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German Pages 352 Year 2018
Pia Fruth Record.Play.Stop. – Die Ära der Kompaktkassette
Edition Medienwissenschaft | Band 50
Pia Fruth (Dr. phil.), geb. 1971, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Mitglied der Geschäftsleitung am Institut für Medienwissenschaft der Universität Tübingen. Dort lehrt sie praktischen Journalismus mit Schwerpunkt Hörfunk und Audio-Medien. Parallel arbeitet sie seit 2003 als Hörfunkjournalistin für den Südwestrundfunk (SWR) und andere öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten. Regelmäßig publiziert sie dort u.a. wissenschaftliche Radio-Features und Beiträge für verschiedene Kultur-Journale.
Pia Fruth
Record.Play.Stop. – Die Ära der Kompaktkassette Eine medienkulturelle Betrachtung
Die vorliegende Schrift entstand im Rahmen einer Dissertation am Institut für Medienwissenschaft (Philosophische Fakultät) der Universität Tübingen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Martin Pfeilsticker, Tübingen 2017 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4220-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4220-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 11 1
Einleitung | 15
1.1 Ein sprechendes Notizbuch im Weltraum: Kassetten sind überall | 15 Cultural Studies und Kassettenkultur | 23 Quellen und der Umgang damit | 27 Interviews, Lebensgeschichten und Erzählstimuli | 32 Überblick über die Arbeit | 37 2
Technische Entwicklungen auf dem Weg zur Kompaktkassette | 39
2.1 Mediales Speichern | 39 Schrift reproduziert immer nur Wörter | 41 Schriftwissen ist Exklusivwissen | 41 Bilder und Töne kann jeder verstehen | 43 Leichte Bedienbarkeit wird zum Entwicklungsimpuls | 44 Gute Usability bestimmt den Erfolg | 45 2.2 Die Weltsensation: erste mechanische Aufnahmen aus der Konserve | 46 Edisons Phonograph erfüllt einen alten Menschheitstraum | 46 Der Phonograph ist nicht alltags- und massentauglich | 49 Die deutschen Institutionen würdigen den Phonographen | 52 Ein nächster Meilenstein ist das Grammophon | 53 2.3 »I can make a better one«: die Magnetband-Story | 55 Die ersten Magnettonaufnahmen der Welt | 57 Magnettongeschichte der Irrungen und Wirrungen | 59 Vom Zigarettenmundstück zum Tonband | 60 Aus Stahl und Eisen werden »Schnürsenkel« | 61 Viele Wege führen zum Tonband | 62 2.4 Auf dem Weg zur Kompaktkassette: Schwierigkeiten mit dem Tonband | 64 »Tonbandeln« als teures Freizeitvergnügen | 66 Tonbandamateure sind die Beherrscher der Bandwelt | 70 Alles zu kompliziert: erste Versuche mit Kassetten | 72
Bänder und Kassetten in Diktiergeräten | 72 Ein Häuschen für das Band: Das Optaphon | 74 Verstaute Bänder statt verstaubter Bänder | 76 Schallplatte, Tonband und Kassette in einem: Das Tefifon | 80 Normale Menschen und ihre Intuition | 83 2.5 Die Kompaktkassette kommt auf den Markt | 84 Kassettenideen liegen in der Luft | 85 Lou Ottens und der Backstein | 86 Die Funkausstellung in Berlin 1963 | 87 2.6 Die Kompaktkassette wird erwachsen | 91 Der Kassettenkrieg mit Grundig | 92 Die Kompaktkassette bekommt ihren Namen | 94 Mobilität, Sound-Qualität und High Fidelity | 96 »Your own music anytime, everywhere« – Die Miniaturisierung geht weiter | 99 2.7 »Bye, bye Kassette« | 101 Die CD kommt auf den Markt | 102 Der analoge Medienmarkt bricht ein | 103 Ein bisschen Kassette hat überlebt | 104 Retro ist Trumpf | 105 Die Menschen brauchen etwas »Greifbares« | 105 2.8 Zwischenresümee eins | 106 Speichern ist ein Grundbedürfnis | 107 Speichermedien sind auch Kommunikationsmedien | 108 Speichertechnologien müssen massentauglich sein | 108 »Eliten-Dämmerung«: Massentauglichkeit ermöglicht neue Zugänge | 109 Speichern wird zur Alltagskultur | 110 3
