßen eine Nahtstelle zwischen amtlicher Nutzung und historischer Forschung. Die Nutzung der Archivalien für historische Forschungen (nach unserem heutigen Verständnis) setzte bereits vor der ersten ernestinischen Landesteilung
29 30 31 32
LATh – HStA Weimar, Kunst und Wissenschaft – Hofwesen, A 10671, 14r –16v . Zu seiner Person und Tätigkeit im Archiv ausführlicher: Friedrich, Archiv, 208–210. LATh – HStA Weimar, Historische Schriften und Drucke, F 643–648. LATh – HStA Weimar, Historische Schriften und Drucke, F 636.
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und der Bildung des Archivs ein, lange vor dem Wirken Leopold von Rankes. Bereits Georg Spalatin (1484–1545), der neben vielen anderen Funktionen auch die des Hofhistoriographen Friedrichs des Weisen auszufüllen hatte, standen für seine Arbeiten Archiv und Kanzlei offen. Für die von ihm beabsichtigte, allerdings nie zustande gekommene Geschichte der Reformation bediente er sich lieber der »oral history« seiner Zeitgenossen oder ihrer Darstellungen aus eigenem Erleben. So bleibt es eine Vermutung, dass Spalatin versucht hat, die eine oder andere Aussage mittels archivalischer Quellen zu verifizieren. Die Bearbeiter der noch zu Lebzeiten Luthers begonnenen Wittenberger und Jenaer Werkausgaben des Reformators haben aber nachweislich einige Schriftstücke aus dem kurfürstlichen Archiv für die Edition genutzt.33 Dem Historiker des Schmalkaldischen Bundes, Johannes Sleidan (1506–1556), der 1545 beauftragt worden war, eine Geschichte der frühen Reformation zu schreiben, wurden allerdings keine oder nur sehr wenige Dokumente der kurfürstlichen Kanzlei bereitgestellt. In der ersten Hälfte der 1540er Jahre war die gesellschaftspolitische Lage angespannt, und die Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten mahnten zur Vorsicht im Umgang mit Informationen. Sleidans schließlich 1555 erschienene Publikation De statu religionis et rei publicae Carolo V. Caesare commentarii galt dennoch lange als bester zeitgenössischer Bericht über die Reformation und als wichtiges Quellenwerk zur Reformationsgeschichte.34 Friedrich Hortleder (1579–1640), seit 1608 als Prinzenerzieher, seit 1617 als Hofrat und Archivar in sachsen-weimarischen Diensten, ergänzte es mit seinem zweibändigen Werk zum Teutschen Krieg 35 , mit dem er gleichzeitig den Grundstein für die Verehrung Johann Friedrichs I. legte. Darin druckte er vor allem Dokumente nach den originalen Handschriften ab, denen er metaphorisch die Eigenschaft zusprach, reinste und unverfälschte »Quelle« des Geschehens zu sein. Als Archivar in Weimar hatte er selbstverständlich unbeschränkten Zugang zu den Archivalien. Allerdings ließ er bei der Auswahl der edierten Dokumente deutliche Parteinahme für seine Arbeitgeber erkennen. Im Zusammenhang mit der zentralen Frage nach der Rechtsmäßigkeit des Widerstandes gegen den Kaiser im sogenannten Schmalkaldischen Krieg überwiegen die Dokumente, in denen dieser Krieg befürwortet wurde, bei weitem. Die abgedruckten Quellen legen die Annahme nahe, dass Johann Friedrich I. keinerlei Schuld an der »Urkatastrophe« der Ernestiner trifft, sondern dieser treu zu seinem Glauben gestanden und damit die lutherische Idee und das Luthertum vor dem Untergang beschützt habe. In der Erinnerungskultur der Ernestiner wurde 33 Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben. Zu den Lutherausgaben vgl. auch den Beitrag von Christopher Spehr in diesem Band. 34 Baumgarten, Sleidan. 35 Hortleder, Teutsche Krieg, 1617–1618.
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diese Sichtweise zementiert und gepflegt, sie bildete letztlich die Legitimierung für alle Maßnahmen zur Wiedererlangung der Kurwürde.36 Bei der Erziehung der jungen Fürsten legte Hortleder großen Wert darauf, dass die jungen Prinzen lernten, aus der Kenntnis historischer Ereignisse Schlussfolgerungen für künftige politische Entscheidungen zu ziehen.37 Die Interpretation historischer Quellen hinsichtlich ihres Nutzens für die Gegenwart war ein fester Bestandteil seiner Unterweisungen. Einige wenige Bemerkungen seien hier noch zum Wirken Veit Ludwigs von Seckendorff (1626–1692) und zu seinem Werk Commentarius historicus et apologeticus de Lutheranismo gestattet: Seckendorff verfasste es als Erwiderung und als Kritik einer durch den Jesuiten Louis Maimbourg (1610–1686) vorgelegten Geschichte des Luthertums.38 Er bediente sich zur Widerlegung der Auffassungen Maimbourgs und vor allem zur Verteidigung der Ernestiner als Beschützer und Förderer des Luthertums einer großen Fülle von Dokumenten aus Archiven, die ihm dank seines gut ausgebauten Netzwerkes an Beziehungen zu den wettinischen Höfen bereitwillig zur Verfügung gestellt wurden. Für das ernestinische Gesamtarchiv war es der schon genannte Tobias Pfanner, der sich als Ermittler und Kommentator wichtiger Schriftstücke aus dem Ernestinischen Gesamtarchiv bleibende Verdienste erwarb. Aus der geplanten Besprechung des Werkes von Maimbourg und der Widerlegung antiprotestantischer Zerrbilder war so eines der wichtigsten Quellenwerke zur Geschichte des Protestantismus entstanden. Mit der Indienstnahme historisch gebildeter Archivare am Ernestinischen Gesamtarchiv sowie durch die Erschließungsarbeiten Bernhard Röses und Carl August Hugo Burkhardts wurde es möglich, die hier aufbewahrten Archivalien planmäßig und zielgerichtet insbesondere für reformationsgeschichtliche Untersuchungen zu nutzen. Nachdem Leopold von Ranke den Anstoß für eine stärkere Hinwendung zu archivalischen Quellen in der historischen Forschung gegeben hatte,39 war ein bedeutender Anstieg der Benutzerzahlen im Ernestinischen Gesamtarchiv zu verzeichnen. Zeitgleich nahmen umfangreiche Editionen dort archivierter Schriften ihren Anfang, von denen insbesondere die sogenannte Weimarer Ausgabe von Luthers Werken hervorgehoben werden soll, an der von 1883 bis 2009 gearbeitet wurde. Im Jahre 1883 wurden erstmals 36 37 38 39
Vgl. Klinger, Kurfürst Johann Friedrich. Vgl. dazu ausführlicher Klinger, Hortleder. Maimbourg, Histoire du Luthéranisme, 1680. »Ich sehe die Zeit kommen, wo wir die neuere Geschichte nicht mehr auf Berichte, selbst nicht der gleichzeitigen Historiker, außer insoweit ihnen eine originale Kenntnis beiwohnte, geschweige denn auf die weiter abgeleiteten Bearbeitungen zu gründen haben, sondern aus den Relationen der Augenzeugen und den echtesten, unmittelbarsten Urkunden aufbauen werden.« Ranke, Vorrede, IX.
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Dokumente des Archivs in einer Luther-Ausstellung im Großherzoglichen Museum in Weimar öffentlich gezeigt.40 Von den Archiveigentümern, den ernestinischen Fürsten in Weimar, Gotha, Meiningen und Altenburg, wurden die genannten Vorhaben durch eine großzügige Öffnung ihres gemeinschaftlichen Archivs gefördert. Die Darstellung der Ernestiner als Förderer der Reformation und »Bewahrer des wahren Luthertums« war ein wesentlicher Bestandteil ihres Selbstverständnisses und der von ihnen gepflegten Erinnerungskultur. Auch in der Gegenwart ist das Ernestinische Gesamtarchiv ein international gefragter Quellenfundus. Mit der »Anschauung des Lebens, die nach und nach aus den toten Papieren emporsteigt« erklärt sich jene Faszination, die seit mehr als 400 Jahren vom Ernestinischen Gesamtarchiv in Weimar ausgeht. Literatur Quellen Deutsche Reichstagsakten, hg. durch die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Mittlere Reihe: Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I., Bd. 5: Reichstag von Worms 1495. Bd. I/1: Akten, Urkunden und Korrespondenzen, bearb. v. Heinz Angermeier, Göttingen 1981. Hortleder, Friedrich, Der Römischen Kayser- und Königl. Maiestete Auch deß heiligen Rö. Reichs, geistlicher und weltlicher Stände, Churfürsten, Fürsten, Graffen, Herrn, Reichs- und anderer Stätte, zusampt der Heiligen Schrifft, geistlicher und weltlicher Rechte Gelehrten Handlungen und Außschreiben, Rathschläge, Bedencken, Send- und andere Brieffe, Bericht, Supplicationsschrifften […] von Rechtmässigkeit, Anfang, Fort- und endlichen Außgang deß Teutschen Kriegs, Keyser Carls deß Fünfften, wider die Schmalkaldische Bundsoberste, Chur- und Fürsten, Sachsen und Hessen und J. Chur- und Fürstl. G. G. Mitverwandte. Vom Jahr 1546. biß auff das Jahr 1558. Ordentlich zusammengebracht und an tag gegeben durch Friedr. Hortledern, Frankfurt am Main 1617–1618. Maimbourg, Louis, Histoire du Luthéranisme […], Paris 1680. Ranke, Leopold von, Vorrede, in: Leopold von Ranke’s Sämmtliche Werke. 3. Gesamtausgabe. Leipzig 1867–1890. Bd. 1: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, T. 1, Leipzig 8 1909, V–X.
40 LATh – HStA Weimar, Kunst und Wissenschaft – Hofwesen, A 10797, 418r –421v .
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Forschungsliteratur Baumgarten, Hermann, Über Sleidans Leben und Briefwechsel, Straßburg/London 1878. Blaha, Dagmar, Der Archivneubau in Weimar 1883 bis 1885, Mitteilungsblatt Archive in Thüringen 20, 2001, 11–14. –/Boblenz, Frank, Carl August Hugo Burkhardt (1830–1910). Vorstand des Ernestinischen Gesamtarchivs 1859–1907 und des Geheimen Haupt- und Staatsarchivs in Weimar 1862–1907, in: Lebensbilder Thüringer Archivare, hg. v. Vorstand des Thüringer Archivarverbandes, Rudolstadt 2001, 28–37. Burkhardt, Carl August Hugo, Geschichte des Sachsen-Ernestinischen Gesamt-Archivs, zweite Bearbeitung nach amtlichen Quellen. Ms. im LATh – HStA Weimar. −, Abriss der Geschichte des S. Ernestinischen Gesammt-Archives in Weimar, ArZs 3, 1878, 80–109. Friedrich, Markus, Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013. Graupner, Volker, Der Archivzweckbau in Weimar. Ein architektonisches Kleinod, in: Katrin Beger/Dagmar Blaha/Frank Boblenz u. a. (Hg.), »Ältestes bewahrt mit Treue, freundlich aufgefaßtes Neue« (FS Volker Wahl), im Auftrag des Thüringer Archivarverbandes, Rudolstadt 2008, 433–457. Klinger, Andreas, Geschichte als Lehrstück – Friedrich Hortleders Darstellung des Schmalkaldischen Krieges, in: Verein für Schmalkaldische Geschichte und Landeskunde e.V. Schmalkalden (Hg.), Der Schmalkaldische Bund und die Stadt Schmalkalden. Seminar am 13./14. Oktober 1995, Schmalkalden 1996, 101–111. −, Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen in der Erinnerungskultur der Ernestiner im 17. Jahrhundert, in: Volker Leppin/Georg Schmidt/Sabine Wefers (Hg.), Johann Friedrich I. – der lutherische Kurfürst, Gütersloh 2006, 361–380. Kobuch, Manfred, Die Anfänge des meißnisch-thüringischen landesherrlichen Archivs, in: Beiträge zur Archivwissenschaft und Geschichtsforschung (FS Horst Schlechte), Weimar 1977, 101–131. Lippert, Woldemar, Die ältesten wettinischen Archive im 14. und 15. Jahrhundert. (Dritter Teil der Studien über die wettinische Kanzlei), NASG 44, 1923, 71–99. −, Das älteste Urkundenverzeichnis des thüringisch-meißnischen Archivs 1330, in: Beiträge zur thüringischen und sächsischen Geschichte (FS Otto Dobenecker), Jena 1929, 91–110. Schmidt-Ewald, Walter, Das älteste ernestinische Urkundenverzeichnis, in: Festschrift Armin Tille zum 60. Geburtstag, überreicht v. Freunden u. Mitar-
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beitern, Weimar 1930, 134–152. Strauch, Solveig, Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692): Reformationsgeschichtsschreibung, Reformation des Lebens, Selbstbestimmung zwischen lutherischer Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung, München 2005. Wolgast, Eike/Volz, Hans, Geschichte der Luther-Ausgaben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, WA 60, 1980, 427–637.
Andreas Lindner
Historia Reformationis in Nummis: Christian Junckers Guldene[s] und Silberne[s] Ehren-Gedächtniß Des Theuren Gottes-Lehrers D. Martini Lutheri, 1706 Memoria in Zeiten konfessioneller Verunsicherung
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Der Autor und sein Œuvre
Christian Juncker wurde am 16. Oktober 1668 als Sohn eines Dresdner Hofschneiders geboren. Seine Biographie1 ist ein typisches Beispiel für sozialen Aufstieg durch Bildung, wie er seit der Reformation möglich geworden war. Ab 1679 bis 1683 besuchte er die Kreuzschule bzw., durch die in Dresden grassierende Pest bedingt, zwischenzeitlich die Zwickauer Ratsschule. Dann folgte der Wechsel auf die Fürstenschule in Meißen bis 1687. Bestens vorgebildet konnte er so das Studium in Leipzig aufnehmen, in dessen Rahmen er frühzeitig publizistisch aktiv wurde. Schon als Student zählte er zu den Mitarbeitern an den von Otto Mencke herausgegebenen Acta Eruditorum. Er entwickelte eine Leidenschaft für Reiseberichte. Zwischen 1695 und 1701 gab er sieben Übersetzungen in Druck. Das Spektrum reichte dabei von den Niederlanden über Italien und Persien bis China. Seine berufliche Laufbahn begann er dann 1696 als Konrektor am Hennebergischen Gymnasium in Schleusingen, das zu dieser Zeit zum albertinischen Sekundogeniturherzogtum Sachsen-Zeitz gehörte. 1708 wechselte er als Rektor an das Gymnasium nach Eisenach und 1713 in derselben Funktion nach Altenburg, wo er aber bereits am 19. Juni 1714 verstarb. Juncker gehört damit in die Riege gelehrter Männer, die sich bewusst für die Pädagogik entschieden und diese nicht mehr als traditionellen Warteraum für ein Pfarramt betrachteten. In der Sprache der Zeit war er ein Schulmann (Abb. 1).
1 Zu Juncker vgl. Kämmel, Juncker, 690−692; Voss, Juncker, 660f; Berndt, Leben und Wirken – eine informierende Monographie, die wissenschaftlichen Standards leider nicht entspricht.
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Abb. 1 Porträt Christian Juncker. Quelle: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: Portr. I 6833.
In Schleusingen begann er verstärkt historiographisch zu arbeiten. Im Blickpunkt seines Interesses stand dabei naheliegenderweise die Geschichte der Grafen von Henneberg. Er fiel damit so auf, dass er 1705 zum Hofhistoriographen der Ernestiner und 1711 als auswärtiges Mitglied in die Preußische Sozietät der Wissenschaften berufen wurde. Seine publizistische Tätigkeit bzw. Hinterlassenschaft ist umfangreich und lässt sich in fünf Rubriken ordnen: 1. lokalhistorische Darstellungen: Wie in Schleusingen beschäftigte er sich dann auch auf seinen weiteren Lebensstationen mit der Geschichte vor Ort. Er schrieb selbst oder publizierte Werke anderer Autoren zur Geschichte Eisenachs, der Wartburg, des Rennsteigs und Altenburgs; 2. aufbereitete Quellen für den Latein- und Griechischunterricht: ausgewählte Texte von Cicero, Phaedrus, Terenz, Vergil, Horaz, Florus, Sallust, Isokrates; 3. Gelegenheitsschriften im Kontext seines Amtes als Schulrektor: Programme, Dissertationen, Glückwünsche, Kondolenzen; 4. Sammlungen zeithistorischer Nachrichten wie Christian Weises Curieuse Gedanken von den Nouvellen oder Zeitungen von 1676 in
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erweiterter Form oder der Curieuse Geschichtskalender; 5. Schriften mit grundlegendem Einführungscharakter bzw. überregionalem Fokus: hierher gehören der Commentarius de vita scriptisque ac meritis Iobi Ludolfi, die Biographie des 1704 verstorbenen Begründers der Äthiopistik Hiob Ludolf (geb. 1624) von 1710, eine Grundlegung zur Kirchenhistorie einschließlich einer aktuellen Auseinandersetzung mit dem Pietismus, ebenfalls 1710, eine Anleitung zur Geographie der mittleren Zeiten von 1712 und eben jene Schrift, um die es im Folgenden gehen soll, das Guldene und Silberne Ehren-Gedächtniß Des Theuren Gottes-Lehrers D. Martini Lutheri: in welchem dessen Leben, Tod, Familie und Reliquien, Benebst den vornehmsten Geschichten Der Evangelischen Reformation, Wie auch Der Evangelischen Jubel-Feyern, umständlich beschrieben und auf eine sonderbar anmuthige Art, aus mehr als Zwey hundert Medaillen oder SchauMüntzen und Bildnissen von rarer Curiosität, mit auserlesenen Anmerkungen, erkläret werden, Schleusingen 1706. Ein reich ausgestattetes Werk mit über 500 Seiten, das eine längere Vorgeschichte hatte. Bereits zum Reformationsfest 1695 hatte Juncker seine akademische Abschiedsrede in der Leipziger Universitätskirche über Luthers Leben im Spiegel von Medaillen gehalten. 1699 war dann die Vita D. Martini Lutheri Et Successum Evangelicae Reformationis Iubilaeorumque Evangelicorum Historia Nummis CXLV, atque iconibus aliquot rarissimis, confirmata & illustrata erschienen. Der Titel von 1706 war deren erweiterte deutsche Ausgabe. Sie wurde von Johann Andreas Endters Erben in Nürnberg verlegt (Abb. 2).2
2 Das Werk erschien auch in einer holländischen Übersetzung: G.B., De Goude En Zilvere Eergedagtenis Van Dr. M. Luther Of Medalische Historie Der Luthersche Reformatie, S’Gravenhage 1734.
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Abb. 2 Titelblatt von Christian Juncker, Das Guldene und Silberne Ehren-Gedächtniß Des Theuren Gottes-Lehrers D. Martini Lutheri, Frankfurt/Leipzig 1706. Quelle: FB Gotha, Num 8° 00955/08.
2.
Das Ehrengedächtniß – Intention, Struktur, Quellen
Das Unternehmen ist dabei kein polyhistorischer Zeitvertreib. In der Zueignung des Verfassers an den sechsjährigen Prinzen Friedrich August3 , Sohn des regierenden Herzogs Moritz Wilhelm von Sachsen-Zeitz (1664–1718), wird die politische Funktion von Geschichtsschreibung deutlich. Münzen und Medaillen seien, schon durch das Verfahren mittels dessen sie entstehen, im weiteren
3 Der Knabe, auf dem die gesamte Hoffnung der Dynastie Sachsen-Zeitz beruhte, starb bereits am 17. Februar 1710 in Halle. Juncker publizierte in Eisenach ein 27-seitiges Ehrengedächtnis: Die verblühende Hoffnung des achtzehenden Secvli (VD 18 11530235). Zum Kontext vgl. Säckl, Sachsen-Zeitz, 279−301; bes. »Die Linie Sachsen-Zeitz«, 294–301 und Kunde, Totenbildnis, 332f.
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Sinne nicht weniger als Transportmedien der Gottesunmittelbarkeit fürstlicher Herrschaft: So mag […] behauptet werden/ daß das Studium der Medaillen auch Fürstlichen Gemüthern die Tugend auf eine so anmuthigst = als nützlichste Weise gleichsam vor Augen zu stellen geschickt sey. Denn da die Gewaltigen der Welt ein Göttlich Ebenbild in der Majestät ihres Regiments über die von der unbeschränckten Macht des Himmels Ihnen anvertraute Vnterthanen an sich zeigen: so lassen sie durch den Stempel/ gleichwie ihr Bildniß auf Silber und Gold/ also zugleich auch/ durch Betrachtung derselben/ die Veneration und Bewunderung in die Herzen der Anschauenden prägen/ welches umb so tieffer sich eindrücket/ je deutlicher durch die Geschichte der Zeiten das Wolverhalten und die Tugendvolle Regierung eines Prinzen an das Licht geleget wird.4
Der Tugendvorbehalt ist notwendig, da Münzen und Medaillen auch die gegenteilige Memoria transportieren konnten: »[…] da hingegen das Bild eines Neronis, Tiberii, Domitiani, und deren gleichen/ das Angedencken der durch sie verübten Laster und Grausamkeiten erneuren muß«.5 Im engeren Sinne möchte der Autor hier die Fürsten des Kurhauses Sachsen seit Friedrich dem Weisen (1463–1525), dazu die Brandenburger seit Joachim II. (1505–1571) und die ernestinischen Herzöge – genannt werden Johann Friedrich I. von Sachsen (1503–1554) und Bernhard von Sachsen-Weimar (1604–1639) – sowie schließlich den albertinischen Kurfürsten August von Sachsen (1526–1586) als Garanten und Schutzherren der Reformation ausweisen. Der junge Prinz und jedweder andere Leser konnte sich nun in Junckers Buch anhand abgebildeter Schaumünzen und Medaillen über die Geschichte von Luthers Geburt bis zum hundertjährigen Jubelfest der schwedischen Nationalsynode von Uppsala 1593/1693, die den letzten Rekatholisierungsversuch Schwedens unter König Johann III. (1537–1592) beendete, informieren (Abb. 3).
4 Juncker, Ehrengedächtnis, Bl. a3v −a4r . 5 Ebd., das Zitat im unmittelbaren Anschluss an Anm. 4.
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Abb. 3 Medaille auf die Nationalsynode von Uppsala, Avers u. Revers. Quelle: Ehrengedächtniß, 500.
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Die Darstellung ist in 100 Paragraphen gegliedert. Die ersten 48 folgen den wesentlichen Ereignissen in Luthers Leben und Wirken. Die Paragraphen 49 bis 58 bilden dazu eine Nachlese über sein Wappen, seine Lebensart, Verheiratung, Kinder und Nachkommen, »allerhand Reliquien und Vberbleibseln«.6 Die Paragraphen 59 bis 72 beinhalten den Schmalkaldischen Krieg mit seinen Folgeereignissen bis zum Naumburger Konvent 1561. Bemerkenswert hieran ist, dass Juncker einer Traditionslinie folgt, die im Passauer Vertrag von 1552 das entscheidende Ereignis sieht und dementsprechend vom »Paßauische(n) Friede«7 schreibt, hinter dem der Augsburger Frieden als sanktionierende Handlung zurücktritt. Es folgen in Paragraph 73 und 74 die Entwicklung zur Konkordienformel und der Kampf um den Kryptocalvinismus in Kursachsen. Danach zerfasert die Darstellung in einer Art und Weise, die die Überschrift zu den Paragraphen 85 bis 88 am besten charakterisiert, wenn es heißt: »was in Religions=Sachen hin und wieder […] sich begeben hat.«8 Vornehmlich werden hier Jubiläen bedacht: 1617, 1630, 1655, 1675 (Konkordienformel); dazu regionale Reformationsjubiläen wie die von Osnabrück 1642 und Regensburg 1643. Die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges spielen eine Rolle: die Erhebung der böhmischen Stände 1618 und ihre Vorgeschichte, die Wahl Friedrichs von der Pfalz 1619 zum böhmischen König und die Schlacht am Weißen Berg 1620. Danach werden sie weiter aus strikt kursächsischer Perspektive geschildert. Die Zerstörung Magdeburgs habe den Kurfürsten gezwungen, sich mit dem Schwedenkönig Gustav II. Adolf (1594–1632) zu verbünden. Es folgen die Schlacht von Breitenfeld bei Leipzig am 7. September 1631 und Lützen 1632 mit Gustav Adolfs Tod. Der Prager Frieden 1635, die schwedisch-französische Allianz und summarisch die langen leidvollen Zustände bis zum Westfälischen Frieden 1648 und dessen Exekution zu Nürnberg 1650. Juncker geht dabei so vor, dass er zunächst eine historische Einleitung gibt, die abgebildete Schaumünze oder Medaille im Folgenden beschreibt und dann die Details der Abbildungen und Umschriften in längeren Anmerkungen erklärt und kontextualisiert. Vereinzelt kommen auch andere Abbildungsträger 6 Juncker, Ehrengedächtnis, Bl. d8r . 7 Repräsentativ dafür der Kupferstich von Jakob van der Heyden: Eigentliche abbildung des Leuchters wahrer Religion, 1630, in einem Sammelband mit Einblattdrucken: Effigies, Dvcvm Principvm Baranvm Nobilivm, Bl. 127r . Der Leuchter als zentrales Bildelement trägt die Aufschrift: »Passawischer Bundt vnd Verdrag Darin der hoch bethüerte Religions Frid. Ist auff gerichtet worden Ao 1555«. Zur Rezeption vgl. Becker, Der Passauer Vertrag, 166−194. Vgl. auch den §94 »Passauisches Jubel=Fest 1655« [sic!], in dem Juncker, 486f, den Augsburger Religionsfrieden anlässlich seines hundertjährigen Jubiläums als Approbation des Passauer Vertrags beschreibt, was angesichts der in diesem Zusammenhang auf S. 484ff vorgestellten Jubiläumsmedaille des sächsischen Kurfürsten Johann Georg auch nicht seine Privatmeinung war. 8 Ebd., Bl. d8v .
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vor, um Personen zu integrieren, die auf Münzen nicht vorkamen. Das betrifft in Form von ganzseitigen Kupferstichen Luthers Eltern, ihn selbst als Mönch, während seines Wartburgaufenthalts und noch einmal im Gelehrtenhabitus 1526, sein Epitaph in Jena sowie Katharina von Bora (1499–1552), ihren Grabstein, Magdalena Luther (1529–1542) und den Grabstein der 1586 verstorbenen Anna Warbeck (geb. 1532), Frau des jüngsten Luthersohnes Paul (1533–1593) vom Kirchhof der Dresdner Frauenkirche. Auch eine genealogische Tabelle der Familie Luther ist eingefügt, die sich zu Junckers Zeit von Luther aus gesehen in der Ururenkelgeneration befand. Umgekehrt gibt es auch Passagen ohne Abbildungen, wenn ihm diese offenbar wichtig waren. Das betrifft insbesondere in der Frühphase der Reformationsgeschichte die Leipziger Disputation, die Übersetzung des Neuen Testaments, Luthers Streit mit Erasmus (1466–1536) und den Bauernkrieg. Junckers Materialbasis bilden nicht weniger als 34 Münz- und Medaillensammlungen, zu denen er entweder direkten Zutritt hatte oder aber mit ihren Besitzern in Korrespondenz stand. Außerdem benutzte er numismatische Literatur. Die verschiedenen Sammlungen hat er mit den Anfangsbuchstaben ihrer Besitzer gekennzeichnet und diese Kennzeichnungen den Abbildungen im Buch beigefügt, so dass sich nachvollziehen lässt, in welchem Umfang er wessen Bestände genutzt hat. Dazu besaß er eine eigene Sammlung von Originalen sowie von Abdrücken und Zeichnungen. Zusätzlich wird der Leser durch vier weitere Symbole über das Material der Objekte Gold, Silber, Kupfer oder Blei informiert. In der folgenden Übersicht sind die Sammlungen und die Anzahl der jeweils daraus von Juncker genutzten Münzen und Medaillen verzeichnet. Besitzer Anton Günther II., Graf von Schwarzburg-Sondershausen zu Arnstadt (1712 für Gotha angekauft) Molanus, Gerhard, Abt zu Loccum (Sammlung 1745 für Gotha angekauft) Burckard, Jacob, Cand. Jur. utr., Sulzbach/Pfalz Carpzov, Samuel Benedict, emeritierter kursächsischer Oberhofprediger Seidel, Martin Friedrich, kurbrandenburg. Rat: Ex Collectione Seideliana Dillherr, Johann Michael, Pfarrer St. Sebald, Nürnberg: Münznachlass im Collegio Sebaldino Eisenthrat, Johann Daniel, Verwaltungsbeamter und Stadtrichter, Schleusingen Förster, Immanuel Günther, Dr. Jur. utr., Amtmann, Schleusingen
Kürzel A.
Anzahl 39
AM.
16
Bu. C.
1 34
CS.
13
D.
1
Ei.
3
F.
7
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Besitzer Finck, Johann Martin, Dr. Jur. utr., Verwaltungsbeamter, Coburg Gebler, Tobias, Rat und Kanoniker, Zeitz Gotha, Münzkabinett Herzog Friedrichs II. Graevius, Gottfried, Syndicus, Leipzig Günther, Christian, Cand. Theol., Naumburg Heraeus, Carl Gustav, Hofrat, Schwarzburg-Sondershausen Hönn, Georg Paul, Dr. Jur. utr., Amtmann, Coburg Imhoff, Jacob Wilhelm, Amtmann, Nürnberg Kundisch, N. Dr. Jur. utr., Rat, Altenburg Monanai, Samuel, Pseudonym eines Leipziger Sammlers J.M. Nostitz, Gottlob von, Hofmeister des Prinzen zu Württemberg in Dresden Olearius, Johann Christoph, M., Pfarrer, Arnstadt Omeis, Magnus Daniel, Prof. der Moral, Eloquenz und Poesie, Altdorf Platz, Abraham Christoph, Dr. Jur. utr., Bürgermeister, Leipzig Pipping, Heinrich, Pfarrer, St. Thomas, Leipzig Schlegel, Christian, gräflicher Bibliothekar, SchwarzburgArnstadt Seyppel, Johann Jacob, emeritierter Schaffer, St. Lorenz, Nürnberg Sonntag, Christoph, emeritierter Prof. und Oberpfarrer, Altdorf Tentzel, Wilhelm Ernst, kursächsischer Rat, Dresden Viatis, Johann Andreas, Bankier, Nürnberg Wagenseil, Johann Christoph, Dr. Jur. utr., emeritierter Prof., Altdorf Waldschmidt, Johann Martin, Bibliothekar und Archivar, Frankfurt a.M. Weber, Johann Wilhelm, Hof-, Justiz- u. Konsistorialrat, Schleusingen Weimar, Medaillenkabinett Herzog Wilhelm Ernsts Wermuth, Christian, Medailleur, Gotha Zihn, Johann Friedrich, Diakon, Suhl Juncker selbst Con(t)zen, Adam, SJ, aus: Evangelisches Jubilaeo, Mainz 1618 Gretser, Jacob, SJ, aus: De Cruce Christi, Ingolstadt 1598 nicht gekennzeichnet GESAMT (einschließlich der Mehrfachnennungen)
Kürzel Fi. Ge. Go. Gr. Gu. He. Hö. J. Ku. Mon. N.
Anzahl 4 6 24 1 6 21 3 3 1 3 2
Ol. Om.
1 1
P. Pi. S.
9 1 45
Sey.
1
So. T. V. Wa.
1 21 3 2
Wal.
14
We.
7
Wei. Wer. Zi. * Conzen grtes.
2 3 1 13 1 3 9 326
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An der Zusammensetzung fällt auf, dass das Sammeln von Münzen und Medaillen offenbar als bildende Beschäftigung innerhalb des wohlhabenden Bürgertums und hier besonders bei Juristen beliebt war. Aus den von Juncker benutzten Kollektionen kristallisieren sich vier heraus. Das ist an erster Stelle mit 45 Beispielen die von Christian Schlegel (1667−1722), damals als Bibliothekar und Antiquar in Arnstadt Kustos der Münzsammlung des Grafen Anton Günther II. von Schwarzburg-Sondershausen zu Arnstadt (1653–1716). Eben diese gräfliche Sammlung steht an zweiter Stelle. Sie umfasste 18.821 Münzen als sie 1712 für die Summe von 100.000 Talern durch Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1676–1732) angekauft wurde. Mit ihr wechselte Schlegel als Kustos des Münzkabinetts in die herzogliche Residenz.9 Es folgt die Sammlung des kursächsischen Oberhofpredigers Samuel Benedict Carpzov (1647–1707). Mit einem gewissen Abstand dann schon die damalige Sammlung Herzog Friedrichs II. von Sachsen-Gotha-Altenburg. Außerhalb Thüringens lassen Junckers Kontakte in Sachen Numismatik zwei geographische Schwerpunkte erkennen. Das ist einmal, bildungsbiographisch bedingt, Leipzig und zum anderen der Raum Nürnberg-Altdorf. Die entsprechenden, in der Tabelle aufgeführten Sammlungen hat er auf einer Reise 1698 besichtigt.10 Obwohl die inhaltliche Präsentation der Objekte stark polyhistorische Züge trägt, ist die Auswahl nicht ohne leitende Absicht erfolgt. Juncker bringt zusammen, was ihm numismatisch in die Hände gefallen ist, und unterfüttert es anekdotengesättigt in seinen Anmerkungen mit Literatur zu Luthers Leben und zur Reformationsgeschichte allgemein, die er umfassend studiert zu haben scheint. In seiner Vorrede gibt er einen kurzen Abriss reformationshistorischer Literatur, mit insgesamt zwölf Titeln für das 16. Jahrhundert und 35 Titeln für das 17. Jahrhundert, beginnend mit Melanchthons Vorrede zum zweiten Teil der lateinischen Werke Luthers in der Wittenberger Ausgabe bis zu Seckendorffs epochaler Historia Lutheranismi in ihren Ausgaben von 1688 und 1692, die für ihn das Nonplusultra lutherischer Geschichtsschreibung darstellt. Ein Urteil, mit dem er nicht alleine war und das ihn veranlasste, dringend eine deutsche Übersetzung des Werks zu wünschen. Ebenso bietet er einen Katalog von elf antireformatorischen Publikationen bzw. Autoren, unter denen Franzosen dominieren, in abschließender Weise natürlich Louis Maimbourg (1610–1686), der Seckendorffs Historia veranlasst hatte. Historische Darstellungen anhand
9 Die Angaben nach Langbein, Christian Schlegel, 88−97. Anton Günther II. benötigte das Geld, um die mit der Aufwertung der Grafschaft Schwarzburg-Sondershausen zum Reichsfürstentum 1697 entsprechend gestiegenen Repräsentationskosten zu bewältigen. 10 Für die an St. Sebald nachgelassene Sammlung Johann Michael Dillherrs und die seines Verlegers Georg Andreas Endter (1656–1717) teilt er das im Ehrengedächtniß, 117 bzw. 412, selbst mit.
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von Schaumünzen und Medaillen waren Mode und Juncker benennt, woran er sich in dieser Gattung orientiert: Der Jesuit Claude Francois Menetrier […] hat des itzt regierenden Königs in Franckreich/ Ludwigs des XIV. Leben; Claude Molinet der Römischen Päbste/ Nicolas Chevalier des letztverstorbenen Königs in Engelland Wilhelmi III. Leben/ der Abt Bizot die Geschichte der vereinigten Niederlande/ Oligerius Jacobaeus die Geschichte der Könige in Dennemarck/ Herr Jacob von Mellen die Geschichte der Römisch-Teutschen Kayser des Oesterreichischen Hauses/ und der Könige in Vngarn/ Herr Wilhelm Ernst Tentzel die Chur= und Fürstlichen Sächsischen Geschichte beyderseits Linien/ Herr Petrus Ambrosius Lehmann/ in den so genannten Hamburgischen Remarquen/ sehr vieler europäischer Prinzen Leben und merckwürdigste Begebenheiten/ alle aus modernen Medaillen aufs schönste erkläret.11
Von der Betrachtung der Schaumünzen und Medaillen erhofft sich Juncker eine Art alchemistisch-spiritueller bzw. alchemistisch-psychologischer Wirkung, es sei denn man unterstellt ihm in der folgenden Formulierung ein rein rhetorisches Decorum: Der Höchste gebe/ daß/ da man zu ietzigen Zeiten immer etwas neues haben will/ Lutherus/ der vor sich bey seinen Lebzeiten Gold und Silber wenig geachtet hat/ in diesem Silber und Golde/ darinne Er itzo von neuen vorgestellet wird/ sich bey denen jenigen möge annehmlich machen/ denen seine Niedrigkeit sonst ein Aergerniß/ und die von ihm geläuterte Warheit und Weißheit des Göttlichen ewigen Wortes eine Fabel und Thorheit ist. Gold und Silber sind die feinsten Metallen; So wünschen wir denn/ daß auch/ in Anschauung des gegenwertigen Güldenen und Silbernen Ehren=Gedächtnisses Lutheri/ die jenigen/ deren Hertzen noch voll Vnreinigkeit der Laster/ oder heimlich und öffentlichen Hasses gegen das Evangelium/ oder etwa zu einem ihnen selbst unglücklichsten Abfall von demselben zu den unseligen Lehren geneigt sind/ mögen gereiniget/ und in solcher Purität biß an ihr Ende beständig beharren.12
3.
Der theologische und konfessionspolitische Horizont
An diesem Punkt nun sind die auffälligen Tendenzen des Ehrengedächtniß zu benennen und zu illustrieren. War das eben herangezogene Zitat nicht ganz ungefährlich, denn der sächsische Kurfürst, August der Starke (1670–1733), war 1697 zu den im Sinne des Verfassers »unseligen Lehren« konvertiert und um den Kurprinzen gab es in dieser Hinsicht permanente Gerüchte, so schließt die Darstellung mit dem Bericht/ von den vornehmsten Solenitäten bey Celebrirung dieses Schwedischen Jubel=Festes. 1693 feierte Schweden das hundertjährige 11 Ebd., Vorrede, Bl. C 7r−v . 12 Ebd., Bl. C 7v −8r .
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Jubiläum der endgültigen Durchsetzung der Reformation. 1706 standen die Schweden im Gefolge des Großen Nordischen Kriegs in Sachsen und zwangen im Frieden von Altranstädt am 24. September August den Starken zum Verzicht auf die polnische Krone.13 So ist zumindest zwischen den Zeilen eine politische Tendenz zu erkennen. Die im lutherischen Sinne bessere Zeit wird aufgerufen in der Darstellung sogenannter Allianzbildnisse der beiden wichtigsten schon in der Vorrede erwähnten protestantischen Dynastien, der Wettiner und der brandenburgischen Hohenzollern, repräsentiert in den Kurfürsten August von Sachsen und Johann Georg von Brandenburg (1525–1598).14 Sachsens Ablösung als Vormacht des protestantischen Lagers durch Brandenburg-Preußen war mit der Konversion Augusts des Starken in Gang gesetzt worden. Das Letzte, woran sächsischlutherische Memoria sich historisch-positiv klammern konnte, waren Konkordienformel und Konkordienbuch. Die hier von Juncker vorgestellten Medaillen beziehen sich auf diesen Kontext. Die Genese der Konkordienformel und des Konkordienbuchs, beginnend mit entsprechenden Bemühungen um eine Lehreinheit des Luthertums in Württemberg und Braunschweig-Wolfenbüttel 1573 über die zentrale Station des Torgauer Konvents 1576 bis zur Erstausgabe des Konkordienbuchs zum 50-jährigen Jubiläum der Confessio Augustana 1580 und schließlich den folgenden Auseinandersetzungen darum bis zur Publikation der Apologie des Werks 1583, war äußerst kompliziert.15 Dies ist einem doppelten Ausdifferenzierungsprozess geschuldet, den diese Entwicklung ungewollt aber letztendlich entscheidend vorantrieb:16 einmal der Aufspaltung des Protestantismus im Reich in lutherische und calvinistische Territorien und zum anderen der Binnendifferenzierung der lutherischen Gebiete in an der 13 Der Krieg war in diesem Sinne endgültig mit dem Sieg der Schweden in der Schlacht von Fraustadt am 13. Februar 1706 entschieden. Danach besetzten sie Sachsen. Juncker hatte das Ehrengedächtnis Anfang Januar weitgehend fertiggestellt; seine Widmungsvorrede datiert vom 23. März, dem dreiundvierzigsten Geburtstag Moritz Wilhelms von Sachsen-Zeitz. 14 Vgl. dazu Ziesak, Freundschaftsbildnis, 96f. Ihrer Darstellung zufolge beginnt die Reihe der wettinisch-hohenzollerischen Allianzgemälde mit den Kurfürsten August von Sachsen und Johann Georg von Brandenburg anlässlich der Heirat des sächsischen Kurprinzen Christian mit Sophie von Brandenburg 1582, also eben mit den beiden auf den Medaillen bei Juncker dargestellten Fürsten. Den politischen Gesamtkontext beleuchtet der Beitrag von Göse, Die »Erbverbrüderten«, 38−49. Er konstatiert »[…] während der Regierungszeit Kurfürst Augusts eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Brandenburg und Kursachsen in den grundsätzlichen Fragen der Reichspolitik […]. Fast könnte man geneigt sein, von einer Achse Dresden – Berlin zu sprechen.« (ebd., 38). Trotz eindeutiger Dominanz Kursachsens setzte Brandenburg dabei auch eigene Ziele durch. 15 Detailliert dargestellt bei Heppe, Protestantismus, Bd. 3 u. 4. 16 Hierzu, vor allem zu den Auseinandersetzungen ab 1580 und mit Blick auf den europäischen Kontext, Dingel, Concordia controversa.
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Konkordie Orientierte und solche, die das Konkordienbuch ablehnten, weil sie zugleich am theologischen Erbe Melanchthons festhielten. Im Zeitraum 1580/81 war die Frage, wer sich im Zuge der Drucklegung per Unterschrift um die Achse der Kurfürstentümer Sachsen, Brandenburg und Kurpfalz öffentlich zum dogmatischen Corpus des Konkordienbuchs bekennen würde. Dabei war der exakte inhaltliche Umfang schon zwischen der Kurpfalz auf der einen sowie Sachsen und Brandenburg auf der anderen Seite umstritten. Deshalb war der Besuch des brandenburgischen Kurfürsten in Dresden im Jahr 1581 unter anderem auch der Versuch, einen symbolischen Schlusspunkt unter diesen Prozess zu setzen. Johann Georg weilte mit seiner Familie vom 21. Juli bis 1. September in der sächsischen Residenz.17 Auf dieses Ereignis bezieht sich die hier abgebildete Medaille (Abb. 4).18 Den Kern der Kommentierung bildet ein Zitat Philipp Jakob Speners (1635–1705): Der Große […] Herr Johann Georg/ Churfürst zu Brandenburg/ ein um unser Teutschland vortrefflich verdienter Herr/ als welcher mit dem theuren Churfürsten Augusto von Sachsen auf die 30. Jahr in vertraulichster Freudschafft gelebet/ und solche beyde Fürsten die jenigen gewesen sind/ so das meiste unter den Ständen in Sachen den gemeinen Zustand des Reichs und der wahren Religion betreffend/ solcher Zeit gethan haben/ auch der HErr ihre Consilia in vielen geseegnet/ sie aber dadurch in die größte Autorität gesetzet hat. Sonderlich hat gedachter Churfürst Johann Georg von Brandenburg/ […] sich die Reinigkeit der Lehre hertzlich lassen angelegen seyn/ die Schrifften unsers theuren Lutheri den Kirchen seiner Lande sehr recommendiret/ und die Formulam Concordiae befördern helfen.19
17 Tentzel, Medaillen=Cabinet, 172f. 18 Heppe, Protestantismus, Bd. 4, 232, vermerkt unter der Überschrift »Art und Weise der Publizirung der Concordie«: »Die Exemplare, welche in Kursachsen und Kurbrandenburg der Geistlichkeit zugeschickt wurden, waren auf der ersten Schale des Einbands mit den eingepreßten Bildnissen der beiden Kurfürsten insigniert. Beide Fürsten waren einander umarmend dargestellt, doch mit dem Unterschiede, daß auf den in Kursachsen verbreiteten Exemplaren Kurfürst August den Kurfürsten Johann Georg, dagegen auf den Kurbrandenburgischen Exemplaren dieser jenen umarmte. Zugleich ließ der Kurfürst von Sachsen Denkmünzen ausgeben, welche das Gedächtnis der zwischen ihm und dem Kurfürsten von Brandenburg bestehenden Einigkeit verewigen sollten«. In einer dazugehörigen Fußnote beschreibt Heppe exakt bis ins Detail die von Juncker abgebildete Medaille. 19 Juncker, Ehrengedächtnis, 355f; das Zitat Speners stammt aus dem seinen zwei Leichenpredigten angehängten Lebenslauf der Gemahlin Kurfürst Johann Georgs II. von Sachsen, Magdalena Sibylle von Brandenburg-Bayreuth, die am 20. März 1687 verstorben war. Spener hatte die Predigten am 2. Mai in der Kreuzkirche zu Dresden und am 4. Mai im Dom zu Freiberg gehalten. Sie gingen danach unter dem Titel »Frommer Kinder Gottes Kräfftiger Trost gegen den Tod«, Dresden 1687, in Druck; das Zitat hier 88f. Es ist so wörtlich von Tentzel, Medaillen=Cabinet, 136f, übernommen.
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Abb. 4 Allianzmedaille August von Sachsen/Johann Georg von Brandenburg, Avers. Quelle: Ehrengedächtniß, 356.
Eben diese Haltung fiel für das albertinisch-sächsische Herrscherhaus aus. Das Direktorium der kursächsischen Kirche hatte im Zuge der Konversion Augusts des Starken der Gothaer Ernestiner Friedrich II. übernommen. Für weitere
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Kommentierung verweist Juncker auf Christian Schlegels Müntz-Bibel20 und Georg Ernst Tentzels Sächsische Medaillen-Historie21 . Ganz eigenständige Wege geht er bei einer Münze, die ein brennendes Buch und auf dem Revers zehn mit einer Flamme besetzte Herzen zeigt (Abb. 5).
Abb. 5 Niederländischer Rechenpfennig, 1575. Quelle: Ehrengedächtniß, 498.
Gegen die Deutung bei Pierre Bizot (1630–1696) und Schlegel22 bringt er diese nicht mit der holländischen Religionsgeschichte in Zusammenhang, sondern auf Grund ihrer Umschrift ebenfalls mit der Konkordienformel von 1575. Die Schrift im Buch lautet: »LEX. CRVCIS. TESTImonium DomiNI. […] Das Gesetz des Creutzes ist ein Zeugniß des HERRN«23 ; die Umschrift: »SERMO. 20 Schlegel, Biblia In Nummis, Jena 1703. Die Vorrede, datierend vom 1. März 1703, hatte der Senior des Erfurter Evangelischen Ministeriums, Pfarrer an der Predigerkirche und Ephorus des Ratsgymnasiums Johannes Sauerbrey verfasst. Er verweist dabei wiederum zurück auf Junckers Vita D. Martini Lutheri [Vorrede unpag.]. 21 Tentzels Sächsisches Medaillen-Cabinet erschien in vier Teilen für die verschiedenen, sowohl ausgestorbenen als auch existenten ernestinischen Linien und in einem Teil für die albertinische Linie, Dresden 1705. 22 Junkers spekulative Annahme war jedoch falsch, die Ausführungen in Bizot, Supplement A L’Histoire Metallllique, 39f und in Schlegel, Biblia in Nummis (wie Anm. 20), Supplementum I, 53f hingegen korrekt. Es handelt sich um einen niederländischen Rechenpfennig von 1575 aus der Prägestätte Dordrecht. Für den freundlichen Hinweis danke ich Frau Uta Wallenstein, Stiftung Schloss Friedenstein Gotha. 23 Juncker, Ehrengedächtniß, 498.
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DEI. IGNIS. INEXTINGVIBILIS […] GOttes Wort ist ein unverleschliches Feuer.«24 Juncker sieht hier eine Anbindung an Jer 23,29: »Ist nicht mein Wort wie ein Feuer.«25 Auf dem Revers »TVA. MANVS. HOC. FECIT. DOmiNE. […] Solches hat/ HERR/ deine Hand gemacht.«26 , was er auf Hi 12,9 deutet: »Wer weiß solches alles nicht/ daß des HErrn Hand das gemacht hat;«27 nebst der Jahreszahl 1575. Die brennenden Herzen deuten ihm »die Begierde der Theologorum« an, »die man zu diesem Wercke gebrauchet hat.«28 Die Lichtmetaphorik, für die das Motiv des brennenden Buchs ein eher seltenes Beispiel ist, spielt eine auffallende Rolle beim ersten der beiden großen Reformationsjubiläen des 17. Jahrhunderts 1617. Beim zweiten Jubiläum 1630 ist es angesichts der Zeitumstände und des neuerlichen Auf-der-Kippe-Stehens des deutschen Protestantismus nach 1547 die Säulenmetaphorik. Im Bild der Säule verkörpert sich die Constantia. Standhaftigkeit, Constantia, war alles, was nach dem Restitutionsedikt von 1629 und dem Fall Magdeburgs 1631 zählte (Abb. 6). Die im kursächsischen Kontext konfessionspolitisch unsicheren Zeiten lassen Juncker auf eine der stärksten interpretatorischen Lutherüberhöhungen in der Tradition der reformatorischen Geschichtsschreibung zurückgreifen, wenn er ihn mit einer Schaumünze aus Tentzels Sächsischer Medaillen-Historie als dritten Elias konnotiert (Abb. 7).
24 25 26 27 28
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Beide Zitate ebd., 499.
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Abb. 6 Sächsische Schaumünze auf den schwedisch-sächsischen Sieg über das kaiserliche Heer bei Breitenfeld 7.jul. /17.greg. September 1631. Quelle: Ehrengedächtniß, 451.
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Abb. 7 Luther als dritter Elias. Quelle: Ehrengedächtniß, 26.
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In den Anmerkungen zu dieser Münze nennt er einige diesbezügliche Literatur,29 nicht ohne am Ende wieder auf die fürstliche Vorbildfunktion zu rekurrieren: Welchen [Publikationen, die Luther als dritten Elias bezeichnen, A.L.] annoch beyzufügen ist Herr D. Elias Veil/ hochberühmter Superintendens zu Vlm/ in seinem Buch/ dessen Titel ist: Ein gülden Kleinod der schönsten und geistreichsten Andachten und Betrachtungen aus den Schrifften des seel. Mannes D. Martin Luthers/ […] da er ihn […] mit Samuel/ und […] mit Johanne vergleichet. Bei diesem des Herrn D. Veils Buche kann nicht umhin zu gedencken/ daß/ als ich selbiges in der Hochfürstlichen Bibliotheque zu Gotha in die Hände bekam/ ich mit Vergnügen ersehen/ daß es von des hochseel. Herzog Johann Ernsten zu Sachsen nicht nur der eigenhändigen Vorschrifft dero Hochfürstlichen Nahmens/ sondern auch einer sehr fleissigen Lesung gewürdiget worden. Welches auch darumb hier erwehne/ weil es billig ist/ daß derer jenigen Hochfürstlichen Personen/ welche das Andencken Lutheris werth gehalten haben/ nimmermehr vergessen werde.30
Da Veiels Schrift 1669 erschienen war, kann hier von den Lebensdaten her nur der 1683 verstorbene Herzog Johann Ernst II. von Sachsen-Weimar (geb. 1627) gemeint sein. Die Feinde von Luthers Andenken waren denn auch die Feinde des ernestinischen Fürstenhauses. Juncker bietet einige wenige antireformatorische Münzen, darunter auch eine, die aus Anlass des Jubiläums von 1617 die beiden Konfessionen in das Bild von Sonne und Mond fasst. Er entnimmt sie einer Publikation des Mainzer Jesuiten Adam Conzen (1571–1635) von 1618, auf die ihn der Frankfurter Bibliothekar Johann Martin Waldschmidt (1650–1706) aufmerksam gemacht hatte: Jubilum Jubilorum Evangelicorum, & piae lachrimae Romano-Catholicorum. In ihren Umschriften spielt die Münze mit der 29 Harald Bollbuck versucht, die Elias-Tradition in seinem Aufsatz »Martin Luther in der Geschichtsschreibung zwischen Reformation und Aufklärung« der gnesiolutherischen Richtung zuzuweisen. Das dürfte so nicht haltbar sein, da Juncker sich in diesem Zusammenhang unter anderem auf die 15. Predigt von Johann Mathesius in dessen Historien / Von […] Doctoris Martini Luthers / anfang / Lehr / leben vnnd sterben beruft, den Bollbuck gerade hier als Gegenpart der Gnesiolutheraner darstellt. Mathesius wiederum beruft sich auf Melanchthon, der »vnsern Doctor postrema aetatis Heliam, den letzten Heliam / von dem für und für in der christenheyt ein weissagung blieben / daß vom ende dieser welt Enoch vnnd Helias wider kommen / vnnd als die seligen zwen ölbeum / den frieden vnd zukunfft JHESV Christi / mit grosser freidigkeit Predigen würden« genannt habe (Mathesius, Historien, Bl. 181v ). Dieses Zitat lässt sich im Corpus Melanchthons nicht nachweisen; so schon Volz, Lutherpredigten, 66f, Anm. 17: »Dafür, daß Melanchthon Luther als ›postremae aetatis Elias‹ bezeichnet habe, wie Mathesius angibt […], findet sich kein Beleg.« Das ändert allerdings nichts daran, dass Mathesius davon ausging, hier mit einem Melanchthon-Zitat zu arbeiten. Zu »Luther als Elias« vgl. Volz, ebd., 63–68. 30 Juncker, Ehrengedächtniß, 27.
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Abb. 8 Antireformatorische Medaille. Quelle: Ehrengedächtniß, 416.
Beständigkeit der für die alte Kirche stehenden Sonne, die sich in 1.600 Jahren nicht einmal verändert habe, während der mit Unbeständigkeit, Häresie und Neuerung behaftete Mond für die reformatorische Kirche steht, die sich in 100 Jahren 1.600 Mal verändert habe (Abb. 8). Juncker geht dann noch näher auf die weitere polemische Publikationstätigkeit von Conzen im Zusammenhang mit dem Reformationsjubiläum von
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1617 ein, um auf die Verballhornung des ernestinischen Wahlspruchs »Verbum Domini Manet In AEternum« in folgenden zwei Varianten zu stoßen: »Vertumnum, Didimaeum; Maevium, Ixionidem, AEsopium, seu, Virbium, Dolopeium, Menippum, Ismeniadem, AEpolandrium«.31 Dieses Sammelsurium von teils mythologischen, teils historischen Eigennamen rekurriert ähnlich der antireformatorischen Münze von 1617 auf die Eigenschaften Wechselhaftigkeit, Doppeldeutigkeit und Morallosigkeit im Sinne verschiedener Laster und Verbrechen.32 Auf der finsteren Seite der zur Warnung dienenden Einzelgestalten im Sinne der Vorrede an den Prinzen Friedrich August taucht allein der kursächsische Kanzler Nikolaus Krell (1550–1601) auf, der das Vertrauen seines Herrn missbraucht und versucht habe, die Konkordienformel wieder abzuschaffen, weil er »[…] allerhand gefährliche Irrthümer in die Churfürstlichen Lande mit Gewalt wieder eingeführet wissen wollte« (Abb. 9).33
31 Ebd., 419. 32 Vertumnus: Gott der Jahreszeiten und damit der Wechselhaftigkeit / Didimaeus: Bewohner von Didyma, einem bedeutenden Orakelheiligtum des Apollo im Sinne von Doppeldeutigkeit / Maevius: nicht historisch sondern nur als schlecht beleumundete literarische Gestalt belegter Poet der Augustus-Zeit / Ixonides: Sohn des Ixion, des mythischen Königs der Lapiden, der seinen Schwiegervater ermordete und mit Hera die Kentauren zeugte; Ixioniden sind also monströse Söhne eines moralischen Monsters / Aesopius: der bekannte Fabeldichter des 6. Jahrhunderts v. Chr.; Virbius: als Geburtshelfer angerufener Dämon der römischen Mythologie mit griechischem Ursprung unter dem Namen Hippolytos: von seinem Vater verflucht, weil er sich an seiner Stiefmutter vergangen haben soll, ließ ihn Poseidon am Strand von Pferden zerschmettern; von Asklepeios auferweckt, ging er nach Italien; hier geht es wohl um das Schänden der Stiefmutter / Doloper: ein als Seeräuber berüchtigter griechischer Volksstamm auf der Insel Scyrus im Ägäischen Meer / Menippos von Gadara (1. Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr.) als kynischer Schriftsteller Vater der Menippeischen Satire; hier im Sinne von Spötter / Ismenius: poetisches Synonym für »thebanisch«, aus Theben stammend; hier wohl in dem Sinne, dass Theben in Böotien als Handlungsort der Tragödien um Ödipus, der Sieben gegen Theben und der Antigone ein zentraler Unglücksort war / Aepolandrius: Teilnehmer an Essgelagen; hier im Sinne von Völlerei. 33 Juncker, Ehrengedächtniß, 359.
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Abb. 9 Münze auf Nikolaus Krell. Quelle: Ehrengedächtniß, 359.
Juncker umschifft damit elegant den Versuch Kurfürst Christians I. (1560–1591), in Sachsen den Calvinismus einzuführen. Das liegt generell auf seiner Linie, nicht gegen den Calvinismus zu polemisieren, sondern diesen eher zu integrieren. So berücksichtigt er ohne jegliche negative Kommentierung
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Münzen auf Zwingli (1484–1531), mehrere auf Calvin (1509–1564), Petrus Martyr Vermigli (1499–1562), Petrus Viretus (1536–1559) und Johannes a Lasco (1499–1560) (Abb. 10).
Abb. 10 Repräsentative Medaille auf Johannes Calvin. Quelle: Ehrengedächtniß, 177.
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Im Ganzen ist sein Guldenes und Silbernes Ehrengedächtniß vor dem Horizont der konfessionellen Verunsicherung im hochabsolutistischen Kurfürstentum Sachsen innerprotestantisch in irenischer Weise angelegt. Das umso mehr, wenn man sich vor Augen hält, mit welcher rücksichtslosen Vehemenz der Kampf um die zweite Reformation in Kursachsen ausgetragen worden war. Juncker wünscht sich im Zusammenhang mit der vormaligen Einigkeit zwischen Johann Georg von Brandenburg und August von Sachsen […] auf gegenwärtige Zeiten / da die Einigkeit der Sächsisch= und Brandenburgischen Kirchen / bekandter massen / nochmals gesuchet wird / […] / vielleicht entweder eine neue Formula Concordiae […] / oder die erstmahls von Churfürst Johann Georgen von Brandenburg selbst / […] /angenommene / wiederumb beliebet werden dürffte.34
Hier wird der Calvinismus nicht mehr bekämpft, sondern, wenn auch mit deutlich lutherischem Akzent, umarmt. Das zeigt sich auch schon an seinem Umgang mit den Allianzmedaillen der Kurfürsten August und Johann Georg (Abb. 11).
34 Ebd., 355.
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Abb. 11 Allianzmedaille. Quelle: Ehrengedächtniß, 353.
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Das auf den Torgauer Landtag von 1574 und durch seine Bibelzitate zugleich auf den Torgauer Konvent von 1576 und die Konkordienformel bezogene Revers dieser Medaille mit dem Gegensatzpaar von Vernunft und Allmacht in den Waagschalen des göttlichen Gerichts interpretiert er nicht in seinem ursprünglichen Sinn anticalvinistisch.35 Das wird deutlich, wenn man die ausführliche Interpretation des Revers in Wilhelm Ernst Tentzels Saxonia Nvmismatica Lineae Albertinae vergleicht, der dafür unter der Bezeichnung »Zwickauische Annalibus« wiederum auf Tobias Schmidts Chronica Cygnea Oder Beschreibung Der sehr alten […] Stadt Zwickaw von 1656 zurückgreift: Allein wir wollen […] um die Außlegung der Figuren bekümmert seyn / welche uns von niemand deutlicher / als Schmidt in seinen in den Zwickauischen Annalibus bey gedachten 1574. Jahre gegeben wird: Den 29. Martii fieng der löbliche Chur=Fürst Augustus an / den heimlichen Calvinisten und Sacrament=Schwermern / so sich im Churfürstenthum eingeschliechen hatten / Wiederstand zuthun / und also ihrem verführischen Schwarme und Verkleinerung CHRJSTJ Warheit und ALLMACHT zusteuern. Dieses wird auff unserer Medaille durch die Wage angzeiget / da der Churfürst Christi Allmacht mit der heimlichen Calvinisten Vernunfft=Lehren gegen einander abwieget / und diese viel zu leicht befindet. Uber dieser Sachen / fähret Schmidt fort / wurde im August=Monat ein Synodus zu Torgau gehalten / da die fürnehmsten Gelehrten aus beyden Vniversitäten / Leipzig und Wittenberg / und die Superintendenten aus dreyen Consistoriis zusammen kommen / und sich des Calvinismi halben richtig erklären musten. Da wurden die heimlichen Calvinisten / als D. Caspar Cruciger der Jüngere / D. Henricus Mollerus von Hamburg / D. Fridericus Widtbramus, Pfarrherr zu Wittenberg / und D. Cristoph. Pezelius, in Bestrickung genommen / etliche wurden meineydig / und entlieffen / etliche wurden enturlaubet. Wer siehet nicht / daß die viere in der leichtern Wagschale steckenden / und nebst dem Teuffel dieselbe vergeblich niederzudrücken suchenden Männer / keine andern sind / als die ietzt=genandten gefangenen Theologi, Cruciger, Mollerus, Widebramus, und Pezelius?36
35 Genau genommen eröffnete dieses Treffen die Vertreibung der als »Cryptocalvinisten« stigmatisierten Philippisten aus Sachsen unter Kurfürst August, ein Schritt der im Vorfeld des Prozesses hin zur Konkordienformel und zum Konkordienbuch den Anschluss Kursachsens an diese Entwicklung vorbereitete. Alle bei Tentzel und Schlegel genannten Theologen und weltlichen Räte waren prominente Repräsentanten der philippistischen Richtung, die diese Säuberungswelle mit sofortiger Ausweisung (Moller), teils langjähriger Haft und Amtsentlassung (Widtbramus), Haft und späterer Vertreibung (Cruciger, Pezel, Peucer) und sogar Tod in der Haft (Cracow) bezahlten. Die Medaille dient als rahmender Ausgangs- und Endpunkt des Beitrags von Hasse, Lutherisches Konfessionsbewusstsein, 166−175. 36 Tentzel, Saxonia Nvmismatica Oder Medaillen=Cabinet von Gedächtniß=Müntzen und Schau=Pfennigen / Welche Die Durchlauchtigsten Chur= und Fürsten zu Sachsen Albertinischer Haupt=Linie prägen und verfertigen laßen, Dresden 1705, 140−142 (vgl. Anm. 21); bei Schmidt, Chronica Cygnea, 404f.
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Während Christian Schlegel diese Kommentierung in seiner Müntz-Bibel schon geringfügig abschwächt,37 nimmt Juncker, diese Linie fortsetzend, jede Art von personenbezogener memorierender Konfrontation heraus.38 Auch hinsichtlich der katholischen Seite agiert er mehr apologetisch als triumphierend. Sie wird natürlich nicht umarmt, sondern um eines der klassischen Bildmotive ihrer publizistischen Polemik beerbt. Das Bild vom Schiff der Kirche,39 das sich letztlich unaufhaltsam durch ein von Ketzern wimmelndes Meer bewegt, taucht zweimal in umgekehrter Verwendung auf, zumindest was das Schiff betrifft. Wer eigentlich im Meer treibt, ist offen (Abb. 12). 37 Schlegel, Biblia In Nummis, Supplementum I, 36: »Der Revers lässet den Chur=Fürstē im blosen Haupte und spitzigen Barthe geharnischt auff einem Felsen / daran geschrieben: Schloss Hartenfels (zu Torgau nehmlich) stehende sehen / hält in der rechten Hand das Chur=Schwerdt / in der Lincken eine Wage / in deren einen Schale das sitzende JEsus=Kindlein / so mit der rechten Hand auff das darüber fliegende Billet weiset / darauff geschrieben: Die Allmacht; so die in der andern Schale liegenden 4. Calvinischen Lehrer / die da mit Gewalt die Waag=Schale nieder zu drucken mit dem oben darauff sitzenden Teuffel sich bemühen, unter welchen abermahl ein Billet flieget / darauff geschrieben: Die Vernunft, weit überwieget.« Schlegel führt dann weiter aus, Kurfürst August habe mit der »Synode« von Torgau den Landgrafen zu Hessen und den Herzog von Braunschweig vor den Irrtümern seiner eigenen Wittenberger Theologen in der Abendmahlsfrage warnen wollen. Er habe seine Theologen daher auch im Mai 1574 schriftlich auf die rechte Lehre vereidigen und Verweigerer in Haft nehmen lassen. Hier fallen dann mit Georg Cracow und Kaspar Peucer zwei andere Namen. »Ubrigens aber durch gewisse Theologos auff gedachten Synodo alles wieder in vorigem Standt einrichten lassen: also ist Er auch mit recht; so wohl vom Luckio, als Herrn Tentzelio und Junckero dahin referiret worden.« (ebd., 37). Schlegel arbeitete hier mit Junckers Vita D. Martini Lutheri von 1699. 38 Juncker stellt die »Synode« von Torgau als Ausgangspunkt einer umsichtigen cura religionis des Kurfüsten August dar, die direkt zu Konkordienformel und Konkordienbuch geführt habe: »§.73. Aliquot deinde interiectis annis, cum exorta inter Theologos Saxonicos de Adiaphoris contentio vix esset sepulta, & inquieta quorundam ingenia aliam & verbo diuino Augustanaeque Confessioni non consentientem doctrinam de Sacramento Coenae, de duabus in Christo [S. 267] Naturis, deque Persona eius & Maiestate, tradere coepissent, resque illa periculo non career videretur, multum ea res dedit Augusto negotii, qui tamen Numinis confisus adiumento eo denique perfecit, vt indicta Torgauiae Synodo anno MDLXXIV FORMVLA CONCORDIAE a sex theologis purioribus magna cum consideration conscripta Anno MDLXXV, praelectaque deinceps solenniter, MDLXXXI, & obseruari in Ecclesiis iussa, non omnis modo sopita fuerit Discordia, sed exesse prouinciis ac cedere officiis iuberentur dissentientes.« (Vita D. Martini Lutheri, 266f). Junckers deutsche Version von 1706 bietet am Ende der Übersetzung dieser Passage einen Zusatz, der trotz seines konfrontativen Charakters weiterhin Personennennungen vermeidet: »Da sich denn das Vnkraut in dem Acker des HErrn zeigete; und weil die Irrigen besagter Formulae nicht unterschreiben wolten / ausgerottet wurden.« (Ehrengedächtniß, 349). 39 Das eigentliche Bildmotiv vom Schiff der Kirche ist bereits vorkonfessionell im späten Mittelalter belegt; vgl. Appuhn-Radtke, Das Schiff der Kirche, 411f. Demnach ist das Motiv, protestantisch gewendet, ab 1570 nachweisbar.
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Abb. 12 Medaille »Das Schiff Christi«. Quelle: Ehrengedächtniß, 427.
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Insgesamt zeigt sich Junckers numismatische Reformationshistorie als lutherische Geschichtsdeutung in mehr als unsicherer Zeit. Zehn Jahre vor dem zweiten Säculum der Reformation kämpften deren Kernlande gegen immer neue Wellen der Verunsicherung. Vor dem Horizont einer nicht arrivierten provokanten Geschichtsdeutung, wie sie Gottfried Arnolds Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie exakt an der Jahrhundertwende darstellte, wurde vor allem das albertinische Sachsen zwischen den gleichzeitigen Auseinandersetzungen um den Pietismus und den Kryptocalvinismus Ende der 1680er und Anfang der 1690er Jahre und der Konversion Augusts des Starken zum Katholizismus hin und her geworfen. Mit dem Großen Nordischen Krieg, der die Schweden ein halbes Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden wieder nach Mitteldeutschland gebracht hatte, war die Verunsicherung tagesaktuell. Obwohl von der schwedischen Invasion nicht unbehelligt, erwiesen sich die ernestinischen Fürstentümer im Vergleich dazu als Inseln der Stabilität. Nicht von ungefähr sollte sich die Wahrnehmung und gleichsam die geschichtsdeutende Verwaltung des zweihundertjährigen Jubiläums der Reformation am Gothaer Hof konzentrieren. Christian Junckers Jubiläumswerk gehört in ihr Vorfeld. Literatur Quellen Bizot, Pierre, Supplement A L’Histoire Metallique De La Republique De Hollande, Tome 3, Amsterdam 1690. Effigies, Dvcvm Principvm Baranvm Nobilivm Etc. Artifici M., FB Gotha Biogr. Gr. 2° 593/2. Juncker, Christian, Das Guldene und Silberne Ehren-Gedächtniß Des Theuren Gottes-Lehrers D. Martini Lutheri, Nürnberg 1706. −, Vita D. Martini Lutheri Et Successum Evangelicae Reformationis Iubilaeorumque Evangelicorum Historia Nummis CXLV, atque iconibus aliquot rarissimis, confirmata & illustrate, Noribergae, Francofurti, Lipsiae, Endterus, Schleusingae, Goebel, 1699. Mathesius, Johann, Historien / Von […] Doctoris Martini Luthers / anfang / Lehr / leben vnnd sterben, Nürnberg 1568. Schlegel, Christian, Biblia In Nummis, Das ist: Kurtzer Entwurff Der vornehmsten Biblischen Sprüche und Historien, Die auf Medaillen, Ducaten, Thalern und andern Müntzen […] zu befinden. Nach der Ordnung der Biblischen Bücher eingerichtet, Jena 1703. Schmidt, Tobias, Chronica Cygnea Oder Beschreibung Der sehr alten / Löblichen / und Churfürstlichn Stadt Zwickaw, Zwickau 1656.
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Spener, Philipp Jakob, Frommer Kinder Gottes Kräfftiger Trost gegen den Todt / und Wahre Seeligkeit in diesem Leben / über den Hoch-Seeligen Hintritt der […] Frauen Magdalenen Sibyllen […] Chur-Fürstin […] So in Dreßden den 20. Martii 1687 nach Gottes Willen erfolget, Dresden 1687 (VD17 1:000076M). Tentzel, Wilhelm Ernst, Sächsisches Medaillen=Cabinet, Erster Theil Der Albertinischen Linie Von Hertzog Albrechten Biß auff Chur=Fürst Augustum, Dresden 1705. Forschungsliteratur Appuhn-Radtke, Sibylle, Das Schiff der Kirche, in: Carl A. Hoffmann u. a. (Hg.), Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden, Begleitband zur Ausstellung im Maximilianeum Augsburg (16.06.–16.10.2005), Regensburg 2005, 411f. Becker, Winfried, Der Passauer Vertrag in der Historiographie, in: Ders. (Hg.), Der Passauer Vertrag von 1552. Politische Entstehung, reichsrechtliche Bedeutung und konfessionsgeschichtliche Bewertung, Neustadt a.d. Aisch 2003, 166–194. Berndt, Carsten, Leben und Wirken von Christian Juncker (1668–1714). Pädagoge, Historiograph der Ernestiner, Luther-Biograph, Numismatiker, Übersetzer und Bibliothekar, Langensalza 2017. Bollbuck, Harald, Martin Luther in der Geschichtsschreibung zwischen Reformation und Aufklärung, in: Hole Rößler (Hg.), Luthermania. Ansichten einer Kultfigur. Ausstellung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel im Rahmen des Forschungsverbunds Marbach Weimar Wolfenbüttel vom 15. Januar bis zum 17. April 2017, Wiesbaden 2017, 47–68. Dingel, Irene, Concordia controversa. Die öffentlichen Diskussionen um das lutherische Konkordienwerk am Ende des 16. Jahrhunderts, Gütersloh 1996. Göse, Frank, Die »Erbverbrüderten«. Zum brandenburgisch-kursächsischen Verhältnis zur Regierungszeit des Kurfürsten August, in: Staatliche Kunstsammlungen Dresden und Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V. (Hg.), Kurfürst August von Sachsen. Ein nachreformatorischer »Friedensfürst« zwischen Territorium und Reich. Beiträge zur Wissenschaftlichen Tagung vom 9. bis 11. Juli 2015 in Torgau und Dresden, Dresden 2017. Hasse, Hans-Peter, Lutherisches Konfessionsbewusstsein und Kirchenpolitik des Kurfürsten August von Sachsen in: Staatliche Kunstsammlungen Dresden und Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V. (Hg.), Kurfürst August von Sachsen. Ein nachreformatorischer »Friedensfürst« zwischen Territorium und Reich. Beiträge zur Wissenschaftlichen Tagung vom 9. bis 11. Juli 2015 in Torgau und Dresden, Dresden 2017.
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Prosit Reformation! Perlende Worte als Treibstoff der Erinnerung
Barockkunst entsteht in Weinbergen und Weizenfeldern, also im Mittelmeerraum. So wie das Konzil von Chalkedon geradewegs zu Bernini führt und Athanasius zu Fellini, so kommt man schnurstracks von der Hostie zu den Tagliatelle (bzw. zum Baguette). Das weitreichende Gedächtnis der Religionen zeigt sich im voneinander nicht zu trennenden Umgang eines Volkes mit Plastik und Gastronomie. Betrachtungs-, Glaubens- und Eßgewohnheiten sind ein und dasselbe.1
Prolog: Reinheitsgebote für Körper und Geist Während Martin Luther das Christentum reinigte, von Mischformen entschlackte und auf die drei Säulen – Gnade, Glauben und Schrift – zurückführte, passierte eineinhalb Jahre vor dem Thesenanschlag mit einem Alltagsgetränk strukturell Analoges. Am 24. April 1516 beschloss der vom bayerischen Herzog Wilhelm IV. (1493–1550) in Ingolstadt einberufene Landständetag, dass gebrautes Bier von nun an ausschließlich aus den drei Bestandteilen Gerste, Hopfen und Wasser bestehen solle.2 Jahrhunderte später entwickelte sich daraus die öffentlichkeitswirksame und ideologisch aufgeladene Kategorie des »Reinheitsgebots«3 . Mit dem Reinheitsgebot erlangte das deutsche Bier in einer immer mehr international vernetzten Wirtschaftsordnung Weltruhm und stieg zum unentbehrlichen Bestandteil nationaler Identität auf. Ob nun »Luther« oder »Bier« – die Welt denkt, sobald diese Worte fallen, an authentische deutsche Kultur. Und sowohl das, was unter »Luther«, wie auch das, was unter »Bier« firmiert, ist auf einen Reinheitsdiskurs zurückzuführen.4 Während sich der neue Glaube die Reinigung eines »verpanschten« Christentums auf das Panier schrieb, avancierte das Biertrinken zu einer festen Glaubenssache. Von nun an 1 Debray, Jenseits der Bilder, 82. 2 Schubert, Essen und Trinken, 228–231. 3 Sie geht auf eine Wortschöpfung eines bayerischen Landtagsabgeordneten im Jahr 1918 zurück, als man sich im Einflussfeld der industriellen Massengesellschaft auf den Brauch der »guten alten Zeit« besann. Im Jahre 1906 war die ursprünglich bayerische Bestimmung für alle deutsche Brauereien verbindlich geworden. Vgl. Raupach, Bier, 46–50. 4 Vgl. allgemein Burschel, Erfindung.
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galt jeder mit Bier gefüllte Humpen aus deutschen Landen als flüssiges Brot: »dann allain Gersten / Hopfen / unn Wasser / genommen unn gepraucht solle werden«.5 Tourismus und Stadtmarketing machen sich heutzutage das Image von Luther und Bier zunutze, indem sie beides verschmelzen und so potenzieren. Volkstümliche Sprüche, dem Luthermund zugeschrieben, wie »Wer kein Bier hat, der hat nichts zu trinken« – dienen als Werbeslogan, anhand derer der stets auch befremdliche Luther vertraut gemacht werden kann.6 Koinzidenzen zwischen Luther und Bier sind der Auslöser gewesen, einen Beitrag zu verfassen, in dem Trinken und Denken, physiologische und kognitive Vorgänge, sonst meist getrennt behandelt, in Beziehung gesetzt werden. Interessant wurde es immer dann, sobald der von Getränkekonsum begleitete kommunikative Austausch kommemorative Valenzen freisetzt. Das ist in geselligen Tischrunden stets leicht möglich, zumal aus den Gefäßen meist Alkoholika – Wein und Bier – in die Kehlen flossen. Wohl dosiert, wirkt Alkohol belebend, Zunge lösend, voller Wahrheitsdrang – alles Eigenschaften, die Aktionen kollektiver Erinnerung eher befördern als behindern.7 Aktionsfeld des Aufsatzes sind gesellige Runden am Tisch mit Luther als Protagonist. Luthers postum herausgegebene Tischreden8 sind in ihrem Quellenstatus besonders schillernd, ihre Glaubwürdigkeit schwankt je nach Passage zwischen authentischem Zeugnis und fiktivem Konstrukt.9 Unbestritten aber ist, dass man es bei dieser Textgattung mit einer sprudelnden Memoriaquelle zu tun hat. Eine besondere Herausforderung für die Tischgenossen stellten bereits die ersten Nachschriften aus der eigenen Erinnerung dar. Johannes Aurifaber (1519–1575) sollte daraus und aus den unmittelbar während der Gespräche erstellten Notizen einen repräsentativen Folioband herausgeben – knapp zwanzig Jahre nach dem Tod des Reformators (Abb. 1). Damit war das Label »Tischreden« geschaffen, in denen Trinkgewohnheiten und Äußerungen im Plauderton permanent verwoben sind. Aurifaber war entscheidend an der Schaffung eines vertrauten Luther beteiligt, mit dem man sich unproblematisch identifizieren konnte. Jede(r) sollte Luther lesen und verstehen können, nicht zuletzt um bei ihm einen Kompass für alle Lebenslagen zu finden. Aber nicht nur Textquellen wie die Tischreden verfügen über monumentale Qualität, ebenso die zahlreich 5 Nach Hirschfelder/Trummer, Bier, 130f. Ausdrücklich verboten war die Hinzunahme von Rauschsubstanzen, wie das Bilsenkraut. 6 Vgl. Hirschfelder, Luther und das Bier, 173. 7 Gewiß bewegt man sich beim Alkoholkonsum auf besonders schmalem Grat. Unkontrolliert und chronisch führt Alkoholkonsum zu Bewusstseinsstörungen, Sucht und Gewaltausbrüchen, siehe u. a. Martin, Alcohol. 8 Johann Aurifaber hatte 1566 erstmals in Eisleben die Colloquia oder Tischreden Doctor Martini Lutheri veröffentlicht. 9 Siehe Beyer, Tischreden; Junghans, Tischreden.
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überlieferten, für jede gesellige Tischrunde unentbehrlichen Humpen und Becher, die Luther angeblich an seinen Mund geführt haben soll. Keine materielle Luthererinnerung ohne die Revue von Bechern und Gläsern! Und der Kelch des reformatorischen Gottesdienstes, gefüllt mit Wein, aus dem der Gläubige beim Abendmahl trinkt, unterstützt ihn dabei, ein authentisches Heilsereignis erinnernd nachzuvollziehen. Der sakramentale Zusammenhang zwischen Trinken und Gedenken soll ebenfalls berücksichtigt werden. Trinken ist bei Luther mehr als physisch-notwendige Bedürfnisbefriedigung. Was, wann, wo und mit wem getrunken wurde, wirft Licht auf zwischenmenschliche Konstellationen und Handlungsmuster, bei denen Erinnerungen oft eine konstitutive Rolle spielen. Sie halfen mit, eine religiöse Identität zu verinnerlichen. 1.
Ein Trinkspiel
Es ist das Jahr 1540 und am Tisch der Luthers – entweder am größeren im ehemaligen Refektorium oder am kleineren in der heutigen Lutherstube – hat sich, wie so oft, eine gesellige Runde versammelt. Mitten auf dem Tisch steht ein riesiges Weinglas, es ist mit drei dünnen Glasfäden in der Waagrechten markiert. Am ersten Strich steht der Schriftzug »Die Zehen Gebott«, am zweiten »Der Glaub«, am dritten »Das Vatter unser« und am Grund des Glases steht »Der Catechismus gar aus«. Das Wetttrinken kann beginnen: Luther soll in einem Zug den gesamten Inhalt geleert haben. Dann lässt er das Glas abermals mit Wein auffüllen und kredenzt es seinem Universitätskollegen Johannes Agricola (1494–1566), der es nur bis zum ersten Strich, bis zu den »Zehn Geboten« schafft. Daraufhin soll Luther bemerkt haben: »Ich wusste es vorhin, dass M.E. [Magister Eisleben alias Agricola, S.L.] die Zehen Gebot sauffen köndte, aber den Glauben, Vater unser und den Catechismus wurde er wol zu frieden lassen.«10 Der in den Tischreden überlieferte Schwank verquickt Trinkfestigkeit und Zechgelage mit seriösen Glaubensfragen. Dass Agricola alkoholischen Getränken nicht ganz abgeneigt war, wie ja Luther auch nicht, mag die Anekdote befeuert haben. Vor allem aber wird launisch auf den sogenannten antinomistischen Streit zwischen Luther und seinem langjährigen Weggefährten hingewiesen. Agricola begann sich in seinem Lebenswandel immer deutlicher von den Gesetzen des Alten Testaments zu distanzieren, bis er letztlich alle Gesetze des Alten Testaments für Glauben und Leben der Christen nicht mehr gelten ließ.11
10 Colloquia oder Tischreden Doctor Martini Lutheri, 624. 11 Siehe Eisenhut, Antinomismus; Kawerau, Streitigkeiten.
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Abb. 1 Titelholzschnitt der Ausgabe der Tischreden Luthers. Quelle: Lutherstadt Wittenberg, Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt Ag fol. 75, Ausgabe Frankfurt a.M. 1568, aus: Antje Heling, Zu Haus bei Martin Luther. Ein alltagsgeschichtlicher Rundgang, Wittenberg 2003, 24.
Prosit Reformation!
Diese »wunderliche Geschicht«12 , wie die Anekdote bei Aurifabers Tischreden überschrieben ist, veranlasste Altgläubige das passende Bildsujet auf Flugblättern zu verbreiten. Sie erschienen aus Anlass des ersten Reformationsjubiläums im Jahr 1617. Der erfolgreichen protestantischen Publizistik, die Luther zu einem Apostel, Propheten und Wundermann stilisierte, wird ein Kontrastmotiv entgegengehalten, wie es dinglicher kaum gedacht werden kann – ein übergroß wiedergegebenes Trinkglas. Ein antilutherisches Flugblatt, großflächig mit dem »Jubel Glaß« illustriert, schmähte in drastischen Worten Luther als genusssüchtigen Trinker (Abb. 2). »Große Gläser aussaufen ist der Lutherischen Wunderwerck« hatte es bereits in einer Abhandlung des Franziskaners und Theologen Johannes Nas (1534–1590) geheißen, die 1569 erschien.13 Das Trinkgefäß, das sogenannte Katechismusglas, stieg zu einer Art Logo auf, um Luther auf den ersten Blick als maßlosen Trinker zu denunzieren und dabei zu insinuieren, dass sich der »Gottesdienst« der Lutheraner im »Saufen« erschöpfe. Nicht ohne Triumphgefühl können sich die Initiatoren des Flugblatts ausdrücklich auf eine lutherische Quelle berufen, auf eine Passage der von Johannes Aurifaber 1566 herausgegebenen Tischreden. Zur postumen Marke Luthers gehört das im Volksmund gerne weitergetragene Bild vom geselligen Tischgenossen, der gerne isst und trinkt. Zahlreiche populäre Erzählungen künden davon.14 Die antilutherische Legendenbildung schreckte auf der anderen Seite nicht davor zurück, Luther als Säufer oder dickwanstigen Kerl in Mönchskutte bloßzustellen. Insbesondere die zahlreichen Becher, die mit Luther in Verbindung gebracht wurden, zogen den Spott der Altgläubigen auf sich: »Die Papisten moquieren sich, daß sich unter D. Luthers Haußrath so viel Becher und Gläser befanden, und geben ihm deswegen die Schuld, als wenn er ein guter Schmauß-Bruder gewesen«.15 Oft wurde auf ein sogenanntes Jubel-Glas hingewiesen, ein Stangenglas mit einer Einteilung in ›Pässe‹. Luther muss zumindest eines dieser Passgläser besessen haben.16 Derartige Gläser wanderten von Tischgenosse zu Tischgenosse. Der Zecher, der seinen Pass nicht traf, musste weitertrinken, bis ihm das ›Kunststück‹ gelang.17 12 So lautet die Überschrift bei Colloquia oder Tischreden Doctor Martini Lutheri, 624. 13 Nasus, Sextae Centuriae Prodromus, 6; ebd., 114f. Siehe auch mit weiteren Belegen Brückner, Luther, 284f. 14 Ebd.; Roper, Der feiste Luther. 15 Von des seeligen D. Martini Lutheri Reliquiis, 180. Bis ins 20. Jahrhundert war in der katholischen Kirchenhistoriographie das Bild eines zechenden Luther präsent, erst einem Jesuiten der Jahrhundertwende gelang eine materialreiche und ausgewogene Annäherung: Grisar, »Der Gute Trunck«. 16 Siehe Abbildung im Ausstellungskatalog: Reine Formsache, 105–110. 17 Nach den Kategorien der Spieltheorie verbanden Trinkspiele Wettkampf (Agon) und Rausch (Ilinx). Vgl. Caillois, Spiele.
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Abb. 2 Antilutherisches Flugblatt aus dem Jahr 1618 mit dem »Jubel-Glaß«. Quelle: Coburg, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Inv. Nr. XIII, 42, 78, aus: Fundsache Luther. Archäologen auf den Spuren des Reformators, hg. v. Harald Meller. Begleitband zur Landesausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle/ Saale, Darmstadt 2008, 104.
In der frühen Neuzeit war der echte Mann derjenige, der den Alkohol besiegte, nicht weil er sich davon fern hielt, sondern weil er mithalten konnte, ohne dass ihm diese Flüssigkeit die Besinnung raubte.18 Die Bändigung des eigenen Körpers auch in extremen Situationen stand für Kraft und Überlegenheit, sie vollzog sich nicht im anonymen Winkel, sondern auf den kleinräumigen Bühnen des Wirtshauses.19 Wenn in einer geselligen Runde einer der Teilnehmer einen Becher gegen einen Zechgenossen erhob, einen kurzen Segenswunsch 18 Vgl. Frank, Trunkene Männer und nüchterne Frauen; Pulz, Gula vs. Abstinentia. 19 Kümin, Wirtshäuser.
Prosit Reformation!
aussprach und den Inhalt in einem Zug leerte, so geboten Konvention und Ehre, dass der andere ihm ›Bescheid‹ gab, indem auch er sein Gefäß austrank, ohne das Glas aufzusetzen.20 Mit sinnentleertem Besäufnis sind derartige Trinkpraktiken nur unzureichend gekennzeichnet. Seit jeher versicherten sich Gemeinschaften durch kollektives Zutrinken ihrer gemeinsamen Werte sowie ihrer gegenseitigen Unterstützung in Notlagen, wie das seit dem frühen Mittelalter bei Gildemählern üblich war.21 Es stellt sich die Frage, inwiefern im ehemaligen Augustinerkloster in Wittenberg, wo Luther mehr als dreißig Jahre lebte und wirkte, derartige Trinksitten Usus gewesen sind. Luther hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er gerne Bier und Wein trank, wenn auch der allseits bekannte Spruch »Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang« wie so mancher andere Luther zugeschriebene Sinnspruch nicht von ihm selbst stammt.22 Frönte Luther als Mann unter Männern demnach Ritualen der Trinkfestigkeit in feucht-fröhlichen Runden?23 Das würde bedeuten, dass stets erneut Anlass bestand, kollektive Identitäten und gemeinsam geteilte Erinnerungen zu bekräftigen. 2.
Erinnerungspotenzial geselliger Runden: Worte und Geschirr
Gefäße, Sitzgelegenheiten und einen Tisch – mehr brauchte man nicht, um in geselliger Runde mit- und aufeinander anzustoßen.24 Im zum Lutherhaus umfunktionierten ehemaligen Augustinerkloster kamen dafür vor allem zwei Örtlichkeiten in Frage: das Refektorium im Erdgeschoss sowie die Lutherstube in der ersten Etage.25 Der ehemalige Speisesaal des Klosters behielt seine Funktion. Dort befand sich ein größerer länglicher Tisch, wo sich die Angehörigen des Haushaltes sowie die Gäste Luthers regelmäßig zu den Hauptmahlzeiten am späten Vormittag und frühen Abend versammelten. Bis zu fünfzig Personen wurden dort bewirtet, so groß war Luthers Hausstand.26 20 Jancke, Gastfreundschaft, 363f. 21 Schubert, Essen und Trinken, 270–273; Tlusty, Vertrinken. 22 Das Diktum in dieser Form tauchte erst im Zeitalter der Aufklärung auf, siehe Mieder, »Wein, Weib und Gesang«. Auch das bekannte »Warum rülpset und furzet Ihr nicht, hat es euch nicht geschmecket?« lässt sich bei Luther nicht nachweisen. 23 Karant-Nunn, Masculinity. 24 Siehe umfassend zum Gastmahl (convivia) in der Frühen Neuzeit Jancke, Gastfreundschaft; zum Gastmahl im Alten Rom mit Hinweisen zur kulturanthropologischen Literatur SteinHölkeskamp, Gastmahl, 11f. 25 Vgl. Bräuer, trink’, was klar ist. 26 Vgl. Heling, Zu Haus bei Martin Luther, 21–24.
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Einen privateren Bereich betrat man mit der Lutherstube, wo am dortigen Tisch kaum mehr als acht Personen Platz fanden. Dort wird man sich nach den Mahlzeiten im Kreis der engeren Freunde und Gäste getroffen haben.27 Ob nun im Refektorium oder in der Lutherstube, so mancher Teilnehmer an der Tischrunde machte sich Notizen von den Gesprächen, die später in einer vielschichtigen, kaum mehr zu entwirrenden Redigierungsprozedur als »Tischreden« Furore machen sollten.28 Bei den Tischreden ist man den Tücken von Selbstzeugnissen ausgesetzt, die – von Dritten verfasst – nie ohne Trübung sein können.29 Wie schon angedeutet wurden die Tischreden mehrfach überarbeitet und immer wieder neu zusammengestellt. Nichtsdestoweniger geht (auch) die neueste Forschung bei dieser Überlieferung von einem beachtlichen Authentizitätsgrad aus.30 Gewiss wurde an Luthers Tisch nicht alles mitgeschrieben, vielmehr nur das, was der Berichterstatter für wichtig hielt. Dabei kam eine Vielfalt von Themen zur Sprache – Theologisches ebenso wie Alltägliches. Es schien so, als ob über alles debattiert wurde, was Interesse versprach, über Geister, Hexen, Missgeburten und Naturereignisse. Wenn auch häufig die Gespräche erst im Nachhinein aus dem Gedächtnis fixiert worden sind, wird es hin und wieder vorgekommen sein, dass der »Protokollant« während des Gesprächs am Tische saß und sich Notizen machte. Die Unmittelbarkeit der Gespächssituation mag dann bisweilen beeinträchtigt gewesen sein, da man sich beim Plaudern beobachtete, in seiner Spontaneität gehemmt war und nicht das sogleich sagte, was man dachte, sondern das, was man für überlieferungswürdig ansah. Jedenfalls spiegelt das eifrige Mitschreiben Motive der Imagebildung und Nachwirkung, gerade beim älteren Luther. Je betagter der Reformator wurde, desto mehr sprach er »für die Nachwelt, gleichsam als Denkmal seiner selbst«.31 Aber es gibt bereits aus früheren Jahren signifikante Beispiele geselliger Runden, aus denen eindeutig hervorgeht, dass Luther an seiner Nachwirkung strickt. So hat ihn das sonst gepflegte millinaristisch-apokalyptische Weltbild32 nicht daran gehindert, genau zehn Jahre nach seinem Thesenanschlag am 1. 27 Zur Lutherstube als Erinnerungsort bzw. dem dortigen meist postumen Mobiliar vgl. Laube, Das Lutherhaus Wittenberg, 93–99. 28 Bis in das 19. Jahrhundert hinein war die von Aurifaber besorgte Ausgabe maßgeblich an der Konstruktion des Lutherbildes beteiligt. Vgl. Junghans, Luthers Tischreden, 7–11; Michel, Tischreden. 29 Rutz, Selbstzeugnisse. 30 Die originalen direkten Nachschriften sind verloren gegangen. Im besten Fall sind die ersten Überarbeitungen dieser Nachschriften erhalten. Meistens jedoch sind es Abschriften der ursprünglichen Bearbeitungen oder Abschriften der Abschriften. Dabei wurden manche Inhalte rückwirkend hinzugefügt. Vgl. Leppin, Erinnerungssplitter. 31 Schilling, Luther, 350. 32 Siehe Schulin, Luther; Schmidt, Geschichte.
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November 1527 seine Freunde zu sich einzuladen, um an den Beginn der Reformation zu erinnern.33 Die Pflege einer für die eigene Identität besonders wichtigen Erinnerung vereinigte sich mit dem Akt des geselligen Trinkens. So schließt der lateinische Brief an Nikolaus von Amsdorf (1483–1565) mit der Formel »Wittembergae die Omnium Sanctorum, anno decimo Indulgentiarum conculcatarum, quarum memoria hac hora bibimus utrinque consolati, 1527.«34 Darüber hinaus könnte hier die Keimzelle des historischen Jubiläums liegen, aus der dann im 17. Jahrhundert die öffentlichkeitswirksamen runden Jahrestage hervorgehen sollten.35 Wenige Jahre später fixierte Luther bei einer geselligen Tischrunde ein noch früheres Ereignis aus seiner Vita: die reformatorische Entdeckung um 1515. Im März 1532 beklagte Luther sich über Festungsbauarbeiten an seinem Wohnhaus, die sein klösterliches Turmzimmer gefährdeten: »Lebe ich noch ein jar, so muß mein armes Stublin hinweg, daraus ich doch das bapstumb gesturmet habe propter quam causam dignum esset perpetua memoria.«36 Diese bereits Anfang der 1530er Jahre virulenten Tendenzen der monumentalen und personellen Fokussierung kulminierten in der Gesamtausgabe seiner Schriften, die noch zu Luthers Lebzeiten erschienen.37 Praktiken der Memoria und des Trinkens können vielfältige Formen annehmen. Bewegten wir uns bisher bei den Tischgesprächen im medialen Rahmen von Rede, Schrift und handschriftlichem Text, der postum gedruckt wird, kann Erinnerung auch unmittelbar aus Dingen schöpfen, an ihnen Prägnanz gewinnen. Wenn auch nur vermutet werden kann, was genau auf dem Tisch des Reformators platziert war, so kann man davon ausgehen, dass Trinkgeschirr niemals fehlte,38 meist wohl banale Humpen aus Keramik oder Zinn. Bisweilen wurden bei Luthers aber auch ausgefallene Gerätschaften aufgetischt, denen allein schon als Souvenir Erinnerungswert zugeschreiben werden muss. Die heute oft wegen ihrer zweifelhaften Herkunft mit dem Zusatz ›sogenannt‹ oder ›angeblich‹ versehenen Lutherbecher und -gläser verkörpern in gewisser Weise den beleibten, den genussfreudigen Luther, so wie er auf späteren Bildern stets dargestellt worden ist.39 Luther besaß nachweislich eine große Anzahl von 33 WAB 4, 275. 34 Ebd. [Zu Wittenberg, am Tag Allerheiligen, im zehnten Jahr nach der Abschaffung des Ablasses, trinken wir im Gedenken an beides und von beidem getröstet, 1527, Übersetzt vom Verf.] 35 Müller, Jubiläum. 36 WATR 2, 509. Siehe zu den archäologischen Spuren im Lutherhaus dieses als plötzliche reformatorische Erkenntnis (»Turmerlebnis«) dargestellten Durchbruchs in der theologischen Denkbewegung Luthers: Junghans, Wittenberg, 71f. 37 Sie wurde weniger von Luther selber als durch sein Umfeld in die Wege geleitet, vgl. Leppin, Monumentalisierung. 38 Siehe Jancke, Gastfreundschaft, 362–374. 39 Vgl. Roper, Der feiste Doktor.
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repräsentativen Trinkgefäßen, die er von Freunden und Gönnern geschenkt bekam.40 Mehr als fünfzehn Trinkgefäße aus Kirchenschätzen und Museen zählt eine 1879 gedruckte Zusammenstellung auf (Abb. 3).41 Ihre Formsprache zeichnete sich durch besondere Vielfalt aus. Schlichte Humpen befinden sich kaum darunter, dafür elaborierte Gefäße aus Silber oder Glas. Manche, wie das sogenannte Nesensche Lutherglas, das sich heute im Grünen Gewölbe zu Dresden befindet, war von späteren Besitzern zu prächtigen Gestellen umgearbeitet bzw. ergänzt worden, die wie Reliquiare anmuten.42
Abb. 3 Phalanx der Luther zugeschriebenen Trinkbehälter. Quelle: Illustrirte Zeitung vom 1. November 1879, Nr. 1896, 358f, aus: Luthermania. Ansichten einer Kultfigur, Ausstellungskatalog für den Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel, hg. v. Hole Rößler, Wiesbaden 2017, 83.
Bei Luthers zu Tisch findet übrigens auch ein mittelalterliches Glas Erwähnung, mit dem traditionell die imposante Reliquienweisung unter Kurfürst Friedrich dem Weisen (1463–1525) eröffnet wurde und das, nachdem es Luther geschenkt worden war, für kollektive Trinkrituale genutzt wurde. Jedenfalls 40 Vgl. Heling, Zu Haus bei Martin Luther, 64f. 41 Vgl. Küchenmeister, Luther-Becher. 42 Vgl. Arnold, Lutherandenken.
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ist in einer Predigt, die sein vertrauter Schüler und Tischgenosse Johannes Mathesius (1504–1565) hielt, rückblickend für das Jahr 1541 dokumentiert: »Er holet auch ubern tisch ein christallinen Glaß, das Sanct Elisabeth solt gewesen sein, darein schencket er selber und ließ einen rundtrunck umbber gehen.«43 Auch von diesem Utensil, »daraus er unnd sein trewlose Nunn, jhren gesten haben gute rundtrünck zugesuffen«44 ließ sich Nas zu einer Invektive hinreißen. Ursprünglich aus dem Besitz der Heiligen Elisabeth (1207–1231) war das Glas gesättigt mit heterogenen Erinnerungen (Abb. 4). Als Bestandteil einer Serie verwandter, aber nicht identischer Gläser – den »Hedwigsbechern« – ist diese Rarität wahrscheinlich im östlichen oder südlichen Mittelmeerraum hergestellt worden. Formal handelt es sich dabei um einen kleinen dickwandigen, reich verzierten Becher aus dem Hochmittelalter; sein oberer Durchmesser beträgt genau, seine Höhe wenig mehr als zehn Zentimeter.45 Anfang des 16. Jahrhunderts war das Elisabethglas, wie der Holzschnitt von Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553) im Heiltumsbuch von 1509 belegt,46 prominenter Bestandteil der Wittenberger Reliquiensammlung Friedrichs des Weisen.47 Das nun mit Reliquien gefüllte Glas eröffnete traditionell die Reliquienschau.48 Mit dieser Inszenierung stellte sich der wettinische Kurfürst bewusst in die Tradition dieser populären Heiligen, mit der er sich zudem verwandt glaubte. Spätestens im Jahr 1541 war Martin Luther Besitzer dieses Glases. Die heilige Elisabeth gehörte zu den wenigen Heiligen des Mittelalters, der auch Luther seine Verehrung nicht versagte. Es ist davon auszugehen, dass er dieses Glas entweder von Kurfürst Johann dem Beständigen (1468–1532) oder Kurfürst Johann Friedrich dem Großmütigen (1503–1554) geschenkt bekommen hat.49 Das Objekt veranlasste also dazu, nicht nur an eine Heilige zu gedenken, sondern ebenso an die Traditionspolitik und Repräsentation wettinischer Kurfürsten. Die Funktion eines Bechers besteht darin, ihn zum Mund zu führen und daraus zu trinken – eine demonstrative Handlung, die mit unmittelbarer Hap43 Mathesius, Luthers Leben, 434. Die Passage ist der siebzehnten Lutherpredigt Mathesius’ entnommen, die er 1564 hielt und »Doctor Lutheri seligen Berghistorien und – sprüchen« gewidmet ist. 44 Nasus, Quintae Centuriae Prodromus, 122a. Siehe auch Volz, Lutherpredigten, 28. 45 In seiner Gestalt kann das Gefäß die Anmutung eines Whiskeyglases nicht ganz verleugnen. 46 Dye zaigung des hochlobwirdigen hailigthums, unpag. 3v . 47 Cárdenas, Wittenberger Heiltumsbuch, 3f. 48 Wer die Reliquien im Glas am Montag nach Misericordias Domini sowie am Allerheiligentag bei ihrer Weisung in der Schlosskirche zu Wittenberg andächtig betrachtete und bestimmte Gebete rezitierte, der erhielt einen genau definierten Ablass, d. h. ihm wurde für gebeichtete Sünden eine entsprechende Frist seiner Leidenszeit im Fegefeuer erlassen. 49 Vgl. Moeller, Eine Reliquie Luthers, 249–262. Heute zählt das Elisabethglas im Museum auf der Veste Coburg zu einem der wertvollsten Ausstellungsstücke.
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Abb. 4 Das Hedwig- oder Elisabethglas (13. Jahrhundert). Quelle: Coburg, Kunstsammlungen der Veste Coburg, aus: Stefan Laube, Von Der Reliquie zum Ding. Heiliger Ort – Wunderkammer – Museum, Berlin 2011, 200.
tik und Einverleibung des Inhalts einhergeht.50 Sind die Gefäße von bedeutenden Menschen benutzt worden, dann verwandeln sie sich in Requisiten einer performativen Gedenkzeremonie. Für Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) war die sakral-museale Umwandlung der Schlosskirche durch Friedrich Adler (1827–1908) bei der feierlichen Wiedereröffnung im Jahr 1892 Anlass, in Analogie zum Abendmahl Jesu Christi aus dem Mundbecher Luthers zu trinken.51 Auch der Leipziger Pfeifenbecher, den 1536 der schwedische König Gustav Wasa (1496–1560) Martin Luther schenkte, wurde zum Umtrunk bei offiziellen Anlässen benutzt, etwa 1900 vom selben Kaiser zur 700-Jahrfeier des Mansfelder Bergbaus oder noch vor wenigen Jahren von der schwedischen Königin Silvia bei ihrem Besuch in Leipzig.52 Auf der Zusammenstellung durch Friedrich Küchenmeister (1821–1890) ist auch ein stattliches Glas abgebildet (Abb. 3, unten links), das bis heute zum Inventar der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel gehört (Abb. 5). Das Stangenglas wurde zusammen mit anderen Luther-Raritäten spätestens seit dem 18. Jahrhundert in einem grünen Schrank aufbewahrt und Besuchern der Wolfenbütteler Bibliothek gezeigt. Die Gesamtansicht zeigt ein imposantes Beispiel eines Trinkgefäßes aus dem 16. Jahrhundert. Vom Genre her handelt es sich um ein sogenanntes Stangenglas mit vierzig Spitznuppen. Bestehend aus grün schimmerndem Waldglas, das in Waldhütten diesseits der Alpen seit dem späten Mittelalter produziert wurde, mögen die Nuppen, wiewohl selbst empfindlich, neben ihrem dekorativen Zweck als griffiger Grund gedient haben, damit das 50 Vgl. MacGregor, Kommunion und Gewissen; Seitter, Physik des Weinglases. 51 Vgl. Treu, Lutherstadt, 62f. 52 Vgl. Meller, Fundsache Luther, 310.
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Abb. 5 Sogenanntes Trinkglas Martin Luthers. Quelle: HAB Wolfenbüttel, KGS 1, aus: Luthermania. Ansichten einer Kultfigur, Ausstellungskatalog für den Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel, hg. v. Hole Rößler, Wiesbaden 2017, 140.
teure Glas beim Gebrauch nicht aus der Hand rutschte – ein ideales Gerät für Trinkspiele also.53 Im Zentrum eines 1535 in Augsburg hergestellten Stiches, der eine aus dem Ruder gehende Zecherrunde zeigt, nicht ohne auf Schrifttafeln vor den Gefahren des Zutrinkens zu warnen, ist wohl nicht zufällig mittig ein mit Noppen versehenes Stangenglas positioniert, das von einem älteren vollbärtigen Mann mit seiner Hand allenfalls zur Hälfte umfasst wird (Abb. 6).54 Mit dem Exemplar aus Wolfenbüttel sind aber nun weniger Saufexzesse als mehrschichtige Memoriaqualitäten verknüpft. Ein Schenkungsbrief dokumentiert, dass sein letzter Besitzer, der Sondershäuser Pastor David Nikolaus Reinhart (1628–1682), das Glas Herzog Rudolf August von Braunschweig-Wolfenbüttel
53 Zur Gattung der Nuppenbecher Kahsnitz, Gläser, 43–49. 54 Stich aus: Schwarzenberg, Der Teütsch Cicero.
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Abb. 6 Titelholzschnitt von Johannes von Schwarzenberg, Der Teütsch Cicero […], Augsburg: Steiner 1535. Quelle: HAB Wolfenbüttel, A: 12 Eth. 2° [1]).
(1627–1704) geschenkt hat.55 Für den frommen Herzog, der sich auch um die Sammlung von Luther- und Reformationsschriften verdient gemacht hat, war das Glas sicherlich ein besonders attraktiver Gegenstand, der zudem geeignet war, den Aufbau der Wolfenbütteler Kunst- und Raritätensammlung voranzutreiben. Im Begleitschreiben vom 28. Januar 1680 hat Reinhart die Provenienzgeschichte des Glases niedergelegt, worin er den Besitz des Glases bis auf Luthers Weggefährten Justus Jonas (1493–1555) zurückführt, der es von Luther persönlich als Geschenk erhalten haben soll.56 Das Problem dabei ist, dass zahlreiche Memorabilien-Jäger diese Geschichte kolportierten und sich im Besitz des authentischen Luther-Jonas-Glases wähnten. Offensichtlich wollte der Schenker Reinhart das Wolfenbütteler Glas aufwerten, indem er das Glas zu den letzten Tagen Luthers in Beziehung setzte. Der betagte Luther war am 25. Januar 1546 auf seiner letzten Reise nach Eisleben in Halle eingetroffen, um Justus Jonas zu besuchen. Bei Tisch soll Luther aus dem neuen, ihm mitgebrachten Glas getrunken und folgenden lateinischen Trinkspruch kundgetan haben: »Dat vitrum vitreo Jonae vitrum ipse Lutherus, Ut vitro fragili similem se noscat uterque«57 . Der Trinkspruch, der auf die Zer- und Gebrechlichkeit allen Seins hinweist, fungiert als memento 55 Vgl. Baum, Luther, der Trinker. 56 Spielhagen, Sippenverband, 86f. Jonas vermachte das Glas dem Halberstädter Stiftskanzler Peter von Boetticher aus Nordhausen, dem Paten seines Sohnes. Von ihm gelangte das Gefäß zu seinem Sohn Justus, der zugleich Bürgermeister von Nordhausen war. Dessen Sohn wiederum stand in Diensten der Schwarzberg’schen Herrschaft in Kelbra, der das Glas dem Sondershäuser Archdiakon Reinhart aushändigte. 57 [Dem alten Dr. Jonas bringt Dr. Luther ein schön’ Glas, | Das lehrt sie alle beide fein, daß sie zerbrechliche Gläser sein] Mathesius, Luthers Leben (14. Predigt), 173.
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mori, der zusätzliche Brisanz erhielt, weil Luther gut drei Wochen später am 18. Februar 1546 in Eisleben im Beisein von Jonas starb. Die memoriale Kraft des Wolfenbütteler Stangenglases schöpft auch daraus, dass bewusst in der Schwebe gelassen wurde, ob Luther aus diesem Becher im Totenbett seinen letzten Schluck genommen hat.58 3.
Alkoholrausch, Gottesnähe und sakramentales Trinken
»Sobriety diminishes, discriminates, and says no; drunkenness expands, unites, and says yes. It is in fact the great exciter of the Yes function in man.«59 William James (1842–1910) parallelisierte in seinem religionsgeschichtlichen Klassiker The Varieties of Religious Experience (1902) mystische Erfahrungswerte mit Bewusstseinszuständen, die von Anästhetika wie Alkohol erzeugt werden. Als Gottesgeschenk wohnte dem alkoholischen Getränk in pagan-antiken und indigenen Kulturen seit jeher das Potenzial inne, eine Vereinigung mit den Göttern herbeizuführen.60 Die Gärung, die enzymatische Umwandlung organischer Stoffe in Alkohol, kann geradezu als Medium der Gottesbeziehung bezeichnet werden. Nicht zuletzt der Konsum von Alkohol befähigt den Schamanen, den Körper zu verlassen und imaginäre Fernreisen zu unternehmen. Nach Hermann Knaust, einem viel gereisten Kanoniker und Konvertiten, der 1575 ein berühmtes Bier-Buch veröffentlichte, waren es die ägyptischen Götter Isis und Osiris, die den Deutschen das Bierbrauen beibrachten.61 Bereits die wiedergefundene ethnographische Schrift Germania des Tacitus, die 1473 in einem Nürnberger Druck erschien und dann immer wieder neu herausgegeben wurde, verquickte die innige Beziehung der Germanen zum Gerstensaft mit Götterfiguren, wie Isis, Osiris und Gambrinus.62 Beim Weingenuss war es Dionysos bzw. Bacchus, die gefeiert wurden. In dionysischen Festen fand Gottesnähe in Alkoholexzessen ihren Ausdruck. In Mythen und Sagen ist der Wein als 58 Luthers letzter Becher gehörte wohl zu den Requisiten der Sterbephase, die bis ins 18. Jahrhundert mit Bett und Lehnstuhl in der Gräflichen Kanzlei zu Eisleben Reisenden gezeigt wurden. Vgl. Steffens, Luthergedenkstätten, 93–96; Laube, Materie. Als ob das Wolfenbütteler Glas als Vorlage gedient hätte, zeigt das Historiengemälde von William Pape aus dem Jahr 1905 ein ähnliches Trinkgefäß. 59 James, Varieties, 387; vgl. auch Hampel, Mystik. 60 Vgl. Albert, Le vin sans l’ivresse; Hell, La force de la bière, 114–116. 61 Vgl. Knaust, Fünff Bücher. Als gebürtiger Hamburger und Protestant war er vor seinem Eintritt ins Erfurter Martinsstift katholisch geworden. 62 Vgl. Meußdoerffer/Zarnkow, Das Bier, 94; Spode, Trunkenheit, 70–72; auch Luther hob hervor, dass Gott dem Menschen Getreide gegeben habe, damit er sich Brot und Bier einverleiben könne.
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Rauschtrunk prominent vertreten. Und auch die Bibel macht darin keine Ausnahme. Noah als Stammvater der neuen Menschheit übte die Tätigkeit eines Weinbauern aus (Gen 9,20). Die Trunkenheit Noahs, dessen Blöße von seinen Söhnen bedeckt wird, ist ein beliebtes Sujet der Malerei gewesen. Das erste Wunder, von dem im Neuen Testament die Rede ist, ist die Umwandlung von Wasser zu Wein bei der Hochzeit zu Kanaa (Joh 2,1–11). Eine totale Abstinenz lässt sich durch die biblischen Texte jedenfalls nicht stützen. Gerade das sich ursprünglich im mediterranen Raum etablierende Christentum war durchtränkt mit Weinbau und Weingenuss.63 Keine Kirche ohne geweihtes Brot und geweihten Wein. Und auch in lutherischen Gotteshäusern wurde und wird während des Gottesdienstes nicht nur gebetet, zugehört und gesungen, sondern auch im Rahmen des Abendmahls eine Hostie verspeist und aus dem Kelch getrunken. Die Urszene hat Lucas Cranach d.Ä. auf dem 1547 vollendeten Altarbild der Stadtkirche zu Wittenberg in kraftvollen Farben dargestellt: An einem einladenden runden Tisch sind die Protagonisten von Neuem Testament und der Reformation versammelt (Abb. 7).64 Man übt sich nicht gerade in Askese, vielmehr zeigt die Tafel, dass soeben ein Tier – vielleicht ein Hase – verspeist worden ist. Martin Luther als Junker Jörg setzt sich in lebensbejahender Pose in Szene, er reicht dem Mundschenk, in dem man Lucas Cranach d.J. (1515–1586) wiedererkennen kann, seinen eben geleerten Becher.
63 Siehe zur Sakralkultur des Weins Schreiber, Deutsche Weingeschichte, 31–49, 333–355; Thomas, Darstellung Christi. 64 Vgl. Steinwachs/Pietsch, Reformationsaltar.
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Abb. 7 Lucas Cranach d. Ä., Reformationsaltar (Mitteltafel) in der Wittenberger Stadtkirche St. Marien, 1540–1547. Quelle: Steinwachs, Albrecht, Der Reformations-Altar von Lucas Cranach d.Ä. in der Stadtkirche St. Marien, Wittenberg 1998, 9.
Wie Paulus im Korintherbrief ausführt, sei das Abendmahl nicht geschaffen worden, um herkömmliche Mahlzeiten zu ersetzen und sich satt zu essen: »Hat jemand Hunger, so esse er daheim, auf dass ihr nicht zum Gericht zusammenkommt.« (1Kor 11,34) Liturgisch betrachtet war die Einverleibung dieser Substanzen mit einem kommemorativen Imperativ verbunden.65 Indem man
65 »Desgleichen nahm er auch den Kelch nach dem Mahl und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund mit meinem Blut; das tut, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis. Denn sooft ihr von diesem Brot esst und von dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis
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tatsächlich isst und trinkt, soll man die Geschehnisse der letzten Stunden im Leben Jesu Christi vergegenwärtigen, d. h. am eigenen Leib nachvollziehen. Hinter diesem gemeinschaftsbildenden Erinnerungsritual verbirgt sich wohl das heiligste Mysterium der christlichen Religion: Die Realpräsenz Christi in Brot und Wein, gegessen und getrunken von den Gläubigen. Konkreter und innerlicher kann sich Gott nicht präsentieren, als in einer Substanz, die man in seinem eigenen Körper verarbeitet.66 Auch wenn Luther diese Verdauungsthese wohl entschieden zurückgewiesen hätte – für ihn war die Zusprache zentral und damit der Gedanke, dass sich Christus tatsächlich für den Gläubigen hingibt –, ist damit noch wenig über die Empfindung von Gläubigen gesagt, die am Abendmahl teilnehmen. Und auch in Gelehrtenkreisen lag zu Luthers Zeiten bei der Assimilation von Flüssigkeiten im Leib, ihrer Zersetzung im Magen, die Vorstellung eines mechanischen Stoffwechselvorganges fern, vielmehr meinte man darin eine geheimnisumwobene Umwandlung wahrzunehmen.67 »Davon Christus sagt, daß sein Fleisch und Blut des selbigen Speise und Trank sei, als spreche die Erde zu ihren Kindern: esset, das bin ich«68 – mit diesen Worten, die die Einsetzung des Abendmahles rekapitulieren, beschreibt Paracelsus (1493–1541) den Austauschprozess zwischen Menschenkörper und äußeren Stoffen, die aus der mystisch verehrten Gaia stammen. Blut und Fleisch als essenzielle Stoffe des menschlichen Körpers finden in Wein und Brot als Lebenselixiere ihr Analogon, nicht nur, weil Blut und Wein flüssig sind bzw. Fleisch und Brot fest, sondern auch, weil sich Wein und Brot durch Fermentierung wandeln bzw. veredeln.69 Hinter der Gärung verbirgt sich Alchemie, weil aus Zerfall und Fäulnis eine Wiederbelebung der Materie erfolgt. Insofern machen Brot und Wein auf der materiellen Ebene vor, was dann die Transsubstantiation in der spirituellen Sphäre vollziehen wird. Für viele, die außerhalb der Strukturen des orthodoxen Luthertums einen direkten Weg zu Gott suchten, lag es nahe, in Brot und Wein, die bei Einverleibung die Lebenskraft erhalten und durch Gärung ihren Charakter verändern, auch so etwas wie ein natürliches Sakrament zu sehen.70 Gerade im frühen Christentum,
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er kommt.« (1Kor 11,25). Siehe Wendebourg, Essen zum Gedächtnis, 139–203; Schattauer, From Sacrifice to Supper; Karant-Nunn, Reformation, 107–137. Siehe Böhme, Transsubstantiation. Zu den Bezügen der oralen Einverleibung Gottes bei den Griechen vgl. Kott, Gott-Essen. Bei Paracelsus und seinen Anhängern beispielsweise war von einer Geistwirkung die Rede, von einem Archeus als »innerer Alchemist«. Vgl. Kühlmann/Telle, Frühparacelsismus, 170. Paracelsus, Philosophia sagax, 73. Zur Semantik des Alkohols im Gottesdienst auch Tlusty, Bacchus, 104–107. Vgl. Arndt, Vier Bücher, 45f; siehe zur Tinktur, die als fünftes Element Brot und Wein innewohnt, Böhme, De testamentis Christi [1624]; vgl. auch Kamper, Hermetik, 170f; Lang, Heiliges Spiel, 357f.
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aber auch später wurden diese alltäglichen Lebensmittel – bisweilen abgöttisch – verehrt.71 Besonders problematisch war der 25 Mal im Neuen Testament erwähnte Wein, der – weil flüssig – leicht verschüttet werden konnte. Um dies zu verhindern, stellte man Saugröhrchen aus Glas oder Edelmetall her, aus denen man das im Kelch befindliche Weihegetränk einsog.72 Wenn auch Luther die katholische Idee der Transsubstantiation ablehnte – die Doktrin, dass die Konsekrationsworte des Priesters die Substanzen umwandeln könnten – so war er weiterhin von der Realpräsenz Christi in der Eucharistie überzeugt. Dieser Aspekt, der die reformatorische Bewegung spalten sollte, entfachte in Luthers letztem Lebensjahrzehnt seine »tiefsten Energien«.73 Es sieht so aus, dass sich auch Luther zur Vertiefung seines Glaubens des tertullianischen »credo quia absurdum est« bediente, indem er sich weigerte, dem gesunden Menschenverstand nachzugeben, zwischen Zeichen und Bezeichnetem zu unterscheiden und stattdessen darauf insistierte, dass Brot und Wein mit den Einsetzungsworten beim Abendmahl eine neue Qualität erlangten. Von nun an galt die Formel, dass Christus in, mit und unter Brot und Wein gegenwärtig sei. Kein noch so gutes Argument brachte Luther davon ab. Mit der spirituellen Formel »Das Fleisch ist zu nichts nutze« seiner Kontrahenten Huldrych Zwingli (1484–1531) und Johannes Oekolampad (1482–1531) während des Religionsgesprächs in Marburg (1529) konnte Luther nicht viel anfangen. Die Gegenwart Christi war bei ihm nicht abgekoppelt vom physischen Vorgang des Essens und Trinkens.74 Gepaart mit dem Wort Gottes ergab sich daraus eine wirkungsvolle Kraft. In Luthers Enchiridion. Der kleine Catechismus (Wittenberg 1529), wo in einfachen Fragen und Antworten der Sinn des Abendmahlsgeschehens vermittelt wird, heißt es: »Wie kan leiblich essen und trincken solch gros ding thun?« [d. h. Vergebung der Sünden, S.L.], worauf entgegnet wird: Essen und trincken thuts freylich nicht, Sondern die Wort so da stehen, Für euch gegeben und vergossen zur vergebung der sunden, Welche wort neben dem leiblichen essen und trincken als das heubtstück ym sacrament. Und wer den selbigen worten gleubt, der hat was sie sagen und wie sie lauten, nemlich Vergebung der sunden.75
71 Ebd., 322–339. 72 In Hamburg war es der 1756 verstorbene Pfarrer und Kirchenlieddichter Erdmann Neumeister, der den Gebrauch des Saugröhrchens eifrig propagierte. Boehmer, Der Wein, 27. 73 Roper, Mensch Martin Luther, 26, vgl. auch 352–393; siehe auch Schilling, Luther, 403–415. 74 Nach Roper, Mensch Martin Luther, 535. 75 (Hervorgeh. im Orig.) Luther, Kleiner Katechismus, in: WA 30,1, 317,28–319,7.
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Würdig erweist man sich für das Abendmahl durch vorheriges Fasten, wichtiger sei aber der Glaube an die Wirkungskraft dieser Worte.76 4.
Zwischen Lebensmittel und »Saufteufel«
Es ist nicht ausgeschlossen, dass Luthers eindringliches Eintreten für seine Abendmahlsidee, die dem Göttlichen mit Hilfe von körperlichen Substanzen, nämlich Wein und Brot, eine neue Qualitätsstufe verleiht, auch im Alltag ein ungezwungenes Verhältnis bei Mahlzeiten befördert hat.77 Wurde der Konsum von Brot und Wein dadurch nicht auf ungeahnte Weise auratisiert bzw. der Gottesdienst veralltäglicht? Luther sah in Essen und Trinken wohl nie eine lästige Notdurft, sondern ein freudig-lustvolles Ereignis.78 Regelmäßig trank Luther Bier und Wein. Beim Gerstensaft schätzte er starkes Bockbier ebenso wie das Selbstgebraute seiner Ehefrau Katharina von Bora.79 Gerade im nördlichen Deutschland wurde in zahlreichen Haushalten mehrmals im Monat Bier gebraut. Der Alkoholgehalt lag dabei deutlich niedriger als heute. Bier gab es in verschiedener Stärke vom kräftigen Exportbier bis zum Dünnbier oder Koferit, der auch Kindern verabreicht wurde.80 Da das für Bier benötigte Wasser gekocht werden musste, war es frei von Keimen und damit weitaus gesünder als das aus dem Brunnen gehobene Wasser. Wahrscheinlich gab es bis zum 18. Jahrhundert kaum einen Menschen – vom Baby bis zum Greis, vom Bauern bis zum Adligen –, der nicht jederzeit mehr oder weniger Alkohol im Blut hatte – anders hätte man damals
76 Luther war von der schaffenden Kraft des Gotteswortes überzeugt: »Gleich wie Gott Alles aus Nichts machet und aus Finsterniß schaffet das Licht, also machet auch sein Wort, daß im Tode nichts denn Leben sein muß«. WATR 6, 10 (Nr. 6515), 15. Hans-Georg Kamper hat hervorgehoben, dass Luther die katholischen Bräuche der Magie, wie Weihrauch und Weihwasser, keineswegs überwindet, sondern durch die »Universal-Kraft« des Wortes ersetzt, »die in ihrer Wirkung der ›weißen Magie‹ entspricht, weil sie unmittelbar die ›schwarze Magie‹ des Teufels geradezu wegzubannen vermag«. Kamper, Hermetik, 130–135, hier 131. 77 Kennzeichen der biographischen Lutherforschungen von Lyndal Roper ist die Verkopplung von alltäglichen und körperlichen Verrichtungen mit theologischen Ansätzen. Insbesondere sie hat den naheliegenden Zusammenhang zwischen Luthers Bejahung körperlicher Freuden und seinem Sakramentsverständnis herausgestellt. 78 »Also seind wir recht geleeret unnd doch nicht hoch beschwärt, und were uns unverbotten essen, trincken und klaiden zur notdurft und auch zu ehren und freüden.« (WA 47, 768,14–16). 79 Gebraut wurden in dem Wohngebäude bzw. ehemaligen Kloster etwa 60 bis 80 Liter täglich. Traditionell hatte das Augustinerkloster das Recht besessen, Bier (mindestens 4.500 Liter) herzustellen. Dieses klösterliche Privileg sollte auf Luthers Haushalt übergehen. 80 Vgl. Treu, Bier, 113.
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kaum seinen Durst stillen können.81 Bier stellte im nördlichen Deutschland zu Luthers Zeit das alltägliche Tischgetränk dar. Der Reformator trank aber lieber Wein, hatte ihn aber nicht immer zur Verfügung: »Vinum est benedictus et habet testimonium in scriptura, cerevisia autem est traditio humana.«82 Gerade Wein sprach Luther die Rolle eines Muntermachers zu: »der Weyn hat krafft, frolich zu machen.«83 Der Malvasier aus dem byzantinischen Raum, eine besonders edle Rebsorte, zählte zu Luthers Lieblingsweinen. »Die Biblia ist wol ein reiner Malvasier, ja ein rechte heilsame ertzney und labsal.«84 Auch für das Biertrinken sprächen nach Luther allein schon medizinische Gründe. Gegen Steinleiden gebe es kein besseres harntreibendes Mittel. Zudem diene Bier als probater Schlaftrank und beschere eine gute Verdauung.85 »Bistu müde und schwermütig, trinck ein trunck.«86 Ein gelegentlicher kleiner Rausch stellte für Luther ein wirksames Mittel gegen Trübsinn dar – einen Zustand, den man heute als Depression bezeichnen würde. Unter frühneuzeitlichen Zeitgenossen war die Ansicht verbreitet, dass von dosiertem Alkoholkonsum eine gesundheitsfördernde Wirkung ausgehe: »Zuvil ist ungesund / Wenig getruncken ist gesundt un ein artznei den menschen zu erhalten erschaffen«87 , so brachte der Reformationsprediger Sebastian Franck (1499–1542) die ambivalente Wirkungsweise des Alkohols auf den Punkt. Sobald man zuviel trank, so verwandelte sich die Arznei Alkohol schnell in ein Gift. Dann grassierte der »Saufteufel« – so der zeitgenössische Terminus. 1535 erschien bei Hans Lufft zu Wittenberg Luthers Auslegung des 101. Psalms. Gegen Ende seines Traktats kommt Luther auf das Trinken zu sprechen und stellt fest: Es mus aber ein jglich land seinen eigen Teufel haben […]. Unser Deudscher Teufel wird ein guter weinschlauch sein und mus Sauff heissen, das er so duerstig und hellig ist, der mit so grossem sauffen weins und biers nicht kan gekuelet werden. Und wird ein solcher ewiger durst und Deutschlands plage bleiben (hab ich sorge), bis an den Jüngsten tag.88 81 Man hätte auch abgekochtes Wasser nutzen können bzw. Wasser aus Bächen und Flüssen. Der hohe Verbrauch von Dünnbier, der den heutigen Bierkonsum um das Drei- bis Vierfache übersteigt, verweist aber eher darauf, dass zumeist Bier getrunken wurde. 82 [Der Wein ist gesegnet und hat das Zeugnis in der Schrift. Das Bier dagegen ist menschliche Tradition]. WATR 1, 107; vgl. Rhein, »Der Wein ist gesegnet«. 83 Müllhaupt, D. Martin Luthers Psalmen-Auslegung, 347. 84 WA 45, 647,32f. 85 Joestel, Luthermythen, 131f. 86 WA 47, 756,1–2. 87 Franck, Von dem grewlichen laster der trunckenheit, 9. Vgl. Dejung, Laster der Trunkenheit; Hayden-Roy, The Inner Word, 19–25. 88 WA 51, 257,5–10.
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Im Spektrum der schlechten Charaktereigenschaften changiert »Saufen« zwischen luxuria (Ausschweifung, Genusssucht und Begehren) und gula (Völlerei, Maßlosigkeit). Als Bestandteil der sieben Hauptsünden wurden Saufgelage im Rahmen von zyklischen Serien oft visualisiert bzw. gestochen, so allen voran auf den von Mischwesen bevölkerten phantastisch-höllischen Kulissen eines Hieronymus Bosch und Pieter Bruegel d.Ä.89 Kaum eine Höllendarstellung ohne exzessiv-metaphorische Darstellungen der Einverleibung: Das Tor zur Hölle sah aus wie ein Rachen und die der Sünde Verfallenen wurden in den Tiefen des Schlunds am Spieß gebraten bzw. im Kessel verbrüht. Man befand sich buchstäblich in Teufels Küche. Martin Luther wandte sich entschieden gegen diese Angst einflößenden Horrorszenarien, insbesondere lehnte er eine akribische Kasuistik der Sünden ab. Vielmehr war er geneigt, schwerwiegendes Fehlverhalten mit der Erbsünde gleichzusetzen. Seit dem Sündenfall Adams und Evas seien alle Menschen »verdorben und unnütz«.90 Nach Luther werde der Mensch allein durch seinen Glauben und durch Gottes Gnade gerechtfertigt. Keine guten Werke, sondern nur die innerliche Zwiesprache mit Christus, dem Erlöser der Menschheit, führe den Gläubigen zu seinem Heil. Sobald aber der Teufel in das Dasein eines Menschen tritt, sobald man von ihm gepiesackt wird, wird man auch im frühen Luthertum rasch von einer Instanz herausgefordert, die die alte Kirche als Todsünde angeprangert hat. Der Teufel war bei Lutheranern noch stark präsent, gerade in Verbindung mit übermäßigem Alkoholkonsum hatte er seinen großen Auftritt. Der Görlitzer Pfarrer und Schriftsteller Mattheus Friderich (1510–1559) erhob den »Saufteufel« zum Titel seines 1552 erschienenen Traktates, das jeglichen Rausch, jegliche Ekstase brandmarkte.91 Mit seiner Schrift »Wider den Sauffteuffel« und Sebastian Francks Traktat »Von dem grewlichen Laster der Trunckenheit« (1559) blühte eine moralkritisch-populäre Literaturgattung auf, die im sich herausbildenden Moralkodex der Reformation wurzelte. So erschien Friderichs »Sauffteuffel« nach der Erstausgabe 1552 in Leipzig bis 1567 in elf weiteren Auflagen.92 Erinnerungen werden aber auch in diesem Kontext geweckt. Wird der Saufteufel visualisiert, wie im »Bierbuch« (1575) von Heinrich Knaust (1521–1580), dann sieht man oft einen Bock mit Hörnern und Ziegenfuß,
89 Siehe dazu die Ausstellungskataloge: Lust und Laster, 2010; Die 7 Todsünden, 2015. Soziologische Brückenschläge zur Gegenwart bei Schulze, Die Sünde; Flusser, Die Geschichte des Teufels. 90 Luther, Heidelberger Disputation [1518], 379. 91 Friderich, Wider den Sauffteufel. 92 Vgl. Tlusty, Bacchus, 72–76.
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als ob heidnische Satyrn im Gefolge des Weingottes Dionysos Pate gestanden hätten (Abb. 8).93
Abb. 8 Titelblatt von Heinrich Knaust, Fünff Bücher […] Bier zu brawen, Erfurt: Schmuck, 1614 (zuerst: 1575). Quelle: HAB Wolfenbüttel, A: 270 Quod. [1].
93 Siehe zur Ikonographie der Trunkenheit Tlusty, Bacchus, 58–68, vgl. zahlreiche zeitgenössische Graphiken bei Hübner, Manfred/Hübner, Regina, Der deutsche Durst.
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Luther war selbstvergessenes »Saufen« ein Dorn im Auge. In der Predigt am Sonntag nach Himmelfahrt des Jahres 1539 stellte er die Trunksucht in den Mittelpunkt.94 Resigniert musste er feststellen, dass man Deutschland wie eine Sau malen müsste, so sehr sei dieses Land dem Sauflaster verfallen.95 Als Inbegriff, zugleich Ideal- und Realtyp des Säufers galt der Sachse. Zeitgenössische Ethnographien nahmen kein Blatt vor den Mund: »Das Bier trincken sie also onmässig, ia reitze und zwinge einander zu einem solchen Überfluß, daß es einem Ochsen zu vil were.«96 So übertrieben das alles klingen mag, ganz ohne Wahrheitskern waren diese Schilderungen sicher nicht. Tatsächlich soll der Bierverbrauch in Sachsen Mitte des 16. Jahrhunderts derart zugenommen haben, dass Bier den Wein verdrängt hatte. Bekannt geworden ist Luthers Klage, dass ein Drittel des wertvollen Brotgetreides für das Brauen verwandt wird.97 Die Fakten, gepaart mit stereotypen Vorstellungen sind memorialgeschichtlich alles andere als marginal, konnte man doch mit Praktiken der Trinkfestigkeit den Gepflogenheiten der alten Germanen frönen,98 heute könnte man dazu die Erinnerungsform des Reenactments bemühen. Conrad Celtis’ 1500 herausgegebene Edition der Germania von Tacitus war in aller Munde, auch am Tisch der Luthers: das Cornelius Tacitus schriebe, das bey den Alten Deutschen keine Schande gewesen, tag und nacht zu sauffen. Solches höret nun ein Edelmann, und fragt inen, wie alt solchs wol sey, da dis geschrieben worden were. Als er nun antwortet, es ey wol bey funffzehn hundert Jahren, da spricht der Edelmann, O lieber Herr, weil Volsauffen also ein alt, ehrlich herkommen ist, so lassets uns jetzunder nicht abbringen.99
Adlige legitimierten demnach ihre Trinkexzesse mit einem erinnerungsgeschichtlichen Argument par excellence, mit einer in uralter Tradition verwurzelten Praxis, die – aus dieser longue durée erwachsen – nie verfehlt sein kann.100 94 WA 47, 757–771. 95 WA 47, 761,19–24. 96 Munster, Cosmographia, 376; diese Passage ist angeregt durch Boehmes Sittenbuch, der auf Lateinisch noch drastischere Worte findet: Boehme, Mores, leges et ritus omnium gentium, 211. 97 Vgl. Huntemann, Bierproduktion, 120ff. Die Entwicklung Deutschlands zum Bierland wurde auch durch klimatologische Prozesse befördert. Kühle Sommer und klirrend kalte Winter (»die kleine Eiszeit«) machten Weinbau in zahlreichen Regionen unmöglich. 98 Mertens, Die Instrumentalisierung der »Germania«. 99 Colloquia oder Tischreden Doctor Martini Lutheri, 613. Diese Episode ist von Aurifaber unter der Überschrift »Von der Trunckenheit« gedruckt worden. 100 Die Sozial- und Kulturhistorikerin B. Ann Tlusty hat in ihrer Studie darlegen können, dass der exzessive Alkoholkonsum im frühneuzeitlichen Deutschland kein Symptom für Eskapismus gewesen sei oder eine Devianz sozialen Verhaltens. Wenn der Anlass passte, gehörten
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Erlaubte ebrietas und verwerfliche ebriositas
Die Pflege von Erinnerungen setzt einen beweglichen Geist voraus. Substanzen, die in der Lage sind, kognitive Verknotungen aufzulösen, kommen Aktivitäten des kollektiven Gedenkens entgegen. Vor dem Aufkommen von Branntwein, Kaffee und Tabak stellten Wein und Bier die einzigen gängigen Rauschmittel dar – Substanzen, die in der Lage waren, Stimmungslagen zu verändern, bisweilen auch das Bewusstsein zu erweitern. Als selbstverständlicher Bestandteil der Nahrung stand in der Reformation nie die totale Abstinenz zur Debatte, weder in Nordeuropa bei Bier noch in südlicheren Gegenden bei Wein.101 Der prohibitiven Orientierung der Täuferbewegung, die sich über die Trennung zwischen sakral und profan hinwegsetzte, indem sie die gesamte Existenz purifizieren wollte, war keine Dauer beschieden.102 Vielmehr war es in Renaissance und Barock Usus, zwischen verschiedenen Intensitätsgraden des Rausches zu unterscheiden, zwischen erlaubter ebrietas und verwerflicher ebriositas Grenzen zu ziehen. Traditionell war es bei Theologen üblich, »zwischen der verbottenen Sauff-Freude und eigentlichen Trunckenheit« und »der zugelassenen, ja auf gewisse Maß gebotenen Trinck-Freude«103 zu unterscheiden oder in Luthers Worten »nam ebrietas est ferenda, sed ebriositas minime«.104 Mitte des 18. Jahrhunderts ist im Zedler-Universal-Lexikon von einem »schweren«, einem »mittelmäßigen« sowie einem »Ansatz zum Rausche« die Rede. Letzteres wurde auch »Spiggen« genannt, der denjenigen befällt, »der etwas zu tief in den Freudenbecher gesehen, dabey aber noch völlige Gewalt im Reden und Gehen behält, und bloß durch übergewöhnliches rothes Gesichte, geläufigere Zunge und aufgeräumtes Gemüthe, seinen Ansatz zum Rausche verräth, und solchen den Nüchternen zu erkennen giebet«.105 Beim »spiggen« kommt also
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derartige Trinksitten sowohl bei »kleinen Leuten« als auch bei adligen Eliten zur Konvention. Tlusty, Bacchus. Vgl. Holt, Europe Divided. Goertz, Täufer. Scriverius, Theologische Bedencken, 7. [Ein Rausch ist zu ertragen, die Trunkenheit aber nicht] WATR 4, 580. Oder in den Worten von Augustinus: »Ebrietas quidem longe est a me, crapula autem nonnumquam subrepit servo tuo« [Trunkenheit ist zwar fern von mir, aber ein Räuschchen beschlich bisweilen deinen Knecht], Augustinus, Confessiones (Zehntes Buch, 31. Kap.). Art. Rausch/Trunckenheit, 1144. In Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch der hochdeutschen Mundart (5 Bde: 1774–1786) findet sich gleich eine Kaskade von spezifischen Räuschen: »Ein kleiner Rausch, ein halber Rausch, ein Räuschchen, ein Jesuiter-Rausch, welchen man im gemeinen Leben auch ein Spitzchen, einen Hieb u.s.f. nennet, zum Unterschied von einem derben oder dichten Rausche.« Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Bd. 5, 42.
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eine Gemütslage zum Vorschein, die die Freisetzung kollektiver Erinnerungen befördert haben dürfte. Luthers Trinkverhalten kann im Spektrum dieser begrifflichen Differenzierungen gut verortet werden. Dass bei einem Fest »ainer ainen trunck zu vil thete« als angemessen, ist seiner Meinung nach zu verschmerzen. Dagegen sprach sich der Reformator nachdrücklich gegen die Routine der Unmäßigkeit aus: Die »aber also alle tag und nacht on auffhören mit hauffen in sich giessen und wieder von sich geben, das man flugs auffs new sich fülle, das ist nicht Fürsten, Adels oder Burgers, ja, nicht aines menschen (zu schweygen aines Christen), sondern ainer rechten natürlichen Saw leben und werck«.106 Übermäßigen Alkoholgenuss hat Luther strikt abgelehnt, da seiner Auffassung nach daraus nicht nur unsittliches Handeln wie Unzucht, Faulheit und Unkeuschheit entstehe, sondern auch die unmittelbare Verbindung zwischen Gott und dem Menschen gestört werde. Der schwere Rausch verhindere das fromme Gebet und damit Gotteserkenntnis.107 Der leichte Rausch hingegen könne innere Blockaden auflösen und den Kampf gegen die Einflüsse des Teufels stärken. Beim Alkoholkonsum komme es also darauf an, das rechte Maß zu treffen. Stimme die Dosis, dann könnten die Kräfte des Christen gegen den Teufel gestärkt werden. Die Sünde des Trinkens war für Luther zu vernachlässigen, wenn es dem Christen dadurch gelang, in einer Schwächephase den Teufel zu vertreiben. Luthers Brief an Hieronymus Weller (1499–1572) dokumentiert diesen Sachverhalt unmissverständlich. Luther riet dazu, das Gegenteil von dem zu tun, was der Teufel eingab: Et quoties istis cogitationibus te vexaverit diabolus, illico quaere confabulationem hominum, aut largius bibe, aut iocare, nugare, aut aliquid aliud hilarius facito. Est nonnumquam largius bibendum, ludendum, nugandum, atque adeo peccatum aliquod faciendum in odium et contemptum diaboli […]. Proinde si quando dixerit diabolus: noli bibere, tu sic fac illi respondeas; atqui ob eam causam maxime bibam, quod tu prohibes, atque adeo largius bibam.108
106 WA 47, 762,31–35. 107 »[D]as die leüt wie die Sew in steter vollerey gleich als ertödtet unnd begraben kaine Gottes forcht haben noch mit Göttlichen sachen sich bekümmern künden.« WA 47, 759,35–37. 108 [Und immer wenn dich der Teufel mit […] Grübeleien plagt, suche sogleich die Unterhaltung anderer Menschen, trinke gehörig oder scherze und vertreibe dir die Zeit […]. Manchmal muß man gehörig trinken, spielen, sich die Zeit vertreiben oder sogar irgendeine Sünde begehen, aus Haß und Verachtung für den Teufel […]. Sollte also der Teufel einmal sagen: ›Trinke nicht!‹, so antworte ihm: ›Gerade weil du es verbietest, werde ich trinken, und zwar ordentlich‹«] Brief an Hieronymus Weller, Juli? 1530, in: WAB 5, 519; Übersetzung nach Tlusty, Bacchus, 87f.
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Es ist frappant, wie präsent der Teufel in Luthers Wahrnehmung war; er war so real, dass er zu einem liberalen Umgang mit Alkohol ermutigte. Im deutschen Luthertum sollte erst der Pietismus konsequent gegen Alkoholkonsum vorgehen, nachdem erste Ansätze zur Abstinenz in radikalen reformatorischen Gruppen ohne nachhaltige Wirkung geblieben waren.109 Pietisten waren dafür bekannt, dass sie keinen Winkel der Lebensführung unbehelligt ließen. Für sie konnte es keine indifferenten Dinge geben. Im berechtigten Anliegen, die Menschen vor den schwerwiegenden Folgen unkontrollierten Alkoholkonsums zu schützten, erteilten viele der bekehrten und wiedergeborenen Christen aber auch dem kreativen Potenzial von wohldosiertem Rauschmittelgenuss eine rigorose Absage. In Streitschriften wandten sich Pietisten, wie Gottfried Vockerodt (1665–1727) nicht zuletzt gegen die Unterscheidung zwischen ebriositas und ebrietas: »Die sich aber solcher groben Philosophie geschämet, haben eine andere Distinction erfunden und den Rausch von dem Tummel unterschieden, welchen sie lästerlicherweise einen Christlichen Rausch genennet haben«.110 6.
Brückenfigur zwischen Rausch und Nüchternheit
Seit jeher wird Luther eine Meisterschaft in der Vereinigung von Kontrasten zugeschrieben.111 Zu den Gegensätzen, die er überbrückte, wie Leib und Seele, Körper und Geist, Materie und Verstand, Sünde und Erlösung, gehörte auch die Kompatibilität von Nüchternheit und Rausch. Bei ihm hatte ein Humpen Bier oder ein Glas Wein die Funktion, Leib und Seele zusammenzuhalten.112 Die berühmte Stelle aus dem Johannes-Evangelium »Das Wort ist Fleisch geworden« (1,14) scheint sich bei Luther in kongenialer Weise gespiegelt zu haben.113 Eine weltfremde Vergeistigung konnte Luther nur als selbstgerecht empfinden. Luther ging nicht von eingeborenen Ideen aus, wie die Platoniker oder später die Cartesianer. Sein Denken und seine Wahrnehmung waren entschieden 109 »Der Kampf gegen Alkohol und Tanz kann als ein nations- und denominationsübergreifendes Ziel des Pietismus angesehen werden«. Gestrich, Pietistisches Weltverständnis, 575. Vgl. dazu auch Schmidt, Alkoholfrage. 110 Vockerodt, Erleuterte Auffdeckung, 97. Entsprechend der nachsichtigen Einstellung argumentiert Christian Scriver (1629–1693) in seiner in Helmstedt 1685 gedruckten Schrift Theologische Bedencken. Über die Fragen: Ob und wie es einem Christen zugelassen sey einen Rausch zu trincken. Siehe zu dieser Kontroverse auch Sdzuj, Adiaphorie und Kunst. Siehe zur dazu passenden Theaterphobie Vockerodts Laube, Theatralische Episoden, 58f. 111 Zu Luther als »Mensch im Widerspruch« vgl. v.a. Oberman, Luther, 360–369. 112 Luther betont: »ein guter trunk hilfft leib und seel widder zusamen«. WA 31,1, 366. Vgl. auch Cornette, Proverbs, 109. 113 Vgl. Hamm, Leib/Fleisch und Seele/Geist; zur Fleisch-Geist-Dichotomie als kardinales anthropologisches Spannungsfeld in der Theologie Joest, Ontologie.
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existenzieller ausgerichtet und auf den Stoffwechsel mit der äußeren Natur angewiesen. Erst wenn die Ebene organischer Körperfunktionen zusätzlich in Rechnung gestellt wird, kann Luthers theologisches Gefüge adäquat verstanden werden. Oft hat es den Anschein, als ob Luther durch seinen Körper dachte und Kreativität bei ihm nur aus einer spirituell-somatischen Einheit erwachsen konnte. Dementsprechend soll ihm die bahnbrechende Idee von 1515, die die alte Kirche zum Einsturz bringen sollte – Christen erlangen das Heil nur dann, wenn es ihnen durch Gott geschenkt wird – beim Stuhlgang gekommen sein.114 »Alles, was lebt, muß essen, und alles, was gegessen wird, muß verdaut werden: von dieser Verdauung fängt das Philosophieren an«, so hat das Paracelsus formuliert.115 Scharfe Trennlinien zu ziehen – zwischen Fleisch und Geist, zwischen Rausch und Nüchternheit – war Luthers Sache jedenfalls nicht. Theologisch auf einen konsequenten Augustinismus ausgerichtet, sah Luther das gesamte Spektrum menschlichen Handelns mit Sünde behaftet, so dass alkoholisch-berauschte Verhaltensweisen auch nicht gravierender waren als andere. Physiologisch fällt bei Luther auf, dass er – nachdem er geheiratet und einen Hausstand gegründet hatte – allmählich beleibt wurde. Je älter Luther wurde, desto nachgiebiger scheint er sinnlichen Freuden gegenüber gewesen zu sein. Melanchthon, bis ins hohe Alter von schlank-schmächtiger Gestalt, sah Luthers Offenheit gegenüber den Verlockungen des Fleisches nicht gern. Demonstrativ stellte er in seiner Lebensbeschreibung zu Luther dessen Abstinenz bei Speisen und Getränken heraus: Erat autem natura, quod saepe miratus sum, in corpore nec parvo, nec imbecilli, valde modici cibi et potus, vidi continuis quatuor diebus, cum quidem recte valeret, prosus nihil edentem aut bibentem, vidi saepe alias multis diebus quotidie exiguo pane et halece contentum est.116 114 »Diese Kunst hatt mir der Spiritus Sanctus auf diss Cloaca eingeben« (WATR 2, 177). Zur Diskussion um den Ort des reformatorischen »Durchbruchs« Leppin, Luther, 107f; Oberman, Luther, 163–165. Zum allmählichen Aufbau der Schamgrenzen in der frühen Neuzeit Werner, Dunkle Materie, 24–30. 115 Paracelsus, Pestilitate, 190. Wie so viele der meist handschriftlich kursierenden paracelsianischen bzw. pseudo-paracelsianischen Schriften ist auch De Pestilitate nur schwer zu datieren, erstmals gedruckt wurde sie wohl 1575 in Basel bei Perna. 116 [»Er war aber von Natur weder klein noch schwach und gleichwohl, worüber ich mich oft gewundert habe, äußerst zurückhaltend bei Speise und Trank. Ich habe ihn vier aufeinanderfolgende Tage, obwohl er gesund war, nichts essen und trinken sehen, mit einem Wort, ich sah ihn oft viele Tage, wie er regelmäßig mit wenig Brot und einem Hering zufrieden war.«] Melanchthon, Historia D. Martini Lutheri, 21. Es liegt nahe, dass Melanchthon mit dieser Passage der altgläubigen Polemik, Luther sei der Völlerei erlegen, begegnen wollte, siehe auch Weinachts Bemerkung, ebd., 60. Vgl. auch als Gegenbewegung zum »Saufteufel« die magersüchtigen Jungfrauen: Pulz, Nüchternes Kalkül.
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Doch Luther hatte äußerlich mit einem ausgezehrten Einsiedler, wie ihn Melanchthon darstellen wollte, kaum mehr etwas gemein. Vielmehr zeigt die Ikonographie des späten Luther einen stämmig-kräftigen Luther, als ob man durch ein üppig-ausladendes Bildzeichen die Verwurzelung des neuen Glaubens dokumentieren wollte (Abb. 9).117 Für die Katholiken war Luthers offensichtliche körperliche Zunahme ein gefundenes Fressen: »Doch giebt mir Stärckh ein großes Glas« heißt es in einem Untertitel auf einem illustrierten Flugblatt, das einen feisten, auf einen Schubkarren gestützten Martin Luther mit einem bauchigen Nuppenglas in der Linken zeigt, dem eine abgemagerte Katharina von Bora mit Säugling im Arm hinterherläuft. Entstanden war es 1620 kurz nach der Schlacht am Weißen Berg, als die Protestanten aus Böhmen vertrieben wurden (Abb. 10).118 Fleißig – sparsam – ernsthaft, mit diesen Adjektiven charakterisiert man oft bis heute den protestantischen Lebensstil. Bekanntlich fügt sich Luthers Lebensweise in diese Schablone kaum ein. »Wenn nicht das Maul vol ist von Speise oder von Bier und Wein, so heists nicht essen oder trincken.«119 In Wirtshäusern disputierte Luther bisweilen, nicht nur in Kirchen oder Hörsälen.120 Dennoch: Alle zur Verfügung stehenden Quellen sprechen dafür, dass die Gespräche an Luthers Tisch nie in ausschweifende Trinkgelage ausgeartet sind, in der Muster einer verkehrten Welt zur Entfaltung gekommen bzw. Grenzen von Sitte und Anstand dauerhaft überschritten worden wären.121 Zwischen wortkargem Trübsinn und lallendem Überschwang plädierte Luther, von Hans Sachs 1523 in einem Gedicht als Singvogel, als Wittenbergische Nachtigall bezeichnet, für das perlende Wort, das bisweilen einen Treibstoff benötige. Genüssliches Trinken wollte Luther nicht verbieten, allenfalls drosseln, einen Mittelweg eröffnen zwischen Entsagung auf der einen und Verschwendung auf der anderen Seite.122 Luthers Einstellung zum Trinken erinnert in ihrer Argumentationsfigur an seine Einstellung gegenüber Bildern. Verortet in der Sphäre der Adiaphora, kam es darauf an, sich diesen beiden Erscheinungen dosiert und funktional 117 118 119 120
Roper, Der feiste Doktor. Vgl. den Kommentar von Michael Schilling in: Harms, Flugblätter, 168. WA 33, 199,4–7. Siehe z. B. die im Volkmund tradierten Fälle aus Gera und Rudolstadt bei Kunze, Luthersagen, 29f, 41. Vgl. zum Wirtshaus als Komunikationsort Kümin, Wirtshäuser. 121 Vgl. Feustel, Kulturen des Rausches, 25–42. Die groteske, leibliche, lächerliche, auch alkoholisierte Welt wird heraufbeschworen bei Bachtin, Literatur und Karneval. Tischgemeinschaften in Professorenhaushalten stellten in der gesamten Frühen Neuzeit eben »eine etwas andere Trinkstube« dar, siehe Harding, Trinkstube. 122 Siehe WA 47, 768,14–24. Hierzu: Blanke, Alkoholismus 86. Vgl. auch Allwohn, Luther und der Alkohol.
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Abb. 9 Lucas Cranach d. Ä./Lucas Cranach d. J., Martin Luther, Ganzfigurenbildnis, 144x97mm. Quelle: Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Lutherhaus Wittenberg, aus: Lyndal Roper, Der feiste Doktor. Luther, sein Körper und seine Biographien, Göttingen 2012, 18.
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Abb. 10 Luther als fahrender Trunkenbold und Vielfraß. Quelle: HAB Wolfenbüttel, ICH 23, aus: Luthermania. Ansichten einer Kultfigur, Ausstellungskatalog für den Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel, hg. v. Hole Rößler, Wiesbaden 2017, 232.
zu nähern.123 In Jena, im Gasthof Schwarzer Bär am 22. August 1524, beim Streitgespräch zwischen Martin Luther und dem Bilderstürmer Andreas Bodenstein (1486–1541), der sich Karlstadt nannte, mögen die Bilderfrage und die Alkoholfrage aufeinandergetroffen sein.124 Trotz eines überlieferten Augenzeugenberichts, lässt sich nicht mehr feststellen, ob Luther seine Argumente auch durch Biergenuss in Fluss brachte und Karlstadt – typisch für den radikalen Flügel der Reformation – eher abstinent geblieben ist.125 Tatsächlich ist der in 123 Vgl. Stirm, Bilderfrage; Sdzuj, Adiaphorie und Kunst. 124 WA 15, 334–341. Siehe auch Roper, Luther, 311–333. 125 Besonders wahrscheinlich ist das nicht, stammte er doch aus einer Weinbauregion und spielte mit dem Gedanken, Weinbauer zu werden.
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der neuen Kirche gepflegte Philverbalismus mitunter durch flüssige Rauschmittel angetrieben worden, diente doch maßvoller Wein- und Bierkonsum dazu, die Verstopfung der Gedanken zu lösen, die Sprechfähigkeit zu aktivieren. Die Memoria als Traditionsstiftung konnte darauf zurückgreifen und hätte sich im Modus der bloßen Nüchternheit kaum so entfalten können, wie es dann dauerhaft geschehen ist. Insofern steckt in jedem memento mori, in jedem Eingedenken an die Endlichkeit des Daseins eine Affirmation des Diesseits, ein carpe diem. Literatur Quellen Arndt, Johann, Vier Bücher vom wahren Christentum, Buch IV, Lüneburg 1679. Augustinus, Aurelius, Confessiones – Bekenntnisse. Lateinisch – Deutsch. Übersetzt von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch, Stuttgart 2009. Boehme, Johann, Mores, leges et ritus omnium gentium […], Freiburg 1536. Böhme, Jacob, De testamentis Christi [1624], in: Will-Erich Peuckert (Hg.), Sämtliche Schriften, Bd. VI, Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730, Stuttgart 1957, 71–100. Dye zaigung des hochlobwirdigen hailigthums der Stifftkirchen aller hailigen zu Wittenberg, Wittenberg 1509. Franck, Sebastian, Von dem grewlichen laster der trunckenheit […], Straßburg 1539. Friderich, Mattheus, Wider den Sauffteufel. Etliche wichtige Ursachen, warumb alle menschen sich fur dem Sauffen hueten sollen, Görlitz 1552. Knaust, Heinrich, Fünff Bücher, Von der Göttlichen und Edlenn Gabe […] Bier zu brawen, Erfurt 1614 [zuerst 1575]. Luther, Martin, Colloquia oder Tischreden Doctor Martini Lutheri […], Wittenberg 1566. −, Heidelberger Disputation [1518], in: Kurt Aland (Hg.), Martin Luther. Die Anfänge, Göttingen ²1983. −, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883–2009. Mathesius, Johannes, Luthers Leben in Predigten [1565], hg. v. Georg Loesche (Ausgewählte Werke, Bd. 3), Prag 1898. Melanchthon, Philipp, Historia D. Martini Lutheri, Wittenberg 1555, nach: Harald Weinacht (Hg.), Melanchthon und Luther. Martin Luthers Lebensbeschreibung durch Philipp Melanchthon, hg., übers. und komm. v. Harald Weinacht, Zürich 2008.
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Bildliche Memoria als räumliche Disposition Bildorte und Bildräume konfessioneller Erinnerung im frühneuzeitlichen Fürstenstaat
Mit dem Begriff der »Erinnerungsräume« haben die Herausgeber des vorliegenden Tagungsbandes dem gut eingeführten und häufig nur noch gedankenlos wiederholten Begriff der von Pierre Nora geprägten »Erinnerungsorte« (lieux de mémoire)1 einen wichtigen Aspekt an die Seite gestellt: den der räumlich verorteten Erinnerung, für die nicht nur der von Nora thematisierte Ort – sei es im topographischen oder übertragenen Sinne –, sondern auch der räumliche Kontext bzw. die Raumbezogenheit der Erinnerung stiftenden Objekte und Dinge von konstitutiver Bedeutung ist. Für die Beantwortung der Frage nach der räumlichen Verortung reformatorischer Erinnerung rücken im allgemeinen Gedächtnis sehr schnell zum einen die durch die Reformation in besonderer Weise geprägten Territorien, allen voran die historischen Gebiete Sachsens und Thüringens, in das Blickfeld. Sie sind gewissermaßen ›konfessionelle Landschaften‹, in deren Makro-Räumen eine Vielzahl von Mikro-Erinnerungsräume eingeschrieben sind, die sich – wie an den prominenten Beispielen der Städte Wittenberg und Weimar nachzuweisen – in weitere, immer kleinteiligere Mikro-Erinnerungsräume unterteilen. Für Wittenberg ließe sich dies an der Stadtpfarrkirche veranschaulichen, die zum einen ein wichtiger Predigtort Martin Luthers war und zum anderen mit Cranachs berühmtem Reformationsaltar (Abb. 1) innerhalb des Kirchenraumes im Bereich des Hauptaltars durch die gerade auch dingliche Präsenz von Cranachs Altarretabel einen Raum im Raum definiert.2 Vergleichbares ließe sich über die Stadtpfarrkirche von Weimar, die heutige Herderkirche, sagen, in der die Grablege des entmachteten Kurfürsten Johann Friedrich I. von Sachsen (1503–1554) und seiner Frau Sibylle von Kleve (1512–1554) zusammen mit dem darüber aufragenden Altarretabel von Lucas Cranach d.J. (1515–1586) (Abb. 2) einen politisch wie religiös vielschichtig definierten und überlagerten Mikro-Erinnerungsraum im Großraum der Pfarrkirche bildet.3 1 Nora, Lieux de mémoire. 2 Siehe zur Aufstellung des Altars in der seinerzeit umgebauten Wittenberger Stadtpfarrkirche Insa Hennen, Reformationsaltar, 62–71. 3 Zur Geschichte und Bedeutung dieses Retabels vgl. die Beiträge in Bomski/Seemann/Valk, Bild und Bekenntnis, darin bes. Poscharsky, Einbindung, 129–139.
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Abb. 1 Lucas Cranach d. Ä., Reformationsaltar in der Wittenberger Stadtpfarrkirche, beg. um 1540, Aufstellung 1547. Quelle: Bildarchiv des Verfassers.
Bildliche Memoria als räumliche Disposition
Abb. 2 Lucas Cranach d.J., Abendmahlsaltar in der Weimarer Stadtpfarrkirche (»Herderkirche«) (1555). Foto: Matthias Müller.
Wie aber sieht die Evidenz und Struktur einer solchen von Makro- und Mikro-Erinnerungsräumen bestimmten ›konfessionellen Landschaft‹ aus, wenn wir den Blick nicht so sehr auf diese im protestantischen Kulturge-
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dächtnis geradezu ikonisch verankerten Erinnerungsräume richten, sondern auf andere, vor allem weniger kirchlich konnotierte Räume und Objekte? Mit dieser Frage berühre ich ein Desiderat, das trotz der 2015 eröffneten »1. Nationalen Sonderausstellung« der Luther-Dekade in Torgau, die sich dem Thema »Luther und die Fürsten« verschrieben hatte,4 immer noch virulent und aktuell ist: die zumeist nur am Rande beachtete Bedeutung der Fürstenhäuser für die Ausgestaltung einer reformatorischen Erinnerungskultur und der mit ihr verbundenen Orte, Räume und Objekte. Lange Zeit reduzierte sich die Wahrnehmung der Rolle der Fürsten auf ihr Verhältnis zu den Reformatoren oder ihre neue Funktion als oberste Kirchenherren einer evangelischen Landeskirche. Dabei beschränkte sich die Einbeziehung der Fürsten und ihrer Höfe ganz überwiegend auf die Personen und ihre Handlungen, während die mit ihnen verbundenen bzw. von ihnen besetzten und in Auftrag gegebenen Räume und Objekte zumeist nur sporadisch und sehr selektiv im Kontext der Reformation wahrgenommen wurden. Wichtige Ausnahmen von diesem Befund sind z. B. die gerade in den letzten Jahren verstärkt analysierten Bibliotheksstiftungen protestantischer Fürsten, wie sie sich exemplarisch und einzigartig zugleich in der 1527 von Albrecht von Brandenburg-Ansbach (1490–1568), dem Herzog von Preußen, gegründeten Silberbibliothek manifestieren.5 Und mit der erwähnten Sonderausstellung »Luther und die Fürsten« sowie der Sonderausstellung zu den Ernestinern6 sind seit 2015 bzw. 2016 auch zwei der wichtigsten Residenzschlösser eines protestantischen Fürstenhauses, Schloss Torgau und Schloss Gotha, als raumhaltige Objekte einer protestantischen Erinnerungskultur ins Bewusstsein der Fachwelt wie der Öffentlichkeit gerückt.7 Der Befund bleibt aber unbefriedigend und lässt eine systematische Untersuchung von Erinnerungsräumen der Reformation im topographischen wie symbolischen Raum der Fürstenhöfe mitsamt ihrer Objekt- bzw. Dingkultur sowohl für die Verhältnisse des Alten Reichs als auch der angrenzenden europäischen Länder wünschenswert erscheinen. Meine folgenden Ausführungen sollen hierzu Bausteine liefern und weitergehende Untersuchungen zu einer räumlich verorteten konfessionell geprägten Bild- und Objekt- bzw. Dingkultur deutscher und europäischer Fürstenhöfe anregen. Diese unterschied sich durchaus markant von der wohlbekannten und gut erforschten kirchlich konstituierten konfessionell geprägten Bild- und Objekt- bzw. Dingkultur, war sie doch – ähnlich wie die kirchlich-konfessionelle 4 5 6 7
Vgl. hierzu Syndram/Wirth/Zerbe, Luther und die Fürsten. Vgl. hierzu Woźniak/Slenczka, Silberbibliothek. Klassik Stiftung Weimar, Die Ernestiner. Zu Torgau vgl. Müller, Konfessionalisierung, 139–157 sowie Slenczka, Herrschaftsrepräsentation, 159–169.
Bildliche Memoria als räumliche Disposition
– eingebettet in ihre spezifischen, von Traditionsbezügen und Ritualen bestimmten Kontexte einer jahrhundertealten Adelskultur. Die konfessionell argumentierenden und Erinnerung stiftenden architekturgebundenen sowie mobilen höfischen Bildwerke und Dinge bzw. Objekte sind besonders mit Blick auf ihre Aufbewahrungs- und Anbringungsorte, d. h. mit Blick auf ihren räumlichfunktionalen Kontext und ihre räumliche Systematisierung sowie den damit verbundenen Rezeptionsmöglichkeiten und -intentionen von Interesse. Im Folgenden möchte ich dies an zwei Fallgruppen mit einigen wenigen herausragenden Beispielen verdeutlichen und mich dabei auf die Kernzeit der Reformation konzentrieren. Die erste, im Rahmen dieses Beitrags umfassender behandelte Fallgruppe thematisiert das Residenzschloss als raumbildendes Gehäuse, dessen außenund innenräumliche Dispositionen und Strukturen gezielt und mit programmatischer Absicht durch Bildwerke besetzt und definiert wurden. Zu dieser ersten Fallgruppe gehören das Torgauer Residenzschloss, das ich als ein exzeptionelles Beispiel für die Verwirklichung von durchgeplanten und komplex miteinander verschränkten Bilder-Orten (im Sinne der topographischen Orte) und Bilder-Räumen (im Sinne der höfischen Innenräume) eines um seine politische Existenz kämpfenden Fürstenhauses vorstelle, sowie das Dresdener Residenzschloss, dessen unter Moritz von Sachsen (1521–1553) entstandenen bekannten, in Sgrafitto-Technik ausgeführten Bilder-Fassaden als Antwort auf Schloss Torgau verstanden werden können und deren Programmatik von Ulrike Heckner bereits ausführlich analysiert wurde,8 weshalb ich mich hier auf Torgau beschränken möchte. Die zweite, im Rahmen dieses Beitrags etwas knapper vorgestellte Fallgruppe behandelt das Residenzschloss als Thesaurus erinnerungsstiftender Dinge und Objekte, deren räumliche Verortung zumeist in den fürstlichen Sammlungen erfolgte.9 Zu dieser zweiten Fallgruppe gehört wiederum das Dresdner Schloss, dessen unter Kurfürst August und seinen Nachfolgern aufgebaute Kunst- und Rüstkammern nicht nur zu Orten der Bildung und Gelehrsamkeit, sondern auch – aus der Perspektive der Sieger in der protestantischen Schicksalsschlacht bei Mühlberg – zu Gedenkräumen einer spezifisch fürstlich-dynastischen reformatorischen Erinnerungskultur und Heldenverehrung der albertinischen Wettiner ausgebaut wurden. Dieser Aspekt lässt sich für die nachreformatorische Zeit in vergleichbarer Weise anhand der Kunstkammer von Schloss Gotha thematisieren, weshalb diese wichtige 8 Heckner, Fürsten und Reformation. 9 Der Verfasser führt hierzu gemeinsam mit Prof. Dr. Dirk Syndram in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (»Grünes Gewölbe«) ein größeres, von der DFG gefördertes Forschungsprojekt durch (»Ordnung und Aura höfischer Dinge: die Dresdner Kunstkammer des 16. und 17. Jahrhunderts als Ort politischer Interaktion, dynastischer Memoria und fürstlicher Wissenspraxis«).
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Sammlung der ernestinischen Wettiner unter dem Aspekt der reformatorischdynastischen Umcodierung von Objektbedeutungen wenigstens mit einigen wenigen ausgewählten Objekten miteinbezogen werden soll. Insgesamt möchte ich mich in diesem Beitrag jedoch auf die Kernzeit der Reformation im 16. Jahrhundert beschränken. Für diese Zeit sind nun für unsere Fragestellung nicht nur die protestantischen Höfe von Interesse, sondern auch die katholischen. Denn sie konnten in ihren Sammlungen mit Trophäen des protestantischen Gegners gewissermaßen Gegenmodelle einer räumlich verorteten und sich in Dingen und Objekten manifestierenden konfessionell bestimmten Erinnerungskultur entwickeln. Hierfür stehen die Sammlungen der Wittelsbacher in München sowie der Habsburger in den Schlössern von Ambras und Wien und nicht zuletzt der Alcázar von Madrid, das einstige Residenzschloss der spanischen Könige aus dem Haus Habsburg.10 In diesem schufen Kaiser Karl V. (1500–1558) und seine Nachfolger durch die Ausstellung von Trophäen bzw. Erinnerungsobjekten und die Aufhängung von Triumphgemälden Tizians (1488–1576), die dieser nach der 1547 gewonnenen Schlacht bei Mühlberg anfertigte, besondere Erinnerungsräume der Reformation – oder sollen wir besser sagen: der Gegenreformation?
10 Vgl. hierzu Haag/Kirchweger/Rainer, Kunstkammern; Rudolf, Kunstbestrebungen.
Bildliche Memoria als räumliche Disposition
1.
Bilder-Orte und Bilder-Räume der Reformation: Schloss Torgau
Abb. 3 Schloss Torgau: Ansicht des Innenhofes mit dem Neuen Saalbau und dem Großen Wendelstein. Foto: Matthias Müller.
Beginnen wir mit der ersten Fallgruppe, für die Schloss Torgau (Abb. 3) als ein exzeptionelles Beispiel für die Verwirklichung von durchgeplanten und komplex miteinander verschränkten äußeren und inneren Bilder-Orten und Bilder-Räumen im höfischen Kontext gelten kann. Aus der Perspektive der Reformationsgeschichte fand das Torgauer Residenzschloss bis vor kurzem nahezu ausschließlich wegen seiner von Martin Luther 1544 eingeweihten Schlosskapelle Beachtung. Das übrige Schloss und damit der Hauptteil der Gebäudeanlage blieben unter Reformationshistorikern hingegen unbeachtet, schien sich in diesen Teilen doch nur die höfisch-profane Prachtentfaltung eines der größten und mächtigsten Fürstenhöfe des 16. Jahrhunderts widerzuspiegeln.11 Dabei wies der Kunsthistoriker und Denkmalpfleger Peter Findeisen 11 Erst 2017 erschien eine Publikation, die Schloss und Schlosskapelle von Torgau als Gesamtensemble in seiner Bedeutung als reformatorischer Erinnerungsort würdigte, wenn auch hier erneut der Schwerpunkt auf der Schlosskapelle lag: Herzog/Sens, Schloss Hartenfels.
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bereits früh in einem entlegen publizierten Aufsatz auf die reformatorische Bedeutung von zentralen Teilen des Bildschmucks am Außenbau des Neuen Saalbaus hin, doch fanden seine Hinweise über die kunsthistorische Fachwelt hinaus kaum Beachtung.12 Diese Geringschätzung der Gesamtanlage des Torgauer Schlosses als reformatorischer Erinnerungsort hat durch den Katalog und die wissenschaftlichen Beiträge der Torgauer Sonderausstellung »Luther und die Fürsten«13 2015 wesentliche Korrekturen erfahren, konnten doch sowohl Ruth Slenczka als auch der Verfasser dieses Beitrags aufzeigen, wie sehr die Torgauer Schlossgebäude durch ein am Außenbau und in den Innenräumen verwirklichtes Bildprogramm zu Erinnerungsorten und -räumen der protestantischen Landesherrschaft der ernestinischen Wettiner ausgestaltet wurden.14 Das an den Fassaden wie in den Innenräumen realisierte Bildprogramm ist dabei als integraler, von vornherein mitgeplanter Bestandteil der unter Kurfürst Johann Friedrich I. von Sachsen ab 1532/33 durchgeführten Neubauplanungen anzusehen. Aus diesem Grund zeichnet es sich nicht nur durch ein wohlüberlegtes, die Außen- und Innenraumdispositionen genau kalkulierendes Bildkonzept aus, sondern ebenso durch eine bewusste Kalkulation der Rezeption durch Besucher und Gäste, auf deren Bewegung durch die architektonischen Außenund Innenräume sowie deren Blickführung das Bildkonzept und die Anbringungsorte der Bildwerke abgestimmt wurden. Mit dem in Torgau unter Johann Friedrich I. von Sachsen betriebenen Aufwand einer über die Architektur und Raumdisposition des Residenzschlosses umgesetzten Bildtopologie, bei der bestimmten Bereichen des Schlosses bestimmte Bildthemen zugewiesen wurden, sowie der bewussten Berücksichtigung rezeptionsästhetischer Kriterien verkörpert das Torgauer Residenzschloss in seiner Zeit eine beispiellose Meisterleistung architektonisch-bildlichen Inszenierens, bei der Architektur und Bildwerk – festverankert an der Außenarchitektur oder als mobile Bildobjekte an den Wänden der repräsentativen Innenräume – von Anfang an in programmatischer Absicht aufeinander bezogen werden sollten. Architektur und Bild wurden dabei letztlich in den Dienst einer spezifisch fürstlichen Panegyrik gestellt, die den Ruhm der Ernestiner als Wegbereiter, Träger und Verteidiger einer von Martin Luther und Philipp Melanchthon begründeten und betriebenen Reformation mit dem Anspruch eines politisch und kulturell führenden, altehrwürdigen Fürstenhauses im Reich verband und möglichst auf ewig für die Nachgeborenen sichtbar im Gedächtnis bewahren sollte.
12 Vgl. Findeisen, Struktur, bes. 3–6; Findeisen/Magirius, Denkmale, 159. 13 Syndram/Wirth/Zerbe, Luther und die Fürsten. 14 Müller, Konfessionalisierung, 139–157; Slenczka, Herrschaftsrepräsentation, 159–169. Erste Überlegungen hierzu auch in folgendem Aufsatz des Verfassers: Müller, Bild(nis)träger, 16–30.
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1.1
Lutherisches Bekenntnis unter der Hülle fürstlicher Heraldik: das Bildprogramm der Treppenanlage und des Großen Wendelsteins am Neuen Saalbau Das räumliche und inhaltliche Zentrum dieser mittels Architektur und Bild erfolgenden Inszenierung von politisch-konfessionellen und politischdynastischen Gedächtnisräumen der Ernestiner markiert nicht die Schlosskapelle, selbst wenn diese von Martin Luther persönlich geweiht wurde, sondern der 1533 begonnene Neue Saalbau (Abb. 3), der den Anfang der umfangreichen Neu- und Umbaumaßnahmen unter Johann Friedrich I. von Sachsen bildete. Auf seine Innenräume und die mit ihm verbundene monumentale Treppenanlage möchte ich mich im Folgenden konzentrieren und die anderen bildbesetzten architektonischen Bereiche des Torgauer Schlosses, so die elbseitigen Runderker des Neuen Saalbaus, die Loggia am Hausmannsturm, den Schönen Erker am Kapellenflügel sowie dessen bildliche Innenraumausstattung in diesem Beitrag außen vor lassen.15 Bereits der Akt der Errichtung des Neuen Saalbaus mit dem Großen Wendelstein (Abb. 4) kann als bildhaft-symbolische Setzung aufgefasst werden, stand doch an seiner Stelle zuvor die aus dem Mittelalter überlieferte, dem Hl. Martin geweihte alte Schlosskapelle, die für den Neuen Saalbau abgebrochen wurde.16 Selbst wenn man diesen Vorgang für sich genommen noch als Ausweis fürstlich-pragmatischer Baupraxis verstehen könnte, da nur hier, im Bereich der alten Schlosskapelle genügend Platz für einen monumentalen Saalbau vorhanden gewesen war, so verweisen die Disposition des Treppenturms, des sog. Großen Wendelsteins, als auch die im Bereich dieses Treppenturms angebrachten Bildwerke auf programmatische Zusammenhänge, die ein rein pragmatisches Handeln übersteigen. Denn der berühmte Große Wendelstein, dem das Torgauer Schloss neben der Schlosskapelle wesentlich sein architekturgeschichtliches Renommee verdankt, steht nicht nur nahezu exakt an der Stelle, wo sich zuvor die Martinskapelle befand, sondern wird mittels der in seinem Umfeld angebrachten Bildwerke als Gedächtnismonument für die geradezu heldenhafte Verehrung der zum Luthertum konvertierten Ernestiner im Allgemeinen und Johann Friedrichs I. im Besonderen ausgestaltet. Damit verknüpft das Bildprogramm die traditionellen Aspekte der Memoria eines regierenden Fürstenhauses – so die Herausstellung der dynastischen Herkunft und der Regententugenden – einerseits mit dem konfessionellen Bekenntnis und andererseits mit dem memorialen Aspekt 15 Vgl. hierzu zuletzt Findeisen, Bildkünste, 63–87. Vgl. darüber hinaus Müller, Das Schloss als Bild, 67–73; Ders., Die mythische Heldin, 63–105, sowie Ders., Konfessionalisierung. Zum Bildprogramm der Loggia am Hausmannsturm vgl. auch bes. Slenczka, Herrschaftsrepräsentation sowie Roch-Lemmer, Fürstenbildnisse, 155. 16 Zur Baugeschichte vgl. Findeisen/Magirius, Denkmale, 105–108; Hancke, Torgauer Schloßkirche.
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des fürstlichen Stifters von herausragenden Bauwerken in durchaus antiker Tradition, worauf im Folgenden in der gebotenen Kürze eingegangen werden soll.
Abb. 4 Schloss Torgau: Ansicht des Großen Wendelsteins. Foto: Matthias Müller.
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Abb. 5 Schloss Torgau: Treppenpodest des Großen Wendelsteins. Foto: Matthias Müller.
Für das genaue Verständnis der Aussage dieses Monumentes ist die Rekonstruktion des intendierten Rezeptionsvorgangs von Bedeutung. Dieser Rezeptionsvorgang war ganz wesentlich von der Topographie der Architektur bestimmt und damit räumlich strukturiert, wodurch sich die verschiedenen inhaltlichen Aspekte in einer räumlich aufgefächerten Bildtopologie erschließen. Anders als aus einer kirchlich-reformatorischen Perspektive erwartet – und hierin die bisher überwiegende Geringschätzung als reformatorisches Zeugnis scheinbar bestätigend –, bildet den Auftakt der Inszenierung nicht das Bekenntnis zur lutherischen Reformation, sondern – in logischer Konsequenz des für die Adelskultur so wichtigen Herkunftsprinzips – die Demonstration der altehrwürdigen Abstammung des Bauherrn, Kurfürst Johann Friedrich I. Auf dessen Vorfahren väter- und mütterlicherseits verweisen die kunstvoll aus Stein gemeißelten und farbig gefassten Wappenschilde an der Brüstung des Treppenturmpodestes (Abb. 5).17 Zusammen mit dem podestartigen Unterbau vermitteln sie den Eindruck von Stützen und Trägern des darüber eindrucksvoll aufragenden Treppenturms, zu dem man nur über die seitlichen Freitreppen gelangt. Den 17 Eine komplette Darstellung und heraldische Aufschlüsselung dieses Wappenfrieses finden sich bei Peter, Galerie.
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Aufstieg über diese Treppen markieren jeweils eine lebensgroße steinerne, mit einer Standarte und Rüstung ausgestattete Fürstenfigur, in der auf der räumlich linken und heraldisch rechten Seite Johann Friedrich I. selbst (Abb. 6) und auf der räumlich rechten, heraldisch linken Seite sein Stiefbruder und Mitregent, Herzog Johann Ernst (1521–1553) (Abb. 7), verbildlicht wurden. Sie ergänzen die im Treppenturmpodest formulierte dynastische Aussage durch die geradezu körperliche Präsenz der regierenden ernestinischen Fürsten. Der in den Prunkrüstungen anklingende militärische Habitus bzw. die fürstliche Tugend der Fortitudo finden ihre allegorische Überhöhung, sobald die Besucher die Freitreppen nach oben gehen und – auf Augenhöhe mit den Brüstungsreliefs des Treppenturmpodestes – nun auf der linken, auf den regierenden Kurfürsten bezogenen Seite ein Relief mit der Darstellung des löwenbezwingenden Herkules (Abb. 8) und auf der rechten, auf den mitregierenden Stiefbruder bezogenen Seite ein Relief mit dem Sieg Davids über Goliath (Abb. 9) erblicken. Beide Bildreliefs sind in ihrer Zuordnung klug ausgewählt, verkörpert Herkules doch das Prinzip des tatkräftig und wehrhaft regierenden Fürsten par excellence, während mit der Bezwingung Goliaths durch David das Prinzip des trotz körperlicher Unterlegenheit alleine durch kluges und abwägendes Handeln erfolgreich regierenden Fürsten angesprochen wird. In David findet sich somit neben der Tugend der Fortitudo zusätzlich jene der Prudentia, der Klugheit, personifiziert. Beiden Tugenden werden auch in den Fürstenspiegeln Herkules bzw. David als Exempla zugeordnet, so dass die Bildreliefs unmittelbar rückgebunden waren an die zeitgenössische Regentenliteratur und Fürstendidaxe.18 Während der reformatorischen Auseinandersetzungen avancierte David jedoch auch zu einer Symbolfigur des wehrhaften, siegreichen Protestantismus, die ein zeitgenössischer Betrachter des Bildreliefs mitreflektiert haben dürfte.19 Von daher können wir in dieser Überlagerung des tradierten fürstlichen durch den protestantischen Tugendhelden David einen ersten Hinweis auf eine über fürstliche Heraldik und Tugendethik hinausgehende programmatische Aussage der bildlichen Ausschmückung des Großen Wendelsteins erkennen.
18 Vgl. hierzu Mühleisen/Stammen, Politische Tugendlehre; Mühleisen/Stammen/Philipp, Fürstenspiegel. 19 Vgl. hierzu Cooper/Lohrmann, Reformation Commentary.
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Abb. 6 Schloss Torgau: Figur Kurfürst Johann Friedrichs I. von Sachsen an der linken Freitreppe zum Großen Wendelstein. Foto: Matthias Müller.
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Abb. 7 Schloss Torgau: Figur Herzog Johann Ernsts von Sachsen an der rechten Freitreppe zum Großen Wendelstein. Foto: Matthias Müller.
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Abb. 8 Schloss Torgau: Treppenpodest des Großen Wendelsteins, linker Treppenaufgang: Bildrelief mit Herkules als Löwenbezwinger. Foto: Matthias Müller.
Auf dem letzten Treppenabschnitt passieren die Besucher schließlich portalartige Durchgänge, in deren Supraporten monumentale Reliefs mit dem kursächsischen Wappen auf der Seite Johann Friedrichs I. und mit dem Wappen des Herzogtums Jülich-Kleve auf der Seite seines Stiefbruders Johann Ernst prangen. Erneut wird hier die dynastische Aussage in den Fokus gerückt, dieses Mal bezogen auf die Allianz zwischen Kursachsen und dem Herzogtum Jülich-Kleve-Berg, die sich aus der Heirat Johann Friedrichs I. mit Sibylle von Kleve ergeben hatte. Kurfürst und Kurfürstin erscheinen dann auch unmittelbar nach dem Durchschreiten der Torbögen und dem Betreten der Plattform des Treppenpodestes. Denn ihre Bildnisse wurden in Form von kostbar in Stein gearbeiteten medaillenartigen Medaillons im Architrav oberhalb des Hauptportals (Abb. 10) des Neuen Saalbaus angebracht.20 Ihre Mitte nimmt die berühmte, aus 20 Zur Rekonstruktion dieses Bildprogramms, dessen Originalobjekte sich heute in den Kunstsammlungen der Klassik Stiftung Weimar (Kalkschiefertondi mit den Bildnissen des Kurfürstenpaares) und den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (Bronzebüste Friedrichs des Weisen) befinden, vgl. Findeisen, Der Große Wendelstein, 211–214. Vgl. darüber hinaus Ders., Struktur, sowie Müller, Die mythische Heldin, 63–105; Ders., Konfessionalisierung, 146–148; Slenczka, Herrschaftsrepräsentation, 161f.
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Abb. 9 Schloss Torgau: Treppenpodest des Großen Wendelsteins, rechter Treppenaufgang: Bildrelief mit dem Sieg Davids über Goliath. Foto: Matthias Müller.
Bronze 1498 von Adriano Fiorentino (um 1450/60–1499) angefertigte Bildnisbüste Kurfürst Friedrichs des Weisen (1463–1525) ein, die ursprünglich für das Wittenberger Schloss bestimmt war und die Johann Friedrich I. für den Neubau von Schloss Torgau eigens transferieren ließ. Ihre ästhetische Fremdartigkeit im Erscheinungsbild des Hauptportals resultiert nicht nur aus dem Material der Bronze, sondern auch aus der andersartigen Stilistik. Denn Adriano Fiorentinos Bildnisbüste folgt mit dem wilden, ungestümen Duktus der langen, gelockten Haare dem frühesten, in den 1530er-Jahren längst veralteten Porträtkonzept für Friedrich den Weisen, einem stilistischen Konzept, das auch für Albrecht Dürers (1471–1528) berühmtes gemaltes Porträt des Kurfürsten aus der Zeit um 1500 (Staatliche Museen Berlin, Gemäldegalerie) die Grundlage bildet. Offensichtlich wurden solche Brüche in Torgau bewusst in Kauf genommen und sogar noch forciert herausgestellt, um auf diese Weise die denkmalhafte Autorität Friedrichs des Weisen für das ernestinische Fürstenhaus zu betonen.
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Abb. 10 Schloss Torgau, Neuer Saalbau: Architrav des Hauptportals in den ehemaligen Festsaal mit den Porträtmedaillons von Kurfürst Johann Friedrich I. von Sachsen und seiner Ehefrau Sibylle von Kleve sowie der Bildnisbüste Kurfürst Friedrichs des Weisen (Originale ersetzt durch Kopien). Foto: Matthias Müller.
Erst an dieser Stelle innerhalb der räumlich angelegten Inszenierung der fürstlichen Autorität Johann Friedrichs I. gewinnt nun die Reformation und das protestantische Bekenntnis gegenüber der dynastischen Memoria die Oberhand. Denn die in der Bronzebüste ansichtig werdende Autorität des Onkels Johann Friedrichs I. gründete sich ganz wesentlich auf Friedrichs des Weisen Wirken als Schutzherr Martin Luthers und Ahnherr eines zum Protestantismus konvertierten Fürstenhauses, das in Johann Friedrich I. einen Amtsnachfolger besaß, der dieses Erbe entschlossen zu verteidigen gewillt war. Dass dies die Kernaussage der Bildausstattung des Hauptportals sein sollte, und damit bezeichnenderweise der Durchgang in die Innenräume des Neuen Saalbaus mit einer Aussage besetzt wurde, die den dynastischen Aspekt mit demjenigen des protestantischen Bekenntnisses verknüpft, wird deutlich, wenn wir auf das Portalgewände blicken. Dort befinden sich im linken und rechten Gewände jeweils ein Balustersäulchen, das auf Augenhöhe der Betrachter mit jeweils einem Bildnismedaillon geschmückt wurde: Auf der linken bzw. heraldisch rechten Seite erblicken wir Martin Luther (Abb. 11), während auf der rechten,
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heraldisch linken Seite das heute nur noch fragmentarisch erhaltene Bildnis Philipp Melanchthons (1497–1560) zu rekonstruieren ist.21
Abb. 11 Schloss Torgau, Neuer Saalbau: Balustersäulchen mit Bildnismedaillon Martin Luthers aus dem Gewände des Hauptportals in den ehemaligen Festsaal. Foto: Matthias Müller. 21 Ebd., 161–164.
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Dieses einzigartige bildliche Arrangement, bei dem Martin Luther und Philipp Melanchthon nicht nur – wie einstmals die Apostel in der alten Kirche – als sinnbildliche Stützen einer neuen, evangelischen Kirche unter fürstlicher Oberhoheit fungieren, sondern durch die Positionierung Martin Luthers direkt unterhalb des Bildnismedaillons von Johann Friedrich I. zudem die besondere theologische wie politische Nähe und Verbundenheit zwischen dem Reformator und dem Kurfürsten zum Ausdruck gebracht wird, ist das Ergebnis einer durchdachten inhaltlichen Konzeption, die ihren Vorlauf im Prinzip in Lucas Cranachs d.Ä. (1472–1553) Bildniskonzepten für Martin Luther und Johann Friedrich I. besitzt – ein Zusammenhang, der bislang unbeachtet blieb. In diesen ab ca. 1520 entwickelten Bildniskonzepten wurden die Physiognomien des Reformators und des Kurfürsten auf beispiellose Weise einander angeglichen, so dass sie am Ende wie Vexierbilder des jeweils anderen erschienen. So erhielt Martin Luther das von Cranach für die ernestinischen Kurfürsten ab ca. 1515 entwickelte Gesichtsschema, während Johann Friedrich I. wiederum ab ca. 1534 den von Cranach zugleich für Luther entworfenen Typus des den Kopf andächtig gen Himmel richtenden Visionärs verliehen bekommt, wie er erstmals in Cranachs Entwurf des bärtigen Martin Luther auftaucht.22 Dieser damals, um 1534 entworfene Typus des barttragenden und zum Himmel aufblickenden Reformators wurde dann – wie Thomas Kaufmann jüngst plausibel darlegen konnte – erst nach Luthers Tod für dessen posthumes Porträt als »Junker Jörg« verwendet.23
22 Siehe hierzu zuletzt Müller, Bildnis und Bekenntnis, 63–79. Siehe zuvor erstmals zu diesem Thema Bierende, Demut und Bekenntnis, 327–357. 23 Kaufmann, Abschied von »Junker Jörg«.
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Abb. 12 Schloss Torgau, Neuer Saalbau: Treppenspindel des Großen Wendelsteins. Foto: Matthias Müller.
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Abb. 13 Schloss Torgau, Neuer Saalbau: Bildrelief mit Samson und Delila am Fußpunkt der Treppenspindel des Großen Wendelsteins. Foto: Matthias Müller.
Eine besondere konfessionspolitische ikonographische Pointe, die ebenfalls bislang keine nähere Aufmerksamkeit in der Literatur gefunden hat, setzten die Konzepteure dieses Bildprogramms schließlich bei der dem Hauptportal gegenüberliegenden Treppenspindel des grandios-virtuosen Großen Wendelsteins (Abb. 12). Dort wurde am Fußpunkt der Treppenspindel ein heute partiell stark verwittertes Bildrelief (Abb. 13) angebracht, das die alttestamentliche Geschichte vom Verrat Samsons durch die Philisterin Delila zeigt. Im Bildvordergrund wird formatfüllend die größte Schmach Samsons, die Brechung seiner übermenschlichen Kraft durch das Scheren seiner Haare durch Delila, wiedergegeben und mit dieser Szene doch zugleich auch auf die nachfolgende Rächung dieses Verrats durch die Rückgewinnung seiner übernatürlichen Kräfte und die anschließende Zerstörung des Tempels der Philister hingewiesen. In der Nachfolge der patristisch-theologischen Auslegung deutete Martin Luther Samson als Präfiguration der Passion und Auferstehung Christi und in reformatorischer Zuspitzung darüber hinaus als Sinnbild für die Bezwingung der alten, katholischen Kirche durch die neue, auf dem Evangelium Christi und
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dem Schutz der sächsischen Kurfürsten gründende Kirche.24 In der Figur des Samson, der in der Deutungsgeschichte immer auch als Pendant zur Figur des Herkules aufgefasst wurde, fokussiert sich daher pointiert das Selbstverständnis der ernestinischen Kurfürsten (und besonders von Johann Friedrich I.) als das Luthertum beschützende starke Regenten. Diese – so die Aussage des Bildreliefs – waren zwar nicht vor der List der »Weibermacht« (hier vermutlich auch auf religionspolitische Fragen zu beziehen) geschützt, doch erkannten sie am Ende ihren heilsgeschichtlichen Auftrag und brachten durch ihre von Gott verliehene Standhaftigkeit und Durchsetzungskraft – wie Samson den Tempel – das Gebäude der katholischen Kirche zum Einsturz. Möglicherweise sollte die sich über dem Bildrelief in virtuoser Weise emporschraubende Treppenspindel (Abb. 12), deren Fußpunkt ja in auffälliger Weise durch das Samson-Relief geschmückt wird, auf der Ebene der bildhaften Architektursemantik die sich durch göttlichen Willen erneuernde Kraft des gedemütigten Samson metaphorisch Ausdruck verleihen. Denn ihre stützenlose, sich wie eine Spirale mit geradezu übernatürlicher statischer Kraft nach oben windende Konstruktion vermittelt das Bild einer cappriciohaften Architektur, bei der die irdischen Gesetze der Tektonik auf wundersame Weise scheinbar außer Kraft gesetzt wurden und die sich dennoch mit großem, kraftvollem Schwung in Richtung der oben den Turm abschließenden Spiegelstube, dem exklusiven fürstlichen Rückzugsraum, erhebt. Wie dem auch sei: Die Position des ikonographisch bedeutsamen Samson-Reliefs am Beginn der Treppenspindeldrehung ist sicherlich wohlbedacht worden und sollte daher auch im Kontext der virtuosen Treppenkonstruktion des kurfürstlichen Baumeisters Konrad Krebs betrachtet werden. Dass die öffentliche Zurschaustellung des protestantischen Bekenntnisses erst unmittelbar am Hauptportal und am Sockel der gegenüberliegenden Treppenspindel des Großen Wendelsteins erfolgt, die sich beide – wie gezeigt – am Ende eines räumlich ausgreifenden, langen Weges von der Stirnseite des Treppenturmpodestes über die seitlichen Freitreppen bis hinauf zum Treppenpodest befinden, ist sicherlich kein Zufall. Vielmehr scheint das in jeder Hinsicht provokative, in letzter Konsequenz auch die Autorität des katholischen Kaisertums herausfordernde protestantische Bildprogramm bewusst erst am Ende der Wegeführung vom Schlosshof über die Treppenanlage in die offiziellen Repräsentationsräume angebracht und dort den Besuchern vor Augen gestellt worden zu sein. Ohne eine genauere Betrachtung des Hauptportals wie des Podestes der Treppenspindel bleibt die reformatorische Bildaussage den Besuchern hingegen verschlossen, wird die bildikonographische Aussage von Portal und Treppenspindel doch in aufwendigster Weise von einem anderen, 24 Vgl. hierzu die kleine Studie von Herrmann, Gestalt.
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vorgelagerten Bildprogramm umhüllt, das – wie gezeigt – ausschließlich die traditionellen Aspekte der fürstlichen Rangfolge, Dignität und familiären Herkunft sowie die Tugenden der fürstlichen Fortitudo und Prudentia und damit klassische Regententugenden thematisiert. 1.2
Konfessionelle Bildarrangements: Beobachtungen zur ursprünglichen Bildausstattung der Innenräume des Neuen Saalbaus Wie sehr das regentenethisch-dynastische Programm im Bereich der Hoffassade des Neuen Saalbaus als Umhüllung und Verhüllung der konfessionellen Kernaussage des ikonographischen Programms aufgefasst und strukturell organisiert wurde, zeigen die dahinter liegenden Innenräume und ihre wiederum einzigartige bildliche Ausstattung, die sich heute allerdings nur noch anhand der Inventare von 1546, 1548 und 1610 rekonstruieren lässt.25 Denn in der ursprünglichen Bildausstattung erfährt das zuvor am Außenbau vorgeführte Prinzip einer Zusammenführung von dynastischer und reformatorischer Programmatik seine Fortsetzung, allerdings nicht mehr nur im Sinne einer Überlagerung der reformatorischen Aussage durch die dynastische, sondern als deren konsequente und unauflösbare Verschränkung. Diese Verschränkung erfolgte jedoch erst in der Tafelstube und in den Wohnräumen, während im Festsaal nochmals die ganze Pracht der ernestinischen Herkunft und fürstlich-königlichen Allianzen vor Augen gestellt wurde.26 Wenn die Besucher den Festsaal betraten (was heute wegen der späteren Raumunterteilungen und Einbauten so nicht mehr möglich ist; siehe daher behelfsweise die Grundrissrekonstruktion auf Abb. 14), erblickten sie zunächst an den Wänden 36 auf Leinwand mit Wasserfarben gemalte Bildnisse von Kaisern, Königen, Kurfürsten und Fürsten.27 Sie verbildlichten gewissermaßen den reichsbezogenen dynastischen Kontext, in dem sich 25 Von besonderer Bedeutung ist das Inventar von 1546 (Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Loc. 9140/3, fol. 40r –64v ), das während der kurzzeitigen Besetzung Torgaus im Schmalkaldischen Krieg durch Herzog Moritz von Sachsen, den Vetter Johann Friedrichs I., als Bestandsaufnahme vor allem der zahlreich vorhandenen Bildwerke angefertigt worden war. Entsprechend sorgfältig werden in diesem Inventar nicht nur die Materialität, sondern auch zahlreiche Bildthemen und die vielfache Urheberschaft Lucas Cranachs d.Ä. und seiner Werkstatt verzeichnet. Die Inventarisation der transportablen Ausstattung der Innenräume mitsamt allen darin enthaltenen nicht wandfesten Bildwerken deutet möglicherweise auf Pläne eines Abtransports der Ausstattung, etwa nach Dresden in die Residenz von Moritz von Sachsen, hin. Zum Inventar vgl. Marx/Vötsch, Schlossinventar, 253–274. Zur Bedeutung des Inventars vgl. auch Marx, Kunst und Repräsentation, 21–22. 26 Die nachfolgenden Ausführungen zum Bildprogramm basieren auf meinem Beitrag: Müller, Konfessionalisierung, 150f. 27 Inventar des Schlosses Torgau 1546 November 6, fol. 44r , in: Marx/Vötsch, Schlossinventar, 260. Das Inventar von 1610 zählt nur noch 32 statt 36 Bildnisse und erwähnt – anders als das
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die kursächsische Dynastie der Wettiner genealogisch und (bündnis-)politisch verankerte und die das dynastisch ausgerichtete Gesamtprogramm des Großen Wendelsteins und seines Treppenpodestes fortführten. Dieser Gemäldezyklus fand seine Ergänzung in Wappendarstellungen der Kurfürsten und Fürsten, die als Glasmalereien in den Fenstern des Festsaals erschienen, sowie in einem an der Saaldecke umlaufenden Wappenfries, »Darinn Chur- unnd Frl. Item Graffen unndt Herrschafft wappenn gemahlett«.28
Abb. 14 Schloss Torgau, Neuer Saalbau: Grundriss des ersten Obergeschosses mit Einzeichnung der historischen Raumfunktionen des 16. Jahrhunderts (nach Stephan Hoppe 1996). Quelle: Bildarchiv des Verfassers.
Inventar von 1546 – auch die materielle Beschaffenheit der Bildnisse (vgl. Hoppe, Struktur, 172). 28 Inventar 1610, zit. nach Hoppe, Struktur, 173.
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Erst wenn die Besucher in die nördlich anschließende Tafelstube gehen wollten, sahen sie sich mit einem protestantischen Bildprogramm konfrontiert, das vom Prinzip her das Gestaltungskonzept und die Bildidee des Hauptportals wiederholte. Denn die vom Festsaal in die Tafelstube führende Tür war mit einem ähnlich aufwendig gestalteten steinernen Türgewände und Architrav versehen, wobei sich das Bildprogramm diesmal ganz auf den Bereich des Architravs oberhalb der Türgewände konzentrierte: Hier befanden sich in Öl gemalte Porträts von Kurfürst Johann Friedrich I. und seinem mitregierenden Bruder Johann Ernst (ab 1541 Herzog von Sachsen-Coburg), die wiederum – in Abwandlung der Bildidee des Hauptportals – in einem darunterliegenden Fries von den ebenfalls mit Ölfarben gemalten Rundbildnissen Martin Luthers und Philipp Melanchthons optisch getragen wurden.29 In der dahinter liegenden Tafelstube hingen dann auch an den Wänden Bildwerke mit reformatorischen Themen und in einem Fall sogar eine offen antipäpstliche Bildpropaganda, wobei nahezu alle Bildwerke aus der Cranach-Werkstatt stammten.30 Von Interesse ist hier zunächst das Arrangement von acht unterschiedlich großen Ölgemälden von Lucas Cranach d.Ä. (»8 taffeln groß undt klein, vonn öelfarbenn, durch den altenn Lucas Kranachennn gemahlet«31 ), die zwei Porträts Johann Friedrichs I. und seines mitregierenden Bruders Johann Ernsts mit antiken und biblischen Historienbildern kombinierten. Die Folge der acht Bilder wurde nach Angaben des Inventarisators durch ein Rundbildnis (»inn einem runden halben rahmen gefast«32 ) Johann Friedrichs I. eröffnet, das diesen mit erhobenem Kurschwert präsentierte (»das Churschwertt in der Hanndt führenndt«33 ). Es folgte eine Darstellung der Lucretia (die auch am Schönen Erker im Torgauer Schlosshof als Bildrelief gezeigt wird), der sich wiederum das Bildnis Herzog Johann Ernsts anschloss, womit die beiden Bildnisse der in Kursachsen regierenden Fürsten auf vielsagende Weise eine Lucretia-Darstellung flankierten, deren allegorische Aussage sich dadurch unmittelbar auf die Fürsten und ihr Amtsverständnis bezog. Denn Lucretias aus Tugendhaftigkeit gewählte Selbsttötung erhob sie – trotz der damit verbundenen theologischen Brisanz – nicht nur zu einer der Neun Guten Heldinnen, sondern in der Reformationszeit neben der Gestalt der Judith auch zu einer Symbolfigur für tugendhafte Prinzi-
29 »1 Steinern thürgerichte uber der Sahlstubenn thuer, Darüber Herzog Johann Friedrichs und seines Herrn Bruderß Conterfect, Im frieße darunter 2 Runndungenn, Im welche D. Martini Luthers undt Philippi Melanchtonis effigies alles mit öelfarbenn gemahlet« (Inventar von 1610, Sächs. HStA Dresden, Rep. A 25 a I, I, Nr. 2343, zit. nach Hoppe, Struktur, 173). 30 Ebd., 172. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd.
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pienfestigkeit und Glaubensstärke.34 Nach einem Madonnenbild (als viertem Bild) folgten zwei weitere Gemälde, die sich unmittelbar mit theologischen Deutungen Martin Luthers in Verbindung bringen lassen: die Auferweckung des Lazarus (als fünftes Bild) sowie (als sechstes Bild) die Schilderung aus Joh 8 von Jesus und der Ehebrecherin (»Eine Euangelische Historienn, Johannis am 8. beschriebenn«35 ). Den Abschluss des Zyklus bildeten als siebtes und achtes Bild eine Darstellung des Sündenfalls von Adam und Eva, womit die bereits am nördlichen Erker des Neuen Saalbaus (Elbseite) in Reliefform angestimmte Thematik des Verlusts menschlicher Unschuld und der Rückkehr zum christlichen Heil durch eine gute fürstliche Regentschaft auch am Ort der fürstlichen Speisetafel Geltung beanspruchte. Dieser in Ölmalerei ausgeführte Bildzyklus Lucas Cranachs d.Ä. wurde durch vier weitere, in diesem Fall auf Leinwand mit Wasserfarben gemalte großformatige Tafelbilder (»4 grosse vonn Wasserfarbenn uff Leinwadt gemahlete Taffeln«36 ) ergänzt, die außer zwei Kurfürsten- bzw. Fürstenporträts eine Papst-Darstellung (»vom Babste«) und eine Himmelfahrt Christi (»Auffarth Christi«) zeigten. Zwar fehlen im Inventar nähere Angaben zur Darstellung des Papstes, doch gibt uns ein Rechnungsbeleg, der Lucas Cranach d.Ä. für »zwey tucher do Christus Himelfart vnd des Bapsts hellefart in der Salstuben vff gemalet ist«, entlohnt, nähere Auskunft.37 Möglicherweise hat sich für das Bild von der »Höllenfahrt des Papstes« sogar die Vorzeichnung erhalten, denn in der Staatsbibliothek Bamberg wird eine Feder- und Pinselzeichnung der Cranach-Werkstatt von ca. 1538 aufbewahrt (Abb. 15), die mit dem Höllensturz des Papstes und seiner Anhänger genau das genannte Bildmotiv aufweist.38
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Zur Bedeutung Lucretias in der Reformationszeit vgl. Zapalac, Image and Likeness, 108–134. Inventar 1610, zit. nach Hoppe, Struktur, 172. Ebd. Zit. nach Schuchardt, Lucas Cranach, 276. Diese Identifizierung schlug 1974 anlässlich der Baseler Cranach-Ausstellung bereits Tilmann Falk vor: Koepplin/Falk, Lukas Cranach, 512, Kat. Nr. 360.
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Abb. 15 Lucas Cranach und Werkstatt, Höllensturz des Papstes und seiner Anhänger (ca. 1538, Feder- und Pinselzeichnung, Staatsbibliothek Bamberg); möglicherweise Vorzeichnung für ein Gemälde in der Tafelstube des Torgauer Schlosses. Quelle: Bildarchiv des Verfassers.
Die in der Tafelstube nachvollziehbare Kombination von Bildtafeln verschiedener und letztlich doch zusammengehöriger profaner wie religiöser Darstellungsinhalte – von dynastischen Fürstenporträts über mythologische und biblische Historien bzw. Allegorien bis hin zu Andachtsbildern – und ihre Aufladung mit einer dezidiert konfessionellen, protestantischen Semantik, bildet auch das grundlegende Ordnungssystem in den Wohnappartements des Torgau-
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er Schlosses, auf die im Rahmen dieses Beitrags aber nicht weiter eingegangen werden kann.39 Nur auf einen Bildentwurf soll in diesem Zusammenhang hingewiesen werden, da er möglicherweise als Vorlage für eine prachtvolle und sehr kostbare Tapisserie für einen der repräsentativen Wohnräume im Neuen Saalbau geplant gewesen ist und den Gedanken der Umwandlung von Schloss Torgau in eine konfessionelle Bekenntnisarchitektur der Ernestiner nochmals pointiert herausstellt. In diesem um 1540 entstandenen Entwurf bzw. Karton (Abb. 16) wird eines der wichtigsten Bildthemen der lutherischen Kirche, die Kindersegnung Christi, mit der monumentalen Darstellung von Schloss Torgau verbunden. Ganz im Sinne von Martin Luthers vielbesungener »fester Gottesburg« ragt Schloss Torgau im Hintergrund der Kindersegnung gen Himmel
Abb. 16 Lucas Cranach d.Ä., Kindersegnung Christi (vermutlich Entwurf für eine Tapisserie, möglicherweise für Schloss Torgau) (um 1540, Museum für bildende Künste Leipzig). Quelle: Bildarchiv des Verfassers.
39 Vgl. hierzu Müller, Konfessionalisierung, 151–155.
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und unterstreicht durch diese kompositionelle Einbindung den Anspruch, den Kurfürst Johann Friedrich I. mit seinem wichtigsten Residenzschloss verband: die Bedeutung einer Bekenntnisarchitektur für den Beschützer Martin Luthers und fürstlichen Vorkämpfer der Reformation. 2.
Trophäen des konfessionellen Gegners, Reliquien der Märtyrer: Fürstliche Sammlungen als Erinnerungsräume der Reformation
Angesichts der in Torgau betriebenen ikonischen Überhöhung der ernestinischen Wettiner und Kurfürst Johann Friedrichs I. als von Gott auserwählte Schutzherren Martin Luthers und der Reformation, und damit die Beanspruchung eines besonderen heilsgeschichtlichen Sendungsauftrags durch eines der mächtigsten Fürstenhäuser Europas, ist von Interesse, wie einerseits der politische Gegner – darunter vor allem die mit den Ernestinern dynastisch engstens verbundenen Albertiner – und andererseits der konfessionelle Gegner – besonders die katholische Fürstenliga unter Führung Kaiser Karls V. – darauf reagierten. Diese errichteten zwar keine Residenzschlösser mit konfessionellbekenntnishaftem Charakter, doch erweiterten sie ihre bestehenden fürstlichen Sammlungen vor allem nach der militärischen und politischen Niederlage des Schmalkaldischen Bundes 1547 mit Trophäen von sich selbst als Sieger und von Johann Friedrich I. als Besiegtem, womit wir abschließend bei der zweiten, in diesem Beitrag etwas weniger umfassend thematisierten Fallgruppe, den fürstlichen Sammlungen als Erinnerungsräumen der Reformation, angelangt wären.40 In ihnen wird das Schicksal des gestürzten sächsischen Kurfürsten in Umkehrung der protestantischen Propaganda einerseits als Wiederherstellung der gottgewollten katholischen Ordnung und Reichsverfassung gefeiert und andererseits als militärischer Triumph über einen zwar unbotmäßigen, doch äußerst achtbaren und mit allen ritterlichen Tugenden ausgestatteten wehrhaften Fürsten. Dieser zwischen konfessionellem Widersacher und ritterlichem Held oszillierende Status Johann Friedrichs I. materialisierte sich nun in dinghafter Form in einer Reihe von Objekten, die vor allem in den Kunstsammlungen der Habsburger, aber teilweise auch der Wittelsbacher und der albertinischen Wettiner aufbewahrt wurden. Alle diese Objekte thematisieren ausnahmslos das Ereignis der Niederlage in der Schlacht bei Mühlberg und die damit einhergehende, von den Zeitgenossen vielbeachtete Gesichtsverletzung des sächsischen 40 Der Verfasser wird diesen Aspekt im Rahmen eines größeren, von der DFG geförderten Forschungsprojekts zusammen mit den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Grünes Gewölbe und Rüstkammer (Prof. Dr. Dirk Syndram, Susanne Thürigen und Dirk Weber) näher untersuchen; vgl. hierzu Anm. 9.
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Kurfürsten. In den Objekten wird der Sieg der katholischen über die protestantische Liga somit weniger als Rückgewinnung des Primats der katholischen Kirche an sich als vielmehr als Wiederherstellung eines die katholische Kirche und die katholische Reichsordnung beschützenden Kaisertums visualisiert und damit das Ereignis der Reformation letztlich als Infragestellung und Bedrohung der tradierten reichsfürstlichen Identität interpretiert.41
Abb. 17 Stiefel Johann Friedrichs I. von Sachsen aus der Schlacht bei Mühlberg 1547 (Gotha, Stiftung Schloss Friedenstein, Kunstkammer). Quelle: Bildarchiv des Verfassers.
Diesem Deutungsmodell entsprechen vor allem jene Objekte, die aus den von Johann Friedrich I. und seinen Gegnern in der Schlacht bei Mühlberg getragenen Kleidungsstücken sowie Rüstungen bzw. Harnischen bestehen. Hierzu 41 Vgl. hierzu in Syndram/Wirth/Zerbe, Luther und die Fürsten, die Beiträge von Schilling, Veränderung, 17–27, sowie Pfannenbichler, Habsburger, 281–295. Zu den Loyalitätskonflikten der reichstreuen, aber gegenüber Kaiser Karl V. ablehnend eingestellten Protestanten vgl. im selben Band Schmidt, Gegen den Kaiser, 297–307.
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gehört auch jener Stiefel (Abb. 17) der sich von einem einstmals kompletten Paar in der Kunstkammer von Schloss Friedenstein in Gotha erhalten hat, ursprünglich aber von den Wittelsbachern in München ausgestellt wurde.42 Bei diesem Stiefel und seinem verlorenen Pendant soll es sich um jene Stiefel handeln, die Johann Friedrich I. nach der Gefangennahme in demütigender Weise ausgezogen und an den katholischen Gegner übergeben wurden, so dass er vor diesem barfüßig erscheinen musste. Unabhängig von der Glaubwürdigkeit dieser Erzählung bilden die Stiefel glaubwürdige Trophäen, die daher auch wie Reliquien in der Münchner Kunstkammer der katholischen Wittelsbacher präsentiert wurden und noch 1632 in einem Inventar nachweisbar sind.43 Spätestens ab 1657 befindet sich einer der Stiefel in der Kunstkammer von Schloss Gotha, wohin sie vermutlich Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha (1601–1675), ein Nachkomme Johann Friedrichs I., verbrachte, nachdem er unter Führung von Gustav Adolf von Schweden (1594–1632) im Dreißigjährigen Krieg an der Einnahme Münchens beteiligt war. In Gotha erfolgte nun eine Umcodierung der Trophäe, deren Semantik sich von der katholischen Siegesreliquie hin zur ernestinischen Memorialreliquie für Johann Friedrich I. und sein Märtyrertum in der Nachfolge Christi und Martin Luthers wandelt. Einen vergleichbaren Reliquiencharakter besaß auch ein kostbarer goldener saphirbesetzter Fingerring (Abb. 18), der bis heute zum Bestand der Dresdner Kunstkammer gehört.44 Ihn soll Johann Friedrich I. ebenfalls in der Schlacht bei Mühlberg getragen und zum Dank vor der Errettung vom Tode Thilo von Trotha (1466–1514) geschenkt haben. Der Überlieferung nach war es Thilo von Trotha, ein Ritter aus dem Heer des auf der Seite Karls V. kämpfenden Moritz von Sachsen, der den besiegten sächsischen Kurfürsten nach dessen Gefangennahme durch spanische Söldner vor der sofortigen Hinrichtung bewahrte. Nach Dresden kam der Ring 1624, als ihn Kurfürst Johann Georg I. (1585–1656) am 22. August desselben Jahres erwarb und in den Bestand der kurfürstlichen Sammlungen integrierte.45 Doch die Virtus bzw. Tapferkeit der Gegner manifestierte sich ganz besonders in den Rüstungen bzw. Harnischen. In den Rüstkammern in Wien, Madrid und Dresden haben sich die Harnische sowohl von Johann Friedrich I. und seinen gegen ihn opponierenden Vettern Moritz und August von Sachsen (1526–1586) als auch von Kaiser Karl V. erhalten. Für Johann Friedrich I. sind sogar zwei Harnische überliefert, die er angeblich in der Schicksalsschlacht der protestantischen Liga getragen haben soll: zum einen ein geschwärzter Trabharnisch 42 43 44 45
Vgl. Syndram/Wirth/Zerbe, Luther und die Fürsten, Katalog-Band, 112f, Kat.-Nr. 52. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 113f, Kat.-Nr. 53. Vgl. ebd.
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Abb. 18 Fingerring (angeblich von Johann Friedrich I. von Sachsen in der Schlacht bei Mühlberg getragen) (Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Grünes Gewölbe). Quelle: Bildarchiv des Verfassers.
(Abb. 19), der zum Sammlungsbestand der Dresdner Rüstkammer gehört,46 und zum anderen ein blanker Harnisch, der sich in der Madrider Rüstkammer befindet. Von beiden Harnischen wird behauptet, dass Johann Friedrich I. sie getragen habe, als er in der Schlacht verwundet und durch den Kaiser und seine Vasallen gefangengenommen wurde. Zu klären, welcher nun der ›authentische‹ Harnisch und damit die ›echte‹ Trophäe ist, dürfte ein müßiges Unterfangen sein. Denn wie bei Reliquien der katholischen Kirche gilt auch bei diesen Trophäen das Gültigkeitsprinzip der Evidenz bzw. der in den Augen der Betrachter entfalteten Glaubwürdigkeit der bildlichen Inszenierung. Und diese ist für beide Harnische von außerordentlicher Wirkmächtigkeit: Während der Dresdner Harnisch durch Kurfürst Moritz und Herzog August von Sachsen als Teil eines lebensechten körperplastischen Arrangements (Abb. 20) den Augenblick der Niederlage wie ein bühnenhaftes Reenactment in der Rüstkammer zur Schau stellte, erhielt der in Madrid gezeigte Harnisch seine Echtheitsbestätigung durch ein Gemälde Tizians (Abb. 21), das Johann Friedrich I. im Moment der Niederlage in eben jenem Harnisch zeigt (siehe hierzu weiter unten). In Dresden schmückt der Harnisch mitsamt ebenfalls angeblich authentischem Helm eine lebensecht gestaltete Körpernachbildung Johann Friedrichs I., dessen Gesicht von einer täuschend echten Gesichtsmaske aus Presspappe nachgebildet wird.47 Diese beklebte man nicht nur mit echten Barthaaren, sondern bemalte sie auch mit der berühmten Gesichtsnarbe, die Johann Friedrich I. in den Augen seiner Anhänger zu einem protestantischen Märtyrer stilisierte.
46 Nach Auskunft der Inventare (von 1606 bis 1836) soll Johann Friedrich I. diesen Harnisch in der Schlacht bei Mühlberg getragen haben. Vermutlich handelt es sich bei diesem Stück jedoch um den in der Schlacht mitgeführten Zweitharnisch des Kurfürsten. Vgl. Marx, Kunst und Repräsentation, Katalog-Band, 196 mit Kat.-Nr. 304, sowie ebd., 198, Kat.-Nr. 306. Siehe hierzu auch Marx/Kluth, Glaube und Macht, Katalog-Band, 196–198, Kat.-Nr. 304–308. 47 Marx/Kluth, Glaube und Macht, Katalog-Band, 198, Kat.-Nr. 306.
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Abb. 19 Schwarzer Trabharnisch Johann Friedrichs I. von Sachsen aus der Schlacht bei Mühlberg 1547 (Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Rüstkammer). Quelle: Bildarchiv des Verfassers.
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Abb. 20 Puppe Johann Friedrichs I. von Sachsen mit schwarzem Trabharnisch aus der Schlacht bei Mühlberg 1547 (Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Rüstkammer). Foto: Matthias Müller.