Tape on me: Versuch einer Sozialgeschichte der Kassette | 113
Medien beeinflussen Kultur, Kultur beeinflusst Medien | 115 Das Beispiel Walkman | 117 Kontextualisiert und multiperspektivisch beschreiben | 121 3.1 The American Way of Life: Unterhaltung, Konsum und Massenwaren | 122 Der Blick über den Atlantik | 123 Die Geburt der Massenkonsumgesellschaft | 124
3.1.1 Kassetten und Schallplatten als musikalische »Billigduschen« | 124 Kassettenboom in Zahlen | 126 Automatisierte Fertigung | 126 Streit mit Plattenindustrie und GEMA | 128 »Lauscher an den Wänden« statt prophylaktischer Gebühren | 130 »Hometaping is killing music« | 132 3.1.2 »Verschwende deine Zeit«: Freizeit als »Motor des Wertewandels« | 134 Kassetten als Freizeitbeschäftigung | 136 Kritische Positionen zu Unterhaltungs-, Freizeit- und Medienkultur | 138 3.2 Von Moden, Müttern und Medien: Jugend- und Protestkultur | 140 3.2.1 Exkurs: »Oh baby, baby halbstark ...« oder was »Jugend« eigentlich ist | 140 Jugend als Lebensphase | 141 Der Beginn einer deutschen Jugendkultur | 142 Konsumgüter für die Jugend | 142 3.2.2 »I Feel like Jesse James«: Jugendlichkeit und Juvenilität als Lebensstile | 146 Alte und junge KassettentäterInnen | 147 Kinderkassetten als Kultobjekte | 148 Kassettenmixen als Alltagspraxis | 149 3.2.3 »Krieg den Palästen«: Gegenkultur, Revolution und subtiler Protest | 151 Bottom-up wie die Graswurzeln | 152 Traumenergie und die revolutionäre Kraft des Spiels | 154 Gespielte Interviews, gruselige Hörspiele und Phantasie-Bands | 156 Politische Protestbewegungen | 158 Kassetten als politisierte Protestmedien | 161 Provokateurinnen- und Aktivisten-Kassetten | 163 Viel Lärm um die Startbahn West | 165 Subversive und staatsfeindliche Kassetten in den Ländern des Ostblocks | 167 Samisdat und Magnetisdat | 170 3.3 »Always on the run«: Mobilität als Kennzeichen eines modernen Lebensstils | 174
Tragbare Geräte erweitern den Hörradius | 174 Der moderne Mensch und sein fahrbarer Untersatz | 176 Autoradio und Autokassettenrekorder | 177 Mit Radio und Kassettenrekorder auf Reisen | 183 Tonjäger unterwegs und zu Hause | 185 Mobile Kassettengeräte im professionellen Einsatz | 192 Mobilität schafft auch Individualität | 198 Vorbehalte gegen individuelles Hören | 201 3.4 »Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt«: Individualisierungen | 204 3.4.1 Individuelle Rückzugsräume | 205 Das eigene Zimmer | 205 Der eigene Stil | 207 Eigene Musik im Supermarkt der Stile | 209 3.4.2 Stilwelten, Szenen und Cliquen: Neue Formen der Vergemeinschaftung | 212 Szenen statt traditioneller Vergemeinschaftungsformen | 213 Merkmale einer Szene | 214 Kassetten als Kommunikationsmittel | 215 3.5 Zwischenresümee zwei | 217 4
»Anybody out there?«: Kassettenkultur als Kommunikationskultur | 221
Kommunikative Prozesse in Netzwerken | 222 Kommunikation mit Medien | 223 Kultur als Referenzrahmen für Kommunikation | 226 4.1 Kassetten in Kommunikationsnetzwerken | 227 Kassettenakteure sind Kommunikationsnetzwerker | 227 An Netzwerkknoten herrscht hohe Kommunikationsdichte | 229 Analysekriterien für Kassettennetzwerke | 230 Fallbeispiel Kassetten im Sprachunterricht: »Où est la famille Leroc?« | 231 4.2 Kassetten als Mittel der wechselseitigen Medienkommunikation | 234 4.2.1 Der Schneller-Lauter-Härter-Dreisatz: Punk und NDW | 235 England ist der »kranke Mann Europas« | 237 Punk kommt nach Deutschland | 238