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Abb. 21 Tizian, Kurfürst Johann Friedrich I. von Sachsen in Rüstung und mit Gesichtswunde in der Schlacht bei Mühlberg, (1548, Madrid, Museo Nacional del Prado). Quelle: Bildarchiv des Verfassers.
Auf eine solche geradezu theatralische Inszenierung haben die im Auftrag Karls V. handelnden Konzepteure für den in Madrid präsentierten Harnisch verzichtet und stattdessen auf die Überzeugungskraft der Evidenz des Bildes gesetzt, indem sie Tizian mit einem in seiner Zeit vollkommen außergewöhnlichen Porträt beauftragten (Abb. 21). Es zeigt den besiegten sächsischen Kurfürsten als Kämpfer in der Schlacht bei Mühlberg, bekleidet mit eben jenem Harnisch, der auch in der Madrider Rüstkammer ausgestellt wird.48 Die Dramatik des Effekts und die Stärke der gleichsam historischen Aussagekraft des Gemäldes werden zusätzlich erhöht, indem Tizian den Moment der Verletzung des Kurfürsten durch einen Schwerthieb darstellt, in dessen Folge der kostbare Harnisch durch das aus der Gesichtswunde herabfließende Blut befleckt wird. Mit diesem ganz und gar ungewöhnlichen Bildnis eines besiegten 48 Ebd., 208, Kat.-Nr. 324.
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Kurfürsten schuf Tizian – anders als die Bildkonzepte der Cranach-Werkstatt – weniger ein Märtyrerporträt als vielmehr das Porträt eines ehrenhaft in der Schlacht bezwungenen heldenhaften Gegners, dessen Kampfesmut seinen Makel eines konfessionell Abtrünnigen überstrahlt. Dabei bezeugt das Bildnis die Authentizität des in der Rüstkammer vorhandenen Harnischs als Trophäe und Erinnerungsobjekt, das wiederum umgekehrt die Glaubwürdigkeit der
Abb. 22 Tizian, Reiterbildnis Kaiser Karls V. nach der Schlacht bei Mühlberg 1547 (1548, Madrid, Museo Nacional del Prado). Quelle: Bildarchiv des Verfassers.
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im Bildnis zur Anschauung gelangenden Szene des Sieges über den mächtigen konfessionellen wie militärischen Gegner bestätigt. Dieser Vorgang einer wechselseitigen Bestätigung von Bild und Objekt lässt sich schließlich auch für eine andere, nunmehr auf Karl V. bezogene BildObjekt-Konstellation in den Madrider Sammlungen nachweisen. Denn als Gegenstück zu dem ungewöhnlichen Bildnis Johann Friedrichs I. ließ Karl V. von Tizian 1548 jenes berühmte Reiterbildnis (Abb. 22) anfertigen, das den Kaiser nach der Schlacht – ausgestattet mit Prunkharnisch und Lanze – im Licht der auf- oder untergehenden Sonne im schnellen Lauf aus dem Wald reitend präsentiert. Mit diesem Reiterbildnis griff Tizian auf ein zu Beginn des 16. Jahrhunderts durch Hans Burgkmair als Clair-obscure-Holzschnitt entworfenes Reiterbildnis von Kaiser Maximilian I. (Abb. 23) zurück, das diesen im Typus des Heiligen Georg zeigt und den Kaiser dadurch eschatologisch überhöht.49 In Tizians Reiterbildnis ist es nun Karl V., der als neuer Heiliger Georg der protestantischen Liga eine verheerende Niederlage bereitet hat. Das heimliche Zentrum des Gemäldes bilden aber weder die Gestalt des Kaisers noch die des Pferdes, sondern stellt der äußerst kostbare Prunkharnisch (Abb. 24) dar, dessen vergoldete und gravierte Metalloberflächen unter den rötlichen Strahlen der Sonne einen leuchtend-glühenden Eigenglanz entfalten. Dass es Tizian vor allem um die Sichtbarkeit dieses geradezu magischen Glanzes des Metalls ging, das wiederum wie ein zweiter, symbolischer Körper den sterblichen Körper des Kaisers umhüllt, belegt die mal- und farbtechnische Konzentration auf die Lichtmodulation. Bei dem solchermaßen als kostbares und zugleich auratisches Objekt herausmodellierten Harnisch handelt es sich um jenen noch heute in der Rüstkammer des spanischen Königspalastes in Madrid (Real Armería, Palacio Real de Madrid) aufbewahrten Harnisch (Abb. 25), den Karl V. in der Schlacht bei Mühlberg trug.50 Doch so, wie der in der Madrider Rüstkammer ausgestellte Harnisch Johann Friedrichs I. erst durch Tizians Darstellung des blutverschmierten Harnischs im Bildnis Johann Friedrichs I. (Abb. 21) seine Bestätigung als authentische Trophäe erhält, so erfährt auch der Harnisch Karls V. erst durch die Abbildung in Tizians Reiterbildnis Karls V. seine Beglaubigung als authentisches Objekt aus der Schlacht bei Mühlberg. In beiden Fällen ist es letztlich der Leistungsfähigkeit der Malerei zu verdanken, dass die Betrachter in den Harnischen nicht nur kostbare Objekte einer höfischen Sammlung sahen, sondern am Ende auch die auratische Qualität dieser Objekte als unvergleichliche Zeugnisse einer dynastischen Erinnerungskultur gegenüber den Ereignissen der Reformation erkannten.
49 Vgl. Oberhaidacher, Reiterbildnis, 69–90. 50 Vgl. Syndram/Wirth/Zerbe, Luther und die Fürsten, Katalog-Band, 109, Kat.-Nr. 47.
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Abb. 23 Hans Burgkmair, Reiterbildnis Kaiser Maximilians I. (1508, Wien, Albertina). Quelle: Bildarchiv des Verfassers.
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Abb. 24 Tizian, Reiterbildnis Karls V., Ausschnitt mit Prunkharnisch Kaiser Karls V. aus der Schlacht bei Mühlberg 1547. Quelle: Bildarchiv des Verfassers.
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Abb. 25 Prunkharnisch Kaiser Karls V. aus der Schlacht bei Mühlberg 1547 (Real Armería, Palacio Real de Madrid). Quelle: Bildarchiv des Verfassers.
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Bemerkenswert an den solchermaßen in den Sammlungen zur Schau gestellten Erinnerungsstücken an Johann Friedrich I. und Karl V. ist die Dualität der getroffenen Aussage: Während der Sieg über Johann Friedrich I. auf der einen Seite als Triumph des Kaisertums und der mit ihm verbundenen päpstlichkatholischen Kirche über einen ihrer gefährlichsten Widersacher inszeniert wurde, setzten ihn die Konzepteure und Arrangeure auf der anderen Seite zugleich als Sieg über einen trotz aller Divergenzen überaus heldenhaften Gegner ins Bild, mit dessen Heldenmut sich selbst die Sieger schmücken konnten. Damit orientiert sich die Deutung und Einordnung des Sieges über Johann Friedrich I. als Anführer des Schmalkaldischen Bundes im Wesentlichen an der bereits im Bildprogramm des Torgauer Neuen Saalbaus von Johann Friedrich I. selbst vertretenen Argumentationslinie: Der sächsische Kurfürst mag zwar ein konfessionell Abtrünniger sein, doch noch mehr ist er ein ritterlicher Held, der dem bis in die Artus-Romane zurückzuverfolgenden Ideal fürstlicher Ritterlichkeit und Tapferkeit entsprach und für diese Tugenden auch weiterhin als Exemplum dienen konnte. Die von ihm überlieferten und gesammelten Trophäen waren daher Siegeszeichen und Mirabilia zugleich. Literatur Bierende, Edgar, Demut und Bekenntnis – Cranachs Bildnisse von Kurfürst Johann Friedrich I. von Sachsen, in: Volker Leppin/Georg Schmidt/Sabine Wefers (Hg.), Johann Friedrich I. – der lutherische Kurfürst, Heidelberg 2006, 327–357. Bomski, Franziska/Seemann, Hellmut Th./Valk, Thorsten (Hg.), Bild und Bekenntnis: die Cranach-Werkstatt in Weimar, Göttingen 2015. Cooper, Derek/Lohrmann, Martin J. (Hg.), Reformation Commentary on Scripture Series, Old Testament, Bd. 5: 1–2 Samuel, 1–2 Kings, 1–2 Chronicles, Westmont (Illinois) 2016. Findeisen, Peter, Zur Struktur des Johann-Friedrich-Baues im Schloß Hartenfels zu Torgau, Sächsische Heimatblätter 20,1, 1974, 1–12. –, Der Große Wendelstein des Schlosses Hartenfels, in: Harald Marx (Hg.), Glaube und Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit, Ausst.-Kat. Torgau, Bd. 2: Aufsätze, Dresden 2004, 205–219. –, Die Rolle der Bildkünste am Torgauer Schlossbau des Kurfürsten Johann Friedrich I., in: Jürgen Herzog/Hans-Christoph Sens (Hg.), Schloss Hartenfels und die Schlosskirche in Torgau. Denkmal der Reformation, Beucha 2017, 63–87. –/Magirius, Heinrich (Bearb.), Die Denkmale der Stadt Torgau, Leipzig 1976.
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»Luthers Nazareth« Der Erinnerungsort Mansfeld1
1.
Mansfeld: Luthers Eltern und Kindheit
Wäre die öffentliche Präsenz eines Lutherortes von der dort verbrachten Lebenszeit des Reformators abhängig, dann stünde Mansfeld unbestritten auf dem zweiten Platz – nach Wittenberg, wo Luthers Lebensmittelpunkt über mehr als 35 Jahre war, seitdem er im September 1508 zum Beginn des Wintersemesters hier erstmals ankam und als Mönch, Universitätsprofessor, Prediger, Ehemann und Familienvater lebte. Die Stadt Mansfeld, die im 16. Jahrhundert mit ihren rund 2.500 Einwohnern ungefähr so groß wie Wittenberg war, darf von sich behaupten, Martin Luther für über 13 Jahre in ihren Mauern beherbergt zu haben – weit länger als dies für Eisleben, Magdeburg, Eisenach, Erfurt, Worms oder Coburg der Fall ist. Wann genau die Familie Luder von Eisleben nach Mansfeld zog, ist nicht bekannt, doch scheint es sehr bald nach der Geburt ihres ersten Sohnes Martin gewesen zu sein. Mansfeld und Umgebung galten als aufstrebende Region des Kupferbergbaus, als frühkapitalistische Boomregion, die dem jungen Hans Luder, der aus der bäuerlichen Oberschicht Möhras stammte und als ältester Sohn nicht erbberechtigt war, und seiner Frau Margarete, deren Onkel Anton Lindemann als oberster Bergverwalter in der Grafschaft Mansfeld amtierte, eine neue berufliche Existenz versprach. Hans Luder stieg rasch in die wirtschaftliche und soziale Führungsschicht der Stadt Mansfeld auf. Die ersten sicher datierten Quellen stammen aus 1491 und führen Hans Luder unter den »Vierherren« (»Vierer der Gemeinde«), also in der Oberschicht Mansfelds. Spätestens 1501/03 betrieb er eigene Zechen und Hütten, doch hatte er sie höchstwahrscheinlich schon in den Jahren zuvor gepachtet. Hans Luder erlebte in Mansfeld den Aufstieg des Bergbaus, in den 1520er Jahren aber auch bereits
1 »Luthers Nazareth« für Mansfeld greift eine Assoziation von Gotthilf Heinrich Schnee (1761–1830) auf, der von 1790 bis 1809 Pfarrer in Großörner nahe Mansfeld war und sich in diesen Jahren sehr für die lokale Luther-Memoria engagierte. In einem Aufruf »Ueber Luthers Denkmal« von 1804 vergleicht er die Bedeutung Mansfelds für Luthers Leben mit der von Nazareth für Jesus, vgl. Kranich, Facetten des aufgeklärten Pfarrers Gotthilf Heinrich Schnee, 135. Für Hinweise bei der Erarbeitung dieses Beitrags danke ich Mirko Gutjahr (Lutherstadt Wittenberg) und Matthias Paul (Mansfeld-Lutherstadt).
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den Niedergang, da die Betriebskosten immer höher stiegen und die Bergwerksunternehmer sich zunehmend bei den das gewonnene Kupfer verarbeitenden Saigerhandelsgesellschaften, häufig in Nürnberg ansässig, verschuldeten. Außerdem entzogen die Mansfelder Grafen den Unternehmern die Konzessionen und betrieben die Bergwerke und Hütten selbst. Einkünfte hatte Hans Luder auch mit Geldverleih, was zu jener Zeit ca. fünf Prozent Zins einbrachte, auch wenn nach kirchlichem Recht Zinsverbot herrschte, das indessen kaum beachtet wurde. In den archivalischen Quellen erscheint Luder v. a. als »Vierer« im Zusammenhang mit Altarstiftungen für die Stadtkirche St. Georg und als Mitglied einer Marien- und einer Georgsbruderschaft.2 Hinweise auf Luthers Kindheit und Jugend in Mansfeld gibt es eher vereinzelt und sie bilden keineswegs eine in sich schlüssige Kindheitsgeschichte. Die erhaltenen Archivalien erschließen die Bergbauaktivitäten des Vaters mit vereinzelten Angaben zu seinem Besitz an Schächten und Hütten. Die zeitgenössischen Luther-Biographien beschränken sich auf stereotype Angaben zum redlichen Vater und zur gottesfürchtigen Mutter und wissen, wie etwa Johannes Mathesius in seinen Predigten, dass Martin »fein fleissig und schleunig gelernt« habe. Bei einigen Autoren findet Mansfeld überhaupt keine Erwähnung; Kindheit und Schulzeit werden hier ausschließlich nach Eisleben verlegt, so z. B. bei Johannes Cochläus und Nikolaus Selnecker.3 Die Passagen zur Mansfelder Kindheit in den aktuellen Luther-Biographien beruhen meist auf den Selbstaussagen Luthers, die allerdings nicht immer zuverlässig sind: So wird seine Behauptung, er sei Kind »armer Leute« und sein Vater sei ein einfacher »Berghauer«, also Bergarbeiter, gewesen, durch die archivalische und archäologische Überlieferung konterkariert, da in dieser der Vater als begüterter Bergbauunternehmer erscheint. Offensichtlich lag Martin Luther daran, seinen sozialen Aufstieg zum Akademiker, Doktor und Universitätsprofessor zu dramatisieren und zu inszenieren, indem er bei seiner Herkunft tiefstapelte, nicht zuletzt durch das eindrückliche Bild der armen Mutter, die all ihr Holz auf dem Rücken habe tragen müssen.4 In weiteren Selbstaussagen zu seiner Mansfelder Kindheit erscheinen die Eltern als sehr streng; sie hätten ihn auch geprügelt. Die Mutter habe an die Existenz von Hexen geglaubt, etwa dass die Nachbarin ihre Kinder 2 Zur Einkommenssituation der Familie Luder in Mansfeld vgl. Fessner, Familie Luder. Zur Familie Luder in Mansfeld vgl. zuletzt die Beiträge: Bullerjahn, Luthers Elternhaus, 36–41; Dies., Kupferschieferbergbau; Scheunemann, Luthers Schule; Köhler, Stadtkirche St. Georg. 3 Vgl. Wartenberg, Martin Luthers Kindheit (das Zitat von Mathesius auf S. 150). 4 »Ich hatte arme Eltern. Der Vater ist Sohn eines Bauern aus Möhra gewesen, einem Dorf nicht weit von Eisenach. Jener zog mit Frau und Sohn nach Mansfeld und ist ein Metallgräber (›metallicus‹) geworden, ein Berghauer« (WATR 5, 95, Nr. 5362). Zum Bergbauunternehmer Hans Luder, Luthers Vater, vgl. Fessner, Familie Luder, 13–21. Zum Stolz Luthers auf seinen persönlichen sozialen Aufstieg vgl. Stievermann: Sozialer Aufstieg um 1500, 45f.
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behext und den Priester durch Zauberei getötet habe.5 In der Mansfelder Schule habe er das Alphabet gelernt, doch bleibt als Anekdote aus dieser Zeit nur in Erinnerung, dass ihn der befreundete Nachbar Nikolaus Oemler auf der steilen, unbefestigten Straße vom Elternhaus in die Schreibschule getragen habe.6 Ein religiöses Erbe der Mansfelder Jahre ist bei Luther die Verehrung der Heiligen Anna und des Heiligen Georg. Anna war besonders in Mitteldeutschland sehr beliebt und wurde in der Mansfelder Kirche sicherlich schon vor 1503 verehrt, als ein neuer Annenaltar geweiht wurde.7 Einen besonderen Platz durfte der Heilige Georg beanspruchen, als Schutzheiliger des Mansfelder Landes und als Patron der Mansfelder Stadtkirche. Beide Heilige sind in biografischen Umbruchsituationen Luthers präsent: in Stotternheim, als der verängstigte Student der Heiligen Anna den Klostereintritt gelobte, und auf der Wartburg, wo sich der Mönch nach seinem Auftritt in Worms als »Junker Jörg«, also in der volkssprachlichen Fassung von »Ritter Georg«, versteckte.8 2.
Mansfeld: Luthers geliebte Heimat
Zugleich besitzen einige dieser Selbstaussagen über die biographischen Daten hinaus eine hohe Emotionalität heimatlicher Identität: »Ich bin ein Mansfeldisch Kind.«9 Oder: »Ich bin ein Landeskind in der Herrschaft zu Mansfeld, dem es gebührt, sein Vaterland und seine Landesherrn zu lieben und das Beste zu wünschen«.10 Oder: »Es wissen Euer Gnaden [d. h. Graf Albrecht von Mansfeld], wie ich der Herrschaft zu Mansfeld Landeskind bin, auch bis doher mein Vaterland natürlich lieb gehabt, wie denn auch aller Heiden Bücher sagen, dass ein jedes Kind sein Vaterland natürlich lieb hat«.11 Gerade mit Mansfeld – die Stadt wird zeitgenössisch in Unterscheidung zum Schloss und zur Grafschaft Thal-Mansfeld genannt – und der gleichnamigen Grafschaft verknüpft Luther 5 WATR 3, 131,20–26, Nr. 2982b. Zu einigen Aussagen Luthers zur Mansfelder Kindheit und Schulzeit vgl. Bartmuß, Tischreden. 6 Vgl. Luthers eigenhändige Widmung, vorgestellt von: Jacobs, Aus Luthers Schulzeit. 7 Vgl. Hornemann, Annenverehrung. Die oft gezogene Verknüpfung von Anna und Bergbau – im Sinne eines Patronats der Heiligen Anna über den Bergbau und die Bergleute – bestand zu dieser Zeit noch nicht, wie Angelika Dörfler-Dierken nachweist (Dörfler-Dierken, Verehrung der heiligen Anna, 89–97). 8 Zu Text und Abbildung des Lindenholz-Reliefs von St. Georg als Drachentöter aus der Mansfelder Stadtkirche vgl. Paul, Drachentöter. Zu Luthers Verhältnis zur Heiligen Anna vgl. DörflerDierken, Luther. Zu Luthers Deckname »Junker Jörg« vgl. Schwarz, »Junker Jörg«. 9 WAB 11, 189,7f. 10 WAB 10, 10,12f. 11 WAB 9, 626,5–8.
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vielfältige Bezüge, die ihm in ihrer Gesamtheit die Heimat Mansfeld konstituieren (siehe Abb. 1). Zur politischen Loyalität zu den Mansfelder Grafen tritt sein soziales Netzwerk, in dem nicht nur die Eltern und Geschwister, die durchweg in Mansfeld blieben, sondern auch zahlreiche Bekannte aus Kindertagen eine bedeutende Rolle spielen. Das gute innerfamiliäre Verhältnis legt nicht zuletzt der Umstand nahe, dass nach dem Tod der Eltern die Vermögensaufteilung ohne Auseinandersetzungen 1534 durch Erbvertrag einvernehmlich erfolgte, indem der Bruder Jakob für den Besitz des elterlichen Hauses seine Geschwister auszahlte. Luther lud zu seiner Hochzeit am 13. Juni 1525 z. B. nicht Melanchthon ein, sondern es kamen v. a. die Familie und die Freunde aus der Heimat. Für seinen ersten Sohn Hans wählte er einen Mansfelder, nämlich den Kanzler Kaspar Müller, als Paten aus. Heimat ist aber auch Landschaft und Essen; so lobte Luther den Mansfelder Wein gegenüber dem schwefeligen Wittenberger Wein und genoss noch kurz vor seinem Tod das Mansfelder Essen, »hat er doch […] Speis und Trank auch sonderlich gelobt, da es ihm wohl schmeckete in seinem Vaterland«, wie Justus Jonas als Augenzeuge der letzten Stunden des Reformators berichtet. Luther hat Wittenberg niemals als seine patria begriffen, lebte vielmehr in ständiger Distanz zu dieser Stadt und ihren Bürgern, die er als faul, undankbar und ungebildet empfand, und fühlte sich Zeit seines Lebens dem Ort seiner Kindheit tief verbunden.12 Nachdem der 22-jährige Jurastudent am 17. Juli 1505 ins Kloster eintrat, suchte er Mansfeld nur noch selten auf, etwa im April 1525, wohl auch um seine Eltern von der bevorstehenden Hochzeit zu informieren, durch die er wieder in den Schoß der Familie zurückkehrte, und im Oktober und Dezember 1545, als er u. a. in der Stadtkirche und in der Schlosskapelle predigte.13 Gleichwohl besitzt Mansfeld eine lokale Lutherlandschaft, die vom Schloss Mansfeld, in dem die Landesherren der Familie residierten, über die Stadtkirche, in der der kleine Martin religiös sozialisiert wurde, und die Schule bis hin zum Elternhaus reicht, nicht zu vergessen die Hauptstraße mit ihrem unveränderten Verlauf.14
12 Zu den verschiedenen Facetten von Luthers Heimat (mit Quellenbelegen) vgl. Rhein, Luthers Heimat. 13 Vgl. Buchwald, Luther-Kalendarium, mit Hinweisen auf Aufenthalte Luthers im Mansfelder Land (Eisleben und Mansfeld): Juni 1505, ab 07.06.1515, ab 01.06.1516, 19./20.04.1525, 05.05.1525 (?), 07.08.1545 (?), 03.–11.10.1545, 25./26.12.1545, 28.01.–18.02.1546. 14 Die Mansfelder Lutherorte und -spuren werden vorgestellt von Kuper/Gutjahr, Luthers Elternhaus, 10–17, und Kowa, Gespaltene Welt, 35–42, zum Schloss ebd., 144–149.
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Abb. 1 Schloss und Stadt Mannsfeld, Kupferstich um 1650. Quelle: Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt: fl X 8254.
3.
11. November 1562: »zum ersten mal Memoria Lutheri celebriert worden«
Während die museale Inszenierung Luthers in Mansfeld, wie noch auszuführen sein wird, deutlich später als die entsprechenden Vorhaben in Eisleben und Wittenberg realisiert wurde, darf Mansfeld hingegen bei zwei anderen Modi der Personenmemoria im Falle Luthers Priorität beanspruchen: bei den Gedenkfeiern und bei den Denkmälern. Initiierend für die Gedenkfeiern ist Cyriakus Spangenberg, der von Herbst 1553 bis Ende 1574 als Pfarrer der Mansfelder St. Georgskirche sowie als Hofprediger auf Schloss Mansfeld und als Generaldekan wirkte und ein intensives Geschichtsinteresse pflegte (siehe Abb. 2). Dieses schlägt sich z. B. in einer ausführlichen »Mansfeldischen Chronik« nieder, deren erster Teil 1572 in Eisleben gedruckt wurde. Nur handschriftlich überliefert ist ihr vierter Teil, in dem die Topographie der Grafschaft Mansfeld und dabei auch Thal-Mansfeld ausführlich beschrieben werden. Hier trägt Spangenberg eigenhändig sogar einen Stadtgrundriss ein. Im historisch-annalistischen Teil erwähnt er zu Oktober 1545 Luthers Predigten auf dem Schloss und in der Stadtkirche und zu 1562 eine wichtige Etappe in der Reformationsmemoria: Am 11. November sei »zum ersten mal Festum oder Memoria Lutheri oder
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vielmehr Recordatio Beneficiorum Dei per Lutherum exhibitorum celebriert worden«, also die erste Feier von Luthers Tauftag als Erinnerung an die durch Luther gewährten Wohltaten Gottes.15 Wann die Lebensdaten Luthers Anlass zu Feierlichkeiten wurden, ist nicht präzise bestimmbar, doch darf die Auffassung Johannes Burckhardts, dies sei erst im 19. Jahrhundert geschehen, als widerlegt gelten. Denn wie Annina Ligniez in ihrer Studie zu den frühneuzeitlichen Jubelpredigten ausführt, wurde bereits vor 1617, als eine Gedenkfeier in Wittenberg obrigkeitlich angeordnet wurde, Luthers Todestag in Predigten gewürdigt, etwa am 16. Februar 1592 oder am 18. Februar 1599.16 Offenkundig noch früher fand Spangenbergs Gedenkfeier zu Luthers Geburt und Taufe in Mansfeld statt, und sie scheint – ausweislich auch der vorliegenden Forschungsliteratur – überhaupt die erste Lutherfeier gewesen zu sein. Ihr Ablauf ist nicht überliefert, doch stand eine Predigt im Mittelpunkt; denn Spangenberg hielt nun regelmäßig zwei Mal im Jahr eine Lutherpredigt, zum Geburtstag und zum Todestag, ein Zyklus, der bereits im 16. Jahrhundert publiziert wurde.17 Auch in anderen Werken, etwa in der »Geistlichen Haushaltung« von 1565, rekurriert Spangenberg auf Luther und verknüpft ihn mit Mansfeld, etwa wenn er darlegt, dass im Namen »Mansfeld« Luther selbst enthalten sei (»Martinus Luther Doctor«) oder das Wappen der Grafschaft mit seinen zwölf roten Rauten auf die zwölf Apostel und auf die zwölf Bände der Jenaer und Eisleber Lutherausgabe als »Himmelsbrote« verweise.18 Nach Spangenberg müsste der Grafschaft Mansfeld, wo Luther, der Lichtbringer des Evangeliums, geboren sei, eine weitaus größere Würde zustehen als es bisher der Fall gewesen sei.19 Die Region schmückte sich mit ihrem Landeskind Luther, wie die erste Geschichtskarte der Grafschaft von 1571, die ein Brustbild Luthers samt lateinischen Lobversen prominent platziert und sich damit als Darstellung des gnesiolutherischen Quellgebiets präsentiert, eindrücklich illustriert.20 15 Zitiert nach der Edition von Spangenbergs Chronik durch Leers, Mansfeldische Chronica, 97. Vgl. auch Bräuer, Stadt Mansfeld, 337. Zu Spangenberg vgl. Berndorff, Prediger, 76–79. 16 Ligniez, Das Wittenbergische Zion, 212 (in Auseinandersetzung mit: Burckhardt, Reformations- und Lutherfeiern). Zum Reformationsjubiläum 1617 und allgemein zur Geschichte der Reformationsjubiläen: Kaufmann, Reformationsgedenken, und Wendebourg, Reformationsjubiläen (Wiederabdruck in Wendebourg, So viele Luthers). In beiden Aufsätzen findet sich übrigens kein einziges Wort zu Mansfeld! 17 Vgl. Böttcher, Martin Luthers Leben. 18 Vgl. Berndorff, Prediger, 281. In der Heraldik wird eine Raute auch als »Wecken« bezeichnet, so dass Spangenberg die Metapher bis zu den »Himmelsbroten« weiterführt. 19 Ausführlich Berndorff, Prediger, 279–282. 20 Vgl. Bräuer, Kartographie. Auf der Karte wird allerdings nur Eisleben als »Vaterstadt des heiligen Mannes Martin Luther« eigens hervorgehoben, während die Stadt Mansfeld ohne Epitheton ornans auskommen muss.
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Abb. 2 Cyriakus Spangenberg (1528–1604), evangelischer Theologe und Chronist der Grafschaft Mansfeld, Holzschnitt um 1600, Robert Boissard (1570–1601). Quelle: Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt: LH 4o XXIII 10399.
4.
Die Mansfelder Initiative des ersten Lutherdenkmals (1801–1818)
Zumindest für die Stadt Mansfeld wurde die Forderung Spangenbergs nach einer künftig größeren Würdigung des Reformators nicht eingelöst, denn die
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memoriale Energie im Mansfelder Land konzentrierte sich in den folgenden Jahrhunderten auf Eisleben und auf die beiden Häuser, in denen Luthers Leben begann und endete. In Mansfeld fehlten als Träger einer Luthermemoria ganz offensichtlich engagierte Pastoren, aber auch die Bevölkerung, da durch den Dreißigjährigen Krieg, den Rückgang der Bergbaus, zahlreiche Brände und Seuchen im 18. Jahrhundert die Einwohnerzahl weitaus geringer als im 16. Jahrhundert war und etwa für 1737 mit ca. 950 Seelen angegeben wurde.21 Nur aus dem Jahr 1751 ist eine Lutherehrung überliefert, der Neuguss der Kirchenglocke, die mit Reliefs geschmückt wurde, u. a. mit einer Kreuzigungsszene; am Fuß des Kreuzes war ein Brustbild Luthers eingearbeitet.22 Erst im 19. Jahrhundert, dann allerdings bereits am ersten Tag des neuen Jahrhunderts, also am 1. Januar 1801, entstand eine Initiative, die sich ein damals neuartiges, für die Zukunft überaus einflussreiches Projekt vorgenommen hatte: die Errichtung eines Denkmals. Die Gründung der »Vaterländisch-literarischen Gesellschaft der Grafschaft Mansfeld« war das Gemeinschaftswerk eines agilen Pfarrers, Gottfried Heinrich Schnee aus Großörner bei Mansfeld, und engagierter Bürger. Die neu gegründete Gesellschaft war eine Mischung aus Lesegesellschaft und patriotischer Gesellschaft und hatte 1804 23 Mitglieder, alle aus dem Mansfelder Gebirgskreis, niemand aus dem Seekreis, also nicht aus Eisleben und Umgebung. Von den Mitgliedern stammten drei aus der Stadt Mansfeld selbst, nämlich Justizrat Pietsch, Stadtsekretär Honigmann und Dr. Rothe. Drei Jahre nach der Gründung, am 31.12.1803, veröffentlichte die Gesellschaft im Reichsanzeiger einen Aufruf: Wir machen […] hierdurch allen Verehrern des großen Luthers in allen Gegenden der Erde bekannt, daß wir im Jahre 1817 am Reformations-Jubiläo Dr. Luthers mitten in der Grafschaft Mansfeld, auf einem der erhabensten Orte, ein seiner Größe und menschlichen Dankbarkeit würdiges Monument errichten werden, und ersuchen alle Verehrer dieses um die Menschheit so verdienten Mannes, dieses Unternehmen durch freiwillige Beiträge zu unterstützen. […] Welcher Art wird dieses Denkmal seyn? – Noch können wir nicht darüber entscheiden. Unsere Idee ist: ein kolossalischer Obelisk mit den, jenen großen Mann so ganz charakterisierenden Strophen des von ihm geliebten Liedes: »Eine feste Burg ist unser Gott« – »und wenn die Welt voll Teufel wär!« – Doch sind wir nicht eigensinnig, um schlechterdings auf dieser Idee zu bestehen, vielmehr werden wir mit Vergnügen alle andre Winke und Vorschläge aufnehmen, durch eine eigens dazu bestellte Kommission sie prüfen lassen, und dann die beste davon wählen.23 21 Vgl. Paul, Reformationsfeste, 39. 22 Abbildung in: ebd., 40. 23 Die Geschichte des Denkmalvorhabens der »Vaterländisch-literarischen Gesellschaft« wird ausführlich vorgestellt von Steffens, Zwei Denkmalprojekte im Mansfelder Land, 113–148; das Zitat aus dem Reichsanzeiger auf S. 115. Zu Schnee vgl. Kranich, Schnee, 1174–1181, und Ders., Facetten des aufgeklärten Pfarrers Gotthilf Heinrich Schnee, 132–137 (»Ein Denkmal für Luther – warum, wozu und wo?«).
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Insgesamt 22 Entwürfe wurden eingereicht, u. a. von bekannten Künstlern wie Schinkel, Schadow und von Klenze, mit sehr unterschiedlichen Gestaltungsvorschlägen, etwa einem kolossalen Obelisk, einer Pyramide, einer gotischen Kapelle, einem altdorischen Tempel oder einer riesigen Inschriftentafel »Eine feste Burg ist unser Gott«. 1805 entschied sich die Gesellschaft für den Entwurf Johann Gottfried Schadows: ein Standbild des Reformators auf einem Sockel mit Reliefs und Inschriften. Die öffentliche Debatte um den Sinn eines Lutherdenkmals – »totes« oder »lebendiges« Denkmal, also ein Kunstwerk aus Stein oder Metall oder eine wohltätige Einrichtung der Bildung und Diakonie – hatte auf die Gesellschaftsmitglieder Eindruck gemacht, so dass sie das Schloss Mansfeld als Erinnerungsort auswählten: die dortige Kapelle als Aufstellungsort des Denkmals und weitere Schlossräume für eine Druckerei von Luther-Bibeln und -Katechismen und für eine Knabenschule. Die preußische Regierung verhinderte angesichts des schlechten baulichen Zustands des Schlosses dieses Vorhaben und zog das Projekt immer mehr an sich, bis König Friedrich Wilhelm III. entschied, den Entwurf Schadows nicht im Mansfelder Land, sondern auf dem Wittenberger Marktplatz zu realisieren. Die »Vaterländisch-literarische Gesellschaft« wurde in die Entscheidungen überhaupt nicht mehr einbezogen und zur Grundsteinlegung am 1. November 1817 nicht einmal mehr eingeladen. Die Gesellschaft überwies die eingesammelten Spendengelder nach Berlin und löste sich danach am 16. Februar 1818 selbst auf. Ihr Beitrag wird auf einer Inschriftentafel am Sockel des Wittenberger Denkmals kurz gewürdigt und mit der falschen Vereinsbezeichnung eher verschwiegen: »Von dem Mansfeldischen Verein für Luthers Denkmal durch gesammelte Beyträge begründet, und durch König Friedrich Wilhelm den Dritten errichtet.« Als Kompensation erhielt Eisleben zwei Reformatorenbüsten von Schadow, neben Luther noch Melanchthon, sowie finanzielle Unterstützung für den Ausbau seiner Lutherarmenfreischule.24 Mansfeld und der Gebirgskreis, wo die Denkmalidee ihren Anfang nahm, standen hingegen mit leeren Händen da, ohne »totes« Denkmal und ohne »lebendige« soziale Einrichtung. Erst 1913 konnte sich Mansfeld über ein Luther-Denkmal freuen, dann aber über ein ungewöhnliches, denn der beauftragte Bildhauer Paul Juckoff entwarf statt des nunmehr allerorten bekannten Typs des Personenstandbilds einen von der Steinskulptur des Heiligen Georg gekrönten Brunnen mit drei großformatigen Szenenreliefs: »Hinaus in die Welt« mit der Darstellung Luthers als bis heute einzigartige Vollskulptur des Kindes Martin – mit dem Schulranzen auf dem Rücken und Proviantsack und Wanderstock in den Händen, vor der Stadtsilhouette Mansfelds, »Hinein in die Kampf« mit dem Thesenanschlag 24 Vgl. Steffens, Zwei Denkmalprojekte, 143–148. Zur Eisleber Schule vgl. Neser, Bau- und Nutzungsgeschichte der Lutherarmenschule.
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und »Hindurch zum Sieg« mit Luther im Doktormantel, die rechte Hand auf der Bibel. Statt der statischen Monumentalität des reformatorischen Helden steht hier die Narration seines Wegs zur Reformation im Vordergrund. Die Mansfelder Initiative zu einem Lutherdenkmal kam also erst 113 Jahre nach ihrem Beginn zu einem erfolgreichen Abschluss (siehe Abb. 3).25 5.
Mansfelder Luther-Memoria im 19. Jahrhundert
Das lange 19. Jahrhundert bildete ohne Zweifel die Hochzeit des Luthergedenkens in Deutschland. Nachdem zuvor insbesondere die konfessionalistische Perspektive dominierte – der Reformator im Kampf gegen den papistischen Katholizismus – trat nun die säkulare Rezeption – Luther als Inbegriff des Deutschen und Vorbild bürgerlicher Tugenden – in den Vordergrund.26 Ist Wittenberg als Lutherstadt baulich und institutionell das bis heute sichtbare Ergebnis der preußischen Lutherverehrung, so profilierte sich auch Eisleben in dieser Zeit als Erinnerungsort: Die Lutherarmenfreischule wurde 1819 mit Geldern des preußischen Königs, der bereits 1817 die finanzielle Grundsicherung des Geburtshauses angeordnet hatte, durch einen Neubau erweitert; König Wilhelm I. kaufte 1862 das vermeintliche Sterbehaus am Andreaskirchplatz, um katholischen Kaufinteressen zuvorzukommen, so dass es 1894 als Museum eröffnet werden konnte, und 1883 wurde das Lutherdenkmal des Bildhauers Rudolf Siemering auf dem Marktplatz enthüllt. Mehrtägige Feiern fanden zu den einschlägigen Reformationsjubiläen statt: 1817, als Eisleben mit hinterleuchteten Transparentbildern geschmückt wurde, die Berg- und Hüttenleute einen Festzug durchführten und die Kinder der Lutherarmenfreischule neu eingekleidet wurden, 1830, als sich viele Privathäuser geschmückt präsentierten und ein bengalisches Feuer die Namen Luther und Tetzel in die Nacht malten, wobei der Reformator immer heller erstrahlte, Tetzel hingegen in einem Flammenmeer unterging, 1883, als auf dem Marktplatz neben dem neuen Denkmal 25 Vgl. ausführlich Ulrich Hübner, Ein Brunnen für den Reformator (leicht erweiterte Fassung von: Ders., Der Lutherbrunnen in Mansfeld). Der damalige Vorsitzende des Denkmalkomitees war der Mansfelder Schlossherr Adolf Karl Ferdinand Freiherr von der Recke (1845–1927). Neben ihm unterzeichneten den Vertrag mit dem Bildhauer Juckoff Bürgermeister Schlimbach, Superintendent Gerloff und Herr Rentier Fach. In der Chronik der Stadt Mansfeld (zusammengestellt und einsehbar im Stadtarchiv Mansfeld) werden ab 1890 immer wieder Spendenaktionen zum Bau eines Lutherdenkmals erwähnt, die offensichtlich einen guten Anklang fanden. Die Brunnenform wurde übrigens vom Allgemeinen Anzeiger für die Grafschaft Mansfeld (02.11.1913) als besonders gelungen gewürdigt, da das frische Wasser an das lebendige Wasser Gottes und an Luthers Erschließung der Quellen des Glaubens und des Lebens erinnere. 26 Vgl. ausführlich Wendebourg, Reformationsjubiläen.
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Abb. 3 Lutherbrunnen mit Darstellung des jungen Martin (»Hinaus in die Welt«), Fotografie (1913) des Entwurfs von Paul Juckoff (1874–1936). Quelle: Förderverein Schloss Mansfeld e.V.
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noch ein »mittelalterliches Triumphthor« errichtet wurde und ein historischer Umzug die »Einholung Luthers in Eisleben durch die Grafen von Mansfeld 1546« inszenierte, arrangiert von einem Spezialisten aus Düsseldorf, mit rund 1.000 Kostümträgern bestückt und nach Schätzung der Veranstalter von 30.000 auswärtigen Besuchern bestaunt, und 1896, weitaus kleiner als 1883 dimensioniert, aber doch mit zahlreichen Reden und v. a. mit einem Lutherschauspiel, dem damals viel gespielten Stück von Otto Devrient. Zu allen diesen Jubiläumsfeierlichkeiten sind zeitgenössische Dokumentationen erschienen; nicht zuletzt dadurch wurde (und wird) die große Bedeutung dieser Lutherfeiern für das Selbstverständnis der Stadt Eisleben und ihrer Bürger hervorgehoben. 27 Aus dem von Eisleben etwa 15 Kilometer entfernten Mansfeld ist hingegen keine einzige Festschrift zu den dortigen Lutherfeiern erhalten, obgleich es in Mansfeld sogar eine Druckerei und einen Verlag gab, von dem Druckerzeugnisse ab 1854 bekannt sind: Fr. Hohenstein. Nur 1880 erschien eben dort eine kleine Schrift »Die Mansfelder Jubelfeier vom 17. und 18. April 1880«, die im Untertitel ihre Intention mit »Zum Besten des Lutherhauses« angibt. Doch handelte es sich hierbei um keine Lutherfeier, sondern gefeiert wurde die 100-jährige Zugehörigkeit zu Preußen. Es ist deshalb weitaus schwieriger, die Mansfelder Gedenkkultur zu Ehren Luthers für das 19. Jahrhundert vorzustellen als etwa die gleichzeitigen Eisleber Feierlichkeiten.28 Am Beginn steht ein Lutherporträt aus dem Jahr 1817, geschaffen von Friedrich Gottlob Hoppstock, das die Inschrift trägt: »Gottes Wort und Luthers Lehr vergeht nun und nimmermehr. Jubiläum des 31. Octobr. 1817«. Das Bekenntnis zu Luther war 1817 besonders programmatisch, da das preußische Herrscherhaus die Union verordnet hatte, also das gemeinsame Abendmahl von Lutheranern und Reformierten, was bei der überwiegend lutherischen Bevölkerung der Region Mansfeld auf keine Gegenliebe stieß. Die Medaille, die in diesem Jahr in Mansfeld herausgebracht wurde, zeigt auf der Vorderseite ein Porträt Luthers mit der Inschrift »Gottes Wort bleibt in Ewigkeit«, während die Rückseite den Anlass nennt: »Mansfelds Dankbare Jugend feierte Luthers Andenken den 31. Oktober 1817«, also auch hier eine eindeutige Stellungnahme für Luthers Theologie.29 1830 war in Mansfeld die kirchliche 27 Vgl. ausführlich und mit Belegen: Treu, Lutherfeiern. Zum Ausbau Wittenbergs zur Lutherstadt vgl. die anregende Studie von Reichelt, Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg, 28–117 (zur preußischen Phase 1883–1918). 28 Erst in den letzten Jahren sind zwei Darstellungen zu Mansfeld erschienen: Paul, Reformationsfeste, und das Schlusskapitel von Kuper/Gutjahr, Luthers Elternhaus, 79–83 (»In Szene gesetzt«). 29 Brozatus, Reformatio in Nummis, Nr. 1236. In der Chronik der Stadt Mansfeld ist zum 31.10.1817 vermerkt, dass das Lutherporträt wie auch Luthers Katechismus unter Absingen von »Ein feste Burg ist unser Gott« demonstrativ durch die Stadt getragen wurden.
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Situation von zahlreichen Wechseln geprägt, so dass die Stadt und ihre Bürger initiativ wurden, für die Armen eine Sammlung durchführten und im Schützenhaussaal feierten – mit Kindertanz und anschließend Tanz für Erwachsene samt Freibier.30 Die biographische Verknüpfung Luthers zum Bergbau, die im 16. Jahrhundert in den Lutherpredigten Mathesius’ und Spangenbergs assoziationsreich ausformuliert wurde, führte 1830 zu einer Gedenkmedaille der Bergleute des Mansfelder Reviers, auf deren Vorderseite das Porträt Luthers von der Inschrift umrahmt wird: »Glück auf: dem Man der einst aus unsern Stand entsprang, verehren wir wie heute unser Lebelang«, auf der Rückseite fortgeführt: »Zum dankbaren Andenken von sämtlichen Bergleuten des Mansfelder Bergbaues«.31 1846 wurde die Bevorzugung Eislebens durch kirchliche und staatliche Stellen vonseiten Mansfelds heftig angegriffen. Denn die Vertreter der Landeskirche planten, den 300. Todestag des Reformators ausschließlich in Eisleben zu feiern, und billigten Mansfeld nur eine »Vorfeier« am 17. Februar zu. Gegen diese Festlegung wehrte sich übrigens nicht die Pfarrerschaft, sondern die Mansfelder Stadtverordnetenversammlung, so dass als Folge der Proteste auch eine Feier am Todestag selbst gebilligt wurde. An beiden Tagen fanden also in Mansfeld öffentliche Umzüge statt – durchgesetzt von einer selbstbewussten Bürgerschaft, die die lokale Luther-Tradition hochhielt. Die Feierlichkeiten wurden 1883, wie schon angedeutet, in Eisleben mit Denkmalenthüllung und historischem Umzug besonders aufwändig begangen, so dass Mansfelds Lutherfeier sich demgegenüber mehr als bescheiden ausnahm. Schulfeier, Laternenumzug, Gottesdienst, Luthermotette und Festrede bildeten ein dreitägiges Programm (9.–11. November), doch sprach der Berichterstatter des Mansfelder Anzeigers von einer »Lokalfeier«, die gegenüber dem Eisleber Lutherfest als »einer prangenden Rose in Gottesgarten« eher »dem Veilchen vergleichbar [ist], das zwar im Verborgenen blüht, aber doch lieblich duftet«. Der Mansfelder Anzeiger hatte zum Festtag selbst ein lokalpatriotisches Gedicht abgedruckt, das den Vorzug Mansfelds vor Eisleben feierte: »Eisleben hörte Luthers erstes Lallen, / Den letzten Seufzer auch gehört es hat, / Doch dreizehn Jahre sah ihn Mansfeld wallen, / Der Kindheit Eden war ihm diese Stadt«.32
30 So die Zusammenfassung in der Chronik der Stadt Mansfeld. 31 Brozatus, Reformatio in Nummis, Nr. 1315. 32 Vgl. Paul, Reformationsfeste, 54–56 (»Das Jahr 1883 – Im Schatten Eislebens«), die Verse: 55.
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Die Entstehung des »Lutherhauses«
1883 war gleichwohl ein Jahr, das für die Entwicklung von Luthers ehemaligem Elternhaus zu einer Personengedenkstätte von Bedeutung war. Denn am 11. November 1883 wurde die Stiftung »Lutherhaus« amtsgerichtlich eingetragen. Doch bereits einige Jahre zuvor hatten die Bemühungen begonnen, das Elternhaus als Ort der Erinnerung an den Reformator instandzusetzen. Es sollte allerdings noch bis 1889 dauern, bis nach Abschluss der Bauarbeiten das Mansfelder Lutherhaus mit Diakonissenstation und Luther-Ausstellung eröffnet werden konnte. Luthers Elternhaus war ein großer Vierseithof, mit einem straßenseitigen Wohnhaus und Wirtschaftsgebäuden, um einen Innenhof gruppiert. Der Hof illustriert in seiner Struktur, dass neben Bergbau und Geldverleih die Landwirtschaft die dritte Säule des Luderschen Betriebs bildete. Denn das Anwesen umfasste zahlreiche Stall- und Lagergebäude sowie eine große Scheune. Auf dem Hof standen also Pferde, die auch für Transporte eingesetzt wurden, und Vieh; Getreide wurde gelagert wie auch Materialien für den Schachtbau. Hans Luder war es gelungen, trotz zunehmender wirtschaftlicher Schwierigkeiten in Folge der Bergbaupolitik seiner gräflichen Landesherren das Hauseigentum zu erhalten, da er Privatbesitz und Betriebskapital klar getrennt hatte.33 Nach dem Tod des Vaters erbte Jakob Luther das Anwesen, so dass Cyriakus Spangenberg um 1567/68 auf dem handschriftlichen Stadtplan Mansfelds eigenhändig zur Parzelle Nr. 33 notierte: »Jacob Luthern Schultheißen, Doctor Martin Luthers Brudern, Behausung, so von ihrer beiden Vatern Hans Luthern erbauet.«34 Das Haus, das bis 1578/79 der Familie gehörte, blieb auch nach dem Übergang an die neuen Eigentümer mit Luther verbunden. In den Grundstückslisten wurde Ende des 16. Jahrhunderts vermerkt: »das Haus war vorher Luthers«, und um 1700 stand der Hinweis auf »das ehemalige Jakob Lutherische Haus«. 1840 stellte Bauinspektor Georg Francke eine Denkmalliste der Region auf, in die er sieben Liegenschaften aufnahm, darunter auch »Luthers Elternhaus«. Francke, der als preußischer Bauinspektor auch für Denkmalbelange zuständig war und als Eigentümer das Elternhaus bewohnte, darf als Glücksfall für die Entdeckung der historischen Bedeutung von Luthers Elternhaus gelten. So nahm er es nicht nur in die Denkmalliste auf, sondern rückte es z. B. 1846 anlässlich des 300. Todestags des Reformators durch eine Illumination in die öffentliche Aufmerksamkeit. Was aber war im 19. Jahrhundert Luthers Elternhaus? Ein Fragment, so muss man die bauliche Situation beschreiben, denn 33 Vgl. Fessner, Bergwerks- und Hüttenwesen, 240. 34 Die Handschrift im Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu Wien wurde erst 1910 entdeckt. Das Zitat in Leers, Mansfeldische Chronica, 70.
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um 1807 wurde zur Vor-Ort-Repräsentation der Napoleonischen Herrschaft eine Kommandantur im klassizistischen Stil im hinteren Teil des Grundstücks errichtet, wofür der Mittelteil des Vordergebäudes abgerissen werden musste. So entstanden zwei reduzierte Gebäude an der Straße. Das links liegende Gebäude (heute Lutherstraße 24) fiel aus der Memoria von Luthers Elternhaus völlig heraus, obgleich es einen Teil der historischen Bausubstanz des ehemaligen Elternhauses bewahrt. Erst die Bauforschung nach der archäologischen Grabungskampagne 2002/03 erkannte die Ausmaße des ursprünglichen lutherzeitlichen Gebäudes, dass also auch dieses bis heute privat bewohnte Gebäude zur materiellen Überlieferung der Familie Luther in Mansfeld gehört.35 Die zerstörte Integrität des Anwesens ließ Zweifel an der Authentizität des Elternhauses entstehen, die etwa von Pastor Karl Krumhaar (1807–1881) formuliert wurden. Krumhaar, der in zahlreichen Publikationen den Beginn der Erforschung der Mansfelder Reformationsgeschichte markiert, veröffentlichte 1845 die erste Schrift ausdrücklich zu Luthers Elternhaus (»Dr. Martin Luther’s Vaterhaus in Mansfeld«). Den größten Teil nehmen darin Ausführungen zur Kindheit Luthers und insbesondere dessen Verhältnis zu seinen Eltern ein, doch formuliert er auch den Zweifel am Erhaltungszustand des väterlichen Gebäudes: »Das Häuschen dieser braven Luthersleute ist schon längst abgebrochen. Uebrig geblieben ist allein ein Rundbogen der Thür mit der Bezeichnung J. L. 1530, und dem altlutherischen Wappen, einer Rose und einem Armbrustflügel. Dieser Rundbogen ist in das Büreaugebäude des Herrn Bauinspector Franke, ganz nahe der Stätte, wo das Lutherhaus stand, eingemauert«.36 In der zweiten Auflage hingegen identifiziert Krumhaar das noch stehende Gebäude als Rest des Elternhauses, erwähnt den Teilabriss des Jahres 1807 und spricht von dem Anbau, dem »einzige[n] noch vorhandene[n] Theil des Lutherhauses«: »zum Zeugniß, daß er wirklich zum Lutherhaus gehörte, dient noch heute der steinerne Rundbogen der Eingangspforte mit der Bezeichnung J. L. (Jacob Luther) 1530 und dem altlutherischen Wappen, Rose und Armbrustflügel«.37 Doch offensichtlich blieb die Unsicherheit bestehen, zumindest bis zur Gründung des Vereins zur Erhaltung von Luthers Elternhaus: Im Herbst
35 Zu den Ergebnissen der bauhistorischen Erforschung des gesamten Anwesens vgl. zusammenfassend Stahl/Schlenker, Luther in Mansfeld. Zu den Zitaten aus den Grundstückslisten vgl. Stahl, Historische Bauforschung, 131, hier auch der Hinweis auf die Anerkenntnis des Lutherhauses als Denkmal durch die Aufnahme in die entsprechenden staatlichen Listen (133). Zu Francke vgl. Kuper, Luthers Elternhaus, 44f. 36 Krumhaar, Dr. Martin Luther’s Vaterhaus, 20. 37 Krumhaar, Dr. Martin Luther’s Vaterhaus, zweite vermehrte Auflage, 52. Die Erstausgabe von 1845 wurde übrigens in Mansfeld 1927 wiederaufgelegt, ohne dass die Behauptung vom schon längst abgebrochenen Häuschen der braven Luthersleute korrigiert wurde (hier: 13).
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1878 trafen sich zwanzig Bürger im Gasthof »Zum goldenen Lamm« und gründeten einen Lutherhausverein, da sie das »Stammhaus Dr. Martin Luthers in Gefahr« sahen. Zunächst versuchten sie die Echtheit von Luthers Elternhaus herauszufinden, bis sie an Hand der gefundenen Zeugnisse am 25. Dezember 1878 feststellten: »Die bisher angestellten Ermittlungen haben nun zwar bisher keinen unwiderlegbaren Beweis für die Echtheit des Lutherhauses ergeben, immerhin aber eine so große Wahrscheinlichkeit, als für Thatsachen, welche der Vergangenheit angehören, überhaupt haben erbracht werden können.«38 Die angesprochenen Ermittlungen erfolgten übrigens durch Befragung älterer Stadtbewohner, deren Aussagen als beglaubigte Niederschriften noch heute im Pfarrarchiv Mansfeld nachgelesen werden können.39 Die Authentizität des Elternhauses konnte endgültig dann erst durch den Fund von Spangenbergs Chronik samt eigenhändigem Stadtplan um 1910 gesichert werden. Die Initiative zum Ausbau eines Lutherhauses konzentrierte sich auf das Gebäude mit der heutigen Adresse Lutherstraße 26.40 Dem Lutherhausverein gelang, nach Einwerbung zahlreicher Spenden, u. a. durch eine landeskirchenweite Weihnachtskollekte 1879, das Haus 1881 von seinem Besitzer, Kaufmann Winter, zu erwerben (»um dasselbe evangelischen Zwecken zuzuführen«) und mit Hilfe kommunaler Gelder und Spenden, eingeworben z. B. durch eine Luther-Lotterie und den Verkauf eines »Luther-Albums« mit zahlreichen »naturgetreuen Kabinets-Photographien«, bis November 1885 umfassend umzubauen.41 Das Lutherhaus kam 1889 in das Eigentum der Evangelischen Kirchengemeinde und wurde im Hauptgeschoss als Diakonissenstation und im Dachgeschoss für eine kleine Luther-Ausstellung eingerichtet – ganz im Sinne des bereits bei dem Denkmalprojekt formulierten Anspruchs, kein totes, sondern ein lebendiges Denkmal für den Reformator, sein Werk und seine Wirkung zu errichten. Ein Komitee zur Erhaltung und Ausschmückung von Luthers Elternhaus konstituierte sich und sammelte Ausstellungsgegenstände für den Erinnerungsraum im Dachgeschoss. Erst 1936 wurde die offizielle Bezeichnung »Luthermuseum« eingeführt, so die Einladung zur Festveranstaltung am 5. Juli 1936: »In des Reformators Jugend- und Elternhaus in Mansfeld ist aus Bildern, Urkunden und Schriften ein Luthermuseum errichtet worden, um aus dem Schrifttum und dem Heimaterlebnis Luthers zu tieferem religiösen und völkischen Verständnis seiner Persönlichkeit zu führen«.42 Der erste ehrenamtliche Museumsleiter, Buchhändler Walter Probst, benennt das touristische 38 Zitiert nach Stahl, Historische Bauforschung, 114. 39 Kuper, Luthers Elternhaus, 47f. 40 Diesen Namen erhielt die Hauptstraße Mansfelds, an der alle historischen Gebäude liegen – Elternhaus, Stadtkirche, Rathaus, Rektorat, Lutherdenkmal –, wohl um 1900. 41 Vgl. ausführlich Kuper, Luthers Elternhaus. 42 Zitiert nach Stahl, Baugeschichtliche Erkenntnisse, 388.
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Anliegen unmissverständlich: »Viele tausend Protestanten der Heimat und des Auslands wallfahrten jährlich zu den Lutherstätten Mitteldeutschlands. Mansfeld wurde bisher stiefmütterlich behandelt. Es soll nun anders werden. Unser kleines Museum, das mit viel Liebe und hingebender Förderung von allen Heimatfreunden eingerichtet wurde, ist in seiner Art ein Schmuckkästchen geworden, das sich sehen lassen kann«. Probsts Ziel war, dass »Mansfeld […], wenn man von Wittenberg, Eisenach oder Eisleben spricht, stets mitgenannt werden« sollte.43 Doch davon konnte in den nächsten Jahrzehnten keine Rede sein, denn ein professioneller Museumsbetrieb fand bis 2014 nicht statt: Die potenziellen Besucherinnen und Besucher meldeten sich im Pfarrhaus, ab 1977 (bis 2000) bei dem im Elternhaus wohnhaften Ehepaar, um Zugang und eine Führung zu bekommen, was angesichts des ca. dreißig Quadratmeter großen Raums, der den Namen »Luthermuseum« nur bedingt verdiente und v. a. mit Archivalien und Büchern bestückt war, auch nur von ca. 1.500 Menschen im Jahr wahrgenommen wurde. Den Status als Ort einer eher prekären Mansfelder Luther-Memoria teilt das Elternhaus übrigens mit einem zweiten Gebäude, der Mansfelder »Lutherschule«. Luthers Mansfelder Jahre sind v. a. von der Schule geprägt, deren Lokalisierung lange nicht gesichert war. Seit der Entdeckung der Spangenbergschen Chronik Anfang des 20. Jahrhunderts und ihres Stadtplans ist die Lage der lutherzeitlichen Schule in Nachbarschaft zur Kirche unbestritten. Doch zuvor wurde die »Lutherschule« in einem Gebäude neben dem Rathaus verortet, wohin die Schule allerdings erst 1610 umgezogen war. Der Portalbogen trägt folgerichtig die Jahreszahl »1610«, was mit der ursprünglichen, von Luther besuchten Lateinschule nicht überein kommt. Über dem Portal ist ein Relief mit einer vollplastischen Darstellung des Ritters Georg und zwei lateinischen Distichen angebracht. Sie setzen die Schule in Bezug zu Luther, ganz offensichtlich die historisch erste Erinnerung an den Reformator im Mansfelder Straßenraum, wenn auch am falschen Ort und der lateinischen Sprachform wegen wohl kaum wahrgenommen. In deutscher Übersetzung lauten die Verse, die zusammen mit dem stark verwitterten Georgsrelief 1908 durch eine Kopie ersetzt wurden: »Wie das Trojanische Pferd aus seinem Bauch eine kämpferische Schar, so hat die gelehrte Schule gründlich belehrte Männer hervorgebracht. Ritter der Mansfelder, gib uns noch mehr Männer wie Luther, und es werden noch mehr Siegeszeichen für Christus, den Anführer, errichtet werden«.44 Im Jahr 2000 43 Vgl. Probst, Mansfelds Luthermuseum, 50. 44 »Ceu Troianus equus pugnacem ventre cohortem / Edidit, edoctos sic schola docta viros. / Tu nobis plures, Mannorum eques, ede Lutheros, / Et surgent Christo plura trophaea duci.« Vgl. Hübner, Luthers Drachenkampf, 56f; in Anm. 111 die nachdichtende Übersetzung von Größler und Brinkmann: »Wie das trojanische Ross gebar kampflustige Scharen, / So die Schule des
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musste das einsturzgefährdete Gebäude der historischen Lateinschule abgerissen werden, wurde aber in der alten Kubatur wieder errichtet und beherbergt heute die Mansfelder Tourist-Information. 7.
Mansfelds Identität als »Lutherstadt«
Wittenberg und Eisleben schmücken sich mit dem offiziellen Epitheton »Lutherstadt«: Wittenberg seit der Verleihung durch den preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring 1938, Eisleben seit 1946, als die kommunistische Provinzialverwaltung der Stadt am 18. Februar anlässlich des 400. Jubiläums von Luthers Todestag diesen Ehrentitel verlieh.45 Mansfeld verpasste die Zeiten der staatlich verliehenen Städtebezeichnungen, darf sich allerdings auf Antrag des Mansfelder Stadtrats seit dem 7. September 1996 durch eine Urkunde des Innenministers des Landes Sachsen-Anhalt Mansfeld-Lutherstadt nennen.46 Initiierend für eine Neuentdeckung der Kindheit Luthers und damit auch Mansfelds wurden die Ausgrabungen im Elternhaus-Areal, die 2003 im Rahmen umfassender innerstädtischer Straßenbaumaßnahmen begannen. Um die notwendige Ko-Finanzierung der Maßnahmen durch die Kommune zu ermöglichen, gab die Evangelische Kirchengemeinde 2007 ihr Eigentum am Lutherhaus zu Gunsten der Stadt Mansfeld auf, zumal die Perspektive, Orts manche Gelehrten von Ruf. / Du gieb uns der Luther noch mehr, o Ritter von Mansfeld; / Mehr dann der Siege erringt Christi begeisterte Schar.« Den Namen »Lutherschule« erhielt die Ortsschule übrigens am 01.11.1839 (vgl. Chronik der Stadt Mansfeld). 45 Wittenberg nannte sich durch einen Stadtratsbeschluss bereits seit 1922 »Lutherstadt«, konnte aber die offizielle Anerkennung erst unter veränderten politischen Vorzeichen erreichen, vgl. Reichelt, Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg, 138f. Zu den Eisleber Vorgängen vgl. die dreibändige Stadtgeschichte des damaligen kommunistischen Oberbürgermeisters Kurt Lindner, Lutherstadt Eisleben, Bd. 3,2, 30–32. 46 Die festliche Verleihung durch den Innenminister fand auf einem Stadtfest zum 450. Todesjahr des Reformators statt. Die Urkunde lautet lapidar: »Ich beglückwünsche die Stadt Mansfeld zu ihrem Engagement bei der Pflege des traditionellen Erbes Martin Luthers und zu dem Entschluß, mit Wirkung vom 7. September 1996 den Zusatz Lutherstadt zu führen.« Den neuen Namen darf Mansfeld allerdings nur auf Briefköpfen und inoffiziellen Schildern führen, nicht auf Ortsschildern. Auch das Stadtsiegel wurde nicht verändert. Die ersten Überlegungen aus der Bevölkerung zur »Lutherstadt Mansfeld« sind in der Mansfelder Zeitung unter dem 20. August 1938 dokumentiert – offensichtlich angeregt durch die Verleihung des Ehrentitels an Wittenberg. Der Mansfelder Bürgermeister wies indessen öffentlich darauf hin, dass der Titel »Lutherstadt« schon vergeben sei, so dass auch Erfurt und Eisenach abgewiesen worden seien. Damals wurde auch vorgeschlagen, den Mansfelder Poststempel mit der Werbung »Luthers Elternstadt« oder »Luthers Jugendstadt« zu ergänzen, um damit für die »kleinste aller Lutherstädte« als künftigen »Lutherwallfahrtsort« zu werben (Mansfelder Zeitung, Nr. 194 vom 20.08.1938, vgl. auch die Diskussion in der Zeitung 23.08.1938 und 25.08.1938).
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statt der kleinen Stube im Dachgeschoss das gesamte Haus zu einem Museum zu gestalten, nicht im kirchlichen Fokus stand. Die archäologischen Funde, die unter der Überschrift »Luthers Murmeln« überregionales publizistisches Aufsehen erregten und ein neues Arbeitsgebiet (»Lutherarchäologie«) begründeten47 , motivierten zumindest die Landespolitik zu einem großen finanziellen Engagement, das die denkmalgerechte Sanierung des Elternhauses, den Neubau eines Ausstellungsgebäudes, die Einrichtung einer neuen umfänglichen Dauerausstellung (»Ich bin ein Mansfeldisch Kind«) und den Betrieb durch die Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt als neuer Eigentümerin dauerhaft ermöglichte. Am 14. Juni 2014 wurde das neue Museum »Luthers Elternhaus« eröffnet, das auf 500 Quadratmetern die überlieferten Lutherspuren in Mansfeld, den familiären Alltag, den Bergbauunternehmer Hans Luder, die kirchlichen und religiösen Verhältnisse, die Schulzeit sowie zentrale Etappen der Mansfelder Lutherrezeption präsentiert (siehe Abb. 4).48 Auch wenn die öffentlichen Investitionen in das neue Museum angesichts der verlassenen Innenstadt und der wirtschaftlichen Probleme Mansfelds nicht unumstritten sind49 , so gelingt es Mansfeld dadurch gleichwohl, als bislang weitgehend unbekannte Lutherdestination erstmals auf die touristische Lutherlandkarte zu gelangen und statt der bisher max. 1.000 bis 2.000 Besucher pro Jahr sich der 10.000er-Marke zu nähern und diese im Jubiläumsjahr 2017 sogar weit überstiegen zu haben (19.500 Besucher). Mag sich auf den ersten Blick die Evangelische Kirchengemeinde durch die Aufgabe des Elternhauses aus der Luthermemoria verabschiedet haben, so ist sie seitdem ganz im Gegenteil zu einem zentralen Akteur avanciert, der sich auf die örtliche Stadtkirche konzentriert und eben diese neben dem Elternhaus 47 Zu den archäologischen Forschungen mit dem Ziel der Rekonstruktion der materiellen Alltagskultur vgl. Gutjahr, Lutherarchäologie, und Nebelsick/Emmerling, »Finding Luther«. 48 Der mit einer Auszeichnung des Architekturpreises des Landes Sachsen-Anhalt gewürdigte Neubau des Architekten Claus Anderhalten wird vorgestellt von: Noell, weiterbauen, weiterdenken, 93–101. Zu den Themen der neuen Dauerausstellung vgl. Kuper/Gutjahr, Luthers Elternhaus. 49 So polemisch: Krause, »Wo Luther einst wohnte, ist heute alles ausgestorben«: »Aber wozu, frage ich mich, braucht dieser gottverlassene Ort ein solches Museum, das ja nicht einmal in dem, was von Luthers Elternhaus übrig blieb, untergebracht ist, sondern in einem funkelnagelneuen Gebäude, das sich wie ein Ufo in der krummen Straße am Rand des historischen Stadtkerns niedergelassen hat? Wäre das Geld, das das arme Sachsen-Anhalt hier aufgebracht hat, nicht besser in Maßnahmen geflossen, die dem strukturschwachen Gemeinwesen wieder auf die Beine helfen? Kultur und Gedächtnis schön und gut. Aber die Lebenden sollten uns doch näherstehen als die Toten. Das hätte wohl auch Luther so gesehen.« Krause ist offensichtlich entgangen, dass im historischen Elternhaus die museale Präsentation fortgeführt wird. Er lässt überdies die identitätsstabilisierenden sowie die standort- und wirtschaftsfördernden Wirkungen des neuen Museums für Mansfeld-Lutherstadt völlig außer Acht.
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Abb. 4 Blick in das 2014 eröffnete Museum »Luthers Elternhaus« in Mansfeld mit der Präsentation der archäologischen Funde. Quelle: Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt.
zum wichtigsten Mansfelder Erinnerungsort profiliert. Der zwischen ca. 1497 und 1518/20 entstandene spätgotische Bau verdankt seine umfassende denkmalgerechte Sanierung der Lutherdekade, also der Vorbereitungszeit auf das Reformationsjubiläum 2017, indem das undichte Kirchendach neu eingedeckt, die Außenfassade und die Fenster instandgesetzt und erste Maßnahmen der Innensanierung realisiert werden konnten. Bislang hielt die Kirche, für die einst Vater Luder Altäre stiftete und in der der Sohn als Schüler sang und ministrierte, nur mit einem ganzfigurigen Lutherporträt von 1540 aus der Cranachwerkstatt und einer Lutherbüste von Schadow den Reformator in seiner Heimatgemeinde präsent.50 Das hat sich in den letzten Jahren stark verändert, da der seit 2009 (bis 2020) amtierende Pfarrer Matthias Paul, der zugleich promovierter Kirchenhistoriker ist, »seine« Kirche durch moderne Kunst zu einem Memorialort entwickelte und dabei programmatisch lokale Traditionen aufgriff. So begrüßt seit 2016 über dem Nordportal ein Skulpturenmobile die Besucher, das der Hallenser Bildhauer Marc Fromm geschaffen hat: »Martin Luther als Treckejunge« ist ein Motiv aus den Lutherpredigten Spangenbergs, der hier das Wirken des Reformators als das Finden und Herausarbeiten des biblischen Wortes aus dem 50 Spangenberg berichtet in den Mansfeldischen Chronica, dass am 23.11.1574 in der Stadtkirche ein Bildnis Doctoris Lutheri aufgehängt wurde (Leers, Mansfeldische Chronica, 99).
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Berg Gottes mit der Arbeit der Treckejungen, die die gewonnenen Erze mit einem Hunt, also einem Wagen mit kleinen Rädern, liegend-kriechend aus den Streben transportierten, assoziiert. Flankiert wird die schwebende Figur des Kindes Martin durch einen Hunt, dessen Drachenschwanz auf den Heiligen Georg Bezug nimmt, und von einem Apfelbäumchen, das an Luthers Spruch vom Pflanzen eines solchen Apfelbäumchens angesichts des Weltuntergangs erinnert − für den Künstler Luthers »stärkster Spruch überhaupt«, »weil er eine Haltung zeigt«.51 Im Inneren ist die Grafenloge zu einem neuen Erinnerungsort ausgebaut worden: durch eine am 22. April 2017 eröffnete Ausstellung mit originalen Exponaten aus der Geschichte der Kirche, etwa zu Wallfahrten, Altarstiftungen, zur Frömmigkeitskultur und zum Schutzpatron St. Georg, und insbesondere durch zwei neue Fenster, die nach den Entwürfen des in Leipzig lebenden Künstlers Julian Plodek geschaffen wurden und wiederum zentrale Szenen der Mansfelder Luthermemoria in zeitgenössische Bilder fasst. Das erste Fenster zeigt Nikolaus Oemler, wie er den kleinen Martin Luther in die Schule trägt; auf dem zweiten Fenster sind drei Mansfelder Persönlichkeiten ganzfigurig abgebildet, der Naturforscher und Geograph Franz Wilhelm Junghuhn (1809–1864), der in Mansfeld geboren wurde, die Diakonisse Berta Israel (1898–2004), die von 1952 bis 1977 als bis heute verehrte »Schwester Berta« in der Stadt wirkte, und Cyriakus Spangenberg (1528–1604), Pfarrer und Chronist der Stadt und Begründer der Mansfelder Luthermemoria, dargestellt im heutigen Pastorentalar.52 Das neu entdeckte Selbstverständnis Mansfelds als Lutherstadt zeigt sich neben der 1996 verliehenen Titulierung und der baulichen und musealen Ertüchtigung der Lutherstätten auch in der Festkultur, da seit 2004 jährlich am ersten Samstag nach Ostern »Luthers Einschulung« gefeiert wird, mit historischem Umzug, Markt und traditionellem Handwerk, außerdem mit Festgottesdienst, Vorträgen und buntem Programm, darunter auch der Pflanzung einer Luthereiche, wodurch eindrucksvoll die Persistenz der reformatorischen Festkultur erwiesen wird. »Luthers Einschulung« gehört in die Reihe der Lutherfeste, die nach dem Vorbild des Wittenberger Stadtfestes »Luthers Hochzeit« (seit 1994)53 51 Vgl. Mitteldeutsche Zeitung Hettstedt, 13.07.2015 (»Stadtkirche Mansfeld: Martin Luther als Treckejunge«). Dass Luthers z. Zt. populärster Spruch erfunden und erstmals im Jahr 1944 überliefert ist, wird luzide nachgewiesen von Schloemann, Luthers Apfelbäumchen? Vgl. auch Joestel, Tu’s Maul auf!, 36–42. 52 Zu den Sanierungsmaßnahmen und den künstlerischen Ausstattungen vgl. Köhler, St. Georg zu Mansfeld. Die Mansfelder Stadtkirche als Reformationsort wird jetzt historisch und aktuell vorgestellt in: Paul/Hübner, Die Kirche St. Georg. Auch die Mansfelder Schlosskirche hat in jüngster Zeit neue Aufmerksamkeit gefunden, v. a. ihr dreiflügeliger Kreuzigungsaltar von Hans Döring (um 1518/20), vgl. Maier/Maier, Kreuzigungsaltar. 53 Vgl. Dammer, Luthers Hochzeit.
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in mitteldeutschen Städten begründet wurden, und startete zunächst als ein Fest des Evangelischen Kirchspiels Mansfeld, bis es sich in den letzten Jahren durch die Einbindung von Schulen, Vereinen, Spielmannszügen und Feuerwehr zum Fest für alle entwickelte. 8.
Epilog
Die Mansfelder Luther-Memoria stellt ein noch kaum bekanntes Themen- und Forschungsfeld dar; sie wird durchweg von den Darstellungen zur Wirkungsund Rezeptionsgeschichte Luthers vergessen. Durch die Jahrhunderte hindurch wurde sie von wenigen Ortspastoren und von lokalgeschichtlich interessierten Bürgern getragen. Sie war niemals eine Angelegenheit staatlicher und kirchlicher Obrigkeiten, die vielmehr in Wittenberg, aber auch in Eisleben oder auf der Wartburg ihre Bühnen ad honorem Lutheri wie auch zur Selbstinszenierung fanden. In dem noch im frühen 16. Jahrhundert blühenden Mansfeld kam das politisch und ökonomisch heruntergewirtschaftete Grafenhaus 1580 unter Zwangsverwaltung. Die Einwohnerzahl war in Folge des Dreißigjährigen Krieges und von Seuchen so sehr gesunken, dass es nicht gelang, außer dem Sitz des Mansfelder Gebirgskreises zwischen 1816 und 1950 regional oder gar überregional aktive Institutionen zu binden, die wiederum bildungsbürgerliches Führungspersonal in die Stadt hätten bringen können, kein Theater, kein Krankenhaus. Heute leben in der Kernstadt, dem alten »Thal-Mansfeld«, rund 1.500 Menschen. Jede Memoria braucht für ihre Genese wie für ihre Kontinuität Trägergruppen. Und sie braucht materielle Ankerplätze, d. h. mehr oder weniger authentische Stätten, an denen sich die Erinnerung festhalten kann. Diesem Bedürfnis standen offensichtlich gravierende Verluste in der Bausubstanz des Elternhauses und die daraus folgenden Zweifel an der Authentizität des Gebäudes entgegen. Auch die Dominanz der biographischen Kerndaten (Geburt und Tod), die mit dem nahe gelegenen Eisleben verknüpft sind, rückte Mansfeld ins Abseits. Die Neuentdeckung Mansfelds als Lutherort im 21. Jahrhundert verdankt sich den archäologischen Funden mit ihren neuen Einblicken in die Lebenswelt des jungen Martin Luther. Sichtbar wird damit ein Alltag, der dem heutigen nah und zugleich fern ist und dadurch Faszination entfalten kann. Die neue Musealisierung Luthers in seinem Mansfelder Elternhaus ist ein Kind der säkularisierten Gegenwart. Die religiösen Assoziationen von »Luthers Nazareth« liegen dieser Gegenwart denkbar weit entfernt.54 54 Die Neuentdeckung Mansfelds als einer für die Biographie des Reformators bedeutenden Lutherstadt trägt auch auf ganz unerwartetem Terrain Früchte: Der Mansfelder Luther ist nämlich in der Belletristik angekommen. Das im September 2016 erschienene Buch von Asta
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Scheib (Sturm in den Himmel. Die Liebe des jungen Luther) erzählt von den ehrgeizigen Eltern, den strengen Lehrern und dem einsamen Jungen Martin, der bei einem Baum Zuflucht und bei dem hübschen Waisenmädchen Madlen seine erste Liebe findet.
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»Luthers Nazareth«
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»Luthers Nazareth«
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Die Lutherausgaben des 16. bis 18. Jahrhunderts Initiierung, Programmatik und Memoria
Immer wieder und lange hielt ich denjenigen stand, die meine Bücher oder, besser gesagt, das Durcheinander meiner nächtlichen Arbeiten herausgegeben haben wollten. Einerseits, weil ich nicht wollte, dass die Leistungen der Alten durch meine Neuheiten in den Hintergrund gedrängt würden und ein Leser von deren Lektüre abgehalten würde, andererseits, weil es jetzt, Gott sei Dank, sehr viele wissenschaftliche Bücher gibt, unter denen die Loci Communes Melanchthons herausragen. Durch sie kann ein Theologe und ein Pfarrer schön und reichliche gebildet werden, um stark zu sein in dem Wort der Lehre der Frömmigkeit [doctrina pietatis], zumal die Heilige Schrift selbst jetzt in beinahe allen Sprachen zu haben ist. Meine Schriften aber sind, wie es das völlige Fehlen einer einheitlichen Ordnung mit sich brachte, ja erzwang, ein ungestaltetes, ungegliedertes Chaos, das jetzt nicht einmal für mich leicht zu ordnen ist. Von diesen Überlegungen bewegt wünschte ich, alle meine Bücher wären begraben in ewigem Vergessen, damit Raum für bessere sei.1
Mit diesen Worten leitet Martin Luther seine Vorrede ein, die der lateinischen Ausgabe der gesammelten Werke vorangestellt ist und zu den großen Klassikern der Theologiegeschichte zählt. Mehr noch als die oben zitierte Passage begründet diesen Ruf des auf den 5. März 1545 datierten Vorworts seine rückblickenden Äußerungen über die reformatorische Wende, die er ausführlich auf die Neubewertung der Gerechtigkeit Gottes bezieht.2 Den hier gebotenen Rückblick über die »Ursachen« und den »Verlauf« der reformatorischen Ereignisse beginnt Luther im Gestus der selbststilisierten Bescheidenheit, indem er seine eigenen Skrupel betont, die mit der Herausgabe seiner Werke verbunden gewesen seien. Doch zwei Argumente hätten ihn von dem Projekt überzeugt: 1. Seine gesammelten Schriften könnten nach seinem Tod von Personen herausgegeben werden, welche mit den reformatorischen Ereignissen nicht vertraut seien.3 1 Martin Luther, Praefatio, in: Wilat I, 1545, unpag. 2r . Kritische Edition: WA 54, 179,1–14. Übersetzung nach LDStA 2, 493,2–17. 2 WA 54, 185,12–186,20. Vgl. Schwarz, Luther, 28–32. 3 WA 54,179,14–18; LDStA 2, 493,17–24: »Aber schließlich siegte das unverschämte Drängen und die rücksichtslose Hartnäckigkeit anderer Leute, die mir täglich in den Ohren lagen: Es werde unweigerlich dahin kommen, sollte ich die Herausgabe bei Lebzeiten nicht erlauben, dass ganz gewiss nach meinem Tode solche Leute sie herausbringen würden, die mit den Ursachen
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2. Kurfürst Johann Friedrich hatte die Anfertigung der Gesamtausgabe befohlen und die Drucker zur Umsetzung eines solchen Werkes gedrängt.4 Insofern stimmte Luther der Umsetzung jenes Projektes zu, das als Gesamtausgabe für die Abteilung der deutschen Schriften 1539 beim Drucker Hans Lufft (1495–1584) in Wittenberg begonnen wurde. Es ist hinlänglich bekannt, dass die sog. Wittenberger Lutherausgabe nicht die erste und nicht die einzige Sammelausgabe von Lutherschriften war. Vielmehr gab es bereits in der Frühzeit des reformatorischen Auftretens Luthers und dann von 1539 an bis in die Gegenwart zahlreiche Projekte, in denen größere und kleinere Lutherschriften gesammelt, geordnet, übersetzt und gedruckt wurden und werden.5 Definitorisch wird mit »Lutherausgaben« »nicht die ganze Breite der einzelnen Druckausgaben von Lutherschriften« tituliert, sondern nur ein »gewisse[r] Kanon der großen und der aktuell gebräuchlichen kleineren Lutherausgaben«.6 Im Horizont der hier vorgenommenen Fokussierung auf das 16. bis 18. Jahrhundert gilt zu fragen, was diese älteren Lutherausgaben charakterisierte. Wer initiierte die opera Lutheri zu welchem Zweck und wer gab sie heraus? Welchem Aufbau und welcher Programmatik folgten sie? Neben diesen Fragestellungen, die durch die Pionierarbeiten von Reinhold Jauernig, Hans Volz und Eike Wolgast insbesondere für die Lutherausgaben des 16. Jahrhunderts teilweise erschöpfend bearbeitet wurden,7 soll hier die Memoria genauer thematisiert werden. Wie wurde innerhalb der Ausgaben an Luther und die Reformation erinnert? Wie wurden sein Gedenken und die evangelische Lehre vergegenwärtigt? Welche obrigkeitlichen Memorialakteure wurden benannt und welche memorialspezifische Funktionen ventiliert? Zur Beantwortung dieser Fragen werden als Quellengrundlage sowohl die frühen Sammelausgaben (1.), als auch die großen Lutherausgaben des 16. bis 18. Jahrhunderts (2.–6.) herangezogen und analysiert. Wurden die einzelnen Schriften von Beginn an in den Registern der jeweiligen Werkausgaben präsentiert und nun übersichtlich im Hilfsbuch zum Lutherstudium von Kurt Aland
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und dem Verlauf der Ereignisse nicht im mindesten vertraut wären. Und so erwüchsen aus dem einen Durcheinander sehr viele neue [...].« WA 54, 179,19–21; LDStA 2, 493,25–29: »Obendrein kam der Wunsch und Befehl unseres hochwürdigen Fürsten, des Kurfürsten usw. Johann Friedrich hinzu, der anordnete, ja, die Drucker dazu nötigte, die Ausgabe nicht nur zu drucken, sondern sogar zu beschleunigen.« Einen Überblick über die Lutherausgaben bieten: Schilling, Lutherausgaben TRE; Ders., Lutherausgaben; Beyer, Lutherausgaben. Beyer, Lutherausgaben, 2. Vgl. z. B. Jauernig, Zur Jenaer Lutherausgabe; Ders., Wissenschaftliche Zeitschrift; Ders., Konkurrenz; Ders., Altenburger Lutherausgabe; Volz, Sammelausgaben; Wolgast, Streit; Ders., Die Wittenberger Luther-Ausgabe; Ders./Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben.
Die Lutherausgaben des 16. bis 18. Jahrhunderts
(1915–1994) zusammengefasst,8 gilt es hier, die Titelblätter, Vorreden und Widmungen besonders in den Blick zu nehmen. Um die theologie- und memorialhistorischen Spezifika herausarbeiten und vergleichen zu können, werden die Ausgaben zuerst kontextualisiert und unter Einbeziehung der verlagsgeschichtlichen Forschung entstehungsgeschichtlich analysiert. Sodann werden die jeweilige Luthermemoria in ihren Deutehorizonten und deren Wandlungen akzentuiert und interpretiert. Ein Resümee (7.) bündelt die Ergebnisse und regt zu weiteren Forschungen an. 1.
Frühe Sammelausgaben
Werkausgaben berühmter Theologen, vornehmlich der Kirchenväter, wurden im frühen 16. Jahrhundert in den oberdeutschen Druckzentren üblich. Bereits im Oktober 1518 entstand in diesem patristisch-humanistischen Umfeld die erste lateinische Sammelausgabe des durch seine 95 Thesen soeben berühmt gewordenen Augustiner-Eremitenmönchs.9 Ohne Nennung des Verlegers und des Druckortes brachte der Baseler Humanist und Buchdrucker Johann Froben (um 1460–1527) eine Ausgabe von Schriften Luthers auf den Markt.10 Redigiert und vermutlich auch angeregt worden war diese ohne jede Mitwirkung Luthers publizierte Sammlung vom Baseler Kathedralprediger und Theologieprofessor Wolfgang Capito (1478–1541), der auch das Vorwort »Ad candidos theologos« sowie weitere Vorworte und Randglossen verfasste.11 Dass Capito in diesem Weckruf an Theologie und Kirche Luther bereits früh als »zweiten Daniel« bezeichnete, welchen Christus gesandt habe, um die Missstände in der Kirche aufzudecken, entfachte heftige Auseinandersetzungen.12 Der in relativ hoher Auflage publizierte 488 Seiten umfassende Quartband, dessen Titel zugleich als Inhaltsverzeichnis fungierte, enthielt alle in Einzeldrucken bis September 1518 erschienenen lateinischen Publikationen Luthers, eine lateinische Übersetzung des deutschen Sermons von Ablaß und Gnade sowie zwei lateinische Texte fremder Autoren: Silvester Prierias (1456–1523) Dialogus und Andreas
8 Aland, Hilfsbuch, 547–646. 9 Vgl. Moeller, Berühmtwerden. Zu den frühen Sammelausgaben vgl. Volz, Sammelausgaben; Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 431–460. 10 Zu Froben vgl. Reske, Buchdrucker, 67f. 11 Vgl. Kaufmann, Capito; Grosse, Capitos Lutherausgabe. 12 Luther, AD LEONEM X. (Basel 1518), 2. Vgl. Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 433 Anm. 8. Capito plädierte in seinem Vorwort dafür, dass sich die Theologie dem Evangelium, Paulus und den Kirchenvätern – vor allem Hieronymus und Augustin – zuwenden solle. Außerdem warnte er davor, Luther zu verketzern.
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Bodenstein von Karlstadts (1486–1541) 109 Thesen gegen Johann Eck.13 Für den Verleger war diese Ausgabe, die Luther europaweit in humanistischen Kreisen bekannt machte, ein enormer Erfolg. Allein 600 Exemplare wurden nach Frankreich und Spanien geliefert. Im Februar 1519 war die Ausgabe bis auf zehn Exemplare restlos vergriffen.14 Doch nicht nur die große Verbreitung und die durch die Lektüre des Buches gewonnenen Anhänger waren es, die Geschichte schrieben. Diese Publikation bildete auch die Grundlage für die erste offizielle Verdammung einiger »Irrlehren« Luthers, welche die Kölner und die Löwener Theologische Fakultät am 31. August bzw. 7. November 1519 verkündeten.15 Obwohl die Ausgabe ein enormer wirtschaftlicher Erfolg darstellte, nahm Froben im Frühjahr 1519 von einer zweiten Auflage Abstand. Weil Erasmus von Rotterdam (um 1466–1536) sich gegen den Druck von Lutherschriften aussprach, Froben aber ein enger Freund und Verleger des berühmten Humanisten war, befand sich der Basler Drucker in der Zwickmühle. Er musste sich zwischen Erasmus und Luther – lange vor dem Zerwürfnis der beiden Persönlichkeiten – entscheiden. Froben entschied sich aus publikationsstrategischen Überlegungen für Erasmus, was ihn aber nicht daran hinderte, im Februar 1519 Luther einen lobreichen Brief zu schreiben.16 Nachdem Froben auf die Neuauflage verzichtet hatte, übernahm der befreundete Straßburger Drucker Matthias Schürer (um 1470–1519) dieses Vorhaben.17 Zwar hatte er bis dahin noch keine Lutherschriften gedruckt, aber Erfahrungen mit Werken von Klassikern und humanistischen Autoren gesammelt, so dass er das lukrative Verlagsprojekt übernahm. Die erneut ohne Angaben von Drucker und Druckort sowie unter Auslassung von Capitos Randglossen zum Dialogus des Prierias gedruckte, ansonsten bis in den Titel hinein identische Sammelausgabe erschien im Februar 1519 und wurde ebenfalls ein verlegerischer Erfolg.18 Eine zweite, leicht veränderte Neuauflage, die um Prierias Replica vom Herbst 1518 erweitert war, folgte im August 1519, kurz bevor der Drucker starb.19
13 Silvester Prierias, Ad Martinum Dialogus, in: Luther, AD LEONEM X. (Basel 1518), 154–178; Andreas Bodenstein, Contra D. Ioannem Eckium Ingoldstadiensem, in: ebd., 258–272. 14 Vgl. Brief Froben an Luther, 14.2.1519, WAB 1, 332f Nr. 146. 15 Vgl. Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 438f. 16 Vgl. Brief Froben an Luther, 14.2.1519, WAB 1, 332f Nr. 146; Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 439–442. 17 Zu Schürer vgl. Reske, Buchdrucker, 953f; Kaufmann, Mitte, 336–340. 18 Siehe Luther, AD LEONEM X. (Straßburg 1519). 19 Vgl. Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 442f. Eine inhaltliche Darstellung aller abgedruckter Schriften der Lateinischen Sammelausgaben 1518–1520 findet sich mit Angabe der WA-Stellen ebd., 456f.
Die Lutherausgaben des 16. bis 18. Jahrhunderts
Abb. 1 Titelblatt der Lutherausgabe von Adam Petri, Basel 1520. Quelle: ThULB Jena, Sign. 2 Op. theol. V,1[1].
Einen eigenen Weg betrat der Baseler Drucker Andreas Cratander (um 1485–1540) im März 1520.20 Unter dem Titel Opera Reverendi Patris ac Sacrae Theologiae Doctoris Martini Lutherii brachte er eine zweiteilige Sammelausgabe heraus, die gegenüber Frobens Ausgabe um die Acta Augustana und weitere Schriften aus dem Jahr 1519 erweitert und um zusätzliche Randglossen angereichert war. Ergänzt wurde die Ausgabe, deren Redaktor bisher nicht ermittelt werden konnte, durch ein alphabetisch geordnetes Sachregister.21 Auf Vollständigkeit aller bis 1520 erschienenen lateinischen Lutherschriften war diese Sammlung nicht angelegt, die mit Johannes Oekolampads (1482–1531) anonymer Schrift Canonicorum indoctorum Lutherianorum ad Io. Eccium responsio endete.22 Noch im Juli 1520 erschien eine weitere Sammelausgabe der lateinischen Schriften, die sich von den Vorgängerinnen durch ihr Folioformat und ein künstlerisch gestaltetes Titelblatt abhob (Abb. 1). Die Titelbordüre, die von Urs 20 Zu Cratander, der bei Matthias Schürer in Straßburg seit 1513 und seit 1515 bei Adam Petri in Basel als Setzer gearbeitet hatte, bevor er sich ebendort selbstständig machte, Reske, Buchdrucker, 72f. 21 Siehe Luther, Opera (Basel 1520). Vgl. Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 443–446. 22 Es fehlen z. B. Luthers Sermo de duplici iustitia (WA 2, 145–152) oder Ad aegocerotem Emserianum additio (WA 2, 658–679). Zu Oekolampads Beziehung zu Schürer und Cratander vgl. Kaufmann, Mitte, 66–73.
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Graf (um 1485–1528) als Holzschnitt gestaltet worden war und erstmals bei Adam Petris (1454–1527) niederdeutschem Evangelienbuch 1517 zur Anwendung kam, weist auf die mit Luther konnotierte evangelische Lehre und ihre neutestamentlichen und patristischen Gewährsmänner hin. Oben und unten in der Mitte sind als Halbfiguren Petrus mit zwei Schlüsseln und Paulus mit dem Schwert abgebildet. In den vier Ecken sind die Embleme der Evangelisten dargestellt. In jeder Seitenleiste finden sich zwei Kirchenlehrer: links oben Papst Gregor der Große, darunter Augustin; rechts oben Hieronymus darunter Ambrosius.23 In der Mitte ist der gerahmte Titel abgedruckt. Erstmals werden Druckort und Drucker genannt: »Basileae apvd Adam Petri«.24 Redaktor dieser Ausgabe war nach eigener Auskunft der Basler Humanist, Franziskanerguardian und spätere Zürcher Reformator Konrad Pellikan (1478–1556). Der Ausgabe vorangestellt wurde nach dem Inhaltsverzeichnis und vor dem ausführlichen Index mit dem Hinweis »non nihil D. Martini Lutheri negocium attingens« der mit einer Einleitung versehene lateinische Brief Erasmus’ an den Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg (1490–1545) vom 19. Oktober 1519. In dem bereits in Einzeldrucken verbreiteten Schreiben riet Erasmus dem Kirchenmann, in der Sache Luthers umsichtiger vorzugehen.25 Durch seine exponierte Stellung innerhalb der Ausgabe verliehen Erasmus’ differenzierte Worte der Publikation eine besondere Legitimation und Luthers Schriften eine gesteigerte Autorität. Wie schon Cratander erweiterte auch Petri die Ausgabe um einzelne mittlerweile erschienene Lutherschriften. Ein zweiter geplanter Band mit Luthers Psalmenkommentar von 1519, der bereits auf dem Titel angezeigt war, kam nicht zustande.26 Im Jahr 1520 erschienen erstmals Sammelausgaben von Luthers deutschen Schriften.27 Unter dem Titel Martini Luthers [...] mancherley büchlin und tractetlin publizierte im Mai 1520 Cratander in Basel die erste Gesamtausgabe der deutschen Schriften. Wie er in seiner programmatischen, Luthers Lehre verteidigenden Vorrede betonte, zielte seine Sammlung »zů nutz dem einfaltigen gemeinen volck«, uff das nit allein die gelerten in den schůlen / oder cantzeln (deren etlich vß n[e]id vn hoffart / etlich vß mißuerstant der geschrifft / mit vnnützem liederlichē geschwaetz noch verhafft dawider redent)[,] sonder die gantze teütsche vngelerte gemein [...] urteilen künt 23 Eine ältere Beschreibung findet sich bei Dommer, Lutherdrucke, 250f Nr. 103. 24 Luther, Lucubrationum Pars una (Basel 1520). Zu Petri vgl. Reske, Buchdrucker, 70; Kaufmann, Mitte, 232–253. 25 Luther, Lucubrationum Pars una (Basel 1520), unpag. 2r –4r . Vgl. Erasmus, Opus epistolarum 4, 99–107 Nr. 1033. 26 Vgl. Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 446–450. 27 Vgl. ebd., 450–454.
Die Lutherausgaben des 16. bis 18. Jahrhunderts
vnder der blossen götlichē warheit / die vnß Martinus Luther hierinne beschreibt / vnd den geblümpten mēschlichen fabeln so lang zeit her/ vnd leider noch heüt bey tag von etlichen Dantpredigern [Lügenpredigern] den einfaltigen Christen eingegossen werden/ zů verderbnuß jrer armen seelen.28
In der Vorrede wurde Luther zudem als »warer vnd ewangelischer doctor der heiligē geschrifft« bezeichnet, der aufgrund göttlicher Verordnung und Eingebung des Heiligen Geistes in wenigen Jahren viel geschrieben hätte – für die Gelehrten in Lateinischer, für den gemeinen Mann in deutscher Sprache, »als namlich dyse bue chlin hie zůsamen truckt«.29 Nicht Zwietracht oder Neuerung wolle er in die Kirche bringen, sondern die einfältigen Menschen erleuchten. Gegen die Kritiker bemerkt der Herausgeber, sie sollten erst dieses Büchlein »mit fleiß vñ vffmerckung« lesen und dann urteilen, »ob diese lere dem Ewangelio vñ gůten sittē gleichfoe rmig sey oder nit.«30 Folglich verband Cratander mit seiner Publikation sowohl frömmigkeitspraktische als auch apologetische Intentionen, die wie auch die anonyme, 1519 verfasste und als Flugschrift bereits weit verbreitete Verteidigungsschrift Apologia. Schirmred und Christliche Antwort aus der Feder von Lazarus Spengler (1479–1534) am Ende des Bandes dem Bekenntnis zu Luthers evangelischer Lehre folgte. In der Apologia wurde Luther wie von Capito angeregt als neuer Daniel tituliert.31 Das Vorwort endete mit der Bitte: O du frum_er Christ/ der diese bue chlin lisest/ bitt gott das er disem theüren man verleyhe fürhin seyn gnad/zu nutz eyner gantzen Christenheit/ vnd erleichterūg aller beschaerten hertzen/ vff das er mit vnß vnd wir mit jm mügen selig werdē in Christo Jesu Amen.32
Ein Nachdruck dieser Sammelausgabe erfolgte im Oktober 1520 durch die Werkstatt Matthias Schürers, welche am Ende durch Luthers Schrift Von den
Luther, Mancherley büchlin (Basel 1520), unpag. 3v –4r . Ebd., unpag. 3r . Ebd., unpag. 3v . Ebd., CLXXIr –CLXXIXv . Spenglers anonym veröffentlichte Schrift erschien 1519 unter dem Titel Schützred und christliche antwort in Augsburg und fand rasch weite Verbreitung. Sie gehört zu den ersten deutschsprachigen Reformationsflugschriften und bildet den ersten volkssprachlichen Text über Luther von einem Laien. Dass diese Schützred, welche die von Capito angeregte Danielprädikation und somit beginnende Heroisierung rezipiert, in Basel im Umfeld von Capito Eingang in die deutschsprachige Sammelausgabe fand, gehört zur frühen humanistischen Unterstützerstrategien der Wittenberger Reformation. Vgl. Kaufmann, Der Anfang, 271, 362–367. 32 Luther, Mancherley büchlin (Basel 1520), unpag. 4r .
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guten Werken und seinem Erbieten erweitert wurde.33 Drei weitere, im Sommer 1520 erschienene Lutherschriften fügten Schürers Erben dem Band nicht an, sondern brachten sie unter dem Titel Drey Biechlin zu letst in einer selbstständigen Edition ohne Drucker-, Orts- und Datumsangabe um 1521 heraus.34 Während Luthers Schriften weiterhin einen enormen Absatz mit zahlreichen Auflagen erfuhren, endete mit Petris lateinischer und Schürers deutscher Sammelausgabe ohne erkennbaren Grund 1520 dieser Publikationstyp, der übrigens nur auf die beiden großen oberdeutschen Druckzentren Basel und Straßburg konzentriert war. Dass die Bannandrohungsbulle und seit 1521 das Wormser Edikt die Produktion für den Drucker als zu gefährlich erscheinen ließ – immerhin richtete es sich gegen Luthers Bücher und Lehre –, scheidet als gewichtiges Argument bei der anhaltenden oberdeutschen Publikationsflut von Lutherschriften aus. Gleichwohl mussten sich die Drucker selbst nun entweder für oder gegen die neue Lehre entscheiden. Am wahrscheinlichsten ist, dass eine Sammelausgabe aufgrund der Tagesaktualität und der Publikationsflut editorisch nicht mehr praktikabel erschien. Den zahlreichen Lutherschriften – allein 1519 erschienen 23, 1520 27 und 1521 20 größere und kleinere Texte – konnte dieser Buchtyp nicht mehr Stand halten. Hinzu trat der Aktualitätsbezug insbesondere bei den Streitschriften, welche durch die Veröffentlichung neuerer Schriften sich schnell überleben sollte. Lediglich in Predigtsammlungen fand dieser Typus zwischen 1523 und 1526 in Straßburg und Basel eine Fortsetzung bis schließlich Luthers Postillen die nichtautorisierten Sammlungen ersetzten.35 Memoriale Aspekte waren bei diesen informierenden, apologetischen und schließlich für die evangelische Lehre werbenden frühen Sammelausgaben noch nicht leitend. 2.
Die Wittenberger Lutherausgabe
Mit der Konsolidierung des evangelischen Kirchenwesens Ende der 1520er Jahre36 flammten die Bemühungen um eine Gesamtausgabe von Luthers Werken wieder auf und integrierten jetzt auch das memoriale Anliegen.37 Mindestens drei Motive bestimmten die Argumentation für ein solches Vorhaben, das von verschiedenen Seiten an Luther herangetragen, aber von ihm selbst lange Zeit 33 Luther, Mancherley büchlin (Straßburg 1520). Eine Übersicht über die in den deutschen Sammelausgaben enthaltenen Lutherschriften bietet mit WA-Nachweisen: Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 459f. 34 Luther, Drey Biechlin zou letst (Straßburg 1520). 35 Zu den Postillen vgl. Spehr, Postillen, 551–555. 36 Vgl. hierzu allgemein Blaha/Spehr, Reformation; genauer Spehr, Entstehung. 37 Vgl. Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 460–464.
Die Lutherausgaben des 16. bis 18. Jahrhunderts
zurückgewiesen wurde: Zum einen ein propagandistisch-werbendes Interesse, zum zweiten das humanistische Bedürfnis nach Bewahrung und Ordnung des historischen Materials und zum dritten der memoriale Wunsch nach autoritativer Sicherung von Luthers literarischem Nachlass. Doch erst die in 19 Foliobänden zwischen 1539 und 1559 in Wittenberg gedruckte Gesamtausgabe der Werke Luthers sollte dieses nicht zuletzt von Wolfgang Capito und dem Drucker Wendelin Rihel (um 1490–1555)38 in Straßburg vorangetriebene Anliegen realisieren.39 Dass dieses Projekt überhaupt möglich wurde, über dessen Anfänge trotz Eike Wolgasts substanzhaften Forschungen kaum Informationen existieren, hing mit Luthers Billigung einer Edition seit 1537 zusammen.40 Wer das Projekt initiierte, ist nicht bekannt. Vermutlich veranlassten die Straßburger Pläne, welche die Unterscheidung von einer deutschen und einer lateinischen Reihe vorsahen und somit das Prinzip der frühen Sammelausgaben fundierten, die um ihr Geschäft fürchtenden Wittenberger Drucker, die Idee einer Lutherausgabe aufzugreifen und diese voranzutreiben. Verlegerisch gewannen die Sammelausgaben bedeutender Gelehrter seit den späteren 1530er Jahre wieder an Konjunktur. Weil zudem Kurfürst Johann Friedrich bereits 1536 Luther um die Abfassung seines theologischen Testaments gebeten hatte, woraus die Schmalkaldischen Artikel erwuchsen, und er sich um das Ableben des Reformators im Winter 1536/37 gesorgt hatte,41 dürfte er ein hohes Interesse an der Erstellung einer Gesamtausgabe von Lutherschriften gehabt haben.42 Explizit förderte er die Sammlungsbemühungen Georg Rörers (1492–1557) um Lutherschriften und dessen Handschriften.43 Zwar konnte bis jetzt noch kein Beleg für die unmittelbare kurfürstliche Initiierung des ersten Bandes der Wittenberger Ausgabe erbracht werden, doch griff Johann Friedrich nach 1539 derart beherzt in die Produktionsprozesse ein und drängte die Drucker zur beschleunigten Erstellung der weiteren Bände, dass 38 Zu Rihel vgl. Reske, Buchdrucker, 964f. 39 Einzelne Pläne sind belegt für Stephan Roth (1492–1546) in Zwickau im Jahr 1528, für Graf Ludwig XV. von Öttingen (1486–1557) im Jahr 1533 und schließlich für Capito in Straßburg seit 1536. Vgl. Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 462–464. Zum Projekt der Straßburger Lutherausgabe vgl. Wolgast, Plan. 40 Zu Luthers Abneigungen gegen eine Gesamtausgabe vgl. Wolgast, Wittenberger LutherAusgabe, 14–18. 41 Vgl. die Konzilsausschreibung als Motiv mit einbeziehend Spehr, Schmalkaldisches Bekenntnis, 38–43. 42 Siehe die Bemerkungen in der Jenaer Lutherausgabe von Nikolaus von Amsdorf, Vorrede, in: Jdt 1, 1555, unpag. 3v –8v , hier 3v : Johann Friedrich hatte »die Schrifften vnd Bue cher Doct. Mart. Lutheri zusamen zu fassen/ vnd in Druck zubringen/ befolhen«. 43 Immerhin hatte Johann Friedrich 1537 Rörer offiziell beauftragt, Luthers gedruckte Werke und Handschriften zu sammeln und somit dessen Erbe zu sichern. Vgl. hierzu Michel, Kanonisierung, 135–140.
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eine frühe Einwirkung sehr wahrscheinlich ist. Gesichert ist sein Engagement für das noch zu Lebzeiten Luthers zu realisierende Projekt seit den frühen 1540er Jahren.44 Erste Überlegungen, eine Gesamtausgabe in Wittenberg herzustellen, finden sich im Herbst 1538.45 Bereits ein Jahr später lag der erste Band unter dem Titel Der Erste Teil der Bücher D. Mart. Luth. vber etliche Epistel der Aposteln vor. Gedruckt wurde er, wie alle weiteren Bände bei Hans Lufft in Wittenberg.46 In Aufnahme des sprachlichen Unterscheidungsmerkmals wurde die Ausgabe in zwei Abteilungen herausgegeben: einer deutschen und einer lateinischen Reihe mit zwölf bzw. sieben Bänden,47 denen im ersten Band jeweils eine programmatische Vorrede Luthers vorangestellt war.48 Durch die sprachliche Differenzierung zielten wie bereits bei den frühen Sammelausgaben die Bände auf ein unterschiedliches Lesepublikum. Während sich die lateinischen Bände an die Gelehrten und Theologen sowie an diejenigen wandten, die in »frembden Landen« nicht Deutsch sprechen, richteten sich die deutschsprachigen Bände an den »vnzeheliche[n] hauffe[n] von Man/ Frawen vnd Jungfrawen in Deudschem Lande«.49 Damit möglichst viele Menschen Luthers Schriften in ihrer Sprache lesen konnten, wurden zahlreiche Schriften vom Lateinischen ins Deutsche oder umgekehrt übersetzt, so dass in der Wittenberger Ausgabe ungefähr 100 Schriften doppelt wiedergegeben werden. Band 1 der deutschen Ausgabe begann z. B. mit Luthers Galaterbriefvorlesung (1531), die Justus Menius (1499–1558) auf Anregung des kursächsischen Rentmeisters Hans von Taubenheim verdeutscht hatte.50 Nachdem der erste Band der deutschen Reihe noch 1539 eine zweite Auflage erlebt hatte, stagnierte das Projekt und wurde erst auf Druck des sächsischen Kurfürsten vorangetrieben. 1545 erschien der erste, 1546 der zweite Band der lateinischen Reihe. Eine erneute Unterbrechung bewirkte der Schmalkaldische Krieg. 1548 kam der zweite Band der deutschen Reihe heraus, woraufhin bis 44 Siehe die Anweisung Johann Friedrichs bei Wolgast, Wittenberger Luther-Ausgabe, 102. Insgesamt vgl. ebd., 102f sowie Luthers Hinweis in WA 54, 179,19–21. 45 Vgl. WAT 4, 84,37f: »Augustani et Wittenbergenses adhortabantur Lutherum, ut ipse permitteret sua scripta in tomos redigi.« 46 Zum Wittenberger Drucker Hans Lufft vgl. Reske, Buchdrucker, 1083; Schirmer, Buchdruck. 47 Wie in der Lutherforschung üblich werden hier wie auch bei der Jenaer Lutherausgabe die Bände der deutschen Reihe durch arabische Ziffern und die lateinische Reihe durch römische Zahlen wiedergegeben. 48 Martin Luther, Vorrede, in: Widt 1, 1539, unpag. 2r –3v , kritisch ediert in: WA 50, 657–661; Martin Luther, Praefatio, in: Wilat I, 1545, unpag. 2r –5r ; siehe: WA 54, 179–187. 49 Siehe die einleitende Apologie der Wittenberger Ausgabe bei Christoph Walther, An den christlichen Leser, in: [Ders.], Register aller Bücher, 1558, unpag. 2–8, hier 4f. 50 Erstmals gedruckt unter dem Titel In Epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius, 1535 (WA 40,1, 15–688; WA 40,2, 1–184).
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1559 regelmäßig jährlich mindestens ein Band publiziert wurde. Anhand des Redaktors lassen sich drei Phasen ausmachen: Von 1539 bis 1551 gaben der Wittenberger Diakon und Luther-Chronist Georg Rörer51 und bis zu seinem Tod 1548 der Wittenberger Theologieprofessor Caspar Cruciger der Ältere (1504–1548)52 die Bände heraus. Von 1551 bis 1557/9 wirkte der Theologe Georg Major (1502–1574) als Redaktor.53 Die letzten zwei Bände stellten übrigens einen Nachdruck der Jenaer Konkurrenzausgabe dar und wurden von 1557 bis 1559 ediert. Umstritten war vor allem Rörers Tätigkeit. Weil er sich als bevollmächtigter Editor der Lutherschriften verstand, griff er besonders in der deutschen Reihe in die Textgestalt ein, bot zahlreiche Überarbeitungen und korrigierte alle Bibelzitate nach der Bibelausgabe von 1545. Allerdings präsentierte er auch umfangreiches, bis dahin nicht gedrucktes Material.54 Erst mit dem Wechsel auf Major, der durch den Korrektor Christoph Walther (um 1515–1574)55 unterstützt wurde, endeten die zum Stein des Anstoßes gewordenen Eingriffe in die Lutherschriften.56 Die Wittenberger Ausgabe ordnete den Stoff nicht chronologisch nach der Entstehungszeit, sondern nach inhaltlichen Kriterien. Weil die systematische Zusammenstellung der Texte entscheidend war, wurden bisweilen Texte ohne chronologische Ordnung mit mehr oder weniger direkten thematischen Bezug hintereinander gereiht. Diese topische Anordnung ging vermutlich auf Luther selbst zurück und dürfte von Melanchthon mitverantwortet worden sein. Nicht ohne Grund erschienen in Band 2 der deutschen Reihe, die wahrscheinlich noch unter Mitwirkung von Luther vorbereitet worden war, die innerevangelischen Streitschriften als Themenschwerpunkt. Beispielsweise versammelte die Zusammenstellung Schriften und Sendbriefe gegen Thomas Müntzer (um 1489–1525), Andreas Bodenstein von Karlstadt, den Bauernkrieg, gegen Zwingli und die »Sakramentierer« sowie die Widertäufer. Als weitere Streitfront wurden die Schriften gegen die Türken geboten.57 Wie bereits bei den frühen Sammelausgaben praktiziert, wurden auch jetzt Texte verschiedener Fremdautoren mit aufgenommen und zur Verdeutlichung des Themas abgedruckt – allein Philipp Melanchthon war mit sieben Traktaten in Band 2 vertreten. Der politischen Situation nach dem Schmalkaldischen Krieg war es geschuldet, dass Rörer Luthers Streitschriften gegen Georg von Sachsen (1471–1539), Albrecht von Brandenburg, Heinrich von Wolfenbüttel (1489–1568) und Joachim I. von 51 52 53 54 55 56 57
Zu Rörer vgl. Michel/Speer, Rörer; Wolgast, Wittenberger Luther-Ausgabe, 17–27. Zu Crucigers Editorentätigkeit vgl. ebd., 27–31. Über Major vgl. ebd., 31–33. Zur Problematik vgl. Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 466f. Zu Walther vgl. Wolgast, Wittenberger Luther-Ausgabe, 33–35. Vgl. Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 467; Michel, Kanonisierung, 156–161. Siehe das Register in: Widt 2, 1548, unpag. 5v –6v .
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Brandenburg (1484–1535) nicht edieren wollte. Erst mit dem Nachdruck der Jenaer Ausgabe in Band 9 und 12 der deutschen Schriften gelangten sie in die Wittenberger Ausgabe. Hinsichtlich der »damnatio memoriae« griff Rörer ebenfalls – vermutlich mit Billigung Luthers – ein und tilgte diejenigen Personen, die zu Gegnern Luthers geworden waren. Gestrichen wurden in den Bänden I bis III der lateinischen und 1 bis 3 der deutschen Reihe positive Äußerungen über Karlstadt, Johann Agricola (1494–1566), Johannes Oekolampad oder Stephan Roth. Überraschend wurde im zweiten Teil von Band 2 – also nach dem Schmalkaldischen Krieg – auch der Name Philipps von Hessen (1504–1567) getilgt, aber auch andere politisch motivierte Tilgungen vorgenommen wie die Erwähnung Karls V. an einigen Stellen oder die Ausführung über den Kappeler Landfrieden im Sendschreiben an Herzog Albrecht von Preußen (1490–1568) von 1531. Ausgelassen wurden jetzt negative Äußerungen über die Universität Leipzig und ihre theologische Fakultät, weil diese 1539 evangelisch geworden war und Wittenberg mittlerweile an die Albertiner gefallen war.58 Eine langanhaltende Wirkung sollte die Auslassung von Luthers Polemik gegen Martin Bucer (1491–1551) aus dem Jahr 1527 in Band 2 entfalten. Luther selbst hatte bestimmt, die Polemik gegen den Straßburger Theologen aus seiner Abendmahlsschrift Daß diese Worte Christi […] noch feste stehen zu streichen. 1549 protestierte Nikolaus von Amsdorf (1483–1568) gegen die Auslassung, rückte die Wittenberger Ausgabe in die Nähe der Schwärmersympathisanten und warf den Wittenberger Theologen die Verfälschung von Luthers Lehre vor.59 Die Herausgeber verfolgten mit der Wittenberger Ausgabe ein doppeltes Ziel: Einerseits sollten Luthers Schriften vor dem Vergessen bewahrt werden, so dass hier konservierend-historische und somit memoriale Motive leitend waren. Andererseits sollten sie der Förderung und Festigung der reformatorischen Lehre dienen und hegten somit apologetische, normierende und missionarische Intentionen. Auf beide Absichten verwies Georg Rörer 1548 im Vorwort von Band 2, wenn er betonte, dass die Schriften und Predigten nach Luthers Tod für die Nachkommen aufbewahrt werden müssten, um erstens zu sehen, wie er die »rechte Lere zu pflantzen« und die »Rotten vnd Secten zu wehren« verstand; zweitens, dass Luthers Kritik an den falschen Propheten und Rotten verdeutlicht werde und so »vnter den Christen in frischer gedechtnis« bleibe; drittens, um Argumente und Vorgehensweisen für die gegenwärtige Auseinandersetzung mit den evangelischen Irrlehrern zu lernen; viertens, um alle, die sich unrechtmäßig
58 Vgl. ausführlicher Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 472–474. 59 Vgl. ebd., 475; WA 19, 481 Anm. 1 sowie Michel, Kanonisierung, 156–158.
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auf Luther berufen, anhand seiner Schriften überführen zu können; fünftens, »vmb der Historien willen«.60 Neben diesen an Luther und seine Tätigkeit erinnernden und vergegenwärtigenden Motiven finden sich – von den Nachrufen und Predigten auf die Kurfürsten Friedrich (1525) und Johann (1532) in Band 161 und auf Luther selbst in Band II62 1546 abgesehen – für die Frage der Memoria zahlreiche weitere Aspekte, von denen hier nur auf zwei signifikante aufmerksam gemacht werden soll: Zum einen die ikonographische Ausstattung der Wittenberger Ausgabe, zum anderen die Widmungsvorreden Philipp Melanchthons. Während die zwei Auflagen von Band 1 der deutschen Reihe 1539 noch mit einer üblichen Titelbordüre versehen waren, änderte sich dies 1545 programmatisch mit Band I der lateinischen Reihe. Jetzt wurden Luther und ein sächsischer Kurfürst – möglicherweise Johann Friedrich – kniend in Gebetshaltung unter dem Kreuz Christi dargestellt (Abb. 2). Obgleich beide Personen bei der Anfertigung der Szene noch lebten und somit davon ausgegangen werden kann, dass das Titelblatt durch Johann Friedrich und Luther genehmigt wurde, erinnert es an ein Epitaph.63 Die passionstheologisch aufgeladene Kreuzesszene am unteren Teil des von Lukas Cranach gestalteten Titelblattes erdete die Himmelszene, die durch Wolken, Engelköpfe und die vier Symbole der Evangelisten geprägt war. Ob Cranach hier allgemein an das Motiv der vier Evangelisten anknüpfte oder – was plausibler erscheint – das Titelblatt von Adam Petris Sammelausgabe (Abb. 1) anverwandelnd aufgriff, ist nicht letztendlich zu klären. Immerhin ersetzte Cranach die vier Kirchenväter sowie Petrus und Paulus durch die Kreuzesszene und tauschte das Adler-Medaillon (Johannes) mit dem Stier-Medaillon (Lukas), so dass Luthers Lieblingsevangelium nun dem Reformator direkt zugeordnet war. Engel und Evangelisten unterstreichen, dass Luthers in der Werkausgabe entfaltete Lehre schriftgemäß sei und der Bibel entspreche. Zugleich entfaltete die lutherisch-ernestinische Kreuzesszene enorme bildmediale Wirkung, fand sie doch seit 1546 als Holzschnitt in ihrer einfachen Version Verwendung auf verschiedenen Bibeldrucken.64 In mehrfacher Hin60 Die Nachweise siehe Widt 2, 1548, unpag. 4v –5v ; WA 54, 476,13–477,2. Zu den Motiven vgl. auch Wolgast, Wittenberger Luther-Ausgabe, 38–41. 61 Siehe Luther, Zwo predigt vber die Leiche des Kurfürsten/ Hertzogen Friedrichs zu Sachsen. Anno 1525, in: Widt 1, 1539, XCIXv –CVIv (WA 17,1, 196–227); Ders., Zwo predigt vber der Leiche des Kurfürsten/ Hertzog JOHANS zu Sachsen, ebd., CVIIr –CXVIr (WA 36, 237–270). 62 Epitaphivm Rev. Viri: Domini in: Wilat II, 1546, unpag. 1v . Vgl. zu Luthers Tod jetzt: Kohnle, Luthers Tod. 63 Zur Darstellung Johann Friedrichs in der zeitgenössischen Kunst und Bildpropaganda vgl. Bierende, Demut; Müller, Märtyrer. Allgemein zur Bedeutung des Medienwandels für das Herrscherbild vgl. Müller, Der multimediale Herrscher. 64 Vgl. die Hinweise bei Michel, Kanonisierung, 69f.
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Abb. 2 Titelblatt des I. Bandes der Wittenberger Lutherausgabe, lateinische Reihe, Wittenberg 1545. Quelle: ThULB Jena, Sign. 2 Op. theol. V, 2a.
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sicht lässt sich die Szene interpretieren: Der Autor der Sammelausgabe und ihr fürstlicher Förderer und Unterstützer werden als Beter gleichberechtigt abgebildet. Das bedeutet standesethisch eine Aufwertung des Untertanen und Theologieprofessors Luther, indem er dem Kurfürsten auf einer Ebene unter dem Gekreuzigten begegnet, welcher sein Haupt dem Kurfürsten zugewandt hat, durch sein Hüfttuch aber beide miteinander verbindet. Durch die demütige Gebetshaltung wird zugleich der Kurfürst als Bekenner und frommer Mann stilisiert, der sich ganz Christus und der Reformation hingibt und als Garant der lutherischen Lehre erkannt werden soll. Neben der theologischen und politischen Bedeutung, die dieser Szene innewohnt, kommt noch ein dynastischer Akzent hinzu: Weil der Kurfürst nicht eindeutig als Johann Friedrich zu identifizieren ist und somit eher als Prototyp des sächsischen Kurfürsten gelten kann, treten die Ernestiner (Friedrich der Weise, mehr noch: Johann der Beständige und Johann Friedrich) als Bewahrer des wahren Evangeliums hervor – und begründen damit eine evangelische Memoria, die in der Heiligen Schrift als Wort Gottes und Luthers Lehre in Form der Werkausgabe wurzelt. Während in der lateinischen Ausgabe der sieben Bände das Titelbild identisch blieb,65 kam in der deutschsprachigen Abteilung ein einfacherer Holzschnitt zum Abdruck, der in zwei Versionen ausgeführt wurde. Erstmalig war er in der Bibelausgabe Das newe testament von Hans Lufft 1546 verwendet worden. Mit Band 2 (1548) rückte dieser nur auf den gekreuzigten Christus, den betenden Kurfürst und Luther konzentrierte Holzschnitt in die Mitte des Titelblattes (Abb. 3).66 Zusätzlich wurde in Band 2 noch ein Medaillontriptychon von Luther, Kurfürst Johann Friedrich (hier eindeutig identifizierbar)67 und Melanchthon als Zierleiste über verschiedene Werke eingefügt und somit die Kontinuität der zwei Reformatoren mit ihrem (einstigen) Herrscher zum Ausdruck gebracht (Abb. 4). Erstmals war der Holzschnitt des Medaillontriptychons als Titelleiste 1539 zur Anwendung gekommen.68
65 Wilat VI, 1555, wurde bei Peter Seitz’ Erben und Wilat VII, 1557, bei Thomas Klug und somit nicht bei Hans Lufft gedruckt. 66 Ein neuer Holzschnitt mit leicht modifizierter Darstellungsweise wurde in Widt 4, 1551; 5, 1552; 6, 1553; 7, 1554; 9, 1557; 10, 1558, und 11, 1558, genutzt, während in Widt 8, 1556, und 12, 1559, wieder der Holzschnitt von Widt 2 verwendet wurde. Ein Programm dürfte hinter dieser unterschiedlichen Verwendung nicht zu vermuten, sondern der Wechsel eher verlegerischer Notwendigkeit entsprungen sein. 67 Vgl. die Darstellungen Johann Friedrichs I. durch Lukas Cranach z. B. bei Bierende, Demut, 331. 68 Siehe die Schrift: Luther, Vom Reich Christi, 1539, welche von Nickel Schirlenz in Wittenberg gedruckt wurde.
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Abb. 3 Titelblatt des 2. Bandes der Wittenberger Lutherausgabe, deutsche Reihe, Wittenberg 1548. Quelle: ThULB Jena, Sign. 4 MS 3947: 2.
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Abb. 4 Medaillontriptychon von Luther, Kurfürst Johann Friedrich und Melanchthon als Zierleiste im 2. Band der Wittenberger Lutherausgabe, deutsche Reihe, Wittenberg 1548, LXXII. Quelle: ThULB Jena, Sign. 4 MS 3947: 2.
Insgesamt boten die Titelbilder der Wittenberger Lutherausgabe trotz des Herrscherwechsels zu den Albertinern größtmögliche Kontinuität und vertieften die kursächsische Memoria, die – weil der Kurfürst prototypisch dargestellt war – vom albertinischen Sachsen problemlos rezipiert werden konnte.69 Massiven Fälschungsvorwürfen wurde die Wittenberger Lutherausgabe im Zuge der interimistischen Streitigkeiten ausgesetzt. Durch Amsdorfs 1549 in einer Flugschrift geäußerten scharfen Kritik an Rörers Eingriffen in Band 2 und der damit verbundenen Desavouierung des Wittenberger Projekts70 sah sich Melanchthon genötigt, seit 1549 den jeweiligen Band durch eine Vorrede besonderen Persönlichkeiten zu widmen, und schuf dadurch eine spezifische Memoria.71 Insgesamt verfasste Melanchthon elf Widmungsvorreden an evan69 Vgl. das Privileg Augusts von Sachsen für Widt 10 und 11, in: Wolgast, Wittenberger LutherAusgabe, 226. 70 Amsdorf, Das die zu Wittenberg, 1549. Vgl. hierzu Wolgast, Streit, 178–180. 71 Bereits Widt 1, 1539, unpag. 4r –6v enthielt für die verdeutschte Galaterauslegung Luthers eine vom Übersetzer Justus Menius abgefasste Widmungsvorrede an Kurfürst Johann Friedrich,
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gelische Fürsten, zu denen Herzog Albrecht von Preußen in Band III (1549),72 König Christian III. von Dänemark (1503–1559) in Band 3 (1550),73 Herzog Philipp I. von Pommern-Wolgast (1515–1560) in Band 4 (1550)74 und der geborene Kurfürst, Herzog Johann Friedrich d.Ä. von Sachsen, in Band IV (1554)75 zählten.76 Während Johann Friedrich der Band anlässlich seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft gewidmet wurde, erhielten die albertinischen Kurfürsten keine Widmung, was als Distanzierung Melanchthons zu seinen neuen Landesherrn gewertet werden kann.77 Die Fürstenwidmungen Melanchthons, die Eike Wolgast bereits umsichtig untersucht hat,78 sollten einerseits die Integrität und Zuverlässigkeit des Wittenberger Projektes bezeugen, andererseits das gewidmete Buch unter den Schutz des Bewidmeten stellen. Gleichzeitig sollte den Widmungsempfängern ein »Denkmal ihrer Verbundenheit«79 mit Luther und der Wittenberger Reformation gesetzt und an Sie als Förderer der Reformation erinnert werden. Neben diesem memorialen reformationsfürstlichen Aspekten traten pädagogische und missionarische Motive wie sie Melanchthon beispielsweise in der Vorrede an Kurfürst Ottheinrich betonte. Zum einen sollte das »in den schrifften des Ehrnwirdigen Herrn Lutheri« genannte Beispiel des Fürsten »als ein zeuge Christlicher warheit«80 für andere Leser glaubensstärkend und erbaulich wirken und somit Vorbild sein. Zum anderen sollten fremde Nationen und die eigenen Nachkommen darüber informiert werden, dass die evangelische Lehre von hohen Persönlichkeiten öffentlich bekannt und verbreitet werde
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dessen Einsatz er für das von Wittenberg ausgehende Evangelium lobte, das Buch unter den kurfürstlichen Schutz stellte und es dem Landesherrn zur geistlichen Stärkung anbefahl. Als kontinuierliche Publikationsstrategie wurde die Widmungsrede in der Wittenberger Ausgabe aber erst seit 1549 realisiert. Siehe das Vorwort zu Wilat III, 1549, auch in CR 7, 390–399. CR 7, 613–619. CR 7, 698–704. CR 7, 1078–1083. Bedacht wurden auch die Grafen Wilhelm IV. (1478–1559) und Georg Ernst von Henneberg (1511–1583), die Fürsten Joachim von Anhalt (1509–1561) und Wolfgang von Anhalt (1492–1566), Markgraf Johann von Brandenburg-Küstrin (1513–1571), Herzog Barnim IX. von Pommern-Stettin (1501–1573), Kurfürst Ottheinrich von der Pfalz (1502–1559) und König Friedrich II. von Dänemark (1534–1588). Vgl. die Aufstellung bei Wolgast, Melanchthons Fürstenwidmungen, 256f. Aber auch andere Fürsten wie Kurfürst Joachim II. von Brandenburg und Landgraf Philipp von Hessen wurden nicht bedacht. Vgl. Wolgast, Melanchthons Fürstenwidmungen. Ebd., 254. Widt 9, 1557, unpag. 2r –3v , hier 3r .
Die Lutherausgaben des 16. bis 18. Jahrhunderts
und gegenüber der Papstkirche die wahrhaftige Kirche Gottes sei.81 Dieses »gedechtnis«, das »zu rechter erkentnis Gottes vnd rechter anruffung dienet«, sei »viel hoe her/ denn alle Menchlichliche Triumph/ zu achten«.82 Insofern stellte Melanchthon nicht nur Luthers Schriften, sondern auch die spezifische Fürstenmemoria in den Dienst der Gotteserkenntnis und Gottesverehrung. 3.
Die Jenaer Lutherausgabe
Deutlicher als das Wittenberger Editionsprojekt, welches das Fundament für alle weiteren Ausgaben gelegt hatte, entsprangen die in Jena zwischen 1555 und 1558 gedruckten acht deutschen und vier lateinischen Bände der Initiative Kurfürst Johann Friedrichs.83 Weil er mit dem Verlust der Kurwürde auch den Einfluss auf die Wittenberger Universität und die in Wittenberg herausgegebene Lutherausgabe verloren hatte und sich durch Amsdorfs Kritik an den Verfälschungen in der Wittenberger Ausgabe aufschrecken ließ, reifte in ihm die Überzeugung, Luthers Lehre nun »unverfälscht« der Nachwelt übergeben zu müssen. Als Johann Friedrich aus der kaiserlichen Gefangenschaft im Herbst 1552 nach Thüringen zurückkehrte, griff er das Unternehmen daher auf, indem er anfangs beabsichtigte, die bisher ungedruckten Lutherschriften publizieren zu lassen. 1553 kam der Gedanke eines korrigierten Neudrucks der bisher veröffentlichten Wittenberger Bände hinzu.84 Es waren folglich macht- und konfessionspolitische Motive, welche – unterstützt durch Vertreter der später so genannten Gnesiolutheraner – das Projekt auslösten. Ziel des Unternehmens, das im Umfeld der im Aufbau begriffenen Universität Jena angesiedelt wurde, war es, Luthers »Bue cher und Schrifften [...] der Christlichen Kirchen zu gut/ rein/ vnuerfelscht/ on Zusatz/ gantz vnd ordentlich« zu drucken.85 Aus Dänemark wurde eigens Georg Rörer nach Jena berufen, der seine schon damals reformationsgeschichtlich bedeutende Sammlung von 81 Ebd., 2r : Die Präfationen seien »an hochloe bliche Christliche Koe nig/ Fue rsten/ Graven vnd Herrn gestellet/ das man in fremdben Nation/ vnd bey den nach=komen/ des mehr anzeigungen habe/ das die Lere in vnsern Kirchen/ nicht ein Winckel predigt ist/ sondern das sie mit gutem rat vieler hoher vnd weiser Personen in viel Land gepflantzt ist/ vnd das gewislich dieser teil/ die warhafftige Kirche Gottes sey/ vnd nicht die Bepstliche verfolger Christlicher Warheit.« 82 Ebd., 3r . 83 Zur Jenaer Lutherausgabe vgl. Jauernig, Jenaer Lutherausgabe, 747–762; ausführlich Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 495–543. Unter der spezifischen Fragestellung der »Kanonisierung« vgl. auch Michel, Kanonisierung, 165–204. 84 Vgl. Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 495f. 85 Amsdorf, Vorrede, in: Jdt 1, 1555, unpag. 4r .
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Handschriften und Drucken mitbrachte.86 Zusammen mit ihm entwickelte der Weimarer Hofprediger Johannes Aurifaber (1519–1579) einen komplexen Editionsplan, der die Herausgabe von Luthers Vorlesungen und Predigten anhand von Nachschriften sowie kleinere Einzelausgaben, Kirchen- und Hauspostillen, Tischreden, eine Bibelrevision und eine Briefedition verfolgte. Während Johann Friedrich Handschriftendrucke, Bibelrevision, Tisch- und Briefedition ablehnte, verstärkte er den Gedanken, die nützlichsten und besten Schriften Luthers, »in denen die ganze reine Lehre des göttlichen Wortes gegründet« sei, in einer Neuedition zugänglich zu machen.87 Von nun an leitete der Weimarer Hof umfangreiche Maßnahmen zur Quellenbeschaffung ein, die zwar auch die handschriftlichen Überlieferungen betrafen, aber in erster Linie den gedruckten Schriften galten.88 Der nach Jena berufene Magdeburger Drucker Christian Rödinger (gest. 1556)89 wurde mit einem Schutzprivileg des Landesherrn ausgestattet. Allerdings konnte das Privileg noch nicht umgesetzt werden, da es an einem finanzkräftigen Verleger mangelte, dessen Funktion der geborene Kurfürst nicht übernehmen wollte.90 Nach Johann Friedrichs Tod 1554 beschleunigten seine Söhne, Johann Friedrich der Mittlere (1529–1595), Johann Wilhelm (1530–1573) und Johann Friedrich der Jüngere (1538–1565), die Projektplanung, indem sie als Finanziers, Organisatoren und Unterstützer in der Quellenbeschaffung des jetzt zum Konkurrenzunternehmen der Wittenberger Lutherausgabe weiterentwickelten Unternehmens tätig wurden. Das leerstehende Karmelitenkloster wurde zur Druckerei umgebaut, Rödinger mit einem erweiterten Privileg ausgestattet91 und der Jenaer Buchführer Konrad König als Vertriebsbuchhändler gewonnen. Für die Werkausgabe formulierte der Weimarer Hofprediger Johann Stoltz (1514–1556) in Abstimmung mit Amsdorf und unter Billigung der Herzöge die Editionsprinzipien,92 die Rörers Handlungsmaxime, im Sinne Luthers Textänderungen vornehmen zu dürfen, unterbanden. Dem Hauptredaktor Rörer, dessen Tätigkeiten der Weimarer Hof genau überwachte und dem nach seinem Tod der Korrektor Emericus Sylvius (gest. 1580) folgte, wurden weitere Mitarbeiter zur Seite gestellt. Die redaktionelle Schwerpunktarbeit bestand in der 86 Vgl. Jauernig, Jenaer Lutheraugabe, 750–752. Zur noch heute in der ThULB Jena existierenden Sammlung vgl. Ott, Verwahrgeschichte. Siehe auch http://roerer.reformationsportal.de/index. php?id=474 (zuletzt eingesehen am 15.11.2019). 87 Zu Aurifabers Plan vgl. Jauernig, Jenaer Lutherausgabe, 752–754. Zitat aus dem Schreiben Johann Friedrichs vom 8.9.1553 in ebd., 754. 88 Vgl. die Darstellung der Maßnahmen bei Michel, Kanonisierung, 169–175. 89 Zu Rödinger vgl. Reske, Buchdrucker, 433. 90 Vgl. Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 498. 91 Das Druckprivileg wurde in Jdt 1, 1555, unpag. 2r–3r veröffentlicht. 92 Vgl. die Editionsgrundsätze in: Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 505f.
Die Lutherausgaben des 16. bis 18. Jahrhunderts
Formulierung von Randglossen der abgedruckten Texte. Für die inhaltliche Auswahl waren Stoltz und Aurifaber verantwortlich.93 In den Editionsgrundsätzen widersprach man bewusst der Wittenberger Ausgabe. So erfolgte die Anordnung nicht thematisch, sondern historischchronologisch. Übersetzungen sollten möglichst vermieden, Texte anderer Autoren auf ein Minimum reduziert werden, es sei denn, sie dienten dem historischen Kontext einer Lutherschrift. Kürzungen oder Textveränderungen waren untersagt.94 Hintergrund war die Angst vor Verfälschungen der ipsissima vox Lutheri, wodurch das Anliegen, die wahre Luthermemoria zu erhalten, bis in die einzelne Textpassage hineingetragen wurde. Insofern erstaunt es nicht, dass die Auswahl und Widergabe der Lutherschriften zu zahlreichen Konflikten unter den beteiligten ernestinischen Akteuren führte, zu denen auch der Erfurter Mediziner Matthäus Ratzeberger (1501–1559) und der Erfurter Pfarrer Andreas Poach (1516–1585) zählten. Diese Auseinandersetzungen und die Konkurrenz zur Wittenberger Ausgabe waren Ausdruck des innerlutherischen Streites zwischen strengen Lutheranern und Melanchthonianern, so dass die Jenaer Ausgabe nicht nur ein Produkt der ernestinischen Konfessionspolitik, sondern auch der gnesiolutherischen Richtung(en) darstellte. Angespornt durch die fürstlichen Protektoren erschienen die zwölf Foliobände zügig zwischen 1555 und 1558 in einer Auflage von je 1500 Stück.95 Eröffnet wurde die Ausgabe mit Band 1 der deutschen Reihe, der mehr als 130 Stücke aus den Jahren 1517–1521 enthielt und vermutlich zur Leipziger Ostermesse vorlag. Band I der lateinischen Reihe folgte 1556 und enthielt wie Band 1, jetzt freilich in Übersetzung, das fürstliche Druckprivileg von 1554 und Amsdorfs Vorrede.96 Weil die Texte der Wittenberger Ausgabe zugrunde gelegt und diese nur durch einzelne Lutherschriften und -briefe ergänzt wurden – ein Verfahren, das bei den folgenden Werkausgaben ebenso praktiziert wurde –, war der Rechercheaufwand im Vergleich zum Wittenberger Unternehmen überschaubar. Eine überarbeitete Auflage von Band 2 der deutschen Reihe erfolgte 1558 bei Christian Rödingers Erben. 1564 fertigte der Thüringer Pfarrer 93 Vgl. Michel, Kanonisierung, 175–178. 94 Amsdorf, Vorrede, in: Jdt 1, 1555, unpag. 4v : Die Herzöge hätten »gedachte Bue cher allesampt / nach ordenung der Jar gantz vn[d] [unverändert] (wie sie der thewre vnd werde man Gottes selbs nach einander geschrieben/ on frembder Bue cher vermischung/ auch on anderer Dolmetschung) zu samen zutragen vnd zu drucken / ernstlich befohlen.« – Zu den Abweichungen von den Prinzipien vgl. Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 506–512. 95 Vgl. Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 539. 96 Die Bände umfassten folgenden Zeitraum: Jdt 1, 1555, (1517–1521); 2, 1555, (1522–1525); 3, 1556, (1525–1528); 4, 1556, (1528–1529); 5, 1557, (1530–1532); 6, 1557, (1533–1538); 7, 1558, (1538–1541); 8, 1558, (1542–1547). Jlat I, 1556, (1517–1519); II, 1557, (1520–1523); III, 1557, (1524–1537); IV, 1558, (1538–1547). Zu den einzelnen Bänden vgl. Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 516–538.
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Timotheus Kirchner (1533–1587) ein umfängliches Register zur deutschen Reihe an.97 Bis 1615 erschienen insgesamt sechs Auflagen der deutschen und bis 1611 vier Auflagen der lateinischen Reihe bei den Jenaer Druckern Donatus Richtzenhain (gest. 1606), Thomas Rebart (gest. 1570) und dessen Erben sowie Tobias Steinmann (1556–1631).98 Unterstützt durch den verkaufsfördernden Befehl Herzog Johann Friedrich des Mittleren, dass in jeder Pfarrei eine Lutherausgabe vorhanden sein sollte, fand die Jenaer Ausgabe in den ernestinischen Territorien Verbreitung.99 Hinsichtlich der Memoria seien auch hier die zwei Aspekte Luther- und Fürstengedenken hervorgehoben. Das Lutherbild erfuhr eine heilsgeschichtliche Zuspitzung. Beispielsweise sprach die Wittenberger Ausgabe im Buchtitel der deutschen Reihe seit Band 3 von Doktor Martin Luther als »Ehrnwirdigen Herrn«, während die Jenaer Ausgabe im Titel durchgehend des »thewren, seligen Mans Gottes Doct: Mart. Lutheri« gedachte.100 In seiner Vorrede erläuterte Amsdorf diese Zuschreibung, indem Luther als »unser lieber«, »heiliger«, »seliger«, »teurer« (achtbar), »würdiger« Mann Gottes charakterisiert und in eine Reihe mit den Aposteln und Christus gestellt wurde.101 Zudem betonte Amsdorf, dass in der Christenheit seit der Zeit der Apostel niemand in der Christenheit gewesen sei, der Luther an »Geist vnd Glauben/ weisheit vnd verstand der Warheit« gleiche und künftig gleichen werde.102 Die unverfälschten Bücher dieses einzigartigen Gottesmannes zeugten von dessen Glauben und müssten als Quelle der christlichen Wahrheit gebraucht werden. Folglich verstärkte das durch die Jenaer Ausgabe vermittelte Lutherbild dessen Heroisierung und trug so – durch die strengen Lutheraner befördert – zur Monumentalisierung des Reformators bei. Im Blick auf die Fürstenmemoria griff die Jenaer die äußeren Vorgaben der Wittenberger Ausgabe auf, vereinseitigte sie aber zugunsten der Ernestiner, so das ein unverwechselbares dynastisches Monument entstand. Auf dem Titelblatt der deutschen Reihe wurde über den gerahmten Holzschnitt die seit 1522 genutzte ernestinische Devise »V.D.M.I.Æ« kontrastreich in Rot abgedruckt.103 97 Kirchner, Index. Vgl. Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 541f. 98 Vgl. ebd., 538–541; Aland, Hilfsbuch, 570f, 584. Von Band 6 und 8 der deutschen Reihe erschienen nur fünf Auflagen. 99 Vgl. Michel, Kanonisierung, 230. Tatsächlich dürften im 16. Jahrhundert – anders als in den Stadtpfarreien –Lutherausgaben in den ernestinischen Landpfarreien nur selten angeschafft worden sein. 100 Die Titel in Widt 1, 1539, und Widt 2, 1548, verzichteten auf eine Charakterisierung Luthers. 101 Siehe die Belege bei Amsdorf, Vorrede, in: Jdt 1, 1555, unpag. 3v –8v . 102 Ebd., 7v . 103 Die Abkürzung lautet »Verbum Domini Manet In Æternum« (Jes 40,8). Vgl. Spehr, Entstehung, 23f.
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Der Holzschnitt selbst bot die bekannte schlichte Kreuzesszene mit dem knienden und betenden Kurfürsten links und Luther rechts (Abb. 3), wies aber nun durch die Gesichtsnarbe und das kursächsische Wappen den Fürsten eindeutig als Kurfürst Johann Friedrich aus (Abb. 5). Mit diesem Titelholzschnitt, der innerhalb der deutschen Reihe mehrfach variierte,104 wurde nicht nur eine theologisch-konfessorische Aussage getroffen, sondern auch der politische Anspruch des Ernestiners unterstrichen, eigentlicher Kurfürst und wahrer Beschützer der Reformation zu sein. Die lateinische Reihe bekräftigte die Aussage, indem sie in Band I ebenfalls die Wittenberger Titelbordüre aufgriff (Abb. 2), nun aber die Hände des Kurfürsten öffnete und Christus auf Luther blicken ließ, während das Kurwappen ausfiel. Von Band II an, welcher eine neugestaltete Titelbordüre bot, traten das Kurwappen und die Lutherrose zwischen den Evangelistensymbolen hinzu.105 Anstelle der Widmungszuschriften anderer Fürsten, auf welche die ernestinische Lutherausgabe verzichtete, wurde seit Band 4 ein von Peter Roddelstedt (gest. 1572) gestalteter Holzschnitt der drei Söhne Johann Friedrichs (Abb. 6) abgedruckt. Dieser sollte visualisieren, dass die Protektoren der Lutherausgabe sich zum Glauben Luthers und ihres Vaters bekannten und somit als ernestinische Erben die christliche Kirche stützten. Durch dieses Bildprogramm avancierte die Jenaer Ausgabe für die Herzöge zu einem der prestigeträchtigsten Instrumente dynastischer Selbstdarstellung und nach ihrem Tod zu deren konfessorischem Andenken.
104 Der Holzschnitt von Jdt 1, 1555, wurde auch in Jdt 2, 1555 verwendet. Den Kurfürsten ohne Wappen, den Boden aber durch Gras oder Getreide sowie den Himmel durch ein Wolkenband geziert, bot der Titelholzschnitt von Jdt 3, 1556. Wieder mit Wappen, die Blickrichtung des Kurfürsten jetzt auf Christus gerichtet, ohne Bodenbewuchs, aber mit Himmel und Wolkenband war der Holzschnitt in Jdt 4, 1556, ausgestattet. Von Jdt 5, 1557, bis Jdt 8, 1558, sowie in Jdt 2, 1558, kam ein erneut geänderter Holzschnitt zum Abdruck: Jetzt war die Kreuzesgruppe vor einen gezierten Torbogen versetzt, das Kurwappen im Bogen über den Kurfürsten und die Lutherrose über Luther angebracht, sowie die Hände des Kurfürsten geöffnet. 105 Zum Holzschnitt in Jlat I, 1556, vgl. Müller, Märtyrer, 326f. Der in Jlat II, 1557, bis Jlat IV, 1558, verwendete Titelholzschnitt bietet nicht nur eine veränderte Anordnung der Evangeliensymbole (Kurfürst nun unter Matthäus; Luther unter Markus), sondern bettet die Kreuzesszene auch in eine Landschaft mit Stadt ein.
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Abb. 5 Titelblatt des 1. Bandes der Jenaer Lutherausgabe, deutsche Reihe, Jena 1555. Quelle: ThULB Jena, Sign. 2 Op. theol. V, 10a: 1.
Die Lutherausgaben des 16. bis 18. Jahrhunderts
Abb. 6 Holzschnitt der sächsischen Herzöge Johann Friedrich der Mittlere, Johann Wilhelm und Johann Friedrich der Jüngere als geklebter Einblattdruck in Band 1 der Jenaer Lutherausgabe, deutsche Reihe, Jena 1555. Quelle: ThULB Jena, Sign. 2 Op. theol. V,10a: 1.
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In Ergänzung zu den beiden Werkausgaben, die Gemeinschaftsarbeiten mehrerer Akteure bildeten, waren die 1564 und 1565 erschienenen zwei Foliobände Aurifabers eine Einzelarbeit. Mit Unterstützung der Mansfelder Grafen veröffentlichte der 1561 abgesetzte Weimarer Hofprediger die Ergebnisse seiner langjähren Sammeltätigkeit und bot durch diese, der chronologischen Jenaer Ordnung folgenden Ausgabe bisher in den Werkausgaben nicht abgedruckte Lutherschriften und -briefe.106 Im Kontrast zur ernestinischen Memoria widmete Aurifaber sie den Mansfelder Grafen und setzte durch den Holzschnitt ihrer Wappen (Abb. 7) zu Beginn der Ausgabe seinen neuen Landesherrn ein Denkmal.107 4.
Die Altenburger Ausgabe
Die Initiative zu einer neuen Lutherausgabe ging auch im 17. Jahrhundert von einem ernestinischen Territorium aus. Infolge der Kirchenvisitationen von 1652 und 1657 im Herzogtum Sachsen-Altenburg klagte Johann Christfried Sagittarius (1617–1689), seit 1656 Generalsuperintendent und Oberhofprediger des Fürstentums, dass die Schriften Dr. Martin Luthers durch die Wirren des Krieges und durch andere Ursachen an vielen Orten verloren gegangen seien. Weil aber in der auch für Altenburg gültigen kursächsischen Kirchenordnung von 1580 in Artikel 43 festgeschrieben sei, dass die Schriften Luthers in möglichst jeder Kirchenbibliothek vorhanden sein sollten, müsse diesem Notstand Abhilfe geschaffen werden.108 Sagittarius’ Landesherr, Herzog Friedrich Wilhelm II. von Sachsen-Altenburg (1639–1669), ließ sich von der Notwendigkeit einer Neuausgabe überzeugen und übertrug seinem Generalsuperintendenten die Direktion, Redaktion und finanzielle Geschäftsführung für dieses Großprojekt, das als Altenburger Ausgabe bekannt werden sollte.109
106 Vgl. Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 544–558; Michel, Kanonisierung, 204–212. 107 Vgl. Johann Aurifaber, Vorrede, in: Eis 1, 1564, 2v –10r . 108 Vgl. die Vorrede Sagittarius »An den Christlichen Leser«, in: A 1, unpag. 22r : »daß die Schrifften des theuren Mannes Lutheri seel. bey gar wenig Kirchen/ weil sie durch das fue rgewesene langwierige Kriegswesen/ und anderer Unfae lle nach und nach wegkommen/ mehr anzutreffen gewesen. Da doch die Churf. Sae chs. Kirch=Ordnung Articul 43. mit grosser Sorgfalt Verordnet/ daß iedes Orths Collatores dahin bedacht seyn sollen/ fue rnehmlich die Bue cher D. Luthers in die Kirchen zuschaffen/ auch die Superintendenten und Adjuncten zuverschaffen befehliget/ daß die Pfarr= und Kirchen= Diener solche mit Fleiß lesen/ und ob es geschehe/ iederzeit im Synodo berichten sollen.« 109 Vgl. Jauernig, Altenburger Lutherausgabe; Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 559–568. Jüngere Forschungen zur Altenburger Lutherausgabe gibt es bisher nicht.
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Abb. 7 Holzschnitt der Mansfelder Grafenwappen im 1. Band von Aurifabers Eislebener Ausgabe, Eisleben 1564. Quelle: ThULB Jena, Sign. 2 Op. theol. V,12a: 1.
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Um den Absatz und den finanziellen Erfolg des Unternehmens zu sichern, warb das Altenburger Konsistorium in den ernestinischen Territorien, beim Dresdener Oberkonsistorium sowie bei den Administratoren der Bistümer Magdeburg, Naumburg und Merseburg um Unterstützung und Abnahme von Exemplaren für die Kirchengemeinden.110 Auch wenn diese Unterstützung nur zögerlich erfolgte und Sagittarius selbst einen Großteil der Unkosten privat bestreiten musste, wurde das Projekt mithilfe der Hofdruckerei in Altenburg und zwei Druckereien in Jena realisiert. So entstand, trotz eines nur schleppenden Absatzes der ersten Bände, zwischen 1661 und 1664 eine zehnteilige Ausgabe in Folioformat mit einer Auflagenhöhe von vermutlich 2.000 Exemplaren.111 Die Teile 1 und 2, 3 und 4 sowie 7 und 8 wurden in je einem Band zusammengebunden, so dass die Altenburger Ausgabe nicht zehn, sondern sieben Bände umfasste.112 In der Anlage folgte die je Seite zweispaltig gedruckte Altenburger Lutherausgabe der deutschsprachigen Reihe der Jenaer Ausgabe, indem die Schriften chronologisch geordnet wurden. Weitere Traktate und lateinische Schriften wurden in deutscher Übersetzung aus der Wittenberger und Eislebener Ausgabe übernommen und zum Teil sprachlich modernisiert. Ergänzt wurde die Sammlung durch neu aufgefundene Dokumente und über fünfzig Briefe, deren Fundorte und Vermittler Sagittarius genau dokumentierte, um Authentizität zu gewährleisten. Angefügt wurden die häufig in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aus Predigtnachschriften bereits gedruckten Schriften in den Teilen 7 bis 9. Dass ihm bei seiner Edition trotz größerer Sorgfalt Fehler unterliefen, problematisierte Sagittarius im zehnten Teil. Dieser letzte Teil enthielt die »Haupt-Register« mit einer blattgenauen Synopse aller aus den früheren Werkausgaben entnommenen Schriften.113 Noch heute bildet das in zwölf Abteilungen geordnete Register eine ansehnliche Fundgrube für die Lutherforschung. 110 Vgl. Jauernig, Altenburger Lutherausgabe, 43f, 48. Herzog Ernst der Fromme von SachsenGotha unterstütze das Projekt seit 1660 und sorgte dafür, dass die Kirchenbibliotheken seines Territoriums die Lutherausgabe erhielten, vgl. ebd., 49. Die Schätzung von 2.000 Exemplaren schließt sich Jauernig an, vgl. ebd., 49. Dass die Altenburger Ausgabe flächendeckend in verschiedenen Territorien angeschafft wurde, belegen die durch das Projekt »Erschließung und Sicherung Nordthüringer Kirchenbibliotheken« zwischen 2017 und 2020 ermittelten Bestände. So befinden sich z. B. noch heute sechs Serien in zehn untersuchten Orten, die zum Amt Allstedt gehörten, welches in den 1660er Jahren zum Herzogtum Sachsen-Altenburg zählte. Für die freundliche Auskunft danke ich den Projektmitarbeiter Dr. Christoph Nonnast. 111 Zur finanziellen Dimension und der Preisentwicklung der Edition vgl. Jauernig, Altenburger Lutherausgabe, 45–50. 112 Korrekturbedürftig sind daher Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 559–568, die von zehn Bänden sprechen. 113 A 10, 1205–1262.
Die Lutherausgaben des 16. bis 18. Jahrhunderts
Abb. 8 Lebensstationen Luthers als doppelseitige Beilage des 1. Bandes der Altenburger Lutherausgabe, Altenburg 1661. Quelle: ThULB Jena, Sign. 2 Op. theol. V,13a: 1.
Pointiert und gegenüber den Lutherausgaben des 16. Jahrhunderts deutlich gesteigert, rückte Sagittarius seine Ausgabe in den Dienst der doppelten Memoria: Einerseits sollten die Schriften an Luther erinnern und seine Lehre vergegenwärtigen helfen, welches gleich zu Beginn des Werkes durch ein doppelseitiges Bildprogramm wichtiger biographischer Lebensstationen visualisiert wurde (Abb. 8). Andererseits sollten die ernestinischen Herrscher als gütige Glaubenshüter und Beförderer des Evangeliums in lutherisch-orthodoxer Weise gewürdigt und verehrt werden. So reimte er beispielsweise: DEs Luthers Bue cher groß und klein/ Laß dir mit Fleiß befohlen seyn/ Darinn recht offenbahret ist Der Pabst/ der wahre Endechrist. Und wiederbracht das helle Liecht/ Des Evangelii reine Predigt. Danck GOtt drum Deutsch=Land vor solch Gut/ Welchs Er dir hierinn zeigen thut/
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Und denck der löblich Fürstlich Gnaden/ So dich hiermit befoe rdert haben Zu solchem grossen Schatz der Seelen/ Dem treuen GOTT thue sie befehlen.114
Hinsichtlich der Fürstenmemoria rühmte Sagittarius in der Widmungsvorrede115 an Herzog Friedrich Wilhelm II. vom 24. April 1661 seinen Landesherrn als Förderer des Projektes. So habe er »einen grossen Vorschuß gethan/ ein besonder Hauß hier=zu neben der Fue rstlichen Druckerey auff richten / und neue Schrifften mit nicht geringen Unkosten giessen lassen.« Hierdurch seien »die Lehr=und Trostreichen Schrifften des theuren Mannes Lutheri als ein von Jhren Herren Groß=Eltern ererbtes Kleinod auff solche Weise« wieder zu eigen und der Evangelischen Kirche »zum besten« gemacht worden.116 Zuvor hatte Sagittarius den Einsatz und die Fürsorge der wettinischen Vorfahren für die christliche Kirche und das Evangelium im Horizont von Jes 49,23 interpretiert, die ernestinischen Kurfürsten mit Lutherzitaten heilsgeschichtlich gewürdigt und abschließend resümiert: Solche treue Pflegers=und Sae ug=Ammen Dienste der Kirchen Got=tes von Ew. Fue rstl. Durchl. Herren Vorfahren erwiesen/ habe ich deßwe=gen allhier kue rtzlich wollen erzehlen/ damit man sehe/ daß es der Wahrheit nicht gemae ß sey/ was manche aus den Bae pstischen schimpfflich pflegen vor=zugeben: Die Evangelischen Fue rsten thae ten nichts denn sauffen/ fressen/ ja=gen/ Uppigkeit treiben/ und die Kirchen=Gue ter schaendlich verprassen.117
Dass Sagittarius über die Würdigung der Ernestiner bewusst hinausging und auch andere bedeutende Fürsten als christlich hervorzuheben suchte, verdeutlichen die abgedruckten Widmungsvorreden von Johann Aurifaber an Kaiser Maximilian II. aus der Eislebener Ausgabe,118 von Philipp Melanchthon an König Christian von Dänemark119 sowie an König Friedrich von Dänemark aus der Wittenberger Ausgabe.120 Den Kern bildete aber nach wie vor die ernestinische Memoria: In präziser Kontinuität zur Jenaer und Wittenberger Ausgabe, die sogar im Titel erwähnt wurden, bot Sagittarius auf dem Titelblatt der Teile eine holzschnittartige Nachbildung der bekannten Kreuzesszene von
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A 1, unpag. 3v . A 1, unpag. 4r –7v . A 1, unpag. 7r . A 1, unpag. 6v . Vgl. A 1, unpag. 8r –14v . Vgl. A 1, unpag. 15r –16v . Vgl. A 1, unpag. 17r –18v .
Die Lutherausgaben des 16. bis 18. Jahrhunderts
Kurfürst Johann Friedrich und Luther (Abb. 9). 1702 folgte in Halle beim Verleger Johann Gottfried Rengern (gest. 1718) durch Johann Gottfried Zeidler (1655–1711) ein Supplementband zur Altenburger Ausgabe, der als Hallescher Ergänzungsband bekannt werden sollte.121 5.
Die Leipziger Ausgabe
Auch wenn der Hallesche Band in Kontinuität zur Altenburger Ausgabe entwickelt worden war, leitete er eine neue Phase in der Lutheredition ein. Erstmals seit den frühen 1520er Jahren lag eine Werkausgabe nicht mehr in landesherrlicher Verantwortung, sondern in den Händen eines privaten Verlegers. Zwar wurde der Ergänzungsband dem preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm gewidmet, ohne allerdings von ihm explizit gefördert zu werden. Waren im 16. und 17. Jahrhundert Luthers Gesamtausgaben unter fürstlicher Protektion und in enger Zusammenarbeit mit den kirchlichen Behörden erschienen und somit zum unmittelbaren Dokument einer lebendigen Memoria avanciert, folgten mit dem Aufstieg des professionellen Buch- und Verlagswesens im frühen 18. Jahrhundert die Ausgaben einem vornehmlich bürgerlich-unternehmerischen Interesse. So griff der wagemutige, 1727 nach Leipzig gezogene Verleger Johann Heinrich Zedler (1706–1751)122 die Anregung des Leipziger Theologieprofessors Johann Gottlob Pfeiffer (1667–1740) beherzt auf, eine Neuedition von Luthers Deutschen Schriften und Werken zu besorgen: die sogenannte Leipziger Ausgabe.123 Als Grund für den ehrgeizigen Plan nannte Zedler: Denn ob wohl die Altenburgischen Tomi, […] die vorhergehenden Editiones übertreffen, weil selbigen nicht nur alle in denen Wittenbergischen, Jenischen und Eislebischen Deutschen Theilen stehende, sondern auch viele in diesen nicht befindliche Schrifften Lutheri einverleibet sind: So ist doch die Altenburgische Edition weder der Ordnung noch also eingerichtet, daß sie zum Gebrauch bequem sey, noch auch so vollständnig, daß sie nicht um ein merckliches vermehret werden könte […].124
121 Siehe HB. Vgl. Walch, Ausführliche Nachricht, 658–663; Wolgast/Volz, Geschichte der LutherAusgaben, 568–572; Spehr, Jenaer Lutherrezeption, 100. Auch hier wurde die bekannte Kreuzigungsgruppe auf dem Titelblatt abgedruckt. 122 Über Zedler vgl. Quedenbaum, Verleger. 123 Vgl. Walch, Ausführliche Nachricht, 663–669; Wolgast/Volz, Geschichte der LutherAusgaben, 572–581. Einen zeitgenössischen Kurzbericht über die Genese bietet Johann Jacob Greiff, Vorbericht, in: LS, unpag. 9r –13v . Eine eingehendere Studie fehlt bisher. 124 Vgl. das Avertissement in: Neue Zeitungen 1728, Nr. 6 (19. Januar), 60–63, hier: 61.
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Abb. 9 Titelblatt des 1. Bandes der Altenburger Lutherausgabe, Altenburg 1661. Quelle: ThULB Jena, Sign. 2 Op. theol. V,13a: 1.
Die Lutherausgaben des 16. bis 18. Jahrhunderts
Gegenüber den bisherigen Ausgaben sollte die Neuausgabe nicht nur vermehrt, verbessert und brauchbarer sein, sondern auch die philologisch-editorische Kompetenz der historischen Wissenschaften im Leipziger Umfeld integrieren und somit eine moderne Edition darstellen. Dass die Altenburger Ausgabe vergriffen oder vielerorts unvollständig war, motivierte den Verleger zusätzlich. Für den 22-jährigen Jungunternehmer war die Lutherausgabe das erste Großprojekt. Die Unkosten hoffte er durch Pränumeration im Vorfeld aufbringen zu können, musste allerdings mangels ausreichender Abonnenten einen Kredit aufnehmen.125 Immerhin gelang es Zedler, die ersten zwei Teile zur Michaelismesse im Oktober 1728 vorzulegen.126 Obwohl er ursprünglich geplant hatte, innerhalb von zweieinhalb Jahren die Ausgabe im Umfang von 14 Teilen vorlegen zu können, erstreckte sich das auf 22 Teile in elf Bänden angewachsene Projekt über fünfeinhalb Jahre bis 1734. Die gleichwohl erstaunliche Geschwindigkeit – zeitweise arbeiteten fünf bis sechs Druckereien an verschiedenen Orten an der Fertigstellung – ging zulasten der ursprünglich angekündigten Qualität. Die für die quellenbasierte, mit den Autographen abzugleichende Edition eigentlich vorgesehenen Standards konnten nicht eingehalten werden, so dass der wissenschaftliche Leiter des Projektes, der Leipziger Theologieprofessor Christian Friedrich Börner (1663–1753), sich 1740 öffentlich von den zahlreichen Druckfehlern distanzierte.127 Neben Börner, der die Edition von Anfang an leitete, und seinem Leipziger Kollegen Pfeiffer, der wie Börner kurze Einleitungen für die Lutherschriften verfasste, leistete die eigentliche Redaktionsarbeit der Leipziger Prediger und Landpfarrer Johann Jakob Greiff (1699–1767). Der mit der Sammlung, dem Abgleich und der Übersetzung von Lutherschriften beauftragte Mitarbeiter fertigte auch ein Repertorium und die Register an, die deutlich umfänglicher als das Altenburger Register ausfielen.128 Der voluminöse Abschlussband wurde allerdings im Leipziger Verlag Bernhard Christoph Breitkopf publiziert, nachdem sich Zedler mit seinem anderen Großprojekt, dem 1731 gestarteten UniversalLexikon, übernommen hatte.129 Der wie die übrigen 22 Teile im Folioformat
125 Vgl. ebd., 62f; Im Vorfeld der Michaelismesse kündigte Zedler eine Verlängerung der Pränumeration an. Vgl. Neue Zeitungen 1728, Nr. 77 (23. September), 744. Zum Pränumerationswesen als Geschäftsmodell vgl. Haug, Verlagsunternehmen, 31f. 126 Die ersten zwei Teile, die wie die übrigen zu je einem Band zusammengebunden waren, hatte Zedler vorsorglich mit der Jahreszahl 1729 drucken lassen. 127 Vgl. Christian Friedrich Börner, Vorrede, in: LS, unpag. 7r –8v . Deutliche Kritik übte auch der Redakteur. 128 Vgl. den Vorbericht in: LS, unpag. 9r –13v ; LS, Haupt-Register, 1–882; LS, Repertorium, 1–280. 129 Vgl. Quedenbaum, Verleger, 153–204; Beutel, Topik, 109f.
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gedruckte und 1740 veröffentlichte Band enthielt als Supplement weitere bisher nicht in den vorangehenden Ausgaben abgedruckte Lutherschriften und Briefe. Charakteristisch für die Leipziger Ausgabe der deutschen Schriften Luthers – eine lateinische Ausgabe war möglicherweise angedacht, wurde aber nicht realisiert – war die Anordnung der Schriften. Nicht chronologisch, sondern wie ursprünglich von Luther bei der Wittenberger Ausgabe intendiert, wurden die Ausgaben nach »Materien« geordnet. Untergliedert war die thematische Zuordnung der Schriften in zwölf Hauptabteilungen, wobei die erste Abteilung mit den exegetischen und homiletischen Werken allein 16 Teile umfasste. Es folgten Lehr- und Streitschriften in den Teilen 17–21 und die übrigen zehn Abteilungen in Teil 21 und 22.130 In seiner programmatischen Einleitung zu Teil 1 rühmte Börner Luther und dessen Schriften und ventilierte hierdurch ein noch traditionell-orthodoxes Lutherbild.131 Die populäre Anweisung von Joachim Mörlin (1514–1571), Wie die Bücher und Schriften des theuren und seligen Mannes Gottes D. Martini Lutheri zu lesen, sollte den Leser orientieren.132 Vorangestellt wurde dem ersten Luthertext ein Kupferstichportrait des Reformators (Abb. 10).133 Auch wenn die Bände nicht durch die landesherrliche Obrigkeit verantwortet wurden, so stellte Zedler mittels einer Widmung dennoch fast jeden Teilband unter obrigkeitlichen Schutz. Weil er an die Verdienste der jeweils geehrten Obrigkeiten bzw. ihrer Vorfahren für die Reformation erinnerte, förderte er hierdurch zugleich die lutherische Fürstenmemoria. Die Zuschreibung im ersten Band, die das Datum 29. September 1728 trug und Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1676–1732) und dessen Frau Herzogin Magdalena Augusta von Anhalt-Zerbst (1679–1740) gewidmet war, knüpfte unmittelbar an die ernestinischen Protektoren der Altenburger Lutherausgabe an. Ihr »heiliger Eyfer gegen die Evangelisch-Lutherische Religion« gebe ein »unbewegliches Zeugniß« der fürstlichen Gottesfurcht, welche der Glückseligkeit und Ruhe der Untertanen diene.134 In diese fürstliche Linie der Bewahrer und Förderer der Lutherschriften rückte Zedler auch die neue Edition, indem er betonte: Die gesamten Schrifften dieses schon längst zum Grauß und Moder gewordenen theuren Lutheri werden wieder von neuen belebet, und dessen heilige Gebeine wieder grünend, daferne Sie sich noch weiter den Schutz und gnädigste Aufnahme Dero Durchl. Hauses getrösten können.135 130 131 132 133 134 135
Vgl. den Überblick bei Wolgast/Volz, Geschichte der Luther-Ausgaben, 573–575. Vgl. L 1, Vorbericht, 1–13. Vgl. L 1, Vorbericht, 13–15. Siehe auch die Ergänzungen zum Thema ebd., 15f. Vgl. L 1, 1. Siehe die Widmung und Widmungsvorrede in: L 1, unpag. 3r –6v , hier 4v . L 1, unpag. 5r .
Die Lutherausgaben des 16. bis 18. Jahrhunderts
Abb. 10 Kupferstichportraits Luthers im 1. Band der Leipziger Lutherausgabe, Leipzig 1739. Quelle: ThULB Jena, Sign. 4 MS 1178: 1,1.
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Die übrigen Teile widmete er u. a. sächsischen und braunschweig-wolfenbüttelschen Herzögen, besonderen sächsischen Würdenträgern, dem Magistrat zu Leipzig, Hamburg und Breslau oder dem Dresdener Oberkonsistorium.136 Dass diese Ehrungen Zedler zum Teil Ehrentitel einbrachten, war für den eifrigen Unternehmer ein wertvoller und erhoffter Nebeneffekt.137 Zudem setzte er die Widmungen gezielt sowohl zur Förderung des Absatzes, als auch zur Einflussnahme zugunsten seines Verlages ein.138 Trotz des hohen Engagements der Leipziger Akteure und der mehrfachen Nachdrucke und Steigerungen der Auflage139 sollte die für die Praxis nur bedingt brauchbare Ausgabe schon bald durch eine andere Edition der Lutherschriften abgelöst werden. 6.
Die Walchsche Ausgabe
Während die Leipziger Ausgabe noch nicht abgeschlossen war, reifte gut vierzig Kilometer westlich der Plan einer neuen deutschsprachigen Lutherwerkausgabe.140 Jetzt war es der junge Verleger und Buchhändler Johann Justinus Gebauer (1710–1772), der seit 1724 in Jena eine Buchhändlerlehre absolviert, 1733 die 136 Folgenden Personen (hier ohne Lebensdaten) widmete Zedler seine Tomi: L 2: Herzog Ernst August zu Sachsen-Weimar(-Eisenach); L 3: Herzog Christian zu Sachsen-Weißenfels; L 4: Herzog Moritz Wilhelm von Sachsen-Merseburg und dessen Frau Herzogin Henriette Charlotte von Nassau-Idstein; L 5: Herzog August Wilhelm von Braunschweig-Wolfenbüttel und dessen Frau Herzogin Elisabeth Sophie Maria von Schleswig-Holstein-Norburg; L 6: Herzog Ludwig Rudolph von Braunschweig-Wolfenbüttel und dessen Frau Herzogin Christine Luise von Oettingen-Oettingen; L 7: Fürst Günther zu Schwarzburg-Sondershausen und dessen Frau Fürstin Elisabeth Albertine von Anhalt-Bernburg; L 8: Reichsgraf Erdmann von Promnitz und dessen Frau Herzogin Anna Maria von Sachsen-Weißenfels; L 9: Oberkonsistorium zu Dresden; L 10: Bürgermeister und Rat zu Leipzig; L 11: Friedrich Heinrich von Seckendorff und dessen Frau Clara Dorothea von Hohenwarth; L 12: Generalleutnant Adrian Bernhard von Borcke; L 13: Bürgermeister und Rat zu Hamburg; L 14: Präsidenten und Rat zu Breslau; L 15: Staatsminister Heinrich von Brühl; L 16: Präsident des Dresdener Appellations-Gerichts Heinrich von Bünau; L 17: Christian von Loß; L 18: Oberhofprediger Bernhard Walther Marperger; L 19: Thomas von Fritsch; L 21: Johann Laurenz Mosheim. L 20 und 22 enthielten keine Vorreden, wobei in L 22 die Vorreden über die bisherigen Gesamtwerke abgedruckt waren: L 22, 145–224. Den Registerband, LS 2r –6v , widmete Greiff seinem Mölbiser Patron, dem General Adam Heinrich Bose. 137 Zu den Ehrungen vgl. Art. Zedler, 310; Quedenbaum, Verleger, 49f. 138 Vgl. ebd., 66f, 108f. 139 Weil Zedler einzelne Teile mehrfach nachdrucken ließ (vgl. ebd., 79), konnten genaue Auflagenzahlen bisher nicht ermittelt werden. 140 Zur Entstehungsgeschichte siehe Avertissement, unpag. 1r –2r ; Walch, Ausführliche Nachricht, 667–671. Vgl. zudem Zeeden, Luther, 209–226; Wolgast/Volz, Geschichte der LutherAusgaben, 572–592; Koch, Jenaer Beiträge; Spehr, Jenaer Lutherrezeption, 101–105.
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Buchdruckerei des Hallensers Stephan Orban (1681–1732) gekauft und noch im selben Jahr zu einer eigenen Firma ausgebaut hatte, welcher Luthers Schriften als lukrative Einnahmequelle entdeckte.141 Bereits 1737 begann Gebauer einzelne Schriften Luthers zu publizieren. So erschien neben Luthers Widerruf vom Fege-Feuer die deutsche Übersetzung seiner Galaterauslegung sowie dessen Kirchen- und Hauspostille. 1739 folgte Luthers zweiteilige Genesisauslegung. Der Jenaer Theologieprofessor Johann Georg Walch (1693–1775), der sich bereits zu Studienzeiten als Editor und Historiker einen Namen gemacht hatte und den Gebauer gut kannte, verfasste zu diesen Ausgaben erstmals umfangreiche wissenschaftliche Einleitungen, welche den Stand der damaligen Luther- und Reformationsforschung bündelten und prägen sollten. Weil in der gelehrten Welt die Resonanz auf diese Ausgaben mit ihren historisch-kritischen, den Zeitgeschmack treffenden Vorworten enorm war,142 die Leipziger Ausgabe erhebliche Mängel enthielt und der Absatz ein lukratives Geschäft versprach, entschloss sich der dreißigjährige Verleger trotz heftiger Einwände zahlreicher Gelehrter zu einer eigenständigen Edition.143 Finanziert wurde die Lutherausgabe wie bei Zedler durch das Pränumerationsmodell, das Gebauer geschickt auszubauen wusste. Neben literarischen Ankündigungen sammelten Verlagsagenten in den lutherischen Territorien und Orten Pränumerationen, die der Ausgabe die finanzielle Grundlage verschafften. Der wirtschaftliche Erfolg der Edition wurde enorm und machte den Verlag in der protestantischen Welt bekannt.144 Gegenüber früheren Lutherausgaben, allen voran der Leipziger, sollte die neue Ausgabe eine »brauchbarere, richtigere und vollständigere Sam[m]lung« sein, »als man bishero gehabt«.145 Durch die thematische Anordnung der Schriften und die Edition im handlichen Quartformat sollte sie brauchbarer, durch die akribische Überprüfung der Texte an den Originaldrucken und Manuskripten richtiger und durch den Abdruck aller greifbaren Lutherschriften vollständiger sein. Außerdem war geplant, alle lateinischen Lutherschriften ins Deutsche 141 Zu Gebauer vgl. Kretscher, Verleger, 12–15. Zu Gebauers Verlagspraxis vgl. Haug, Verlagsunternehmen. 142 Von der positiven Resonanz zeugen die Korrespondenzen im Verlagsarchiv Gebauer & Schwetschke, das aufbewahrt wird im Stadtarchiv Halle Nr. 417, Sign. A.6.2.6. 143 Siehe die Bekanntmachung in: Neue Zeitungen 1739, Nr. 76 (21. September), 679–681. Über die Kritiker berichtet Gebauer u. a. im Avertissement, unpag. 1r : »Viele sahen daher dieses Unternehmen für unnöthig, unnütz, überflüßig, ja unmöglich an: weil sie sich nicht persuadieren konten, daß es damit seinen Fortgang haben würde. Es war in der That auch etwas schweres, sowol einen sattsamen numerum von Liebhabern, bey dermaligen, leider! ganz nicht Lutherischen Zeiten, zusammen zu bringen; theils auch die fast fürchterlichen Berge nicht geringer Kosten und höchst mühsamer Ausarbeitung zu ersteigen.« 144 Vgl. Haug, Verlagsunternehmen, 32f; Conrad, Geschäftsverbindungen, 174f. 145 Walch, Ausführliche Nachricht, 667f.
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zu übertragen, so dass mit dieser Ausgabe überhaupt erstmals eine vollständige deutschsprachige Lutherausgabe entstand. Deutlicher als bisher rückte nun der Leser in den Fokus. Er sollte die Lutherschriften mit »Vergnügen« und »Nutzen« studieren können, wofür die äußeren Bedingungen wie gutes Papier, sauberer Druck, handliches Format usw. geschaffen wurden.146 Der Redakteur der Leipziger Ausgabe Greiff unterstützte gerade dieses auf rezipientenorientierte Sorgfalt setzende Vorhaben und begrüßte – trotz Konkurrenz – das Editionsprojekt, zu der das Leipziger Projekt den Anfang gemacht und »das Eiß gebrochen« habe.147 Wie bereits bei den vorangehenden Lutherschriften konnte Gebauer für das Großprojekt den Jenaer Theologen Walch gewinnen, der die Direktion übernahm, während die Organisation und Kooperation der Verlag besorgte. Die Redaktion übertrug Walch seinem Jenaer Mitarbeiter Johannes Frick (1713–1769). Weitere Personen wie der Suhler Pfarrer Johann Gottgetreu Müller (1701–1787), dessen Amtskollege Wolfgang Heinrich Graun (1707–1757), der Hallesche Diakon Friedrich Eberhard Rambach (1708–1775) oder der Jenaer Theologe August Tittel (1691–1756) verantworteten die Inhalte und Übersetzungen einzelner Teile. Unterstützung erfuhr Walch durch zahlreiche Nachrichten, Abschriften oder Originalmanuskripte, welche Institutionen oder Personen der Redaktion zur Verfügung stellten.148 Durch die gut organisierte Arbeitsteilung und eine professionelle verlegerische Betreuung entstanden zwischen 1740 und 1753 24 Bände, die zeitgenössisch als »Hallische Ausgabe«, später als Walchsche Ausgabe bekannt werden sollten.149 Die Anordnung der Lutherschriften geschah analog zur Leipziger Ausgabe thematisch. Die ersten neun Bände boten Luthers exegetische Schriften, wobei Band 1 und 2 von 1740 einen ohne Widmungsvorrede und nur um das Titelblatt veränderten Nachdruck der Genesisauslegung von 1739 darstellte.150 Es folgten die katechetischen Schriften, die Kirchenpostille in der bereits 1737 publizierten Gestalt, die lateinische Adventspostille in deutscher Übersetzung, die Hauspostille in der 1738 edierten Form, Vorreden sowie andere Texte. Band 21 enthielt die Briefe, Band 22 Johann Aurifabers Tischreden, die auf Verlangen Gebauers 146 Vgl. Avertissement, unpag. 1r. 147 LS, unpag. 13v . 148 In W1 23, 5f werden z. B. der Superintendent von Arnstadt, Johann Friedrich Christoph Ernesti (1705–1758), oder der Generalsuperintendent zu Altenburg, Johann Caspar Reuchlin (1714–1767), als Zuträger erwähnt. 149 Vgl. z. B. die Untertitel im Regestenband W1 24: »Hallische Ausgabe der Sämtlichen Schriften Lutheri«. 150 Weil auch Walchs Vorrede vom 6. April 1739 aus Luther, Genesisauslegung Bd. 1, 1739 in W1 1 übernommen wurde, wird die Walchsche Ausgabe in der Literatur oft fälschlicher Weise mit 1739 beginnend notiert.
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hier erstmals überhaupt in eine Gesamtausgabe aufgenommen wurden.151 Der 1753 veröffentlichte Band 23 bot Register und Nachträge. Der größte Mehrwert für die zeitgenössische Reformationsforschung bestand aber in den Bänden 15 bis 20. In ihnen präsentierte Walch »zur Reformationshistorie gehörige Documente von 1517 bis 1546«,152 die neben Luther auch Schriften anderer Autoren »zur Erläuterung der Reformationsgeschichten und der Streitigkeiten« enthielten.153 Durch die Einbettung der Lutherschriften in ihren Entstehungszusammenhang ermöglichte Walch erstmals eine konsequente, themengeleitete Kontextualisierung. Insgesamt schuf er durch diese deutschsprachige Quellensammlung eine umfangreiche Dokumentation der Reformationsgeschichte, die in ihrer auf selbsttätige Erkenntnis zielenden chronologischen Anordnung eine editorische Novität bildete und bis heute als leicht lesbare Quellensammlung Forschungsrelevanz hat. Auch hinsichtlich der Memoria und des Lutherbildes beschritt die Walchsche Ausgabe neue Wege. Hatte Gebauer noch Band 1 der Genesisauslegung von 1739 in guter fürstenmemorialer Tradition Herzog Friedrich III. von SachsenGotha-Altenburg (1699–1772) gewidmet, indem er dessen und dessen Vorfahren Verdienste für die reine Lehre und um die Verbreitung von Luthers Schriften rühmte,154 und somit der ernestinischen Memorialkultur seinen eigenen Akzent hinzugefügt, fehlte auffälligerweise in der Gesamtausgabe jegliche Widmung. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Vielleicht suchte Gebauer bewusst die stets einseitigen Widmungen an Obrigkeiten zu vermeiden, um den Band möglichst breit rezeptionsfähig zu machen. Möglicherweise erschien es ihm auch ein Zeichen von aufklärerischer Gelehrsamkeit und bürgerlicher Überparteilichkeit, auf dieses Instrumentarium zu verzichten. Wie dem auch sei, in der Werkausgabe emanzipierte sich der Verleger von einer jahrhundertealten Praxis. 151 Aufgrund der problematischen Quellengattung wollte Walch die Tischreden eigentlich nicht in der Gesamtausgabe aufgenommen wissen, beugte sich aber dem Druck des Verlegers. Vgl. W1 22, Vorrede, 38. 152 W1 24, 669. 153 Beispielsweise führt W1 20 im 1. Abschnitt Schriften gegen die »Sacramentirer«, im 2. gegen die »Schwarmgeister« und im 3. gegen »Juden und Türken« an. 154 Siehe die Widmung in: Luther, Genesisauslegung Bd. 1, 2r –5v , hier 4v –5r »Die unsterblichen Verdienste Dero Durchlaucht. Hauses um die reine Lehre und Ewr. Hochfürstl. Durchlaucht. eigne gepriesne Eigenschaften, in welchen sich alle Hochfürstliche Tugenden Dero Vorfahren vereinigen, geben Ewr. Hochfürstl. Durchlaucht. ein unstreitiges Recht, auf diese geistvollen und erbaulichen Betrachtungen des grossen Verbesserers unserer Religion einen Anspruch zu machen, und solche, alls DERO Eigenthum anzusehen. Lutheri Schriften haben mit ihm selbst immerfort einerley Glück in DERO Landen gehabt und einen sichern Aufenthalt unter dem Schutze der Durchlaucht. Herzoge von Gotha gefunden. Diese neue Auflage verspricht sich solches ebenfalls.«
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Luther, den Walch »als das auserwehlte und theure Werkzeug der gesegneten Kirchenverbesserung« pointierte,155 erfuhr ebenfalls eine (früh)aufklärerische Neuakzentuierung.156 Insbesondere seine 874 Spalten umfassende Lutherbiographie, die der Jenaer Theologe unter dem Titel »Ausführliche Nachricht von D. Martino Luthero« in Band 24 publizierte, vermittelte einen menschlichen, mit »Natur und Gnadengaben« ausgestatteten Reformator, welcher im Portrait zu Beginn des Bandes (Abb. 11) visualisiert wurde.157 Durch dieses nüchtern-deskriptive Lutherbild verabschiedete sich Walch von den heroisierenden, orthodoxen Überhöhungen, die ihm als Propheten und Wundertäter übernatürliche Gaben zugeschrieben hatten. Gleichzeitig unterstrich er Luthers Verdienste auf zahlreichen Gebieten, so dass neben der theologischen und kirchlichen erstmals auch seine kulturprägende Wirkung umfänglich ventiliert wurde. Walchs durch die Lutherausgabe weit verbreitete Darstellung, die eine hohe Auflage erzielte,158 beeinflusste maßgeblich das Lutherbild der Aufklärung und des frühen 19. Jahrhunderts.159 7.
Resümee
Die Lutherwerkausgaben entfalteten eine mehrfache, gleichwohl differenzierte Memoria. Indem in ihnen Luthers Schriften möglichst vollständig ediert und hierfür die zeitgenössischen Methoden genutzt wurden, transportierten sie ein je spezifisches Lutherbild. Während die frühen Sammelausgaben den stürmischen Gelehrten und wiedergekommenen Daniel begrüßten, rückte die Wittenberger Ausgabe Luther als ehrwürdigen Gelehrten und Kirchenverbesserer in den Vordergrund. Mit dem Tod des Reformators setzte zugleich dessen Gedenken ein, das durch die in allen Ausgaben enthaltenen Beerdigungsansprachen ihren sinnfälligen Höhepunkt erreichte. Die eher gemäßigt lutherisch-konfessorische Perspektive der Wittenberger Ausgabe wurde durch
155 Johann Georg Walch, Vorrede, in: W1 24, 5r –6v , hier 5v . 156 Vgl. Spehr, Jenaer Lutherrezeption, 104f. 157 W1 24, 2v . Zu dem von Gottfried August Gründler (1710–1775) gestochenen Kupferstich vgl. Spehr, Jenaer Lutherrezeption, 104 Anm. 114. 158 Eine genaue Auflagenhöhe konnte bisher nicht ermittelt werden. Weil aber allein im heutigen Kirchenkreis Bad Frankenhausen-Sondershausen von den im Rahmen des Projektes »Erschließung und Sicherung Nordthüringer Kirchenbibliotheken« aufgenommen 59 Buchbeständen vor 1850 noch mindestens 19 Ausgaben (allesamt in Orten, die zu den Schwarzburgischen Herrschaften gehörten) vorhanden sind, dürfte die Auflage durch Gebauer enorm gewesen sein. 159 Vgl. Beutel, Aufklärung, 165–169.
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Abb. 11 Kupferstich Luthers im 24. Band der Walchschen Ausgabe, Halle 1750. Quelle: ThULB Jena, Sign. 4 Op. theol. V,26aa: 24.
die Erinnerung an Luther als heiligen und treuen Mann Gottes in der Jenaer Ausgabe heilsgeschichtlich zugespitzt und monumentalisiert und für die lutherisch-orthodoxe Richtung prägend. Dieses Bild vertrat auch die Altenburger Ausgabe, während sich in der Leipziger Ausgabe verhalten frühaufkläreri-
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sche Töne über Luthers Wirken und Handeln bemerkbar machten. Als Mensch mit besonderen Gnadengaben, aber auch Schwächen rückte Luther sodann in der Walchschen Ausgabe in den Fokus. Die Reformation wurde in allen Ausgaben als Werk Gottes erinnert, welches Luther verwirklicht habe. Seit der Wittenberger Ausgabe wurden die Bände zugleich in den Dienst der Fürstenmemoria gestellt. Dass hierbei die Fürsten als Protektoren auftraten, verstärkte die konfessionspolitische Botschaft der jeweiligen Ausgabe. Konnte die erste Gesamtausgabe noch verschiedenen Fürsten Widmungen zukommen lassen und somit die Vielfalt der Reformationsfürsten abbilden, wurde die Memoria in der Jenaer Ausgabe programmatisch auf die Ernestiner und ihren dynastischen Selbstanspruch als Schutzherren Luthers und der Reformation zugespitzt. Diesem Bild blieb auch die Altenburger Ausgabe – jetzt mit Betonung des Führungsanspruchs der Altenburger Linie der Ernestiner – verpflichtet. Mit der Leipziger Ausgabe hingegen wandelte sich die Fürstenmemoria zur funktionalen Obrigkeitsmemoria im Dienst eines bürgerlichen Verlegers. Die konfessionspolitische Dimension trat somit deutlich zurück. In der Walchschen Ausgabe, die sich besonders den Ernestinern verpflichtet fühlte, fehlten Widmungsvorreden, so dass die Fürstenmemoria lediglich durch Vorreden der Reformationszeit verlebendigt und zugleich historisiert wurde. Mit dieser aufklärerischen, dem bürgerlichen Verlagswesen entspringenden Sichtweise, rückte die konfessionspolitische und dynastische Erinnerungskultur gegenüber der theologischen, historischen und kulturprägenden in den Hintergrund. Die kritischen Editionen des späteren 19. und 20. Jahrhunderts sollten auf diesem Weg weiter voranschreiten. Literatur Quellen Amsdorf, Nikolaus von, Das die zu Witten=||berg im andern teil der bucher Doc=||toris Martini im buch das diese wort || Christi noch fest ste=||hen/ mehr denn ein blat vier gantzer Pa=||ragraphos vorsetzlich aussgelas=||sen haben wie folget.|| […], [Magdeburg: Michael Lotter] 1549 (VD16 L 4281). [Anonym], Art. Zedler, Johann Heinrich, in: Johann Heinrich Zedler (Hg.), Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste 61, Leipzig 1749, 309–311. Avertissement von der eigentlichen Einrichtung der neuen Sammlung der sämtlichen Schriften Lutheri, so zu Halle in Verlag Joh. Justini Gebauers herauskommen, (o.O.) Ostermesse 1742.
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Erasmus von Rotterdam, Opus epistolorum, hg. v. Percy Stafford Allen u. a., 12 Bde., 1906–1958. Greiff, Johann Jacob, Vollständige Register über die XXII Leipziger Theile der gesammten Schriften Des seligen D. Marin Luthers, Nebst einem auf die Wittenbergischen, Jenischen, Altenburgischen und andern deutschen Tomos eingerichteten REPERTORIO, Ingleichen einem Supplement und Nachlese verschiedener Schriften und vieler, meistentheils annoch unedirten deutschen Briefe Lutheri, mit einer Vorrede Herrn D. Christian Friedrich Börners, Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1740. (Leipziger Supplementband = LS) Luther, Martin, AD LEONEM X.|| PONTIFICEM MAXIMVM,|| Resolutiones disputationum de uirtute indulgentia||rum reueredi patris ac sacrae Theologiae doctoris Mar||tini Luther Augustiniani Vuittenbergensis.|| Fratris patris Siluestri Prieratis ordinis praedicato-||rum Magiri sacri Palacij ad Martinum Dialogus || R.P.Martini Luther ad eum Dialogũ Responsio. || Contra D.Ioannem Eckium Ingoldstadiensem […] || Apologeticae propositiones || D.Andreae Bodenstein Archidiaconi Vuittẽbergeñ. || R.P. Martini Luther, Sermo de poenitentia.|| Sermo de indulgentijs.|| Sermo de uirtute excommunicationis. || Decẽ praecepta Vuittenbergensi populo praedicata.|| Et alia quaedam, [Basel: Johann Froben] 1518 (VD16 L 3407). –, AD LEONEM X.|| PONTIFICEM MAXIMVM.|| Resolutiones disputationum de uirtute indulgentiarum [...] || Martini Lu-||ther [...]. || Fratris patris Syluestri Prieratis ordinis Praedicatorũ Ma||gistri sacri Palatij ad Martinum Dialogus.|| R.P.Martini Luther ad eum Dialogum Responsio.|| Contra D.Ioannem Eckium Ingolstadiensem [...], Apologeticae propositiones D.Andreae || Bodenstein Archidiaconi Vuittenbergensis.|| R.P.Martini Luther, Sermo de poenitentia.|| Sermo de indulgentijs.|| Sermo de uitute excomunicationis. ||. Decem praecepta Vuittenbergensi populo praedicata.|| Et alia quaedam. [Straßburg: Matthias Schürer] 1519 (VD16 L 3408). –, PRIMA (SECVNDA) PARS || OPERVM REVERENDI PATRIS,|| AC SACRAE THEOLOGIAE || DOCTORIS MARTINI LV||THERI, AVGVSTINI || VVITTENBERGENSIS. || Resolutiones disputationum de uirtute indulgentiaru, || Ad Leonem X. Pontificem Maximum. […], [Basel: Andreas Cratander] 1520 (VD16 L 3410). –, R. P. DOCT. || MARTINI LV||THERII AVGVSTINIANI THEO||LOGI SYNCERI LVCVBRA||TIONVM PARS VNA, || quas aedidit usqe in annum prae||sentem XX. Catalogum earu|| uersa tibi pagina indicabit.|| ALIO TOMO, DOMINO VO-||lente, post hac meliora trademus, ut ab||solute fuerint eode autore, nempe || in Psalmos & Paulum, Basel: Adam Petri, 1520 (VD16 L 3411).
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–, Martini Luthers der wa||ren goettlichen schrifft Doctors/ Augusti-||ner zuo Wittenbergk/ mancherley büchlin||vnd tractetlin. In welchen ein yegklicher || auch einfaltiger Lay/ vil heylsamer || Christlicher lere vnd vnderwei-||sung findet / so not seind zuo || wissen eynem yegkli-||chen Christe_ me_||schen / der || nach || Christlicher || ordnu_g (als wir || alle sollen) leben will. […], [Basel: Andreas Cratander] 1520 (VD16 L 3307). –, Marini Luthers der waren || gotlichen schrifft Doctors/ Augustiner zů Wit=||tenbergk/ mancherley büchlin vnnd tractetlin.|| Jn wölchẽ ein yegklicher auch einfaltiger Lay/ || vil heylsamer Christlicher lere vnd vnder=||weysung findet/ sonot seindt zů wissenn || einem yegklichen Christen menschen/ der nach Christlicher ordnung (als || wir alle söllen) leben will. […], [Straßburg: Matthias Schürer Erben] 1520 (VD16 L 3308). –, Drey Biechlin zou letst || von dem Hochberümbtenn vnnd || Ewangelischen Lerer Doctor || Martin Luther auß=||gangenn. || Nemlich von || dem Deütschen || Adel. || der heilige[n] Mesz || dem Babstumb zou Rom. ||, [Straßburg: Matthias Schürers Erben, 1521] (VD16 L 3763). –, Vom Reich Christi/ Der CX Psalm/ Gepredigt vnd ausgelegt/ durch D. Mart. Luth. Wittemberg, [Wittenberg: Nickel Schirlenz, 1539] (VD16 L 4976). –, Der […] Teil der Bücher … D. Mart. Luth. […], Wittenberg: [Hans Lufft; Thomas Klug] 1539–1559 (Wittenberger Ausgabe, deutscher Teil = Widt ). –, Tomvs […] omnivm opervm reverendi Domini Martini Lutheri, Doctoris Theologiae […], Witebergae: [Hans Lufft; Peter Seitz’ Erben; Thomas Klug], 1545–1558 (Wittenberger Ausgabe, lateinischer Teil = Wilat ). –, Der […] Teil aller Bücher vnd Schrifften des thewren/ seligen Mans Doct: Mart: Lutheri/ […], 8 Bde., Jena: Christian Rödinger, 1555–1558 (Jenaer Ausgabe, deutscher Teil = Jdt ). –, Tomvs […] omnivm opervm Reuerendi Patris D. M. L. […], 4 Bde., Ienae: Christian Rödinger, 1556–1558 (Jenaer Ausgabe, lateinischer Teil = Jlat ). –, Der Erste [und Ander] Theil Der Bücher/ Schrifften/ vnd Predigten des Ehrwirdigen Herrn/ D. Martin Luthers deren viel weder in den Wittenbergischen noch Jhenischen Tomis zufinden/ vnd doch von dem Tewern Man Gottes/ zum teil im Druck ausgangen/ vnd sonst geschrieben vnd geprediget worden sind/ […], Eisleben: Urban Gaubisch, 1564–1565 (Eislebener Ausgabe = Eis). –, Der […] Teil aller Deutschen Bücher und Schrifften des theuren/ seeligen Mannes Gottes/ Doct. Martini Lutheri/ […] Aus denen Wittenbergischen/ Jehnisch- und Eißlebischen Tomis zusammen getragen, Altenburg: Fürstl. Sächs. Offizin [Johann Michael], 1661–1664 (Altenburger Ausgabe = A). –, Des Theuren Mannes GOttes, D. Martin Luthers Sämtliche Theils von Ihm selbst Deutsch verfertigte, theils aus dessen Lateinischen ins Deutsche übersetzte Schriften und Wercke, Welche aus allen vorhin Ausgegangenen Sammlungen zusammen getragen, Und Anietzo in eine bequemere und nach denen
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Materien eingerichtete Ordnung gebracht, nach denen ältesten und besten Exemplarien mit Fleiß übersehen und verbessert, mit verschiedenen in denen Altenburgischen und andern Tomis ermangelnden Schrifften vermehret, und mit nöthigen Vorberichten versehen, Teile, Leipzig: Johann Heinrich Zedler, 1729–1734 (Leipziger Ausgabe = L). –, D. Martin Luthers, / aus dem ersten Exemplar in 4to 1530./ aufs neue mitgetheilet/ Widerruf/ vom/ Fege-Feuer,/ Nebst einer/ von dem sel. Luthero selbst veranlasseten/ Vorrede/ vom Chymischen Fege-Feuer,/ Allen begierigen Suchern/ des Steins der Weisen/ zum besten abgefasset, und dem Druck überlassen/ von guten Freunden […], Halle im Magdeburgischen: Johann Justinus Gebauer, 1737. –, D. Martin Luthers/ Vollständige Auslegung/ der/ Epistel St. Pauli/ an die Galater, / Anjetzo/ durch genaue Zusammenhaltung mit den erstern Editionen,/ und Hinzufügung derer bey denselben befindlichen Vorreden,/ nebst einem/ zweyfachen Register und einer neuen Vorrede,/ darinnen/ eine Historische Nachricht […] gegeben wird,/ um vieles verbessert und vermehrter ans Licht gestellet,/ von/ Johann Georg Walch […], Halle im Magdeburgischen: Johann Justinus Gebauer, 1737. –, D. Martin Luthers/ Vollständige/ Kirchen-Postill,/ Darinnen die/ Erklärung derer Episteln/ auf alle Sonn- und hohe Fest-Tage,/ Wie auch/ derer evangelischen Texte/ auf die Fest- und Apostel-Tage,/ und anderer erbaulichen Materien/ befindlich:/ […] um vieles verbesserter und vermehrter heraus gegeben/ von/ Johann Georg Walch, 3 Teile, Halle im Magdeburgischen: Johann Justinus Gebauer, 1737. –, D. Martin Luthers/ Haus-Postill,/ oder/ Erklärung der Evangelien/ auf alle Sonn- Fest und Apostel-Tage,/ […] viel brauchbarer; als alle vorhergehenden Ausgaben gemachet,/ auch mit einer Vorrede/ von der Christlichen HausKirche/ und vollständigen dreyfachen Registern/ ans Licht gestellt worden/ durch/ Johann Georg Walch […], 2 Bde., Halle im Magdeburgischen: Johann Justinus Gebauer, 1738. –, D. Martin Luthers/ Gründliche und Erbauliche/ Auslegung/ des/ Ersten Buchs Mosis/ Bey genauer Zusammenhaltung/ mit den erstern u. ächten lateinischen Editionen/ um sehr vieles verbessert und vermehret/ Durch/ fügliche Eintheilung und vorgesetzten Inhalt/ zum Gebrauche bequemer gemacht/ wie auch/ mit einer Vorrede und vollständigen Registern/ ans Licht gestellet/ von Johann Georg Walch […], 2 Teile, Halle im Magdeburgischen: Johann Justinus Gebauer, 1739 (= Genesisauslegung). –, D. Martin Luthers/ sowol/ in Deutscher als Lateinischer Sprache verfertigte/ und aus der letztern in die erstere übersetzte/ Sämtliche Schriften./ […] , hg. von/ Johann Georg Walch […], 24 Bde., Halle im Magdeburgischen: Johann Justinus Gebauer, 1740–1753 (Walchsche Ausgabe 1. Auflage = W1 ).
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Christopher Spehr
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»Musica efficax« Dimensionen des Singens in der lutherischen Musikanschauung der Frühen Neuzeit
Martin Luther und sein Verhältnis zur Musik beschäftigt die Musikwissenschaft seit ihrer Fachgründung im 19. Jahrhundert. Das liegt sowohl daran, dass die ersten musikspezialisierten Historiographen – darunter besonders einflussreich: Philipp Spitta (1841–1894) – Protestanten waren, als auch daran, dass keine andere deutsch textierte Musik eine derart intensive, mehrere Jahrhunderte andauernde Pflege und kompositorische Rezeption entfaltet hat, wie die sogenannten »Luther-Choräle«; eine Rezeption, die spätestens seit Johann Sebastian Bach (1685–1750) beinahe jeden deutschen Komponisten einschloss und somit im Zeitalter patriotischer Musikgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert besonders geeignet schien, eine Art »Stunde Null« deutscher Musik in der Frühen Neuzeit zu behaupten. Mittlerweile haben sich – nicht nur durch die Reformationsdekade 2008–2017 – freilich die Intentionen, aber auch die Erkenntnisse zu Luthers Musik und seiner Musikanschauung grundlegend gewandelt. Dabei bleibt zunächst – selbst in pragmatischer Verkürzung – bei Betrachtung der lutherischen Musikanschauung ein seltsames Missverhältnis bestehen: Einerseits stammen viele, wenn nicht sogar alle Melodien der sogenannten »Luther-Choräle« nicht aus Luthers Feder und weisen in einigen Fällen zudem so viele Varianten auf, dass statt einer festen Text-Musik-Bindung offenbar eine gewisse Beliebigkeit herrschte und eine Zweitrangigkeit der Musik gegenüber den beglaubigten Liedtexten kaum abgestritten werden kann.1 Andererseits berufen sich zahlreiche Publikationen darauf, wie sehr Luther die Musik schätzte, dass er zeitgenössische Komponisten wie Josquin Desprez (um 1455–1521)2 aufrichtig bewunderte, andere wie Ludwig Senfl (um 1490–1543)
1 Vgl. dazu die beiden jüngsten Editionen: Heidrich/Schilling, Die Lieder, 2017; Korth, Wort, 2017. Als grundlegende Studie in vielen Details immer noch zuverlässig ist die Ausgabe der Luther-Lieder von Markus Jenny, Lieder, 1985. 2 Wie Rob Wegman jüngst überzeugend dargelegt hat, schätzte Luther Josquin weniger, weil er diesen abstrakt als »Noten Meister« ansah, sondern weil dieser für ihn die Vorstellung der Musik als »donum Dei« auf höchstem Niveau und zugleich eine Idealkonstellation von (musikalischen) Regeln und (künstlerisch) freiem Willen bzw. Gesetz und Evangelium verkörperte. Vgl. Wegman, Luther’s Gospel, insbes. 175–189.
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gar um Musik bat3 und auch selbst angeblich recht gut, wenn auch autodidaktisch die Laute spielte.4 Man könnte dieses Missverhältnis aus Desinteresse und Hochschätzung schlicht damit begründen, dass Luther keine kompositorische Kompetenz besaß und dies anderen überließ, und die wenigen überlieferten, rasch wieder durchgestrichenen Noten von seiner Hand mögen dies stützen.5 Auch wäre denkbar, dass der mittlerweile gut dokumentierte Wandel der lutherischen Auffassung von Musik im Gottesdienst von einer zunächst noch ablehnenden über eine gemäßigte hin zu einer nachdrücklich bejahenden Position seit ca. 15266 dem später vielbeschäftigten Reformator keine Zeit mehr ließ, seinem theoretischen Perspektivenwechsel praktische Resultate folgen zu lassen. Die nicht mehr rekonstruierbare Wahrheit liegt vermutlich irgendwo dazwischen. Weit aufschlussreicher für den Begriff und die Wirkung von Musik für die Reformation ist aus heutiger Perspektive daher der Blick weg von einem personalisierten lutherischen Musikbild – also weg von den Fragen, ob er nun komponieren konnte oder nicht, ob er eigene Melodien erfand oder nicht, oder ob er nun viel von zeitgenössischer Kunstmusik verstand oder nicht –, hin zu der Rolle, die Musik als rein konzeptioneller Teil lutherischer Glaubenspraxis einnahm. Dies führt zugleich weg von konkreten Musikbeispielen im lutherischen Gottesdienst und der Diskussion von Fallbeispielen, ob und wo in welchen Gottesdienstordnungen was gesungen wurde, hin zu ganz grundlegenden Fragen nach den antiken, spirituellen und katholischen Wurzeln der lutherischen Musikanschauung, ihren ästhetischen Prämissen, konfessionellen Prägungen, ihren Ideen von Gemeinschaftsmodellen und Raumkonzepten und schließlich ihren Funktionen als reformatorische Gedächtnismedien. Denn etwas war anders an Luthers Musikvorstellung: die aktive Beteiligung aller Gläubigen am Gemeindegesang und die spätestens 1526 gefestigte Überzeugung, dass im aktiven musikalischen Mitvollzug des Gottesdienstes ein theologischer Mehrwert für den Einzelnen lag, ein Mehrwert, der eine identitätsstiftende, eine ganz existenziell und individuell berührende Differenz zwischen neuem
3 Konkret ging es um die Vertonung von Psalm 117,17 (»Non moriar sed vivam«), den er, seinem Biographen Johannes Mathesius zufolge, gemeinsam mit der zugehörigen Antiphon »In pace in id ipsum dormiam et requiescam« (»Darauf will ich in Frieden entschlafen und ausruhen«) an die Wände seiner Kammer geschrieben und regelmäßig gesungen haben soll. Johannes Mathesius, Historien von Martini Luthers Anfang, Lehr, Leben und Sterben (1566), 9. Predigt, sign. Dd iiv. Zu Senfls Vertonung »Non moriar sed vivam et narrabo opera domini«, vgl. Lindner, Non moriar sed vivam. 4 Vgl. z. B. Schilling, Musik; Treu, Laute. 5 Vgl. dazu Heidrich/Schilling, Die Lieder, 118 (»Vater unser im Himmelreich«). 6 Vgl. dazu den Aufsatz von Bear, »why Luther changed his mind about music?«, insbes. 24f.
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und altem Glauben generieren konnte. Diese Konzeption Luthers ist so verblüffend simpel wie wirkmächtig und speist sich dabei aus ganz unterschiedlichen Kontexten und Bedingungen, die ihm als Mönch, Gelehrtem und ausübendem liturgischen Chorsänger bekannt waren. Um diese darzustellen, seien im Folgenden zunächst funktionale Differenzen von Beten und Singen im Gottesdienst umrissen, um Luthers Konzept von katholischen Dimensionen des rein rezeptiven Hörens abzugrenzen. Sodann soll die von Luther eingeführte Differenz von ›Gesang hören‹ versus ›Singen im Gottesdienst‹ diskutiert werden, um schließlich zu den neu gewonnenen konfessionellen, klangräumlichen Dimensionen des Singens zu gelangen, die eine intensivierende erkenntnistheoretische Ebene erreichen und damit erst zu wirksamen Gedächtnismedien der Reformation werden konnten. Dass viele der musikalisch-theologischen Aspekte von Luther nicht ›erfunden‹, sondern aus urchristlichen, kirchenväterlichen, mystischen und philosophischen Konzepten verschmolzen wurden, schmälert ihren Novitätencharakter keineswegs, sondern verweist auf die zum Luther-Jubiläum bereits ausgiebig diskutierte Kontinuitätstiefe der lutherischen Denkmodelle. 1.
Funktionale Differenzen von Beten und Singen im Gottesdienst
Um die wirkmächtigen Dimensionen des Singens angemessen einschätzen zu können, ist zunächst ein grundsätzliches Wissen um das Intensivierungspotenzial des gesungenen Wortes gegenüber dem gesprochenen vonnöten. Mythologische oder biblische Textzeugen wie die Orpheus- oder David-Geschichten waren um 1500 ebenso bekannt wie die Diskurse um den spätmittelalterlichen weltlichen Minnesang, der dem cantor eine auf sein Publikum geradezu magische Wirkung zuspricht. Und für den Kontext religiösen Singens, sei es im monastischen oder kirchlichen Rahmen, gehörte eine quantitativ und qualitativ gesteigerte Empfindung während des – wie Peter Sloterdijk (geb. 1947) es nannte – »Im-Klang-Seins«7 ohnehin dazu, hatte doch schon Aurelius Augustinus bei aller Musikskepsis in seinen Confessiones um 400 n. Chr. festgehalten: Wie habe ich geweint unter deinen Hymnen und Gesängen, tief bewegt von dem Wohllaut der Stimmen deiner Kirche. Jene Stimmen, sie fluteten in mein Ohr, und durch sie ward die Wahrheit in mein Herz eingeflößt und fromme Gefühle wallten in ihm auf, die Tränen strömten und mir war so selig in ihnen zumute.8
7 Sloterdijk, Weltfremdheit, 308. Sloterdijk betont, dass der Hörer dem Klang nicht nur gegenüber, sondern zugleich in ihm stehe, denn der Gesang sei raumgreifender als die Sprache. 8 Augustinus, Confessiones, IX 6, 14.
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Und erneut und rückblickend formuliert: Wiederum, wenn ich gedenke meiner Tränen, die ich vergoß bei den Gesängen deiner Kirche bei meiner Bekehrung und daß ich auch jetzt noch bewegt werde nicht durch den Gesang, sondern durch den Inhalt des Gesanges, daß er mit fließender und passendster Melodie gesungen wird, dann erkenne ich wiederum den großen Nutzen dieser Einrichtungen.9
Luther hatte diese empfindungssteigernde Macht der Musik als psalmsingender Mönch selbst erfahren und dies offenbar sowohl in guter, funktionierender als auch in schlechter, misslungener Form: »Denn die Psalmen und die Musik sind zur Steigerung der Andacht bestimmt. Wenn das mit allzu ungeordnetem Geschrei geschieht, stumpfen die Psalmen und die Musik den Geist mehr ab als daß sie ihn erfrischen.«10 Um 1500 war man sich ebenfalls weitgehend einig, dass Musik nach innen, also direkt auf die Seele wirken kann, sofern sich der Gläubige entsprechend öffnet. Schon Athanasius von Alexandria (um 300–374) geht im 4. Jahrhundert von einer theologisch nützlichen Wirkung der Melodie auf eine innere Harmonie aus.11 Musik, bei ihm explizit bezogen auf den gesungenen Psalter, zeichnet die Melodie der Worte und Gedanken nach und übernimmt somit eine ordnende und reinigende Funktion, wie Athanasius formuliert: Daß also die Psalmen melodisch vorgetragen werden, beruht nicht auf dem Streben nach Wohllaut, sondern ist ein Zeugnis für die Harmonie der Gedanken der Seele, und der melodische Vortrag ist ein Zeichen des wohlgeordneten und friedlichen Zustandes des Herzens.12
Statt eines ästhetischen Vergnügens steht bei ihm eine im Text des Psalters selbst schon angelegte, vernunftgeleitete Affektbereinigung im Vordergrund. Luther teilte diese wirkungsästhetische Überzeugung, nicht nur in seiner zweiten Psalmenvorlesung, in der er sich ausdrücklich auf Athanasius bezieht, sondern auch nochmals im vielzitierten Lobgedicht auf Frau Musica13 : »Zum Göttlichen Wort und warheit Macht sie [die Musik] das hertz still und bereit.«14 Hinzu 9 Ebd., X 33, 49f. 10 WA 55,2, 47,14–16. 11 Vor allem in Athanasius’ Schrift Epistola ad Marcellinum, 12–46. Vgl. dazu Block, Verstehen durch Musik, bes. 77. 12 PG 27, 41A; hier zitiert nach: Ausgewählte Schriften des Heiligen Athanasius, 333–364. 13 Luther verfasste die Vorrede für Walter, Lob und Preis der löblichen Kunst Musica, 1538, [o.pag.; 3–5]. Abgedruckt findet sie ich unter dem Titel: »Vorrhede auff alle gute Gesangbuecher: D:M:L: Fraw Musica«, in: WA 35, 483,12–484,26. 14 WA 35, 484,7f.
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tritt jene, Luther aus dem Wechselgesang des responsorialen Psalmsingens bekannte Form des musikalisch intensivierten Dialoges des Gläubigen mit Gott. Diese singende Nahbeziehung zu Gott war im katholischen Ritus für die Gemeinde indes nur selten und wenn, dann nur im Respondieren der knappen Refrainformeln in Hymnen oder Antiphonen, bei der Vesper oder bei Prozessionen möglich, aber sie existierte und ermöglichte eine, wenn auch kleine, musikalische Beteiligung am Ritus. 2.
Differenz von ›Gesang hören‹ und ›Singen im Gottesdienst‹
Neben den besprochenen wirkungsästhetischen Grundlagen wusste Luther freilich um die biblische Bedeutung von Musik für die Urkirche und die Konzeption des Neuen Testaments, denn »die Gemeinde Jesu Christi ist von Anfang an eine singende Gemeinde gewesen«.15 In diesem Zusammenhang ist besonders der Kolosserbrief des Apostels Paulus (Kol 3,16) aufschlussreich. Luthers Übersetzung orientiert sich eng an der imperativen Struktur des lateinischen Originals: »Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehret und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.«16 Singen – hier bezogen auf ein »in Herzen«-Singen, was als auch inneres Mitsingen, also richtiges Singen verstanden werden kann17 – war somit die aktive Verkündigung der neuen Kirche. Eine ähnliche Textstelle findet sich in Eph 5,19, die Luther ebenso wortgetreu als Aufforderung zum (auch inneren) Singen übersetzte: »Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen«.18 Der Theologe Oskar Söhngen (1900–1983) überzeichnete diese Belege als Luthers Gründungsakt des »Hymnisch-Musikalischen […] aus dem Quellgrund der ›neuen Schöpfung‹ [der Kirche des Neuen Testamentes]«.19 Richtig ist indes, dass auch Luther das Singen als Glaubensbekenntnis als eine Sache des Neuen Testamentes verstand, etwa in der Vorrede zum Babst’schen Gesangbuch (1545):
15 Söhngen, Theologische Grundlagen der Kirchenmusik, 2. 16 Kol 3,16, zit. nach: LUT 2017, 234. Vulgata: »verbum Christi habitet in vobis abundanter in omni sapientia docentes et commonentes vosmet ipsos psalmis hymnis canticis spiritalibus in gratia cantantes in cordibus vestris Deo«. 17 Ulrich Zwingli (1484–1531) las diese Bibelstelle als Anweisung zur Stille, also eines nur inneren Singens. Vgl. Söhngen, Theologische Grundlagen der Kirchenmusik, 10. 18 LUT 2017, 226. Vulgata: »loquentes vobismet ipsis in psalmis et hymnis et canticis spiritalibus cantantes et psallentes in cordibus vestris Domino«. 19 Söhngen, Theologische Grundlagen der Kirchenmusik, 3.
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Gott hat unser hertz und mut frölich gemacht, durch seinen lieben So[h]n, welchen er für uns gegeben hat zur erlösung von sunden, tod und Teuffel. Wer solchs mit ernst gleubet, der kans nicht lassen, er muß frölich und mit lust dauon singen und sagen, das es andere auch hören und herzu komen. Wer aber nicht dauon singen und sagen wil, das ist ein zeichen, das ers nicht gleubet und nicht ins neu fröliche Testament, Sondern unter das alte, faule, unlustige Testament gehöret.20
Hier – 1545 – ist Musik durch die Bezugnahme auf das Kirchengründungsszenario des Neuen Testaments bereits aktive, partizipatorische Musik, Musik eines zur weiten Verbreitung unter den Gläubigen gedachten Gesangbuches, und damit Musik, die nicht nur innerlich klingt, sondern richtig gesungen sein will. 3.
Kollektive, realitätsstiftende und erkenntnistheoretische Potenziale des Singens
Luthers Kenntnisse vom theologischen Intensivierungspotenzial der Musik im Allgemeinen und ihrer partizipatorischen Wirkungsästhetik im Besonderen allein machen indes noch nicht das musikalische Erfolgskonzept aus. Seine spät,21 aber sodann mehrfach und immer wieder nachdrücklich formulierte Überzeugung, auch und vor allem im aktiven Singen äußere sich die Zukunft des neuen Glaubens, speist sich aus sechs Aspekten, die erst im Zusammenspiel Erfolg und Nachhaltigkeit garantieren konnten. Erstens vertritt Luther die Überzeugung, nicht nur im Hören, sondern auch im Singen selbst finde eine Intensivierung statt. Hierin konnte er sich zwar auf Augustinus’ berühmten Ausspruch »bis orat, qui cantat« (»doppelt betet, wer singt«) beziehen, doch geht es Luther im Sinne von Athanasius mehr um eine qualitative denn quantitative Kategorie. Diesen Sinn für qualitative musikalische Intensivierung legt er bereits früh in seiner Ersten Psalmenvorlesung (1513–1515) fest: »Quod si ista simul canentur in Musica artificiali, vehementius et acrius accendunt animum« (»Wenn diese Lieder gleichzeitig in kunstvoller
20 WA 35, 477,6–12. 21 Luthers Musikbegriff ist vor allem in der auf der Veste Coburg skizzierten »Peri tes musikes« von 1530 (»Über die Musik«, WA 30,2, 696) explizit geworden; hier wird der Musik der erste Platz hinter der Theologie eingeräumt. Später wurden die »Vorrede von der himmlischen Kunst Musica« (1538) zu den Symphoniae iucundae des Georg Rhau (WA 50, 368–374), die »Vorrede auf alle guten Gesangbücher« (1538) in Form des Lobgedichts auf »Fraw Musica« (WA 35, 483f) und die »Vorrede zum Babst’schen Gesangbuch« (1545) (WA 35, 476f) wichtig. Vgl. Söhngen, Theologische Grundlagen der Kirchenmusik, 64.
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Musik gesungen werden, dann entzünden sie die Seele umso heftiger und inbrünstiger.«22 ). Mag diese klar auf die athanasische Psalmdeutung bezogene Äußerung auch noch eher das Hören denn das Singen von »kunstvoller Musik« meinen, so ist die steigernde Wirkung des Singens gegenüber dem Sprechen in einer späteren Vorlesung der Psalmlesung von 1513–1515 Thema: Merke, daß sich Singen und Sprechen unterscheiden, wie einen Psalm singen oder rezitieren und bloß verstandesmäßiges Erkennen und Lehren. Wenn die Stimme hinzukommt, wird es ein Gesang, der die Stimme des Affektes ist. Denn so wie das Wort verstandesmäßig zu begreifen ist, so stellt es sich in der Stimme affektmäßig dar.23
Singen gilt Luther als deutliche qualitative Steigerung des gesprochenen Wortes, und da hier stets aktive Musik gedacht ist, hat der Einzelne an dieser Steigerung Anteil und partizipiert zugleich davon. Zweitens beschließt Luther, diese musikalische Intensivierung auch in der Bildung fruchtbar zu machen und damit nachhaltig zu verankern: Die Kinder sollen »nicht alleyne die sprachen und historien hoeren, sondern auch singen und die musica mit der gantzen mathematica lernen«.24 Zahlreiche Dokumente der frühreformatorischen Lateinschulen bezeugen die Nachhaltigkeit von musikalisch gestützter Bildung; was durch das Singen eingeprägt wird, hält länger vor. So berichtet Caspar Cruciger d.J. (1525–1597), 1571 Rektor der Wittenberger Universität: »Die Kinder freuen sich am Gesang und lernen den Stoff schneller, der in Tönen ausgedrückt ist; auch prägen sich solche Gesänge tiefer ein.«25 Neben den Kirchenliedern gehören auch erzählende Lieder zu biblischen Geschichten zum lutherischen Didaktik-Programm. Musik dient demnach auch zur Re-Inszenierung und zum Nachvollzug religiöser Schlüsselszenen, sie macht »religiöse Rollenangebote«.26 Drittens entwickelt Luther einen dienenden, utilitaristischen Musikbegriff unter dem Diktum des »sola scriptura«, möglicherweise auch, um sich von den augustinischen Sorgen um artifizielle Verselbständigung der Musik zu befreien. Musik gilt ihm als Gefäß des göttlichen Wortes, nicht als dessen Substitut, auch nicht im interpretierenden Sinne. Luther verwendet zur Plausibilisierung seine etwas schiefe Weinmetapher: Man trinke den Becher [= die Stimme] ja auch nicht mit, wenn man den Wein [= das Wort] daraus trinke.27 Andernorts formu-
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WA 55,2, 48,2–4 [Übersetzung]. WA 55,2, 779,444–447. WA 15, 46,14f [1524]. Gurlitt, Johannes Walter, bes. 61f. Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung, 218. Vgl. Block, Verstehen durch Musik, 108.