Mach es selber! Mit Kassetten! | 240 Deutsch wird rockmusiktauglich | 243 Punk-Fanzines als (klingende) Szene-PR | 245 Fanzines und der Osten | 248 NDW bringt das Ende des Punk | 250 Kommunikationsnetzwerk Punk | 251 4.2.2 Zwischen Casio-Getschilpe und Avantgarde: Kassetten im Postpunk | 256 KassettenmacherInnen im regionalen Underground | 257 Die süddeutsche »Kassetten-Achse« | 258 Kassettenfreundschaften statt BrieffreundInnen | 259 »Cassette sich, wer kann«: Vertriebswege für Kassettenproduktionen | 263 Die Anarchie der Kassetten-Ästhetik | 266 Tausend Casio-Dudler und das Ende der Kassettenszene | 267 Kommunikative Strukturen der Kassettenszene | 270 4.2.3 »Now sing the praises of the Mixtape«: Unterhändler von Erinnerungen | 273 Das Hitjäger-Tape: Ausbau der eigenen Musiksammlung | 275 Das Stimmungs-Tape: Mobiles Mood Management mit Mixtapes | 276 Das Love-Tape: Der musikalisch chiffrierte Liebesbrief | 279 Sonderfälle: Sampler und Bootlegs | 281 »Darling, they're playing our tune«: Mixtapes sind Speicher von Erinnerungen | 285 Mixtapes haben zwei oder mehr kommunikative Zeitebenen | 287 4.3 Kassetten als Medien der standardisierten Medienkommunikation | 291 4.3.1 »Bis ans Ende aller Bänder«: Hörspiele für »Kassettenkinder« | 292 Funkheinzelmann und Radiokasperl: Die frühen Funkhörspiele für Kinder | 292 Von Abenteuergeschichten zum kritischen Realismus | 294 Mit der Kassette kommt die Kinderhörspiel-Flut | 298 Aus Kassettenhörspielen werden Live-Auftritte | 302 »Die elektronische Großmutter«: Kritische Blicke auf Kinderkassetten | 304 Wie die Hörspielszene mit und über Kassetten spricht | 309
4.3.2 Kassette goes »on air«: Hören, Produzieren, Senden im Rundfunk | 316 Das Fenster zur Welt: Radio und Hörfunk-Feature nach 1945 | 317 Stimmen des Lebens: Originaltöne und Atmosphären | 320 Entfrackung und Entschlipsung: Kassetten im Reporter-Alltag | 321 Weniger bringt mehr: Akustische Großaufnahmen dank kleinerer Technik | 323 Der Rundfunk als Kommunikationsapparat | 324 4.4 Zwischenresümee drei | 326 5
Bandsalat: Eine Schlussbetrachtung | 331
Literatur | 337
Vorwort
Es ist der 10. Februar 2017, ein Winterabend in Tübingen. Ich habe mir diesen Abend seit Wochen freigehalten, um mit meinem Mann im Tübinger Sudhaus zu einem Konzert zu gehen. Die fünfköpfige Berliner Nachwuchs-Band Von wegen Lisbeth ist mit ihrem ersten Album Grande auf Tour. Wir haben die Band im Jahr zuvor als Support der deutschen Alt-Singer-Song-Rocker Element of Crime in Ulm gesehen und waren begeistert. Wie alle anderen Konzerte der Tour ist auch das Tübinger Sudhaus völlig ausverkauft. Nicht nötig zu erwähnen, dass wir im Publikum, das vorwiegend aus SchülerInnen und StudentInnen besteht, den Altersschnitt gewaltig in die Höhe treiben. Wir kommen im Sudhaus an, als die Consolers gerade dabei sind, das Publikum mit softem Indie-Surf-Grunge auf Touren zu bringen. Die Vorband: drei Musiker, jung, hip, trendy, unkonventionell, mit Trainingsjacken, T-Shirts, Turnschuhen und Baseballcaps. In einer Pause zwischen zwei Songs blickt der Sänger von seiner Gitarre auf und fragt, ob es in Tübingen vielleicht irgendwo eine Übernachtungsmöglichkeit für seine Band gebe. Man werde auch ganz gewiss abwaschen, staubsaugen und weitere Frondienste im Haushalt übernehmen. Lachen im Publikum. Ein Scherz. Dann geht es mit Musik weiter, und ich kämpfe mich zum Merchandising-Tisch durch. Ich finde neben den T-Shirts, Vinyl-Platten und CDs von Lisbeth auch eine EP1 der Consolers auf CD. Außerdem liegt auf dem Tisch neben den CDs auch ein kleiner Stapel in Zellophan eingewickelter Kassetten. Rotes Plastikgehäuse, weiße Hülle, Preis: zehn Euro. Die digitale EP kostet nur sieben. Ich halte die Kassette schon in den Händen, da fällt mir ein, dass ich Kassetten nur zu Hause, auf der Stereoanlage im Wohnzimmer, abspielen kann und nicht im Auto, wo ich viel häufiger Musik höre. Na gut. Ich kaufe also die CD. 1
EP steht für »Extended Play«, einen Tonträger, der zwischen Single und Album einzuordnen ist und in der Regel zwischen vier und neun unterschiedliche Stücke enthält.