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liert er: Die Musica soll »alle ihre Noten und Gesänge auf den Text richten«.28 Hierdurch wird die Gefahr einer sich vom Wort und damit der neuen Kirchengründung konzeptionell entfernenden Musikkonzeption gebannt, zumindest theoretisch. Später stand das Eindringen der exegetischen Instrumentalmusik in Form des geistlichen Konzerts des 17. Jahrhunderts in den Gottesdienst zu diesem Anspruch quer, zu der Zeit hatte sich die Reformation indes längst stabilisiert. Die Wortbindung der gottesdienstlichen Musik, die im 16. und bis weit in das 17. Jahrhundert hinein im Protestantismus verbindlich blieb, gehört zu den wesentlichen Voraussetzungen ihres Erfolges. Hatten sich die kirchenmusikalischen Debatten der Katholiken über Jahrhunderte hinweg stets und immer wieder an der Frage entzündet, ob das Wortverständnis durch die (vor allem mehrstimmige) Musik gestört werde und unter welchen Bedingungen dies zulässig sei, beugte Luther durch seine klare Wortbindung derartigen Debatten grundsätzlich vor, ein weiterer kluger Schachzug, der kaum ohne die Kenntnis der historischen Musikdiskurse erklärlich ist. Viertens erkennt Luther im gemeinsam gesungenen Glauben die kollektive Dimension und damit das Potenzial zur Gemeindestärkung. Bekanntermaßen fügt »auch noch so unvollkommenes Singen […] viele Stimmen immer noch besser zusammen als gemeinsames Sprechen«.29 Auch hierin schließt Luther an die altgläubigen, auch aus monastischen Kontexten bekannten Phänomene der »emotional[en] wie körperlich[en] Gemeinschaft« als Symbol einer »wesenhaft unsichtbare[n] Gemeinde Christi«30 an. Zwar bleibt der Einzelne auch in der kollektiven Erfahrung des Singens letztlich gegenüber Gott allein, er tritt allerdings ihm gegenüber handelnd und aktiv auf.31 Im Gottesdienst passiert nach Luther nichts anderes »denn das unser lieber Herr selbs mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir widerumb mit im [sic] reden durch Gebet und Lobgesang«.32 Entsprechend legt Luther auch auf das Eingangslied zum Gottesdienst besonderen Wert, denn besonders hier wird »körperlich und kognitiv […] ein Möglichkeitsraum für religiöse Erfahrungen vorbereitet«.33 Fünftens bewirkt die kollektive Dimension des Singens zugleich eine affektuale Konformität im Verstehen,34 das Wort Christi wirkt durch den Gesang auf die Seele, auf intellectus und affectus zugleich, und es entsteht Gemeinschaft, eine neue und legitime Lebenswirklichkeit. Gemeinsames Singen hat also eine realitätsformende Dimension über das rein kollektive Empfinden 28 29 30 31 32 33 34
WA 35, 83. Blankenburg, Der gottesdienstliche Liedgesang, 573. Vgl. Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung, 220. Ebd., 221. WA 49, 588,16–18 [1544]. Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung, 219. Vgl. Block, Verstehen durch Musik, 137.
»Musica efficax«
hinaus: Die Fundamentalrelation von Wort (verbum) und gehörtem Glauben (auditus fidei) wird durch die aktiv betriebene Musik umso stärker – wie Luther formuliert – »ins Hertz getrieben«.35 Hier treten identitätsstiftende, anthropologische Konstanten des »In-der-Musik-seins« hinzu, das durch dauerhafte Wiederholung und tägliche Einübung Teil der eigenen Lebenswirklichkeit wird. Der dreifache Akt des Lesens (des zu singenden Textes), des Tönens (Im Sing-Akt selbst) und des Hörens (der anderen Sänger)36 bilden Intellekt und Affekt zugleich und bieten nicht zuletzt die »Möglichkeit zur elevatio«.37 Singen hat also Teil am Glauben an die Erfüllung des gesprochenen Wortes. Luther hat in der Vorrede zu Georg Rhaus (1488–1548) Symphoniae iucundae diese Leitungs- und Sinnstiftungsfunktion der Musik erkannt, wenn er sie als »domina et gubernatrix«38 definiert. Zugleich hat das gemeinsam gesungene Lied einen überzeitlich-allgemeingültigeren Charakter39 als die situationsbezogene, einmal gehaltene Predigt. Das gesungene Lied steht daher der Heiligen Schrift gewissermaßen näher als die Predigt, es bietet gleichsam eine Konstanz einer Glaubensrealität über das rein Situative hinaus an. In seiner generationenübergreifenden Existenz weist es zugleich in die Zukunft voraus. Sechstens und letztens begreift der Glaubende durch das Singen und wird im Gegensatz zum reinen Hören zugleich selbst ergriffen. Singen hat also neben der kollektivierenden und realitätsstiftenden auch eine aktive, erkenntnistheoretische Dimension. Auch dies ist keine neue Einsicht, sondern lässt sich in Ansätzen bis in die antik-mittelalterliche Ethoslehre, die »moralitas artis musicae« zurückverfolgen.40 Nun wollte Luther diese neue Erfahrung indes allen Gläubigen angedeihen lassen, jene sinnliche Evidenz des Singens, in der sich der christologische Sinn erschließt. Die Verstehensbewegung des Singenden in der »vox musicae«, die Luther als »musica efficax« beschreibt, und die oft in der Doppelformel »singen und sagen« – im Sinne von »Wortgehalt und Wortklang«41 – in seinen Schriften auftritt, diese Verstehensbewegung entspricht somit der theologischen Erkenntnis.42 Dies weist zudem noch über das eigene Leben und die Zeit der Kirche hinaus. Schon in der Offenbarung des Johannes war der himmlische Gottesdienst von Gesang geprägt. »Das Singen« kann somit als »ein vorauslaufendes endzeitliches Zeichen« gedeutet werden
35 36 37 38 39 40 41 42
WA 35, 480,8. Vgl. Block, Verstehen durch Musik, 139 Söhngen, Theologische Grundlagen der Kirchenmusik, 79. WA 50, 371,2: »Herrin und Lenkerin«. Blankenburg, Der gottesdienstliche Liedgesang, 573. Vgl. u. a. Söhngen, Theologische Grundlagen der Kirchenmusik, 71. Block, Verstehen durch Musik, 26. Vgl. ebd., 131.
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und »verbindet die angefochtene Gemeinde auf Erden mit der Gemeinde der Vollendeten«.43 4.
Wirkungsmacht und Reichweite des Musikmodells
In der Zusammenschau dieser vielen Einzelaspekte ergibt sich ein ebenso wirkmächtiges wie nachhaltiges Musikmodell: Musik soll verständlich sein, um glaubensstärkend zu wirken; entsprechend muss sie in der eigenen Volkssprache getextet sein. Sie soll aber – im legitimierten Anschluss an die Bibel und Kirchengründung – aktive Musik aller Gemeindemitglieder sein, muss daher konsequenterweise Teil des Bildungssystems werden, damit alle singen lernen. Um altbekannte Sinn-Debatten um Kirchenmusik von vornherein auszuschließen, wird der Musik gegenüber dem Wort der dienende Part zugesprochen. Mit dem gemeinsamen Singen kann nun Kollektivität der neu zu formenden Gemeindeidentität effektiver erreicht werden als über jede andere Maßnahme. Die neue Gemeinde erkennt sich im gemeinsamen Singen zugleich als wahr, wird das Singen doch Teil der neuen rationalen Lebenswirklichkeit und kann darüber hinaus zum Verständnis des neuen Glaubens – mehr als jede Predigt – selbst beitragen. Zentrum und Wurzel dieser wirkmächtigen exegetischen Konzeption ist jedoch aus jeder Perspektive das eigene Singen, nicht das Lied an sich. Das Singen, nicht die notierte Musik wurde bedeutsam für die neue lutherische Glaubenspraxis. Ohne die vielfach begründete und biblisch abgesicherte Entscheidung, seine Gemeindemitglieder selbst singen zu lassen, wäre Luthers Reformation vielleicht nicht gescheitert, hätte aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht so rasch große Gruppen an Menschen erreicht. Hierzu passt Luthers Skepsis gegenüber der Orgelmusik in der Kirche, die ihm als Augustinermönch zwar nahestand44 , die ihm aber kein Ersatz für das eigene Singen war – im Gegenteil sollte die musikalische Exegese textgebunden und nicht durch textlose Instrumentalmusik stattfinden. Die Erinnerungsräume der Reformation waren und sind durch klingende Musik maßgeblich definiert. Dies aber weniger in einer bloßen Präsenz von Musik in den Gottesdiensten oder den musikintensiven Lehrplänen der lutherischen Schulkonzepte; ersteres hatte es auch schon vor der Reformation gegeben. Für Luther selbst konnte sich nur im eigenen Singen selbst der neue Glaube realisieren. Erst dadurch erhielt er seine medial wirkmächtige Einkleidung, die seine Verankerung im kollektiven Gedächtnis über Generationen hinweg garantierte und als praxeologische Erinnerungsräume absicherte. Dass 43 Söhngen, Theologische Grundlagen der Kirchenmusik, 12. 44 Vgl. Klotz, Die kirchliche Orgelkunst, 784f.
»Musica efficax«
diese Musik so weit in die Zukunft hineinklingen würde, hat Luther wohl nicht vorhersehen können. Dass sie aber im Einzelnen nicht nur klingen, sondern vor allem nachklingen und damit zur Nachhaltigkeit des neuen Glaubens maßgeblich beitragen konnte: Das hatte er erkannt. Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen unerheblich – und es wäre schön, man könnte diese Debatte endlich ad acta legen – wer denn nun die Melodien der sogenannten »LutherChoräle« komponiert hat. Das Phänomen der »Musica efficax« lässt sich mit einem durch die Brille des 19. Jahrhunderts historiographisch aufgerüsteten Autor- und Werkbegriff ohnehin nicht erklären. Man versteht es in letzter Konsequenz vermutlich nur singend. Literatur Quellen Athanasius von Alexandria, Epistola ad Marcellinum, PG 27, 11–46. Augustinus, Aurelius, Confessiones, zit. in der Übersetzung von Otto F. Lachmann, Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus, Leipzig 1888. Ausgewählte Schriften des Heiligen Athanasius, Erzbischofs von Alexandria und Kirchenlehrers, Bd. 2, aus dem Urtexte übersetzt und mit Einleitung sowie erläuternden Bemerkungen versehen von Joseph Fisch, Kempten 1875, 333–364. Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (LUT 2017), Stuttgart 2016. Luther, Martin, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883–2009. −, Geistliche Lieder und Kirchengesänge. Vollständige Neuedition in Ergänzung zu Bd. 35 der Weimarer Ausgabe, bearb. von Markus Jenny, Köln/Wien 1985. Mathesius, Johannes, Historien von des ehrwirdigen in Gott seligen thewren Manns Gottes Doctoris Martini Luthers Anfang, Lehr, Leben und Sterben, Nürnberg 1566. Walter, Johann, Lob und preis der löblichen Kunst Musica, Wittenberg 1538. Forschungsliteratur Bear, Carl, »why Luther changed his mind about music?«, in: Michael Klaper (Hg.), Luther im Kontext. Reformbestrebungen und Musik in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Hildesheim 2016, 15–38. Blankenburg, Walter, Der gottesdienstliche Liedgesang der Gemeinde, Leit. 4: Die Musik des evangelischen Gottesdienstes, Kassel 1961, 560–659. Block, Johannes, Verstehen durch Musik. Das gesungene Wort in der Theologie, Tübingen 2002. Gurlitt, Willibald, Johannes Walter und die Musik der Reformationszeit, LuJ 15, 1933, 1–112.
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Heidrich, Jürgen/Schilling, Johannes (Hg.), Martin Luther. Die Lieder, Stuttgart 2017. Klotz, Hans, Die kirchliche Orgelkunst, Leit. 4: Die Musik des evangelischen Gottesdienstes, Kassel 1961, 759–804. Korth, Hans-Otto (Hg.), Lass uns leuchten des Lebens Wort. Die Lieder Martin Luthers, mit einem Nachwort von Patrice Veit, Halle 2017. Lindner, Andreas, Non moriar sed vivam. Luther, Senfl und die Reformation des Hochstifts Naumburg-Zeitz, JLH 36, 1997, 208–217 Plüss, David, Gottesdienst als Textinszenierung. Perspektiven einer performativen Ästhetik des Gottesdienstes, Zürich 2007. Schilling, Johannes, Art. Musik, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 3 2017, 276–284. Sloterdijk, Peter, Weltfremdheit, Frankfurt a.M. 1993. Söhngen, Oscar, Theologische Grundlagen der Kirchenmusik, Leit. 4: Die Musik des evangelischen Gottesdienstes, Kassel 1961, 1–267. Treu, Martin, Art. Laute, in: Volker Leppin/Gury Schneider-Ludorff (Hg.), Das Luther-Lexikon, Regensburg 2014, 377f. Wegman, Rob, Luther’s Gospel of Music, in: Michael Klaper (Hg.), Luther im Kontext. Reformbestrebungen und Musik in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Hildesheim 2016, 175–200.
III.
Reformatorische Erinnerungskulturen
Thomas Fuchs
Erinnerungsstrategien der reformatorischen Bewegung Die Apokalypsekommentare von Johann Funck und Michael Stifel
Die christliche-jüdische Tradition besitzt eine Geschichtsvorstellung mit einem definierten Beginn der historischen Zeit und ihrem definierten Ende. Jenseits der Pole dieser Geschichte befindet sich die Ewigkeit Gottes. Ihr gegenübergestellt ist die Zwischenzeit menschlicher Geschichte, die durch die Wirksamkeit der Erbsünde definiert ist. Kalendarische Zeit oder, besser formuliert, menschliche Geschichte ist das Produkt der erbsündlichen Schuld, die im historischen Sinne nicht vergehen kann. Sie ist das Ewigkeitsmomentum menschlicher Existenz. Die Zeit wurde im Heilsgeschehen aufgelöst und der Richterspruch Gottes von Luther als unmittelbar zu jeder menschlichen Existenz in die Ewigkeit Gottes gesetzt. Der erbsündliche Charakter der menschlichen Zeit wirkte sich unmittelbar auf das christliche Geschichtsverständnis aus, bevor dieses als Produkt der Reformationsepoche der »Säkularisierung der welthistorischen Auffassung«1 unterworfen wurde. Durch diesen Säkularisierungsprozess wurde die Handlungsautonomie des Menschen außerhalb der erbsündlichen Schuld definiert, wie es Philipp Melanchthon (1497–1560) in der These vom »tertius usus legis« proklamiert hatte.2 Denn dadurch konnte das Gesetz im »usus in renatis« als göttliche Richtlinie für die Lebensführung dienen und somit die menschliche Lebensführung positiv konnotiert werden. Unter den vielfältigen Möglichkeiten der Geschichtsdeutung, d. h. des Zeitverlaufs menschlicher Existenz, spielte die Apokalyptik eine zentrale Rolle. Apokalyptik meint in unserem Sinne die Prophetie zur Erhellung des künftigen Weltlaufs. Sie zielt in diesem Sinne nicht auf die wie immer auch ausgestaltete Voraussage des Heilsplanes Gottes, sondern bildete einen Wissensmodus der Kontingenzbewältigungspraxis. Die Aktualisierung der Apokalyptik in einer bestimmten Epoche kann als Krisenphänomen gelesen werden, als ein Prozess der Weltdeutung. Dagegen gerichtet ist die Historisierung der Zeitereignisse menschlicher Existenz, indem sie aus dem Heilsplan Gottes in die menschliche Handlungsfähigkeit des »tertius usus legis« transferiert werden. Historisierung meint in letzter Konsequenz im Sinne des Historismus, dass keine geschichtli1 Klempt, Säkularisierung. 2 Erstmals formuliert in der 2. Aufl. der Loci communes rerum theologicarum von 1535 (VD16 M 3614); vgl. dazu: Reuter, Recht, hier 228f.
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che Situation anders als unter ihren eigenen Bedingungen verstanden werden kann.3 Apokalyptik diente in vielen religiösen, politischen und sozialen Auseinandersetzungen der Überhöhung des eigenen Handelns durch die Herstellung von Legitimation, indem das eigene Handeln in das Heilshandeln Gottes transferiert wurde. Im Weberschen Sinne, sofern wir den Diskurs als Herrschaftsraum begreifen, erbringen solche intellektuellen Operationen den Nachweis, dass die eigene Interpretation rechtmäßig ist.4 Ob dieser dann auch Legitimität zuerkannt wird, muss im zeitgenössischen Diskurs ausgehandelt werden. Hier liegt die dramatische Bedeutung der Heiligen Schrift in den reformatorischen Auseinandersetzungen begründet, weil sie die Diskursregeln bestimmte, nach denen Legitimität gewonnen werden konnte. Wenn wir den Wissensmodus Apokalyptik als Enthistorisierung definieren, in dem die Begrenztheit menschlichen Handelns in die Unbegrenztheit der Ewigkeit Gottes überführt wird, dann ist der gegenteilige Modus die Säkularisierung, indem durch Historisierung, d. h. die Verortung der Kontingenzphänomene in der menschlichen Geschichte, die Einzelphänomene entheiligt und in den Strom der kalendarischen Zeit eingeordnet werden. Grundsätzlich beobachten wir in der Reformationsepoche eine in Wellen aufkochende Apokalyptik, die den Zeitgenossen das Unerhörte der reformatorischen Auseinandersetzung begreiflich machte. Nur ein Beispiel unter vielen: Ambrosius Blarer (1492–1564) schrieb am 23. Dezember 1533 an Martin Bucer (1491–1551): Die Zeichen wiesen darauf hin, dass das Ende der Welt bevorstehe: Himmelszeichen, falsche Propheten, Sekten, Pest, Hungersnot, Wundergeburten, fliegende Drachen, das Einverständnis von Papst und Franzosen, was alles das Ende der Welt und den Richter vor der Türe ankündigt, ganz zu schweigen von den falschen Brüdern, den Sekten, den absonderlichen Lehren und vielfältigen Ärgernissen, den Zwistigkeiten zwischen den Brüdern und den Anschlägen der Gegner. »Komm, o Jesus, und nimm Deine Schafe zu dir in den Himmel!«5 Die Apokalyptik bot einen Möglichkeitsraum der Weltdeutung, der in unterschiedlichen Graden genutzt wurde, wobei sie immer wieder unter dem Verdacht stand, dem christlichen Denken zuwiderzulaufen. Auch hierfür ein Beispiel: In einen theologischen Sammelband der Universitätsbibliothek Leipzig trug ein unbekannter zeitgenössischer Leser den Satz ein: »Es ist fehrlich ergrunden wollen/ was wir einfeltig glauben sollen«.6 3 4 5 6
Vgl. Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 7f. Vgl. Weber, Typen, 726–742. Schiess, Nr. 385, 453. Der Sammelband mit der Grundsignatur UB Leipzig, Syst.Theol.599, enthält die zwischen 1571 und 1590 gedruckten Texte: Von der Person; Pezel: Christliche Erjnnerung und Voit: PROPOSITIONES REPETENTES.
Erinnerungsstrategien der reformatorischen Bewegung
An je einem Beispiel sollen die Gegensatzpaare Apokalyptik und Säkularisierung erläutert werden. Unter besonders starkem Druck standen vom Ablassstreit an die Leipziger Dominikaner. Ihr Prior Hermann Rab7 gehörte zu den entschiedensten Verteidigern der römischen Kirche gegen die Reformation. Im Ablassstreit hatte er sich schützend vor Johannes Tetzel (1460–1519) gestellt und sich selbst als eifriger Verkünder des Ablasses hervorgetan. In einem Sammelband mit prognostischen und eschatologischen Schriften, den Hermann Rab 1522 für den Leipziger Dominikanerkonvent erwarb, findet sich auch die Schrift von Joseph Grünpeck Spiegel der naturlichen himlischen vnd prophetischen sehungen aller trubsalen angst vnd not von 1522.8 Rab machte in dem Text Anstreichungen und trug Marginalien ein, die deutlich den Eindruck des Bauernkrieges widerspiegeln. Die folgende Textstelle strich Hermann Rab an: […] ist nichts gewissers künfftig/ dann das der wüscht dieser völcker etwann biß in das niderest gedermm der kirchen schleyche/ vnd abschneyde ire nasen/ augen/ vnd oren/ vnd entplösse vnd beraube sie aller irer gülten vnd zinsen/ des gewalts vnd der mechtigkeyt/ nehmen aller zier der kirchen/ kelch vnnd monstrantzen/ wann das Mehre ist verhande/ vber das leichtlich aller vnflat der vnglawbigen (so got verhengen will) in vnser lender kummen mag.
Der beigefügte Holzschnitt, der Türken bei der Zerstörung einer Stadt und dem Töten von Christen zeigt, stellt klar, dass mit den abgebildeten Türken die Völker des Textes gemeint sind. Hermann Rab versah diesen Passus mit einer Marginalie: »Et hec factum est annis 19.20.21.22.23.24.25 post 1500 per hereticos Lutheranos«.9 Die Textstelle »fencknuß vnd todschleg der kauflewt/ zerstörung etlicher furstenthumb/ gemeynden« strich Rab ebenfalls an und notierte am Rand: »vnd das ist geschehen«. Ebenfalls angestrichen wurde der Abschnitt: […] etlich ander trübsalen begegnen/ abgang götlicher gotzforcht/ der gehorsam/ vnd aller geystlichen miltikeyt/ berawbung der kirchen/ verbrennung der geystlichen gütter/ vergiessung des Christlichen bluts/ an den heyligen stetten/ vnd vil ander grosse vngefel/ von des sechsten zamenlauffs wegen Saturni vnd Martis/ der im haus des tods geschehen ist/ als Mars vber den Jupiter vnd Saturnus erhöcht.
An den Rand schrieb Rab: »Ita factum ad litteram anno 1525 per Lutheranos rusticos«.10 Die Prophezeiung hatte sich im »buchstäblichen Sinne« erfüllt.11 7 Vgl. Buchwald, Ablaßpredigten; Springer, Die deutschen Dominikaner. 8 Grünpeck, Spiegel. 9 Ebd., Bl. d4v . 10 Ebd., Bl. d1r . 11 Ebd., Bl. d1v .
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Caspar Borner (1492–1547)12 hingegen ordnete den Konflikt um Johannes Reuchlin (1455–1522) nicht in den antischolastischen Kampf ein, sondern er thematisierte den Humanisten im Kontext der Geschichte der theologischen Diskussionen der Kirche. In einem 1534 von Adolar Baldershayn eingebundenen Sammelband, den Borner in der Schnittbeschriftung unter das Thema »Causae ecclesiarum ante Luterum« stellte, finden sich Texte über mittelalterliche Konzilien, der Brief Bischof Ulrichs von Augsburg (890–973) gegen das Zölibat, Texte zum Verhältnis des Hussitismus zur Reformation, zur Auseinandersetzung um die »Conceptio immaculata«, zur Auseinandersetzung zwischen Johannes Reuchlin und den Dominikanern um die hebräischen Bücher sowie die Bulle Hadrians VI. (um 1120–1159) über die Kanonisation des heiligen Benno von Meißen (1010–1106).13 Borner differenzierte nicht zwischen den Häresien des Mittelalters und den gelehrten Streitigkeiten seiner Zeit. Für ihn handelte es sich um theologische Auseinandersetzungen, egal ob verurteilte Häresien oder umstrittene Fragen wie die Kanonisation Bennos oder die Priesterehe. Durch die Drucke rezipierte Borner die Wittenberger Sicht auf die Häresien und theologischen Auseinandersetzungen vor der Reformation. Für die Reformatoren handelte es sich um ungeklärte Streitfragen oder um ungerechte Verurteilungen. Im Hintergrund stand schon das protestantische Geschichtsbild, das sich voll entwickelt in den evangelischen Märtyrerkatalogen zeigt, die alle von der päpstlichen Kirche verfolgten Häretiker in eine Genealogie der evangelischen Rechtgläubigkeit vor der Reformation einordneten. Caspar Borner historisierte die Reformation als eine theologische Streitfrage in einer Tradition vieler unerledigter Streitfragen. Hermann Rab und Caspar Borner, Zeitgenossen, die beide in Leipzig lebten, Kleriker waren und eine Gelehrtenexistenz führten, interpretierten die Weltwirklichkeit jeweils ganz entgegengesetzt. Spiegelten sie für Hermann Rab den apokalyptischen Kampf des Antichristen gegen die Christenheit wider, so ordnete sich das Geschehen für Caspar Borner in eine historische Reihe 12 Zu Borner siehe: Helbig, Borner; zur Bibliothek Borners mit der Analyse seines Buchbesitzes siehe: Döring, Borner, und Fuchs, Buchdruck. 13 Der Sammelband mit der Grundsignatur UB Leipzig, Kirchg.640, enthält folgende Schriften: 1: ACTA ET DECRETA (VD16 T 1852); 2: GESTA DVORVM CONCILIORVM (VD16 G 1899); 3: Hutten, DE SCHISMATE (VD16 H 6407); 4: Udalricus , EPISTOLA (VD16 U 10); 5: EPISTOLA LIIII (VD16 E 1709); 6: Habes hic Lector (VD16 D 1345); 7: Pico della Mirandola: Opusculum (VD16 P 2656); 8: Wirt, Reuocatio (VD16 W 3619); 9: Reuchlin, Entschuldigung (VD16 R 1306); 10: Reuchlin, Defensio (VD16 R 1245); 11: Reuchlin, ILLVSTRIVM VIRORVM EPISTOLAE (VD16 R 1242); 12: Acta Judiciorum (VD16 A 150); 13: Dragišić, DEFENSIO (VD16 B 1717); 14: Pfefferkorn, STurm (VD16 P 2320); 15: Eyn kurtz vnterricht (VD16 K 2802); 16: Eyn sende brieff (VD16 S 5707); 17: Augusta, Rechẽschafft (VD16 A 4140); 18: Hadrian , BVLLA (VD16 K 318).
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der Auseinandersetzungen innerhalb der Kirche um den wahren Glauben ein. Einer apokalyptischen stand eine säkulare Weltsicht gegenüber, zumindest idealtypisch. Gemeinsam war beiden Autoren, dass sie wiederum die jeweiligen Wissensmodi in die Strukturen der konfessionellen Erinnerungskulturen einbetteten. Letztlich geht es um die Frage nach der wissenssoziologischen Einbettung der Wissensmodi zeitgenössischer Erinnerungskultur. Zwar bildeten sich mit dem Beginn der Reformation konfessionell gebundene Erinnerungskulturen aus, die mit Hilfe verschiedener Wissensmodi oder Erinnerungsstrategien die Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft versöhnten, aber es gab auch gemeinsame Erinnerungsstrategien, die diachron und synchron die Weltdeutungskategorien unabhängig von der konfessionellen Prägung bestimmten. Die Apokalyptik war ein überkonfessionelles Deutungsschema der phänomenologischen Weltwirklichkeit unabhängig vom eigenen Bekenntnis. Sie begegnete bei Ambrosius Blarer genauso wie bei Hermann Rab. Wissenssoziologisch betrachtet ist die Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert: »Wirklichkeit« ist die Qualität von Phänomenen, die ungeachtet unseres Wollens vorhanden sind. Wissen ist die Gewissheit, dass Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben. Dieses Wissen ist der individuellen Erfahrung vorgegeben. Das Wissen ordnet die individuelle Erfahrung in die gesellschaftlich vorgegebene Sinnordnung ein. Die Sinnordnung ist die »relativnatürliche Weltanschauung« einer Gesellschaft, ein Begriff von Max Scheler.14 Diese »relativnatürliche Weltanschauung« des Protestantismus war durch bestimmte Erinnerungsstrategien und wissenssoziologische Operationen ›vorgewusst‹. Sie bildeten Strategien der Weltaneignung und Weltinterpretation, in deren Konventionen der Sprecher sich bewegen musste, wenn er legitim sprechen wollte, zumindest innerhalb der protestantischen Konfessionskultur. Die protestantische Erinnerungskultur fußte auf verschiedenen Erinnerungsstrategien, um den reformatorischen Konflikt in die Weltwirklichkeit zu integrieren. Dabei ist immer zu beachten, dass die christliche Religion eine rückwärtsgewandte Utopie besaß, d. h. dass die Rückkehr zum Ursprung der Re14 Scheler, Wissensformen, 61: »Zur relativ natürlichen Weltanschauung eines Gruppensubjektes (an erster Stelle einer Abstammungseinheit) gehört alles, was generell in dieser Gruppe als fraglos ›gegeben‹ gilt, und jeder Gegenstand und jeder Inhalt des Meinens in den Strukturformen des ohne besondere spontane Akte ›Gegebenen‹, der allgemein für einer Rechtfertigung nicht bedürftig und fähig gehalten und empfunden wird. Aber eben das kann für verschiedene Gruppen, und für dieselben Gruppen in verschiedenen Entwicklungsstadien, Grundverschiedenes sein. Gerade das ist eine der sichersten Einsichten, die uns die Wissenssoziologie der sog. Primitiven, der biomorphen Weltanschauung des Kindes und des gesamten Abendlandes bis zu Beginn der Neuzeit vermittelt«.
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ligionsstiftung, sei es der alte Bund, sei es der neue Bund, Legitimität vom Leser fordern konnte. In dramatischer Zuspitzung konnten zu den Bündnissen Gottes mit einem Auserwählten theoretisch unendlich viele neue Bünde hinzukommen. Die evangelischen Geschichtskonzepte können als »tradierte Geschichte« und als »erzählte Gegengeschichte« bezeichnet werden.15 Die beiden Begriffe definieren zwei sich diametral gegenüberstehende Erinnerungskonzepte: zum einen die Aufnahme und Weitererzählung der römischen Metaerzählungen von der Heiligkeit der Kirche, zum anderen die bewusste Ablehnung der römischen Geschichtstradition und ihre Ersetzung durch eine eigene historische Metaerzählung. Die »tradierte Geschichte«, man könnte sie auch eine Eigengeschichte der römischen Kirche in der evangelischen Bewegung nennen, behandelte in bestimmten Literaturgattungen, insbesondere in den evangelischen Heiligenkalendern, die kirchliche Vergangenheit als eine Geschichte des Aufweises des Wirken Gottes. Das Konzept basierte in vielfältiger Weise auf einer lebensweltlichen Kontinuität zum eigentlich überwundenen römischen Glauben: Die römischen Überreste im Glauben und der Religionsausübung der Menschen des 16. Jahrhunderts, die eigentlich erst mit der theologischen Aufklärung aus den evangelischen Kirchen verschwanden, weisen hier der Interpretin oder dem Interpreten den Weg. Die Reproduktion römischer Kirchlichkeit und Glaubens in der reformatorischen Eigengeschichte basierte auf der Wirksamkeit historischer Identitätsund Sinnstiftung. Im Konzept der römischen Vergangenheit als Teil der evangelischen Eigengeschichte wurden im Sinne einer Exempelgeschichte die personalen Formen von Heiligkeit fortgeführt, indem nach bestimmten Selektionskriterien die Heiligengeschichten umgeschrieben wurden. Die reformatorisch gesinnten Gelehrten entmythologisierten oder rationalisierten ihre Geschichte. Selektion und Entmythologisierung ermöglichten die Rezeption der wichtigsten Heiligengestalten des Mittelalters und ihre Integration in eine Literaturform, die die reformatorischen Konflikte nicht thematisierte, sondern eine heilige Kontinuität von der Zeit der Märtyrer über die Heiligen des Mittelalters bis zu den Vorreformatoren und Reformatoren konstituierte. In der Erinnerungslogik der evangelischen Eigengeschichte wurde der heilige Kanon der römischen Kirche mit Hilfe bestimmter Selektionsprozesse als Vorgeschichte der evangelischen Bewegung interpretiert, die evangelische Bewegung gleichsam als logische Konsequenz der Geschichte der Kirche. Dieser Denkstil begegnet in der Religionsgeschichte in vielfältiger Weise, am eindringlichsten 15 Das Konzept von »tradierter Geschichte« und »erzählter Gegengeschichte« ist entwickelt in: Fuchs, Reformation als Erinnerungsrevolution.
Erinnerungsstrategien der reformatorischen Bewegung
vielleicht im Koran, wo die Geschichte der jüdischen und christlichen Religionen in ein Konzept der Eigengeschichte integriert wurde. Wir können deshalb bei dem Denkstil der »tradierten Geschichte« formal von einer Wissenstechnik der »Traditionsexegese« sprechen. Diametral entgegen stand das historische Konzept der evangelischen Martyriologie, das als »erzählte Gegengeschichte« bezeichnet werden kann. Diskursgeschichtlich gesprochen, gelang der evangelischen Martyriologie der Sprung von der Theorie als einer unter anderen möglichen historischen Konzeptionen zum Traditionskanon, bevor dieser in der Aufklärung angegriffen und seine Legitimität strukturell in Frage gestellt wurde. Die Totalablehnung der römischen Geschichte machte die Neuformulierung einer historischen, in den Kategorien des 16. Jahrhunderts religiösen Metaerzählung notwendig. Das Konzept der »erzählten Gegengeschichte« basierte auf einem wesentlichen Grundgedanken: Die römische Kirche ist eine Kirche der Abweichung vom wahren Glauben. Der wahre Glaube ging aber niemals verloren, sondern wurde immer wieder von Gotteszeugen aufrechterhalten. Diese Gotteszeugen wurden von der römischen Kirche verfolgt. Die »erzählte Gegengeschichte« der evangelischen Bewegung war also eine Verfolgungsgeschichte. Die Verfallslogik der evangelischen Martyriologie und das dialektische Geschichtsbild von Glaubensabfall und Glaubensannahme wurden von Melanchthon für die evangelische Bewegung über die innerprotestantischen Konfessionsgrenzen hinweg in ein konzises Geschichtsbild gegossen. In Analogie zu den vier Weltreichen der Danielsprophezeiung entwarf Melanchthon ein grandioses Geschichtsgemälde des göttlichen Handelns mit den Menschen.16 Er unterteilte die Geschichte der Menschen in die Geschichte des Alten und des Neuen Bundes. Die Geschichte des neuen Bundes wiederum unterteilte er in fünf Perioden: 1. Die Zeit der Apostel selbst, das »reine« Zeitalter. Dazu gehörten auch ihre Schüler, die die Lehre noch nicht mit platonischen Theorien und Aberglauben verwässerten. 2. Das zweite Zeitalter ist das des Origenes. »In ihm wurde die Glaubenslehre bereits verfinstert, und platonische Philosophie wie Aberglaube beherrschten die Kirche. Den Samen des wahren Glaubens hat Gott in einigen Gegenden aber immer wieder bewahrt.« 3. Das Zeitalter des Augustinus, in der die Kirche gereinigt wurde, »indem die Studien der Menschen wieder zu den Quellen gerufen wurden«. 4. das vierte Zeitalter der Mönche, »in dem die Finsternis wieder wuchs«. Und jetzt die entscheidende Stelle: »Und trotzdem bewahrte Gott, wie schon 16 Melanchthon, Deklamation, Bd. 2, 189–196, hier 192f im Folgenden.
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gesagt, auch damals den Samen der reinen Lehre bei einigen Menschen, obwohl offensichtlich der größere Teil der Kirche in Finsternis versunken war, das Dunkel zu vertreiben, indem er das Licht des Evangeliums durch Luther wieder entzündet«. 5. Das ist das fünfte Zeitalter. »Bedenkt eifrig, welches Gut euch durch Propheten, Apostel und schließlich auch durch Luther anvertraut wurde«. Das gegen die evangelische Traditionsexegese gerichtete Konzept, dass nicht die Mehrheit der Kirche dem wahren Glauben gefolgt sei, sondern die Minderheit, wurde durch seine eschatologische Aufladung auf eine höhere Ebene gehoben. Die wenigen Rechtgläubigen konnten leicht in den von der Kirche Verfolgten gefunden werden.17 Die »erzählte Geschichte« der evangelischen Märtyrertradition diente wiederum als Anknüpfungspunkt für eine eigene Tradition. Spätestens nach Luthers Tod, als der apostolische Aufbruch der ersten Reformatorengeneration historisiert werden musste, verlangte das Legitimitätsprinzip der vormodernen Gesellschaft eine Verortung der Reformation im Strom der Zeit. Bildeten die beiden hier genannten Erinnerungsstrategien die wissenssoziologischen Grundlagen der protestantischen Erinnerungskultur, so konnte diese auf der wissenstechnischen Grundlage von einer »allegorischen« Geschichtsinterpretation aufgeladen werden. Martin Luther schrieb in der Einleitung zur Übersetzung der Johannesoffenbarung: Weil wir aber dennoch gerne die deutung odder auslegunge gewis hetten, wollen wir den andern vnd hohern geistern, vrsachen nach zudencken geben, vnd vnsere gedancken auch an tag geben, Nemlich also, Weil es sol eine offenbarung sein künfftiger geschicht, vnd sonderlich, künfftiger trübsalen vnd vnfal der Christenheit, Achten wir, das solt der neheste vnd gewisseste griff sein die auslegung zufinden, so man die ergangen geschicht vnd vnfelle Jnn der Christenheit bis her ergangen, aus den Historien neme, vnd dieselbigen gegen diese bilde hielte, vnd also auff die wort vergliche. Wo sichs als denn sein würde miteinander reimen vnd eintreffen, so kündte man drauff fussen, als, auff eine gewisse, oder zum wenigsten, als auff eine vnverwerffliche auslegung.18
Die Spiegelung oder Analogiesetzung in der Weltinterpretation wurde von Foucault als der prägende Denkstil der Epoche von Renaissance und Reformation identifiziert.19 Er beschrieb die Wissensgeschichte von ungefähr 1500 bis ungefähr 1650 als Episteme der Ähnlichkeit, in der die Weltwirklichkeit als eine sich gegenseitig spiegelnde Ordnung beschrieben wurde, oder, mit den 17 Zu den lutherischen Martyriologien siehe: Fuchs, Reformation, Tradition und Geschichte; Pohlig, Gelehrsamkeit, 294–370. 18 WADB 7, 408,20–30. 19 Vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge.
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obigen Worten Luthers, die Geschichte der Menschen wie ein Spiegel gegen die apokalyptischen Visionen der Johannesoffenbarung betrachtet werden konnte. In diesem Sinne spiegelte sich der Himmel in der Welt, der Mensch in Gott und die göttliche Weisheit im menschlichen Verstand. Gegenständlich wurde diese Vorstellung in Michelangelos Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle. Weltinterpretation war in gewisser Weise Ähnlichkeitsfindung. Deshalb konnten die Zeitgenossen in den unterschiedlichsten Dingen sowie ihren sprachlichen Entsprechungen Analogien finden. Die Aussagen der bezeichneten Dinge verwiesen auf einen Denkraum hinter den Dingen. In diesem Sinne konnten in Tieren Zeichen für Menschen gefunden werden, beispielsweise im berühmten Mönchskalb20 , aber auch in den apokalyptischen Figuren konnten Zeichen gefunden werden, die auf die Menschen und ihre Lebenswelt hin gedeutet werden konnten wie die babylonische Hure, die von Lucas Cranach (1472–1553) mit der Tiara dargestellt wurde.21 Johann Funck (1518–1566) sprach davon, dass der Papst den Antichristen »figurirt«.22 Die Begriffe sind Figuren für Dinge in der Menschenwelt. Innerhalb der »Episteme« der Ähnlichkeit konnten die Zeichen der Zeit als Figurationen des apokalyptischen Weltendes gelesen werden, die wiederum einen eschatologischen Denkstil zur Weltinterpretation und Kontingenzbewältigung begründeten. In den Krisensituationen des 16. Jahrhunderts bildete dieser Denkstil eine diskursive Ordnung im Sinne Foucaults. Der apokalyptische Denkstil war »Kontingenzbewältigungspraxis«.23 Entsprechend eindringlich wird in der reformationsgeschichtlichen Forschung der eschatologische Grundcharakter der diskursiven Ordnung der Reformationszeit betont. Thomas Kaufmann charakterisierte die Apokalyptik als »kulturellen Code«, der eschatologische Deutungsmuster aktualisierte. Matthias Pohlig wies darauf hin, dass die »lutherische Konfessionskultur […] in hohem Maße von apokalyptischem Gedankengut durchdrungen« gewesen sei,24 und Markus Sandl sieht in der apokalyptischen Sprache die narrative Grundstruktur der Reformation.25 Luther selbst hatte das Renaissancedenken auf das apokalyptische Sprachspiel angewandt und damit eine »Episteme« im Foucault’schen Sinne hervorgebracht. Episteme meint das historische Apriori, welches das Wissen und dessen Diskurse begründet. Es repräsentiert dadurch die Bedingung der Möglichkeit von 20 Vgl. Melanchthon, Deuttung. Zu dem Mönchskalb siehe jetzt: Schäfer/Eydinger/Rekow, Fliegende Blätter, Bd. 1, Nr. 239, 166. 21 Die berühmte Illustration für das Septembertestament: Luther, Das Newe Testament Deůtzsch, 1522. 22 Funck, APOCALYPSIS. 23 Lübbe, Religion nach der Aufklärung. 24 Pohlig, Exegese, 289. 25 Vgl. Sandl, Medialität und Ereignis.
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Wissen innerhalb einer bestimmten Epoche. Die Episteme Foucaults findet ihre Entsprechung in den Paradigmen Thomas Kuhns.26 Mag auch die reformatorische Erkenntnis das revolutionäre theologische Ereignis des 16. Jahrhunderts gewesen sein, wissenssoziologisch war es die Entdeckung des Papstes als Antichrist. Mit dieser Entdeckung hatte Luther ein Epistem, ein Sprachspiel oder ein Paradigma entwickelt, hinter das protestantische Sprecher nicht zurückkonnten, sollte ihr Sprechen im protestantischen Kontext als legitim erachtet werden. Mit der Entdeckung des Antichristen gelangte Luther zu der sich im Laufe seines Lebens steigernden Überzeugung, in der letzten Zeit der Geschichte zu leben. In diesem Kontext wurde die Dauer der Geschichte von ihm nach Melanchthons Überarbeitung des Chronicon Carionis auf 6.000 Jahre bestimmt: 2.000 Jahre auf die Zeit von Adam bis Abraham, 2.000 Jahre von Abraham bis Pfingsten und 2.000 Jahre von Pfingsten bis zur Parusie Christi.27 Die letzte Epoche wiederum wurde zerlegt in die Zeiten der Urkirche, des einsetzenden Abfalls, des Aufstiegs und der Herrschaft des Antichrist und seiner Aufdeckung und beginnenden Vernichtung durch das Evangelium. Der endgültige Sieg sollte bei der Wiederkunft Christi errungen werden. Damit hatte Luther die Auslegung der Johannesoffenbarung definiert. Vor diesem Hintergrund sollen die Apokalypsekommentare von Michael Stifel (1487–1567) und Johann Funck betrachtet werden. Michael Stifel und Johann Funck Michael Stifel trat 1511 in das Augustinerkloster Esslingen ein.28 Nach seinem Übergang zur Reformation brachte ihn Martin Luther als Prediger in der Grafschaft Mansfeld unter. Nach verschiedenen Stationen kam er als Pfarrer nach Lochau. Aufgrund mathematischer Berechnungen kam er zu der Erkenntnis, dass die Welt am 19. Oktober 1533 um 8 Uhr morgens untergehen werde. Nach dem Ausbleiben des Weltuntergangs wandte er sich reuig an Luther, der ihn in Holzdorf, heute ein Ortsteil von Jessen, als Pfarrer unterbrachte, wo er 1535 bis 1547 tätig war. Im Schmalkaldischen Krieg verjagt, ging er nach Haberstrohm bei Königsberg in Preußen, kehrte aber 1554 zurück. Jetzt hielt er zu Matthias Flacius. Von 1554/55 bis 1559 war er in Brück als Pfarrer eingesetzt und ging 1559 nach Jena, wo er der erste Professor für Mathematik an der Universität wurde. Als die Anhänger von Flacius in Jena gestürzt wurden, hielt 26 Vgl. Kuhn, Struktur. 27 Vgl. Gemeinhardt, Chronicon Carionis. 28 Vgl. Jentsch, Stifel; Westphal, Die Reformation als Apokalypse.
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ihn Nikolaus Selnecker (1530–1592) in seinem Amt. In der Jenaer Zeit muss der Apokalypsekommentar entstanden sein, in dessen Besitz Nikolaus Selnecker nach dem Tode Stifels gelangte und den er 1580 der Kirchenbibliothek von St. Thomas in Leipzig schenkte.29 Weniger Glück im Unglück hatte Johann Funck, der ebenfalls in die innerprotestantischen Konflikte der Jahrhundertmitte verstrickt war.30 Der aus Franken stammende Funck studierte seit dem Wintersemester 1536/37 an der Universität Wittenberg. Seit 1541 arbeitete er in verschiedenen Pfarreien als Diakon, bevor er 1543 als Pfarrer in seinen Heimatort Wöhrd zurückkehrte, wo er seine Chronologia publizierte, eines der einflussreichsten protestantischen Geschichtswerke.31 1547 ging er nach Königsberg, wo er 1549 zum Hofprediger berufen wurde. Er wandte sich dem Osiandrismus zu und heiratete eine Tochter von Andreas Osiander (1498–1552). 1556 musste er widerrufen. In den 1560er Jahren geriet Funck in die Auseinandersetzungen der Landstände mit Herzog Albrecht und wurde nach einer Verurteilung durch eine polnische Kommission wegen Hochverrats am 28. Oktober 1566 auf dem Markt von Kneiphof hingerichtet. Michael Stifel und Johann Funck32 nahmen in ihren Apokalypsekommentaren das Epistem Luthers vom Geschichtsverlauf auf. So unterschiedlich die Biographien dieser beiden Reformatoren waren und so unterschiedliche Konsequenzen sie aus der eschatologischen Naherwartung der Reformationszeit zogen, so zeigen aber ihrer beider Bemühungen um das Verständnis der Johannesoffenbarung die Wirkmächtigkeit des Epistems Luthers. In beiden Biographien spielten apokalyptische Fragen eine zentrale Rolle. Stifel ging so weit, das konkrete Weltende vorherzusagen, während Funck als zentrale Figur in den osiandrischen Auseinandersetzungen spätestens in den frühen 1550er Jahren mit apokalyptischen Motiven konfrontiert wurde. Seine Gegner hielten Osiander für den Antichristen, während Herzog Albrecht diesen in den Gegnern Osianders erblickte.33 Und obwohl beide unter unterschiedlichen Vorzeichen zum Apokalypsekommentar gelangten, Stifel von den mathematischen Berechnungen und Funck von seiner Geschichtsschreibung her, kamen sie zu übereinstimmenden Schlüssen. Beide folgten den Vorgaben Luthers aus den Bibelvorreden, und an keiner Stelle schlugen die apokalyptischen Tagesfragen 29 UB Leipzig, Ms Thomas 873:1–2: Stifel, Explicatio apocalypseos; Katalogisat der Handschrift in: Fuchs, Die neuzeitlichen Handschriften, 478–479. Zur Kirchenbibliothek von St. Thomas in Leipzig siehe: Fuchs, Die Bibliothek der Thomaskirche, sowie den Ausstellungskatalog: Fuchs/Mackert, 3 x Thomas. 30 Bautz, Funck; Lorz, Funk. 31 Funck, CHRONOLOGIA. 32 Funck, APOCALYPSIS. 33 Vgl. Richardsen, Antichrist-Polemik.
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durch. Trotz ihrer »apokalyptischen Erfahrungen« hatten sich beide Autoren nicht in den apokalyptischen Heilsplan eingeordnet, sondern den eigenen Geschichtsverlauf nicht mehr mit der Offenbarung parallelisiert oder, wie es Funck nannte, »figuriert«. Für den eigenen Geschichtshorizont hatte die Apokalypse keinen Aussagewert mehr. In beiden Kommentaren wurde die chiliastische Herausforderung mit ihrem Glauben an die Wiederkunft Jesu Christi und das Aufrichten seines tausend Jahre währenden Reiches dahingehend entschärft, dass das Ende des Papsttums und die Aufrichtung des tausendjährigen Reiches in ihrer eigenen Lebenszeit verortet wurde. Damit wurde die Wiederkunft Christi in eine genealogisch nicht mehr überschaubare Zukunft verschoben und die Naherwartung entkonkretisiert. In den 1.000 Jahren der Herrschaft des Satans ist die Verführung der Heiden das herausgehobene Zeichen. In diese Funktion traten die Türken ein, auch damit wurde die Naherwartung entkonkretisiert. Interessanterweise wurden der Islam und die Türken als die verführten Heiden bezeichnet, obwohl in der Confessio Augustana der Islam als christologische Ketzerei interpretiert wurde,34 ein Widerspruch, der an keiner Stelle problematisiert wurde – ein deutliches Zeichen für die Topologisierung des heilsgeschichtlichen Schemas. Das durch Luther geschaffene oder besser gesagt kanonisierte apokalyptische Epistem der Apokalypseexegese konnte zum einen heilsgeschichtlich relevante Aussagen formulieren, zum anderen wurde aber das konkrete Ende des Geschichtsverlaufs entkonkretisiert, d. h. historisiert. Der reformatorische Konflikt, sein Gewordensein wie auch seine Stellung innerhalb des Heilsplanes Gottes konnten damit erklärt werden, ohne in den konkreten chiliastischen Geschichtsverlauf eingebunden werden zu müssen. Eine solches Entkonkretisierungsepistem begegnet auch, nur nebenbei gesagt, im nachmünsterschen Täufertum unter Menno Simons (1496–1561). Mit der Verstetigung der Reformation und der evangelischen Kirchenbildung, dem Ausbleiben des Endkampfes und der institutionellen Verfestigung der Kirchenspaltung setzte ein Säkularisierungsprozess ein, der die Reformation historisch zu verorten begann. Die Apokalyptik wurde ihrer Unmittelbarkeit beraubt, wie wir sie bei Thomas Müntzer (1489–1525) oder dem jungen Michael Stifel beobachten können. Mit der Antichrist-Figur wurde die Apokalypseexegese in die martyriologische Gegengeschichte35 eingeordnet. Die Apokalypse bot einen 34 Vgl. CA Art. 1, in: BSLK12 , 51. 35 Bezeichnenderweise gibt diesen Paradigmenwechsel eine Abschrift des Apokalypsekommentars von Funck im Titel wieder, die um 1550/1560 geschrieben wurde: UB Leipzig, Ms 2033: »Was widerwertigkait vnnd verfolgung die heilig Christlich Kirche nach verkündigung der heiligen Göttlichen Geschrifft lanng zuuor geschehen von der Apostel Zeit her in gemain erlitten habe vnnd was noch für widerwertigkait derselbigen zukünfftig zuwarten sein aus den heiligen propheten vnd fürnemlich aus S. Johannis Offenbarung mit grosser mühe vnnd vleis
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Möglichkeitsraum der Integration der Reformation in den Geschichtsverlauf. Das war die große Leistung des lutherischen Epistems der Apokalypseexegese. In Geschichtswerken, in der protestantischen Martyriologie ebenso wie in den evangelischen Heiligenkalendern, wurde die metaphysische Überhöhung des apokalyptischen Sprachspiels von Luther auf die Erde des menschlichen Sprechens zurückgeholt. Literatur Quellen ACTA ET || DECRETA CONCILII TRI-||buriensis, ex bibliotheca Brixinensi,|| in uetustissimo Codice, nuper || deprompta, ac fideliter || excripta.|| Hoc Concilium à.xxij.Germanorũ || Episcopis ante annos.D.CXXX.|| est Triburiae prope Moguntia-||cum celebratum, Mainz: Johann Schöffer, 1525 (VD16 T 1852). Acta Judiciorum inter || F. Iacobum Hochstraten Inquisito||rem Coloniensium & Iohan||nem Reuchlin. LL. Doc.|| ex Registro publico,|| autentico & sigil||lato, Hagenau: Thomas Anshelm, 1518 (VD16 A 150). Augusta, Jan, Rechẽschafft des glau||bens: der dienst vnd || Ceremonien/ der Bruder jn || Behemen vnd Mehrern/|| welche von etlichen Pickar=||ten/ vnd von etlichen || Waldenser genant || werden.|| Sampt einer n[ue]tzlichen Vorrhede || Doct. Mart. Luth., Wittenberg: Hans Lufft, 1533 (VD16 A 4140). Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche: herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, 12. Aufl., Göttingen 1998 (= BSLK12 ). Dragišić, Juraj, DEFENSIO PRAE||stãtissimi viri Ioannis Reuchlin || LL. Doctoris, a Reuerendo pa||tre Georgio Benigno Nazare-||no archiepo Romae per modum || dialogi edita, Köln: Eucharius Cervicornus, 1517 (VD16 B 1717). EPISTO||LA LIIII. NOBILIVM || Morauiae, pro defensione || IOHANNIS HVSSI,|| ad concilium Constantiense,|| commendata literis adu||lescentis cuiusdam,|| argumenti uice || appositis, Basel: Andreas Cratander, 1524 (VD16 E 1709). Eyn kurtz vnterricht von || dem vrsprunck der Bru-||der yn Behmen/ vnd desselben vrsa=||ch/ Daryn sie auch beweysen das sie || nicht aus der zusamen getragen vnnd declariret durch Johann Funcken, auch findestu Christlicher Leser in diesem Buch Auslegung der schwersten vnnd finstersten Propheteyen die ihn Propheten Etzechiel, Daniel vnnd anderen bißher von wenigen sindt verstanden worden. Das Gericht wirdt gehaltten vnd die Bücher sind auffgethan. Dan 7,[10]. Die Gottlosen werdens nicht achten, aber die verstendigen werdens achten. Dan [12,10]«; vgl. dazu: Fuchs, Die neuzeitlichen Handschriften, 20f.
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Waldenser oder Pickar||ten rotten kommen/ wie sie danne aus || neyt ... || mit derer || namen fel=||schlich || bekleydet ge||west. Gesant || auff den lant tag||ken Pra=||ga, Zwickau: Johann Schönsperger d. J., 1525 (VD16 K 2802). Eyn sende brieff || der bruder aus Behem die || mann bis hieher Pickarten vnnd || Waldenser genant an den gros me=||chtigen herrn herrn Luwig Vnge=||rischen vnde Behemischen || K[oe]nig gesant ym iar.|| 1525.|| Verdolmetzt vom Behmischen || yns Deutzsche.|| Durch Johannem || Zeysinck, Zwickau: Johann Schönsperger d. J., 1525 (VD16 S 5707). Funck, Johann, APOCALYPSIS. Der Offenbarung/ K[ue]nfftiger geschicht Johannis/ Von widerwertigkeit vnd verfolgung der waren Christlichen Kirchen/ sind der Apostel zeit/ bis an der welt ende/ Auslegung. Darin die Bilder vnd Figuren/ nach dem radt vnd anleitung Doctor Marthini Lutheri/ […] erkleret sindt. Jtem Etliche F[ue]rnemste vnd Schwereste ortt aus dem Ezechiele/ Daniele/ vnd anderen/ ausgeleget. Jtem Von den zeychen des J[ue]ngsten tages, s.l., 1558 (VD16 E 1248). –, CHRONOLOGIA HOC EST. OMNIVM TEMPORVM ET ANNORVM AB INITIO MVNDI VSQVE AD RESVRRECTIONEM DOMINI NOSTRI IESV CHRISTI, computatio. […] ITEM COMMENTARIORVM Liber unus, Nürnberg: Georg Wachter/Cyriacus Jakob 1545 (VD16 F 3381; weitere Ausgaben: VD16 F 3382–3385, VD16 ZV 23202). GESTA DVO-||RVM CONCILIORVM, QVAE IN=||TER RELIQVA MINVS REPERIVNTVR,|| nempe Magunciaci, quod celebratum est, Anno salu||tis DCCCXXXIII, V Idus Iunij: & Vuormacien||sis, XVII calendas Iunij. Praetereà capita non || pauca synodorum, Antiocheni, Cartha-||giniensis, Calcedoniensis, at[que] ex decre||tali Papae Gelasii, hactenus non-||dum in lucem aedita, Basel: Heinrich Petri, 1532 (VD16 G 1899). Grünpeck, Joseph, Spiegel der naturlichen himlischen vnd prophetischen sehungen aller trubsalen/ angst/ vñ not/ die vber alle stende/ geschlechte/ vnd gemaynden der Christenheyt/ sunderbar so dem Krebsen vñ Scorpion auß naturlichẽ einfluß des himels vnderworffen sein/ vñ in dem sibenden Clima od[er] circkel begriffenn/ in kurtzen tagen geen werdenn, Leipzig: Wolfgang Stöckel, 1522 (VD16 G 3645), Exemplar der UB Leipzig, Libri.sep.4405-c/5. Habes hic Lector,|| Dialogũ de Fratre Hieronymo Nicolai Sauono/||rola Ferrariensi, ordinis predicatorũ, Floren.|| laqueo suspenso, igne at[que] aqua con/|| sumpto.|| Epistolam Ioachimi Turrani, Veneti eiusdẽ ordi/||nis mgri gñalis/ & Francisci Ramalicii I.V. doct.|| Hispani, ad Alex: VI. de Hiero: & Syluestro || Floren: & Dominico de Pisia coplicib[us] || damnatis.|| Epistolam Alexandri Papę approbatis conciones || in Hiero: factas, lepore refertam, Wittenberg: Johannes Rhau-Grunenberg, 1521 (VD16 D 1345). Hadrian , BVLLA SANCT||ISSIMI DOMINI DOMINI ADRIANI SEXTI: Põ||tificis maximi: super Canonisatione sancti patris
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Benno=||nis: sancte & ingenue ecclesie Misnensis: quondam presu=||lis: in ordine decimi.|| Adiuncta noua hystoria de eiusdem festo per chorum || & diocesim Misnensem seruanda, Leipzig: Jakob Thanner, 1523 (VD16 K 318). Hutten, Ulrich, DE SCHISMATE || EXTINGVENDO, ET VERA ECCLE||SIASTICA LIBERTATE ADSE||RENDA EPISTOLAE ALI||QVOT MIRVM IN MO||DVM LIBERAE, ET || VERITATIS || STVDIO || STRE||NVAE, Mainz: Johann Schöffer, 1520 (VD16 H 6407) Luther, Martin, Das Newe Testament Deůtzsch, Wittenberg: Lukas Cranach d.Ä./Christian Döring/Melchior Lotter d.J., 1522 (VD16 B 4318). Melanchthon, Philipp, Deuttung der czwo grewlichen Figuren Bapstesels czu Rom vnd Munchkalbs czu Freyberg ynn Meysßen funden, Breslau 1523 (VD16 M 2983). −, Deklamation über Luther und die Zeitalter der Kirche. Declamatio de Luthero et aetatibus ecclesiae, 1548, in: Michael Beyer/Stefan Rhein/Günther Wartenberg (Hg.), Melanchthon deutsch, Bd. 2, Leipzig 1997, 189–196. Pezel, Christoph, Christliche Erjnnerung an die || Prediger zu Hamburg/|| Von wegen der vor=||meinten FORM DES GEBETS so || sie jn jhren Kirchen abzulesen gestellet/ vnd jn || offentlichen druck gegeben/|| Darjnnen sie/|| Vnder dem verhaßtem Nhamen der CALVI=||NISTEN, Rechtgleubige Euangelische Lehrer ... || PAPISTEN || vnd VVIDERTEVFFERN gleich zusetzen/|| Vnd wieder sie zubeten sich || vnderstehen:|| ... Jm Nahmen ... aller Euangelischen Reformirtẽ || Kirchen: Jnn Druck verfertiget, Bremen: Bernhard Peters, 1590 (VD16 C 2320). Pfefferkorn, Johann, STurm Johã=||sen Pferfferkorn vber vnd wi=||der die drulosen Juden. anfechter des leichnams Christi.|| vnd seiner glidmossen. Sturm vber eynen alten sunder || Johann Reuchlin. zuneiger der falschen Juden.vnd we/||sens. vff warer thatt begriffen. in seinem biechlin Augen=||spiegell, Köln: Heinrich Quentel (Erben), 1514 (VD16 P 2320). Pico della Mirandola, Giovanni Francesco, Opuscu=||lum de sententia excõmu=||nicationis iniusta, pro || Hieronymi Sauona||rolae viri prophe||tae innocẽtia, Wittenberg: Melchior Lotter d. J., 1521 (VD16 P 2656). Reuchlin, Johannes, Defensio Joannis Reuchlin || PHORCENSIS LL. DOCTORIS || CONTRA CALVMNIATO||RES SVOS COLO||NIENSES, Tübingen: Thomas Anshelm, 1514 (VD16 R 1245). –, Doctor Johannsen Reuchlins || der K.M. als Ertzhertzogen zů Osterreich auch Chur||fürsten vnd fürsten gemainen bundtrichters inn || Schwaben warhafftige entschuldigung || gegen vnd wider ains getaufften iuden || genant Pfefferkorn vormals ge||truckt vßgangen vnwarhaf||tigs schmachbüchlin || Augenspiegel, Tübingen: Thomas Anshelm, 1511 (VD16 R 1306). –, ILLVSTRIVM || VIRORVM EPISTO||LAE, HEBRAICAE, GRAE||CAE ET LATINAE, AD || Ioannem Reuchlin Phorcensem || virum ... doctissimum
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|| diuersis temporibus missae, qui||bus iam pridem additus est || LIBER SECVNDVS || nunquàm antea editus, Hagenau: Thomas Anshelm, 1519 (VD16 R 1242). Stifel, Michael, Explicatio apocalypseos, UB Leipzig, Ms Thomas 873:1–2. Katalogisat der Handschrift in: Thomas Fuchs (Bearb.), Die neuzeitlichen Handschriften der Signaturgruppe Ms 2000 (Ms 2001 – Ms 2999) sowie kleinere Bestände (Cod. Haen., Ms Apel, Ms Gabelentz, Ms Nicolai, Ms Thomas), Wiesbaden 2011, 478−479. Udalricus , EPISTOLA || DIVI HVLDERICHI AVGVSTENSIS || EPISCOPI,ADVERSVS CON||STITVTIONEM DE CLERI || COELIBATV, PLANE || REFERENS APOS||TOLICVM SPI||RITVM, Wittenberg: Melchior Lotter d. J., 1520 (VD16 U 10). Voit, David, PROPOSITIONES || REPETENTES || PRAECIPVA CAPITA DO=||CTRINAE ECCLESI=||asticae, de quibus || Praesidente DAVIDE VOITO D.|| Pro licentia accipiendi gradum Doctorum in || Theologia ... Respondebunt Re=||uerendi viri || M. IOANNES STREITPERGERVS Curio Variscus ... || M. MARTINVS MIRVS VVeidensis ... || M. IOANNES AVENARIVS Egranus ... || Die XXIX. Ianuarij, Jena : Donat Richtzenhan, 1574 (VD16 ZV 24127). Von der Person vñ || Menschwerdung vnsers HErrn || Jhesu Christi/|| Der waren Christlichen || Kirchen || Grundfest/|| Wider die newen Marcioniten/ Sa=||mosatener/ Sabellianer/ Arrianer/ Nesto=||rianer/ Eutychianer vnd Monotheleten.|| Vnter dem Flacianischen hauffen.|| Durch die Theologen zu Wittemberg/ aus der hei=||ligen Schrifft ... || Widerholet vnd Gestellet/ zu trewer lehr ... || Neben warhaffter vorantwortung/ auff die gifftigen || ... verleumbdungen so von den Propositioni=||bus vnd Catechiemo zu Wittemberg ausgangen/|| ... ||, Wittenberg: Johann Schwertel, 1571 (VD16 W 3770). Wirt, Wigand, Reuocatio Fratris Vuygãdi || Vuirt ordinis.S.Dominici Rome & || Heydelberge facta.|| Ad gloriam beatae Mariae virginis.|| Ad laudem Subtilissimi Io.Scoti & || & omnium Theologorum || Neotericorum, Straßburg: Johann Prüß d. J., 1513 (VD16 W 3619). Forschungsliteratur Bautz, Friedrich Wilhelm, Art. Funck, Johann, BBKL 2, 1990, 154f. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 25 1980. Brieler, Ulrich, Die Unerbittlichkeit der Historizität: Foucault als Historiker, Köln u. a. 1998. Buchwald, Georg, Die Ablaßpredigten des Leipziger Dominikaners Hermann Rab 1504−1521, ARG 22, 1925, 129−152.161−191.
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Thomas Fuchs
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Erinnerungsagentur Eigengeschichtsschreibung und konfessionelle Gedenkkultur im lutherischen Pfarrhaus (1550–1850)
Spätestens seit dem 19. Jahrhundert war die These von der kulturellen Prägekraft des evangelischen Pfarrhauses zu einem zentralen Topos protestantischer Selbstbeschreibung geworden.1 Die Überblendung von Ideal und Wirklichkeit hatte das Pfarrhaus dabei über Jahrhunderte hinweg nicht allein im Bereich von Literatur und Kunst, sondern auch in der Sozial- und Kulturgeschichtsschreibung zu einem Mythos werden lassen.2 Den Formaten des Gedenkens und den Selbstbeschreibungen des evangelischen Pfarrhauses zwischen Idealisierung und Realität soll im Folgenden im Kontext der Herausbildung und Etablierung einer konfessionsspezifischen Fest- und Erinnerungskultur nachgegangen werden.3 Mit Skepsis gegenüber der normativ verstandenen Eigengeschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts,4 interessierte sich seit den 1960erJahren eine Reihe sozialhistorisch orientierter Arbeiten für die Erstellung eines umfassenden Sozialprofils der lutherischen Geistlichkeit. Die Arbeiten hinterfragten die gesellschaftliche Herkunft und die wirtschaftlichen Verhältnisse der Pfarrfamilien und berücksichtigten auch Fragen der Bildung und des Sozialprestiges.5 Entscheidende neuere Untersuchungen stammen u. a. von Luise Schorn-Schütte. Anhand des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Landgrafschaft Hessen-Kassel und der Stadt Braunschweig erhob und interpretierte sie seit Mitte der 1990er-Jahre Daten zur sozialen und materiellen Situation, zu Bildungsstand und Selbstbild von Pfarrern des 16. bis 18. Jahrhunderts.6 1 Vgl. Kolde, Martin Luther, 38. 2 Vgl. Steck, Pfarrhaus, 1228f. 3 Der vorliegende Beitrag referiert grundlegende Gedanken und Ergebnisse des 2011 abgeschlossenen Dissertationsprojektes: Stefan Dornheim, Der Pfarrer als Arbeiter am Gedächtnis. Lutherische Erinnerungskultur in der Frühen Neuzeit zwischen Religion und sozialer Kohäsion, Leipzig 2013; Zur Thematik des Beitrages vgl. zudem ausführlicher: Dornheim, Glauben und Erinnern, 55–70. 4 Beispielsweise: Baur, Pfarrhaus; Angermann, Männer; Werdermann, Pfarrer; Drews, Geistliche. 5 Brecht, Herkunft und Ausbildung, 163–175; Klaus, Soziale Herkunft, 22–49; Weyrauch, Sozialprofil, 291–312; Greiffenhagen, Pfarrhaus. 6 Schorn-Schütte, Evangelische Geistlichkeit; Dies., ›Amt‹ und ›Beruf‹, 1–35.
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Ähnliches leistete Oliver Janz für Preußen mit Blick auf das 19. Jahrhundert, während Wolfgang Weber 2017 eine kulturgeschichtlich perspektivierte Arbeit zur evangelischen Geistlichkeit des in der Forschung bislang oft vernachlässigten 17. Jahrhunderts vorlegte.7 Württemberg ist bisher durch eine vielfältige, stark sozialgeschichtlich orientierte Pfarrhausforschung charakterisiert, für welche pars pro toto auf Sabine Holtz und Johannes Wahl verwiesen werden kann,8 während für Sachsen als Kernland der Reformation wie für Mitteldeutschland insgesamt nach wie vor ein deutlicher Forschungsbedarf besteht.9 1.
Pfarrhaus und Pfarrfamilie
Nach anhaltenden Auseinandersetzungen, insbesondere mit dem sich Ende des 16. Jahrhunderts etablierenden Reformkatholizismus, um das richtige Pfarrerverständnis und die damit verbundenen konfessionsspezifischen Soziallehren,10 hatte die evangelische Pfarrerschaft in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ihren festen politischen und sozialen Ort gefunden.11 Die Entstehung der evangelischen Geistlichkeit und die Entfaltung einer legitimen Familienkultur im Pfarrhaus bedeuteten letztlich die Entstehung einer neuen gesellschaftlichen Gruppe. Dabei handelt es sich um eine der sozialhistorisch wichtigsten Folgen der Reformation, die sich seit Mitte des 16. Jahrhunderts auch kulturell auswirken sollte. Auch nach der notwendigen Relativierung der teilweise idealisierten Befunde der Pfarrhausforschung des 19. Jahrhunderts, welche die jüngeren Arbeiten zu Recht einforderten, zeigt sich für das 17. und 18. Jahrhundert das Phänomen der Selbstrekrutierung der neuen sozialen Gruppe aus dem Pfarrhaus besonders stark ausgebildet. Blickt man auf die Entwicklung des Sozialprofils der lutherischen Pfarrerschaft in den bisher untersuchten deutschen Gebieten, so ergibt sich trotz regionaler Abweichungen doch ein recht ähnliches Bild. Der Anteil der einem Pfarrhaus entstammenden Pfarrer variierte für das 17. und 18. Jahrhundert je nach Untersuchung und Region zwischen circa 35 und 50 Prozent.12 7 Janz, Bürger; Weber, Luthers bleiche Erben. 8 Holtz, Theologie und Alltag; Wahl, Lebensplanung und Alltagserfahrung. 9 Schieckel, Pfarrerschaft, 149–178. 10 Zum Verhältnis von Lehre und Leben in der lutherischen Theologie und zur Verfestigung konfessionsspezifischer Soziallehren seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vgl. Holtz, Theologie und Alltag, 71–108. 11 Vgl. Schorn-Schütte, Bikonfessionalität, 299–318; Dies., ›Amt‹ und ›Beruf‹, 1–6; Franzen, Zölibat und Priesterehe. 12 Vgl. Bormann-Heischkeil, Herkunft, 149–174; Schorn-Schütte, Gefährtin und Mitregentin, 122–126; Dies., ›Amt‹ und ›Beruf‹, 27–35; Werdermann, Pfarrer, 34; Schieckel, Pfarrerschaft, 152–156.
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In den wettinischen Territorien kam es bereits innerhalb der ersten drei Generationen nach der Reformation zur Herausbildung eines festen Pfarrerstandes, der sich in der Folgezeit zu einem beträchtlichen Teil aus sich selbst ergänzte und untereinander heiratete.13 Für Sachsen und das thüringische Schwarzburg resümiert Harald Schieckel, dass sich der Pfarrerstand, nachdem er sich erst einmal herausgebildet hatte, laufend auch aus anderen Schichten ergänzte. War aber der akademische Stand erreicht, dann blieb in der Regel die Nachkommenschaft bei diesem Stand und zwar meist bei dem Beruf des Vaters. Es gab Pfarrfamilien, wo drei oder vier, ja bis neun Söhne wieder Pfarrer wurden.14
Der Leipziger Staatswissenschaftler Friedrich Bülau zählte Mitte des 19. Jahrhunderts allein für Sachsen über 90 verschiedene Namen von Familien, die von der Reformation an bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts über Generationen im geistlichen Amt wirkten.15 Die nicht minder starken weiblichen Traditionsnetze über Pfarrerstöchter und wiederverheiratete Pfarrwitwen sind dabei noch nicht berücksichtigt.16 Die starke Selbstrekrutierung dieser neuen Sozialformation aus dem Pfarrhaus führte zur Herausbildung weit verzweigter Pfarrerdynastien. Im Gegensatz zum zölibatären Priester der katholischen Kirche konnte sich im evangelischen Pfarrhaus seit dem späten 16. Jahrhundert eine eigene Familienkultur etablieren und damit die geistliche Institution zugleich – etwa durch Heirats- und Familiennetzwerke und bildungsbürgerliche Lebensformen – stärker in die Welt integrieren. In ihrer Rolle als lehrhaftes Vorbild religiösen Alltagslebens konnte und sollte die Pfarrfamilie früh ein exklusives Familienbewusstsein und öffentlichrepräsentative Erinnerungsformen ausbilden. In diesem Zusammenhang wurde der Pfarrstand von der älteren Forschung nicht ganz zu Unrecht als mit dem Adel vergleichbar charakterisiert. Diese genealogischen Traditionen und das geistliche Sonderbewusstsein verbanden sich mit dem lutherischen Amtsauftrag zur Repräsentation eines exemplarischen Lebensmodells und ließen die Pfarrerschaft damit mehr als die anderen weltlichen Beamtenstände den Charakter eines beinahe geschlossenen Standes annehmen.17 Zugleich aber war das Pfarrhaus eng mit seiner Umwelt verbunden, denn es kannte fast keine Grenze zwischen Außen- und Innenwelt. »Das ganze Pfarr13 14 15 16
Ebd., 152–157. Ebd., 155f. Bülau, Geistlichkeit, 2f. Vgl. Schorn-Schütte, Gefährtin und Mitregentin, 139–141. Beispiele für weibliche Traditionslinien im Pfarrhaus u. a. bei Dornheim, Amtsjubiläum, 314–318. 17 Vgl. Bülau, Geistlichkeit, 1f; Dornheim, Amtsjubiläum, 312f.
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haus predigte«, so Siegfried Weichlein, denn es war der hervorgehobene Ort, nach biblischem Sinn die »Stadt auf dem Berge« (Mt 5,14), wo das Christentum praktisch und exemplarisch gelebt werden sollte.18 Das Familienleben im Pfarrhaus öffnete sich somit der Gemeinschaft und wurde durch den appellativen Modus seiner Vorbildwirkung zugleich überformt. Die Hausordnung des Pfarrhauses galt als von Gott gesetzt. Die Binnenverhältnisse zwischen Pfarrherr, Pfarrfrau und Hausgemeinde wurden theologisiert und damit zu religiösen Institutionen, die das evangelisch-bürgerliche Familienbild prägten. Der Pfarrer, der als Hausvater des Pfarrhauses die Rollen des Priesters, Lehrers und Richters ausfüllte, fungierte als Vorbild aller evangelischen Hausväter. Das theologisch derart aufgeladene Leben im Pfarrhaus erzeugte für die Pfarrfamilie mitunter enormen inneren und äußeren Druck auf die Lebensführung.19 Zugleich bedeutete dies eine besondere kulturelle und soziale Strahlkraft. Als exemplarische Form christlichen Lebens löste das Pfarrhaus im protestantischen Raum gewissermaßen eine Funktion des Klosters ab.20 Die neueren Arbeiten21 halfen, die von der Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gezeichneten gängigen Bilder des evangelischen Pfarrhauses in vielen Punkten teilweise neu zu konturieren, wenngleich sie viele Aspekte auch noch einmal bestätigt haben. Sie sensibilisierten für die Vielfalt regionaler Sonderentwicklungen und halfen, normatives Idealbild und soziale Wirklichkeiten schärfer voneinander zu trennen. 2.
Pfarrhaus und Erinnerungskultur
Gerade die beobachtbare Diskrepanz zwischen idealisiertem Mythos und Wirklichkeit führte zu einer neuen Perspektive auf das evangelische Pfarrhaus. Der seit den letzten Jahrzehnten die historischen Wissenschaften durchziehende Gedächtnisdiskurs rückte zunehmend die Erfindung von Geschichtsbildern, Traditionen und deren Funktion in das Zentrum der Forschung. Dabei geriet auch das lutherische Pfarrhaus in den Blick und wurde nunmehr für die Beantwortung der Frage nach der Entwicklung und Verbreitung einer konfessionsspezifischen öffentlichen Erinnerungskultur in der Frühen Neuzeit
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Vgl. Weichlein, Pfarrhaus, 642–653. Vgl. Steck, Glashaus, 109–125. Weichlein, Pfarrhaus, 644. Vgl. Schorn-Schütte, Evangelische Geistlichkeit; Dies., ›Amt‹ und ›Beruf‹; Janz, Bürger; Holtz, Theologie und Alltag; Wahl, Lebensplanung und Alltagserfahrung.
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interessant.22 Die Institution wurde damit zunehmend zum Inhalt eines erinnerungsgeschichtlich orientierten Forschungsinteresses. Der Mythos Pfarrhaus als Ideal beziehungsweise als symbolischer Ort im kollektiven Gedächtnis der Nation wurde zudem unlängst auch als ein erinnerungskulturelles Phänomen mit identitätsstiftender Kraft erkannt und inzwischen in die Sammlung der sogenannten Deutschen Erinnerungsorte und unter die Erinnerungsorte des Christentums aufgenommen.23 Der Blick auf die Entstehung, die Entwicklung und die Formate einer frühneuzeitlichen konfessionsspezifischen Erinnerungskultur zeigte zunehmend, dass das lutherische Pfarrhaus nicht nur im kollektiven Gedächtnis, sondern auch im ganz buchstäblichen und praktischen Sinne als ein Ort des Erinnerns funktionierte und die Geistlichen in der Vormoderne als Spezialisten des Gedenkens wirkten. Das evangelische Pfarrhaus war ein Ort, an dem aktiv geistliche und profane, öffentliche und familiale Erinnerungsarbeit und Gedenkkultur konzipiert und gepflegt wurden. Mit seinem Archiv und seinen oft Jahrhunderte zurückreichenden Kirchenbüchern und Pfarrchroniken ist es auch ein Ort, an dem Erinnerungen für die Nachwelt gespeichert und abgerufen werden konnten. In den meisten ländlichen Orten lagerten das schriftliche Gedächtnis der Gemeinden und die Lebensdaten der ansässigen Familien allein im Pfarrhaus.24 Der unmittelbare Einfluss-, Aufsichts- und Weisungsbereich des Ortspfarrers erstreckte sich neben dem Pfarrhaus auf die Ortskirche, den Kirchhof und die Schule, welche in traditionalen Ortstopographien bis Ende des 19. Jahrhunderts meist auch ein bauliches und funktionales Ensemble bildeten. Für sich allein genommen, wie auch im Zusammenspiel, können diese Einrichtungen auch als zentrale Erinnerungsräume in einem Gemeinwesen verstanden werden: die Schule als Ort der pädagogischen Tradierung von Wissen, 22 Die Frage nach Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte der Erinnerungsfigur des historischen Jubiläums am Ende 2008 abgeschlossenen Dresdner Sonderforschungsbereichs 537 »Institutionalität und Geschichtlichkeit« tangierte auch das evangelische Pfarrhaus als Raum besonderer kultureller Verdichtung sowie als Konzeptions- und Pflegeort konfessionsspezifischer Fest- und Gedenkkultur frühneuzeitlicher Stadt- und Dorfgemeinschaften. Im Dresdner SFB 804 »Transzendenz und Gemeinsinn« wurde dieser Gedanke weitergeführt. Dabei wurde der Blick verstärkt auf den Zusammenhang von Religion und sozialer Kohäsion in der Vormoderne gerichtet. 23 François/Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte; Janz, Pfarrhaus, 221–238; Weichlein, Pfarrhaus, 642–653. 24 Diese Untersuchung lutherischer Erinnerungskultur gründet sich u. a. auf das theoretische Konzept des kulturellen Gedächtnisses, welches davon ausgeht, dass durch kollektive Auswahlprozesse im kulturellen Gedächtnis bestimmte Ereignisse für die identitätsstiftende Konzeption von Eigengeschichte gespeichert, andere hingegen verdrängt oder vergessen werden. Vgl. dazu A. Assmann, Erinnerungsräume, 130–142; J. Assmann, Erinnern, 51–75; Ders., Kollektives Gedächtnis, 9–19; Oexle, Memoria, 9–78; Zur Konstruktion geschichtlicher Identitäten vgl. Assmann/Friese, Identitäten.
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Glaubensinhalten und Verhaltensnormen auf nachrückende Generationen; der Kirchenraum mit seinen vielfältigen Erinnerungszeichen, welcher als Ort der liturgischen Memoria, des Herrschafts- und Honoratiorengedenkens ausgewählte Elemente der Eigengeschichte einer Gemeinde präsent hielt; und schließlich der Kirchhof als Ort repräsentativen sowie stillen Gedenkens an die lokale und familiale Eigengeschichte im Medium der Bestattungs- und Grabmalkultur. Nicht zuletzt war ein historisch gewachsener Kirchenbau ein Kontinuitätssymbol, ein geheiligter Identifikations- und Kraftort sowie ein verräumlichtes Abbild der sozialen und politischen Ordnung eines Gemeinwesens.25 Dabei erschöpfte sich die Erinnerungsarbeit der Pfarrer nicht in der Mitkonzeption, theologischen Beratung und Kontrolle materieller Denkmale und Erinnerungszeichen sowie in der Verschriftlichung vergangenen Geschehens. Vielmehr war eine öffentliche kommunale und familiale Gedenk- und Festkultur in der Frühen Neuzeit ohne die konzeptionelle Mitwirkung und die performative Ausführung der Geistlichkeit als theologischer Deutungsautorität kaum denkbar. Fragt man nach der Herausbildung einer genuin lutherischen Gedenkkultur im 16. und 17. Jahrhundert, so gilt es zunächst, die Grundlagen abendländischer Memorialkultur zu verstehen. Die besondere Rolle der Pfarrer als Spezialisten der Erinnerung wurzelt dabei im grundlegenden Verhältnis von Erinnerung und Theologie, von Fest, Ritual und Liturgie im Christentum. Glauben und Erinnern beziehungsweise Religion und Gedächtnis stehen eng miteinander in Beziehung, denn Erinnerung kann als eine elementare Handlung des Glaubens und damit als eine Basiskategorie der Theologie betrachtet werden. Es sind »göttliche Akte des Heils, die in der Vergangenheit liegen«, die, so Jacques Le Goff, »den wesentlichen Inhalt des Glaubens und den Gegenstand des Kultus ›ausmachen‹.« Die Heilige Schrift ebenso wie die historische Tradition basiere in wesentlichen Punkten auf der »Notwendigkeit des Andenkens als grundlegender religiöser Haltung«.26 Die frühneuzeitliche Fest- und Gedenkkultur gründete sich auf eine weitgehende Verschränkung beider Aspekte, so dass die sinnstiftende Aktualisierung der Vergangenheit bis zum 18. Jahrhundert vor allem theologisch beziehungsweise heilsgeschichtlich geprägt war.
25 Zum Gedächtnis der Orte vgl. Assmann, Erinnerungsräume, 298–337. Zur inneren Ordnung des Kirchenraumes als Spiegelbild der göttlichen Weltordnung und Abbild der gesellschaftlichpolitischen Ordnung des Gemeinwesens vgl. Harasimowicz, Kirchenräume, 425–432; François, Kirchen, 708–724. Grundlegende kulturphilosophische Gedanken zu Kirchenbauten bei Soeffner, Kulturrelikt, 67–79. 26 Arens, Anamnetische Praxis, 41–55; Sandl, Erinnerer, 179–201, hier: 182; Le Goff, Geschichte, 102f.
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Betrachtet man Gedenken als theologische und religiöse Grundkategorie und als elementare Handlung des Glaubens,27 so erscheinen Geistliche und Theologen unter diesem Fokus als dezidierte Erinnerungsspezialisten. Fest und Ritus lassen sich bekanntlich mit Jan Assmann28 als »primäre Organisationsformen des kulturellen Gedächtnisses« bezeichnen. Sie »sorgen im Regelmaß ihrer Wiederholung für die Vermittlung und Weitergabe des identitätssichernden Wissens« und gewährleisten damit die »Reproduktion der kulturellen Identität.«29 Sie bieten aus theologisch-festtheoretischer Sicht eine Möglichkeit, die Lebenszeit von Individuen und Gruppen immer aufs Neue zu gliedern und zu bedenken. Andreas Leipold erkennt in den Kirchenfesten, welche in rhythmischen Zeitintervallen wiederkehren, eine grundlegende Voraussetzung für die Erfahrbarkeit von Zeiträumen und die Zuschreibung von Wirklichkeitsdeutungen.30 Die Erinnerung einer gemeinsamen Vergangenheit war in den traditionellen Gemeinschaften des Abendlandes stark mit der Kulturform des Festes verknüpft, das in der biblischen und auch in der antiken Tradition seinem ursprünglichen Wesen nach eine transzendente Dimension besaß, indem sich Individuen und soziale Formationen unter Anleitung und Vermittlung von Geistlichen in der Kult- und Festgemeinschaft mit dem Göttlichen in Verbindung setzten. Soziale Gruppen waren angewiesen auf Feste zur Vergewisserung von Gemeinschaft und kollektiver Identität.31 3.
Formate lutherischer Erinnerungskultur in der Frühen Neuzeit
Mit neuen und stärker diesseitsbezogenen Erinnerungsformaten verknüpften die lutherischen Theologen zugleich das religionspädagogische Konzept einer Verchristlichung der Gesellschaft, welches der Lebenszeit und einer auf christlicher Bildung basierenden Alltagsfrömmigkeit ein eigenes, stärkeres Gewicht zusprach. Zugleich verbanden sich damit die Verbreitung und die Festigung spezifisch lutherischer Glaubensinhalte, die anhand der Lebensgeschichten lokaler Zeugen des Glaubens exemplarisch vermittelt wurden. Im Folgenden sollen einige der wichtigsten dieser neuen Erinnerungsformate in einem knappen Überblick vorgestellt werden.
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Vgl. Arens, Anamnetische Praxis, 41–55; Cancik/Mohr, Erinnerung/Gedächtnis, 299–323. Assmann, Gedächtnis, 57. Ebd. Vgl. Leipold, Kirchenfeste, 15–20. Vgl. ebd.
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4.
Zeitenwende und Traditionsbegründung
Konfessionelle Erinnerung ereignete sich in der Frühen Neuzeit vor allem dezentral in den Territorien. Auch jenseits der einstigen Zentren der Reformation galt es, den einzelnen Gemeinden ihre jeweils lokale Erfolgsgeschichte zu präsentieren. Dabei wurden nicht allein die Protagonisten der reformatorischen Bewegung erinnert. Vielmehr versuchte jedes einzelne Pfarramt seine Eigengeschichte anhand der Abfolge seiner personalen Amtsträger und deren biographisch erfasster Lebensleistung affirmativ zu vergegenwärtigen. Üblich war dabei die Praxis, das Reformationsgeschehen als Zeitenwende zu begreifen. Ausgehend von verschiedenen exakt datierbaren Schlüsselereignissen der Eigengeschichte und der jubiläumszyklisch gebundenen Wiederkehr der runden Jahreszahl, ließen sich lineare Zeitachsen konstruieren. Diese boten einen Interpretationshorizont für eigengeschichtliche Diskurse.32 So galt es, die eigene Geschichte bis auf die Berufung des ersten evangelischen Pfarrers beziehungsweise auf den Tag der ersten evangelischen Predigt als Schlüsselereignis zurückzudatieren. Nach dem Vorbild des ersten Reformationsjubiläums von 1617 nutzten die örtlichen Pfarrer die damit etablierte Zeitachse von einhundert Jahren, um ein lokales Jubiläumsdatum für eine Gedenkfeier festzulegen und damit eine eigene lokale Tradition zu begründen. So häuften sich um die Mitte des 17. Jahrhunderts die diesbezüglichen Festschriften und Erinnerungszeichen. Diese sollten die Deutung der gemeinsamen Vergangenheit über den Festgottesdienst hinaus als Identifikationsangebot auf Dauer stellen. 4.1
Der Kirchenraum als Erinnerungsraum – Pastorengalerien und Pfarrergrablegen Zu den Symbolisierungsformen dieser biographisch verstandenen Eigengeschichte gehörte neben der gesprochenen wie gedruckten Gedächtnispredigt die Ausgestaltung des Kirchenraumes als Erinnerungsraum.33 Durch die Ansammlung von mitunter aufwendig gestalteten Grabplatten, Gedächtnistafeln und Pfarrergalerien konfrontierte der Kirchenraum die Nachwelt permanent mit dem Anspruch auf Erinnerung. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden vermehrt Pastorengalerien, welche die Portraits der verstorbenen Amtsträger in chronologischer Abfolge versammelten. Begreift man diese Erinnerungszeichen als abschreitbare Geschichtsstationen mit einem je eigenen Pfad in die kollektive Vergangenheit der örtlichen Kirchgemeinde, so lässt sich hierbei von
32 Sandl, Zeitwende, 30–34. 33 Vgl. Dornheim, Erinnerungsraum, 285–308.
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einer Verräumlichung von Eigenzeit34 sprechen. Dem Prinzip des Bildersaales beziehungsweise der begehbaren Geschichtsstationen folgt die seit dem späten 17. Jahrhundert aufkommende Tendenz der Verschriftlichung und Publikation der sich an die Erinnerungszeichen heftenden Geschichtserzählungen.35 In Habitus und Darstellung sind die Bildnisse streng am Vorbild der »standhaften« cranachschen Lutherbildnisse des 16. Jahrhunderts orientiert und bieten im Sinne der imitatio Lutheri eine bildliche Symbolisierung der in einer stabilen Traditionslinie zur Reformation stehenden Pfarrer.36 Häufig ist den Pastorengalerien ein Bildnis des Reformators selbst beigegeben. Die ersten Superintendenturen der mitteldeutschen Kirchenbezirke waren zumeist mit Vertrauensleuten und Schülern aus dem Umkreis der Reformatoren besetzt, wie beispielsweise Nikolaus von Amsdorf (1483–1565) in Magdeburg und Eisenach, Anton Lauterbach (1502–1569) in Pirna oder Johann Pfeffinger (1493–1573) in Leipzig. In der regionalen, auf der örtlichen Amtsnachfolge basierenden Kirchengeschichtsschreibung verbürgten diese Zeitzeugen für die Nachwelt die Teilhabe am bedeutungsvollen Heilsgeschehen der Reformation und damit die Verbindung zum Ursprungsmythos der konfessionellen Gruppe. Kaum ein Kirchenraum veranschaulicht die Idee der Pastorengalerie so eindrucksvoll wie der Chorraum von St. Thomas in Leipzig, in dem seit 1614 die Bildnisse von sämtlichen Superintendenten seit der Reformation ihren Platz fanden und nach wie vor finden. Der diesen Galerien inhärente Fortsetzungsauftrag an die Gegenwart kombiniert den Verweis auf eine erfolgreiche Vergangenheit mit der Hoffnung auf Kontinuität und Stabilität der Institution Pfarramt in der Zukunft. Diese Funktion belegt beispielsweise ein Begrüßungsgedicht der Pfarrerschaft von Stadt und Inspektion Jena zur Einführung von Jesajas Friedrich Weißenborn an der Stadtkirche St. Michael in Jena als Superintendenten und ersten Pfarrer am 16. November 1721 unter dem Titel: »Von denen um den Jenaischen Altar stehenden Bildern«. Dem neuen Amtsträger werden dabei anhand der in den Bildern symbolisierten Sukzessionsfolge der Jenaer Pfarrer die positiven Eigenschaften seiner Amtsvorgänger in poetisch gereimter Form präsentiert, um ihn zur Nachahmung der Vorbilder zu bewegen.37 34 Das Konzept der »Verräumlichten Zeit«, von Hans-Georg Lippert an der Architektur des 20. Jahrhunderts entwickelt, lässt sich auch für die Untersuchung von Kirchenräumen der Frühen Neuzeit fruchtbar machen. Vgl. Lippert, Verräumlichte Zeit. 35 Beispielsweise: Pritius, Geschichts-Calender; Hoffmann, Bildnisse; Wette, Evangelisches Jena, 40f; Kaphahn, St. Johannis- oder Stadt-Kirche. 36 Vgl. Roberts, Kunst, 330–335. 37 »Von denen um den Jenaischen Altar stehenden Bildern Wolten, Als der Magnificvs, Hochwürdige, in Gott Andächtige Hochgelahrte Herr, Herr Jesaias Friedrich Weissenborn, […] Am 16. Novembr. 1721. auf Hoch-Fürstl. gnädigsten Befehl Als Svperintendens und Pastor
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Auch in den Dorfkirchen zeigt sich die Idee der Pastorengalerien verwirklicht – wenn auch vielerorts aufgrund widriger Zeitumstände, der Mittelknappheit und mangelndem patronalen Mäzenatentum nur lückenhaft realisiert oder fragmentarisch überliefert.38 Diese Erinnerungszeichen konnten im Lauf der Jahrzehnte im Falle der nicht selten anzutreffenden familialen Kontinuität im Pfarrhaus durchaus auch den Charakter einer leiblichen Ahnenreihe annehmen. Wie exponiert diese Bildfolgen im Kirchenraum in Erscheinung treten konnten, zeigt beispielsweise die ehemalige Innenausstattung der Matthäuskirche in Dresden Friedrichstadt. Dort waren bis 1882 sechs nahezu lebensgroße Pfarrerbildnisse beiderseits des zentralen Kanzelaltares angebracht. Diese bildeten neben dem zentralen Kanzelaltar und den Büsten von Luther und Melanchthon den Hauptblickfang des sonst relativ nüchtern ausgestatteten Kirchenraumes. Die Bildnisse der verstorbenen Amtsvorgänger waren so im wortwörtlichen Sinne »Vor-Bilder« der Gemeinde und umgaben den jeweils gegenwärtigen Pfarrer bei der Predigt auf der Kanzel. Der Pfarrer wurde damit während der Predigt sinnbildlich und zugleich räumlich erfahrbar in die örtliche Traditionslinie gestellt. Eines dieser Bilder zeigt den 1787 verstorbenen Magister Johann Gottlieb Feilgenhauer (1739–1787). Neben den wichtigsten Amts- und Lebensdaten findet sich darauf die bezeichnende Bildunterschrift: »Er lebte und lehrte ein Muster / als Mensch und Lehrer, seine Asche ruhet in Frieden, sein Gedächtnis in Segen«.39 Ein typisches Beispiel für die Konstruktion von Eigenzeit bietet ein Pastorenbildnis aus der Kirche zu Dresden Briesnitz aus dem Jahre 1648. Auf der oberen Inschrift heißt es: Seculum Brisnicense. Das ist die Zeit der Einhundert Jahren Von dem 23. Fepr. oder Hornungs des 1544. Jahres Christi bis an den 23. Fepr. oder Horn des 1644. Jahres Christi. Innerhalb welchen, Durch Gottes des Allmechtigen wunderbarliche vorsehung und gnädiges Erhalten nur drey Pastores oder Pfarr:-Herrn der Christlichen gemeinde und löblichen Kirchfahrt Brisnitz Mit Predigen und Ausspendung der heil. Sacramenten bes-
Primarivs investiret wurde, Gelegenheit nehmen, eine ergebenste Gratulation abzustatten Seiner Hochwürdigen Magnificenz gehorsamste Diener Der Adivntvs und sämtliche Priester der Ober-Pflege Jenaischer Inspection«, Jena O.J. [1721]. unpag.; zitiert nach: Koch, St. Michael, 161. 38 Diesen Befund ergab die systematische Durchsicht der seit Ende des 19. Jahrhunderts erstellten mitteldeutschen Kunstinventarisationswerke von Steche/Gurlitt und Lehfeldt, die sich ausführlich der Ausstattung der Dorfkirchen widmen. 39 Eine Abbildung des Kirchenraumes und eine genauere Beschreibung gibt Gurlitt, Kunstdenkmäler, Heft 22 Stadt Dresden, Teil 1, 269–271.
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ten vermögens das Gott dar gereichet hat vorgestanden sind. Als da gewesen: Domenicus Eber […] Fabianus Crüger [...] Petrus Mohorn [...] Anno 1648.40
In den Kartuschen neben den Portraits der drei Pfarrer informieren kurze Biogramme über deren zentrale Amts- und Lebensdaten. Die Grabplatten mit den lebensgroßen Reliefs der Pfarrer Eber und Crüger stehen nur wenige Meter entfernt. Wie bei den Pastorengalerien, so wird auch bei diesem Denkmal die dargestellte Eigengeschichte der lokalen evangelischen Pfarrstelle durch den Wechsel der Amtsträgerpersönlichkeiten in einzelne Etappen untergliedert. Hohes Alter und lange Amtszeiten galten als Belege von Dauerhaftigkeit. Wie bei den geistlichen Amtsjubiläen wurden sie als Beweise göttlichen Willens interpretiert, nicht zuletzt, um daraus Geltungsansprüche abzuleiten. Die öffentliche Erinnerung an die vorreformatorische Priesterschaft wurde in diesem Beispiel zugunsten der Konstruktion eines »Briesnitzer Jahrhunderts« unterdrückt.41 Dies erscheint in den Quellen42 als ein genereller Befund. 4.2 Ursprungsmythen Die Theologen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts bemühten sich häufig um die legitimierende Anbindung des eigenen Pfarramtsverständnisses an das biblisch begründbare Priesterverständnis der frühen Christen und des Alten Testaments.43 Wichtiger Bezugspunkt lutherischen Pfarramtsverständnisses, auch im Hinblick auf die in konfessioneller Abgrenzung zu legitimierende Priesterehe, ist vor allem der von Mose eingesetzte erste Hohepriester Aaron. Dieser verband nach biblischer Überlieferung auf Geheiß Gottes Priestertum und Patriarchentum und vererbte sein Priesteramt in der Generationenfolge seiner Söhne.44 Solche Phänomene lassen sich auch im lutherischen Pfarrhaus mit bemerkenswerter Häufigkeit beobachten.45 In vielen Fällen führte dies zur Herausbildung umfangreicher Pfarramtsdynastien und zur Überblendung von Pfarramtsgedächtnis und Familiengedächtnis. Im Grunde handelt es sich 40 Genauere Beschreibung und Abbildung dazu bei Gurlitt, Kunstdenkmäler, Heft 24, 1904, 10f; Die Wiedergabe der Inschrift folgt Gurlitt. 41 Vgl. Fuchs, Reformation, 78–87. 42 Dazu gehören Pastorengalerien und Amtssukzessionstafeln in Kirchenräumen (z. B. St. Peter und Paul in Görlitz) sowie Amtssukzessionslisten in den lokalen Pfarrarchiven und Kirchenchroniken sowie die kirchengeschichtlich-biographischen Sammelwerke wie das von Dietmann, und die Vielzahl der durchgesehenen meist aus Jubiläumsanlass herausgegebenen lokalkirchengeschichtlichen Festschriften des 18. Jahrhunderts. 43 Vgl. in diesem Zusammenhang die eigengeschichtlichen Konzepte der reformatorischen Bewegung, die Thomas Fuchs als »erzählte Geschichte« und »realisierte Geschichte« zu fassen versuchte: Fuchs, Reformation, 80–86. 44 4. Mose 20,22–29. 45 Vgl. Schieckel, Pfarrerschaft, 152–160; Bormann-Heischkeil, Herkunft, 149–174.
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bei dieser Bezugnahme auf das Aaronitische Priestertum um die legitimierende Rückbindung an die biblischen Ursprungsmythen beziehungsweise an die Transzendenz. Ein Beispiel dafür ist das einhundertjährige Pfarramtsjubiläum der Familie Petzsch in Rossa bei Chemnitz, welche zudem seit der Reformation durchweg am gleichen Ort gewirkt hatte. Bereits im Titel versucht die gedruckte Gedächtnispredigt eine Typologie von Pfarrfamilie Petzsch und dem Urbild, der Priesterfamilie Aarons, herzustellen: Hundert-Jähriges Predig-Amt / dreyer Pfarrern / bey der Christlichen Kirchen zu Rossa […] von Anno 1562 biß 1662 Als da sind PHILIPPUS : ADAMUS : JOHANNES : GroßVater : Vater : und Sohn : Petzschischen Geschlechtes : in einer einfältigen GedächtnißPredigt abgebildet/ an denen Dreyen Hohen Priestern / Bey der Israelitischen Kirchen Altes Testamentes: Als gewesen: AARON : ELEASAR : PINEHAS : gleicher Lini […].46
4.3 Amtsnachfolge und Familiengedächtnis Die Überblendung von biblischem Vorbild und realisierter Eigengeschichte der Rossaer Pfarrerdynastie Petzsch setzt sich auch in der Gedächtnispredigt selbst fort, wenn Johannes Petzsch 1662 beschreibt, wie sein Vater das Amt seines Großvaters auf dessen Wunsch übernahm: Gleichwohl ists ihme eine besondere Freude gewesen/ da Er noch bey Lebens-Zeit lieber und sänffter gestorben. Denn wie Sirach lehret cap. 30. Wenn ein solcher Vater stirbet/ so ists/ als wäre er nicht gestorben/ denn er hat seinesgleichen hinter sich gelassen. Da Er lebete/ sahe Er seine Lust/ und hatte seine Freude an ihm; Da Er starb/ dorft Er nicht sorgen/ denn Er [hatte] hinter sich gelassen einen Schutz wider seine Feinde/ und [einen] der den Freunden wieder dienen kan. Und da hat nun Gott gleichsam dem Aaron sein Priesterliches Kleid außgezogen / und dem Eleasar angeleget/ daß er an seines Vatern statt hat sollen Priester sein.47
Unter legitimierendem Rückbezug auf die Autorität der Heiligen Schrift nach dem evangelischen Prinzip sola scriptura, gelingt es Johannes Petzsch im Rückblick auf die hundertjährige Geschichte seiner Familie im Rossaer Pfarrhaus,
46 Titelblatt zu: Johannes Petzsch: Ministerium Centennale Oder Hundert-jähriges Predigt-Ampt dreyer Pfarrern: Bey der Christlichen Kirchen zu Rossa/ unter der löblichen Superintentur Chemnitz/ von Anno 1562. biß 1662. Als da sind: Philippus: Adamus: Johannes: Großvater: Vater: und Sohn: Petzschischen Geschlechtes: in einer einfältigen Gedächtniß-Predigt/ abgebildet an denen dreyen Hohen-Priestern Bey der Israelitischen Kirchen Altes Testamentes: Als gewesen Aaron: Eleasar: Pinehas: gleicher Lini/ In Volckreicher Versamlung gehalten/ Am Tage der beyden Aposteln Philippi und Jacobi Anno 1662. durch Johannem Petzschen/ dritten vocirten Evangelischen Pfarrer daselbst/ in dessen Kindern und Nachkommen (besage des hierbey nun aus seinem Lebens-Lauffe angefügten Extracts) […], Meißen 2 1693. 47 Ebd., 35.
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die innerfamilialen Kohäsionskräfte zwischen den Generationen als wichtige Garanten für die Stabilität und Kontinuität des geistlichen Amtes darzustellen. Familiale Kontinuitäten im Pfarramt bedeuteten nicht zuletzt für die Familie selbst eine Sicherung der sozialen und ökonomischen Situation im akademischen Bürgerstand. Um der Gefahr des sozialen Abstiegs der nachfolgenden Generationen vorzubeugen, galt es, die Gemeinde und den die Kollatur ausübenden Patron von ehrbarer Herkunft, vorbildlicher Amtsführung und Lebenswandel sowie dem darauf sich gründenden guten Namen der Familie dauerhaft zu überzeugen. Familiengeschichte konnte eine wichtige Referenz bei der Postenbesetzung darstellen.48 Dass solche Kontinuitätsstränge im Pfarrhaus nicht nur retrospektiverinnernd geknüpft wurden, sondern auch prospektiv in die Zukunft hinein konstruiert und symbolisch inszeniert werden konnten, zeigt das Beispiel der Familie Knauth in Dippoldiswalde. Pfarrer Johann Knauth hatte 1714 während des Festgottesdienstes zu seinem eigenen Priesterjubiläum seine, wie es heißt »aus Priesterlichem Stamm erzeugten« drei Enkelinnen ausgestattet und in eigener Amtshandlung drei Pfarrern angetraut. Der Sohn des Jubilars publizierte umgehend eine umfassende Fest- und Familiengedenkschrift, welche Lebenslauf, Hochzeits- und Leichenpredigten, gesammelte Grab- und Epitaphieninschriften und eine genealogische Tabelle der Familie Knauth in sich vereint.49 4.4 Eigengeschichtsschreibung im Pfarrhaus Im Folgenden soll nach der Entwicklung einer überregionalen Eigengeschichtsschreibung im 18. Jahrhundert sowie nach den Stabilisierungsleistungen der Erinnerungskultur für das Selbstbild und den Geltungsanspruch der lutherischen Pfarrerschaft gefragt werden. Seit dem beginnenden 18. Jahrhundert entfaltete der evangelische Pfarrstand verstärkt publizistische Aktivitäten, bei denen ein gemeinsames Selbstbewusstsein formuliert, gepflegt und tradiert werden sollte. Grund dafür war nach Luise Schorn-Schütte das Bewusstsein einer Krise des geistlichen Amtes: Die protestantische Pfarrerschaft hatte sich für weitreichende Aufgaben beim Ausbau frühneuzeitlicher Staatlichkeit funktionalisieren lassen. Die nötigen Kenntnisse dazu vermittelte ein zunehmend differenzierter und normierter Ausbildungsprozess. Das ursprünglich durch Christi Einsetzung transzendent begründete »geistliche Amt« entwickelte sich damit zunehmend zum funktionalen »geistlichen Beruf«, der sich kaum mehr von den weltlichen Funktionsträgern des frühneuzeitlichen Staates unterschied. Die Mehrzahl der Pfarrer befand sich 48 Vgl. Flügel/Dornheim, Jubiläumsmultiplikator, 66–69. 49 Knauth, Das ehrenvolle Alter.