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Allerdings beschäftigt mich ab diesem Moment die Frage, warum eine junge, mitten im Rock'n'Roll-Leben stehende Band wie die Consolers ausgerechnet eine Kassette herausbringt. Vintage? Retro? Oder Comeback der Kassette? In den letzten Monaten haben sich die Hinweise auf den Beginn einer Retrowelle in Sachen Kassette verdichtet. Kassettenhersteller aus den USA haben – wie in den vergangenen zwei Jahren davor – auch 2016 wieder Rekordumsätze mit dem kleinen Tonträger gemacht. Selbst der lokalen Tageszeitung Reutlinger Generalanzeiger war das eine Meldung ganz vorne wert. Beim SWR hat mir unlängst ein Kollege seine neue Handy-Hülle gezeigt: eine Gummi-Schutzhülle in Kassettenform. Lustige Idee, fanden wir, auch wenn wir Kassettensozialisierten natürlich mit geübtem Auge sofort erkennen können, dass das kassettengetarnte Handy ein bisschen größer und länger ist als eine originale Kompaktkassette. Bei Kassettenmaßen macht uns keiner was vor. Wir gehören der Generation an, die noch weiß, warum Kassetten und Bleistifte zusammengehören, und dass Bandsalat kein Antipasto ist. Ich beschließe, Florian Hofer, den Sänger der Consolers, nach dem Grund für das Kassettenalbum zu fragen. Mit einem Bier in der Hand treffe ich ihn im Anschluss an seinen Auftritt am Merchandising-Tisch. Als ich ihn anspreche, streicht er sich cool-verlegen die schulterlangen braunroten Haare hinter die Ohren, wie das Jugendliche eben machen, wenn sie ihren Eltern oder Lehrern Rede und Antwort stehen sollen. Ich sage, dass ich an einer Dissertation, also Doktorarbeit, über Kassetten schreibe. Er sagt: »Wow.« Ich frage, warum die Consolers Kassetten machen. Er sagt: »Weil in Berlin alle mit Kassettenrekordern rumlaufen. Weil Kassetten eben nice sind. Und weil sie sich sogar ganz gut verkaufen.« Ich sage, dass ich aber zum Beispiel in meinem Auto gar keine Kassetten mehr abspielen könne und man ja auch nirgendwo neue Kassettenradios zu kaufen bekomme. Er schaut mich an, als sei ich von vorgestern: »Bei ebay gibt’s doch jede Menge Walkmans zu kaufen. Auch Autoradios mit Kassettenplayer.« Ich habe vermutet, dass die wissenschaftliche »Hypothese vom ausgestorbenen Medium Kassette«2 in Wahrheit nicht ganz zutreffend ist, aber dass vor allem Jugendliche nun wieder Kassetten hören, ist mir neu. Dann fügt er plötzlich hinzu: »Aber wenn die hier weg sind, machen wir keine mehr.« Er lächelt mich an: »Wir haben unsere Songs als Files übers Internet an irgendeinen Kassettenproduzenten geschickt, und der hat die dann in dieser Speziallänge angefertigt und uns per Post geschickt. Aber es ist eben doch mehr ein Gag.« Kassetten werden also wohl wirklich eine Art Comeback feiern. Vielleicht sind sie sogar schon dabei. Allerdings höchstens im gleichen bescheidenen Stil 2
Herlyn/Overdick 2005, S. 7.
Vorwort | 13
und Umfang wie Vinyl-Scheiben vor ein paar Jahren. Gleichzeitig ist aber spätestens mit diesem Abend im Tübinger Sudhaus empirisch widerlegt, dass Kassetten ein ausgestorbenes Medium seien. »Kassetten sind nice.« Das finde ich auch. So lange ich mich mit Kassetten beschäftigt habe, habe ich mit vielen tollen, interessanten Menschen gesprochen, denen ich an dieser Stelle ganz herzlich und an erster Stelle für ihre Bereitschaft danken möchte, mir aus ihrem Kassettenleben zu erzählen. Auch der Firma Philips sei gedankt für die Überlassung ihrer Archivmaterialien. Besonderen Dank aussprechen möchte ich meinem Doktorvater, Prof. Dr. Jürg Häusermann, dafür, dass er diese Arbeit mit der üblichen Gelassenheit, Kompetenz und Neugier betreut und mich auf diesem Weg begleitet hat. Bei Udo Zindel von SWR2 Wissen möchte ich mich bedanken, weil er mir das ganz genaue Nachfragen und Recherchieren beigebracht hat, dieses methodische Rüstzeug, das journalistisches wie wissenschaftliches Arbeiten überhaupt erst möglich macht. Ich danke meinem Mann – nicht nur für die Einladung zu jenem Konzert im Tübinger Sudhaus. Aber auch dafür. Und ich danke Rob Sheffield dafür, dass er in seinem Pop-Roman Love is a mixtape die passenden Worte gefunden hat, um Kassettenforschung, wie ich sie über einen Zeitraum von fast drei Jahren betrieben habe, poetisch verdichtet zu überschreiben: »You go back to a cassette the way a detective sits and pours drinks for the elderly motel clerk who tells stories about old days – you know you might be somewhat bored, but there might be a clue in there somewhere. And if there isn't, what the hell? It's not a bad time anyway.«3
Tübingen, im Oktober 2017 Pia Fruth
3
Sheffield 2008, S. 218.
1 Einleitung
1.1 EIN SPRECHENDES NOTIZBUCH IM WELTRAUM: KASSETTEN SIND ÜBERALL »Three, two, one … zero«. Eine amerikanische Männerstimme ist zu hören. Die Worte sind verzerrt, als klängen sie aus einem kleinen Lautsprecher. Die typischen kurzen Sprachaussetzer lassen einen Funkspruch vermuten. Dann weitere Stimmen. Sie sind deutlicher zu hören, jubeln: »Das war ein schöner Start.« Im Hintergrund rauscht es stark, der Funkverkehr wird ein paar Sekunden später hektisch. Es geht darum, dass an Bord einige Messinstrumente ausgefallen sind. Offenbar befinden wir uns in einem Raumschiff. Kurz nach dem Start wird es zwei Mal vom Blitz getroffen. Nach einigen Minuten lässt das Rauschen und Brummen allmählich nach. Die Stimmen beruhigen sich. »Die Mission kann weitergehen«, sagt die Männerstimme, die vorher gezählt hat.4 Was zu hören ist, ist eine Aufnahme vom 14. November 1969 spätnachmittags: der Start der amerikanischen Apollo 12-Mission in Richtung Mond. Neben den drei Astronauten sind auch vier durchsichtige Kompaktkassetten aus Plastik an Bord und ein kleiner, silbern glänzender, batteriebetriebener Kassettenrekorder der Marke Sony. Auf der Klappe, die das Kassettenfach des Rekorders verschließt, ist die Bedienungsanleitung zu lesen. Mehr Platz braucht sie nicht. Denn sie umfasst gerade einmal fünf Punkte, die den Gebrauch der wenigen Knöpfe am Rekorder beschreiben. Die Astronauten sollen im Auftrag der NASA eine Art akustisches Logbuch ihrer Mission führen. Mit dem Kassettenrekorder zeichnen sie zuallererst den Start des Raumschiffs gewissenhaft auf. Genau zehn Tage, vier Stunden, sechsunddreißig Minuten und vierundzwanzig Sekunden später wassert die Kommandokapsel wieder auf der Erde und mit ihr der Rekorder und die vier Plastikkas4
https://www.youtube.com/watch?v=31qt9jgtMMI, abgerufen am 21.9.2016.
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setten. Auch sie haben ihre Mission erfüllt. Zwar sind sie unbeschriftet und ein wenig zerkratzt, aber voller persönlicher Tonaufnahmen aus dem All. Aufnahmen, die vor allem dann entstanden sind, wenn der Funkverkehr zur Kontrollstation auf der Erde abgeschaltet war. Heute sind sie im Smithsonian National Air and Space Museum in Washington ausgestellt. Unlängst haben sich ehemalige Mitarbeiter der NASA und ein amerikanischer Musik-Journalist außerdem die Mühe gemacht, Playlists von Mixkassetten zu rekonstruieren, die im Gepäck der Apollo 12-Astronauten ebenfalls von der Erde mit zum Mond und zurück geflogen sein sollen. Während der oneway dreieinhalb Tage dauernden Flugreise sollen demnach Songs von den Archies, Dusty Springfield, Herb Alpert und Elvis Presley zu hören gewesen sein. 5 Genau weiß man heute nicht mehr, welche Musik im einzelnen durchs All geflogen wurde und ob Neil Armstrong zur ersten Mondlandung wirklich Antonín Dvořáks Sinfonie Aus der Neuen Welt gehört hat. Klar ist aber, dass die drei Apollo 12Astronauten, genauso wie die der Apollo 10-Mission im Mai 19696 und auch die der kommenden Mond-Erkundungen, in der Schwerelosigkeit Musik von Kassetten gehört haben. Kurios, wenn man bedenkt, dass die wohl komplexeste Verkehrs-Technologie der Welt sich 1969 mit einer Audiotechnik verbindet, die gerade einmal sechs Jahre auf dem Markt ist und vor allem wegen ihrer Einfachheit die Menschen begeistert. Und dennoch wird am Beispiel der WeltraumMusik sehr deutlich, dass schon relativ kurze Zeit nach der Markteinführung von Kompaktkassette und Kassettenrekorder der Siegeszug dieser simplen, mobilen Audiotechnik nicht mehr aufzuhalten ist. Sie ist damals nicht nur für Sprachaufnahmen akzeptiert, sondern unter gewissen Voraussetzungen auch für Musik, für Selbstaufgenommenes und Persönliches ebenso wie für Offizielles und Kommerzielles. Ende August 1963 hatte die niederländische Firma Philips auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin erstmals ein kleines, batteriebetriebenes Kassetten-Tonband-Gerät vorgestellt: den Taschenrecorder7 3300 (Abb. 1). Er ist mobil, einfach zu bedienen, klein, robust und nicht so teuer wie die großen 5