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hingegen bis ins 19. Jahrhundert hinein in einem Zwiespalt. Sie standen zwischen der beharrenden Kraft ihres »geistlichen Sonderbewusstseins«50 und der Forderung nach einem rationalisiert-funktionalen geistlichen Berufe als »Volkslehrer«, welcher die Menschen bessern und zur Glückseligkeit führen sollte. Das Festhalten am geistlichen Amtsethos verband sich dabei weiterhin mit dem Anspruch auf autonome Freiräume gegenüber obrigkeitlichem Ordnungshandeln.51 Die Spannung zwischen dem tradierten transzendent begründeten Amtsbewusstsein einerseits und den staatlich erwarteten Funktionen in der sich zunehmend säkularisierenden Bürgergesellschaft des 18. Jahrhunderts, in der Prinzipien wie Rationalität und Nützlichkeit in den Vordergrund traten andererseits, führte die Geistlichkeit in eine anhaltende Krise.52 Stellvertretend für viele Pfarrer beklagte der Weimarer Superintendent Johann Gottfried Herder die Funktionalisierung und Entmachtung des geistlichen Amtes durch den Staat: Der fürstliche Oberbischof, fast mehr ein Sohn Gottes, kann eine ganz neue Staatsreligion geben oder die alte verändern, wie er es für gut findet; das Predigtamt wird von ihm verliehen oder entzogen; der Prediger selbst ist nur noch als Sittenprediger, als Landwirt, als Listenmacher, als geheimer Polizeidiener unter staatlicher Autorität und fürstlicher Vollmacht zu existieren berechtigt.53
Der Erosion des äußerlichen Amtes durch den zunehmenden Ansehens- und Geltungsverlust versuchte die vielfach als unzeitgemäß geschmähte Pfarrerschaft durch gesteigerte Aktivitäten im Bereich der Eigengeschichtsschreibung entgegenzuwirken. Dabei sollte ihr Geltungsanspruch durch intensive Medienarbeit und den Gebrauch wissenschaftlich-rationaler Methoden erneuert werden. Charakteristisch für die entstehenden Publikationen ist das Bemühen der Pfarrer um Ehre, Ansehen und Würdigung ihres Amtes. Dabei verließen sie zunehmend die traditionellen Formen der Geschichtsreflexion in Form von Leichen-, Gedächtnis- und Jubiläumspredigten, Toten-Erinnerung und Kirchenbuchnotizen hin zur wissenschaftlichen Autorschaft. Der inzwischen rund zweihundertjährige Fundus der Pfarrarchive diente ihnen dabei häufig als Quelle und Anregung.54 Unter Ausnutzung der Fortschritte des Druck50 Dieser Begriff wurde geprägt und definiert von Schorn-Schütte, Prediger an protestantischen Höfen der Frühen Neuzeit, 279. 51 Vor allem die Vertreter der lutherischen Orthodoxie beriefen sich dabei im 18. Jahrhundert weiterhin auf die Dreiständelehre. 52 Vgl. Schorn-Schütte, ›Amt‹ und ›Beruf‹, 5–8, 25–29. 53 Zitiert nach: Dahm, Beruf: Pfarrer, 22. 54 Vgl. vertiefend Dornheim, Glauben und Erinnern, 55–70; Ders., Pfarrhaus, 140–144; Wagner, Kirchenbuchführung, 347–356; Weiterführend: Blanckmeister, Kirchenbücher; Baier, Kirchenbücher, 528–530.
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und Verlagswesens und der Entstehung einer breiteren lesenden Öffentlichkeit verwendeten nicht wenige Pfarrer ihre Nebenstunden zum Sammeln und Schreiben einer meist das Idealbild und die Normen der Institution bestätigenden Geschichte des eigenen Pfarrhauses. Diese diente vor allem dazu, der zunehmend kritischen gelehrten Öffentlichkeit als Antwort und den Amtskollegen als Ansporn einen Berufsstand zu präsentieren, der weiterhin den Anspruch einlösen konnte, zur Tugend- und Bildungselite des Landes zu gehören. Waren die Gedenkpredigten und historischen Festschriften zunächst noch auf die Reflexion einer Biographie oder eines bedeutenden Ereignisses bezogen, so erfolgte im 18. Jahrhundert ein Wandel durch die Umsetzung eines neuen Anspruches: Die gesamte soziale Gruppe der Pfarrerschaft mit ihren je eigenen lokalen und familialen Geschichten sollte nun in umfassenden, enzyklopädisch konzipierten Sammelwerken vorgestellt werden. Den Anfang dieses Projektes machte der Jurist und Dresdner Hofchronist Johann Christian Crell (1690–1762).55 Er betonte bereits in seiner Vorrede zur ersten Ausgabe seines Pfarrerbuches den enormen Aufwand an Recherche und Korrespondenz mit der gesamten geistlichen Amtsträgerschaft Sachsens, die er mit circa 2.000 Pfarrern beziffert. Schenkt man den Ausführungen Crells Glauben, so war in den Jahren vor und nach 1720 die gesamte sächsische Pfarrerschaft für dieses »allgemeinnützliche« Buchprojekt des Hofchronisten zu biographischen und lokalkirchengeschichtlichen Forschungsaktivitäten veranlasst worden.56 Ein Umstand, der für die eigene Literaturproduktion vieler biographisch und historisch interessierter Pfarrer nicht ohne Folgen bleiben sollte. Es scheint, als habe Crells enzyklopädisches Buchprojekt das Eis gebrochen. Nicht mehr der Bezug auf einen bestimmten aktuellen Jahrestag oder sonstigen theologisch begründbaren Anlass, sondern der Verweis auf die Nützlichkeit für die Allgemeinheit lies nun zahlreiche Pfarrer die Früchte ihrer historischen Nebenbeschäftigungen publizieren.57 Dabei orientierten sich nicht wenige am Vorbild Crells und übertrafen dessen in vielen Dingen zwangsläufig noch lücken- und fehlerhafte Darstellung, die freilich hinter dem hohen Anspruch enzyklopädischer Vollständigkeit zurückbleiben musste, um ein Vielfaches. Crell wirkte als offizieller Hofchronist und gelehrter Jurist, dessen Sammelwerk von 1720 55 Jccander [Johann Christian Crell], Ministerium. 56 Bis 1735 erschienen mehrere Supplemente zu diesem Werk. 57 So verzichtete der Pfarrer Karl Gottlob Dietmann 1752 auf die bisher übliche Rechtfertigung seiner Autorenschaft unter Verweis auf die sich selbst legitimierende Nützlichkeit des verfassten Titels: »Es ist doch wohl nicht nöthig, daß ich eine lange Vertheidigung meines Unterfangens hierher setze? nein! ich halte es nicht für nöthig. Die ganze Sache ist nicht nur unschuldig, nicht nur angenehm; sondern auch lehrreich, auch nützlich und brauchbar. Ein jeglicher, der die gehörigen Begriffe mit diesen Wörtern verknüpfet, und in der Anwendung auf gegenwärtiges Werk brauchet, wird solches gerne einräumen.« Siehe dazu: Dietmann, Vorrede, [unpag.].
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bis 1735 nur den Auftakt einer geplanten Landesaufnahme der gesamten bürgerlichen Funktionseliten bilden sollte. Das in den Jahren um 1750 vielfach erweiterte Projekt einer vollständigen historischen Beschreibung der Kirche des Kurfürstentums Sachsen, basierte hingegen auf Einzelinitiativen von Geistlichen, die auf gelehrte Nebenbeschäftigungen im Pfarrhaus zurückgingen. Das Spektrum der Publikationen reichte dabei von der territorialen Gesamtbeschreibung der Kirchengeschichte, über die Beschreibung einzelner Kirchenkreise bis hin zur Lokalkirchengeschichte. Der Laubaner Pfarrer Karl Gottlob Dietmann (1721–1805)58 gilt als Initiator und Herausgeber des umfangreichsten historisch-biographischen Sammelwerkes zur mitteldeutschen Pfarrerschaft. Über eine Zeitspanne von mehr als 30 Jahren motivierte er ab 1751 nahezu die gesamte geistliche Amtsträgerschaft59 des Kurfürstentums Sachsen als Beiträger zu biographischen und lokalkirchengeschichtlichen Forschungsaktivitäten, um erstmals auch das letzte Kirchdorf und die Folge seiner Pfarrer seit der Reformation biographisch und bibliographisch zu erfassen.60 Dietmann konzipierte damit eine Gesamtgeschichte des mitteldeutschen Luthertums, die er aus den Einzelgeschichten der lokalen Pfarrstellen nach enzyklopädischem Muster zu kompilieren versuchte. Die Struktur des Werkes folgt dabei verwaltungstopographischen Aspekten. Wie die Befunde belegen, versuchte die im 18. Jahrhundert verstärkt einsetzende Eigengeschichtsschreibung im lutherischen Pfarrhaus, ihren Geltungsanspruch auf Erinnerung über Vollständigkeits-, Anhäufungs- und Überbietungsstrategien zu organisieren. Dabei sollte die Herstellung einer beeindruckenden Totalität, hergestellt durch rationale Methodik, legitimierend auf die dargestellte Standesgeschichte wirken. Das tradierte transzendent begründete Amtsverständnis allein schien seit Mitte des 18. Jahrhunderts für die Außendarstellung des Berufsstandes nicht mehr zu genügen. Nun waren, wie auch Ernst Koch am Beispiel Jenas feststellte, zunehmend »sprachliche Kunst, logische Durchsichtigkeit und vernünftige Argumentation«61 gefragt. Dies folgte einem Verständnis der Zeit, welches spätere Generationen schon bald als zu einfachen theologischen Rationalismus kritisierten. Der Gegenwartsbezug dieser Form biographischer Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts funktionierte über ihren exemplarischen Charakter. Sie ist weniger theologisiert als die noch stärker im heilsgeschichtlichen Kontext 58 Dietmann, Vorerinnerung, [unpag.]. 59 Crell ging 1720 von einer Zahl von ca. 2.000 Geistlichen in Sachsen aus. Vgl. Vorrede zu: Jccander [Johann Christian Crell], Ministerium, [unpag.]. 60 Dietmann, Priesterschaft. 61 Koch, St. Michael, 162; Weiterführend: Lütcke, Glaubwürdigkeit durch Bildung, 139–162.
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stehenden Reformatorenbiographien des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts. Vielmehr zeigte sich in der Biographik des 18. Jahrhunderts eine stärkere Tendenz zu pädagogischer Moralisierung. In Bezug auf das geistliche Amtsverständnis hingegen wurde die heilsgeschichtliche Verortung als zentraler Bestandteil des geistlichen Sonderbewusstseins weiterhin gepflegt. Die Form der historischen Biographie beziehungsweise des Biogrammes war für den Pfarrer in seinem Verständnis als geistlicher Lehrer besonders attraktiv, da der mikroskopische Blick des Biographen sich »besser für das Auffinden und Darstellen exemplarischer Handlungen [eignet], als der ›Fernrohrblick‹ eines Universalgeschichte schreibenden Historikers.«62 Mit dem Verfassen und schließlich der gedruckten Veröffentlichung einer Biographie in einer Art Lexikon wird die biographierte Person nicht zuletzt in den Kreis der besonders angesehenen Personen eingeschrieben, die sich als Handelnde um das »allgemeine Glück« der Gemeinschaft beziehungsweise des Staates nützlich gemacht haben. Hier zeigt sich das Bemühen vieler schreibender Pfarrer, die auf dem Evangelium beruhenden, traditionellen Muster christlichen Lebens in die zeitgenössischen Diskurse um »Gemeinwohl« und »Glückseligkeit« einzuschreiben. 4.5 Personale Jubiläumskultur Biographisches Gedenken war Dank des Jubiläumsmechanismus nicht mehr nur auf den jährlich wiederkehrenden Sterbetag und damit nicht mehr allein auf das Totengedächtnis angewiesen. Vielmehr konnte es in der gewichtig gewordenen Lebenszeit des Einzelnen verankert werden und ersetzte das intime Gebetsgedenken zwischen Lebenden, Heiligen und Verstorbenen durch ein historisches Gedenken im Kollektiv der Lebenden. Der Segen, der nach altgläubigem Verständnis durch regelmäßiges Fürbittengebet für das jenseitige Heil der Verstorbenen erwirkt werden sollte, verwirklichte sich nun nach reformatorischem Verständnis förderlich in der Welt, genauer: in der Zukunft der familialen Generationenfolge, die das Gedächtnis trug. Das Personaljubiläum konnte dabei als Erinnerungsmechanismus zwar auf die biblische und kirchengeschichtliche Tradition des Priesterjubiläums, nicht aber auf volkskulturelle Wurzeln rekurrieren. Um 1600 wurde es daher zunächst von den konfessionsbildenden geistlichen und weltlichen Führungseliten wie Pfarrern, Professoren, Bürgermeistern, ratsfähigen Familien und dem Adel genutzt. Während das Amtsjubiläum seinem Wesen nach an öffentliche Amtsträger der weltlichen und geistlichen Führungsgruppen gebunden war und sich erst im 19. Jahrhundert zu einem Dienst- und Arbeitsjubiläum breiterer Schichten erweiterte, setzte sich das Ehejubiläum bereits gegen Ende des 62 Hähner, Historische Biographik, 50f.
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17. Jahrhunderts zunehmend auch in der gehobenen städtischen Mittelschicht der Handwerksmeister und Kaufleute durch, um im späten 18. Jahrhundert zu einer, zwar immer noch seltenen, inzwischen aber doch selbstverständlichen erinnerungskulturellen Erscheinung zu werden. Im 19. Jahrhundert fand es Verbreitung in den unteren Schichten der Städte und auch bei den Bauern auf dem Land. Zudem sorgte die zunehmende Etablierung der 25 als feierwürdige Zahl dafür, dass das Ehejubiläum seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr als seltenes Kuriosum, sondern als ein allgemeines Massenphänomen wahrgenommen werden konnte. Personaljubiläen überbrückten krisenanfällige institutionengeschichtliche Schwellensituationen, die sich aus der individuellen Endlichkeit der Führungspersonen bei gleichzeitigem Kontinuitätsanspruch der Institution ergaben. Bei Amtsjubiläen erfolgte zugleich die offizielle Vorstellung und Einsegnung der Amtsnachfolger. Ehejubilare empfingen sämtliche Nachkommen ihrer Verbindung und segneten ihre Kinder, Enkel und Urenkel für die Zukunft. Personaljubiläen stellten mit ihrer eigengeschichtlichen Rückschau und der normativen Vergewisserung der institutionellen Grundwerte gewissermaßen einen personalen wie auch institutionellen Passageritus dar.63 4.6 Kirchenbücher und Pfarrarchive Ein wichtiges Medium zur Reflexion und Deutung merkwürdiger Ereignisse der Kirchen- und Kommunalgeschichte bildeten insbesondere seit dem Dreißigjährigen Krieg die Niederschriften in den Pfarrarchiven. Pfarrarchive und Kirchenbücher bildeten neben ihren Funktionen als Ablage der Verwaltungsregistratur und Verzeichnisse des Personenstandswesens selbst einen Ort der Memoria und eine Schriftablage zur Kommunikation mit Amtsnachfolgern und der Nachwelt, für die eigens Erinnerungstexte und historische Nachrichten verfasst wurden. Insbesondere die ursprünglich multifunktional konzipierten Kirchenbücher hatten mit ihren annalistischen und vielfältigen anderen Eintragungen nicht den Charakter abgelegter Akten, sondern den eines dauerhaft gebrauchten Instrumentes lokaler Erinnerungsarbeit mit hoher identifikatorischer Bedeutung für das zugehörige Gemeinwesen. Dem Verschwinden ihrer chronikalen Funktion durch die notwendige und gesetzlich geforderte Schematisierung der Zivilstandsregister um 1800 begegnete man unter dem Einfluss erwachenden Nationalbewusstseins nach 1813 in verschiedenen evangelischen Territorien mit der obrigkeitlichen Verordnung zur Anlage eigenständiger Ortschroniken.64
63 Vgl. Dornheim, Gedächtnis, 80–130; Ders., Amtsjubiläum. 64 Vgl. Dornheim, Gedächtnis, 136–160; Wagner, Kirchenbuchführung, 347–356; Baier, Kirchenbücher, 528–530.
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4.7 Kollektive Passage und Bilanz – Gedenken am Neujahrstag Als kollektiver Passageritus kann in einem erweiterten Sinn auch der Neujahrstag begriffen werden. Seit dem 17. Jahrhundert fand er im Luthertum zunehmend seinen Platz neben den kirchlichen Kasualien, welche lebensgeschichtliche Schwellen wie Geburt, Hochzeit und Tod begleiteten. Ähnlich dem biographischen Rückblick auf die Lebenszeit, reflektierte man an der Schwelle zum neuen Jahr im Medium der Neujahrspredigt die kollektive Vergangenheit und Zukunft der Gemeinde, bewertete die gegenwärtige Situation und zog für das Gemeinwesen Bilanz über das vergangene Jahr oder längere Zeiträume. In der sich herausbildenden Form der lutherischen Neujahrspredigt übernahm die Pfarrerschaft die öffentliche Deutung von aktuellem Zeitgeschehen. Der Neujahrstag entwickelte sich seit dem 17. und 18. Jahrhundert zu einem jährlichen kirchlichen Gedenktag, an dem in den Gemeinden die gemeinsame Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft reflektiert und interpretiert wurde.65 4.8
Von der Schutzmagie zum Gedenkritual – Grundsteinlegungen und Turmknopffeste Nicht zuletzt gehörte die Anlage von Zeitkapseln in Turmknöpfen und Grundsteinen als lokalen oder kommunalen Gedächtnisspeichern zur Aufgabe der Pfarrer als Spezialisten des Gedenkens. Die Versenkung und die Öffnung von Zeitkapseln wurden als kollektive Festereignisse mit besonderen religiös konnotierten Erinnerungsfeiern begangen und anschließend durch Festschriften medial aufbereitet. Grundsteinlegungen und Turmknopffeste als Rituale der Gründung, Vollendung und Erneuerung von Gemeinschaftsbauten thematisierten dabei neben der Bitte um Schutz und Erfolg des Bauprojektes und der affirmativen Vergewisserung der guten Intentionen der gemeinsamen Anstrengungen nicht allein das jeweilige Bauwerk. Vielmehr repräsentierten und symbolisierten sie in ihrem Zeremoniell und in den Bezugnahmen der Gedenkpredigten ausdrücklich das gesamte Gemeinwesen. Dabei bekamen die entsprechenden Bauplätze, Bauten und Räume in kollektiv vollzogenen Ritualen ihre verbindliche Bedeutung sowie ihre sakrale und identifikatorische Kraft für das politische Gemeinwesen zugesprochen. Im Rahmen der durch die Geistlichkeit angeleiteten und durch Repräsentanten der weltlichen Herrschaft vollzogenen Rituale, wozu u. a. das Setzen und das Befüllen des Grundsteines mit der Zeitkapsel sowie drei abschließende Hammerschläge gehörten, wurde der Bau und mit ihm das gesamte Gemeinwesen unter die Allmacht des Göttlichen gestellt. Aus dieser sakralen Aufladung heraus konnte der Bau für die Bürger, die sich regelmäßig in und um ihn versammelten und zur Kult-
65 Vgl. Dornheim, Gedächtnis, 161–178, 197–201; Fechtner, Schwellenzeit.
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und Festgemeinschaft verbanden, heils- und identitätsstiftende Wirkungen entfalten.66 5.
Fazit
Die Annäherung an die Bereiche der sich mit dem lutherischen Pfarramt verbindenden Arbeitsfelder öffentlichen Gedenkens verdeutlicht, dass die inzwischen weitgehend gut untersuchten Luther- und Reformationsjubiläen lediglich die prominente Spitze eines Berges vielfältiger erinnerungskultureller Formate darstellen, die bisher kaum oder nur vereinzelt untersucht wurden. Die gemachten Befunde verweisen auf das enge Zusammenspiel von Konfession und Gedenken sowie auf eine daraus resultierende starke kulturelle Prägekraft. Mit dem Pfarrhaus schuf sich die Geistlichkeit eine soziokulturelle, religiöse und pädagogische Institution, die sich nach Durchsetzung der Reformation auf lokaler Ebene der Aufgabe annahm, eine neue Erinnerungskultur und eine spezifisch lutherische Identität zu entwickeln. Dabei bedienten sich zunehmend auch die lokalen Pfarrer der kleineren Stadt- und Dorfgemeinden neuer Zeitkonstruktionen und Erinnerungsformen, um ein neues, spezifisch lutherisches Geschichtsbild zu tradieren. Diese neuen Erinnerungsformen waren spätestens seit dem Reformationsjubiläum 1617 auf landeskirchlicher Ebene etabliert. Unter Anwendung des Jubiläumsrhythmus auf die Amts- und Familiennachfolge der einzelnen Pfarrhäuser ließen sich Zeitspannen zur Deutung lokaler Eigengeschichte konstruieren. Die damit im Pfarrhaus entstehende familial-öffentliche Festkultur diente bald als Muster bei der Herausbildung einer protestantisch-privaten Erinnerungskultur. Eine Krise des Pfarramtsverständnisses durch Pluralisierungs- und Säkularisierungsprozesse seit dem 18. Jahrhundert veranlasste weite Kreise der evangelischen Pfarrerschaft, ihr berufsständisches Selbst- und Fremdbild durch verstärkte Eigengeschichtsschreibung und Identitätspflege zu stabilisieren. Einerseits bediente sie sich dabei zeitgeistkonform der Anwendung wissenschaftlicher Methoden und rationaler Argumentationsmuster. Andererseits verzichteten die Autoren nicht auf die bereits im 16. Jahrhundert erfolgreich erprobten Erinnerungsstrategien. Sie bemühten sich weiterhin, die Wahrheit der Lehre und den Geltungsanspruch des geistlichen Amtes aus der Vorbildlichkeit der Lebensleistung seiner personalen Träger zu begründen. Das Pfarrhaus als eine Basisinstitution des Luthertums war als eine Art Erinnerungsagentur zentral mit der Entstehung und Entwicklung einer spezifisch lutherischen Gedenkkultur verbunden und wurde als lehrhaftes Vorbild christlichen Alltagslebens 66 Vgl. Rowald, Grundsteinlegung, 3–15; Dornheim, Gedächtnis, 203–235 sowie 251–255.
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zunehmend selbst in den Mittelpunkt theologisch geprägter Erinnerungsarbeit gerückt. Literatur Quellen Dietmann, Karl Gottlob, Die gesamte der ungeänderten Augspurgischen Confeßion zugethane Priesterschaft in dem Churfürstenthum Sachsen und denen einverleibten Landen, 5 Bde., 3 Supplemente, Dresden/Leipzig 1752–1781. –, Vorrede zu: Die gesamte der ungeänderten Augspurgischen Confeßion zugethane Priesterschaft in dem Churfürstenthum Sachsen und denen einverleibten Landen, Teil 1, Bd. 1, Dresden/Leipzig 1752 [unpag.]. –, Vorerinnerung zu: Die gesamte der ungeänderten Augspurgischen Confeßion zugethane Priesterschaft in dem Churfürstenthum Sachsen und denen einverleibten Landen, Teil 1, Bd. 2, Dresden/Leipzig 1753 [unpag.]. Hoffmann, Friedrich Gottlob, Bildnisse der sämmtlichen Superintendenten der Leipziger Diöces mit kurzen Lebensabrissen, auch den merkwürdigsten kirchlichen Ereignissen Leipzigs begleitend zur 300jährigen Feyer der Reformation in Leipzig nach ihren Originalgemälden lithographiert v. Carl Eduard Albert Paalzow, Leipzig 1840. Jccander [Johann Christian Crell], Das gesamte itzt-lebende geistliche Ministerium im gantzen Churfürstenthum Sachsen und incorporirten Landen, auch Ober- und Nieder-Lausitz, oder Das blühende Andencken aller in Sachsen und Laußnitz […] lebenden Evangelisch-Lutherischen Prediger, wie solche im Jahre MDCCXXIII. in Städten und aufm Lande floriret […], Leipzig 1723. Kaphahn, Friedrich Joseph Anastasius, Die St. Johannis- oder Stadt-Kirche zu Neustadt an der Orla mit ihren Denkmälern […], Neustadt (Orla) 1827. Knauth, Johann Conrad, Das ehrenvolle Alter Johann Knauths, nachdem selbiger am 29. Januar 1716 sein 86jähriges Leben in seinem 3. Pastorat zu Dippoldiswalde beschlossen […], Dresden 1716. Petzsch, Johannes, Ministerium Centennale Oder Hundert-jähriges PredigtAmpt dreyer Pfarrern: Bey der Christlichen Kirchen zu Rossa/ unter der löblichen Superintentur Chemnitz/ von Anno 1562. biß 1662. Als da sind: Philippus: Adamus: Johannes: Großvater: Vater: und Sohn: Petzschischen Geschlechtes: in einer einfältigen Gedächtniß-Predigt/ abgebildet an denen dreyen Hohen-Priestern Bey der Israelitischen Kirchen Altes Testamentes: Als gewesen Aaron: Eleasar: Pinehas: gleicher Lini / In Volckreicher Versamlung gehalten/ Am Tage der beyden Aposteln Philippi und Jacobi Anno 1662.
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durch Johannem Petzschen/ dritten vocirten Evangelischen Pfarrer daselbst/ in dessen Kindern und Nachkommen (besage des hierbey nun aus seinem Lebens-Lauffe angefügten Extracts) […], Meißen 2 1693. Pritius, Johann Georg, Nützlicher Geschichts-Calender Welcher Die LebensBeschreibungen der Leipziger Herren Superintendenten Jngleichen unterschiedene Denckwürdige Begebenheiten Die sich in Kirchen- und ReligionsSachen Von Anno 1539. bisz 1698. in Leipzig begeben haben Jn richtiger Ordnung und beliebter Kürtze entwirfft, Leipzig 1698. de Wette, Gottfried Albin, Evangelisches Jena oder gesamlete Nachrichten von den sämtlichen evangelischen Predigern in Jena und der dazu gehörigen Diöces, Jena 1756. Forschungsliteratur Angermann, August, Was für Männer gab das evangelische Pfarrhaus dem deutschen Volke?, Essen 3 1940. Arens, Edmund, Anamnetische Praxis. Erinnern als elementare Handlung des Glaubens, in: Paul Petzel/Norbert Reck (Hg.), Erinnern. Erkundungen zu einer theologischen Basiskategorie, Darmstadt 2003, 41–55. Assmann, Aleida, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2018. –/Friese, Heidrun (Hg.), Identitäten, Frankfurt a.M. 1998. Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und Identität in frühen Hochkulturen, München 2 1997. –, Erinnern, um dazuzugehören. Kulturelles Gedächtnis, Zugehörigkeitsstruktur und normative Vergangenheit, in: Kristin Platt/Mihran Dabag (Hg.), Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten, Opladen 1995, 51–75. –, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Ders./Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1988, 9–19. Baier, Helmut, Art. Kirchenbücher, TRE 18, 1989, 528–530. Baur, Wilhelm, Das deutsche evangelische Pfarrhaus. Seine Gründung, seine Entfaltung, sein Bestand, Berlin 2 1878. Blanckmeister, Franz, Die sächsischen Kirchenbücher, Leipzig 1893. Bormann-Heischkeil, Siegrid, Soziale Herkunft der Pfarrer und ihrer Ehefrauen, in: Martin Greiffenhagen (Hg.), Das evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte, Stuttgart 1984, 149–174. Brecht, Martin, Herkunft und Ausbildung der protestantischen Geistlichen des Herzogtums Württemberg im 16. Jahrhundert, ZKG 80 N.F. 18, 1969, 163–175.
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Reformiertes Selbstbewusstsein um 1617 am Beispiel Heinrich Alting (1583–1644)1 Die Erforschung der hier vereinfachend und generalisierend als »reformiert« bezeichneten Memorialkultur lässt bislang noch Wünsche offen. In den bisherigen neuzeitlichen Veröffentlichungen werden vor allem die Bedeutung und der Beitrag Abraham Scultetus (1566–1624) als Heidelberger Hoftheologe und prediger zu Recht gewürdigt.2 Darüber hinausgehende Jubilare des reformierten Heidelberger Spektrums und ihre Agenden sowie historiographischen Leistungen hat insbesondere die Dissertation von Gustav Adolf Benrath (1931–2014) aus dem Jahr 1963 herausgestellt.3 Neuerdings wurde das hier besprochene, dem sogenannten Calvinismus aulicus verpflichtete Portfolio von Herman Johan Selderhuis (geb. 1961) konfessionskulturell akzentuiert und hinsichtlich seiner Verständigungsbereitschaft zur Diskussion gestellt.4 Der vorliegende Beitrag soll anhand eines bisher noch wenig bekannten melanchthonisch-reformiert geprägten Theologen die Spezifika und das Konzept reformierter Memorialkultur weiter entfalten und so die bisherigen Untersuchungen ergänzen oder vertiefen. Komparatistische oder nicht nur die geistigen Zentren beachtende Monographien mit Fokus auf die reformierten oder auch ›kryptocalvinistischen‹ Territorien, Reichsstädte, Dörfer und Flecken um 1617 stellen nach wie vor ein Desiderat dar.5 Die Vorgehensweise ist wie folgt: Der Blick fällt zunächst einleitend auf Person und Werk des späteren Kirchen- und Dogmenhistorikers Heinrich Al1 Ich danke Otto Ritter für die Hinweise zu dem verwandten lat. Idiom und Dietlind von der Trenck für die kritische Durchsicht des Manuskriptes. 2 Aus der Vielzahl der Literatur zum Thema (hier mit Konzentration auf die Rolle der Kurpfalz und insbesondere Scultets Agitation) vgl. vor allem Benrath, Reformierte Kirchengeschichtsschreibung, 38f; Schönstädt, Antichrist, 36–38, 206f, 214, 222, 225, 227, 233, 304, 306f; Kastner, Geistlicher Rauffhandel, 26–29; Flügel, Konfession und Jubiläum, 53–57, bes. 55, Anm. 126; Leppin, Memoria, 119f; Ders., Identitätsstiftende Erinnerung, 338f; Kaufmann, Reformationsgedenken, 298–302, und neuerdings Volp, 1617 – 1717 – 1817 – 1917, 10f, der von einer »weltgeschichtlichen« Bedeutung Scultets und seiner Neujahrspredigt spricht im Hinblick auf die geistige Einflussnahme und Formung des jungen Kurfürsten Friedrich V. 3 Benrath, Reformierte Kirchengeschichtsschreibung, 37–46. 4 Selderhuis, Wem gehört die Reformation?, 71–74; vgl. auch Leppin, Identitätsstiftende Erinnerung, 341–345. 5 Abgesehen bspw. von der quellenreichen Studie von Vogler, Vie religieuse (konzentriert in: Ders., Ausbildung).
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ting, danach grundlegend auf sein Verständnis von reformatio anhand seiner Pfälzischen Kirchengeschichte und final auf das Zelebrieren des ersten Reformationsjubiläums 1617 in der Kurpfalz sowie die von Alting dabei gehaltene Oratio secularis. Es handelt sich hinsichtlich des letzten Punktes zugleich um einen kurzen Beitrag zum Selbstverständnis protestantisch-reformierter Kirchen vor dem Dreißigjährigen Krieg. 1.
Person und Werk des Kirchen- und Dogmenhistorikers in nuce
Wer war Heinrich Alting? Heinrich Alting darf als ein Begründer der Auffassung von Dogmengeschichte als einer selbstständigen Disziplin neben der Dogmatik verstanden werden, freilich in einem noch vorkritischen und vorhistorischen Stadium auf dem Weg zur Konsolidierung jener Disziplin. Die daraus resultierende verdiente Beachtung seiner Person und seines Werkes stehen noch aus. Die Forschung sieht in den voraufklärerischen Werken des Jesuiten Dionysius Petavius (1583–1652) und des reformierten Schotten Johannes Forbesius à Corse (1593–1648) Vorläufer der Disziplin, die im ausgehenden 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ihre Blütezeit erreichen sollte. Allerdings ist zu fragen, ob nicht auch Altings kirchen- und dogmengeschichtliche Werke in diesem Zusammenhang Erwähnung verdienten.6
6 In chronologischer Reihenfolge: Einschlägige Dogmatiken, wie die von Gass, Geschichte der protestantischen Dogmatik Bd. 1, 434f und Schweizer, Die protestantischen Centraldogmen Bd. 2, 163, 214–216, 389, 425, 430, 519, verweisen nur im Zusammenhang mit der Synode zu Dordrecht und in summarischer Form bzgl. der Prädestinationsanschauung nachreformatorischer Theologen auf Alting. Loofs, Leitfaden, 931–942, bes. 936f weist auf keinen Beitrag Altings hin. Ritschl, Dogmengeschichte, Bd. 1, 30–32 nennt zwar Alting als Begründer der Idee einer Dogmengeschichte, widmet sich aber nur in aller Kürze den konkreten Vorstellungen, die hiermit verbunden sind. Althaus, Prinzipien, verweist nicht auf einen dogmengeschichtlichen Beitrag Altings. Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 4,2, 676–700, bes. 682f erwähnt Alting generell nicht. Im Namensregister von Hauschild, Lehrbuch, Bd. 2, fehlt der Name Alting ebenso gänzlich. Immerhin Filser, Dogma, 384, erwähnt ihn »als Wegbereiter der historischen Theologie« und attestiert ihm Ansätze zur Dogmengeschichtsschreibung (ebd., 289, 384–386).
Reformiertes Selbstbewusstsein um 1617 am Beispiel Heinrich Alting (1583–1644)
Als Sohn des namhaften Menso Alting (1541–1612)7 und seiner Frau Maria, geborene Bischoff, († 1613)8 wurde Heinrich am 17. Februar 1583 in Emden geboren.9 Seine Taufe fand am 22. Februar in der Großen Kirche zu Emden statt10 – dem heutigen Standort der Johannes a Lasco Bibliothek. In dieser frühneuzeitlichen Hafen- und nicht Hansestadt mit ihrem sich formierenden Bürgertum, die nicht unwesentlich durch den Einfluss des Vaters Menso zu
7 Visscher/van Langeraad, Alting (Menso), 107–111 (mit älterer ndl. Literatur); Weerda, Alting; Strohm, Alting 1; Schulz, Alting, 24–30. Einen ausführlichen Überblick über Leben und Werk bietet Hermann Klugkist Hesse, dessen Monographie allerdings hagiographische Elemente nicht abzusprechen sind. Denselben Vorwurf erhebt der Verfasser gegenüber einer unveröffentlichten Biographie von Friedrich Wilhelm Cuno über Menso Alting (so in seinem Vorwort; siehe Hesse, Menso Alting, 7; vgl. hierzu Menk, Friedrich Wilhelm Cuno, 886, Anm. 65). Eine Gesamtschau neueren Datums bietet der Begleitband zur Emder Ausstellung Voss/Jahn, Menso Alting und seine Zeit, insbesondere der präzise Beitrag von Voss, Menso Alting. 8 Maria Bischoff (auch Bischop oder latinisiert Episcopia) entstammt einer vornehmen Familie aus Gangelt im Jülichschen Gebiet. Hesses Schilderung zufolge – er greift hier auf Ubbo Emmius zurück – stand sie Menso charakterlich in nichts nach, die Kampf- und Entbehrungsbereitschaft betreffend (Hesse, Menso Alting, 74–77; vgl. zu Verlobung und Hochzeit Emmius, Mensonis Altingii Vita, Kap. 5 & 6; vgl. auch die kurzen Angaben zum Stammbaum in: Maresius, Oratio funebris, 8 [s.p.]). Zu den deutsch-niederländischen Heiratsbeziehungen, insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert, liegen einige Forschungen vor (vgl. Boekholt, Beziehungen, 247–250, bes. 248f). 9 Von Reeken, Handschriftliche Aufzeichnungen, 4. Die nachfolgenden biographischen Angaben richten sich vor allem nach der Haus- und Familienchronik der Familie Alting. Erich von Reeken hat eine zuverlässige Übersetzung besorgt; den lateinischen Text samt Anmerkungen bietet eine Edition Erich von Reekens aus dem Jahr 1978. Im Falle der Familienchronik handelt es sich um eine eingeheftete Blattbeilage in einem Werk von Heinrich Pantaleon mit dem Titel Chronographia Ecclesiae Christianae (Basel 1550). Die Vermutung liegt nahe, dass Menso Alting diese tabellarische Darstellung der Kirchengeschichte schon als Student in Basel erworben hat (von Reeken, Handschriftliche Aufzeichnungen 1978, 21) und dann als Ablage für seine persönliche Geschichte und die seiner Familie nutzte. Auf Seite 13 beginnt die Weiterführung der Chronik durch Heinrich Alting, an die sich ein Appendix ab Seite 43 anschließt, der von anderer Hand verfasst ist – wahrscheinlich durch einen Enkel, Heinrichs Sohn, Jakob Alting (siehe Visscher/van Langeraad, Alting [Jacobus], 119–127; Wensinck, Alting, 96f). Im Gegensatz zu seinem Vater Menso Alting schildert Heinrich neben den genealogischen Nachrichten über seine Familie und Verwandten auch kirchliche und zeitgeschichtliche Ereignisse, womit das Urteil Erich von Reekens »seine Darlegungen [seien] interessanter« nicht von der Hand zu weisen ist (Handschriftliche Aufzeichnungen 1978, 23). Nachdem das Buch den Besitzer wohl mehrmals wechselte (ebd., 22f) befindet es sich jetzt in der JALB in Emden unter der Signatur Theol 4º 0504 R; die angegebenen Daten richten sich noch nach dem julianischen Kalender, da der gregorianische, neue Stil erst 1699 in Ostfriesland eingeführt wurde, in manchen reformierten Territorien noch später (vgl. Deeters, Geschichte der Stadt Emden, 328, Anm. 98 und die Hinweise hierzu im Text in: von Reeken, Handschriftliche Aufzeichnungen 1978, 27, 123 und ebd., 34, 194). 10 Von Reeken, Handschriftliche Aufzeichnungen, 7.
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einem Brennpunkt reformierter Konfessionalisierung im europäischen Kontext wurde,11 besuchte Heinrich mit sieben Jahren die Lateinschule.12 Weitere Bildungsstationen folgten, zunächst in der Heimat seiner Familie die Groninger Lateinschule unter dem Historiker und Kartografen Ubbo Emmius (1547–1625), der sich dem Ausbau dieser humanistischen Bildungsanstalt zu einer der neuen niederländischen Provinzial-Universitäten widmete.13 Von 1602 an studierte Alting in Herborn unter Johannes Piscator (1546–1625), daneben werden noch Wilhelm Zepper (1550–1607) und Matthias Martinius (1572–1630) als Dozenten Altings explizit genannt. Piscator soll in ihm einen wahrhaften Epigonen und Lieblingsschüler gefunden haben.14 Am Ende seiner Studienzeit an der Hohen Schule Herborn wurde er zum Präzeptor dreier Wetterauer Grafen bestimmt, was innerhalb der frühneuzeitlichen Bildungs- und Reisekultur keine Besonderheit darstellte. Altings bisherige Vita kulminiert in seiner Begleitung der Studienreise der Grafensöhne nach Sedan, wo auch der junge Pfalzgraf Friedrich (1596–1632), der spätere Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz, ausgebildet wurde. Er übernahm dort an der Ritterakademie neben anderen Präzeptoren vor allem die konfessionelle Ausbildung des Kurfürsten in spe anhand des Heidelberger Katechismus.15 11 Vgl. hierzu Deeters, Geschichte der Stadt Emden, bes. 277–279, 284–287, 288–296. 12 Hierbei handelt es sich wohl um keine gravierende Abweichung von dem regulären Alter für einen Schuleintritt in den deutschen Territorien, der normalerweise mit sechs Jahren geschah (vgl. Ehrenpreis, Bildung, 424; differenzierter: Ders., Zeitkonzepte, 173–175). Eine ausführliche Darstellung über die Entstehung und Entwicklung der Emder Lateinschule bis hin zum Johannes-Althusius-Gymnasium fehlt bis dato. 13 Die Entwicklung der Groninger Lateinschule in bildungs- und geistesgeschichtlicher Hinsicht bis zur Gründung der Universität Groningen und der Aufrichtung ihrer Statuten aus der Lateinschule heraus hat u. a. Zweder von Martels nachgezeichnet (siehe von Martels, De Groningse Latijnse school; Ders., Oefenschool der Muzen. In nuce vgl. die Jubiläumsschrift van Berkel, Universiteit van het noorden, Bd. 1, 55–89). 14 Lewald, Catechetischer Unterricht, VII informiert (leider ohne Quellenangabe, u.U. im Rekurs auf Ihle, Lebensbeschreibungen, 4) über Piscators Vorliebe für Heinrich Alting, der »ihn und den Conr. Vorstius als die beiden tüchtigsten unter seinen Schülern zu charakterisieren pflegte, mit dem pikanten Zusatz, jener (Alting) sey der beste, dieser (der arminianisch-gesinnte, ja sogar auch im Geruch des Socinianismus stehende Vorstius) dagegen der schlimmste theologus« (Hervorhebung und Klammern i.O.; vgl. zu Conrad Vorstius: van Been, Vorstius, 762–764; zu den Auseinandersetzungen mit Piscator Bos, Johann Piscator, 208–217 u. generell Rohls, Der Fall Vorstius). 15 »Am 2. Juli wurde mir zusammen mit dem Doktor Colbius die Erziehung des berühmten Fürsten Friedrich von dem bedeutenden Doktor Kanzler von Grün aufgetragen und bald darauf vom Kurfürsten selbst persönlich bestätigt.« (von Reeken, Handschriftliche Aufzeichnungen, 8; siehe die Bestallungsurkunde vom 26. November 1609, in: Schmidt, Geschichte, 70f – Instruktion Nr. 29); zu Zacharias Kolbs Tätigkeit als Präzeptor siehe ebd., XLIII–XLV, und Press, Calvinismus, 488 (der auf die Praxis am kurfürstlichen Hof hinweist, eine Probezeit für Präzeptoren einzurichten; ebd., 156).
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1610 folgte er dann dem Pfalzgrafen bei seiner Rückkehr nach Heidelberg anlässlich des Todes des amtierenden Kurfürsten Friedrich IV. (1574–1610, reg. 1583). Alting beschrieb ihn sehr dezent und wenig anrüchig als »Schicksal«, wodurch er die Tatsache verbarg, dass Friedrich IV. seinem exzessiven Lebenswandel mit nur 36 Jahren erlegen war.16 Auf der Englandreise 1612/13 begleitete Alting den neuen Kurfürsten als Präzeptor zu dessen Vermählung mit Elisabeth Stuart (1596–1662), Tochter Jakobs I. von England (1566–1625, reg. 1603). Der Beschreibung dieser aufwendigen Reise kommt allerdings in der Alting’schen Chronologie keine große Bedeutung zu.17 Ob hiermit implizit reformierte Kritik an der kostspieligen und prunkvollen Inszenierung zum Tragen kommt, ist zumindest diskutabel. Gleichwohl: Der Wechsel in die kurfürstliche Residenzstadt am Neckar bedeutete für Alting vor allem eins, nämlich den sozialen Aufstieg. Anders als noch sein Vater Menso verstand er es besser, sich auf dem höfischen Parkett zu bewegen.18 Allerdings war der junge Alting damit auch mit dem Auf- und Abstieg der Kurpfalz verbunden. Sein »Schicksal« verlief entlang der Linienführung des kurfürstlichen Hofes, die bekanntlich in den Dreißigjährigen Krieg mündete. Zurück in Heidelberg wurde ihm im Juli 1613 die dritte Professur für Theologie angetragen als »professor locorum communium«,19 kurz darauf folgte dann die Vermählung mit Susanna Bélier (1592–1643), Tochter des einflussreichen Tuchhändlers Charles Bélier (1553–1622) und seiner Frau Franziska, geborene Saureau (1558–1622). Als inzwischen etablierter und bekannter Hoftheologe wurde Alting im November 1618 mit Abraham Scultetus und dem Kirchenrat Paul Tossanus (1572–1634) zur Synode von Dordrecht entsandt.20 Seine Heidelberger Periode, die man als Blütezeit bezeichnen kann, nahm nach seiner Rückkehr ein abruptes Ende mit der Eroberung Heidelbergs am 16 »Anno 1610. 16. Decemb., Sedano dicessimus Heidelbergam, revocati propter obitum Electoris, qui 9. Septemb. fatis concesserat, Excepti fuimus in aula Electorali ab administratore illustrissimo principe D. Joanne Bipontino 28. Decemb.«; von Reeken, Handschriftliche Aufzeichnungen 1978, 30, 55–59. 17 Im Gegensatz zu der zeitgenössischen Literatur, die sich hierherum gebildet hat, wie z. B. die kulturhistorisch herausragende deutsche Schrift Beschreibung Der Reiß. Vgl. dazu ausführlich Rüde, England und Kurpfalz, 273–295; neuerdings der kommentierte Abbildungskatalog in: Apperloo-Boersma/Selderhuis, Macht des Glaubens, 313–320; sowie der inhaltsreiche Wolfenbütteler Sammelband Smart/Wade, The Palatine Wedding, der allerdings Alting nicht erwähnt. 18 Vgl. hierzu Schulz, Alting, 24; Hesse, Menso Alting, 58f. 19 So laut Dekanatsbuch der Theologischen Fakultät Heidelberg (siehe Universitätsarchiv Heidelberg, Theol. Fak. 2, 194). 20 Vgl. hierzu en détail (wie auch zu den vorangehenden und nachfolgenden biographischen Notizen, die zum Teil bisher unbekannt waren oder nicht beachtet wurden) neuerdings Klöckner, Heinrich Alting, bes. Kap. 2.5, hier 101–121.
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16. September 1622 durch die Truppen Tillys. Alting entkam den plündernden Soldaten nur mit knapper Not. Eine legendenhafte Anekdote mit historischem Kern hat sich hierherum gebildet im Stile Hugo Grotius’ (1583–1645) und seiner Frau, die ihn mithilfe einer Bücherkiste dem lebenslang verhängten Gefängnis entkommen ließ. Eine abenteuerliche Flucht durch diverse Territorien schloss sich an, die Alting schließlich ins niederländische Exil führte. Nach einigem Hin und Her zwischen Emder Stadtrat – der alte Syndikus Johannes Althusius (1563–1638) wurde hierzu extra beordert – und dem Kurfürsten im Exil, wurde Alting 1627 an die Universität Groningen berufen, wiederum an den Lehrstuhl für Theologie als Professor der Loci. Seine dort gehaltenen Vorlesungen wurden erst postum von seinen Söhnen Jakob (1618–1679) und Menso III. (1617–1678) veröffentlicht. Immer wieder aufgelegt und verbreitet,21 waren sie offenbar von großem Interesse für die orthodoxe reformierte Theologie des 17. Jahrhunderts. Gestorben ist Heinrich Alting am 25. August 1644 in Groningen. Ein Eheepitaph wurde vor einigen Jahren überraschenderweise wieder aufgefunden und befindet sich jetzt gemeinsam mit anderen Vertretern des ersten Kollegiums im Keller des alten, jedoch nicht ursprünglichen Groninger Universitätsgebäudes auf dem Weg in die Küche. Wie geschmackvoll diese Art des Gedenkens zu bewerten ist, gehört nicht zur Aufgabe der vorliegenden memorialkulturellen Skizze, die den Umgang mit den Urhebern der Reformation und nicht deren Anhängern und Bewahrern im Fokus hat. Dies wäre unter Umständen eine eigene Studie wert. 2.
Altings Verständnis von reformatio anhand seiner Pfälzischen Kirchengeschichte
Heinrich Altings Fassung der Pfälzischen Kirchengeschichte, die im späteren postumen Druck sogenannte Historia Ecclesiae Palatinae (1701), beginnt mit einem gewaltigen historischen Vergleich, der gleich zu Beginn das Selbstbewusstsein reformierter Theologen kurpfälzischer Provenienz zu jenem Zeitpunkt widerspiegelt. War noch zu Beginn Jerusalem das Zentrum, aus dem das Evangelium hervorging, »so sind es nun die Metropolen Wittenberg und Zürich, die das erneuerte Evangelium hervorgebracht haben«.22 Zwar haben die beiden genannten Religionsparteien das Papsttum und seine Auswüchse 21 Siehe nur die von seinem äußerst begabten Schüler Johann Heinrich Hottinger stammende Mitschrift der Groninger Vorlesung über »Historische Theologie« in: Zentralbibliothek Zürich, Ms F 77, fol. 86r –122r . 22 Alting, Historia Ecclesiae Palatinae, 129 (Übers. durch den Verf. [T.K.], wenn nicht anders angegeben).
Reformiertes Selbstbewusstsein um 1617 am Beispiel Heinrich Alting (1583–1644)
als gemeinsamen Gegner, doch zeichnet sich die zwinglianisch-reformierte Variante dadurch aus, von päpstlichen Irrtümern und Aberglauben gereinigter zu sein. Es handelt sich um eine Anspielung unter anderem auf das lutherische Sakramentsverständnis. In diesem Sinne votiert Alting weiter: Wittenberg erkennen als ihre Mutter an die Kirchen beider Sachsen und der angrenzenden Gebiete Deutschlands, in Dänemark, Norwegen, Schweden, Polen und Litauen. Zürich aber verehren als ihre Mutter die Kirchen der Schweiz und Oberdeutschlands, insbesondere am Rhein, sowie die Kirchen Frankreichs, Englands, Schottlands, der Niederlande und eines Teils von Polen und Litauen, ja auch in Ungarn und Siebenbürgen. Die pfälzische Kirche verdankt beiden Hauptorten, als seien sie gemeinsam ihre Mutter, diese Grundlage, Wittenberg im Blick auf ihren Ursprung und erstes Wachstum, Zürich aber wegen ihrer Reinheit, Klarheit und Vollkommenheit.23
Die Stadt am Genfer See wird indes von dem orthodoxen Calvinisten nicht erwähnt, man vermisst dieses Schweizer Reformationszentrum in der Auflistung, wie auch schon im Rahmen der Feier des Reformationsjubiläums von 1617 in Heidelberg die Redner ohne die Erwähnung der Stadt Farels auskamen. Damit ist Calvins theologischer und kybernetischer Einfluss jedoch keineswegs zu negieren, aber ganz nebenbei wird so eine fundamentale Grundierung der pfälzischen Kirche im 16. Jahrhundert geliefert, die Lyle Dean Bierma (geb. 1950) folgendermaßen arrondiert: »The Protestant church in the Palatinate consisted, so to speak, of a Lutheran (Melanchthonian) foundation onto which elements of a Reformed superstructure had been erected.«24 Das von Alting selbst gesteckte Ziel ist es nun, das Werden dieses Überbaues, sprich die pfälzische Kirchengeschichte, von den Anfängen der Reformation bis in seine Zeit der reformierten Blüte – so nicht nur in seiner Wahrnehmung – zu behandeln. Als Gliederungsmittel dienen ihm hierbei verschiedene Phasen des Religionswechsels und der damit verbundenen Erneuerungen oder auch Rückschritte. Später dann in seinem unvollendet gebliebenen Hauptwerk, der Theologia Historica ([1635] 1664) geschieht dies im großen Stil im Sinne des melanchthonischen Schemas ›deformatio et reformatio‹. Anklänge an das 23 »Et Wittebergam quidem matrem agnoscunt Ecclesiae per utramque Saxoniam laxius sic dictam, & ei ad sitas provincias in Germania; per Daniam item, Norwegiam, Sueciam & Poloniam ac Lithuaniam. Tigurum vero eodem honore dignantur Ecclesiae Helveticae & superioris Germaniae praecipue ad Rhenum, nec non aliae per Galliam, Angliam, Scotiam, Belgium, Poloniae ac Lithuaniae partem ac denique per Hungariam & Transylvaniam. […] Palatinam colunt Patronam […] utrisque Metropoli ceu Matri communi se hoc axioma […]. Wittebergae quo ad priam sui originem primaque incrementa, Tiguro quo ad puritatem, claritatem & perfectionem«. (Alting, Historia Ecclesiae Palatinae, 130 – Hervorhebung durch T.K., Übers. nach Benrath, Eigenart, 14). 24 Bierma, The Theological Origins, 21.
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Großprojekt der Magdeburger Zenturien (1559–1574), das letztlich ein Torso bleiben sollte, sind deutlich, auch wenn sie mehr die Intention und Methode betreffen, denn die Gliederung und Präsentation des Stoffes. Die Magdeburger Zenturien bieten noch in polemisch-apologetischer Weise eine breite, zenturiale Darstellung der Kirchen- und Dogmengeschichte vom Urchristentum bis ins 13. Jahrhundert. Die Geschichte der Kirche wird hier »als Folge von wiederholten Deformationen und Reformationen, im ganzen jedoch als [...] Prozeß zunehmender Entstellung der biblischen Wahrheit« begriffen.25 Altings Systematik ist jedoch eine andere, löst sie sich doch zunehmend von den bewährten Schemata ab. Tatsächlich gelangt Alting in seiner regional- oder auch territorialgeschichtlichen Darstellung nur bis ins Jahr 1584, genauer in das Jahr der Restitution der Kurpfalz in reformierter Hinsicht unter Friedrich IV., resp. seinem Vormund Johann Casimir (1543–1592), vormals Pfalzgraf von Pfalz-Lautern und späterer Administrator der Kurwürde. Alting stellt ihn am Ende seiner den häufigen Religionswechseln folgenden Historia Ecclesiae Palatinae dem älteren lutherischen Bruder Ludwig VI. (1539–1583) als Antipode gegenüber.26 Somit endet seine Darstellung mit der zweiten Religionsveränderung nach der als Klimax wahrgenommenen »vollkommenen Reformation« und gelangt nicht mehr zu den gravierenden Einschnitten durch den Dreißigjährigen Krieg, dessen Anfänge und Konsequenzen er ex vivo hätte schildern können. Mit dem Gespür des Systematikers ordnet er dabei den Geschichtsverlauf ohne den einfachen Rückgriff auf die Einteilung in Annalen oder Saecula. Stattdessen erwächst ihm das Schema seiner Historia aus dem zu behandelnden Stoff selbst. Das ist zu diesem Zeitpunkt in historiographischer Hinsicht genreübergreifend bemerkenswert und offenbart sein progressives Verständnis von Reformation.27 Es handelt sich nicht um einen eher punktuellen und linearen Ansatz, auch wenn er sehr wohl einzelne kirchenhistorische Ereignisse im konstruktivistischen Sinne herausgreifen und in ihrer Bedeutung nicht nur für die eigene Konfession würdigen kann. Auf eine Phase der Vorbereitung der Reformation (I.) folgt deren stufenweise Vollendung – dabei unterscheidet der Dogmatiker drei gradus – (II.) und schließlich folgen die Veränderungen der vollkommenen Reformation (III.). Er präsentiert somit eine Einteilung der pfälzischen Kirchengeschichte nach dem Prinzip der Religionsveränderung, die sich aus dem extensiven Gebrauch des ius reformandi speist und der Alting hier nachspürt: 25 Benrath, Geschichtsschreibung, 632. 26 Alting, Historia Ecclesiae Palatinae, 246f. 27 Vgl. hierzu pars pro toto die grundsätzlichen Überlegungen von Zedelmaier, Im Griff, bes. 449f.
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1.1 Vorrede über die historischen Zentren der Reformation (129f)28 1.2 Initiale Vorbereitung der Reformation (131–137) 1.3 Stufenweise Vollendung der Reformation (138–222) 1.3.1 Erster Schritt der Vorbereitung 1.3.2 Zweiter Schritt des Fortschreitens 1.3.3. Dritter Schritt der Vollendung 1.4 Veränderungen der vollkommenen Reformation (223–250) 1.4.1 Erste Veränderung der vollkommenen Reformation 1.4.2 Zweite Veränderung der vollkommenen Reformation
Inhaltlicher Höhepunkt, und demgemäß auch am ausführlichsten geschildert, ist die Durchführung der später sogenannten Zweiten Reformation unter Kurfürst Friedrich III. (1515–1576, reg. 1559), den man nicht umsonst als den Frommen bezeichnete und im reformierten Lager dafür pries. Die in der Forschung überholte Begrifflichkeit zu Gunsten des Konfessionalisierungsparadigmas29 wird von Alting zumindest gedanklich noch unbekümmert gebraucht. In seiner Vorstellungswelt folgt eben auf die anfänglich skizzierte praeter propter lutherische Reformation und ihren langen Schwebezustand in der Kurpfalz die Vollendung, Vervollkommnung und konsequente Realisierung der reformatorischen Anfänge unter dem reformierten Agnat.30 Inwieweit dies den realpolitischen Sachbestand berührt, resümiert Christoph Strohm bejahend: »Die reformiert orientierte Darstellung eines Heinrich Alting oder Daniel Tossanus, dass Friedrich die unvollkommen gebliebenen Reformationsbestrebungen des nur vier Jahre herrschenden Ottheinrich fortgeführt habe, trifft hier wohl […] zu.«31
28 Die Seitenzahlen beziehen sich auf die erste Edition der Historia Ecclesiae Palatinae, die sog. Miegsche Ausgabe, in dem Sammelband von Mieg, Monumenta pietatis et literaria virorum, 129–250. 29 Vgl. zur Genese und dem Problemfeld der Forschungslage immer noch den von Heinz Schilling hg. Sammelband Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland. Das Problem der ›Zweiten Reformation‹, hierin insbes. den Beitrag von Press, Die ›Zweite Reformation‹, sowie generell die Kongressbände von Visser, Controversy; Schaab, Territorialstaat. Instruktiv ist auch der Prolog in: Burckhardt, Das Reformationsjahrhundert, 9–15; beachtenswert der Vorschlag von Klueting, Die reformierte Konfessionalisierung. Neuerdings sind spezifisch zur kurpfälzischen Paradigmatik erschienen: die Vorträge innerhalb des Jubiläumsbandes 450 Jahre Reformation in Baden und Kurpfalz von Strohm, Übergang, sowie innerhalb des Jubiläumsbandes anlässlich des 450-jährigen Bestehens des Heidelberger Katechismus: Ders., ›Deutsch-reformierte‹ Theologie?. 30 Vgl. Alting, Historia Ecclesiae Palatinae, 169f, passim. 31 Strohm, Übergang, 92f.
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3.
Altings Oratio secularis anlässlich des ersten Reformationsjubiläums 1617 in der Kurpfalz
Auf Geheiß des jungen Kurfürsten Friedrich V. und seiner Räte und Hoftheologen32 fand vom 1. bis 4. November 1617 das Kirchenreformationsjubiläum in Heidelberg statt,33 an dem die altehrwürdige Universität und ihre Angehörigen federführend beteiligt waren.34 Der Kurfürst weilte zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht in Heidelberg.35 Ursprünglich war ein landesweiter Gebets- und Gedenktag für Sonntag, den 2. November »in omnibus templis« angeordnet, der Senat überließ aber dann der Theologischen Fakultät, die schon im Vorfeld eifrige Planungen angestellt hatte, die Ausgestaltung eines längeren Zeitraumes.36 Anklänge bezüglich des Curriculums an die wiederkehrenden Stiftungsfeiern und -jubiläen der später als Ruperto-Carola titulierten Universität waren nicht nur in Heidelberg deutlich vorhanden.37 Die Vorgeschichte dieser Selbstinszenierung sei hier in aller Kürze geschildert: Nach einem der Heilbronner Unionstage oder auch -konvente im April 1617, bei dem Friedrich V. als Initiator – darf man sagen als Instrument? – auftrat und das Verlesen eines gemeinsamen Gebetes zum Gedächtnis an Luthers Initialzündung vorschlug, und zwar im Rahmen der Union in einem Ostergottesdienst in Heilbronn, wurde der schon seit längerem schwelende Gedanke an eine offizielle protestantische Jubel-JahrFeier gefestigt (in einem Nebenabschied vom 23. April 1617) und schließlich 32 Vgl. zu den einleitenden politischen Maßnahmen für dieses Jubiläum im Rahmen der Protestantischen Union, dem Einfluss der Hoftheologen und der viel diskutierten Motivlage des Kurfürsten Benrath, Reformierte Kirchengeschichtsschreibung, 37–46, bes. 39f; Kastner, Geistlicher Rauffhandel, 23–29; Schönstädt, Antichrist, 13–15; Ders., Das Reformationsjubiläum 1617, bes. 37–41; kritisch demgegenüber Selderhuis, Wem gehört die Reformation?, 69–71; konzentriert Kaufmann, Reformationsgedenken, 301. 33 Vgl. zu den nahegelegenen Städten Neustadt a.d. Haardt und Speyer in nuce neuerdings Bonkhoff, Die erste Hundertjahrfeier; zu den weiteren Unionsterritorien und »Partnerstädten« Vogler, Ausbildung, bes. 282–284; Schönstädt, Antichrist, 38–76; generell die Auswahlbibliographie zum Reformationsjubiläum 1617 in: Kaufmann, Reformationsgedenken, 287, Anm. 4 (noch zu ergänzen u. a. aus der inzwischen erschienenen Literatur um den instruktiven Aufsatz von Gehrt, Gelehrtenkultur). 34 Vgl. zum Nachfolgenden Struve, Pfältzische Kirchen-Historie, 548f; Hautz, Geschichte, Bd. 2, 156f (der neben dem gedruckt vorliegenden akademischen Programm die Aktenbücher der Theologischen Fakultät auswertet); Benrath, Reformierte Kirchengeschichtsschreibung, 40–45 (der des Weiteren die Universitätsannalen miteinbezieht, siehe ebd., 40, Anm. 4); neuerdings Leppin, Memoria, 119f; Ders., Identitätsstiftende Erinnerung, 341–345; Selderhuis, Wem gehört die Reformation?, 72–74. 35 Nach: Iubilaeus academicus, 47 (siehe unten). 36 Schönstädt, Antichrist, 36f. 37 Vgl. grundlegend dazu (in Auswahl) Müller, Erinnern; Ders., Das historische Jubiläum; Flügel, Konfession und Jubiläum, 29–33, bes. 30, Anm. 20; Ders., Universität.
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umgesetzt. Allerdings sprach der besagte Passus im Nebenabschied noch von Gedenken und Erinnerung,38 erst mit dem württembergischen Ausschreiben vom 18. Oktober 1617 im Rekurs auf die kursächsischen Anordnungen nahm die Union den Terminus ›Jubiläum‹ auf. Diese Säkularfeier geschah dann nicht, wie von Pfälzer Seite erhofft, binnenprotestantisch homogen in der Ausführung, hätte doch der unionistisch-memoriale Gottesdienst auch ein relativ deutliches pfälzisch-reformiertes Formular gehabt. Somit war die Ablehnung nicht nur durch die strengen Lutheraner vorprogrammiert.39 Über den konkreten Ablauf und die detaillierten Inhalte der Festivitäten in der Residenzstadt am Neckar berichtet die an die studierende Jugend gerichtete Einladung durch den Prodekan der Theologischen Fakultät David Pareus (1548–1622) – der Dekan Bartholomäus Coppen (1565–1617) war am 24. Mai 1617 plötzlich verschieden –, welche ein Jahr später in einem Sammelband mit dem Titel Iubilaeus Academicus de Doctrina Evangelii […]. Celebratus in Academia Archi-Palatina Heidelbergensi. Die 1. 3. & 4. Novembris Anno salutis reparatae 1617 (Heidelberg 1618) zu Beginn erschien (5–8).40 Es folgte ein Prooemium des Prodekans mit dem eindeutigen, antirömisch aufgeladenen Titel »De occassione ex Evangelicis Germaniae Ecclesiis eliminati Papatus Rom[ani]« (9–12). Die Intention des Ganzen war damit wenig nebulös, sondern unmittelbar einsichtig, klar und zugespitzt benannt. Dem angekündigten Wochenverlauf folgend, fand ein repräsentativer Festzug wie an anderen Orten, hier vom Prytaneum in das neue, stattliche Auditorium juridicum statt. Dieses symbolträchtige Geschehen eröffnete die Feierlichkeiten am ersten Tag. Promotionen, wie an bedeutenden protestantischen Universitäten andernorts, fanden nicht statt.41 Es folgte stattdessen in bewusster Anlehnung an den Gründungsmythos eine Disputation zum Thema Seculare »De causis centum ab hinc annis […], ex Evangelicis Germaniae Ecclesiis eleminati, semperque fugiendi Papatus Rom[ani]« (13–35) unter dem Vorsitz von David Pareus in Form von 237 Thesen, die »im Grunde genommen 237 Argumente [boten,] um 1517 mit
38 Siehe den Auszug aus den Evangelischen Unionsakten im Staatsarchiv Nürnberg (Nr. 76, fol. 128f) in: Leppin, Identitätsstiftende Erinnerung, 339; vgl. Schönstädt, Antichrist, 14, Anm. 7. 39 Völlig ausgeschlossen wäre ein solches kirchenpolitisches Unterfangen jedoch nicht gewesen: Innerprotestantisch-klimatologisch muss die antipapale Grundstimmung seit und mit der Jahrhundertwende um 1600 als gemeinsamer geistig-religiöser Horizont veranschlagt werden und darf durchaus ernstgenommen werden; vgl. nur Kaufmann, Jubeljahr. 40 Die Seitenzahlen im Folgenden beziehen sich auf diesen Band: Iubilaeus academicus; vgl. neuerdings zu dem hiermit verbundenen Desiderat die kurze Forschungsskizze in: Gehrt, Gelehrtenkultur, 184–188, bes. 184, Anm. 35 zu neueren Dissertationsprojekten in dieser Hinsicht. 41 Vgl. Gehrt, Gelehrtenkultur, 185f.
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der päpstlichen Kirche zu brechen«.42 Als notwendiger solenner Respondent diente der ungarische Theologiestudent Andreas Prágai (ca. 1590–1636),43 dessen Rolle marginal war. Kontroverstheologische Auseinandersetzungen von Bedeutung blieben jedoch nicht aus, Ruth Kastner (geb. 1951) bezeichnet sie als das landläufige publizistische Nachspiel.44 In diesem Fall geschah dies vor allem mit dem Mainzer Jesuiten und einflussreichen Staatstheoretiker Adam Contzen (1571–1635) als ebenbürtigem rhetorischen Gegner.45 In seinen Politicorum Libri Decem (Mainz 1621) begründete er seine militante Linienführung gegenüber der Union, die im Umfeld seines eigenen Ordens und der Münchner Hofräte nicht unumstritten war, im Gegenteil, man betrachtete ihn zum Teil als vom Himmel gesteuerten Kriegstreiber, der in der Gefahr stand, die politischen Realia zum Schaden der katholischen Liga eklatant falsch einzuschätzen.46 Zunächst aber schloss sich eine Disputation nach festgelegter Reihenfolge an, die vor allem der Rektor, ein polnischer Adeliger und Mediziner namens Simon Opsopoeus (1576–1619), und Heinrich Alting ausgiebig nutzten. Sie disputierten bis fast 12 Uhr mittags.47 Am nächsten Tag, einem Sonntag, fanden dann Festgottesdienste samt Abendmahlsfeiern in den reformierten Kirchen Heidelbergs statt. Im Vergleich zu den durch die Wittenberger Universität und den Kurfürsten Johann Georg I. von Sachsen (1585–1656, reg. 1611) angeregten konkurrenzhaften lutherischen
42 Vgl. Selderhuis, Wem gehört die Reformation?, 72; Leppin, Identitätsstiftende Erinnerung, 341f. 43 Struve, Pfältzische Kirchen-Historie, 548 bezeichnet ihn als gelehrten Ungarn, dem Inhaltsverzeichnis zu Beginn zufolge war er jedoch noch schlicht ein »Th. Stud.«; siehe Iubilaeus Academicus, 2 [s.p.]. Vgl. hierzu Toepke, Matrikel, Bd. 2, 279, 568 (Anhang V). 44 Kastner, Geistlicher Rauffhandel, 110–114. 45 Siehe hierzu Pareus, Narratio historica, 110–112 (vgl. auch neuerdings die ausführliche Einleitung zu dieser Lebensbeschreibung des Vaters in: Kühlmann, Die deutschen Humanisten I,2, 210–256); zu den Kontroversschriften Kastner, Geistlicher Rauffhandel, 385–387 – Anhang II, J 2, J 3, J 4, J 7, J 10; vgl. zu dem publizistisch wirksamen und seit 1624 als Beichtvater Maximilian I. von Bayern fungierenden Contzen generell: Albrecht, Maximilian I. von Bayern, bes. 325–329, passim; zur Kontroverse Bireley, Maximilian von Bayern, 27–31; Ders., Jesuiten, 91–96. 46 Ein Vorwurf, den sich Scultetus als reformiertes Pendant zu Contzen – mutatis mutandis – auch gefallen lassen musste (siehe hierzu die konzise Einleitung in: Benrath, Selbstbiographie, 1–6). Contzen reagierte auf die Vorwürfe mit einer phantasiegeladenen Rechtfertigungsschrift namens Methodus Doctrinae Civilis seu Abissini Regis Historia (Köln 1628), in der er Davids Sieg über die Philister als verheißungsvolle Parallele heranzog (siehe Bireley, Maximilian von Bayern, 96–107). Auf beiden Seiten bediente man sich derselben Quellen, Identifikationsfiguren und Deutungsmuster im je eigenen konfessionskulturellen Jargon. 47 Universitätsarchiv Heidelberg, Theol. Fak. 2, 210; vgl. Benrath, Reformierte Kirchengeschichtsschreibung, 42.
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Feierlichkeiten,48 zeichneten sich die Jubiläumsfeiern der Reformierten dabei durch einen hervorstechenden triumphalen Ton aus. Ein in die Defensive geratenes Luthertum stand einem fortschrittlichen Reformiertentum gegenüber, das nicht nur an ramistischer Dynamik zugenommenen hatte, so zumindest noch im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts.49 Die neue Woche, sprich der 3. November in Heidelberg, begann wieder mit einem Festzug der Universität, der wie am ersten Tag im neuen Hörsaal endete, in dem Heinrich Alting eine Oratio secularis im Stil der Panegyriker hielt (46–66).50 Er berichtet in seiner Hausund Familienchronik: »Am 3. November sprach ich bei dem akademischen Jahrhundert-Jubiläum als letzter über das Elend der Kirche unter der Tyrannis des Papstes und die Befreiung von ihr durch die staunenswerte Gnade Gottes, die vor 100 Jahren erfolgte.«51 Auf Altings und seiner Amtskollegen Reden am Vortag folgte am 4. November eine Veranstaltung im Sapienz-Kolleg, welcher der Kirchenrat und Angehörige der vier Fakultäten beiwohnten. Drei Sapientisten sprachen hier, wenn auch nicht sehr originell, nach strenger Systematik und evidenter Beweisführung aus Sicht reformierter Geschichtsschreibung über 1) »De statu ecclesiae miserabili ante reformationem«, 2) »De initio et progressu reformationis« und 3) »De continuatione, impedentis et conservatione reformationis«. Die Festtage nahmen ihren Abschluss mit einem langwierigen, neulateinischen 48 Der Impetus ging dabei von der Theologischen Fakultät aus; zunächst als lokale Memorialfeier gedacht, dann mit dem Ziel versehen, die Reformierten von den Feierlichkeiten auszuschließen, die nur von denjenigen begangen werden sollten, die in Übereinstimmung mit der Konkordienformel standen; vgl. detaillierter Kastner, Geistlicher Rauffhandel, 27–29; Flügel, Konfession und Jubiläum, bes. 41–50; Leppin, Memoria, 116–118; Kaufmann, Reformationsgedenken, 296–299; Gehrt, Gelehrtenkultur, 181f. 49 Vgl. Vogler, Ausbildung, 282f; neuerdings Volp, 1617 – 1717 – 1817 – 1917, 11f. Die Neujahrspredigt Scultets zählte voller Stolz alle protestantisch-reformierten Könige, (Landes-)Fürsten samt Territorien, Reichsritter und diverse Theologen mit gesamteuropäischer Perspektive auf, um heroischen Mut in Anbetracht der bereits erreichten empirischen Erfolge zu verbreiten; vgl. hierzu Benrath, Reformierte Kirchengeschichtsschreibung, 38f; Selderhuis, Wem gehört die Reformation?, 71f. 50 Es ist davon auszugehen, dass Heinrich Alting als Herborner Absolvent schon zu Studienzeiten durch die ramistische Praxisorientierung des Unterrichts in Fächern wie Oratorik, Rhetorik und Eloquenz ausgebildet wurde. Als Theologiestudent kamen neben den regelmäßigen Disputationen und Exercitia noch Predigtübungen hinzu, indes hierbei nicht nur vorgegebener Stoff rezitiert werden musste, sondern in begrenztem Umfang auch eigenständiges Urteil gefördert wurde (Menk, Hohe Schule, 221, bes. Anm. 15). 51 »3. Novemb. in iubilaeo seculari academico peroravi de miseria ecclesiae sub tyrannide papali, & lliberatione [sic!] ab ea, ante seculum facta, stupendo Dei beneficio. Oratio extat.« (von Reeken, Handschriftliche Aufzeichnungen 1978, 33, 151–153; Übers. nach ebd., 10). Alting weist selbst darauf hin, dass die Rede noch vorhanden ist, was glücklicherweise immer noch gilt (siehe Alting, De miseria Ecclesiae, 46–66).
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Carmen secusare [sic!] de Antichristo (69–80), welches von dem 78-jährigen Professor der Eloquenz, dem aus Kursachsen geflohenen Kryptocalvinisten Simon Stenius (1540–1619), im philosophischen Hörsaal vor einer stattlichen Versammlung von Universitätsangehörigen vorgetragen wurde.52 Aus heutiger Sicht handelt es sich um ein Kuriosum. Am 2. November hielt Abraham Scultetus in der zentralen Heiliggeistkirche eine Predigt zu dem ausgiebig ventilierten Motiv. Sie rekurriert auf das beliebte antirömische, reformprototypische Thema anhand 2 Kön 23, der Tempelreform des Josia, und bietet keine essentiellen Neuheiten.53 Die mehr oder weniger protestantischen (nicht nur reformierten) Territorien und freundlich gesinnten Könige, Kurfürsten und »Herren« werden europaweit in der beigelegten Vorrede an Louise Juliana von Oranien-Nassau (1576–1644), der Witwe Friedrichs IV. und Mutter des amtierenden Kurfürsten, noch einmal ausgebreitet. Man hat sie wohlbedacht gemeinsam mit der Festpredigt in den Sammelband ergänzend aufgenommen (81–87, 88–128). In seiner Ansprache unterstrich Alting vor allem den beklagenswerten Zustand der Kirche unter der Tyrannis des Papstes und die glückliche Wiederherstellung der Kirche durch die Reformation. Das melanchthonische Grundmotiv und Korrelativ ›deformatio et reformatio‹ leuchtet hier ein erstes Mal in seiner Festrede anlässlich des Reformationsjubiläums sichtbar auf.54 Es erfährt später in seinen kirchen- und dogmenhistorischen Abhandlungen eine Vertiefung und Erweiterung auf das ganze Gebiet der Kirchen-, Dogmen- und Profanhistorie,55 auch wenn Alting zu diesem Zeitpunkt als junger Professor »noch hinter Pareus und Scultetus« zurücktritt.56 Sein Zenit als orthodoxer Gelehrter, höfischer Berater, synodaler Gutachter und zunehmender Intimus des kurfürstlichen Hauses stand noch bevor. Die Rede verbindet als Charakteristikum des vorexilischen Heidelberger Reformiertentums humanistisch-stoizistische und biblisch-reformatorische Zielsetzungen: Die Überwindung von päpstlichem Missbrauch und naivem Aberglauben wird dabei ins Visier genommen. Ein mehr als latentes Bedrohungsgefühl durch die Gefährdung der Errungenschaften der Reformation und des Humanismus steht dabei im Hintergrund. 52 Vgl. zu dessen polemischem Inhalt Benrath, Reformierte Kirchengeschichtsschreibung, 45; Leppin, Identitätsstiftende Erinnerung, 344f; generell zu dem breiten Portfolio von Stenius’ Werken in Neulatein, Altgriechisch und Frühneuhochdeutsch die Edition einiger seiner Vorworte, samt Biogramm und Werkverzeichnis in: Kühlmann, Die deutschen Humanisten I,4, 211–228, sowie als Beispiel für eine seiner Eklogen im dorischen Stil neuerdings Tipton, Muses. 53 Vgl. hierzu Selderhuis, Wem gehört die Reformation?, 72f; Leppin, Identitätsstiftende Erinnerung, 342f. 54 Siehe nur Alting, De miseria Ecclesiae, 52, passim. 55 Vgl. hierzu Klöckner, Heinrich Alting, bes. Kap. 3 u. 4. 56 Benrath, Reformierte Kirchengeschichtsschreibung, 46.
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Existentiell vermittelt wurde es durch anhaltende Protestantenverfolgungen und die tagespolitische Berichterstattung hierüber, die in Heidelberg nicht nur durch die höfischen Kreise kursierte. Diese mehr als diffuse Bedrohung verband die Heidelberger Theologen mit den höhergestellten Beamten in ihrem humanistischen Bemühen um eine aufgeklärte Reformation der pfälzischen Kirchen, mit anderen Worten in ihrer gemeinsamen Ablehnung jeder Art von Aberglauben, z. B. bis hinein in die Abendmahlsanschauung. Allerdings, »[a]nders als bei den Theologen, die in einem hochspezifischen Diskurs die einzelnen konfessionellen Unterscheidungslehren definiert haben, findet man diese bei den Juristen und Räten nur in einem sehr beschränkten Ausmaß«.57 Einleitend kann Alting nun die Besonderheit des Moments hervorheben, indem er die römische Behauptung widerlegt, keine Häresie bestehe länger als ein Jahrhundert. Mit dem gegebenen Anlass und der durchgeführten Feier wird diese polemische Behauptung allerdings Lügen gestraft, so Alting zu Beginn.58 Die Rede mit dem vollständigen Titel »De miseria Ecclesiae a Rom[ano] Papatu oppressae, deque felicitate eiusdem superiore seculo, fidelium aliquot testium ministerio restitutae« (46) gliedert sich in zwei etwa gleich lange Abschnitte, ganz gemäß dem zweigeteilten Titel: a) Zunächst richtet Alting, wie seine Vorredner Scultetus und Pareus in Predigt und Disputation, den Blick auf das große Unglück, das dem Gottesvolk des Neuen Bundes (in steter Analogie zum Alten Bund) zustieß. Gemeint sind komprimiert die Verdunklung der Heiligen Schrift und die Korruption der [guten] Bräuche durch die Papisten mit dem Ergebnis der völligen Tyrannis des Römischen Antichristen (49f). Leo X. als Vertreter des liquiden Hauses de Medici und als Renaissance-Papst, in dessen Ära die Akte Luther fiel, wird als einziges illustres Beispiel explizit erwähnt (50). Beliebte Typologien werden vorausgeschickt, wie z. B. der Auszug aus Ägypten und die wundersamen Werke Gottes auf dieser Reise bis zur Einnahme Kanaans (47f). Auch »nunc« gibt es auf dem Weg der Reformation im vergangenen Jahrhundert große Dinge zu bestaunen, letztlich – so an seine Zuhörer gerichtet – handele es sich sogar retrospektiv um die Auferstehung einer »nova aetas« (48). Wohlbekannte historische Beispiele folgen, die darauf zielen, die schon seit Langem, föderaltheologisch betrachtet, in das alte und neue Volk Gottes importierte unreine Gottesverehrung – eine Mischung von heidnischen und jüdischen Elementen 57 Strohm, Übergang, 104. 58 Alting, De miseria Ecclesiae, 48 spöttisch: »Audierunt jactabundas papicolarum voces, Nullam haeresin seculum durate, eoque novam Lutheri, Zuinglii ante seculi decursum certo interituram: re ipsa experiuntur praefagio fuisse vanissima, reformatam vero religionem, seculum auspicato supergressam, a crimine haereseos etiam insensissimorum hostium suffragiis tacite absolvi«.
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– hervorzuheben, die sich nach und nach schleichend etablierte. Außerbiblische Seligpreisungen werden in humanistischer Manier eingestreut, hier in Kurzform: Selig sind die Augen, Ohren und Herzen, denen dieser fatale Sachzusammenhang nicht verschlossen bleibt (48f)! Die Immatrikulation Melanchthons in Tübingen 1512 wird sogar eigens erwähnt und damit verbunden die Aristoteles-Rezeption problematisiert (51). Der in Herborn vorgebildete Heidelberger Dogmatiker kommt nun zu seinem Fachgebiet, wenn er horrende Lehrverfehlungen attestiert: Die Justifikation wird nicht imputativ, sondern als gratia infusa gelehrt, das solus Christus verschwimmt so gegenüber »unseren« möglichen Verdiensten, Gewissheit über die Vergebung der Sünden, die Beharrung der Gläubigen und die ewige Glückseligkeit können sich nicht einstellen. Vollendung im Rahmen der Sanctificatio wird so anthropologisch möglich (»posse«) und die Werke der Gläubigen qualifizieren sich als meritus. Schlussendlich und final erwartet die Seelen eine infernalische Reinigung im Kerker des Purgatoriums (53f). Alting konkludiert »ex quibus ipso meridiano sole clarius est«, nämlich nicht nur die papale Verdunklung des Lichtes der Erkenntnis Gottes, sondern am Ende dessen Auslöschung (54). Er unterscheidet die Inventionen der Päpste dabei invektiv nach drei gradus mit evidenter Systematik: 1.) Einer ersten Degradierung, letztlich Trivialisierung des göttlichen Geheimnisses, hier der Trinitätslehre, folgte 2.) die folgenreiche Verwechslung von Gottes- und Menschenverehrung (Reliquienlieferanten wie die Apostel Petrus und Paulus, der kongeniale Gregor der Große und die Heilige Katharina werden eingestreut). 1500 Jahre Kirchengeschichte folgen in nuce: Kathedralen entstanden, »sie« stellten darin Statuen auf und zündeten Kerzen an, bis hin zu den Beschlüssen des Zweiten Laterankonzils und der kirchenrechtlichen Implementierung des lange schon problematisierten Zölibats (54f). Ein gemeinhin bekannter Tetrastichon unterstreicht dabei die immer noch vorhandene zeitgenössische Marienfrömmigkeit.59 Er muss dem veritabel gebildeten Zuhörerkreis lächerlich vorgekommen sein. 3.) Den Höhepunkt dieses graduellen Prozesses der Umwandlung von reiner Gottesverehrung und -erkenntnis in abscheuliche Blasphemie und Idololatrie sieht Alting in der römischen Lehre von der Wandlung der Elemente erreicht: Über alles aber verehren sie als höchste Gottheit das Opferbrot, von der unreinen Hand eines Priesters [wörtl.: eines Priesterchens] emporgehoben, mit lästerlichem Mund geweiht und gewandelt, durch einen Brauch und in ganz und gar heidnischer Verblendung:
59 »O felix puerpera, Nostra pians scelera, Iure mat is impera, Redemptori.«, Alting, De miseria Ecclesiae, 55 (Hervorhebung i.O.).
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Dieser Kultus ist wüster Götzendienst, der einst schon durch die Prophetie Daniels vorhergesagt worden ist […].60
Auf dem Hintergrund dieser schwarzen Folie von Verirrung und Abkehr vom reinen Kultus gab es zwar immer einzelne »veritatis testium exempla« – ganz dem gängigen apologetischen Repertoire entsprechend – wie Johannes Hus, Hieronymus von Prag, Savonarola u. a. (58),61 sie wurden allerdings aufs Schärfste verfolgt, so wie circa fünf Jahre später Alting und seine Zeitgenossen mit der Einnahme Heidelbergs unter Tilly. Sogar der in lobenswerter Erinnerung zu nennende Einsatz der altvorderen Kaiser Friedrich II. (1194–1250), Ludwig IV., genannt der Bayer (ca. 1282–1347), und Sigismunds (1368–1437) für eine Reform der Kirche blieb unter Gottes Vorsehung ohne Resultate (58f). Das Konstanzer Konzil brachte bekanntlich ebenso wenig den erhofften Umschwung, sondern stattdessen »opprimendae remicantis in Bohemia veritatis causa« (59). Die immer schon vorhandenen innerkatholischen Reformbewegungen und monastischen Einwände erwähnt Alting allerdings im Rahmen seines Dekadenzmodells nicht.62 b) Im zweiten Teil der Rede erkennt er Gottes Handschrift in dem Gebrauch scheinbar unbedeutender Menschen, »non majestates Imperatorum, non arma Principum, non suffragia Conciliorum«, womit das beliebte Motiv der Reformation als Laienbewegung zum Einsatz kommt (59).63 Gemeinplätze werden nun beschritten, wenn Alting Luthers Auseinandersetzung mit Johann Tetzel (ca. 1465–1519) sowie das Auftreten des Leutpriesters Ulrich Zwingli (1484–1531) kurz erwähnt (60f); neben den beiden »magni viri« kann Alting jedoch noch die sogenannten Reformatoren der zweiten Reihe an prominenter Stelle ergänzen: Philipp Melanchthon, »Pomeranus« [sc. Johannes Bugenhagen] (1485–1558), Johannes Oecolampad (1482–1531), Heinrich Bullinger (1504–1575), Martin Bucer (1491–1551) u. a. (61). Dies ist in binnenprotestantischer Perspektive eher ungewöhnlich und demonstriert die Heidelberger ›Toleranz‹ und kurpfälzische Eigenart.64 Altings Conclusio folgt auf dem Fuße: Auf der Grundlage 60 »Supra omnia vero hostiam panis, impuram [sic!] sacrificuli manu elevatam, blasphemo ore consecratam et transsubstantiatam, pro summo numine colunt, ritu et furore prorsus ethnico: qui cultus est idolum vastans, vaticinio Danielis jam olim praedictus […].«, Alting, De miseria Ecclesiae, 56. 61 Vgl. hierzu neuerdings erhellend Schäufele, Wegbereiter. 62 Vgl. zur nach wie vor bestehenden Problematik protestantischer Dekadenzmodelle und damit protestantischer Kirchengeschichtsschreibung generell Markschies, Reformation, bes. 93–97. 63 Siehe hierzu die konzentrierte Formulierung innerhalb der Neujahrspredigt Scultets in: Scultetus, Historischer Bericht, Bd. 1, 267. Vgl. Selderhuis, Wem gehört die Reformation?, 71f. 64 Vgl. zu den akuten Bedrohungsmomenten und Abwehrreaktionen in den Stammlanden der lutherischen Reformation: Flügel, Konfession und Jubiläum, 33–41, bes. 38f; zu den
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der Wiederherstellung der Heiligen Schriften konnte erst der Weg beschritten werden, die daraus resultierenden Irrtümer zu beseitigen und einer neuen Kirchenverfassung sowie einer neuen vulgärsprachlichen Bibelübersetzung den Weg zu bahnen (61f). Die universalreformatorische Erkenntnis des sola scriptura wird somit von Alting, und damit in der reformierten Orthodoxie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als maßgebliche Kategorie und nachreformatorisches Kontinuum hochgehalten. Der entscheidende Umschwung geschah eben nicht durch Waffengewalt, sondern durch die Predigten, Schriften und Religionsgespräche der besagten Reformatoren (63f). Nun führt Alting die während der Feierlichkeiten nicht nur in der Kurpfalz beinahe inflationär gebrauchte, oft auch in Illustrationen ausgedrückte Rede von dem »Licht des Evangeliums« ein,65 das wie aus einem neuen Zion nunmehr aus Wittenberg und Zürich hervorgebrochen ist (64).66 In seinen Eintragungen kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges in das Dekanatsbuch der Theologischen Fakultät in Heidelberg kann er später von dem »pfälzischen Zion« und seiner Wiederherstellung sprechen,67 eine weitverbreitete Vorstellung, die die Wittenberger Fakultät als Ursprungsort der Initia Lutheri ebenso stolz propagierte.68 Gewaltige historische Parallelen werden nun von Alting gezogen, wie die schnelle Ausbreitung des Christentums im Römischen Reich unter dem Apostel Paulus. Die Eroberungen Alexander des Großen verblassen dagegen, da sie nicht ohne Gewalt auskamen. Christus habe eben selbst durch seine Diener gewirkt, damals wie heute, um die Herrschaft des Antichristen zu beseitigen (64f). Das nötige Selbstbewusstsein und Gespür für den historischen Moment, jedoch auch die Dankbarkeit für die geschehene Befreiung bestimmt die Argumentation am Ende der Rede. Alting schließt mit den üblichen ständischen Höflichkeitsbekundungen und biblischen Mahnungen vor dem Wirken des Antichristen (65f): Babylon ist schlussendlich gefallen [Offb 18,2] und nun gilt es nicht zurückzuschauen wie Lots Frau zu ihrem eigenen Verderben [Gen 19,26]. Ein ausführliches Dankgebet schließt die Oratio secularis liturgisch ab (67f).
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kurpfälzischen Spezifika: Leppin, Identitätsstiftende Erinnerung, 343f; Gehrt, Gelehrtenkultur, 207. Vgl. nur Vogler, Ausbildung, 282; Schönstädt, Antichrist, 212f, passim; Strohm, ›Deutschreformierte‹ Theologie?, 131f, bes. Anm. 77; Gehrt, Gelehrtenkultur, 192; generell zur Lichtmetaphorik in der Frühen Neuzeit Schlobach, Zyklentheorie, 76–87, bes. 84f. Vgl. aber schon Alting, De miseria Ecclesiae, 54: »Ex quibus ipso meridiano sole claritus est, lucem Agnitionis Dei plus quam cimmeriis tenebris in Papatu non dico obscuratam, sed extinctam fuisse.« Universitätsarchiv Heidelberg, Theol. Fak. 2, 227 (Benrath, Reformierte Kirchengeschichtsschreibung, 44, Anm. 13, weist auf einen Schreibfehler bei Winkelmann, Urkundenbuch, Bd. 1, 376,34, hin: aus »Zyonem« wurde »virginem«). Kaufmann, Reformationsgedenken, 297f.
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Eine kurze Analyse der Rede verrät: Es stehen weniger die handelnden Personen im Mittelpunkt als vielmehr ihre Bedeutung im Handeln Gottes. Substanzielles zu historischen Fragestellungen bietet sie nur wenig, die konfessionell bestimmte theologische Beurteilung der geschilderten Vorgänge steht im Vordergrund. Postreformatorische konfessionelle Identität wird hier sowohl abgrenzend, als auch integrierend konstruiert. Abgrenzung gegenüber Rom und Integration von Wittenberg sind die Schlagworte, indes der Horizont und die Dynamik der sogenannten Heidelberger Irenik damit noch längst nicht ausreichend eruiert worden sind.69 Gemeinplatz in festtypologischer Hinsicht ist die Erinnerung an die Befreiung Israels aus Ägypten,70 die »nunc« ein zweites Mal geschah mit neuer heilsgeschichtlicher Qualität. Ein Spezifikum im Hinblick auf den Sitz im Leben der vorgetragenen Rede ist das Anliegen der Kurpfälzer Theologen, die Eigenart der pfälzischen Reformation und ihre Größe hervorzuheben, und dies nicht ohne das nötige Selbstbewusstsein zu tun. »Sie erscheint als eine glückliche Synthese zwischen den Kräften, die von beiden Hochburgen der Reformation, nämlich Wittenberg und Zürich, ausgingen.«71 Es gab aus ihrer Sicht keinen Grund dafür, sich im Jahr 1617 ihrer konfessionellen Verortung wegen zu schämen, im Gegenteil, »[d]urften sie sich doch im Geist der langen Reihe [sc. der Wahrheitszeugen] anschließen und sagen: Und wir gehören auch dazu!«72 So die summierende Betrachtung von Scultets Neujahrspredigt am 1. Januar 1617, mit der das Jubeljahr gleich begonnen wurde, ohne erst den eigentlichen Stichtag im Oktober oder, je nach Terminierung, im November abzuwarten. Es handelt sich allerdings um kein Unikum in konfessionsvergleichender Perspektive wie bisher angenommen.73 Weitere komparatistische Untersuchungen bezüglich der deklamatorischen Praxis innerhalb der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur, hier im Rahmen der Vorbereitung und Durchführung der Säkularfeiern 1617, sind wohl notwendig und könnten weitere gängige, verbreitete Vorstellungen präzisieren.
69 Vgl. nur exemplarisch Selderhuis, Frieden; Wolgast, Heidelberger Irenik; Leppin, Identitätsstiftende Erinnerung, 337f. 70 Leppin, Memoria, 120. 71 Vogler, Ausbildung, 282. 72 Benrath, Reformierte Kirchengeschichtsschreibung, 39; vgl. zur identischen Argumentation im Falle der lutherischen Protagonisten: Flügel, Konfession und Jubiläum, 77–84, bes. 83f. 73 Entgegen dem bisherigen Forschungskonsens muss angemerkt werden, dass bereits der amtierende Dekan der Philosophischen Fakultät Wittenberg, Erasmus Schmidt (1570–1637), am 25. November 1616 und später am 8. April 1617 zwei Deklamationen hielt, die er ausdrücklich als »prodromus jubilaei ecclesiastici lutherani« bezeichnete; zit. nach Gehrt, Gelehrtenkultur, 201; vgl. auch ebd., 208. Generell zur Jubiläumskultur vor 1617: Flügel, Konfession und Jubiläum, 25–29.
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Kurzes memorialkulturelles Resümee (nicht nur) hinsichtlich der Bedeutung Heinrich Altings für das Reformationsgedenken 1617
Heinrich Alting darf getrost zu den vergessenen, aber dennoch einflussreichen Theologen des 17. Jahrhunderts gerechnet werden. Sein Lebenswerk befindet sich an der Schnittstelle – man könnte auch im Strohmschen Sinne sagen: im Übergang – von nachreformatorischer Theologie, Bekenntnisbildung und Geschichtsschreibung hin zu Neuansätzen in deren Bearbeitung und Präsentation. Frühaufklärung und Frühpietismus sind ihm aber noch fremde Erscheinungen, auch wenn es hier personelle Kontakte gab. Sein Reformationsverständnis baut auf dem seiner Vorgänger reformierter Provenienz auf und zeichnet sich durch ein stufenweises Fortschreiten aus, das sehr wohl Veränderungen, Einschnitte und auch Rückschritte wahrnehmen kann. Der Ansatz zur Dogmengeschichtsschreibung und noch zaghafter, unbewusster und implizit hervorgerufener Dogmenkritik ist hiermit latent vorhanden (und wurde in seiner Theologia Historica dann in methodisch innovativer Weise umgesetzt). Heinrich Alting zeichnet das Reformationsgeschehen noch ganz auf dem Hintergrund der dunklen Folie vergangener Jahrhunderte, insbesondere des Gemeinplatzes eines Petrarcaschen Mittelalters und hierin der verblendeten Phasen der Scholastik. Das in Wittenberg und Zürich hervorgegangene Licht strahlt nun schon seit über 100 Jahren hinaus und hinein in dieses Konglomerat und hat in der reformiert(-oberdeutschen) Variante einen Höhepunkt, ein Maß an Helligkeit erlangt, das es zu feiern gilt. Auch bei allen innerprotestantischen Einigungsbemühungen, der sogenannten Heidelberger Irenik, ist die unverhohlene Polemik gegenüber Papismus und lutherischem Aberglauben nicht zu leugnen. Der Radius seiner Vorstellung von reformatio reicht dabei über eine nationale, mono-zentrifugale Betrachtungsweise (Wittenberg) jener hinaus und weiß um die Wechselwirkungen zwischen den reformatorischen Zentren und deren Agenten. Seine Vita demonstriert dabei den Zuschnitt reformierter Bildungspolitik zu Beginn des 17. Jahrhunderts und die hiermit verbundenen Hochphasen, aber auch die akuten Bedrohungsmomente. Das Selbstverständnis protestantischer Theologen – hier der reformierten Heidelberger Vertreter – war offenbar untrennbar verbunden mit deren Geschichtsschreibung und Retrospektive auf das Reformationsgeschehen. Die kurz beschriebene Jubeljahrfeier 1617 in Heidelberg offenbart das Ausmaß an konfessionellem Selbstbewusstsein und – darf man sagen – Hybris? Alting reiht sich hier nur ein in eine Ansammlung von Vorrednern und Gesinnungsgenossen, deren gemeinsame Errungenschaft humanistisch-stoizistische und biblisch-reformatorische Erkenntnisse waren, die niemand mehr eintauschen wollte gegen den spätmittelalterlichen Aberglauben und dessen Relikte. An der Schwelle zur Neuzeit wartete aber zunächst eine Katastrophe von europäischem
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Ausmaß, die Altings bekanntesten Zögling, Friedrich V., den kurzzeitigen König von Böhmen und später daher sogenannten Winterkönig, in die Annalen eingehen ließ. Der Dreißigjährige Krieg brachte den theologischen und damit verbundenen rhetorischen Triumphzug am Neckar zunächst zu einem jähen Ende. Hoffnungen auf eine Restitution und diplomatische Bemühungen in dieser Hinsicht aus dem niederländischen Exil heraus blieben demnach nicht aus. Heinrich Alting stand ihnen zum Teil reserviert gegenüber und verschied vier Jahre vor dem Westfälischen Friedensschluss in seiner Groninger Rektoratswohnung. Literatur Quellen Handschriftliche Quellen Theologische Fakultät Heidelberg (= Theol. Fak.) 2, 1622 (Universitätsarchiv Heidelberg: Misch- und Lagerbücher, Dekanatsbücher der Theologischen Fakultät, 2. Buch). [Ihle, Johann Conrad], Lebensbeschreibungen der 3 berühmten Gelehrten Heinrich Alting, Johann Freitag und Jacob Alting. Aus einem lateinischen Manuskript übersetzt von Johann Conrad Ihle, Conrector der Schule zu Leer und öffentlicher kaiserl. Notarius, 1747 (Fundort: JALB; Exemplar aus der Sammlung der »Emder Kunst« mit der Signatur Hs. 80). Gedruckte Quellen Altingius, Henricus, Oratio secularis de miseria Ecclesiae a Rom[ano] Papatu oppressae, deque felicitate eiusdem superiore seculo, fidelium aliquot testium ministerio restitutae, in: Iubilaeus Academicus de Doctrina Evangelii centum ab hinc annis, a tenebris Rom[ani] Papatus in lucem revocari […]. Celebratus in Academia Archi-Palatina Heidelbergensi, Die 1. 3. & 4. Novembris Anno salutis reparatae 1617, Heidelberg: Johann Lancellot 1618, 46–66. –, Historia Ecclesiae Palatinae a prima reformatione usque ad Joh. Casimirum administratorem, in: Ludovicus Christianus Mieg (Hg.), Monumenta pietatis et literaria virorum in re publica et literaria illustrium, Tl. 1, Frankfurt a.M.: Johannes Maximilian à Sande 1701, 129–250. Anonym [Tobias Hübner?/Abraham Scultetus], Beschreibung Der Reiß: Empfahung deß Ritterlichen Ordens: Vollbringung des Heyraths: vnd gluecklicher Heimfuehrung: Wie auch der ansehnlichen Einfuehrung: gehaltener Ritterspiel vnd Frewdenfests: Des Durchleuchtigsten, Hochgebornen Fuersten vnd Herrn, Herrn Friederichen deß Fuenften, Pfaltzgraven bey Rhein, deß Hei-
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ligen Roemischen Reichs Ertztruchsessen vnd Churfuersten, Hertzogen in Bayern, [et]c. Mit der auch Durchleuchtigsten, Hochgebornen Fuerstin, vnd Koeniglichen Princessin, Elisabethen, deß Großmechtigsten Herrn, Herrn Iacobi deß Ersten Königs in GroßBritannien Einigen Tochter: Mit schönen Kupfferstuecken gezieret, [s.l.; Heidelberg]: Gotthardt Voegelin 1613. –, Historischer Bericht wie die Kirchenreformation in Teutschlandt vor hundert jahren angangen. Erstlich in Latein gestelt durch Abrahamum Scultetum, jetzo aber verdeutsch durch Reinhardum Guolfium Lichensem. Hieben sind zufinden obgemelten Herrn Schulteti Newjahrs und Jubelfests Predigten im Jahr 1617 gehalten, Heidelberg: Johann Lancellot 1618. Benrath, Gustav Adolf (Hg.), Die Selbstbiographie des Heidelberger Theologen und Hofpredigers Abraham Scultetus (1566–1624), neu hg. und erläutert von Gustav Adolf Benrath, Karlsruhe 1966. Emmius, Ubbo, Mensonis Altingii Pastoris Emdani […] Vita, descripta per Ubbonem Emmium nunc primum edita ex autographo, et litterae. Accedunt Henrici Altingii […] Historia de Ecclesiis Palatinis. […] Adami Mensonis Isinck Brevis Historia de Reformatione in Urbe Groninga et Omlandia […]. Cura Adami Mensonis Isinck […], Groningen 1728. Iubilaeus Academicus de Doctrina Evangelii centum ab hinc annis, a tenebris Rom[ani] Papatus in lucem revocari […]. Celebratus in Academia ArchiPalatina Heidelbergensi, Die 1. 3. & 4. Novembris Anno salutis reparatae 1617, Heidelberg: Johann Lancellot 1618. Kühlmann, Wilhelm u. a. (Hg.), Die deutschen Humanisten. Dokumente zur Überlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur in der Frühen Neuzeit, Abt. I: Die Kurpfalz, Bd. 4: Hieronymus Commelinus und seine Erben, Balthasar Copius, Lambertus Ludolfus Pithopoeus, Henricus Smetius, Simon Stenius und Friedrich Sylburg, Turnhout 2013. Lewald, Ernst Anton (Hg.), Catechetischer Unterricht des Pfalzgrafen Friedrich V. von Heinrich Alting, eine nach der Reihenfolge der Fragen in dem Heidelbergischen Catechismus geordnete Erläuterung desselben im Geist und Styl der Reformationszeit aus einem Manuscripte der alten pfälzischen Bibliothek, hg. und mit dogmengeschichtlichen Anmerkungen versehen von Ernst Anton Lewald, Heidelberg 1841. Maresius, Samuel, Oratio funebris in luctuosissimum obitum theologi celeberrimi D. Henrici Alting in Academiis Heidelbergensi […], Groningen: Johannes Nicolai 1644. Pareus, Johann Philipp, Narratio historica de curriculo vitae et obitu rev. patris D. Davidis Parei […], s.l. [Frankfurt a.M.] 1633, neu ed. in: Wilhelm Kühlmann u. a. (Hg.), Die deutschen Humanisten. Dokumente zur Überlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur in der Frühen Neuzeit, Abt. I: Die Kurpfalz, Bd. 2: David Pareus, Johann Philipp Pareus und Daniel
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Reformationsgedenken im Konflikt – die Säkularfeier 1717 Wie viel Königreiche und Lande, wie viele mächtige Republiquen und Städte waren vor 100 Jahren nicht gut Evangelisch? […] Wie stehts ietzo? Vor 100 und etwas Jahren waren 3 Chur-Fürsten im Römischen Reiche der ungeänderten Augspurgischen Confession zugethan. Wo sind sie? Das Römische Babel rafft sich nach und nach wieder auf, und seine tödtliche Wunde wird wieder heil. Ja es zieht einen grossen Herrn, ein Reich, ein Land nach dem andern wieder zu sich und steigt immer höher. Unser Häuffgen hingegen wird immer kleiner.1
Mit diesen Worten hat der Wittenberger Universitätstheologe Gottlieb Wernsdorf (1668–1729) in seiner Predigt zum Reformationsjubiläum 1717 die angespannte Stimmung auf den Punkt gebracht.2 Mit spürbarer Angst reagierten die sächsischen Lutheraner auf ein Ereignis, das durch bloßen Zufall nur wenige Tage vor der Säkularfeier bekanntgeworden war: Bereits am 27. November 1712 war der Kurprinz Friedrich August (1696/1733–1763) während seiner Kavalierstour dem Vorbild seines Vaters, des Kurfürsten Friedrich August I. (1670/1694–1733), gefolgt und vom lutherischen zum katholischen Bekenntnis übergetreten. Damit war in Sachsen der konfessionelle Riss zwischen der Dynastie und der evangelischen Bevölkerung endgültig geworden. Nun waren solche landesherrlichen Konversionen zum Katholizismus in den Jahren um 1700, die eine Phase intensiver religiöser Konflikte im Reich markieren,3 keine Seltenheit. Doch selbst wenn ihnen politische Momente, wie Friedrich Augusts I. Griff nach der polnischen Königskrone,4 zu Grunde lagen, »strapazierten sie regelmäßig das konfessionelle Gefüge in Deutschland«5 und entfachten ein veritables Bedrohungspotenzial.6 Die Angst vor einer poli1 Applicatio der Predigt von Gottlieb Wernsdorf, zit. nach Loofs, Jahrhundertfeier, 36. 2 Der Vortrag in Gotha und der hierauf aufbauende Text folgen Flügel, Konfession, 125–167. Hier auch weiterführende Literatur. 3 So dezidiert Schwerhoff, Konfessionskonflikte, 30. 4 Mit dem Tod von König Johann III. Sobieski (1629/1674–1696) wurde der polnische Thron vakant. Da Polen eine Wahlmonarchie war, bewarb sich Friedrich August I. von Sachsen um die Krone. Sein wichtigstes Motiv war die mit der Königswürde verbundene politische Rangerhöhung. Voraussetzung für seine Krönung war jedoch die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche. Deshalb konvertierte der Kurfürst am 1. Juni 1697 in Baden bei Wien, wobei er diesen Schritt gegenüber seinen lutherischen Untertanen zunächst verheimlichte. 5 Fitschen, Glaubenswechsel, 165, weitere Beispiele für landesherrliche Konversionen ebd., 165f. 6 Dabei ist es unerheblich, dass der sächsische Kurfürst religiös eher indifferent war und sich die landesherrlichen Glaubensübertritte im Rückblick »eher episodisch ausnehmen« (Schwerhoff,
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tisch durchgesetzten Rekatholisierung war insbesondere in Sachsen verbreitet, nachdem dort die Konversion des sächsischen Kurfürsten eine zeitgenössisch einzigartige Situation geschaffen hatte.7 Immerhin kehrte der Katholizismus nun symbolträchtig in das lutherische Kernland schlechthin zurück. Die Konstellation, dass eine aus politischen Gründen erfolgte landesherrliche Konversion konfessionelle Befürchtungen auslöste, verweist auf eine allgemeine Bedeutung von Religion. Mit Clifford Geertz bildet sie ein Symbolsystem, das darauf abzielt, starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert, und diese Vorstellung mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, dass die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen.8
Damit fungiert Religion als eine institutionalisierte Weltdeutung, die als Selbstbeobachtung und als Handlungsanleitung dient und sowohl gesellschaftliche Stabilität generieren als auch Instabilität befördern kann. Im Konfliktfall erscheint Religion als Katalysator, der nicht selbst konfliktauslösend ist, sondern Konflikte überformt und dazu tendiert, diese zu verschärfen.9 Von diesen Beobachtungen ausgehend ist im Folgenden zu fragen, wie die Konversion der albertinischen Dynastie zum Katholizismus die Sinnaufladungen des Reformationsjubiläums 1717 in Sachsen beeinflusst hat. Das Wesen eines historischen Jubiläums10 besteht bekanntlich darin, unter dem Zwang der runden Zahl jene zentralen Ereignisse der eigenen Vergangenheit zu vergegenwärtigen, die als »Erinnerungsfiguren«11 zum festen Bestandteil des »kulturellen Gedächtnisses«12 zählen und als solche Leitideen symbolisieren. Damit wird ein doppelter affirmativer Zweck verfolgt: Erstens besteht die jubiläumsspezifische Leistung darin, die seit dem Ereignis vergangene Zeitspanne als Ausweis für Stabilität und Zukunftsfähigkeit der das historische Jubiläum begehenden Institution zu behaupten. Hinzu tritt, wie bei jeder Form der Geschichtspolitik, eine zweite Sinnstiftung. Es gilt, im Interesse einer kollektiven Identitätsstiftung die Festgemeinde auf die Leitideen einzuschwören und Zustimmung im Sinne eines ›Wir-Gefühls‹ zu generieren.13 Konfessionskonflikte, 30). Zur religiösen Indifferenz des Kurfürsten vgl. Freist, Religionssicherheiten, 52. 7 So ausdrücklich Rosseaux/Poppe, Einleitung, 11. 8 Geertz, Religion, 48. 9 Vgl. Müller, Kampf, 7. 10 Allgemein zum historischen Jubiläum vgl. Müller, Jubiläum. 11 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 37. 12 Vgl. etwa Nora, Geschichte. 13 Assmann, Gedächtnis, 9–19.