6 7
http://www.collectspace.com/ubb/Forum14/HTML/000648-2.html, abgerufen am 13.3.2017: Gepostet am 20.11.2009 von »carl walker«: »19 November 1969. Apollo 12. The second Apollo moon landing. Pete Conrad and Alan Bean walk on the Moon, Dick Gordon remains in lunar orbit. The crew have a small tape recorder and some tapes of their favourite songs. This selection is based on the mission transcripts and a list of music obtained from Pete Conrad – music played while going to the Moon 40 years ago!« http://apollotribute2.blogspot.de/2006/04/music-to-moon-apollo-x-music-tape.html, abgerufen am 13.3.2017. Die Schreibweise der Rekorders ist in den PR- und Werbekampagnen von Philips nicht einheitlich. In wörtlichen Zitaten belasse ich sie beim Original. Ansonsten werde ich das Gerät im Folgenden Taschenrecorder nennen.
1 Einleitung | 17
Magnetbandmaschinen, die seit der Funkausstellung 1935 auf dem Markt sind. Er kostet rund dreihundert Mark, wird geliefert mit ein- und ausschaltbarem Mikrophon, Tasche, Adapter, Fernbedienung und Überspielkabel für Radio oder Schallplattenspieler. In den beiliegenden Prospekten heißt es: »Meistens werden Sie Ihre Aufnahmen mit dem zum Gerät gehörenden Mikrofon machen. Natürlich können Sie aber auch über ein Kabel Aufnahmen (Überspielungen) von Ihrem Rundfunkgerät vornehmen, sowie von Ihrem Plattenspieler oder auch von einem anderen Tonbandgerät.«8 Abbildung 1: »IFA 63«
Quelle: Archiv Philips 8
Siehe dazu das Faksimile »Datenblatt Taschenrecorder« auf Seite 18, Quelle: Archiv Philips.
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Eine einzelne leere Kassette, die so groß oder vielmehr so klein ist wie ein gewöhnliches Kartenspiel und mit je dreißig Minuten auf der Vorder- und Rückseite bespielt werden kann, gehört darum ebenfalls zur Grundausstattung und damit zur »Götterdämmerung« der Kassetten-Kultur, erinnert sich der damalige HiFiund Tonbandamateur Gert Redlich aus Wiesbaden, der später Nachrichten- und Hochfrequenztechnik zu seinem Beruf macht, in einem Interview im Jahr 2016: »Wir wollten es nicht wahr haben. Denn jetzt konnte sogar ein Biologie-Lehrer auf dem Schulausflug ganz simple Tonaufnahmen machen und uns in der Biologiestunde ganz einfach wieder vorspielen. Und er hatte nicht Tonmeister studiert, er war ›nur‹ ein Biologie-Lehrer. Absolut fatal für unser Ego, denn jetzt konnte es jeder: Töne einfach und simpel aufnehmen, ohne zu übersteuern, und alle konnten es verstehen. Nur wir nicht, die wir uns nächtelang mit der optimalen Aussteuerung von diversen Tonbändern, Materialien und Typen beschäftigt hatten.«9
Das alles scheint mit dem Erscheinen des Philips Taschenrecorders und der praktischen kleinen Kassette überholt. Der einzige Wermutstropfen: Das handliche Gerät kann im Gegensatz zum schweren, großen Spulentonbandgerät erst einmal nur mono aufnehmen und abspielen.10 Vor allem unter Jugendlichen hat das Interesse am Umgang mit Tonaufnahmen auf Magnetband bereits in den Jahren zuvor stetig zugenommen. Viele träumen seit den fünfziger Jahren vom Kauf eines eigenen Heimtonbandgeräts11 von Grundig, AEG oder Philips zum Beispiel, um Musik aus dem Radio oder von Langspielplatten aufzunehmen und abzuspielen. Oder um selbst Hörspiele herzustellen. Aber die großen Spulentonbandgeräte sind im Verhältnis zum monatlichen Taschengeld sehr teuer und ohne technisches Grundverständnis schwer zu bedienen. Und so bleiben sie für viele ein unerfüllbarer Traum, obwohl Hersteller wie Max Grundig Mitte des Jahrzehnts mit preisgünstiger Massenware auf den Markt drängen: »Sein Rezept war einfach. Es hieß – wie später bei der japanischen Konkurrenz – billige Massenproduktion. Geräte zum erschwinglichen Preis, bei ständig verbesserter Qualität, mit immer neuen technischen Raffinessen und von jener schaurig-protzigen Schönheit, für die die Nachkriegsdeutschen ihr Herz entdeckt hatten. Damit überschwemmte er den Markt.«12
Trotzdem setzen sich die großen, schweren Tonbandgeräte mit ihren riesigen Spulen im Alltag der Menschen nicht durch. Mit dem neuen Kassettenrekorder 9 10 11 12
Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2016. Datenblatt und Pressemitteilung vom August 1963, Quelle: Archiv Philips. Jugendwerk der Deutschen Shell 1966. Bronnenmeyer/Grundig 1999, S. 35.
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wird sich das ändern. Das Gerät ist mobil, einfach zu bedienen und langfristig für jeden erschwinglich. In der Vorab-Pressemitteilung von Philips zur Funkausstellung heißt es am 26.8.1963 darum hoffnungsvoll: »Dieses batteriebetriebene Gerät kann ganz bequem in einer Aktentasche überall mithingenommen werden und ist ein ideales ›sprechendes Notizbuch‹. Die Verwendung einer neu entwickelten Tonbandkassette mit dem großen Vorteil des überaus einfachen Bandwechsels, die narrensichere Bedienung durch nur zwei Tasten, […] und das breite Anwendungsgebiet eines solchen handlichen Tonbandgerätes machen den Philips-Taschen Recorder 3300 sicher zu einem Hauptanziehungspunkt auf der Funkausstellung.«13
Doch in den Medien wird zunächst kaum über das neue Taschentonband berichtet. Und auch das Publikumsinteresse auf der Ausstellung ist mäßig, erzählt Lou Ottens, der belgische Konstrukteur der Firma Philips, vierzig Jahre später in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit. »Ich erinnere mich, dass dort viele Japaner waren, die wenig sagten und Fotos machten. In der Zeit danach kamen allerhand Nachahmungen unserer Kassette aus Japan auf den Markt.«14 Kassetten aus Fernost – vor allem aus dem chinesischen und japanischen Raum – überschwemmen in der Folgezeit regelrecht die gesamte Welt. Nach anfänglichen Rangeleien einigen sich alle Kassetten- und Rekorderproduzenten auf die selben Maße, die Philips mit dem ersten Rekorder in den Markt eingeführt hat. Weltweit können nun Kassetten jeder Marke in jedem beliebigen Rekorder abgespielt werden. Das ist ein internationaler Erfolg für die neue Leerkassette und den kleinen Rekorder, der selbst für Ingenieur Ottens überraschend kommt. »Es hat lange gedauert, bevor ich verstanden habe, dass wir damals bei Philips eine Revolution in Gang gesetzt haben. […] Eigentlich realisiere ich das erst seit Kurzem.« Zum ersten Mal in der Geschichte der elektronischen Medien können die Menschen auch ohne technische Grundkenntnisse auf ein- und demselben mobilen Gerät aufnehmen und abspielen. Niemand muss mehr komplizierte Bandwechsel mit riesigen Spulen vollbringen, die komplette Technik steckt in einem praktischen Gehäuse und ist denkbar einfach zu bedienen: »Schwupp – die Cassette15 rein, schnapp – den Knopf gedrückt und schon macht er Musik« wird zum allgegenwärtigen Werbe-Slogan der Firma Philips (Abb. 2).
13 14 15
Pressemitteilung vom 26.8.1963, S. 7, Quelle: Archiv Philips. Duk 2013, abgerufen am 2.10.2016. Auch für die Bezeichnung der Kassette existieren verschiedenste uneinheitliche Schreibweisen, die sich im Lauf der Jahre zum Teil auch verändert haben. Ich habe hier ebenfalls in wörtlichen Zitaten die Original-Schreibweise belassen, werde in meinem eigenen Text aber einheitlich die Schreibweise Kompaktkassette oder Kassette, beziehungsweise die Schreibweise Kassettenrekorder verwenden.