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Vor dem Spannungsfeld zwischen dieser auf Konsens angelegten Funktionalität des historischen Jubiläums und der angedeuteten Konflikthaftigkeit der zeitgenössischen Situation gilt das Interesse des vorliegenden Aufsatzes zunächst den verschiedenen Konfliktlinien, die sich im Reformationsjubiläum kreuzten und die Handlungsspielräume der Akteure begrenzten, ebenso wie den Strategien, mit welchen die verschiedenen Konfliktparteien ihre Interessen durchzusetzen suchten. Weiterhin ist zu fragen, wie die Pastoren die zeitgenössische Situation ausdeuteten. Ausgehend von der Überlegung, wonach gerade in der Frühneuzeit sich Untertanen mittels symbolischer Handlungen artikulierten,14 rückt schließlich die Inszenierung des Reformationsjubiläums in den Fokus der Aufmerksamkeit. Tatsächlich erscheinen Konfessionsjubiläen angesichts der identitätsstiftenden Rolle der Konfessionen und deren Bedeutung bei der Herausbildung von »Normen der Verhaltenssteuerung und Lebensgestaltung«15 prädestiniert, den Untertanen als Plattform für die Meinungsartikulation im öffentlichen Raum zu dienen – gerade auch angesichts der konfessionellen Verwerfungen im Ergebnis der Konversion der albertinischen Dynastie. 1.
Das Reformationsjubiläum im Schnittpunkt divergierender Konfliktfelder
Die im Eingangszitat artikulierten lutherischen Urängste speisten sich aus der Eigengeschichte dieser Konfession. Sie waren während des Reformationsjubiläums 1617 aufgerufen worden und blieben auch nach dem Westfälischen Frieden virulent.16 Doch während im frühen 17. Jahrhundert der konfessionelle Gegner noch außerhalb des eigenen Territoriums stand, mussten einhundert Jahre später die lutherisch-orthodoxen Theologen in Sachsen zusehen, wie dieser Widersacher seit dem Glaubensübertritt des Kurfürsten im Umfeld des Hofes Fuß fassen konnte. Seitdem nutzte Rom tatsächlich jede Möglichkeit, seine missionarische, langfristig auf die Rekatholisierung eines lutherischen Kernterritoriums abzielende Tätigkeit zu verstärken.17 Zwar war der tatsächliche Erfolg begrenzt, insofern um 1730, gegen Ende der Regierungszeit Friedrich Augusts I., nur etwa acht Prozent der Dresdner katholisch waren und sich die Zahl der Konversionen auf 20 bis 30 pro Jahr eingepegelt hatte.18 Dies lag 14 Vgl. Gestrich, Absolutismus. 15 Maurer, Biographie, 161. 16 Zum Jubiläum 1617 vgl. Schönstädt, 1617; Flügel, Konfession, 29–84; zum Andauern der Ängste vgl. Freist, Religionssicherheiten, 36f. 17 Vgl. Freist, Religionssicherheiten, besonders 39f. 18 Vgl. Rosseaux, Zion, 213, 223.
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nicht zuletzt auch daran, dass der Kurfürst eben keine aggressive Rekatholisierungspolitik betrieb, sondern, um keinen Konflikt mit den einflussreichen Landständen19 zu riskieren, in Religionsversicherungsdekreten immer wieder Garantien für den Bestand des Luthertums abgab. Dass dennoch ein Angstgefühl vorherrschte, hängt zunächst mit einer Visualisierung und der damit verbundenen Aufwertung der katholischen Kirche in Sachsen zusammen, die sich in einem schleichenden Prozess vollzog:20 Die Einführung des katholischen Hofgottesdienstes in Schloss Moritzburg bei Dresden im Jahr 1699, der 1708 erfolgte Umbau des alten Dresdner Opernhauses zu einer katholischen Kirche oder die 1710 eingerichtete katholische Kapelle auf der Leipziger Pleißenburg bildeten Präsenzzeichen des Katholizismus in Sachsen. Von besonderer Symbolkraft erschien weiterhin, dass die katholische Seelsorge den Jesuiten, dem Orden der Gegenreformation, übertragen wurde. Aus kompensatorischen Gründen erfuhr zudem die zweite protestantische Konfession eine Duldung von landesherrlicher Seite, und es konnten sich in Dresden und Leipzig reformierte Gemeinden »gewissermaßen im Windschatten des katholischen Elements« dauerhaft etablieren.21 Zwar erschien dies den lutherischen Theologen als das kleinere Übel,22 aber all diese Veränderungen verwiesen auf einen beginnenden Wandel, der in kleinen Dingen den Status quo änderte und die konfessionelle Homogenität als Grundlage für die gesellschaftliche Stabilität störte. Doch um endgültig zu verstehen, warum rund 20 Jahre nach der Konversion des Kurfürsten die sächsischen Lutheraner über den Glaubensübertritt des Thronfolgers derart schockiert waren, muss man sich Folgendes vor Augen halten: Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die von seinem Vater eingefädelte Konversion des Thronfolgers bekanntgeworden war, bestand die Hoffnung, die katholische Landesherrschaft werde lediglich eine Episode bleiben. Ähnlich wie der sächsische Kurfürst Christian II. (1583/1591–1611) nach dem Tod seines gleichnamigen Vaters im Jahr 1591 dessen calvinistische Konfessionspolitik abrupt abbrach und das Luthertum in seinem Land wieder stärkte, würde, so die Meinung, der künftige lutherische Kurfürst gegen die katholische Kirche in Sachsen vorgehen.23 Doch derlei Gedanken waren im Oktober 1717 schlagartig hinfällig geworden, zumal das katholische Bekenntnis die Voraussetzung für 19 Die sächsischen Landstände hatten eine Vielzahl von Kompetenzen errungen, vor allem ein umfassendes Steuerbewilligungsrecht. Dadurch bildeten sie einen bedeutenden politischen Machtfaktor, vgl. Krüger, Landesherr. 20 Vgl. dazu Freist, Religionssicherheiten, 44–55. 21 Vötsch, Kursachsen, 43. 22 Vgl. dazu ebd., 43. In den Jubiläumspredigten 1717 erschienen die Reformierten nicht mehr als Feindbild. 23 Vgl. Ziekursch, August, 254.
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die zwei zentralen politischen Ziele des Kurfürsten bildete. Sowohl die erbliche Thronfolge in Polen als auch die seit 1711 angestrebte, von Papst Clemens XI. (eigentlich Lorenzo Corsini, 1652/1730–1740) forcierte und 1719 schließlich erfolgte Hochzeit des Kurprinzen mit einer Kaisertochter,24 in deren Folge Friedrich August I. die Kaiserwürde für die eigene Dynastie zu erlangen hoffte, erforderten den dauerhaften Konfessionswechsel des Fürstenhauses. Doch genau daran knüpfte sich automatisch die Verstetigung aller Veränderungen, die die lutherische Kirche seit 1697 in Kursachsen hinnehmen musste. Vor dem Hintergrund dieser Konstellation ergab sich in Hinblick auf das Reformationsjubiläum folgender grundlegender Konflikt. Erstmals stand die albertinische Dynastie nicht mehr als Träger eines lutherischen Konfessionsgedenkens zur Verfügung. Doch aufgrund des fortbestehenden landesherrlichen Summepiskopats, das der Kurfürst stellvertretend den Evangelischen Räten übertragen und damit faktisch zentrale landesherrliche Rechte zur Disposition gestellt hatte,25 bedurfte ein Kirchenfest wie das Reformationsjubiläum dessen Anordnung. Das galt auch, obgleich die Feier nicht mehr wie die Konfessionsjubiläen im 17. Jahrhundert als Medium der fürstlichen Repräsentation26 oder als Ausdruck der Versicherung des gemeinsamen Bekenntnisses dienen konnte. Mit dem Wegfall der Konfession als staatlichem Integrationsmoment wandelte sich vielmehr die stabilitätsgenerierende Ausrichtung des Reformationsjubiläums potenziell in ihr Gegenteil. Die sächsische Bevölkerung demonstrierte mit der Säkularfeier ihr Festhalten am Luthertum. Das Konfliktpotenzial wurde dabei zusätzlich verschärft, da Sachsen eine Hochburg der lutherischen Orthodoxie war und die Lutheraner begannen, sich infolge der entstandenen Unsicherheiten stärker an geistlichen Führungsspitzen wie den Dresdner Superintendenten Valentin Ernst Löscher (1673–1749), den wohl wichtigsten Vertreter der lutherischen Spätorthodoxie, zu orientieren.27 Angesichts dieser Konstellation wurde das Reformationsjubiläum zu einem Indikator für die Stabilität des Luthertums in Sachsen und für das künftige Verhalten des Landesherrn gegenüber dem Bekenntnis seiner Untertanen. Damit stellt sich die Frage, wie der Kurfürst hinsichtlich des Reformationsgedenkens agierte. Tatsächlich engten drei Faktoren den Spielraum ein, den
24 Zur Rolle von Papst Clemens XI. und seiner Hoffnung, im Ergebnis der für die Hochzeit notwendigen Religionsveränderung des Thronfolgers werde auch Sachsen wieder katholisch werden vgl. ebd., 115. Zur Konversion und Eheschließung des Kurprinzen vgl. Neuhaus, Polnisch-sächsische Union, 34–36. 25 Vgl. Freist, Religionssicherheiten, 37. 26 Beispielhaft hierfür sind die Konfessionsjubiläen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, insbesondere die Konkordienjubiläen 1676 und 1680, vgl. Flügel, Konfession, 104–122. 27 Allgemein zu diesem Phänomen vgl. Maurer, Biographie, 225f.
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Friedrich August I. in der Jubiläumsfrage besaß: Erstens bestand auf innenpolitischer Ebene angesichts des schwelenden konfessionellen Konflikts die Gefahr, dass dem Kurfürsten der Summepiskopat und damit ein wesentlicher Bestandteil der landesherrlichen Macht in den permanenten Auseinandersetzungen mit den Landständen entgleiten könnte.28 Zweitens spielten dynastische Interessen eine Rolle. Friedrich August I. versuchte, seine infolge des Nordischen Krieges verlorene Herrschaft in Polen zurückzugewinnen.29 Die Geheimen Räte erkannten, dass der Landesherr hierfür die Unterstützung des Kaisers und der Kurie benötigte und sich diese mit konfessionellen Zugeständnissen zu Lasten des Luthertums erkaufen würde.30 Deshalb forderten sie vom Kurfürsten, auf den Warschauer Thron zu verzichten, was zugleich den Glaubensübertritt als umkehrbar erscheinen lassen musste – in dieser Situation rechnete sogar die Kurie mit einer Rekonversion!31 Der innenpolitische Druck, der auf Friedrich August I. lastete, kehrte sich erst um, als die protestantische Schutzmacht Schweden, Kursachsens Gegner im Nordischen Krieg, in der Schlacht von Poltawa 1709 eine Niederlage gegen die russische Armee hinnehmen musste, die auch jene Garantien für den Fortbestand des Luthertums desavouierte, die der Schwedenkönig dem Kurfürsten zuvor im Altranstädter Frieden 1706 abgerungen hatte.32 Damit war die Forderung der Räte für Friedrich August I. endgültig hinfällig, zumal für ihn der Kampf um die im sogenannten Stummen Reichstag im Februar 1717 zurückerhaltene polnische Krone höchste Priorität besaß.33 Um jedoch sein politisches Engagement nicht zu gefährden und seine Landesherrschaft nicht zu destabilisieren, hütete er sich, den konfessionellen Status quo in Sachsen allzu offensichtlich anzutasten. Dies schloss eine aktive Verhinderung der Säkularfeier seitens des Kurfürsten aus, zumal die Theologen um Löscher seit Advent 1716 die Bevölkerung in Predigten und Drucken auf das Jubiläum einstimmten und Erwartungshaltungen schürten.34 Drittens schließlich bestimmte eine Konstellation auf Reichsebene das Verhalten, das der Kurfürst gegenüber dem Reformationsjubiläum an den Tag legte. Sachsen besaß seit 1653 den Vorsitz im Corpus Evangelicorum, an dem Friedrich August I. trotz seiner Konversion festhielt, ihn aber zunächst an Sachsen-
28 Zu den Auseinandersetzungen vgl. Held, Adel; zum Verlust der Landeshoheit vgl. Haug-Moritz, Ständekonflikt, 177f und Vötsch, Kursachsen, 31f. 29 Zum Kontext des Nordischen Krieges vgl. Neuhaus, Polnisch-sächsische Union, 32f. 30 Vgl. Seifert, Sächsisch-polnische Union, 225. 31 Vgl. Vötsch, Kursachsen, 39 und Ziekursch, August, 122f. 32 Vgl. Vötsch, Kursachsen, 38f. 33 Vgl. Staszewski, Sächsisch-polnische Union, 17. 34 Vgl. Cyprian, Hilaria I, 103, 107f.
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Gotha-Altenburg und seit 1700 an Sachsen-Weißenfels übertragen hatte.35 Dies führte in dem Gremium zu Auseinandersetzungen, die seit 1716 an Schärfe zunahmen. Die Gründe, warum der Kurfürst am Direktorium festhielt, lagen in den negativen politischen und zeremoniellen Folgen, die ein Wechsel zum Corpus Catholicorum nach sich gezogen hätte. Dabei musste Friedrich August I. sein Interesse gegen beide Seiten verteidigen: Die katholischen Reichsstände wollten ihn in ihr Lager ziehen, wohingegen die evangelischen die sächsische Direktoratsfähigkeit bezweifelten – allen voran Sachsen-Gotha-Altenburg, das als nächstvornehmster lutherischer Reichsstand wiederholt seinen Führungsanspruch artikuliert hatte.36 2.
Durchsetzungsstrategien
Sowohl in Sachsen als auch im Corpus Evangelicorum war man sich dieser Zusammenhänge bewusst, und gleich verschiedene Akteure gedachten, sie auszunutzen. Zunächst bat Herzog Christian von Sachsen-Weißenfels (1682/1712–1736), der stellvertretend für Kursachsen den Vorsitz in diesem Gremium seit 1700 innehatte, am 21. November 1716 den kursächsischen Geheimen Rat und Kanzler Heinrich von Bünau (1665–1745) um Informationen, ob und welche Jubiläumsfeierlichkeiten im Folgejahr seitens des Oberkonsistoriums geplant seien.37 Nachdem dieser in seiner Antwort angesichts der angespannten konfessionellen Situation zu einem vorsichtigen Vorgehen geraten hatte, empfahl der Herzog am 5. Dezember 1716, die Behörden in Dresden sollen die Säkularfeier 1717 nach dem Vorbild des Reformationsjubiläums 1617 ausrichten. Damit bezog er eine Position, die den Intentionen von Bünaus diametral entgegenstand, denn der sächsische Kurfürst Johann Georg I. (1585/1611–1656) hatte die Säkularfeier 1617, die Herzog Christian nun zum Vorbild erhob, nicht nur als ein hohes dreitägiges Kirchenfest aufwändig planen lassen, sondern auch die Jubiläumsanordnung an die lutherischen Reichsstände zur Nachahmung geschickt. Dahinter verbarg sich ein politisches Kalkül: Indem er erfolgreich eine die Grenzen des Kurstaates übergreifende einheitliche Säkularfeier zahlreicher lutherischer Reichsstände generierte, stilisierte er sich auf Reichsebene als Schutzfürst der Reformation 35 Vgl. Vötsch, Kursachsen, 19–147. 36 Vgl. ebd., 67–69. Friedrich August argumentierte gegenüber beiden Seiten, indem er sie gegeneinander ausspielte: Dem Corpus Evangelicorum erklärte er, im Falle des Verlustes des Vorsitzes werde er Kursachsen ins Corpus Catholicorum überführen, was eine Schwächung der evangelischen Seite bedeute; im Corpus Catholicorum verwies er jedoch darauf, dass er als Mitglied des Corpus Evangelicorum dort mäßigend wirken könne. 37 Zu den Vorbereitungen vgl. pars pro toto Flügel, Konfession, 137–146; Cordes, Hilaria, 22–38.
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und als Haupt des evangelischen Lagers, wobei er Konkurrenzansprüche des reformierten Kurfürsten von der Pfalz, der Führungskraft der protestantischen Union, zurückwies.38 Herzog Christian rechtfertigte sein Ansinnen, das anstehende Reformationsjubiläum nach dem Vorbild von 1617 auszurichten, mit einem drohenden Hinweis auf die Gegner des kursächsischen Direktorats. Er erklärte, dass das Directorium inter Evangelicos annoch bey dem Churhause Sachsen ist, auch der Übertragung desselben auf Reichs- und Creyß-Tagen in bekanndter Maaße an Uns geschehen, hiernächst ohne besondere Anmerckung bey denen gesamten Evangelischen Ständen nicht gelaßen werden möchte, wenn man bey diesem instehenden Saeculo Lutherano sich anders als bey vorigem geschehen von Seiten des Chur- und Fürstlichen Hauses Sachsen aufführen wollte.39
Der Herzog entwickelte seinen Plan zunächst, wie Harm Cordes argumentiert, aus dem Wissen heraus, dass sich die sächsischen Herzogtümer – d. h. wohl unausgesprochen insbesondere Sachsen-Weißenfels! – in Hinblick auf ihre Stellung unter den evangelischen Reichsständen einen Verzicht auf eine Jubiläumsfeier nicht leisten konnten.40 Ergänzend hinzu trat jedoch die Überzeugung, dass der Verbleib des kursächsischen Direktorats unmittelbar an die Art und Weise, wie dort das Reformationsjubiläum inszeniert werden würde, geknüpft war. Außer Herzog Christian wusste auch Valentin Ernst Löscher die Symbolkraft des Reformationsjubiläums 1617 richtig einzuschätzen. Als Vertreter der lutherischen Orthodoxie kämpfte er beständig gegen die »Auflösung religiöstheologischer Wahrheiten und Normen zugunsten praktischer politischer Ziele«41 und bezog als solcher immer wieder Position gegen die landesherrliche Konversion. Daher verwundert es nicht, dass er auch im Zusammenhang mit dem Reformationsjubiläum versuchte, einen der schärfsten Konkurrenten Kursachsens im Streit um das Direktorium im Corpus Evangelicorum zu instrumentalisieren. Nachdem er im Spätherbst 1716 noch keinerlei positive Signale bezüglich des Reformationsgedenkens erhalten hatte, wandte er sich am 20. November 1716 an den Gothaer Konsistorialrat Ernst Salomon Cyprian (1673–1745). Der sollte bei Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1676/1693–1732), einem der angesehensten lutherischen Reichsfürsten, dafür
38 Zum Reformationsjubiläum als Medium kurfürstlicher Machtdemonstration vgl. Flügel, Konfession, 51–65. 39 Zit. nach Cordes, Hilaria, 25. 40 Vgl. ebd. 41 Greschat, Löscher, 111f.
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werben, dass die sächsischen Herzöge die Planungen für das Reformationsjubiläum vorantreiben und so Kursachsen trotz aller katholischer Widerstände ebenfalls zur Durchführung einer Säkularfeier bewegen.42 Auch wenn Löscher seinen Einfluss überschätzt hatte: Der Herzog reagierte letztendlich wie erhofft, als Landgraf Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt (1667/1678–1739) am 21. Dezember 1716 ein gemeinsames Reformationsjubiläum aller evangelischen Stände nach einheitlichem Modus vorschlug. Vermutlich erblickte Friedrich II. hier eine Chance, sich als Führungskraft im protestantischen Lager zu profilieren, und warb im Corpus Evangelicorum für diesen Plan.43 Dort erhielt der kursächsische Vertreter, Karl Gottlieb Graf von Bose (1654–1731), den Auftrag, sich in Dresden nach dem Stand der Jubiläumsvorbereitungen zu erkundigen. Ähnlich wandte sich auch Herzog Christian von Sachsen-Weißenfels am 3. Februar 1717 erneut an das Geheime Konsilium. Dermaßen unter Druck gesetzt, reagierte die Behörde schließlich, indem sie am 18. Februar 1717 widerwillig verlauten ließ, dass Kursachsen ein Reformationsjubiläum begehen werde, allerdings lehnte sie eine aufwändige Feier nach dem Vorbild von 1617 ab: Das Gedenken solle »nicht mit den großen Solemnitaet, wie 1617 geschehen, stattfinden«.44 Das bedeutete, anstatt einer dreitägigen Feier ein nur eintägiges – und damit in seiner Symbolkraft kleingehaltenes – Gedenken am Sonntag, dem 31. Oktober 1717, das kaum mehr als einen Festgottesdienst umfassen sollte. Offenkundig versuchten die Räte, mäßigend zu wirken. Ob dies dem Einfluss der landesfremden Minister zuzuschreiben ist, die an den Sitzungen des Konsiliums teilnahmen, erscheint als möglich, ist aber nicht belegbar. Erscheint diese Jubiläumszusage in Hinblick sowohl auf den kursächsischen Führungsanspruch im Corpus Evangelicorum als auch auf die innenpolitische Situation sinnvoll, so galt das Gegenteil hinsichtlich der an Wien orientierten Interessen des Kurfürsten. Ein im Corpus Evangelicorum organisiertes einheitliches Reformationsgedenken aller evangelischen Reichsstände als Akt demonstrativer protestantischer Selbstdarstellung musste ihm problematisch erscheinen, bestand doch die Gefahr, die katholischen Reichsstände würden aus dem kursächsischen Direktorat auch eine sächsische Federführung bei der Jubiläumsvorbereitung ableiten. Entsprechend seiner widersprüchlichen Ziele betrieb Friedrich August I. nun eine Doppelstrategie: Er erlaubte zwar eine Jubiläumsfeier in Sachsen, 42 Vgl. Schönstädt, 1717, 71f; Cordes, Hilaria, 25. Hier auch Quellennachweise aus Gotha. 43 Diese Versuche intensivierte Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, nachdem er von der Konversion des Kurfürsten erfahren hatte, vgl. Vötsch, Kursachsen, 124f. 44 Geheime Räte an Herzog Christian von Sachsen-Weißenfels, 18.02.1717, Sächs. HStA Dresden, Geheimes Archiv, 7436/19, fol. 41f.
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hintertrieb aber gleichzeitig den Beschluss einer gemeinsamen Feier aller evangelischen Stände.45 Dabei konnte er ausnutzen, dass noch weitere Reichsstände im Corpus Evangelicorum Bedenken gegen eine gemeinsame Säkularfeier erhoben, da sie den Kaiser und das Corpus Catholicorum nicht unnötig provozieren wollten.46 Signalgebend war hier König Friedrich Wilhelm I. in Preußen (1688/1713–1740), der sich mit der ersten offiziellen Initiative zur Vorbereitung des Jubiläums 1717 konfrontiert sah. Bereits am 17. Juni 1716 hatte sich das Konsistorium in Magdeburg in dieser Angelegenheit47 an den Monarchen gewandt. Doch der König suchte nicht nur angesichts des preußisch-habsburgischen Gegensatzes jeglichen Konflikt mit dem Kaiser zu vermeiden, sondern ihm fehlte als Angehörigem der reformierten Konfession auch das persönliche Interesse an einem Reformationsjubiläum.48 Entsprechend fiel seine Reaktion am 25. Januar 1717 aus. Zwar erlaubte er, ein Reformationsjubiläum zu begehen, schränkte dies aber in doppelter Hinsicht ein.49 Friedrich Wilhelm I. verfügte erstens, dass am 31. Oktober, der auf einen Sonntag fiel, im Anschluss an die Predigt ein »gewisses auf dieses Reformations-Fest gerichtetes gebett« gelesen, ansonsten »jedoch kein solennes Fest angestellt werden« soll.50 Diese Erlaubnis galt zweitens nur für seine lutherischen Untertanen, wohingegen die Reformierten nicht am Reformationsjubiläum partizipieren sollten, da sie »diversae relegionis« seien.51 Diese Bestimmungen, die offenkundig ohne jegliche Konsultationen mit anderen Reichsständen getroffen worden waren, hatten einer einheitlichen, aufwändig inszenierten Jubiläumsfeier der protestantischen Stände einen Riegel vorgeschoben, noch bevor im Corpus Evangelicorum irgendein Beschluss gefasst werden konnte. Diese Konstellation konnte auf kursächsischer Seite genutzt werden. Tatsächlich hat das Geheime Konsilium in dem bereits erwähnten Schreiben an Herzog Christian von Sachsen-Weißenfels vom 18. Februar 1717 angewiesen, er solle im Corpus Evangelicorum verkünden, dass »respecte des Evangel. Directorii 45 Dass es sich hierbei um ein aktives Vorgehen des Kurfürsten handelte, belegt ein Inserat aus dem Jahr 1730. Hier heißt es, der Beschluss einer länderübergreifenden Feier des Jubiläums sei »verhindert worden.«, Inserat zum Bericht des Geheimen Kollegiums an das Geheime Kabinett, 30.12.1729, Sächs. HStA Dresden, Geheimes Konsilium, Loc. 4556, fol. 13. 46 Schönstädt, 1717, 73–75. 47 Die 1680 an Brandenburg-Preußen gefallene Elbestadt verstand sich seit den Kämpfen gegen das Interim in der Mitte des 16. Jahrhunderts als Herrgottskanzlei und als Hochburg des Luthertums, die ihr Selbstverständnis in einer eigenen bedeutsamen Jubiläumskultur zum Ausdruck brachte. Allgemein zu Magdeburg vgl. den Sammelband Ballerstedt/Köster/Poenicke, Magdeburg; zur Jubiläumskultur Flügel, Magdeburg; Danneil, Reformationsjubelfeiern. 48 Vgl. Schönstädt, 1717, 75. 49 Vgl. Cordes, Hilaria, 23f; Loofs, Jahrhundertfeier, 41; Danneil, Reformationsjubelfeiern, 87. 50 Zit. nach Schönstädt, 1717, 75. 51 Zit. nach Cordes, Hilaria, 24.
Reformationsgedenken im Konflikt – die Säkularfeier 1717
es auch […] einem ieden Stand des Reichs, wegen des dieserhalben [das Reformationsjubiläum, W.F.] zu verfügenden Anstalten, dermahlen freygelassen werde«.52 Angesichts des Unwillens zweier wichtiger Reichsstände gab das Corpus Evangelicorum am 8. April 1717 schließlich den Plan eines einheitlichen Reformationsjubiläums auf.53 3.
Jubiläumsvorbereitungen im Kurfürstentum Sachsen
Nachdem die Gefahr einer reichseinheitlichen Feier gebannt war, ging Friedrich August I. daran, Einfluss auf die formale und inhaltliche Ausgestaltung des Reformationsjubiläums in Sachsen zu nehmen und die zu erwartende antikatholische oder sogar herrschaftskritische Aufladung einzudämmen. Auch hier bediente er sich einer doppelten Strategie. Deren erster Teil bestand darin, dass der Kurfürst die Jubiläumsplanungen des Geheimen Konsiliums zurückwies und stattdessen eine dreitägige Feier ganz im Sinne des Oberkonsistoriums anordnete. Diese oberste geistliche Landesbehörde war spätestens in die Vorbereitungen einbezogen worden, als sie am 4. Februar 1717 von Herzog Christian von Sachsen-Weißenfels, der offenbar für die Durchsetzung seiner Pläne eine Gegenkraft zu den Geheimen Räten suchte, die Aufforderung erhielt, bezüglich des anstehenden Reformationsjubiläums die Archivalien des Jahres 1617 zu konsultieren. Die Antwort erfolgte prompt: Bereits am 18. Februar 1717 konnten umfangreiche Abschriften vorgelegt werden, die den Dresdner Theologen zugleich die Blaupause für die Säkularfeier lieferten.54 Im Ergebnis entstanden – dem Vorbild der drei von Johann Georg I. angeordneten Konfessionsjubiläen folgend – eine Jubiläumsankündigung, mit der die Bevölkerung eine Woche vor der Feier über diese informiert werden sollte, ein Festgebet, das während der Säkularfeier nach jeder Predigt zu verlesen war, sowie die Liste der in den Festpredigten abzuhandelnden Bibeltexte. Diese Dokumente legte das Oberkonsistorium nach mehrfacher Überarbeitung dem Kurfürsten Friedrich August I. am 2. August 1717 zur Unterschrift vor, der auf dieser Grundlage die Jubiläumsfeier am 6. September 1717 anordnete.
52 Geheime Räte an Herzog Christian von Sachsen-Weißenfels, 18.12.1717, Sächs. HStA Dresden, Geheimes Archiv, 7436/19, fol. 41f. 53 Vgl. Danneil, Reformationsjubiläumsfeiern, 87f, Loofs, Jahrhundertfeier, 56, Anm. 1. 54 Diesen Umstand verdeutlichen z. B. einige Blätter, auf denen die 1617 und 1717 vorgeschriebenen Gebete in zwei Spalten synoptisch angeordnet wurden, d. h. der ältere Text diente als unmittelbare Vorlage, vgl. Flügel, Konfession, 142. Auch einige Passagen der Anordnung von 1717 wiederholen fast wörtlich den Text von 1617, vgl. Loofs, Jahrhundertfeier, 20.
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Die eigene Verhinderungsstrategie, mit der einem gemeinsamen Reformationsjubiläum aller evangelischen Reichsstände erfolgreich begegnet worden war, verschleiernd wurden die Anordnungen ähnlich wie bereits 1617 nicht nur an die kursächsischen Behörden und Universitäten55 verschickt, sondern auch an die sächsischen Herzogtümer. Die erhoffte symbolische Wirkung zeigte sich in der Antwort von Herzog Ernst Friedrich I. von Sachsen-Hildburghausen (1681/1715–1724): Er habe mit Vergnügen zur Kenntnis genommen, wie Kursachsen das Jubiläum begehen werde, allerdings hätten sich, so heißt es weiter, die sächsischen Herzogtümer bereits zu einer gemeinsamen Feier nach dem Vorbild von 1617 entschlossen.56 Damit wiederholte sich insofern die Situation von 1617, als Kursachsen und die sächsischen Herzogtümer eine dreitägige Säkularfeier begingen, während Brandenburg-Preußen und andere Stände ihr Reformationsjubiläum nur am 31. Oktober feierten.57 Schließlich muss auf einen weiteren pazifizierenden Umstand im Zusammenhang mit Reformationsjubiläum und Konversion der Dynastie verwiesen werden. Unter Rückgriff auf das Instrumentum Pacis Osnabrugensis (IPO), Artikel V § 34, der den Angehörigen der drei anerkannten Bekenntnisse deren ungehinderte private Religionsausübung erlaubte, legitimierte Friedrich August I. die wahren politischen Interessen übergehend die Konversion seines Sohnes als »bloßes Personalwerck« und Ausdruck einer »Freyheit des Gewissens«.58 Zugleich untermauerte er diese Behauptung durch ausführliche, seit 1697 mehrfach ausgestellte Zusicherungen, den konfessionellen Status quo in Sachsen nicht zu verändern. Als verstärkendes Argument schließt hier die Duplizität der Bekanntgabe der Konversion des Kurprinzen und die öffentliche Ankündigung des Reformationsjubiläums am 24. und 25. Oktober an, belegte doch die Anordnung der Säkularfeier, dass der Kurfürst das staatstragende Luthertum akzeptierte. Die Bekanntgabe des Religionswechsels und das Jubiläum erhielten so den Charakter von Symbolen, von Deutungsangeboten, die in ihrer Aussage auf die Erwartungen verschiedener Seiten zielten. Der zweite Teil der Strategie des Kurfürsten bestand darin, dass er – auch in kaiserlichem Auftrag –Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung der Säkularfeier nahm. Kaiser Karl VI. (1685/1711–1740) ließ bereits Anfang April 1717 55 Zur Feier des Reformationsjubiläums an den kursächsischen Universitäten Wittenberg und Leipzig vgl. Cordes, Hilaria, 49–61, 61–68. 56 Vgl. Herzog Ernst Friedrich von Sachsen-Hildburghausen an Geheimes Konsilium, 08.10.1717, Sächs. HStA Dresden, Geheimes Archiv, 7436/19, fol. 150. Ähnlich auch Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, vgl. Schönstädt, 1717, 98. 57 Eine ausführliche Aufzählung bei Schönstädt, 1717, 95–98. 58 Erstes Zitat: Kopie des Zirkularschreibens an die protestantischen Höfe, 25.10.1717, Sächs. HStA Dresden, Geheimes Archiv, 10177/2, fol. 2; zweites Zitat: Friedrich August I. an Bose, 23.10.1717, Sächs. HStA Dresden, Geheimes Archiv, 10177/2, fol. 30f.
Reformationsgedenken im Konflikt – die Säkularfeier 1717
dem kursächsischen Direktorialgesandten im Corpus Evangelicorum mit Hinweis auf ein Edikt von 1715, mit dem den Lutheranern Lästerungen gegenüber anderen Konfessionen verboten worden waren, Folgendes mitteilen: Es sollen »alle Evangel. Stände, in deren Landen erwehntes Jubel-Fest angestellet, die nachdrückliche Verfügung thun, dass bey dem Predigten […] grobe anzügliche u. dergl. Reden u. expressionis«59 unterbleiben, welche die Bevölkerung in ihrer antikatholischen Haltung bestärken könnten. Über diese Anordnung sollten die anderen Stände informiert werden. Mit anderen Worten: Der Kaiser benutzte den Kurfürsten als verlängerten Arm im Corpus Evangelicorum. In welchem Maß Friedrich August I. in die inhaltliche Gestaltung des Reformationsjubiläums eingriff, zeigt ein Vergleich mit den Texten, die in Kursachsen 1617 und den sächsischen Herzogtümern 1717 vorgeschrieben waren. Während dort, unter lutherischen Landesherren, für jene gebetet wurde, die »unter dem Joch des Antichrists [des Papstes, W.F.] um deines Evangelii willen, Verfolgung und Drangsal leiden«,60 musste 1717 in Kursachsen auf diese scharfe Abgrenzung verzichtet werden. Stattdessen richtete sich das Gebet nur gegen »falsche Lehr irgend einiger Ketzer, Schwärmer und Irrgeister« sowie gegen fremde Lehren.61 Letzteres konnte auch gegen die Pietisten gerichtet sein, die zu Löschers Entsetzen von Halle aus auch in Kursachsen an Einfluss gewannen. Dagegen fehlten in der kursächsischen Jubiläumsanordnung 1717 jene Textstellen gänzlich, die, wie Offb 14,6ff, noch 1617 einen zentralen Platz eingenommen hatten, da sie in der lutherisch-orthodoxen Auslegung zwingend auf den Papst als Antichristen und Luther als apokalyptischen Engel zielten. Vorgeschrieben waren in Kursachsen 1717 stattdessen Texte, die zur konfessionellen Situation passten, wie die bekannte Stelle Mt 22,15–22: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist« oder Lk 12,32: »Fürchte Dich nicht, du kleine Herde.« Statt zu polemisieren, durften die kursächsischen Pastoren entsprechend der kurfürstlichen Jubiläumsanordnung lediglich die »hohe Wohltat [der Reformation, W.F.] in gute Erinnerung ziehen […], Gott für dieselbe, wie auch vor die bisherige unverrückte erhaltung seines allein seligmachenden Wortes unter uns zu dancken«.62 Vergleichbare Anordnungen, allerdings in schärferem Ton verfasst, gingen auch an die beiden Landesuniversitäten.63 Offenkundig erwartete Friedrich August I. insbesondere von den Theologischen Fakultäten qua Amtsverständnis 59 Bose an Friedrich August I., 05.04.1717, Sächs. HStA Dresden, Geheimes Archiv, 7436/19, fol. 47. 60 Gebet im Herzogtum Sachsen-Querfurth, Abdruck in Cyprian, Hilaria I, 191f; vgl. Schönstädt, 1717, 92 sowie Umständliche Beschreibung, 9–51. 61 Gebet für 1717, Abdruck bei Cyprian, Hilaria I, 95. 62 Kursächsische Jubiläumsanordnung, ebd., 93. 63 Vgl. Loofs, Jahrhundertfeier, 29; Schönstädt, 1717, 89–91.
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scharfe antikatholische Polemiken, weshalb er mahnte, in allen »Reden und Schreiben gebührende moderation und Bescheidenheit« einzuhalten, »damit die der Augsburgischen Confession nicht zugethane und im Römischen Reich tolerirte übrige Glaubens-Verwandte durch anzügliche Expressiones und Invectiven Keineswegs angegriffen und ungebührlich tractiret«64 werden. Der Brisanz dieser Eingriffe und der daraus resultierenden Gefahr ausbrechender Unmutsbekundungen war man sich bewusst, wie das auf einem Zettel beigefügte Verbot belegt, diese landesherrliche Anordnung zu drucken.65 Zwei zusätzliche Verbote engten den Spielraum der Pastoren weiter ein. Erstens hatten »alle vorhergängig entworffene öffentliche Anweisung und Dispositiones darüber vor itzmal gäntzlich [zu] unterbleiben.«66 Diese Anordnung unterband einen größeren Austausch von geplanten Predigtinhalten ebenso wie die Drucklegung von Musterpredigten nach dem Vorbild der Predigtsammlungen, die der Dresdner Oberhofprediger Matthias Hoë von Hoënegg (1580–1645) für das Reformationsjubiläum 1617 verfasst hatte. Damit wurde die Verdichtung von lutherischen Leitideen für das Reformationsjubiläum durch landesweit einheitliche, antikatholisch zugespitzte Festpredigten verhindert. Zweitens mussten die Pastoren anders als ihre Amtsvorgänger 1617 die Predigten vor der Drucklegung der Zensur einreichen.67 Schließlich wurde der Oberhofprediger Heinrich Pipping (1670–1722) kurz vor dem Reformationsjubiläum ins Kabinett einbestellt, wo er die Nachricht von der Konversion des Kurprinzen erhielt und persönlich dafür verantwortlich gemacht wurde, dass es zu keinen unangemessenen Reaktionen unter den Pastoren und Gemeindegliedern komme.68 Damit erhielt die Jubiläumsfeier einen ambivalenten Charakter. Einerseits war sie in formaler Hinsicht traditionell gestaltet, wobei deren repräsentative Inszenierungsformen sogar über den vorgegebenen Rahmen hinausweisen konnten. Andererseits erfuhren die konfessionellen Inhalte gemessen an den traditionellen Deutungsschemata der lutherischen Orthodoxie eine deutliche Entschärfung.
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Friedrich August I. an die Universitäten, 08.09.1717, Abdruck bei Loofs, Jahrhundertfeier, 29. Vgl. ebd. Kursächsische Jubiläumsanordnung, Abdruck bei Cyprian, Hilaria I, 95. Auch in anderen Territorien erfolgten im Vorfeld des Reformationsjubiläums 1717 schärfere Zensurbestimmungen, vgl. etwa die Anordnung aus dem Herzogtum Sachsen-Schleusingen, Abdruck ebd., 95. 68 Vgl. Cordes, Hilaria, 54.
Reformationsgedenken im Konflikt – die Säkularfeier 1717
4.
Das Reformationsjubiläum als Abwehrmaßnahme der Theologen
Doch in welchem Maß hielten sich die Theologen an die kurfürstlichen Vorgaben? Eine kurze Durchsicht der Festschriften und Predigten zeigt, dass der Kurfürst seine Vorstellungen nur bedingt durchsetzen konnte. Zwar lassen sich keine Polemiken gegen den Landesherrn nachweisen, was jedoch nicht bedeutet, dass die kursächsischen Theologen gravierende Eingriffe in die Belange der eigenen Konfession geduldet hätten. Vielmehr agierten sie als »Identitätspropagandisten« und wichtige Meinungsmacher.69 Ihre Haltung demonstrierten sie, indem sie sich und ihre Gemeinden schon seit Herbst 1716, lange bevor die Konversion des Kurprinzen bekannt wurde, auf das Jubiläum einstimmten. Sie publizierten verschiedene »Büchelgen […] so die Reformations-Historie kurtz in sich fasset, ingleichen einer gedruckten Anweisung, was vor Lieder sich zur Privat-Devotion bey solchen Fest […] schicken.«70 Der Dresdner Superintendent Valentin Ernst Löscher etwa wandte sich mit einem Pamphlet an die Bevölkerung, in dem er darüber polemisierte, »wie man bey diesen bösen Zeiten geübte Sinne zum Unterschied des Bösen und guten gelangen solle.«71 In die gleiche Richtung zielte auch der Hinweis, den Löscher seinen Kollegen gab: »Weil der Papisten hierbei [dem Reformationsjubiläum, W.F.] gedacht werden muß, so wollen Sie doch in christlich geziemender Prudenz vor weltlichen Schmähworten oder satyrischen Exagitationibus, die nicht bauen, sich hüten, den Unterschied hingegen zwischen dem Evangelio und dem Papstum gründlich zeigen.«72 Dabei legitimierten die Pastoren ihr Vorgehen mit Hinweis auf antilutherische Schriften, die im Vorfeld des Reformationsjubiläums zirkulierten.73 Indem Löscher jedoch die Diskussionsbereitschaft und die Einsichtsfähigkeit der katholischen Kirche prinzipiell in Frage stellte,74 verwies er auf das eigentliche Ziel dieser Druckschriften: Es ging nicht darum, den Gegner vom Wahrheitsgehalt der eigenen Position zu überzeugen, sondern bei den Lutheranern die bestehenden konfessionellen Wahrnehmungsmuster und Leitideen zu verfestigen – genau dies versuchte das landesherrliche Verbot, vor dem Jubiläum Predigtentwürfe auszutauschen, zu unterbinden. 69 70 71 72 73
Kaufmann, Konfession, 15. Cyprian, Hilaria I, 103 im Bericht aus Dresden. Löscher, Discurse, Zitat im Titel. V.E. Löscher, zit. nach Cyprian, Hilaria III: Aktenstücke Nr. 1, 131f. Bereits der Gesandte in Regensburg, Graf von Bose, machte auf die Existenz der katholischen Polemiken aufmerksam, vgl. Graf von Bose an Friedrich August I., 05.04.1717, Sächs. HStA Dresden, Geheimes Archiv, 7436/19, fol. 47. 74 V.E. Löscher, Discurse. Das dritte Kapitel trägt die Überschrift: »Von der Unmöglichkeit, Streitereien mit dem Papst zu Ende zu bringen.«
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Dem traten die Pastoren entgegen, indem sie zur Vorbereitung der Jahrhundertfeier jene Predigten und Schriften nutzten, die Matthias Hoë von Hoënegg und andere Theologen für das Reformationsgedenken 1617 publiziert hatten.75 Der Wittenberger Theologieprofessor Caspar Löscher (1636–1718) verwies entsprechend in seinem Denck-Mahl auf den Nutzen, welche unsere Priester bey dem bevorstehenden Jubilaeo aus dieser Historischen Nachricht zum Besten ihrer Zuhörer schöpffen und ihren bessern Unterricht durch die Anweisung derer darinnen bemeldeten Jubel-Predigten und beygefügten Dispositionen an die Hand geben können.76
Passend waren die im Denck-Mahl abgedruckten Texte und Auslegungen von 1617 noch immer, weil sich die Welt- und Feindbilder der lutherischen Orthodoxie kaum verändert hatten und zudem das katholische Feindbild neue Aktualität vor der Hintergrundfolie der zur Gefahrensituation stilisierten Konversion der Dynastie erhielt. Angesichts dieser Bedrohung lag die identitätsstiftende Zielsetzung des Reformationsjubiläums darin, die Lutheraner am Festhalten an ihrer Konfession zu bestärken. Dazu deuteten die Pastoren zunächst die Geschichte des Luthertums als unter dem besonderen Schutz Gottes stehend aus: Gott selber habe »in den Thoren unseres Zion den Leuchter seines Evangelii schon 200 Jahr bey so grosser Sicherheit und Undanck der Unfertigen gleichwol auffrecht erhalten, den er so zeitlich hingegen in Griechenland/Italien/Franckreich und anderswo weggestoßen!«77 Dieser göttliche Schutz war jedoch nicht voraussetzungslos. Dass Gott die Reformation erhalten habe, begründete Caspar Löscher auch mit Hinweis auf die Jubiläumsfeier von 1617. Den Gedanken der Theologengeneration von 1617 aufnehmend schrieb er, der Sinn eines solchen Jubiläums bestehe darin, Gott für seine Werke, d. h. für die Reformation und deren Erhalt, zu danken und zwar mit religiösen Praktiken wie Lob und Gebet. Damit erscheint das lutherische, auf historische Ereignisse abzielende Jubiläum als eine Spezialform des Lob-, Bet-, Buß- und Dankfestes in der Tradition der Gedächtnisfeiern des Alten Testaments und wird damit zugleich vom katholischen Verständnis abgegrenzt, das mit dem Jubiläumsbegriff bis in die Gegenwart hinein eine Ablassveranstaltung meint.78 75 Vgl. etwa Löscher, Denck-Mahl, 3–16, der hier die Schriften des Hoë von Hoënegg rezipiert. 76 Ebd., 68, ähnlich auch seine Aussage, wonach »das beygefügte Verzeichnis der Jubel-Texte [von 1617, W.F.] nützlich zu weiteren Imitationen in Predigten zu gebrauchen sei.«, ebd., 71, die Texte S. 71–85. 77 Zit. nach Cordes, Hilaria, 288. 78 Vgl. Löscher, Denck-Mahl, 3–16, eine Polemik gegen die katholischen Jubeljahre folgt 18–60. Zum Reformationsfest als Lob- und Dank-, Buß- und Betfest schon in der Definition von Hoë
Reformationsgedenken im Konflikt – die Säkularfeier 1717
Dieser Dankespflicht hatte die Festgemeinde 1617 nach allgemeiner Auffassung genügt, weshalb Pastoren wie Caspar Löscher in ihren Schriften Beschreibungen der Säkularfeier von 1617 abdruckten und dadurch das Jubiläum 1717 als Erneuerung der Vorgängerfeier von 1617 erscheinen ließen. Die Wiederholung des Reformationsjubiläums interpretierten sie als wichtiges »Zeichen von der Beständigkeit der Konfession«, die Gott »abermal eine Zeit von hundert Jahren« erhalten habe.79 Dieses Konstrukt eröffnete einen optimistischen Ausblick auf die Zukunft. Wenn die zeitgenössischen Lutheraner auch weiterhin treu zu Gott stehen und sein Gebot befolgen, so die verbreitete Meinung, könnten sie auch künftig seinem göttlichen Schutz vertrauen. Hier klingt subkutan bereits jene Zuversicht an, die die Festgemeinden späterer Konfessionsjubiläen formulieren sollten: die Gewissheit, dass auch nach weiteren 100 Jahren ein Reformationsjubiläum anstehe. Mit der theologischen Ausdeutung des Reformationsjubiläums steht in Verbindung, wie die Pastoren Geschichte und Lehre der katholischen und der lutherischen Kirche interpretierten. Dabei zeigte Valentin Ernst Löscher gleich in seiner ersten Festpredigt, dass die Theologen tatsächlich keinerlei Probleme hatten, die Auslegungen des Reformationsjubiläums 1617 auch anhand der 1717 offiziell verordneten Texte auszubreiten. Es müsse deutlich gemacht werden, so der Theologe, dass das römische Papsttum die Weissagungen der Johannesoffenbarung über die Babylonische Hure erfülle.80 Ähnlich interpretierte ein Wittenberger Pastor in seiner Predigt am 31. Oktober 1717 Luther als Engel der Apokalypse.81 Diese Deutungsfiguren bauen auf dem oft erprobten Standardverfahren auf, wonach Bibel und Reformation als Verheißung und Erfüllung ähnlich strukturell aufeinander bezogen wurden, wie Altes und Neues Testament innerhalb der Heiligen Schrift. Im Ergebnis galt die Reformation als heilsgeschichtliches, in der Johannesoffenbarung präfiguriertes Ereignis, das der Apokalypse unmittelbar vorausgeht. Hier schließt die Geltungsbehauptung an, wonach die lutherische Kirche in ungebrochener Kontinuität zu der durch Christus gegründeten Kirche des Neuen Bundes stehe. Indem so die eigene Tradition über die Reformation hinaus in biblische Zeiten zurück verlängert wurde, erfolgte in klarer Abgrenzung gegenüber der katholischen Kirche ein Verweis auf die Identität der lutherischen mit der wahren urchristlichen Kirche. Auch dieses Grundverständnis hatte bereits die Aussagen der Festpredigten des Jahres 1617 geprägt. Dabei stand die Behauptung einer bis in die Zeiten Christi zurückreichenden Tradition des Luthertums von Hoënegg, vgl. Flügel, Konfession, 77–84. Das bislang letzte katholische Ablassjubiläum war das von Papst Franziskus für 2016 ausgerufene Jubiläum der Barmherzigkeit. 79 Löscher, Denck-Mahl, 62. 80 Vgl. Löscher, Jubel-Predigten, 88f. 81 Vgl. Umständliche Beschreibung, 27.
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keinesfalls in Widerspruch zu der Tatsache, dass das Reformationsjubiläum auf den sogenannten Thesenanschlag Luthers vom 31. Oktober 1517 verweist. Vielmehr verband das Einladungsprogramm der Universität Leipzig beide Daten zu einer antikatholischen Spitze: Das Reformationsjubiläum findet statt im Jahr 1717 nach Christi Geburt und im Jahr 200 der Offenbarung des Antichristen.82 Ausgehend von der Präfiguration der Reformation in der Bibel entfalteten die Theologen erneut die wesentlichen Elemente der lutherisch-orthodoxen Lehrmeinung, die sich wie ein roter Faden durch alle Predigten und die Jubiläumsliteratur des Jahres 1717 zog.83 Als besonders polemisch erweisen sich dabei jene Schriften, in denen verschiedene Theologen dem weniger gebildeten Leserkreis die grundlegenden Lehrmeinungen in eingängiger Sicht präsentierten. Dabei stellten sie die konfessionellen Streitpunkte in einer vorgeblich objektiven Form nach lutherischer und katholischer Lesart vor und konstruierten so die katholische Kirche zu einer Negativfolie, von der sich das Luthertum umso strahlender abhob.84 So argumentierten etwa die Wittenberger Universitätstheologen in einem Schreiben85 unter Rückgriff auf die traditionelle Lehrmeinung: In den Jahrhunderten nach der Offenbarung Christi seien die göttlichen Wahrheiten unter der Herrschaft des Papstes verdunkelt worden. Heiligenverehrung, die Missstände beim Klerus oder die Überzeugung, wonach Laien nicht das Recht und die Fähigkeit zum selbstständigen Bibelstudium besäßen, hätten das Bild geprägt. Deshalb habe Gott durch Martin Luther die Reformation heraufgeführt und die Missstände überwunden. Luther, der Mose des Neuen Testaments, habe somit die Vorfahren aus der »ägyptischen-päpstlichen« Gefangenschaft86 geführt, dem Evangelium wieder Geltung verschafft und damit die gottgewollte Ordnung wiederhergestellt. Die Macht des Papstes sei überwunden, wodurch auch die weltliche Obrigkeit ihre eigentlichen Rechte im Sinne der Zwei-Schwerter-Lehre wiedererlangt habe und der katholische Kaiser aus seiner Reduktion zum Steigbügelhalter des Papstes befreit worden sei, was zugleich die mahnende Erinnerung an die Verpflichtung der weltlichen Obrigkeit für die Kirche beinhalte.87 Weiterhin habe die Reformation die Autorität der Bibel als alleinige Glaubensgrundlage wieder etabliert und die Lehre von den Sakramenten von Fehldeutungen gereinigt. Das Wissen
82 Vgl. Cordes, Hilaria, 65. 83 Am Beispiel des Einladungsschreibens der Wittenberger Universitätstheologen vgl. Cyprian, Hilaria II, 19–21; eine Zusammenfassung bei Schönstädt, 1717, 89–91. 84 Vgl. etwa Hilscher, Kurze Nachricht. 85 Cyprian, Hilaria II, 19–21, eine Zusammenfassung bei Schönstädt, 1717, 89–91. 86 »AEgypto Papistica«, Cyprian, Hilaria II, 20; Schönstädt, 1717, 90. 87 Zum Kaiser als Steigbügelhalter des Papstes vgl. Cordes, Hilaria, 149; zur Mahnung an die weltliche Obrigkeit ebd., 259f.
Reformationsgedenken im Konflikt – die Säkularfeier 1717
um die Gnade Christi bilde seitdem wieder das Fundament der Kirche. Die Reformation erschien so als rettender Eingriff Gottes. Von solchen Argumenten ausgehend appellierten die Prediger, nicht vom Glauben abzufallen, sondern am Luthertum festzuhalten. Dass die Kurfürstin, die nicht konvertiert war, an den Festgottesdiensten in Dresden teilnahm, wurde in diesem Zusammenhang als positives Vorbild für standhaftes Beharren am Glauben gesehen. Zugleich wurden die Konversionen in ihrer Bedeutung relativiert und umgedeutet: Schon im Volk Israel habe sich der wahre Glaube nur in kleinen Kreisen erhalten, zudem sei es das Los des Heiligen, Leid zu ertragen.88 Dass die Pastoren damit gegen das kaiserliche Polemikverbot verstießen, bestritten sie. Stattdessen behaupteten sie, ihr Verhalten stehe in Einklang mit dem Wahrheitsgebot, und betrachteten ihr Verhalten als friedfertig, aber »mit Saltz gewürzt«.89 Waren diese Abhandlungen nicht an die vorgeschriebenen Texte gebunden, so liefert der für den 31. Oktober 1717 vorgeschriebene Predigttext über Mt 21,15–22 ein Beispiel dafür, wie die Pastoren die vorgeschriebenen Textstellen auf die unmittelbare zeitgenössische Situation bezogen. Der Kerngedanke dieser bekannten Perikope, »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist«, weist beiden Instanzen das Recht zu, bestimmte Pflichten von der Christenheit einzufordern. Angesichts der empfundenen Bedrohung entfernten sich die sächsischen Pfarrer von der traditionellen Auslegung. Anstatt das in der Säkularfeier vollzogene Reformationsgedenken als Pflicht gegenüber Gott zu interpretieren, und diesem Reformationsgedenken ein auf den Kaiser verweisendes Gegenstück, etwa eine Huldigung, gegenüberzustellen, wie dies die Theologen in der Reichsstadt Mühlhausen taten,90 hierarchisierten sie beide Pflichten. Inwieweit sie dabei auch kritisch politisierten und damit eine Protoform einer situationsabhängigen politischen Öffentlichkeit schufen,91 zeigt die Predigt, die Gottlieb Wernsdorf am 31. Oktober 1717 in Wittenberg gehalten hat. In ihr greift er letztendlich auf das Widerstandsrecht zurück, welches bereits die Magdeburger Theologen in der Mitte des 16. Jahrhunderts entwickelt hatten, um ihren Kampf gegen das Interim zu legitimieren.92 Zunächst verweist Wernsdorf darauf, dass sich das Recht des Landesherrn ausschließlich auf den säkularen Bereich beschränke. Dieser werde jedoch in dem Augenblick verlassen, in dem der Kurfürst versuchen sollte, der »Untertanen gewissen 88 89 90 91 92
Vgl. ebd., 290. Fehmeln, Anleitung, 96. Vgl. Lungershausen, Jubel-Feyer, 21f. Vgl. dazu Gestrich, Absolutismus, 151. Vgl. von Friedeburg, Magdeburger Bekenntnis.
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[zu] beschweren und [sie] zur Verläugnung der Evangelischen Wahrheit«93 zu drängen. Die politische Botschaft ist unmissverständlich: Sollte Friedrich August I. eine Rekatholisierung versuchen und damit die in den Religionsversicherungsdekreten garantierte konfessionelle Verfasstheit des Landes antasten, dann sei keinesfalls ihm, sondern Gott zu gehorchen, die »weltliche Obrigkeit möchte dazu sagen was sie wolle.«94 Die Erfüllung der Gehorsamspflicht der Untertanen war somit an den Fortbestand des Luthertums in Kursachsen geknüpft, wobei die Anerkennung der Konfession durch den Landesherrn im Gegenzug zur Akzeptanz der Konversion der Dynastie verpflichtete: Niemand kehre sich daran, dass […] die hohen in der Welt sonst der Evangelischen Religion zugethan gewesen, nach und nach, bald aus diesen, bald aus jenen Absichten, in das päpstliche Aegypten zurück wandern, wie denn leyder! nur neulich ein Fürst und Groller in Israel gefallen. Sie mögen es auf ihre Gefahr wagen.95
Ungeachtet dessen solle Gott das »Hertz Ihrer Majestät je mehr und mehr zur Huld und Gnade gegen seine getreue und gehorsame Unterthanen lenken.« Und weiter: Da der Kurfürst »jüngsthin Dero Königlich Wort von sich gegeben, dass in Religions- und Kirchen-Sachen auch künftig nichts geändert werden sollte, o! so stärcke er [Gott, W.F.] auch Ihro Königliche Hoheit in diesem guten Vorsatz.«96 Die schärfsten Töne gegenüber der katholischen Kirche finden sich jedoch in einer anderen Literaturgattung. Es handelt sich um Liedzettel und ähnliche Drucke, welche die Pastoren unmittelbar vor den Gottesdiensten verteilten und die sich nur in Ausnahmefällen erhalten haben. So verweist eine Aktennotiz auf einen gedruckten Liedzettel wohl aus Dresden, der u. a. die »Parodie auf das Lied: Das alte Jahr vergangen ist« mit der polemischen Passage »Vor Pabsts Ehr und Abgötterey Behüt uns der Herr und steh uns bey!«97 enthielt. Interessant ist die Reaktion der zuständigen Behörde, der dieser Zettel bei der Zensur aufgefallen war. Um zu verhindern, dass dieses Lied in den Kirchen gesungen wurde, erging die Anweisung, das Lied aus dem Druck herauszuschneiden. Zur Rechtfertigung aufgefordert, reagierte der Theologe lapidar, das Lied werde sowieso öfters gesungen, sei also bekannt. Außerdem sei der Liedzettel lediglich 93 94 95 96 97
Wernsdorf, Beschaffenheit, 40. Ebd. Ebd., 42. Ebd. Registratur, 30.10.1717, Sächs. HStA Dresden, Geheimes Archiv, 7436/19, fol. 214f. Hier auch das Folgende. Ein ähnlicher Vorfall in Freiberg, wo in einem handschriftlichen Liedentwurf die Tyrannei des Papstes thematisiert wurde, vgl. Ephoralarchiv Freiberg, 1828, fol. 60.
Reformationsgedenken im Konflikt – die Säkularfeier 1717
als Anregung für Andachten im privaten, d. h. im nicht kontrollierbaren Raum gedacht. Hinweise auf Disziplinarmaßnahmen lassen sich den Archivalien jedoch nicht entnehmen. Ein plausibler Grund für das offenkundige Fehlen jeglicher Disziplinierung liegt vermutlich in der Befürchtung, dass angesichts der akut zugespitzten konfessionellen Situation bereits kleinste Ereignisse zum Ausbruch von Aufruhr hätten führen können. Tatsächlich konnten sich die durch solche Aussagen geschürten konfessionellen Ängste während des Reformationsjubiläums durchaus gewaltsam entladen, wie ein Beispiel aus Leipzig zeigt. Dort zogen am Abend des 1. November 1717 Studenten durch die Straßen, die, als sie an der Wohnung von Heinrich Eggert, dem Pfarrer der katholischen Kapelle auf der Pleißenburg, vorbeikamen, die Wohnungsfenster mit aus dem Straßenbelag gerissenen Pflastersteinen einwarfen und den Geistlichen bedrohten.98 Handelte es sich hierbei noch um einen spontanen Ausbruch antikatholischer Gesinnung, so zeigte sich in den nächsten Tagen, wie tief die Ressentiments saßen. Am 2. November 1717 forderte ein anonymer öffentlicher Anschlag die Studenten auf, am Abend die Wohnung des Pfarrers zu stürmen. Dies konnte zwar durch die Verhängung eines nächtlichen Ausgangsverbots und zusätzliche Patrouillen der Ratsmiliz verhindert werden, nicht aber, dass am Folgetag »ein strohern Bild unter dem Namen und expression des Pabst durch die zusammengetretene Studiosus und andere Leute verbrannt worden.«99 Drohte die Stimmung in Kursachsen während des Reformationsjubiläums 1717 zu eskalieren? 5.
Die Jubiläumsfeier
Entsprechend der Anordnung vom 6. September 1717 konnte das Reformationsgedenken in Sachsen nach dem Vorbild der Säkularfeier 1617 im Sinne eines hohen Kirchenfestes gefeiert werden. Bei der Vorbereitung erhielten die Lokalbehörden freie Hand, so dass sie die kurfürstlichen Anordnungen unter Wahrung der landesherrlichen Rechte dergestalt umsetzten, dass die Jubiläumsinszenierung dem Empfinden der Bevölkerung entsprach und der Bedeutung der Feier sichtbar Ausdruck verlieh. Dies geschah in mehrfacher Hinsicht. Zunächst wurde, wie in Zittau, der Zeitraum der Feier verlängert, etwa indem auf Anordnung der Stadtbehörden Pfarrer, Lehrer und Schüler noch bis zum 98 Stadtrat Leipzig an Friedrich August I., 09.11.1717, Sächs. HStA Dresden, Geheimes Archiv, 7436/19, fol. 245–247; Rektor der Universität Leipzig an Friedrich August I., 08.11.1717, Sächs. HStA Dresden, Geheimes Archiv, Loc. 1819, fol. 62f; vgl. Saft, Neuaufbau, 134, 141, hier auch Hinweise auf weitere Unruhen gegen katholische Geistliche in Leipzig. 99 Stadtrat Leipzig an Friedrich August I., 09.11.1717, Sächs. HStA Dresden, Geheimes Archiv, 7436/19, fol. 247.
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24. Dezember 1717 in Redeakten, Musikaufführungen und einer aufgrund des Erfolgs dreimal wiederholten »Comoedie«100 die Reformationsgeschichte thematisierten. Weiterhin erfolgte eine im Vergleich zu den Vorgängerfeiern des 17. Jahrhunderts auffallende Ausweitung sowohl des Feierraumes und der Inszenierungen als auch der lokalen Trägergruppen; eine Tendenz, die sich bis in die Gegenwart hinein forstsetzen sollte. Da das Reformationsjubiläum ein Kirchenfeiertag war, blieb der zentrale Feierraum natürlich die Kirche101 , die im Gegensatz zu 1617 nun aber festlich mit wertvollem Ornat, mancherorts auch mit exotischen Pflanzen oder mit einem ephemeren »Jubel-Altar«102 geschmückt war. Hinzu kommt, dass die Feierlichkeiten nun in einem neuen Maß in den städtischen Raum hineinreichten. Eine Möglichkeit hierfür boten Festzüge, wie sie in Leipzig und Wittenberg traditionell von den Universitätsangehörigen veranstaltet wurden. An ihnen nahmen anlässlich des Reformationsjubiläums 1717 auch zahlreiche Mitglieder der landesherrlichen und kommunalen Behörden teil. In Dresden gab es sogar eine feierliche Prozession von etwa 400 Schülern, die vor zahlreichem Publikum vom Schulgebäude in die Kirchen zogen.103 Dies verweist nicht nur auf die besondere Bildungsaffinität des lutherischen Bürgertums, sondern bedeutet auch eine symbolische Aufwertung des Ansehens der Schüler innerhalb des sozialen Gefüges. Beides spiegelt sich auch in den speziellen Gottesdiensten wider, welche in vielen Städten auf Initiative der Bürger am zweiten Festtag für die Kinderkatechese veranstaltet wurden, und in einer anschließenden Bewirtung, während derer die Schüler kleine Geschenke, etwa kleine Geldbeträge oder anlassbezogene Druckschriften, erhielten.104 Inwieweit diese Festzüge, die repräsentative Momente und gemeinschaftskonstituierendes Potential miteinander verbanden, den feierlichen Charakter mit konstituierten, illustriert ein Bericht aus Leipzig: Der erste Tag war, wie gedacht, der solennste, da bey unglaublicher Menge Volcks von Er. Löbl. Universität eine dermaßen zahlreiche und ansehnliche Procession durch die grosse thüre aus der St. Nicolai nach der Pauliner-Kirche [die Universitätskirche, W.F.] angestellet ward, dass niemand in gantz Leipzig, so alt er auch ist, dergleichen gesehen haben.105
100 Vgl. Cyprian, Hilaria I, 162–165. 101 Zur Kirche als öffentlichem Raum, in dem religiöse Handlungen eng mit politischen und sozialen Dimensionen verbunden waren vgl. Rau/Schwerhoff, Öffentliche Räume, 35f, 39f. 102 Cyprian, Hilaria I, 104. 103 Vgl. ebd., 106. 104 Vgl. etwa ebd., 104, 107, 156, 162; ebenso Hilscher, Kirchen-Historie, 194–202. 105 Sicul, Leipzig, [unpag.]; vgl. allgemein Loofs, Jahrhundertfeier, 26.
Reformationsgedenken im Konflikt – die Säkularfeier 1717
Eine weitere Möglichkeit, der Jahrhundertfeier symbolisch Ausdruck zu verleihen, bestand darin, dass die Räte verschiedener Kommunen neben dem traditionellen Glockengeläut auch Illuminationen anordneten. Entsprechend wurden zum Beispiel in Wittenberg die beiden Türme der Stadtkirche mit 100 Lampen beleuchtet106 und in Löbau illuminierte ein Bürger mit Erlaubnis des Stadtrates die Fenster des Rathauses derart, »dass der durchdringende Schein die Kirch-Gasse und den halben Markt fast dem Tage-Licht gleich erleuchtete.«107 Mit diesen noch seltenen Inszenierungselementen griffen die Bürger erstmals während eines Reformationsjubiläums mit symbolisch »aktionalen Kommunikationsformen«108 gestaltend in den öffentlichen Stadtraum ein und demonstrierten damit den Stellenwert, den das Jubiläum und der lutherische Glaube für sie persönlich besaßen. Die große Zahl der Schaulustigen, die dieses Spektakel trotz ungünstigen Wetters anlockte,109 belegt dessen hohe affirmative Qualität, seinen Unterhaltungswert im Sinne eines neuartigen Schauspiels. Zugleich bilden diese Beleuchtungen ein Beispiel für einen Kulturtransfer, insofern sie genau wie ephemere Architekturen, exotische Pflanzen und Illuminationen genuine Elemente der höfischen Festkultur waren. Mit ihrem repräsentativen Charakter dienten die Illuminationen einer affektiven »Gemüths-Erweckung«110 , zumal sie auch Träger von symbolischer Bedeutung waren. Die eigentlichen Bedeutungsträger bildeten die von Kerzenlicht beleuchteten emblematischen Darstellungen, in denen etwa einerseits nächtliche Dunkelheit und katholische Kirche bzw. Papsttum, andererseits Licht und Reformation aufeinander bezogen wurden.111 Zu sehen war unter anderem eine Darstellung Luthers als Engel der Apokalypse oder als Schwan, der das Licht des Evangeliums in der Finsternis trägt und damit den Teufel vertreibt. In der zugehörigen Beischrift heißt es: »Es zündet der erleuch’te Schwan / Das Licht des Wortes Gottes an / Doch Gott hats selbst durch ihn gethan«. Weitere Embleme verwiesen auf die durch die Reformation erlangte Glaubensfreiheit, und mit dem Bild eines sonnenbestrahlten Schlosses, das auf einem Fels im stürmischen Meer steht, wurde auf Luthers Standhaftigkeit, die der Festgemeinde als Vorbild diente, Bezug genommen: »Kein schlimmer Feind wird Gottes Stadt gewinnen, Gott ist ihr Fleiß, ja selbst bei ihr drinnen«. Die Verwendung 106 107 108 109 110
Vgl. Cyprian, Hilaria I, 109. Ebd., 183f. Hier auch Beispiele für weitere Illuminationen, etwa in Jena, vgl. ebd., 113. Würgler, Unruhen, 254. Vgl. Cyprian, Hilaria I, 141f. Hilscher, Kirchen-Historie, 194–202, hier in der Beschreibung der Feierlichkeiten in Dresden 1717. 111 Eine Beschreibung bei Cyprian, Hilaria I, 183–185, hier auch das Folgende; allgemein zur Bedeutung der Lichtsymbolik beim Reformationsjubiläum vgl. Burkhardt, Reformationsund Lutherfeiern, 223f, weitere Beschreibungen bei Flügel, Konfession, 161–163.
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dieser Motive zeigt, in welchem Maße die konfessionellen Argumente, die auch in den Festpredigten ausgebreitet wurden, in das Bewusstsein der Bevölkerung eingeschrieben waren. Neben solchen selbstvergewissernden Aussagen kam die Angst um den Fortbestand der eigenen Konfession in den Illuminationen nur versteckt zum Ausdruck. Dafür hatten die Theologen im Vorfeld der Säkularfeier mit ihrer Ermahnung gesorgt, »dass ein übermässiges Klagen unsern widersacher zum Spott und Hohn über der Evangel. Kirche Jubel-Freude grossen Anlass geben würde.«112 Ausgehend von den Predigten fanden sich lediglich Reflexe, die zumeist auf die Konversion anspielten und den Lutheranern Trost spenden sollten. So verkündet ein Spruchband der Illumination am Löbauer Rathaus: »Die Evangel’sche Christen Schaar / Begehet ihr zweytes Jubel-Jahr / Halt Jesu! deine kleine Heerd / Noch ferner deines Schutzes werth!«113 Die inhaltliche Kongruenz mit den vorgeschriebenen Perikopen »Fürchte Dich nicht, du kleine Herde« (Lk 12,32) und »Gott ist unsere Zuversicht und Stärke« (Ps 46,2–6) ist offensichtlich. Ergänzend neben diesen theologischen Deutungen thematisierte ein »Ehrengerüst«114 in der Leipziger Paulinerkirche die Leistungen der sächsischen Kurfürsten Moritz (1521/1541–1553, 1547 Kurfürst) und August (1526/1553–1586) für die Reformation. Dies erschien insofern von Bedeutung, weil diese beiden der albertinischen Linie der Wettiner angehörten und damit anders als die sächsisch-ernestinischen Kurfürsten Friedrich III. (1463/1486–1525), Johann (1468/1525–1532) und Johann Friedrich I. (1503/1532–1547/1554) direkte Vorfahren Friedrich Augusts I. waren. Von dieser Konstellation ausgehend artikulierte eine Inschrift die Hoffnung, dass die weltliche Obrigkeit auch in der Gegenwart das Luthertum schützen werde: »Charitas veraque Pietas in Philyraea firmus radicata cum Carolo VI. Imperatore Friederico Avgvsto Rege Polon & sax. Duce Elect. Magnalia Dei per duo jam secula servate pia memoria celebrarentur.«115 Die Illuminationen, die Prozessionen und ebenso die sonstigen Inszenierungen entstanden zwar auf Initiative der lokalen Behörden, aber sie mussten in ihrer symbolischen Bedeutung im positiven Sinn auf den Landesherrn zurückfallen, da dieser die Feierformen nicht behindert hatte. Eine derartige
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Brief Löschers an die Dresdner Pastoren vom 24.10.1717, Abdruck in: Aktenstücke, 140. Cyprian, Hilaria I, 184. Ebd., 108f, 117–119, 125f. Ebd., 126. »In Leipzig ist die christliche Liebe und Frömmigkeit unter der Herrschaft Kaiser Karls VI. und Friedrich Augusts, polnischer König und Kurfürst von Sachsen, fest verwurzelt. Die Wohltat Gottes, die durch zwei Jahrhunderte erhalten wurde, möge mit frommen Gedenken gefeiert werden.« [Übersetzung W.F.].
Reformationsgedenken im Konflikt – die Säkularfeier 1717
Rückbindung der Reformationserinnerung an den Kurfürsten war umso auffälliger, als nicht nur die vorgeschriebene Perikope für den 31. Oktober 1717, Mt 22,15–22, eine obrigkeitsfreundliche Auslegung nahelegte, sondern auch das in jedem Gottesdienst zu verlesende Gebet den Landesherrn ausdrücklich in die Fürbitte einschloss. Damit war Friedrich August I. tatsächlich in der Feier präsent. Zusätzlich bediente sich der Kurfürst in vereinzelten Fällen selbst symbolischer Verweise auf seine Person, etwa durch die Gewährung von Ehrengaben. So übereignete er jeder der beiden kursächsischen Universitäten für Festmahle, die anlässlich des Reformationsjubiläums stattfanden, vier Hirsche, zwei Wildschweine sowie ein Fass »guten alten Landweins«116 aus der Torgauer Hofkellerei. Wie einprägsam diese Geste war, zeigt eine Anfrage der Leipziger Universität nach einer erneuten Gabe dieser Art zum Augustana-Jubiläum 1730.117 Insgesamt war die kurfürstliche Strategie der Balance offenkundig erfolgreich: Zwar sei das Jubiläum wegen des »Abtritt[s] einer hohen Standes-Person von der Evangelischen Kirche in denen sächsischen Landen ein gar trauriges Freudenfest gewesen«118 , heißt es in einer Aufzeichnung, aber dennoch konnte man das »glückliche andenken der Reformation etwas feyerlicher, als man anfangs zu thun wohl gemeynet, gewesen«119 begehen. 6.
Schlussbemerkung
Die charakteristische Verschränkung von Religion und Politik, die sich in der Phase der Konfessionalisierung herausgebildet hatte, führte dazu, dass sich politische Interessenskonflikte auch in der religiösen Sphäre artikulierten. Ein Beispiel dafür bildet das Reformationsjubiläum 1717, in dem sich verschiedene Interessenslagen kreuzten und in den Konflikten zum Ausdruck kamen, die sowohl auf sächsischer Landes- als auch auf Reichsebene angesiedelt waren. Damit spiegelt die Inszenierung der Säkularfeier eine Interessenbalance wider, die von den verschiedenen Akteuren im Vorfeld ausgehandelt worden war. Hinterfragt man die letztendlich aus der Verzahnung von Konfession und Territorialstaat resultierende Konfliktsituation, zeigt sich eine beginnende Differenzierung. Auf der einen Seite änderte der Landesherr die Verflechtung von 116 Anweisung an den Oberstjägermeister, 29.10.1717, Sächs. HStA Dresden, Geheimes Archiv, 7436/19, fol. 210f. 117 Vgl. Universität Leipzig an Friedrich August I., 05.04.1730, Sächs. HStA Dresden, Geheimes Archiv, Loc. 1891, fol. 73f. 118 Heinen, Beschreibung, 404. 119 Sicul, Leipzig, 230.
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Staat und Konfession dahingehend, dass er die Konfession für seine politischen Zwecke instrumentalisierte. Hier zeichnet sich eine Entwicklung ab, die Heinz Schilling als »Autonomisierung der Politik«120 bezeichnet und in deren Verlauf Religion ein Faktor unter vielen anderen werden sollte. Auf der anderen Seite aber nutzten die Pastoren religiöse Argumente, womit verschränkt war, dass die Konfession für die Bevölkerung eine wichtige, identitätsstiftende Rolle spielte. Dies wird etwa darin deutlich, dass sich die Lutheraner eben nicht indifferent zeigten, sondern den Konflikt mit der Gegenseite nicht scheuten – die Bandbreite reichte von Polemiken der Pastoren bis hin zu den Übergriffen gegen den katholischen Pfarrer in Leipzig. In dem Zusammenhang ist zu betonen, dass die Theologen als Interessenswahrer der lutherischen Konfession überaus selbstbewusst auftraten, wobei Pastoren wie Valentin Ernst und Caspar Löscher ihre Eigenständigkeit gegenüber dem Landesherrn bzw. den landesherrlichen Behörden behauptet haben. Ihr Handlungsvermögen zeigten sie, indem sie etwa in ihrem Beharren auf dem festgeschriebenen konfessionellen Status quo gegenüber Kurfürst Friedrich August I. verschiedene Druckmittel nutzten und ihm damit Grenzen aufzeigten bzw. Handlungsspielräume einschränkten. Ihr Verhalten kennzeichnet sie als Vertreter einer entstehenden »bürgerlichen« Führungselite, die eigene Interessen durchzusetzen vermochte.121 Mit dieser Funktion steht in Zusammenhang, dass die Pastoren als Mediatoren agierten122 und als solche eine Form von Öffentlichkeit herstellen konnten. Schon im Vorfeld des Reformationsjubiläums haben sie auf die Konfliktsituation reagierend mit ihren Predigten und Druckschriften die Bevölkerung mobilisiert, so dass diese aktiv an der Jubiläumsfeier teilnehmen und dort ihre Haltung symbolisch zum Ausdruck bringen konnte. Literatur Quellen Aktenstücke über der Evangel.-Lutherischen Landeskirche Sachsens Freude und Leid im Jahr 1717, Nr. 3, BSKG 7, 1892, 140f. Umständliche Beschreibung aller bey dem Zweiten Jubel-Feste der Evangelischen Kirche […] beobachteten Ceremonien, wobey nicht nur die zu dem Ende ergangenen Verordnungen, sondern auch die erklärten Texte Heil. Schrifft, samt den abgelesenen Gebetern und gesungenen Liedern, aus denen besten, s.l. 1717. 120 Schilling, Friede, 29f. 121 Vgl. Schorn-Schütte, Amt, 5, 19. 122 Vgl. Michel, Aufkommen, 329–331.
Reformationsgedenken im Konflikt – die Säkularfeier 1717
Cyprian, Ernst Salomon, Hilaria Evangelica Oder Theologisch-Historischer Bericht vom andern Evangelischen Jubel-Fest. Nebst III. Büchern darzu gehöriger Acten und Materien, Deren das Erste [I] Die Obrigkeitlichen Verordnungen, und vielen Historischen Nachrichten, Das Andere [II] Orationes und Programmate Jubilaea, Das Dritte [III] eine vollständige Beschreibung der Jubel-Medaillen begreiffet, Gotha 1719. Fehmeln, Amandum Gotthold, Kurze Anleitung zu gott wohlgefälliger Feyer des nächst instehenden großen Evangelischen Jubel-Fests, welches aus schuldiger Danckbarkeit gegen Gott zum Gedächtniß der vor 200. Jahren angefangenen Reformation Lutheri auf den 31. Oct. 1717. Wird celebriret werden. Hierzu seyn beygefügt Die Lehr-Sätze des seel. D. Martin Luthers welche er auf der Universität Wittenberg am 31. Octobr. 1517 wider den Ablaß-Kram öffentlich angeschlagen und dadurch einenseel. Anfang der Reformation gemacht hat. Zum gemeinen nutzen ausgefertiget, Coburg 1717. Heinen, Samuel Gottlieb, Historische Beschreibung der alten Stadt und Graffschaft Rochlitz in Meissen. Darinnen Von derselben Nahmen, Alterthum, Situation, Gebäuden, einwohnern, hoher Landes-Obrigkeit, Religionsund Kirchen-Stande, Policey und Schule, absonderlichen Vorzügen der Stadt, unglücklichen und sonst allerhand merkwürdigen Begebenheiten, So sich biß auffs Jahr 1719 zugetragen, gehandelt wird. Mit möglichstem Fleiß und Treue zusammengesuchet, und, statt eines Anhangs, mit Herrn D. Caspar Heinrich Grauns Weyl. Pastoris und superintendent allhier Commentat. de antiquitate oppidu, dition. & Comitat. Rochl. Herausgegeben, Leipzig 1719. Hilscher, Paul Christian, Etwas zu der Kirchen-Historie in Alt-Dreßden. Von der Reformation an biß auff das andere Jubiläum, Dresden 1721. –, Kurze Nachricht zu den instehenden andern Jubel-Fest welches die Ev. Kirche den 31. Octobr. dieses 1717. Jahres wegen der Reformation Lutheri durch göttliche gnade begehet nebst einigen dahin gehörigen Erinnerungen für die Jugend, Bautzen 1717. Löscher, Caspar, Denck-Mahl Oder Danck-Gedächtnüß der Reformation Und der darüber entstandenen ersten Jubel-Freude wegen der Göttlichen Wohltaten So die Evangelische Kirche von den Zeiten D. Martini Lvtheri Und dessen Anno 1517 angefangenen Reformation Bis zu diesem Andern Jubel-Fest genossen, Wittenberg 1717. Löscher, Valentin Ernst, Römisch-Caholische Discurse vom Evangel. Lutherischen Jubeljahr zur christlichen anleitung Wie man bey diesen bösen Zeiten geübte Sinne zum unterschied des Bösen und Guten erlangen solle, Leipzig 1717. –, Fünff Jubel-Predigten, so er in der Kirche zum H. Creutz daselbst am 28. Und 31sten Octobr. 1., 2. Und 4. Nov. 1717 gehalten. So gut dieselben haben nachgeschrieben werden können, s.l. 1717.
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Lungershausen, Johann Jacob, Die Evangelisch-lutherische Jubel-Feyer wie auch Lutherus als Elias der Dritte bey dem anno 1717 vom 31. Oct. Biß 2. Nov. In der Kayserl. Freyen Reichs-Stadt Mühlhausen hochfeyerlich begangenen Jubilaeo, in zwey Predigten vorgestelt, Mühlhausen 1718. Sicul, Christoph Ernst, Das wegen der durch Göttliche Gnade Uber zweyhundert Jahr fest-stehenden Evangelisch-Lutherischen Religion Jubilierende Leipzig. Bey der Hohen Feyer Des abermahligen Großen Evangelischen oder Augsburgischen Confessions-Jvbilaei, im Jahr 1730 Geschicht- und Actenmäßig beschrieben, Leipzig 1731. Wernsdorf, Gottlieb, Des theuren Mannes D. Martini Lutheri wahre Beschaffenheit und Aller rechtschaffenen Lutheraner Schuldigkeit wurde vermittelst einer Evangelischen Jubel-Müntze Mit ihrem Bild und Überschrift Am ersten Feyer-Tage des Andern Christ-Lutherischen Jubelfestes Der anwesenden sehr grossen Versammlung Schriffmäßig erwiesen, Wittenberg 1719. Forschungsliteratur Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und Identität in frühen Hochkulturen, München 1997. –, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Ders./Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1988, 9–19. Ballerstedt, Maren/Köster, Gabriele/Poenicke, Cornelia (Hg.), Magdeburg und die Reformation. Tl. 1: Eine Stadt folgt Martin Luther, Halle (Saale) 2016. Burkhardt, Johannes, Reformations- und Lutherfeiern. Die Verbürgerlichung der reformatorischen Jubiläumskultur, in: Dieter Düding/Paul Friedmann/Paul Münch (Hg.), Öffentliche Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbeck 1988, 212–236. Cordes, Harm, Hilaria evangelica academica. Das Reformationsjubiläum von 1717 an den deutschen lutherischen Universitäten, Göttingen 2006. Danneil, Heinrich, Die Magdeburger Reformationsjubelfeiern 1617, 1717, 1817 und 1917, GBllMagd 53/54, 1918/19, 77–104. Fitschen, Klaus, Der Glaubenswechsel Augusts des Starken im Spannungsfeld toleranz- und konfessionspolitischer Probleme, in: Frank-Lothar Kroll/Hendrik Thoss (Hg.), Zwei Staaten, eine Krone. Die polnisch-sächsische Union 1697–1763, Berlin 2016, 165–174. Flügel, Wolfgang, Konfession und Jubiläum. Zur Institutionalisierung der lutherischen Gedenkkultur in Sachsen 1617–1830, Leipzig 2005. –, Magdeburg und seine lutherischen Konfessionsjubiläen, in: Gabriele Köster/Corinna Poenicke/Christoph Volkmar (Hg.), Magdeburg und die Reformation. I, 2: Von der Hochburg des Luthertums zum Erinnerungsort, Halle (Saale) 2017, 319–337.
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Kampf um die Reformation Aspekte lutherischer Erinnerungskultur
In Memoriam Sieglinde Salatowsky (1940–2019)
Das Zeitalter der Reformation und des Konfessionalismus kann als ein Kampfplatz der Theologien1 bezeichnet werden, der von ausgeprägten und oftmals unversöhnlichen Streitigkeiten – teilweise sogar innerhalb ein und derselben Konfession – gekennzeichnet gewesen ist. Theologische Kampfplätze markierten hierbei Positionen, die man auf keinen Fall preisgeben wollte, die man für den eigenen Glauben, für das eigene Lehrgebäude oder für die eigene Kirche für essentiell hielt. Ein solcher theologischer Kampfplatz war auch die protestantische Erinnerungskultur, die sich von der traditionellen katholischen Festkultur abheben wollte. Zahlreiche Studien haben diese in den letzten Jahren im Zusammenhang mit den Jubiläen von 1617 und 1717 untersucht.2 Hierbei wurde der Blick vor allem auf die Universitätsreden, Predigten und offiziellen Verlautbarungen gerichtet, die zu diesem Anlass veröffentlicht worden sind. Seltener hat man jene dogmatisch-polemischen Schriften in den Blick genommen, in denen die theologischen Debatten rund um die Reformation bzw. die Person und das Werk Luthers geführt worden sind. Dabei liegt es auf der Hand, dass die Veröffentlichungen zu den Jubiläen nur ein Spiegelbild dessen waren, was sich ohnehin in den dogmatischen Tiefen zwischen den Konfessionen abgespielt hat. Nimmt man diese Schriften in den Blick, dann öffnet sich ein weiterer großer Kampfplatz, der losgelöst von einzelnen Jubiläen das stets wahrnehmbare ›Hintergrundrauschen‹ vom 16. bis ins 18. Jahrhundert hinein bildete. Erst hier wird vollständig sichtbar, wie die Reformation – auch unter Berücksichtigung von Luthers Leben und Werk – zwischen den Konfessionen verhandelt 1 Die Formulierung ist in Anlehnung an Kurt Flaschs Buch »Kampfplätze der Philosophie« gebildet, das einen Bogen von Augustinus bis Voltaire schlägt. Dieses Buch hätte im Blick auf manche Konfliktlinien tatsächlich auch »Kampfplätze der Theologie« heißen können. 2 Ich verweise hier stellvertretend auf die beiden Studien von Schönstädt, Antichrist und Cordes, Hilaria. Eine ausführlichere Darstellung des Forschungsstands bietet meine Einleitung zu diesem Sammelband.
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Sascha Salatowsky
worden ist, wie die Erinnerung an dieses Ereignis und ihren Verlauf gestaltet wurde. Hier beäugten die Konfessionen einander argwöhnisch, hier studierten sie eifrig die Schriften ihrer Feinde und verfassten ihre polemischen Gegenschriften, hier wurden Argumente und Einwände mit dem Ziel angeführt, sich des eigenen wahren Glaubens zu vergewissern und die Falschheit der anderen Positionen aufzuzeigen. Die eigene Konfession und Theologie (und die mit ihr verbundene Erinnerungs- bzw- Festkultur) wurde auf diese Weise auch im Blick auf die anderen Konfessionen und Theologien bestimmt und gefasst. Interkonfessionalität3 war nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Mit der Interkonfessionalität gerät eine der Eigentümlichkeiten der Frühen Neuzeit in den Blick, die sie deutlich vom Mittelalter mit der einen katholischen Kirche4 unterscheidet. Sie macht in der Ausprägung dieser theologischdogmatischen Kampfplätze erst die Vielfalt der Positionen sowie die ›Sperrigkeit‹ dieser gelehrten Debatten sichtbar. Gerade die Differenz in den Bekenntnissen und Theologien und der hieraus resultierende Kampf um die Wahrheit5 bzw. Seelen markiert eines der markantesten Kennzeichen der Frühen Neuzeit6 überhaupt, und dieses Kennzeichen wird seit längerer Zeit zu Recht unter dem
3 Thomas Kaufmann versteht unter Interkonfessionalität »wechselseitige Austauschprozesse zwischen einzelnen Personen oder Gruppen verschiedener konfessioneller Milieus oder verschiedener konfessioneller Einheiten […], die in bezug (sic!) auf ihre Rückwirkung auf die jeweilige Konfession von Interesse sein dürften«. (Transkonfessionalität, 15) Kaufmann betont zu Recht den Unterschied zur Transkonfessionalität, die ein »bewusstes Hinausgehen über die ›Grenze‹ der jeweiligen Konfession« (ebd.) bezeichnet. Die dogmatische Interkonfessionalität war die Regel bei den Theologen der Frühen Neuzeit, da man die Schriften seiner Gegner las und sich mit ihnen auseinandersetzte, nicht jedoch die dogmatische Transkonfessionalität, die irenische Aspekte in sich aufnehmen konnte. In diesem Sinne beschreibt Interkonfessionalität die Aufgabe an den Forscher, sich jenen konfessionsübergreifenden Wissensstand anzueignen, der für die Gelehrten der Frühen Neuzeit selbstverständlich war. 4 Es sei nur angemerkt, dass auch die katholische Kirche ihre dogmatischen und institutionellen Differenzen kannte. Auch die Ordensvielfalt ist ein Merkmal für eine gewisse Tolerierung von Divergenz. Aber Innerkonfessionalität erleidet nicht diese Spannungen der Interkonfessionalität, wie sie der Frühen Neuzeit zukommen. 5 Dazu gehört auch die Skepsis: Im religiösen Streit zeigt sich Unsicherheit und Ungewissheit, wie es sich wirklich mit dem Glauben verhält. Vgl. hierzu Schreiner, Are You Alone Wise? Die Skepsis war zumindest bei einigen Gelehrten, und zwar Theologen wie Philosophen und Humanisten gleichermaßen, ein steter Begleiter. Vgl. hierzu Popkin, History. 6 Zum Begriff vgl. Achermann, Frühe Neuzeit. Achermann strukturiert dort die Frühe Neuzeit als Epoche um die bekannten Topoi Sozialdisziplinierung, Konfessionalisierung und Modernisierung herum. Allerdings betont er zu Recht, dass sie gerade keinen Einheitsbegriff darstellt, sondern von Variabilität, Heterogenität und Gegensätzlichkeit geprägt ist. Sie ist ein raumzeitlich zu denkendes Modell, in dem eine »Diffusion von Ideen, Praktiken und Haltungen« (ebd., 84) stattfindet. Die Epochenbezeichnung sei nichts weiter als der »Ermöglichungsgrund historischen Verstehens« (ebd., 92), der einen Rahmen des geistigen Zugriffs bilde.
Kampf um die Reformation
Begriff der Konfessionalisierung7 zusammengefasst. Die Frühe Neuzeit ist kein ›Ort‹ der Eindeutigkeiten, sondern ein ›Resonanzraum‹ vielfältiger Ideen in unübersichtlichen Zusammenhängen, die heutige Forscherinnen und Forscher vor große Herausforderungen stellen. Der vorliegende Beitrag möchte in seinen ersten beiden Abschnitten einen Beitrag zur Erforschung dieses Kampfplatzes leisten. Genauer möchte er das interkonfessionelle ›Hintergrundrauschen‹ im Blick auf die Bewertung der Reformation vom späten 16. bis ins frühe 18. Jahrhundert hinein weiter aufhellen. Er konzentriert sich hierbei auf das Luthertum in seinen interkonfessionellen Bezügen, das im Mittelpunkt des vorliegenden Sammelbandes steht. In einem ersten Schritt möchte der Beitrag in groben Zügen die historischen Umstände und den Verlauf des Kampfes zwischen Katholizismus und Luthertum um die Reformation darstellen.8 In einem zweiten Schritt soll deutlich gemacht werden, dass dieser Kampf zwischen den Konfessionen zugleich als ein Kampf um die (Heils-)Geschichte verstanden worden ist: Mit dem Stehen oder Fallen der Reformation stand auch die Deutungshoheit über die Heilsgeschichte zwischen den Lutheranern und Katholiken auf dem Spiel. Hierzu gehörte auch die Frage, in welcher Weise man die Reformation in die Kirchengeschichte einbinden sollte. War sie ein Schisma oder doch nur eine Rückkehr zu den Anfängen? Der interkonfessionelle Kampf um die Reformation darf jedoch nicht vergessen machen, dass es auch innerhalb des Luthertums selbst Konflikte gab, die die Memorialkultur beeinflussten. Diese entzündeten sich entweder an den Inhalten des reformatorischen Glaubens9 oder an Luthers Person, dessen Wahrnehmung selbst im Luthertum von Anbeginn nicht eindeutig war und sich im Laufe der Zeit veränderte.10 In diesem Prozess wandelte sich auch die Überzeu7 Es sei hier nur verwiesen auf Zeeden, Konfessionen; Schilling, Reformierte Konfessionalisierung; Rublack, Lutherische Konfessionalisierung; Reinhard/Schilling, Katholische Konfessionalisierung; Kaufmann, Konfession, und jüngst Holzhem, Christentum in Deutschland. Hier findet man weitere Literatur des zwischenzeitlich umfangreichen Forschungsfeldes benannt. 8 Dass es daneben auch irenische Bestrebungen zwischen den Konfessionen gab, sei hier wenigstens erwähnt. Ich erinnere hier nur an die Bemühungen von Johannes Piscator (1546–1625) auf der reformierten, Georg Calixt (1586–1656) auf der lutherischen und Jacques Bénigne Bossuet (1627–1704) auf der katholischen Seite im Gespräch mit Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) sowie die weiteren Entwicklungen im 18. Jahrhundert. Vgl. hierzu etwa Benrath, Kirchengeschichtsschreibung; Böttigheimer, Polemik; Böttigheimer, Unionskonzept; Müller, Irenik; Schnettger, (Re-)Unionsbestrebungen; Spehr, Aufklärung. 9 Hier ist an Konfliktpaare wie Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) und Andreas Osiander (1524–1569), Balthasar Mentzer d.Ä. (1565–1627) und Theodor Thumm (1586–1630), Gottfried Arnold (1666–1714) und Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) zu denken. Auf die letzteren beiden Kontrahenten komme ich in Abschnitt 3 zurück. Zu jenen Konflikten vgl. z. B. Wengert, Flacius’s Attacks; Baur, Auf dem Wege. 10 Vgl. hierzu vor allem Zeeden, Luther.
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gung, was eigentlich der zu bewahrende Kern der Reformation sei. In einem dritten und letzten Schritt möchte ich daher zeigen, wie die Erinnerung an Luthers Reformation innerhalb des Luthertums selbst einem bedeutenden Wandel unterlag, der deutlich macht, dass sie zu einem historischen Ereignis geworden war. Die sich verändernde Erinnerung an die Reformation spiegelt auf diese Weise die veränderte Sicht auf sie selbst wider. Auch hier muss ich mich auf eine exemplarische Gegenüberstellung beschränken, die allerdings mit Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) und Karl Gottlieb Bretschneider (1776–1848) zwei exponierte Theologen bietet. Jener war Direktor der Herzoglichen Bibliothek zu Gotha und Konsistorialrat und einer der letzten Verfechter der lutherischen Orthodoxie, dieser war Superintendent in Gotha und beschrieb sich selbst als rationalen Christen, der die Entdogmatisierung und Historisierung der Theologie weiter vorantrieb. 1.
Katholisch-lutherischer Kampf um die Reformation
Lange bevor man 1617 in den protestantischen Ländern das erste Reformationsjubiläum feierte, war der Kampf um Luthers (und Calvins) Reformation zwischen den Konfessionen schon voll entbrannt.11 Die katholischen und lutherischen Theologen an den Universitäten, die Priester bzw. Pfarrer in den Gemeinden, die Könige, Landesfürsten und sonstigen hohen Amtsträger – sie alle hatten ein klares konfessionelles Bewusstsein: Die katholische Seite bekämpfte Luthers Leben und Werk, wo sie nur konnte, während die lutherische Seite beides als gottgefällige Ausprägungen des wahren Glaubens zu retten versuchte. Besonders heftig war der Schlag, den der römische Kardinal und Jesuit Roberto Bellarmin (1542–1621) in seinen Disputationes de controversiis christianae fidei von 1587 gegen Martin Luthers Lehre führte. In der Vorrede zum ersten Band warf Bellarmin dem von ihm so bezeichneten Häretiker Luther nicht nur dogmatische Irrtümer im Schrift- und Taufverständnis und der Christologie vor, sondern bezeichnete ihn als Begründer einer neuen Sekte, die ihr Gift fortwährend aussondere.12 Wer wüsste nicht, so heißt es weiter, dass die »lutherische Pest«, bald nach ihrer Entstehung in Sachsen, beinahe ganz Deutschland 11 Vgl. hierzu Kaufmann, Erlöste und Verdammte. Dort finden sich weitere Literaturangaben. – Diese Konflikte reichen bis in die Ursprünge der Reformation selbst zurück. 12 Vgl. Bellarmin, Disputationes, t. I, Praef. (gehalten als Rede anno 1586 im Gymnasium Romanum der Jesuiten), **5v –6v . Für Bellarmin bedeutete die Häresie in den Seelen das, was die Pest im Körper bewirke, nämlich den sicheren Tod. Letztlich kommt es hier zur Gleichsetzung von Häresie und Pest. Vgl. ebd., **4r . Deutsche Ausgabe: Bellarmin, Disputationen, Bd. 1, XII–XIV.
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ergriffen hätte, sich von dort zunächst nach Norden und Osten ausgedehnt, Dänemark, Norwegen, Schweden, Gotland, Pannonien (Provinz in Osteuropa, zu der Slawonien, ein Teil Bosniens und das nordöstliche Kroatien gehörte) und Ungarn dahingerafft habe, dann mit gleicher Schnelligkeit in den Westen und Süden eingedrungen sei, Frankreich, England und Schottland, einst die blühendsten Reiche, innerhalb kürzester Zeit verheert habe, endlich über die Alpen gestiegen und bis nach Italien vorgedrungen sei?13 Auch wenn Bellarmin in diesem Zusammenhang auf eine zweite Häresie verwies, nämlich auf die der Anabaptisten und »Libertinen«, zu denen er noch die der »neuen« Arianer bzw. Antitrinitarier um Michael Servet (1511–1553) hinzufügte,14 so konnte das nicht als Entwarnung für die Lutheraner und Reformierten gelten. Ganz im Gegenteil. Sie allein seien für diese neue Pest verantwortlich: »Denn was werden doch die Lutheraner und Calvinisten antworten, wenn die Tritheisten mit denselben so reden? Warum misshandelt ihr Eltern uns, eure Söhne, mit einer so großen Wut? Warum verfolgt ihr diejenigen mit Schwert und Feuer, die ihr erzeugt habt? Warum sammelt ihr mit so großem Widerwillen die Früchte eures Evangeliums? Es entstehen doch aus den Papisten keine Arianer, sondern aus euch, Lutheraner und Calvinisten, gingen alle Arianer, so viele unser nur sind, hervor.«15 Der Kampf gegen Luther und seine Anhänger war für Bellarmin daher ein Kampf gegen den Vater aller Häresien. Ob nun Luthers Schriften selbst, die Confessio Augustana oder das Konkordienbuch16 – überall erkannte der Kardinal schwere Fehler, Irrtümer oder Lügen, die die katholische Kirche zu bekämpfen habe. Gegen diesen Generalangriff mussten die Lutheraner zeigen, dass das Leben des Wittenberger Reformators christlich gewesen sei und seine Schriften 13 Vgl. Bellarmin, Disputationes, t. I, Praef., **6v –7r : »Quis enim ignorat pestem Lutheranam in Saxonia paulo ante exortam, mox Germaniam pene totam occupasse: inde ad Aquilonem, & Orientem profectam; Daniam, Norwegiam, Suetiam, Gothiam, Pannoniam, Hungariam absumpsisse: tum ad Occidentem, & Meridiem pari celeritate delatam, & Galliam, Angliam, Scotiam, florentissima quondam regna, brevi tempore populatam: ad extremum Alpes transcendisse, & in Italiam usque penetrasse?« Deutsche Übersetzung nach: Bellarmin, Disputationen, Bd. 1, XIV. 14 Vgl. Bellarmin, Disputationes, t. I, Praef., **5v und 6v . Deutsche Ausgabe: Bellarmin, Disputationen, Bd. 1, XIIIf. 15 Bellarmin, Disputationes, t. I, contr. II (De Christo), Praef., 29f: »Quid enim, quaeso, Lutherani & Calvinistae respondeant, si cum eis ita agant Tritheistae. Cur nos filios vestros tanto furore, parentes, vexatis? Cur ferro & igni persequimini quos genuistis? Cur tam iniquo animo Evangelij vestri fructus colligitis? Nulli certe ex Papistis Ariani fiunt, sed quotquot Ariani sumus, ex vobis, Lutherani & Calvinistae omnes prodivimus.« Deutsche Übersetzung nach: Bellarmin, Disputationen, Bd. 2, XVII. Zum Antitrinitarismus bzw. Sozinianismus der Zeit vgl. umfassend Daugirdas, Anfänge des Sozinianismus; Salatowsky, Philosophie der Sozinianer. 16 Vgl. Bellarmin, Iudicium.
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als rechtgläubig zu verstehen seien. Schnell wurden die Federn gegen Bellarmin gespitzt.17 Als einer der ersten reagierte der Philosoph und lutherische Theologe Daniel Cramer (1568–1637). In seiner In natalitiam memoriam Lutheri oratio, einer Gedenkrede, die er am 18. November 1594, also am 111. Geburtstag des Reformators, in Wittenberg hielt, wandte er sich direkt gegen Bellarmin.18 Im Vorwort zur Publikation der Rede betonte der damalige Rektor der Wittenberger Akademie Salomon Gesner (1559–1605), dass Cramer damit einen frommen Brauch begründet habe, der die lutherischen Glaubensanhänger daran erinnere, dass Gott sie in seiner bewundernswerten Güte aus der »ägyptischen Knechtschaft der päpstlichen Herrschaft« durch die klare Verkündigung des Evangeliums herausgeführt habe, eines Evangeliums, das durch Luthers Reinigung der Lehre in seinem ursprünglichen Verständnis wiederhergestellt worden sei.19 Die Memoria Lutheri wurde hier unmittelbar mit dem Thema verknüpft, das Cramer zum Gegenstand seiner Rede machte, nämlich mit der Frage, welches Tier der Papst und seine Anhänger gemäß Offb 9,1–12 verkörperten. Diese auf dem ersten Blick merkwürdige Frage hatte bereits zum damaligen Zeitpunkt eine lutherisch-katholische Vorgeschichte, die viel über die polemischen Mechanismen der Zeit verrät. Wer sich auf die Suche nach den Motiven der Memoria Lutheri begibt, muss auch diesen abseitigen theologischen Zusammenhängen folgen. Der Rostocker David Chyträus (1530–1600) verstand in seiner Explicatio Apocalypsis von 1571 die Vision des fünften Engels aus Offb 9 dergestalt, dass hier der Papst in der Gestalt des Skorpions als der Antichrist beschrieben
17 Die umfangreichen, sich über mehrere Jahrzehnte hinziehenden Reaktionen der lutherischen und reformierten Theologen auf Bellarmin sind von der Kirchengeschichtsschreibung noch nicht aufgearbeitet. Ich verweise hier nur auf die folgenden Werke: Gerhard, Bellarminus ΟΡΘΟΔΟΞΙΑΣ Testis; Dorsche, Thomas Aquinas veritatis evangelicae confessor; Paraeus, In divinam ad Romanos S. Pauli apostoli epistolam commentarius. 18 Vgl. Cramer, In natalitiam memoriam oratio. Cramer verfasste darüber hinaus eine Kirchengeschichte Pommerns und eine Schrift zum Reformationsjubiläum 1617 in Stettin. Vgl. hierzu knapp Schönstädt, Antichrist, 30–32. Dort findet sich auch eine ausführliche Beschreibung des Lutherbilds im Zusammenhang mit dem Reformationsjubiläum von 1617 (ebd., 254–303). Für die Luther-Deutung im Zusammenhang mit dem Jubiläum 1717 vgl. Cordes, Hilaria evangelica, 194–229. 19 Cramer, In natalitiam memoriam oratio, Praef., A4r–v : »Quod pium illius Viri [sc. Cramer] institutum, cum revocet nobis in memoriam, admirandum Dei in nos bonitatem, & paternam liberationem, qua nos ex servitute Ægyptica hujus Regni Pontificij, stupendo successu, per claram Evangelij praedicationem, eduxit […] Omnes & singulos Academiae nostrae Patres & Cives invitatos volumus, ut ad diem crastinum hora nona, in Collegio Novo, ubi haec solennis Concio habebitur, interesse dignentur, & suae praesentiae luce declarent, quo erga Repurgatam a D. Luthero doctrinam sint animo […].«
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werde.20 Bellarmin dagegen, der sich direkt gegen Chyträus wandte, kehrte diese Lesart kurzerhand um: Unter dem Tier (bzw. der fünften Posaune) sei die »sehr verderbliche Häresie« der Lutheraner zu verstehen, die der Zeit des Antichristen unmittelbar vorangehe.21 Hiergegen wandte sich nun wiederum Cramer, der Bellarmins Interpretation als falsch, dagegen jene von Chyträus als zutreffend erweisen wollte. Die fünfte Posaune beziehe sich auf den Papst, wogegen die Heuschrecken sinnbildlich für seine Anhänger stehen.22 Dieser Konflikt um das rechte Bibelverständnis muss hier nicht weiter ausgeführt werden. Es genügt, darauf hingewiesen zu haben, dass Luthers Geburtstag die lutherischen Theologen daran erinnerte, dass die Reformation in ihrem Kern ein Kampf gegen das Papsttum war. Das Papsttum wiederum musste die Memoria Lutheri als einen Affront werten. Jede Gedächtnisfeier wurde auf diese Weise zu einem Kampfauftrag für die katholischen Theologen, wie sich leicht zeigen lässt. Der Jesuit Petrus Roest (1562–1642), der als Theologieprofessor am Jesuitenkolleg in Molsheim23 lehrte, veröffentlichte 1618 in lateinischer Sprache und 1620 in deutscher Sprache die Schrift Pseudoiubilaeum. Das ist: Falscher Jubel/ so anno 1617 […] von den Lutheranern angestelt/ und gehalten worden. Er 20 Vgl. Chyträus, Explicatio Apocalypsis, c. IX, 198: »Quare Antichristum seu ordinem Episcoporum Papatus Romani, in hac visione describi, non dubium est.« Luther hat dagegen in seiner Vorrede zur Offenbarung des Johannes von 1546 den fünften Engel als Arius, den sechsten als Mohammed und erst den siebten Engel als Papst verstanden: »So kompt nu jm dreizehenden Capitel (auff die posaunen des letzten vnter den sieben Engeln der jm anfang des xij Capitels bleset) desselbigen siebenden Engels geschefft, das dritte Wehe, nemlich das Bepstissche keiserthum vnd keiserliche Bapstum. Hie kriegt das Bapstum auch das weltliche schwerd jnn seine gewalt, vnd regirt nu nicht allein mit dem buch jm andern Wehe, sondern auch mit dem schwerd, jm dritten Wehe, wie sie denn rhumen, das der Bapst beide geistlich vnd weltlich schwerd jnn seiner macht habe, Hie sind nu die zwey thier, Eins, ist das keiserthum, das ander mit den zweyen hornern, das Bapstum […].« (WADB 7, 413f) Wie es zu dieser Verschiebung gekommen ist, bedürfte weiterer Untersuchungen. 21 Vgl. Bellarmin, Disputationes, t. I, contr. III (De summo Pontifice), l. III, c. XXIII, 442f: »Melius igitur Catholici per sextam tubam intelligunt Antichristi persecutionem, quae vere postrema, & gravissima erit, per quintam autem, haeresim aliquam valde perniciosam, quae Antichristi tempora proxime antecedet, quam quidem esse haeresim Lutheranam multi valde probabiliter coniiciunt.« / »Richtiger verstehen aber die Katholiken unter der sechsten Posaune die Verfolgung des Antichrist, welche wahrhaft die letzte und schwerste sein wird; unter der fünften aber eine sehr verderbliche Ketzerei, welche den Zeiten des Antichrist zunächst vorhergehen wird. Viele stellen die sehr wahrscheinliche Vermutung auf, die Ketzerei der Lutheraner sei diese vorletzte.« (Bellarmin, Disputationen, Bd. 3, 299). 22 Vgl. Cramer, In natalitiam memoriam oratio, B1v –B3r und C3v . 23 Zur konfessionellen Konfliktlinie zwischen Molsheim und Straßburg vgl. aus älterer Zeit Bünger, Bernegger, 163. Dort auch eine Beschreibung des Reformationsfests von 1617, ebd., 143–163. Aus neuerer Zeit vgl. Schindling, Humanistische Hochschule.
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bestritt darin u. a. die biblische Grundlage des Jubelfestes und verwies darauf, dass es nicht das geboten habe, was doch vonnöten sei, nämlich »das mann der Zeit deß Jubeljahrs/ einer Schanckung/ Freiheit/ unnd Nachlassung/ welche andern Zeiten nicht gemein/ noch gebräuchig zueigne«.24 Für den Jesuiten verfehlte das lutherische Jubelfest vollständig den Zweck einer solchen Feier, da es den Gläubigen weder zeitliche Gaben gegeben noch Sünden nachgelassen habe, vielmehr die Gläubigen zum Besten gehalten hätte. Folglich hätten die Lutheraner ihren Jubel auf abergläubische und abgöttische Weise zelebriert, einen Jubel, der weder zu den Sonntagen noch zu den Festen Christi gehöre. Im Vergleich dazu hätten sie das höchste christliche Fest, das Osterfest, nie mit »solchem Pracht/ unnd Gepräng«25 gefeiert. In einem zweiten Schritt griff Roest Luthers Leben und Werk direkt an, zum einen indem er ihn als »Fleischbengel«26 titulierte, der einem Augustinus (354–430) und Thomas von Aquin (1225–1274) nicht das Wasser reichen könne, der vielmehr ein »uberauß schändlicher und Lasterhaffter Mensch«27 gewesen sei, an dem sich alle Zeichen eines Ketzers oder Apostaten finden wie der Abfall vom Glauben und das Anhängen an der Lehre des Teufels. Darüber hinaus sei Luther ein »verruchter/ Gottloser Mensch« gewesen, der die Religion seit 1517 zu »deformiren« begonnen und damit alle Kennzeichen eines »schendtlichen Lebens« gezeigt habe.28 Roest ließ es sich nicht nehmen, in diesem Zusammenhang auf einige Calvinisten und Zwinglianer zu verweisen, die, obgleich sie 1617 ebenfalls das Jubelfest feierten, Luther wegen seiner Unbedachtsamkeiten, Schmähungen, Widersprüchlichkeiten etc. hart kritisiert hätten. Er habe ein »uberaus böse[s]/ und schändtliche[s] Exempel deß Lebens« gegeben. Was die Lehre betrifft, so warf Roest Luther vor, die wahre Philosophie verworfen zu haben, in der Theologie ein grober Ignorant und Anfänger gewesen zu sein, in der Auslegung der Bibel oft geirrt und sie auf mancherlei Weise verfälscht zu haben sowie in seiner eigenen Lehre »wanckelmütig/ veränderlich/ unbestendig/ und wetterhanisch«29 gewesen zu sein, so dass er insgesamt als ein »Uberwisner falscher Prophet«30 zu bezeichnen sei. Diese Unbeständigkeit in der Lehre habe zu einer großen Uneinigkeit innerhalb des Luthertums geführt, da niemand gewusst habe, woran man sich zu halten habe. 24 25 26 27
Roest, Pseudoiubilaeum, c. I, 5. Ebd., c. III, 26. Ebd., c. IV, 38. Ebd., c. V, 39. Im 19. Kap. benannte Roest Luthers Hochmut, Neid, Trägheit, fleischliche Geilheit, Fress- und Saufsucht, Zorn und Geiz als Kennzeichen dieser Schändlichkeit (ebd., 146–163). 28 Roest, Pseudoiubilaeum, c. VI, 52. 29 Ebd., c. IX, 102. 30 Ebd., c. XVII, 138.
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Von lutherischer Seite nahm der Straßburger Hebraist Friedrich Blanckenburg (gest. 1625) mit seiner Schrift Warhaffte/ und gründliche Widerlegung der Gottsgreulichen Schandlugen/ und Lästerungen/ so Petrus Roestius […] in seinem Pseudojubilaeo, oder Sewgeschrey wieder des herrlichen Manns D. Luthers seeligen Person […] ausgespeyet von 1619 eine »Rettung Doctor Luthers seligen Person/ Lehr/ Leben/ und Tod«31 vor. Auch der aus Breslau stammende Theologe Johannes Closius, von dem keine Lebensdaten überliefert sind, hat 1616 in Wittenberg zum 130. Geburtstag Luthers unter dem Titel Lutheri Nati Memoria eine Apologie folgen lassen. Die Sicherung der Memoria, die hier geschieht, ist schon Teil einer Erinnerungskultur, die zwar die Grenzen zur katholischen Heiligsprechung menschlichen Lebens wahrte, Luther also keine Wunder oder ein tadelloses Leben zusprach, die aber dennoch seine Geburt zu einem Akt höchsten göttlichen Eingreifens stilisierte: Wie Gott am zehnten Tage des ersten Monats (vgl. Ex 12,3) die Befreiung des israelitischen Volkes aus der ägyptischen Gefangenschaft ins Werk setzte, so begann am 10. November mit Luthers Geburt »das Werk der Reformation«, das den guten Ausgang der göttlichen Vorsehung anzeige.32 Luther selbst wurde so zum »weit berühmten und gefeierten Helden«, zum »Heros«,33 wie ihn der bedeutende Straßburger Theologe Johann Conrad Dannhauer (1603–1666) in seiner Memoria Thaumasiandri Lutheri renovata von 1661 nannte. Er habe als erster – noch vor Huldrych Zwingli (1484–1531) – das Werk der Reformation, nämlich die Reformation der Lehre und der Zeremonien, begonnen.34 Genauer verstand Dannhauer hierunter nichts anderes als erstens die Verbesserung der Lehre im Sinne einer Widerlegung der Irrtümer durch Aufweis des wahren Bußverständnisses und zweitens eine Verbesserung der öffentlichen Riten im Sinne einer Abschaffung der götzendienerischen Kulte wie die Anbetung der Heiligen durch Aufweis des wahres Gebrauchs von Abendmahl und Taufe.35 Freilich betonte Dannhauer wiederholt, dass Luther 31 Vgl. Blanckenburg, Warhaffte/ und gründliche Widerlegung, 1. 32 Closius, Lutheri nati memoria, B1r : »Mementote igitur diei hujus, quoniam hic est dies quem fecit Dominus, exultemus & laetemur in eo, dies hic est mensis Novembris decimus, in quo sicut decimo die mensis primi Deus liberationem ex servitute Aegyptica molitus est, ita hic reformationis opus exordiri […].« 33 Dannhauer, Memoria, cap. X, 52: »Fuit Lutherus Heros reformationis opere inclytus & celeberrimus.« Es gab Schriften ähnliches Typs. Vgl. z. B. Mentzer, Potiores Herculis christiani; Wolf, De Luthero heroe. Auch Abraham Calov bezeichnete Luther in der Dissertation De Luthero ante Lutherum von 1683 als »Heros« (ebd., A3r ). 34 Vgl. Dannhauer, Memoria, 54f. 35 Dannhauer, Memoria, 58: »Reformatio ipsa nihil aliud est, quam emendatio doctrinae & rituum publicorum, successu temporis, corruptorum, omnibus, quae unquam sunt factae a monarchis, regnorum conversionibus insignior. […] Duo itaque sunt in opere reformationis, nempe errorum redargutio, & publica idolatricorum cultuum abrogatio.«
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hier nicht etwa als auf sich selbst gestellter Mensch gehandelt und gewirkt habe, sondern vom Heiligen Geist geführt worden sei. Doch mit dergleichen personalisierten Rechtfertigungen war es schon lange nicht mehr getan. Vielmehr wurden das Leben und Werk Luthers von katholischer und lutherischer Seite immer stärker in eine allgemeine Geschichte der Reformation bzw. eine Geschichte des Luthertums eingebunden, die wiederum ein Teil der noch umfassenderen Kirchengeschichtsschreibung wurde, auf die ich weiter unten zu sprechen komme. Der Umbruch, der sich hier abzeichnet, die historische Dynamik, die sich hier entwickelt, lässt sich kurz an der Histoire du Lutheranisme36 (1680) des Jesuiten Louis Maimbourg (1610–1686)37 verdeutlichen. Er war einer der äußeren Anlässe, weshalb man auf lutherischer Seite, und hierzu zählte auch der Herzogliche Hof in Gotha, damit begann, die Reformationsgeschichte aus den historischen Quellen wissenschaftlich neu aufzuarbeiten. Denn Maimbourg stützte seine Beschreibung der Geschichte
36 Vgl. Maimbourg, Histoire du Lutheranisme. Diese Abhandlung war das zweite Werk einer ganzen Serie von Schriften gegen die anti-katholischen Konfessionen. Die erste Schrift richtete sich gegen den neu entstandenen Antitrinitarismus (Histoire de l’arianisme depuis sa naissance jusqu’à sa fin, avec l’origine et le progrès de l’hérésie des sociniens, 1673), gefolgt von einer Geschichte des Schismas der griechisch-orthodoxen Kirche (1677) und eben der Auseinandersetzung mit dem Luthertum und dem Calvinismus (1682). Über der Abfassung einer Histoire du Anglicanisme verstarb Maimbourg. Die Auseinandersetzung mit der Histoire du Calvinisme auf reformierter Seite führten keine Geringeren als Pierre Bayle und Pierre Jurieu. Grund genug gab allein der erste Satz dieser Schrift: »Aprés avoir écrit l’Histoire du Lutheranisme, je veux maintenant faire voir par quelle funeste fecondité cette Héresie en a produit une autre encore plus pernicieuse, qui, avant qu’elle fust desarmée comme elle l’est aujourd’huy, a fait beaucoup plus de desordre, & causé plus de maux en France que celle de Luther, toute furieuse qu’elle a esté dans son progrés, n’en fit jamais en Allemagne.« Für das weitere Schicksal der Hugenotten in Frankreich war diese Aussage ausgesprochen fatal, wie nicht zuletzt die Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 verdeutlichen sollte. Zur Historiographie der Jesuiten vgl. O’Malley, Historiography; Bonda, Jesuit Historiography. 37 Zu Leben und Werk von Maimbourg vgl. Dupin, Nouvelle bibliotheque, Tome XVII, 238–240; Bayle, Dictionaire historique, t. III, 1878f; Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 19, 572–574. Maimbourg trat 1626 in den Jesuitenorden ein, wurde jedoch 1682 auf päpstlichen Befehl aus diesem wieder ausgeschlossen. Grund hierfür war das Werk Traité historique de l’établissement et des prérogatives de l’Eglise de Rome von 1681, in dem Maimbourg Position bezog »zugunsten der gallikanischen Bestrebungen des Königs, die eine Emanzipation der katholischen Kirche Frankreichs vom Einfluss und der bischöflichen Oberhoheit des Papstes in die Wege zu leiten und zugleich die Idee des Monarchen als Kirchenoberhaupt zu stärken« (Scheib, Einleitung, 9*f) versuchten. Papst Innozenz XI. war hierüber empört und setzte dieses und weitere Bücher von Maimbourg auf den Index librorum prohibitorum. Mit dem Ausschluss aus dem Orden enterbte Maimbourg diesen von einer gewaltigen Schenkung, die seine Eltern kurz nach seiner Geburt getätigt hatten. Vgl. hierzu Maimbourg, Histoire du Calvinisme, *6r –10v . Hierüber berichtet auch Tentzel, Historischer Bericht, 3–6.
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des Luthertums auf eine gut bestückte Bibliothek mit zahlreichen Dokumenten, die ihm einen neuen und ›objektiveren‹ Argumentationsstil ermöglichten. Dies erforderte wiederum auf lutherischer Seite eine aus den Quellen geführte Gegendarstellung des Geschehens der Reformation. Wie nicht anders zu erwarten, verwendete Maimbourg die üblichen Bezeichnungen wie »la secte de Luther«38 und »l’Héresie de Luther«,39 sprach von »la revolte de Luther«40 und »le mariage sacrilege de Luther«,41 um Person und Werk des Reformators zu diskreditieren. Neu war allerdings, dass Maimbourg ohne große Polemik auskam, stattdessen um Objektivität und Wahrheitsfindung – auch durch seine Kritik am Papsttum und Ablasshandel – bemüht war.42 Ferner beschrieb er Luther eben nicht durchgängig als Ketzer, sondern konnte auch positive Seiten an ihm hervorheben.43 Es war genau dieses uneindeutige Bild, das er von Luthers Charakter zeichnete, nämlich, wie Maimbourg schrieb, »un grand mélange de quelques bonnes & de plusieurs mauvaises qualitez«,44 das dem Luthertum zu schaffen machte. Dieses Bild war Ausgangspunkt der voluminösen Gegenschrift Commentarius de Lutheranismo des Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692),45 die erstmals 1688 im Druck erschien.46 Der Staatsmann und Gelehrte wertete für 38 Maimbourg, Histoire du Lutheranisme, epitre, a3v . Der Kupfertitel zeigt Luther am Boden liegend, dem die personifizierte Kirche, gesäumt von Licht bringenden Soldaten und Engeln unter Hinweis auf Ps 91,4, das Verdammungsurteil spricht. Ähnlich ist der Kupfertitel in der Histoire du Calvinisme gestaltet, nur das hier Calvin mit seiner Institutio religionis christianae bedrängt wird. Die Histoire du Lutheranisme erlebte bis 1723 insgesamt sechs Auflagen. Eine knappe Zusammenfassung bietet Strauch, Seckendorff, 5–9. 39 Maimbourg, Histoire du Lutheranisme, Sommaire des livres, l. I, e3r und öfter. In der Widmungsepistel heißt es im Blick auf das Luthertum: »Cela fait connoistre que l’Heresie est un ennemi plus à craindre dans un grand Royaume que ne le sont les armées les plus formidables.« (a4r ). 40 Ebd., l. I, a4r . 41 Ebd., l. II, a4v . 42 Vgl. ebd., l. I, 2. 43 Vgl. ebd., l. I, 14f: »C’estoit un homme d’un esprit vif & subtil, naturellement éloquent, disert & poli dans sa langue, infiniment laborieux, & si assidu à l’etude, qu’il y passoit quelquefois les jours entiers, sans mesme se donner le loisir de prendre un morceau; ce qui luy acquit une assez grande connoissance des Langues & des Pères, à la lecture desquels, & sur tout à celle de Saint Augustin, dont il fit un tres-mauvais usage, il s’estoit fort attaché, contre l’ordinaire des Théologiens de son temps.« 44 Ebd., l. I, 16. 45 Seckendorff war von 1646 bis 1664 in Gotha am Hof Ernsts des Frommen (1601–1675) bis zum Kanzler und Geheimen Rat aufgestiegen, anschließend war er von 1664 bis 1681 als Geheimrat, Kanzler und Konsistorialpräsident in den Diensten Herzogs Moritz von SachsenZeitz (1619–1681) tätig. Zu Leben und Werk vgl. Strauch, Seckendorff. 46 Vgl. Seckendorff, Commentarius de Lutheranismo. Die zweite, deutlich erweiterte Fassung von 1694 umfasste im Folioformat über 1.200 Seiten und potenzierte Maimbourgs Schrift
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dieses Werk viele Original-Akten und -Dokumente aus, die ihm aus den Archiven und Bibliotheken insbesondere in Gotha und Weimar für seine aus den Quellen gearbeitete Widerlegung Maimbourgs zur Verfügung gestellt worden waren. Aus ihnen wollte er die Gründe für die Reformation und ihren Siegeslauf sicher erweisen.47 Seckendorff erkannte, dass Maimbourg nicht auf die übliche Weise der Polemik der Jesuiten verfuhr, sondern sich »auffrichtig anstellet, von einigen unglaublichen Fabeln und unvernünfftigen Lästerungen sich enthält, und seine Affecten, welche andere hefftige Scribenten zu groben und unverschämten Redens-Arten gebracht, meist mit glatten Worten bekleistert«.48 Gerade darin sah Seckendorff jedoch eine größere Gefahr für die lutherische Sache, da die destruktive Kritik hier nicht ohne weiteres ersichtlich werde. Um um ein Vielfaches. Gleichwohl umfasste der Commentarius nur die ersten drei der sechs Bücher der Histoire du Lutheranisme. – Es wird nach der zweiten Auflage zitiert. Eine deutsche Fassung erschien 1714 durch den Ulmer Pfarrer Elias Frick (1673–1751). Der Braunschweiger Drucker Nazaire Chamereau plante 1721 eine französische Übersetzung des Werks, wie aus einem Dokument in der FB Gotha (vgl. Chart A 304, Bl. 139–141) hervorgeht. Bereits zuvor bereitete der in Gotha wirkende Polyhistor Wilhelm Ernst Tentzel (1650–1707) eine deutsche Geschichte des Luthertums vor, die wesentlich auf Seckendorff fußen sollte. Sie wurde unvollendet 1717 von Cyprian zum Reformationsjubiläum veröffentlicht. Vgl. Tentzel, Historischer Bericht. 1755 folgte eine weitere Auswahl als Compendium Seckendorfianum durch den Hofrat Christian Friedrich Junius im Herzogtum Sachsen-Coburg-Saalfeld, die wiederum von Johann Friedrich Roos (1757–1804) nochmals gekürzt 1781 als ReformationsGeschichte herausgegeben wurde. Diese beiden Ausgaben wurden wiederum in französischer Übersetzung unter dem Titel Histoire de la réformation de l’église chrétienne en Allemagne in fünf Bänden 1784/85 in Basel veröffentlicht. Im selben Jahr 1785 erschien schließlich posthum die vierbändige Ausgabe Histoire de la Réformation, ou Origine et Progrès du Luthéranisme, dans l’Empire & les États de la Confession d’Augsbourg, depuis 1517 jusqu’en 1530 von dem französischen Theologen und Superintendenten in Berlin Isaac de Beausobre (1659–1738), die sich wesentlich auf Seckendorff stützte. Spitz, Seckendorf, 41a, stellt zu Recht im Blick auf diese vielfältigen Bemühungen fest: »It would be difficult to find more convincing proofs of Seckendorf ’s value to students of Reformation history than these repeated abridgments and versions of his Commentarius.« Diese Editionen belegen, wie bedeutend Seckendorffs Werk über mehr als einhundert Jahre blieb. Noch Bretschneider hielt in seiner Schrift Systematische Entwicklung aller in der Dogmatik vorkommenden Begriffe von 1818 fest, dass in »geschichtlicher Hinsicht unter den Werken über die teutsche Reformation Sleidan und Seckendorf [sic!] als Hauptschriften zu betrachten (sind), jener, weil er als wohlunterrichteter und wahrheitsliebender Augenzeuge [gilt], dieser, weil er aus wichtigen Urkunden schrieb« (98). – Spitz’ Dissertation A Critical Evaluation of Veit Ludwig von Seckendorf as a Church Historian (Chicago 1943) war mir leider nicht zugänglich. 47 Vgl. Seckendorff, Commentarius, Ad lectorem admonitio, 4r ; Praeloquium, a3r . 48 Seckendorff, Historie, Vorbericht, c1r . Lateinische Fassung: Seckendorff, Commentarius, Praeloquium, a2v : »In uno maxime a veterum, quorum vestigia tenebat, Luthero-mastigum instituto discessisse videbatur, quod honesti viri speciem assumens, ab incredibilibus narrationibus & insanis contumeliis quibusdam abstinuisset, temperatis plerumque verborum delinimento, quos acerbiores alii indecenter erumpere fecerant, affectibus.«
Kampf um die Reformation
sich nichts vorwerfen zu lassen, setzte Seckendorff seiner Widerlegung eine von ihm selbst angefertigte lateinische Übersetzung des Maimbourg-Textes voran, so dass jeder dessen Argumentation selbst überprüfen konnte. Im Blick sowohl auf Maimbourgs Vorgehen, sein Werk unter den Schutz des Königs zu stellen, als auch auf die politische Lage in Frankreich und anderswo, wo es zur verschärften Verfolgung der Protestanten gekommen war, kam Seckendorff zu der interessanten Erkenntnis, dass zur Widerlegung von dessen Werk nicht ein Theologus, sondern ein Politicus erforderlich sei, der die (wahre) Historie der (falschen) entgegensetze.49 Er begründete dies mit seiner eigenen politischen Erfahrung, die er an den sächsischen Höfen der Ernestiner gewonnen hatte, und mit dem Zugriff auf die Dokumente.50 Hier wird der Zusammenhang von Hof, Geschichte und lutherischer Erinnerungskultur besonders deutlich. Es heißt wörtlich: »In deren [sc. sächsischen] Archiven ist daher vornehmlich zu suchen, [dort nämlich], wo die Erinnerung an die Ereignisse treulich bewahrt ist und wo sie mit Gewissheit berichtet werden kann.«51 Das Archiv sichert nicht nur die Erinnerung, sondern zugleich die Objektivität der Geschichte, indem es eine auf Dokumente gestützte Verteidigung gestattet. Dies ist der Grund, weshalb Seckendorff seine Schrift einen Commentarius historicus & apologeticus nannte. Es handelt sich hierbei um einen Mix zweier Genres, wie er schrieb, da Maimbourg selbst nicht in den Grenzen des Geschichtsschreibers verblieben sei, sondern – auch durch das ausführliche Zitieren von anti-lutherischen Werken – polemische Aspekte eingefügt habe, die widerlegt werden müssten.52 Seckendorff folgte Maimbourgs Schrift Satz für Satz, indem er die Sachverhalte aus seiner Sicht schilderte, sie mit zahlreichen Zitaten aus den Quellen 49 Vgl. Seckendorff, Commentarius, Praeloquium, b1v : »[…] postquam relecto & verso ex parte Maimburgii libro perspicere mihi visus sum, non tam Theologici quam Politici studii esse, historiam historiae opponere.« Deutsche Fassung: Seckendorff, Historie, Vorbericht, c3v . 50 Zugleich machte Seckendorff damit aber auch indirekt deutlich, dass die Theologen zu sehr in ihren dogmatischen Gefechten verwickelt sind, um eine objektive Geschichte der Reformation schreiben zu können. Seckendorff verzichtete anders als Dannhauer und Calov auf jede Art der Heroisierung der Person Luthers. 51 Seckendorff, Commentarius, Praeloquium, b2r : »In eorum [sc. Saxonicae] itaque scriniis vel maxime quaerenda sunt, quibus memoria rerum fideliter conservata est, & cum certitudine tradit potest.« Deutsche Übersetzung nach: Seckendorff, Historie, Vorbericht, c4r . 52 Vgl. Seckendorff, Commentarius, Praeloquium, b2r : »Sic mixtum aliquod scripti genus enatum est, inter Historicum & Apoloceticum. Neque enim Maimburgius, etsi Historici personam magnifice induens, in carceribus suscepti muneris sese continuit.« Deutsche Fassung: Seckendorff, Historie, Vorbericht, d1r . Hier werden u. a. der italienische Kardinal Francesco Maria Sforza Pallavicino S.J. (1607–1667), Verfasser einer Geschichte des Konzils zu Trient, und der französische Historiker Antoine Varillas (1624–1696) genannt, der sich in seiner Schrift Histoire de l’heresie ausgesprochen polemisch mit Luther auseinandersetzte. – Zu Pallavicino siehe unten.
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stützte und damit Maimbourgs Argumentation zu entkräften versuchte. Wenn Maimbourg gleich einleitend für sich in Anspruch nahm, die Pflicht des Historikers zu erfüllen, »indem ich klar und deutlich die Wahrheit sage, ohne Furcht und ohne Gefahr vor dem Hass und der Empörung jener, die beleidigt sind, wenn es für sie nicht vorteilhaft ist, dass die Wahrheit am Tageslicht liegt«,53 so verwies Seckendorff darauf, dass Maimbourg gar nicht die Aufgabe eines Historikers erfülle, sondern die eines Zensors, da er die Reformation von Anfang an unter dem Blickwinkel der Häresie betrachte.54 Eine objektive Beschreibung der Reformation war damit aus seiner Sicht von vornherein ausgeschlossen. Und wenn Maimbourg behauptete, dass die Lage der katholische Kirche im Jahr 1517 von einem »tiefen Frieden« gekennzeichnet gewesen sei und alle Herrschaften Europas dem päpstlichen Stuhl Gehorsam geleistet hätten,55 dann lag es wiederum an Seckendorff, darauf hinzuweisen, dass der wahre Kirchenfriede auf Gott ausgerichtet sei und an der Übereinstimmung von reiner Lehre und heiliger Zucht festhalte.56 Der von Maimbourg geforderte Gehorsam gegenüber dem Papst sei nur dann gerechtfertigt, wenn er der Richtschnur von Hebr 13,17 und 1Tim 5,17, die durch Begriffe wie Verantwortung, Rechenschaft und Mühe geprägt sei, entspreche. Es sei jedoch zweifelhaft, ob der päpstliche Stuhl mit seiner Hierarchie jener Richtschnur gemäß eingerichtet sei oder nicht vielmehr einer Knechtschaft gleiche. Seckendorff ließ die Antwort auf diese Streitfrage bewusst offen, da darüber noch immer diskutiert werde. Die Frage jedoch, in welchem Zustand sich die Kirche vor Luther befunden habe, müsse gestellt werden, insbesondere dann, wenn sich zeigen sollte, 53 Maimbourg, Histoire du Lutheranisme, l. I, 1f: »J’ay pû alors suivre mon inclination fort librement, & satisfaire au devoir d’un Historien, en disant nettement la vérité, sans crainte, comme sans danger, de m’attirer la haine & l’indignation de ceux qui s’en offensent, quand il ne leur est pas avantageux qu’elle se produise.« 54 Vgl. ebd., l. I, 1: »La résolution que j’ay prise d’écrire exactement l’Histoire de ces derniéres Hérésies qui ont séparé de l’Eglise Catholique, une grande partie de l’Occident, m’engage à des choses si difficiles, qu’en ce moment mesme que je me mets en estât de l’exécuter, j’avoûë franchement que je fuis fortement tenté de l’abandonner.« Seckendorff, Commentarius, l. I, s. 1, 2a: »An historici officium, ut profitetur, recte secutus sit & praestiterit Maimburgius, dubium fit ex primo scripti hujus versiculo. Qui enim historici munus suscipiens, in limine operis pro haeresi declarat, quicquid superiori seculo pro reformatione ecclesiae Principes & populi conati sunt & statuerunt, is censor est & definitor controversiarum, non historicus.« 55 Maimbourg, Histoire du Lutheranisme, l. I, 4: »L’Eglise Catholique joûïssoit d’une profonde paix vers le commencement du seiziéme siécle, & toutes les Puissances de l’Europe reconnoissoient l’autorité suprême, & tenoient la foy du Saint Siége […].« 56 Vgl. Seckendorff, Commentarius, l. I, s. 2, 2a: »Prius vero constare debet, quid sit pax Ecclesiae, ne eo nomine qualiscunque torpor aut quies nobis obtrudatur: illa enim demum pax Ecclesiae est, quae respectum ad Deum habet, & consensum tenet in puritate doctrinae, & sanctimonia disciplinae.« Deutsche Fassung: Seckendorff, Historie, 1. Buch, § 1, 2a.
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dass sie in der Tat mit allem Recht geändert und verbessert werden musste.57 Seckendorff brauchte hier nur auf die aktuelle Situation in Frankreich zu verweisen, wo das Volk öffentlich in große Klagen über den verderbten Zustand der Kirche ausgebrochen sei. Spreche König Ludwig XIV. nicht von Rom als einem Babylon, das dem Untergang würdig sei? Und hat nicht sein Vorgänger, König Ludwig XII. (1462–1515), gegen Papst Julius II. (1443/1503–1513) 1511 ein Konzil nach Pisa zur Reform der Kirche an Haupt und Gliedern einberufen, wie dies ja bereits für das Jahr 1409 geplant gewesen sei? So groß sei die Erschütterung durch dieses Ereignis gewesen, dass der Jesuit Pallavicino seine Geschichte des Tridentiner Konzils mit genau diesem Hinweis auf die Reformbedürftigkeit der katholischen Kirche begonnen habe.58 Bereits zuvor, so Seckendorff weiter, hätten die Kardinäle nach dem Tod von Papst Alexander VI. (1431/1492–1503) die Einsetzung eines Konzils zur Reformation der Kirche verlangt, und noch weiter zurückliegend hätten die Albigenser und Waldenser den Primat des Papstes nicht akzeptiert. Seckendorff konnte noch auf eine ganz Reihe weiterer Zeitzeugen verweisen – unter ihnen der Gothaer Reformator Friedrich Myconius (1490–1546) mit seiner Historia Reformationis59 und der reformierte Theologe Johann Heinrich Hottinger (1620–1667) mit seiner Historia ecclesiastica in neun Bänden (1651–1667), aber auch der konfessionell unverdächtige Kanzler des Mainzer Erzbischofs Martin Mair (1420–1480) –, um Maimbourgs Rede von einem tiefen Frieden in der katholischen Kirche als vollkommen haltlos zu erweisen. Seckendorffs Hinweis auf einige Werke zur Kirchengeschichte macht deutlich, dass es bei Luthers Reformation nicht nur um die Darstellung des »bewunderungswürdigen« Handelns des ehemaligen Mönchs ging, um darin Gottes Wirken zu erkennen und auf diese Weise eine lutherische Identität auszubilden, sondern auch darum, das historische Ereignis der Reformation mit der Heilsgeschichte zu verknüpfen. Denn der Kampf um die Reformation war letztlich auch ein Kampf um die (Heils-)Geschichte. 57 Vgl. Seckendorff, Commentarius, l. I, s. 2, 2b. Deutsche Fassung: Seckendorff, Historie, 1. Buch, § 1, 2b. 58 Vgl. Pallavicino, Historia, l. I, c. I, 1b: »Etenim ubi Ludovicus à Julii obedientia secessit, exstimulatus pollicitationibus Maximiliani Caesaris, Pontificem pariter aversantis, indixit coegitque (Cardinalibus, quos memoravi, una conspirantibus) Concilium Pisis, animo, uti vulgabant, Ecclesiae reformandae cum in membris tum in Capite, hoc est, Pontifice, adeoque ipsius exauthorandi.« Ich zitiere nach der lateinischen Übersetzung von 1673. Die italienische Originalfassung erschien 1656. – Bereits 1308 findet sich der später in die Dekrete der Konzilien von Pisa (1409) und Konstanz (1415) aufgenommene Satz »ecclesia reformanda tam in capite quam in membris«, verstanden als Forderung nach einer Rückkehr zum ursprünglich integren Zustand der Kirche. Vgl. die Nachweise bei Mahlmann, Reformation, 417. 59 Vgl. unten Abschnitt 2.
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2.
Kampf um die (Heils-)Geschichte
Der wichtige Zusammenhang zwischen der Reformation als einem bloßen historischen Ereignis und seiner heilsgeschichtlichen Bedeutung lässt sich auf mindestens zwei Ebenen feststellen. Zum einen begann bereits während der Reformationszeit (z. B. in der Auseinandersetzung zwischen Luther und Michael Stifel) dieser Kampf um die Deutungshoheit. Doch war diese Synchronisierung von heilsgeschichtlichen und reformatorischen Ereignissen auch zwischen Altgläubigen und Lutheranern umkämpft. Zum andern bildete die Reformation selbst eine Zäsur in der Kirchengeschichte, wie man aus der Kirchengeschichtsschreibung seit dem späten 16. Jahrhundert ersehen kann.60 Die Frage, ob die Reformation tatsächlich etwas Neues in der Kirchengeschichte markierte oder ob sie nicht bloß nach einer Wiederbelebung der Inhalte der ersten frühchristlichen Jahrhunderte strebte, entschied auch über die Art und Weise, wie man sich nun ihrer erinnerte. Zunächst zum ersten Aspekt. Auf protestantischer Seite kam es mit dem ersten Reformationsjubiläum von 161761 zu einem »Purifizierungsprozess«, so Winfried Müller. Das »theologisch fundierte Festvakuum«62 war zu füllen mit dem Nachweis, dass das protestantische Jubelfest das wahre jüdisch-christliche Jubelfest sei im Vergleich zu den katholischen Festveranstaltungen. Für die Lutheraner hieß dies: Wittenberg wurde zum neuen Jerusalem.63 Gott sei in Israel bekannt gewesen, nun werde er durch Luther in Sachsen bekannt gemacht. Das Ziel war klar: »Durch eine Kontinuitätskonstruktion und eine Strategie der Verewigung sollte die dem historischen Jubiläum immanente Tendenz zur Verzeitlichung aufgehoben werden«,64 wie Müller betont. Die »lutherische« Geschichte musste also mittels der Jubiläen gestaltet werden. Wie dies im Luthertum geschah, hat Wolfgang Flügel gezeigt, nämlich mittels verschiedener Zeitkonstruktionen.65 Es sei kurz an die Konstellation im Jahre 1617 erinnert:66 Im März dieses Jahres regte der reformierte Pfalzgraf und 60 Zu diesem Thema befindet sich der Sammelband Gehrt/Matthias/Salatowsky, Reforming Church History, in Vorbereitung. 61 Vgl. hierzu ausführlich Schönstädt, Antichrist; ferner Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg, 10–23; Flügel, Konfession und Jubiläum, 25–84; Ligniez, Legitimation durch Geschichte; Reichelt, Universität als Instrument der Konfessionalisierung; Gehrt, Gelehrtenkultur. 62 Müller, Das historische Jubiläum, 25. 63 Vgl. Laube, Inszenierte Jubelgeschichten, 105. Zu diesem Topos vgl. ausführlich Ligniez, Das Wittenbergische Zion; Dies., Legitimation durch Geschichte. 64 Müller, Das historische Jubiläum, 31. 65 Vgl. Flügel, Zeitkonstrukte im Reformationsjubiläum. 66 Vgl. im Einzelnen Müller, Das historische Jubiläum, 26f; Flügel, Zeitkonstrukte im Reformationsjubiläum, 79–82; Loosen, Die »Universalen Jubiläen«, 134–136.
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Direktor der Protestantischen Union Friedrich V. (1596–1632) auf dem Heilbronner Unionskonvent an, ein Jubiläum in den protestantischen Ländern zu feiern. Dahinter steckte sicherlich auch der Gedanke, dass sich die Reformierten als Konfessionsverwandte mit Anspruch auf dem Augsburger Religionsfrieden präsentieren wollten. Zugleich wandte sich die Universität Wittenberg im April an Kurfürst Johann Georg I. (1585–1656) mit der Bitte um eine Instruktion für ein »primus Jubilaeus Lutheranus«, das man am Wirkungsort Luthers feiern wollte. Daraus wurde eine Jubiläumsinstruktion für ganz Kursachsen mit einem reichsweiten Führungsanspruch für alle lutherischen Stände. Für die Katholiken waren derartige Feierlichkeiten nur Zeichen eines Pseudojubiläums, wie oben bei Petrus Roest sichtbar wurde. Alle drei Konfessionen haben also 1617 die Deutungshoheit nicht nur über ein Jubiläum, sondern über das öffentliche Gedächtnis insgesamt zu erringen versucht. Das Jubiläum war nur der Anlass für einen viel tiefer gehenden »Kampf um die Seelen«. Der Kampf um das Gedächtnis erzeugte auf diese Weise ein Selbst- und Differenzbewusstsein: Er wollte die eigenen Reihen schließen und die anderen ausschließen.67 Das geschah mittels einer jeweils charakteristischen Geschichtsdeutung.68 Ich kann dies hier nur skizzenhaft für das Luthertum zeigen. Es verstand die Reformation zunächst ausschließlich heilsgeschichtlich als das entscheidende Ereignis vor der nahenden Apokalypse.69 Die Zeit galt als Endzeit, Luther als der dritte Elias, der wiederkehrt, unmittelbar bevor der »große und schreckliche Tag des Herrn kommt« (Mal 3,23).70 Es ist daher kein Zufall, dass eine Statue Luthers neben jenen des Propheten Mose, des Bußpredigers Johannes des Täufers und eben des biblischen Propheten Elias eine der vier Eckfiguren an der Fassade des Schlosses Friedenstein bildete, die Herzog Ernst I. bei der Errichtung aufstellen ließ.71 Angesichts dessen – das hat Wolfgang Flügel herausgearbeitet – gab es im Luthertum zunächst gar kein Bedürfnis nach einer »fernen« Zukunft, in der sich die Reformation noch zu bewähren gehabt hätte. Das Reformationsjubiläum wurde vergegenwärtigt für die unmittelbare Vorbereitung auf das Jüngste Gericht. Es ging zu dieser Zeit ausschließlich um die Heilgeschichte. Als Kampf gegen den »römischen Antichristen« war sie ein Teil des letzten Weltalters, das mit der Naherwartung der Wiederkunft Christi unmittelbar vor seinem Ende stand. Schon früh wurde die Reformation daher im Blick auf das Buch der Offenbarung gedeutet. Wie lange sich diese Naherwartung hielt, wird an ihren steten Neuberechnungen sichtbar. So 67 68 69 70 71
Vgl. Müller, Das historische Jubiläum, 3. Hierzu u. a. Bracht, »Christlich Jubel- und Frewdenfest«. Zum Geschichtsverständnis des Luthertums vgl. grundlegend Pohlig, Gelehrsamkeit. Vgl. Flügel, Zeitkonstrukte im Reformationsjubiläum, 87. Vgl. Fleck, Schloss Friedenstein, 88.
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ging der Jenaer Lutheraner Johann Gerhard (1582–1637) davon aus, dass im Jahr 1670 die Wiederkunft Christi erfolgen würde, wie Daniel Gehrt in einem Beitrag zum Reformationsjubiläum 1617 in Jena gezeigt hat.72 Weitere, noch spätere Beispiele ließen sich leicht finden. Erst der Pietismus entwickelte mit dem Chiliasmus innerhalb des Protestantismus eine andere Vorstellung von der Wiederkunft des Herrn. Dieser apokalyptischen Grundhaltung widerspricht es nicht, wenn die Reformation schon sehr früh als ein historisches Ereignis gedeutet wurde. Friedrich Myconius ist hier mit seiner Historia Reformationis vorangegangen, die erstmals 1715 von Ernst Salomon Cyprian nach der Gothaer Handschrift ediert worden ist.73 Sie beginnt mit einer Klage über den verderbten Zustand der römischen Kirche unter der Führung des Papstes als eines Antichristen. Umstritten war allerdings, wie die Reformation selbst in die fortlaufende Kirchengeschichte einzubetten sei.74 Ich komme damit zum zweiten Aspekt des Kampfes um die Geschichte. Das Jahr 1517 markierte bei allen Konfessionen einen Wendepunkt in der Kirchengeschichte. Allerdings gingen die Bewertungen stark auseinander. So schrieb Bellarmin in seiner Chronologia brevis von 1613: »Martin Luther, ein deutsches Sektenhaupt und Vater aller Sekten, hat im Jahr des Herrn 1517 begonnen, die Kirche zu verwirren, und er tat dies bis zum Jahr 1546, in dem er elendig verstarb.«75 Die Bezeichnung Luthers als pater haeresiarcharum ist dabei singulär. Denn Bellarmin benannte die anderen »Häretiker« wie Simon Magus (gest. 65), Mani (216–276/7), selbst Arius (um 260–nach 327) und Photinus von Sirmium (gest. 376) oder Johannes Calvin (1509–1564) nicht auf diese Weise. Auch der lutherische Theologe und Historiker Christoph Cellarius (1638–1707) verstand das Jahr 1517 in seiner Historia nova von 1696 als einen gewaltigen Einschnitt: »Besonders die Reformation der Kirche verdient es, dass wir die Neue Geschichte, unterschieden vom Mittelalter, mit dem 16. Jahrhun-
72 Vgl. Gehrt, Gelehrtenkultur, 195–198. 73 Vgl. Myconius, Historia Reformationis. Deutsche Übersetzung in Myconius, Reformation. Die Handschrift trägt den Titel Chronica und wird auf 1541/42 datiert (vgl. FB Gotha, Chart. A 339, Bl. 1r –47v ). Zu Cyprians Beweggründen für die Edition vgl. Fleischer, Identität durch Erinnerung, 350f. Zur lutherischen Erinnerungskultur dieser Zeit gehört der prophetische Traum des Myconius, den er 1510 im Franziskanerkloster in Annaberg hatte, aber erst 1517 mit Luthers Aufkommen als Reformator deuten konnte. Zu Inhalt und Rezeption des Traums im Protestantismus vgl. Salatowsky, Traum. 74 Vgl. hierzu etwa Wetzel, Kirchengeschichtsschreibung; Benrath, Kirchengeschichtsschreibung. 75 Bellarmin, Chronologia brevis, LIr und LIIr : »Martinus Lutherus Germanus haeresiarcha, & Pater haeresiarcharum anno Domini 1517. perturbare coepit Ecclesiam, & perturbavit usque ad annum 1546. in quo misere obiit.«
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dert oder noch passender mit dem Anfang der Reformation beginnen lassen.«76 Cellarius war vermutlich der erste Gelehrte, der den Begriff nova historia für die Beschreibung der Neuzeit als einer neuen Epoche verwendete, deren Anfang aus seiner Sicht exakt mit dem Beginn der Reformation anzusetzen ist.77 Der historischen Bedeutung dieses Datums widerspricht es nicht, wenn der bereits erwähnte Hottinger in seiner voluminösen Historia ecclesiastica den Versuch unternahm, den Fokus auf dieses Jahr zu durchbrechen, indem er den Nachweis zu führen versuchte, dass Zwingli seine Reformation bereits einige Zeit vor Luther öffentlich vertreten habe.78 Letztlich behielt das Jahr 1517 in der Kirchengeschichte jedoch seine überragende Bedeutung, der sich auch die katholische Kirche nicht entziehen konnte. Dies belegt nicht zuletzt Maimbourgs Histoire du Lutheranisme, die gleichfalls mit diesem Jahr einsetzt.79 Wie die Erinnerung freilich zu gestalten war, blieb nicht nur auf protestantischer Seite umstritten. Auch die Vorstellungen, was eigentlich der Kern der Reformation gewesen sei und woran man sich zu erinnern habe, änderten sich im Laufe der Zeit. Dies möchte ich abschließend an den beiden lutherischen Theologen Ernst Salomon Cyprian und Karl Gottlieb Bretschneider zeigen, die in Gotha gewirkt und die Erinnerung an Luthers Reformation 1717 und 1817 auf sehr unterschiedliche Weise beschrieben haben. Am Vergleich beider wird sichtbar, wie schnell sich im Luthertum die historische Perspektive von einem Festhalten an der reinen Lehre zu einem reflektierten Rückbezug auf die Reformation verschob. 3.
Lutherische Erinnerung im Wandel
Cyprian hat sich mit seinem voluminösen Werk Hilaria Evangelica bedeutende Verdienste als Chronist des Reformationsjubiläums von 1717 in den protestantischen Ländern Europas erworben.80 Ich möchte hier jedoch auf einen anderen Aspekt aufmerksam machen, der anzeigt, dass dieses Jubiläum81 in der Tat unter ganz anderen politisch-konfessionellen Konstellationen stattfand 76 Cf. Cellarius, Historia nova, 3: »Inprimis ecclesiae reformatio meretur, ut Novam Historiam distinctam ab illa quae Medii Aevi fuit, ex saeculo decimo sexto aut prope illius initia, auspicemur.« 77 Vgl. hierzu Koselleck, Neuzeit, 306, 308. 78 Vgl. Hottinger, Historiae ecclesiasticae novi testamenti seculi XVI pars II, 203f. 79 Vgl. Maimbourg, Histoire du Lutheranisme, l. I, 4. 80 Vgl. hierzu Cordes, Cyprian als Chronist. Zu Cyprian als Reformationshistoriker vgl. Benrath, Cyprian. 81 Das Jubiläum von 1717 ist umfangreich beschrieben in Cordes, Hilaria evangelica; vgl. ferner Flügel, Konfession und Jubiläum, 125–167.
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als jenes von 1617. Bereits die Tatsache, dass nicht mehr Kursachsen mit Wittenberg an der Spitze das Zentrum dieser Feierlichkeiten bildete, sondern das kleine Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg macht deutlich, wie sehr sich die politisch-religiösen Gewichte mit der 1697 erfolgten Konversion des Kurfürsten Friedrich August I. von Sachsen (1670–1733) zum Katholizismus verlagert hatten. Doch weit über diese alte und ursprüngliche Konfliktlinie hinaus hatten sich die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge durch das Aufkommen neuer Philosophien, Frömmigkeitsbewegungen und dissidenter Bewegungen stark verändert. Cyprian wusste das nur zu gut, wie ein Blick auf seine Hauptwerke belegt. Bereits wenige Monate nach dem Erscheinen von Gottfried Arnolds (1666–1714) Unpartheiische[r] Kirchen- und Ketzer-Historie im Jahre 1699 publizierte Cyprian seine kleine Gegenschrift Allgemeine Anmerckungen über Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzer-Historie, in der er diesen nicht nur einen parteiischen und unredlichen Kirchenhistoriker nannte, sondern auch dessen dogmatische und kirchenpolitische Positionen kritisierte.82 Arnold sei das »übertünchte Grab«,83 wie es in der dritten Auflage von 1701 heißt. Dieses Bild muss man wohl so verstehen, dass Arnold nach Cyprians Einschätzung bloß vorgab, den ursprünglichen Glauben an Christus freizulegen, während er doch nichts anderes sei als dessen Totengräber. Denn Arnold habe, so Cyprian, in seinen Schriften Unflat wider Gottes Wort und die selige Erkenntnis Jesu Christi ausgeschüttet und allein die Mängel und den Verfall der christlichen Kirche, einschließlich der Reformation, geschildert. Arnold wurde auf diese Weise zu einem der Hauptrepräsentanten des radikalen Pietismus, der nach Cyprians Ansicht schon längst den Boden des reformatorischen Glaubens und Kirchenverständnisses verlassen hatte. Arnold war für Cyprian daher »kein Lutheraner«84 mehr, sondern ein Freigeist, ja, schlimmer noch ein Anhänger des um sich greifenden Indifferentismus. Darunter verstand Cyprian ähnlich wie Valentin Ernst Löscher (1673–1749) eine Haltung, die für nichts mehr außer ihrer eigenen Frömmigkeit einsteht und sich an kein Bekenntnis mehr gebunden fühlt. Doch der Pietismus war nur einer der Gegner, denen sich Cyprian gegenübergestellt sah. Dies belegen zwei weitere Schriften aus dem Jubiläumsjahr 1717, nämlich zum einen das imposante Werk Hilaria Evangelica, das sich in einem langen Vorbericht mit den Vertretern der natürlichen Religion beschäftigt,85 82 Zur Auseinandersetzung zwischen Arnold und Cyprian vgl. Schneider, Auseinandersetzung; Dixon, Faith. 83 Cyprian, Anmerckungen, 3. Aufl., Vorrede, a4r. 84 Cyprian, Anmerckungen, 1. Aufl., Vorrede, 4v. 85 Vgl. Cyprian, Hilaria Evangelica, hier: Historisch-Theologischer Bericht vom andern Evangelischen Jubel-Fest, welcher an statt einer abgenöthigten Schutz-Schrifft vor die Reformation,
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und zum andern die Schrift Uberzeugende Belehrung vom Ursprung, Wachsthum des Bapstthums, nebst einer Schutz-Schrifft vor die Reformation, die im Anschluss an Tentzel und Seckendorff die Notwendigkeit der Reformation und zugleich damit die Verderbnis der römischen Kirche aufzeigen sollte.86 Die sich im Fortlauf befindliche Aufklärung ließ es nicht mehr zu, das zweite Jubelfest einfach wie das erste als Selbstvergewisserung des lutherischen Glaubens zu feiern. Cyprian ahnte, dass nunmehr auch noch die Deisten und »Atheisten« als Gegner des Luthertums zu bekämpfen waren. Auch wenn er hier keine modernen Philosophen – denn das war seine Zielgruppe – nannte, sondern weiterhin auf klassische Autoren wie Cicero und Laktanz verwies und aus ihren Schriften zitierte, so ist doch klar, dass er hier Gelehrte wie Herbert von Cherbury (1583–1648), Thomas Hobbes (1588–1679), Baruch de Spinoza (1632–1677), John Locke (1632–1704), Christian Thomasius (1655–1728)87 und John Toland (1670–1722) im Blick hatte. Diese, so Cyprians Vorwurf, würden sich überhaupt nicht mehr um Luthers Reformation kümmern, ja nicht einmal um die christliche Religion als offenbarte Heilsgeschichte, wollten daran auch nicht mehr erinnert werden, sondern hätten einen eigenen Denkweg eingeschlagen, der auch die Freigeisterei und sogar den Atheismus als Denkmöglichkeit umfasse. Mag daher auch das Jubelfest »auf die innerliche Erkänntniß Göttlicher Güte und Besserung derer Hertzen, auch gründliche Belehrung der Jugend«88 abgezielt haben, wie Cyprian betonte, so ging es doch vor allem darum, den Missbrauch der Vernunft zur Verbreitung der »unvernünfftigen Atheisterey«89 zu stoppen und diese Torheit mit der gesunden Vernunft zu bekämpfen. Der lutherische Theologe war fest davon überzeugt, dass man die Atheisten ohne große Probleme widerlegen könne, indem man nicht nur Gottes Dasein, die kluge Einrichtung seiner Schöpfung, seine Gerechtigkeit und Vorsehung erweise, sondern auch die Unmoral dieser in keinster Weise
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und überzeugenden Belehrung vom Ursprung, Wachsthum und Beschaffenheit des Bapstthums dienen kann, 1f. Das erste Kapitel zur natürlichen Religion umfasst die Seiten 5–22. Zur Auseinandersetzung mit der Aufklärung vgl. auch Weiß, Vermächtnis. Vgl. Cyprian, Uberzeugende Belehrung. Das Werk erlebte bis 1736 fünf Auflagen und wurde ins Holländische und Slowakische übersetzt. Zu Thomasius findet sich ein interessanter handschriftlicher Eintrag Cyprians auf dem Innendeckel des Einbands einer Ausgabe seiner Historia der Augspurgischen Confession von 1731, die sich in der FB Gotha (Sign. Theol 4° 343/4) erhalten hat. Unter dem Datum 19. März 1741 heißt es u. a.: »Nach diesem von mir sehr fleissig revidirten Exemplar […] muss anno 1830. mit Gott diese H.A.C. gedruckt werden. Die evangelische Kirche wird alsdann mehr wegen deß innerlichen atheismi, und deß Thomasianischen Unglauben betränget seyn, als vom Papst.« Vgl. die Abbildung und Beschreibung hierzu in Benrath, Cyprian, 43–45. Cyprian, Hilaria Evangelica, Vorrede, a1r . Ebd., Vorbericht, 5.
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scharfsinnigen Männer aufzeige. Der Gegensatz bewegt sich hierbei auf einer denkbar basalen Ebene, wie das folgende Zitat belegt: Ist aber die existenz Gottes zum Grund gesetzt, so wird die Machine der Welt und derselben Unterhaltung alsobald vernunfftmäßig und gar begreiflich erfunden. Hingegen mögen die Atheisten so viel Systemata dichten, als sie wollen, so findet sich darinnen lauter dicke Finsterniß/ Widerspruch/ Aberglauben und Unbegreifflichkeit/ indem es viel hundert tausend mal unbegreifflicher ist, als die schwersten Geheimnisse der Christlichen Religion [...].90
Die Setzung der christlichen Mysterien als nicht widervernünftig (contra rationem), sondern als über der Vernunft seiend (supra rationem) war für Cyprian immer noch der Weg sämtliche Einwände der Philosophen und einiger Neuerer wie die Sozinianer vom Tisch zu wischen. Dieser Seite des Kampfes gegen den »Atheismus«, bei dem die Reformation für Cyprian den »wahren« Teil der christlichen Religion bildete, entspricht eine weitere, wo die Reformation des »theuren Lutheri«91 als dieser »wahre« Teil von ihm ganz unmittelbar gegen die »falsche« Lehre und Sitte des Katholizismus gesetzt wurde. Hier wird sogleich auch die politische Dimension dieses Kampfes auf beiden Seiten deutlich, die sich zum einen aus der Widmung der beiden Schriften an Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1676–1735, reg. seit 1693) ergibt und zum andern daraus, dass Cyprian in beiden Schriften ausführlich die einzigartige Bedeutung der ernestinischen Kurfürsten und Herzöge als Förderer und Bewahrer der Reformation würdigte. Die Hoffnung war, »daß nimmermehr etwas, so von Denenselben [sc. Haus der Ernestiner] abstammet, zum Pabstthum übertreten, oder sonst aus seiner Gnade und ewigen Liebe entfallen möge«.92 Das Papsttum blieb der negative Referenzpunkt innerhalb der christlichen Religion, dessen Beschreibung des Ursprungs, Wachstums und des aktuellen Zustands deutlich machen sollte, warum es einer Reformation bedurfte. Cyprian ergänzte auf diese Weise Seckendorffs Widerlegung von Maimbourgs Polemik, die er an einer Stelle lobend erwähnte,93 mit einer Schilderung des Papsttums, das mit seinen eigenen Waffen geschlagen werden sollte. Cyprian fiel es leicht, zahlreiche Belege aus der katholischen Tradition vom 15. bis ins 17. Jahrhundert – darunter Zitate von Martin Cromer (1512–1589), Bellarmin und Jacques Bénigne Bossuet – vorzubringen, die genau jene Reformbedürf-
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Ebd., Vorbericht, 13. Ebd., Widmung, unpag. Cyprian, Uberzeugende Belehrung, Zuschrifft, b4r . Vgl. ebd., Schutz-Schrift, c. VII, 870f.
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tigkeit der katholischen Kirche an »Haupt und Gliedern« anzeigen,94 deren Realisierung sich Luther 1517 endlich vorgenommen hatte. Luther wurde damit in eine Tradition der »kritischen« Stimmen eingereiht. Er handelte nicht aus Bösartigkeit, Eigennutz oder Leichtsinn auf diese Weise, sondern aus der tiefen Überzeugung, die »wahre« Kirche und den »wahren« Glauben retten zu müssen. Cyprian konnte hierbei sogar eingestehen, dass Luther »seine Fehler«95 gehabt habe. Wichtig blieb für ihn zu betonen, dass die Ursache des Schismas allein bei der katholischen Kirche liege und dass der allgemeine Nutzen der Reformation für die christliche Religion nicht vergessen werden dürfe. Cyprian benannte für diese bleibende Würdigung der Reformation sechs Punkte: 1. die Übersetzung der Bibel in die deutsche Sprache, 2. die Einrichtung eines deutschen Gottesdienstes, 3. die Abfassung eines Katechismus zur Bildung der Einfältigen, 4. die Verbesserung des theologischen Studiums, 5. die Trennung von Kirche und Obrigkeit im Vertrauen auf eine christliche Regierung und 6. die Auslegung der Bibel gemäß dem Literalsinn und die Förderung der Humaniora.96 Hier zeichnet sich nur in Teilen ein historisches Verständnis der Reformation ab. Cyprian war nicht bereit, die Kirchengeschichte einschließlich der Dogmatik zu historisieren, d. h. sie den sich wandelnden Zeiten anzupassen. Offensichtlich liegt hier der Grund, weshalb er mit seinem Programm einer Rechtfertigung und Bewahrung der Errungenschaften der Reformation an seinem eigenen Hof nach dem Tod Friedrichs II. kaum noch Erfolg hatte. Er musste stattdessen erleben, wie unter Herzog Friedrich III. von SachsenGotha-Altenburg (1699–1772, reg. seit 1732) und Luise Dorothea (1710–1767) die Aufklärung am Gothaer Hof Einzug hielt und wie er zum Gespött wurde, weil er noch zu keiner dogmatischen Abrüstung bereit war und die Confessio Augustana unverändert erhalten wollte.97 Seine Chronik des Reformationsjubiläums von 1717 ist vor diesem Hintergrund der letzte großangelegte Versuch, die Erinnerung an die Errungenschaften der Wittenberger Reformation als Leitlinie politisch-religiösen Handelns wach zu halten. Gleichwohl vollzog sich noch zu seinen Lebzeiten in der Kirchengeschichtsschreibung ein, in den Worten Dirk Fleischers, »Strukturwandel« der historischen Erinnerungsarbeit, die von einem »statisch-exemplarischen« Geschichtsbegriff, wie er noch von Cyprian und Arnold vertreten worden sei, zu einem
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Vgl. ebd., c. II, 720–740. Ebd., c. VII, 861. Vgl. ebd., c. XII, 991–1009. Vgl. hierzu den Briefwechsel zwischen König Friedrich II. von Preußen und seiner Cousine Luise Dorothea in: Berger/Wassermann, Vetternwirtschaft, 87, 193, 196f, 215, 217 und 224, wo Cyprian u. a. als »dumm-orthodox« (196) bezeichnet wird. Zum Kontext vgl. auch Zaepernick, Aufklärung.
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»dynamisch-genetischen«98 geführt habe. Koselleck nannte diesen Wandel eine »›Historisierung‹ der Geschichte«,99 die die Annahme eines persönlichen Standpunkts erfordere, den die Person als geschichtlich bedingt reflektieren müsse. Damit ist nicht nur gemeint, dass Kirche und Theologie eine Geschichte haben, sondern dass sie notwendig einen Fortschritt hin zum Besseren haben (müssen). Kirchengeschichte wird zur Fortschrittskirchengeschichte wie Theologie zur Fortschrittstheologie. Damit wird die Offenbarung selbst im Modus des Fortschreitens in der Geschichte verstanden. Gott offenbart nicht alles auf einmal, sondern nach und nach, so dass auch die Reformation nur eine Etappe auf dem Weg zum immer vollständigeren Durchdringen dieser Offenbarung Gottes ist.100 Luther wird damit zu einem Reformator, der heute anerkennen müsste, dass sich die lutherische Lehre verändert hat. So bemerkt der von Cyprian kritisierte Thomasius in seiner Schrift Vollständige Erläuterung der Kirchen- Rechts- Gelahrtheit von 1738: Dann, wo das Ubel am grössesten ist, da dringet die Wahrheit manchmal am ersten durch, die Wahrheit gehet aus einem Reiche in das andere, und wir haben Gott zu dancken, daß wir in solcher Zeit leben, da es das Ansehen hat, als solte die Wahrheit fortgepflanzet werden, und eine vollkommnere Zeit nahe seyn. Da muß man sich aber nicht alsobald eine sonderliche Republik einbilden, dann es verändert sich allmälich mit der Zeit, und wann unsere Vorfahren und Lutherus aufstehen, und die heutige Welt und ihre Nachfolgere anschauen solten, so würde Lutherus seine Nachfolger nicht mehr kennen können, weil sie nur allein in accidentalibus und externis sich sehr würden mutiret haben, dann solche Veränderung machte schon gantz andere Leute, und ich halte dafür, daß Lutherus sich niemals wird eingebildet haben, daß es in der Welt so werden würde, als es ietzo ist.101
Hier zeigt sich ein ganz »neues Zeitbewusstsein und ein Wandel der drei Zeitdimensionen«.102 Das neue Bewusstsein von einer historischen Zeit versteht sich selbst als in der sich wandelnden Geschichte stehend, die nicht als ewige Wiederkehr des Gleichen erscheint, sondern als wandelbar, gestaltbar und für die Zukunft offen. Selbst die Vergangenheit ist nicht stets die gleiche, sondern ändert sich durch unseren Blick auf sie, durch das Wissen und das Verständnis. Damit kann Luthers Reformation nur eine Stufe sein im steten Fortschritt der Geschichte, ein Fortschritt, der sich auch auf die Dogmatik auswirkt. Es 98 Fleischer, Tradition, Teil 1, 5. 99 Koselleck, Standortbindung, 192. 100 Diesen Gedanken findet man erstmals deutlich bei Sozinianern wie Valentin Schmalz (1572–1622) ausgesprochen, die sich auch hier als Trendsetter späterer Gemeinplätze erweisen. Vgl. hierzu Daugirdas, Anfänge, 324. 101 Thomasius, Erläuterung, § 9, 87. 102 Fleischer, Tradition, Teil 1, 125.
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sind nicht nur Kleinigkeiten, die sich ändern, sondern wichtige Lehren werden als falsch erkannt, so das Dogma von der Erbsünde, das man, so Thomasius, »wegschmeißen« müsse.103 Stärker noch zeigt sich bei Johann Salomo Semler (1725–1791) die »Verzeitlichung der historischen Perspektivik«,104 so Koselleck, die so etwas wie eine »Phänomenologie des Geistes« ermögliche. Es handelt sich hierbei um ein »Sich-Bewußtwerden« des (theologisch-religiösen) individuellen Geistes in der Geschichte. Sie vollzieht sich nicht mehr als göttliche Heilsgeschichte am ›passiven‹, sündenbeladenen Menschen; vielmehr ist er selbst aktiver Gestalter und Schöpfer dieser ›seiner‹ Geschichte mit Gott, die wiederum in der Theologie reflektiert wird. Semler ließ keinen Zweifel, dass diese Theologie »sowol an sich veränderlich, als auch eines steten Wachstums fähig, folglich aber auch eben deswegen gewissen Mängeln immer ausgesetzt seie«.105 Wachstum ist hier weniger quantitativ als vielmehr qualitativ zu verstehen. Was wächst, das ist das Verständnis von der Historizität der Theologie, die sich immer weiter der historischen Wahrheit annähert. Es gibt für Semler folglich kein Lehrbuch, das vollkommen und unverbesserlich ist, und kein Theologe kann seinem Gewissen und Beruf damit Genüge tun, dass er sich ausschließlich auf sein Gedächtnis, d. h. auf die Nacherzählung dessen, was andere vor ihm berichtet haben, verlässt, statt seinen eigenen Verstand bei der Darstellung der Lehren zu gebrauchen. So genüge es gewiss nicht, sich an Luthers Lehre zu halten, ohne den zwischenzeitlich erfolgten Wandel in den Ansichten zu berücksichtigen. Wir sind gewis nicht an solche Aussprüche Lutheri oder anderer, auch verdienstvoller Männer, gebunden, nicht so wol deswegen, weil ja so gar Lutheri Hauptbuch und Meisterstück, sein Catechismus, heut zu Tage kan reformiret werden […]; als vielmehr deswegen, weil Luther und alle noch so fromme Männer vor uns keine göttlichen und unverbesserlichen Vorbilder in dem seyn können, was die ganze Art der menschlichen Erkentnis und ihre beste Mittheilung in allen Zeiten betrifft.106
Aus dieser knappen Skizze wird sichtbar, wie sehr sich das Verständnis von und das Verhältnis zu Luthers Reformation im 18. Jahrhundert gewandelt hat, wie sehr also die Historisierung dieses Ereignisses ein historisches und damit sich 103 Thomasius, Erläuterung, § 9, 88. Auch bei der Forderung, dieses Dogma aufzugeben, sind die Sozinianer vorangegangen. Diese Tatsache wird von Schubert, Ende, praktisch nicht berücksichtigt. 104 Koselleck, Standortbindung, 188. Zu Semlers Kirchengeschichtskonzept und der hieraus sich ergebenden Historisierung des theologischen Denkens vgl. umfassend Fleischer, Tradition, Teil 2, 517–768. 105 Semler, Versuch, Vorbereitung, § 1, 1. 106 Semler in Baumgarten, Glaubenslehre, Bd. 1, Historische Einleitung in die dogmatische Gottesgelersamkeit, § 17, 101. Zu Semlers Stellung zu Luther vgl. Hornig, Anfänge.
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wandelndes Verhältnis zu Luther und seinen Lehren verlangte und nach sich zog. Eine Fortschreibung des Status quo kam nicht in Frage. Die Erinnerung an die Reformation geschah daher 1817107 auf andere Weise als noch 1717. Ich komme damit zum letzten Punkt dieses Beitrags, nämlich zur Haltung von Karl Gottlieb Bretschneider, der sich in die Tradition der von Semler vertretenen Neologie stellte und die rationale Theologie weiterentwickelte. Bretschneider hielt am 31. Oktober 1817 in der Gothaer Augustinerkirche eine Predigt, die er mit folgenden Worten begann: Es ist eine große Zeit […], der wir heute uns erinnern; es sind große Männer, deren Andenken wir erneuern; und tief fühle ich es, welch ein schweres Geschäft es ist, es auszusprechen in der Mitte dieser zahlreichen Versammlung, was Großes und Gutes in jener ewig denkwürdigen Zeit geschah, oder für die Nachwelt vorbereitet wurde. Große Erinnerungen bewegen heute meine Seele! Vor meinem Geiste steht in den lebendigsten Farben das Bild jener vortrefflichen Männer, welche als Herolde der Geistesfreiheit die Macht des Aberglaubens siegreich bekämpften […]. In dieser Kirche selbst [sc. der Augustinerkirche in Gotha] war es, wo der unsterbliche Luther, als er auf den Reichstag zu Worms zog [sc. 1521], um sich vor Kaiser und Reich zu verantworten, eine Predigt an das Volk hielt; das Amt, welches ich jetzt unter euch führe, ist das jenes eifrigen Beförderers der Reformation, jenes Freundes Luthers, des Myconius, welcher sich so viele Verdienste um die Einführung der Reformation in unserm Lande erwarb, und der erste evangelische Pfarrer und Superintendent dieser Stadt wurde. – Welche Erinnerungen! – Aber auch in diesen Erinnerungen, welche Anforderungen! –108
Das Pathos darf hier nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bretschneider weit davon entfernt war, die Reformation im Sinne Cyprians gleichsam statisch zu fixieren. Ganz im Gegenteil. Als die große Errungenschaft der Reformation eines Luther, Zwingli, Calvin und anderer Stifter und Förderer109 stellte Bretschneider die Glaubens- und Gewissensfreiheit heraus, die es weiterhin zu verteidigen gelte. Und wie zu erwarten erinnerte er an die »finstere Tyrannei« der katholischen Kirche mit ihrem Anspruch auf die weltliche und geistliche Oberherrschaft, die sie mit den Mitteln des Glaubenszwangs, nämlich dem Kirchenbann, dem Interdikt und der Inquisition, zu verteidigen versucht habe. Doch Bretschneider verstand diese Glaubens- und Gewissensfreiheit dahingehend, dass sie allgemein gelte, dass jeder das glauben dürfe und müsse, was er für richtig halte. »Es ist uns daher unmöglich«, so heißt es, »Glaubensgeboten zu gehorchen, etwas für wahr oder falsch zu halten, weil Andre es haben wollen. Darum sind alle 107 Vgl. hierzu Fuhrmann, Reformationsjubiläum; Flügel, Konfession und Jubiläum, 219–236. 108 Bretschneider, Casualpredigten, hier: Zwei Predigten am Reformations-Jubelfeste den 31. Oct. und 2. Nov. 1817 in der Augustinerkirche zu Gotha gehalten, 102–146, hier: 103. 109 Ebd., 111. Allein diese Gleichsetzung der Reformatoren ist bemerkenswert.
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Glaubensgebote unvernünftig und ungerecht.«110 Alle Glaubensgebote, also auch die lutherischen, wie sie in der Confessio Augustana von 1530 und in der Konkordienformel von 1580111 formuliert sind, stehen aus seiner Sicht gegen die Vernunft und verbergen kaum ihren Glaubenszwang. Für Bretschneider sind sie daher als ein Zeichen höchster Ungerechtigkeit anzusehen. Er sah stattdessen die christliche Religion in einem Prozess der Vervollkommnung befindlich, den auch Luther akzeptiert habe112 und der auf eine Unabschließbarkeit des historischen Fortschritts und eine Fortentwicklung der Reformation hinausläuft. So heißt es zum Abschluss der ersten Predigt: so laßt uns nicht ängstlich zurückweichen, uns nicht in nutzlose und unbillige Klagen ergießen, nicht mit steifer Anhänglichkeit an Luthers Worten und Vorstellungen hängen, sondern der Wahrheit huldigen, dem Lichte, das uns Gott gnädig geschenkt hat, folgen, uns unserer evangelischen Glaubensfreiheit gleichfalls bedienen, und die Verbesserung unsres religiösen und kirchlichen Zustands in Luthers Geiste fortsetzen.113
Diese offenen Worte, die der Aufklärung unverhohlen die Türen öffneten, verkündete der Superintendent Bretschneider bei den Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum 1817 in Gotha. Die Erinnerung an die Reformation diente hier nicht mehr dazu, die Zeit »still« zu stellen, sondern dazu, die Gläubigen in die volle Freiheit ihres Gewissens und Glaubens zu entlassen, eines Glaubens, der auch nicht-lutherisch sein kann! Bretschneider machte hier deutlich, dass ein Glaube und die ihn fundierende Theologie mit der Zeit gehen muss, mit den Fortschritten der Wissenschaften, und nicht den Versuch unternehmen darf, das Bekenntnis von 1530 unverändert auch noch im 19. Jahrhundert durchsetzen zu wollen. Auf diese Weise erfolgte eine starke Historisierung des Glaubens, die auch die reformatorische Erinnerungskultur betraf. Erinnert wurde an das, was sich
110 Ebd., 113. Die dogmatische Abrüstung Bretschneiders ist beachtlich. Die Trinitätslehre, die Zwei-Naturen-Lehre Christi sowie das Dogma von der Erbsünde und Verdorbenheit der Vernunft müssen weichen. Vgl. hierzu im Einzelnen Bretschneider, Dogma von der Trinität, in: Ders., Leben, 355–368; Bretschneider, Die Natur der Dinge und das Kirchendogma vom Sündenfall und der Erbsünde, in: Ders., Leben, 369–390; Bretschneider, Entwicklung, 404; Bretschneider, Glaubenslehre, 296–310. Eine Darstellung von Bretschneiders Theologie bietet Lange, Freiheit eines Christenmenschen. 111 Was Cyprian noch im Jahre 1830 unverändert erneut gedruckt sehen wollte, nämlich die CA von 1530 (vgl. Anm. 76), war für Bretschneider nur noch ein historisches Dokument. 112 Vgl. Bretschneider, Casualpredigten, 125. 113 Ebd., 125f. In der zweiten Predigt schilderte Bretschneider die Errungenschaften der Reformation, die sich inhaltlich an das anschließen, was Cyprian in seiner Schrift Uberzeugende Belehrung formuliert hatte (vgl. ebd., 128–139).
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Abkürzungsverzeichnis Die Abkürzungen folgen Schwertner, Siegfried M., Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin/New York 3 2014. Darüber hinaus werden folgende Abkürzungen verwendet: A BSLK12
Altenburger Lutherausgabe, Altenburg 1661–1664. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1530, Göttingen 12 1998. BuW Zeitschrift Bibliothek und Wissenschaft CA Confessio Augustana / Augsburger Bekenntnis von 1530 EGA Ernestinisches Gesamtarchiv (im Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar) Eis Eislebener Lutherausgabe, Eisleben 1564–1565. FB Gotha Forschungsbibliothek Gotha (der Universität Erfurt) GbllMagd Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg. Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Altertumskunde des Herzogtums und Erzstifts Magdeburg, Magdeburg 1866–1941. HB Hallescher Band der Lutherschriften, Halle 1702. IPO Instrumentum Pacis Osnabrugensis JALB Johannes a Lasco Bibliothek Emden Jb.Cob.Ld.Stiftung Jahrbuch der Coburger Landesstiftung, Coburg 1956ff. JbGMOD Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands Jdt Jenaer Lutherausgabe, deutscher Teil, Jena 1555–1558. Jlat Jenaer Lutherausgabe, lateinischer Teil, Jena 1556–1558. JEMC Journal of Early Modern Christianity L Leipziger Lutherausgabe, Leipzig 1729–1734. LATh – HStA Weimar Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar LATh – StA Gotha Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Gotha LDStA Martin Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, hg. u. eingeleitet v. Johannes Schilling, Leipzig 2006. LS Leipziger Supplementband zur Lutherausgabe, Leipzig 1740. LuJ Lutherjahrbuch
520
Abkürzungsverzeichnis
LUT Sächs. HStA Dresden UAJ UnNachr VRG W1 WA WAB WADB WATR Widt Wilat
Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 2016. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden Universitätsarchiv Jena Unschuldige Nachrichten von Alten und Neuen Theologischen Sachen […], Leipzig 1717ff. Verein für Reformationsgeschichte e.V. Walchsche Lutherausgabe, 1. Auflage, Halle 1740–1753. D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883–2009. Abt. Briefwechsel Abt. Deutsche Bibel Abt. Tischreden Wittenberger Lutherausgabe, deutscher Teil, Wittenberg 1539–1559. Wittenberger Lutherausgabe, lateinischer Teil, Wittenberg 1545–1558.
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Personenregister
A Lasco, Johannes 193 Aaron 407f Abraham 388 Adam 268, 388 Adler, Friedrich 214 Agricola, Johannes 205, 326 Aland, Kurt 316 Albrecht von Brandenburg 320, 325 Albrecht von Brandenburg-Ansbach, Herzog von Preußen 246, 326, 332, 389 Albrecht, Graf von Mansfeld 289 Albrecht, Herzog von Sachsen 161 Albrecht, Herzog von Sachsen-Coburg 89 Alexander der Große 440 Alexander VI., Papst 497 Althusius, Johannes 428 Alting, Heinrich 23f, 423–440, 442f Alting, Jakob 425, 428 Alting, Maria, geb. Bischoff 425 Alting, Menso 425 Alting, Menso III. 428 Ambrosius von Mailand 320 Amsdorff/Amsdorf, Nikolaus von 12, 41f, 50, 60, 77, 211, 323, 326, 313, 333– 336, 405 Anna, heilige 289 Anna Maria, Herzogin von Sachsen-Weißenfels 350 Anton Günther II. von Schwarzburg-Sondershausen zu Arnstadt 143, 178, 180 Aristoteles 12, 438 Arius 489, 500
Arnold, Gottfried 18, 87, 109, 117, 122f, 132, 138, 141, 145, 199, 485, 502, 505 Assmann, Aleida 14 Assmann, Jan 53f Athanasius von Alexandria 203, 368, 370 August Wilhelm, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel 123f, 134, 350 August, Kurfürst von Sachsen 43, 162f, 175, 182, 184, 194, 273f Augusta von Sachsen-Gotha-Altenburg 95 Augustinus 12, 227, 317, 320, 367, 370, 385, 483, 493, 490 Aurifaber, Johann(es) 134, 204, 207, 210, 226, 334f, 340f, 344, 352 Avianus, Petrus 107 Bach, Johann Sebastian 365 Baldershayn, Adolar 382 Barnim IX., Herzog von Pommern-Stettin 332 Baronius, Caesar 73f, 89 Bauer, Joachim 17 Baumgart, Peter 56 Bayle, Pierre 492 Beausobre, Isaac de 494 Bélier, Charles 427 Bélier, Franziska, geb. Saureau 427 Bélier, Susanna 427 Bellarmin, Roberto 486–489, 500, 504 Benno von Meißen 382 Benrath, Gustav Adolf 423 Bentley, Richard 139
522 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Berkenthin, Christian August von 99 Bernhard, Herzog von Sachsen-Weimar 175 Beza, Theodor 16, 106, 142 Bierma, Lyle 429 Bizot, Pierre 181, 185 Blaha, Dagmar 19 Blanckenburg, Friedrich 491 Blarer, Ambrosius 380, 383 Bodenstein, Andreas, gen. Karlstadt 233, 318, 325f Böhme, Jacob 108 Boissard, Robert 293 Bollbuck, Harald 189 Bonifatius VIII., Papst 15 Bora, Katharina von 178, 222, 231 Borcke, Adrian Bernhard von 350 Borner, Caspar 382 Börner, Christian Friedrich 347f Bosch, Hieronymus 224 Bose, Adam Heinrich 350 Bose, Anna Barbara 70 Bose, Johann Andreas 70, 72f Bose, Karl Gottlieb Graf von 459, 462f, 465 Bossuet, Jacques Bénigne 485, 504 Bracciolini, Poggio 95 Bräuer, Siegfried 42 Breckling, Friedrich 105 Brehm, Georg Caspar 97, 99 Breitkopf, Bernhard Christoph 347 Bretschneider, Karl Gottlieb 25, 486, 494, 501, 508f Brinkmann, Inga 34, 39 Brix, Emil 15 Brück, Gregor 61 Bruegel, Pieter d.Ä. 224 Brühl, Heinrich von 350 Bucer, Martin 326, 380, 439 Buddeus, Johann Franz 69, 132 Bugenhagen, Johannes 439 Bullinger, Heinrich 439 Bünau, Heinrich von 457, 350 Burckhard, Jakob 129, 131 Burckhardt, Johannes 292 Bürger, Johann Quodvultdeus 129
Personenregister
Burgkmair, Hans 279f Burkhardt, Carl August Hugo
163, 167
Calixt, Georg 69, 135, 485 Calov, Abraham 491, 495 Calvin, Johannes 16, 23, 106, 142, 193, 493, 500, 508 Camerarius, Joachim 77 Capito, Wolfgang 317f, 321, 323 Caroc, Georg Adolf 131 Carpzov, Johann Benedict 131 Carpzov, Samuel Benedict 178, 180 Cellarius, Christoph 500f Celtis, Conrad 226 Chamereau, Nazaire 494 Chemnitz, Martin 165 Cherbury, Herbert von 503 Chevalier, Nicolas 181 Christian I., Kurfürst von Sachsen 182, 192 Christian II., Kurfürst von Sachsen 454 Christian III., König von Dänemark 332, 344 Christian, Herzog von Sachsen-Weißenfels 350, 457–461 Christine Luise, Herzogin von OettingenOettingen 350 Chytraeus/Chyträus, David 79, 488f Cicero 56, 95, 172, 503 Clemens XI., Papst 455 Closius, Johannes 491 Cnauth, Samuel 134f Cochläus, Johannes 288 Con(t)zen, Adam SJ 179, 189f, 434 Conring, Hermann 69, 71 Coppen, Bartholomäus 433 Cordemoy, Louis-Géraud de 76 Cordes, Harm 458 Cracow, Georg 196f Cramer, Daniel 488f Cranach, Lucas d.Ä. 20, 37, 213, 218f, 232, 244, 261, 267f, 270, 278, 387 Cranach, Lucas d.J. 37, 218, 232, 243, 245, 267f, 278, 327 Cratander, Andreas 319–321 Crell, Johann Christian 411f
Personenregister 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Cromer, Martin 504 Cruciger, Caspar d.Ä. 325 Cruciger, Caspar d.J. 196, 371 Crüger, Fabianus 407 Crusius, Martin 142 Cuno, Friedrich Wilhelm 425 Cyprian, Anna Sophia, geb. Bachoff 100 Cyprian, Ernst Salomon 18, 24f, 85– 111, 117–120, 123–127, 129–135, 137– 142, 144f, 458, 485f, 494, 500–506, 508f Daniel 317, 321, 354, 385, 391, 439 Dannhauer, Johann Conrad 491, 495 David 59, 254, 258, 367, 434 Delila 263 Desprez, Josquin 365 Devrient, Otto 298 Dietmann, Karl Gottlob 407, 411f Dillherr, Johann Michael 178, 180 Dilthey, Wilhelm 13 Döring, Hans 307 Dornheim, Stefan 23 Dorothea Susanna, Herzogin von SachsenWeimar 42f Dürer, Albrecht 258 Eber, Domenicus 407 Eber, Paul 141 Eck, Johannes 318 Eggert, Heinrich 471 Eisenthrat, Johann Daniel 178 Eleonore Dorothea, Herzogin von SachsenWeimar 38 Elias 186, 188f, 499 Elisabeth Albertine, Fürstin von AnhaltBernburg 350 Elisabeth Sophie Maria, Herzogin von Schleswig-Holstein-Norburg 350 Elisabeth von der Pfalz 45 Elisabeth von Thüringen 213 Elisabeth, Kaiserin von Russland 99 Emmius, Ubbo 425f Erasmus von Rotterdam 129, 178, 318, 320 Erdmann Reichsgraf von Promnitz 350 Ernesti, Johann Friedrich 352
523 Ernst August, Herzog von Sachsen-Weimar (-Eisenach) 350 Ernst I., Herzog von Sachsen-Gotha(-Altenburg) 86, 102, 120, 122, 140, 273, 342, 499 Ernst Ludwig, Landgraf von HessenDarmstadt 124, 459 Ernst, Kurfürst von Sachsen 161 Ernst Friedrich I., Herzog von SachsenHildburghausen 462 Eva 268 Evenius, Sigismund 120 Ezechiel s. Hesekiel Faber, Matthäus 131 Feilgenhauer, Johann Gottlieb 406 Finck, Johann Martin 179 Findeisen, Peter 249 Fiorentino, Adriano 258 Fischer, Erdmann Rudolph 99, 101, 103 Flacius, Matthias 74f, 388, 485 Fleischer, Dirk 505 Flügel, Wolfgang 24, 498f Forbesius à Corse, Johannes 424 Förster, Immanuel Günther 178 Förster, Johann Günther 107 Foucault, Michel 386–388 Franck, Sebastian 223f Francke, August Hermann 71 Francke, Georg 300 Franziskus, Papst 467 Frick, Elias 494 Frick, Johannes 352 Friderich, Mattheus 224 Friedrich August I., Kurfürst von Sachsen, König von Polen 24, 43f, 102, 119, 124, 165, 181, 451, 453 455–457, 459, 461–463, 465, 470f, 474–476, 502 Friedrich August II., Kurfürst von Sachsen, König von Polen 451 Friedrich August von Sachsen-Zeitz 174, 191 Friedrich I., Herzog von Sachsen-GothaAltenburg 102 Friedrich II. von Preußen 88, 505
524 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Friedrich II., Herzog von Sachsen-GothaAltenburg 18, 85, 90–92, 96f, 101f, 110, 117–119, 123, 133, 137–139, 141f, 144f, 180, 348, 458f, 462, 504 Friedrich II., König von Dänemark 332, 344 Friedrich II., röm.-dt. Kaiser 158, 439 Friedrich III., der Weise, Kurfürst von Sachsen 53, 57f, 161, 166, 212f, 257– 259, 329, 474 Friedrich III., Herzog von Sachsen-GothaAltenburg 47, 88, 96, 99, 109, 111, 353, 505 Friedrich III., Kurfürst von der Pfalz 431 Friedrich IV., Kurfürst von der Pfalz 427, 430, 436 Friedrich V., Kurfürst von der Pfalz 177, 423, 426, 432, 443, 499 Friedrich Wilhelm I., Herzog von SachsenWeimar 43–45 Friedrich Wilhelm I., Kurfürst von Brandenburg, König von Preußen 124, 345, 460 Friedrich Wilhelm II., Herzog von SachsenAltenburg 340, 344 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 295 Friedrich, Johann 79 Fritsch, Thomas von 350 Froben, Johannes 317–319 Fromm, Marc 306 Fuchs, Thomas 22, 407 Funck, Johann 22f, 379, 387–391 Funcke, Johann Caspar 128 Gebler, Tobias 179 Geertz, Clifford 452 Gehrt, Daniel 18, 42 Georg Ernst von Henneberg 332 Georg, heiliger 289 Georg, Herzog von Sachsen 325 Gerhard, Johann 45, 105, 108, 500 Gerlach, Stephan 93, 106, 142 Gesner, Johann Matthias 98 Gesner, Salomon 488
Personenregister
Goliath 254, 258 Göring, Hermann 304 Gotter, Gustav Adolf von 99 Graevius, Gottfried 179 Graf, Urs 319f Graun, Wolfgang Heinrich 352 Gregor d. Große, Papst 320, 438 Greiff, Johann Jakob 347, 350, 352 Grosch, Georg 92, 96, 107, 139 Grotius, Hugo 104, 428 Gründler, Gottfried August 354 Grünpeck, Joseph 381 Güldenapfel, Georg Gottlieb 64 Günther zu Schwarzburg-Sondershausen 350 Gustav II. Adolf, König von Schweden 177, 273 Gustav Wasa, König von Schweden 214 Hadrian VI., Papst 382 Hardt, Hermann von der 129, 135 Hausen, Christian August 39 Hayn, Jobst von 55, 57, 161 Hecht, Gottfried 128 Heckner, Ulrike 247 Heerbrand, Jakob 75 Heidenreich, Lorenz 131 Heinrich II. von Wolfenbüttel 325 Henriette Charlotte, Herzogin von NassauIdstein 350 Heraeus, Carl Gustav 179 Herder, Johann Gottfried 410 Hesekiel 59, 391 Hesse, Hermann Klugkist 425 Hieronymus, Kirchenvater 317, 320 Hieronymus von Prag 439 Hiller, Lotte 79 Hilscher, Paul Christian 128 Hobbes, Thomas 503 Hoë von Hoënegg, Matthias 464, 466 Hohenwarth, Clara Dorothea von 350 Holtz, Sabine 398 Hönn, Georg Paul 179 Hoppstock, Friedrich Gottlob 298 Hortleder, Friedrich 19, 77, 79, 121f, 166f
525
Personenregister 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Hosius, Stanislaus 142 Hottinger, Johann Heinrich 428, 497, 501 Huhn, Johann Benjamin 92 Hunnius, Ägidius 142 Hus, Jan/Johannes 75, 129, 439 Hutten, Ulrich von 129 Imhoff, Jacob Wilhelm Israel, Berta 307
179
Jacobaeus, Oligerius 181 Jakob I., König von England 427 James, William 217 Janz, Oliver 398 Jauernig, Reinhold 316, 342 Jeremia 106, 142 Joachim I., Kurfürst von Brandenburg 77f, 325f Joachim II., Kurfürst von Brandenburg 78, 175, 332 Joachim von Anhalt 332 Johann Casimir, Herzog von Sachsen-Coburg 45f Johann Casimir, Pfalzgraf von Pfalz-Lautern 430 Johann d. Beständige, Kurfürst von Sachsen 58, 213, 329 Johann Ernst, Herzog von Sachsen(-Coburg) 254, 257, 267 Johann Ernst II., Herzog von SachsenWeimar 189 Johann Friedrich I. d. Großmütige, Kurfürst von Sachsen 17, 20, 45, 55, 58f, 61, 71, 78–80, 119–121, 123, 158, 160– 162, 166, 175, 213, 243, 250f, 253–255, 257–259, 261, 265, 267, 271–277, 279, 283, 324, 327, 329, 333f, 337, 474 Johann Friedrich II. d. Mittlere, Herzog von Sachsen 41, 45, 157, 162, 334, 336, 339 Johann Friedrich III. d. Jüngere, Herzog von Sachsen 41, 334, 339 Johann Georg I., Kurfürst von Sachsen 78, 273, 434, 457, 461, 499
Johann Georg II., Kurfürst von Sachsen 75, 183 Johann Georg, Kurfürst von Brandenburg 182–184, 194 Johann III., Herzog von Sachsen-Weimar 43 Johann III., König von Schweden 175 Johann III. Sobieski 451 Johann Sigismund, Kurfürst von Brandenburg 78 Johann Wilhelm, Herzog von SachsenWeimar 41, 43, 61–63, 162, 334, 339 Johann, Markgraf von Brandenburg-Küstrin 78, 332 Johannes der Täufer 499 Jonas, Justus 76, 216f, 290 Josaphat 40 Josia 436 Juckoff, Paul 295–297 Judex, Matthäus 74 Judith 267 Julius II., Papst 497 Juncker, Christian 19f, 89, 171–175, 177–183, 185f, 189–192, 194, 197, 199 Juncker, Gottlob Friedrich Wilhelm 89, 99 Junghuhn, Franz Wilhelm 307 Junius, Christian Friedrich 494 Jurieu, Pierre 492 Kamper, Hans-Georg 222 Karl der Große 45, 77 Karl V., röm.-dt. Kaiser 17, 55, 75, 77, 121, 248, 271–273, 277–279, 281–283, 326 Karl VI., röm.-dt. Kaiser 474 Karlstadt s. Bodenstein, Andreas Kastner, Ruth 343 Katharina, heilige 438 Kaufmann, Thomas 261, 387, 484 Kempe, Stephan 132 Kirchner, Timotheus 165, 336 Klenze, Leo von 295 Klöckner, Thomas 23f Klug, Thomas 329 Knapp, Johann Erhard 138
526 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Knaust, Hermann 217, 224f Knauth, Johann 409 Knoch, Georg Markus 98 Koch, Ernst 42, 110, 412 König, Konrad 334 Koselleck, Reinhart 506f Krebs, Konrad 264 Krell, Nikolaus 191f Krumhaar, Karl 301 Küchenmeister, Friedrich 214 Kuhn, Thomas 388 Labadie, Jean de 90 Laktanz 503 Lange, Abraham 43f Laube, Stefan 20 Lauterbach, Anton 106f, 405 Lazarus 268 Le Goff, Jacques 402 Lehmann, Petrus Ambrosius 181 Leibniz, Gottfried Wilhelm 86f, 485 Leo X., Papst 437 Liebe, Christian Si(e)gismund 92, 96 Ligniez, Annina 292 Lindemann, Anton 287 Lindner, Andreas 19 Löber, Christian 47 Locke, John 503 Löscher, Caspar 466f, 476 Löscher, Valentin Ernst 24, 87, 103, 132, 455f, 458f, 463, 465, 467, 474, 476, 502 Loß, Christian von 350 Louise Juliana von Oranien-Nassau 436 Luder, Hans 287f, 300, 305f Luder, Margarete 287 Ludolf, Hiob 173 Ludwig IV., röm.-dt. Kaiser 160, 439 Ludwig Rudolph, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel 350 Ludwig VI. von der Pfalz 430 Ludwig XII., König von Frankreich 497 Ludwig XIV., König von Frankreich 181, 497 Ludwig XV., Graf von Öttingen 323 Lufft, Hans 223, 316, 324, 329
Personenregister
Luise Dorothea, Herzogin von SachsenGotha-Altenburg 88, 505 Luther, Jakob/Jacob 290, 300f Luther, Magdalena 178 Luther, Martin 12, 15, 20–22, 25, 41, 44f, 53, 61–64, 74–78, 80, 101, 104, 106, 118, 120–123, 128–130, 132, 134–138, 140f, 144, 166f, 171, 173, 175, 177f, 180f, 188f, 203–218, 220–224, 226–233, 243, 246, 249–251, 259–261, 263, 267f, 270f, 273, 287–308, 315–318, 320–329, 331–337, 340, 343–345, 347–349, 351–356, 365– 375, 379, 386–391, 406, 432, 437, 439, 463, 467–469, 473, 483, 486–493, 495– 501, 503–509 Luther, Paul 178 Magdalena Augusta von Anhalt-Zerbst 348 Magdalena Sibylle von Brandenburg-Bayreuth 183 Mägdefrau, Werner 69 Maimbourg, Louis 25, 122, 167, 180, 492–497, 501, 504 Mair, Martin 497 Major, Georg 325 Mani 500 Marperger, Bernhard Walther 350 Martinius, Matthias 426 Mathesius, Johann(es) 15, 189, 213, 288, 299, 366 Maximilian I., Herzog von Bayern 434 Maximilian I., röm.-dt. Kaiser 280 Maximilian II., röm.-dt. Kaiser 157, 344 Mayer, Johann Friedrich 131 Meier, Johann Philip 91f, 94 Melanchthon, Philipp 53, 72, 74, 105, 129, 134, 139, 141, 180, 183, 189, 230f, 250, 260f, 267, 290, 295, 315, 325, 327, 329, 331–333, 344, 379, 385, 388, 406, 438f Mellen, Jacob von 181 Mencke, Otto 171 Menetrier, Claude Francois 181 Menius, Justus 106, 324, 331 Mentzel, Johann Georg 139
527
Personenregister 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Mentzer, Balthasar d.Ä. 485 Meuschen, Johann Gerhard 105 Michelangelo Buonarroti 387 Mohammed 489 Mohorn, Petrus 407 Molanus, Gerhard 178 Molinet, Claude 181 Monanai, Samuel 179 Moritz von Nassau 78 Moritz Wilhelm, Herzog von SachsenMerseburg 350 Moritz Wilhelm, Herzog von SachsenZeitz 77, 174, 182 Moritz, Herzog von Sachsen-Zeitz 493 Moritz, Kurfürst von Sachsen 158, 162, 164, 247, 265, 273f, 474 Mörlin, Joachim 348 Mosheim, Johann Laurenz 350 Müller, Johann Gottgetreu 352 Müller, Kaspar 290 Müller, Matthias 20 Müller, Winfried 498 Münchhausen, Gerlach Adolph von 87 Müntzer, Thomas 141, 325, 390 Musaeus, Johannes 73 Myconius, Friedrich 89, 106f, 130, 132, 497, 500, 508 Mylius, Georg 141 Nas, Johannes 207, 213 Neumeister, Erdmann 87, 98, 102, 132, 221 Noah 218 Nostitz, Gottlob von 179 Oekolampad/Oecolampad, Johannes 221, 319, 326, 439 Oemler, Nikolaus 289, 307 Olearius, Johann Christoph 130, 179 Omeis, Magnus Daniel 179 Opsopoeus, Simon 434 Orban, Stephan 351 Origenes 385 Osiander, Andreas 389, 485 Osiander, Lukas d.Ä. 77, 79 Osius, Hieronymus 62
Ottheinrich, Kurfürst von der Pfalz 431
332,
Paasch, Kathrin 18 Pallavicino, Francesco Maria Sforza SJ 495, 497 Pantaleon, Heinrich 425 Pape, William 217 Paracelsus 220, 230 Pareus, David 433, 436f Paul V., Papst 15 Paul, Matthias 287, 306 Paulus 219, 317, 320, 327, 369, 438, 440 Pellikan, Konrad 320 Petavius, Dionysius 424 Petrarca 442 Petri, Adam 319f, 322, 327 Petrus 320, 327, 438 Petzsch, Johannes 408 Peucer, Kaspar 197 Pfanner, Tobias 165, 167 Pfeffinger, Johann 405 Pfeiffer, Johann Gottlob 345, 347 Pflug, Julius 77, 107, 142 Philipp I., Herzog von Pommern-Wolgast 332 Philipp von Hessen 77, 121, 326, 332 Photinus von Sirmium 500 Pipping, Heinrich 179, 464 Pirckheimer, Willibald 129, 131 Piscator, Johannes 141, 426, 485 Platz, Abraham Christoph 179 Plodek, Julian 307 Poach, Andreas 76, 335 Pohlig, Matthias 387 Prágai, Andreas 434 Prierias, Silvester 317f Probst, Walter 302f Probus, Antonius 44f Rab, Hermann 381–383 Rambach, Friedrich Eberhard 352 Ranke, Leopold von 157, 164, 166f Ratzeberger, Matthäus 335 Rebart, Thomas 336 Rebhan, Caspar 46
528 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Rebhan, Nicolaus 128 Recke, Adolf Karl Ferdinand von der 296 Reeken, Erich von 425 Reinhart, David Nikolaus 215f Rengern, Johann Gottfried 345 Reuchlin, Johann Caspar 352 Reuchlin, Johannes 129, 382 Reyher, Johann Andreas 99 Rhau, Georg 370, 373 Rhein, Stefan 21 Richtzenhain, Donatus 336 Rihel, Wendelin 323 Ritter, Joachim 13 Roddelstedt, Peter 337 Rödinger, Christian 334f Roest, Petrus 489f, 490f Roos, Johann Friedrich 494 Roper, Lyndal 222 Rörer, Georg 120, 239, 323, 325f, 331, 333f Röse, Bernhard 163, 167 Roth, Stephan 323, 326 Rudolf August, Herzog von BraunschweigWolfenbüttel 215 Sachs, Hans 231 Sagittarius, Caspar 17, 69–81 Sagittarius, Caspar sen. 69 Sagittarius, Johann Christfried 70, 120, 340, 342–344 Salatowsky, Sascha 10, 24f Salig, Christian August 133 Samson 263f Sandl, Markus 387 Sauerbrey, Johannes 185 Savonarola, Girolamo 439 Schadow, Johann Gottfried 295, 306 Schäufele, Wolf-Friedrich 17 Scheler, Max 383 Schenk, Carl Wilhelm 163 Schieckel, Harald 399 Schilling, Heinz 476 Schilling, Jacob 72 Schilter, Johannes 77 Schinkel, Karl Friedrich 295
Personenregister
Schirlenz, Nickel 329 Schläger, Julius Carl 105f, 109, 111 Schlegel, Christian 79, 126, 133, 179f, 185, 196f Schmidt, Erasmus 441 Schmidt, Heinrich 131 Schmidt, Johann Andreas 71, 134f, 139 Schmidt, Tobias 196 Schmincke, Johann Hermann 108 Schnee, Gotthilf Heinrich 287, 294 Schönmann, Heinrich 74 Schönmann, Marcus 74f Schorn-Schütte, Luise 397, 409f Schröckh, Johann Matthias 87 Schubert, Ernst 56 Schürer, Matthias 318f, 321f Schwartze, Johann 71 Scriver, Christian 229 Scultetus, Abraham 127, 129, 423, 427, 434, 436f Seckendorff, Friedrich Heinrich von 350 Seckendorff, Veit Ludwig von 17–19, 25, 72, 86, 100–102, 122, 135, 140, 167, 493– 497, 503 Seidel, Martin Friedrich 178 Selderhuis, Herman Johan 10, 423 Selnecker, Nikolaus 15, 165, 288, 389 Semler, Johann Salomo 507f Senfl, Ludwig 365 Serpilius, Georg 105, 139 Servet, Michael 487 Seyppel, Johann Jacob 179 Sibylle von Kleve 37, 40, 41, 80, 243, 257, 259 Siemering, Rudolf 296 Sigismund, röm.-dt. Kaiser 439 Silvia, Königin von Schweden 214 Simon Magus 500 Simons, Menno 390 Sleidan(us), Johannes 79, 121, 166, 494 Slenczka, Ruth 250 Sloterdijk, Peter 367 Söhngen, Oskar 369 Sonntag, Christoph 179
529
Personenregister 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Sophia, Herzogin von Sachsen-Weimar 44 Sophie von Brandenburg 182 Spalatin, Georg 15, 79, 121, 130, 137, 166 Spangenberg, Cyriacus 21, 291–293, 300, 306f Spehr, Christopher 21 Spener, Philipp Jacob/Jakob 71, 183 Spengler, Lazarus 321 Speratus Paul 130 Spinoza, Baruch de 503 Spitta, Philipp 365 Steinmann, Tobias 336 Stekl, Hannes 15 Stenger, Nikolaus 76 Stenius, Simon 436 Stifel, Michael 22f, 379, 388–390, 498 Stigel, Johann 17, 53, 56–59, 62 Stoltz, Johann 40, 334f Strigel, Victorin 17, 56f, 60 Strohm, Christoph 431 Stuart, Elisabeth 427 Suarez, Francisco SJ 11 Sylvius, Emericus 334 Tacitus 217, 226 Taubenheim, Hans von 324 Tentzel, Wilhelm Ernst 18, 125, 130, 138, 179, 181, 185f, 196f, 494, 503 Tetzel, Johann 121, 129, 131f, 296, 381, 439 Thomas von Aquin 490 Thomasius, Christian 117, 503, 506f Thou/Thuanus, Jacques Auguste de 75, 79 Thumm, Theodor 485 Tilly, Johann t’Serclaes von 428, 439 Tittel, August 352 Tizian 248, 274, 277–279, 281 Tlusty, B. Ann 226 Toland, John 503 Tossanus, Daniel 431 Tossanus, Paul 427 Trotha, Thilo von 273 Truchsess von Waldburg, Gebhard 78
Ulrich von Augsburg
382
Varillas, Antoine 495 Veiel, Elias 189 Veltheim, Valentin 73 Vermigli, Petrus Martyr 193 Viatis, Johann Andreas 179 Viretus, Petrus 193 Vockerodt, Gottfried 229 Vogel, Johann Jacob 131f Vogel, Tobias 12 Voltaire 483 Volz, Hans 316 Wagenseil, Johann Christoph 179 Wagner, Markus 74 Wahl, Johannes 398 Walch, Johann Georg 351–354 Waldschmidt, Johann Martin 179, 189 Walter, Johann 19, 141 Walther, Christoph 325 Warbeck, Anna 178 Weber, Johann Wilhelm 179 Weber, Wolfgang 398 Wegele, Franz Xaver von 69 Weichlein, Siegfried 400 Weise, Christian 172 Weißenborn, Jesajas Friedrich 405 Weller, Hieronymus 228 Wermuth, Christian 179 Wernsdorf, Gottlieb 135f, 138, 451, 469 Westphal, Siegrid 16f Wiegleb, Johann Hieronymus 129 Wiesenfeldt, Christiane 22 Wigand, Johannes 74 Wilhelm I., dt. Kaiser 296 Wilhelm II., dt. Kaiser 214 Wilhelm III. von Oranien 78 Wilhelm III., König von England 181 Wilhelm IV., Graf von Henneberg-Schleusingen 332 Wilhelm IV., Herzog von Bayern 203 Wilhelm IV., Herzog von Sachsen-Weimar 38, 46 Wilhelm von Nassau 78 Wilisch, Christian Friedrich 130
530 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Personenregister
Wolf, Paul 127 Wolfgang von Anhalt 332 Wolgast, Eike 316, 332 Wyclif, John 129 Zapf, Nicolaus
38
Zedler, Johann Heinrich 38, 79, 345, 347f, 350f Zeidler, Johann Gottfried 345 Zepper, Wilhelm 426 Zihn, Johann Friedrich 179 Zwingli, Huldrych/Ulrich 23, 193, 221, 325, 369, 439, 491, 501, 508
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Ortsregister
Altdorf 70, 101, 179f Altenburg 130, 164, 171, 179, 340, 342, 352 Altranstädt 182, 456 Ambras 248 Amsterdam 90, 125 Annaberg 500 Arnstadt 179f, 352 Augsburg 131, 215, 321 Babylon 440, 497 Bamberg 268 Basel 11, 230, 319–322, 425, 494 Berlin 131, 182, 258, 295, 494 Brandenburg (Stadt) 77 Braunschweig 397 Breitenfeld 177, 187 Breslau 350, 491 Brück 388 Cambridge 139 Chemnitz 408 Coburg 45, 87, 89f, 97f, 133, 141, 179, 208, 213, 287, 370 Colditz 161 Dippoldiswalde 409 Dordrecht 185, 424, 427 Dresden 161–163, 171, 179, 182f, 212, 247, 257, 265, 271, 273–276, 350, 406, 454, 457, 459, 465, 469–473 Düsseldorf 298
Eischleben 127 Eisenach 171, 174, 287f, 303f, 405 Eisleben 62, 204, 216f, 287f, 290–292, 294–296, 298f, 303f, 308 Emden 425 Erfurt 9, 71, 74f, 81, 287, 304 Esslingen 388 Franeker 90 Frankfurt a.M. 179 Fraustadt 182 Freiberg 183, 470 Gangelt 425 Genf 47f, 85 Gera 231 Glaucha 128 Görlitz 407 Gotha 9, 18, 58, 71, 78, 85–87, 89–102, 105–110, 124, 133, 135, 138, 140–144, 164, 168, 178f, 185, 189, 246f, 272f, 451, 459, 486, 492–494, 501, 508f Göttingen 87 Gräwenhaag 90 Groningen 426, 428 Großörner 287, 294 Güstrow 131 Haberstrohm 388 Halle 19, 127f, 132, 174, 208, 216, 463 Hamburg 132, 196, 221, 350 Hannover 88 Heidelberg 24, 54, 427, 429, 432–435, 437, 440, 442
532 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Heilbronn 432 Helmstedt 69, 71, 87, 135f, 229 Herborn 141, 426, 435, 438 Hildburghausen 129 Holzdorf 388
Ortsregister
Nantes 492 Naumburg 165, 179, 342 Neustadt a. d. Haardt 432 Nürnberg 62, 173, 177–180, 288, 433 Osnabrück
Jena 9f, 17, 36, 45f, 53–56, 60–64, 69f, 72, 76, 78, 86f, 120, 141, 178, 233, 333f, 342, 350, 388, 405, 473, 500 Jerusalem 428, 498 Jessen 388 Kneiphof 389 Köln 78, 318 Königsberg 388f Konstanz 11, 75, 439, 497 Kopenhagen 70, 99 Lauban 412 Leiden 90 Leipzig 69, 92, 101, 131f, 161, 171, 177, 179f, 196, 214, 224, 270, 307, 326, 345, 350, 380, 382, 389, 405, 454, 462, 468, 471f, 474–476 Löbau 473 Lochau 388 London 125 Lübeck 69 Lüneburg 69 Lützen 177 Madrid 248, 273f, 277–279 Magdeburg 287, 342, 405, 460 Mainz 179, 434 Mansfeld 21, 287–299, 301–308, 388 Marburg 142, 221 Meiningen 164, 168 Meißen 80, 161, 171 Merseburg 129, 342 Möhra 288 Molsdorf 99 Molsheim 489 Mühlberg 17, 20, 55, 80, 158, 161f, 247f, 271–279, 281f München 248, 273
10, 177
Pirna 131, 405 Pisa 497 Pleißenburg 454, 471 Poltawa 456 Querfurt
71
Regensburg 119, 124, 177, 465 Rochlitz 161 Rom 15, 62, 209, 433, 437, 441, 453, 497 Rossa 408 Rostock 101 Rotterdam 90 Saalfeld 70, 79 Schleusingen 171–173, 178 Schwarzburg 399 Sedan 426 Speyer 432 Stotternheim 289 Straßburg 319, 322f, 489 Suhl 179 Sulzbach (Pfalz) 178 Torgau 20, 79, 141, 158, 160f, 196f, 246f, 249–260, 262f, 265–271 Trient 11, 495 Ulm 128 Uppsala 175f Utrecht 90 Waldhütten 214 Warschau 456 Wechmar 95 Weida 161 Weimar 58, 61, 79, 98, 102, 110, 128, 134, 140, 157f, 161–164, 166, 168, 179, 243, 494
533
Ortsregister 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Wernigerode 71 Wetterau 426 Wien 99, 248, 273, 280, 300, 451, 459 Wittenberg 12, 19, 24, 36, 54, 56, 61–63, 70, 86, 119f, 131, 133, 135f, 141, 158, 160f, 196, 206, 209, 211, 213, 218f, 221, 223, 232, 243, 287, 290–292, 296, 303f, 308, 316, 323–337, 342, 344, 348, 354,
356, 389, 428f, 440–442, 462, 469, 472f, 488, 491, 498f, 502 Wolfenbüttel 110, 133–135, 172, 214f Worms 77, 106, 287, 289, 322, 508 Zittau 131, 471 Zürich 16, 23f, 320, 428f, 440–442 Zwickau 171, 323
Autor*innenverzeichnis
Bauer, Joachim, Prof. Dr.; apl. Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit und Leiter des Universitätsarchivs der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Blaha, Dagmar; Leiterin a.D. des Hauptstaatsarchivs Weimar im Landesarchiv Thüringen. Dornheim, Stefan, Dr.; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sächsische Landesgeschichte an der Technischen Universität Dresden. Flügel, Wolfgang, Dr.; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde. Fuchs, Thomas, Prof. Dr.; apl. Professor am Historischen Institut der Universität Leipzig und Leiter des Bereiches Sondersammlungen und Digitalisierung der Universitätsbibliothek Leipzig. Gehrt, Daniel, Dr.; Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsbibliothek Gotha im Bereich der Handschriftenerschließung und wissenschaftlicher Transferleistungen. Klöckner, Thomas, Dr.; Pfarrer in der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Kaiserslautern. Laube, Stefan, Dr.; Privatdozent am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Lindner, Andreas, Prof. Dr.; apl. Professor für Kirchengeschichte am MartinLuther-Institut der Universität Erfurt. Müller, Matthias, Prof. Dr.; Professor für Kunstgeschichte an der JohannesGutenberg-Universität Mainz. Paasch, Kathrin, Dr.; Direktorin der Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt. Rhein, Stefan, Dr., Direktor der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt.
536
Autor*innenverzeichnis
Salatowsky, Sascha, Dr.; Wissenschaftlicher Referent für Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen an der Forschungsbibliothek Gotha. Schäufele, Wolf-Friedrich, Prof. Dr.; Professor für Kirchengeschichte an der Philipps-Universität Marburg. Spehr, Christopher, Prof. Dr.; Professor für Kirchengeschichte an der FriedrichSchiller-Universität Jena. Westphal, Siegrid, Prof. Dr.; Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück. Wiesenfeldt, Christiane, Prof. Dr.; Professorin für Musikwissenschaft an der Universität Heidelberg.