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Abbildung 2: »Ein kleines Wunderwerk«
Quelle: Archiv Philips
Plötzlich ist es tatsächlich möglich, eigene oder industriell gefertigte Musik und Sprachaufnahmen überall zu hören – im Bett (Abb. 3), beim Bügeln, im Auto oder im Freien auf der Veranda.
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Abbildung 3: »Im Bett«
Quelle: Archiv Philips
Möglichst bald nach dem Kauf oder Geschenk eines Taschenrecorders sollen die neuen Besitzer einen Fragebogen zum Umgang mit Rekorder und Leerkassette ausfüllen, der jedem neuen Gerät beiliegt. Diese Fragebögen werden an Philips zurückgeschickt und dort ausgewertet. Die ermittelten Informationen zur Nutzung von Kassette und Rekorder finden schon bald Niederschlag in groß angelegten Werbekampagnen: »... ja, diese Cassette ist leer. Im Augenblick noch«, steht 1966 beispielsweise in einer Anzeige der Illustrierten Quick. Und weiter:
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»Sie lässt sich ›füllen‹ von Ihnen. Mit Ihrer Musik z.B., wenn Sie selbst musizieren – oder mit Ihrer Stimme oder der Ihres Jüngsten oder mit allem, was man hören kann. Diese Cassette bietet Ihnen 1 Stunde ›Platz‹ für die vielen Dinge, die es lohnt festzuhalten. Babys erste Worte. Vaters Ansprache. Das Flötenspiel der Tochter. Die spanischen Volkslieder aus den Ferien für die Dias. Den Reisebericht des Geschäftsmannes ...«
Dass es noch viele andere Einsatzmöglichkeiten für den Taschenrecorder geben wird, dass Ende der siebziger Jahre eine junge, wilde Musikbewegung namens Punk Kassetten als »Demobänder« nutzt und Tausende sogenannter »KassettentäterInnen« ihre selbst produzierten »Tapes« rund um die Welt schicken, dass Kassetten zu den wenigen Medien gehören, die bis 1989 scheinbar mühelos die deutsch-deutsche Mauer überwinden und Kommunikation durch den Eisernen Vorhang möglich machen, dass sich bis weit in die neunziger Jahre hinein die Beliebtheit junger Mädchen an der Anzahl der für sie bespielten Mixkassetten messen lässt16 und gleichzeitig Millionen Kinderzimmer mit Hörspielen von Kassette beschallt werden, dass die Kassette bis heute in Afrika und Südasien ein gebräuchlicher Tonträger ist, »robust und haltbar, resistent gegen Staub und Extremtemperaturen«17 – das alles ahnt damals freilich noch niemand. Das alles soll jedoch Thema dieser Arbeit sein. Es geht darum zu zeigen, wie ein Medium, das in der wissenschaftlichen Fachliteratur bislang kaum dargestellt wird, zum am weitesten verbreiteten elektronischen Medium seiner Zeit wird, zum festen Bestandteil der Alltagskultur. Kurz: Wie sich in Deutschland und vielen anderen Ländern der Welt eine »Kassettenkultur« entwickelt. Cultural Studies und Kassettenkultur Was dieser kurze Überblick bereits gezeigt hat: Kassetten werden von den unterschiedlichsten Menschen und mit unterschiedlichsten Absichten verwendet: um Hits aus dem Radio aufzunehmen, aber auch um Urlaubsphotos zu vertonen, um die »Stimme des Volkes« ins Radio zu holen, um Sprachen zu lernen, Autofahrten unterhaltsamer zu gestalten oder lange Wartezeiten zu überbrücken. Ebenso wenig wie eine einheitliche, quantitativ beschreibbare Mediennutzung gibt es also klar typisierbare Mediennutzer. Es existieren vielmehr viele individuell verschiedene Kassettennutzer, die individuell verschiedene Dinge mit ihren Kassetten machen, was wiederum eine umfängliche Mediennutzungsforschung an der Kompaktkassette schwierig macht. Ebenso verhält es sich mit der mediengeschichtlichen Betrachtung von Kompaktkassetten. Es gibt viele historische, soziale und technische Impulse, die schließlich zur Entwicklung des Kas16 17
Stuckrad-Barre 2007. Duk 2013, abgerufen am 2.10.2016.
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settensystems und damit auch zur Ausbildung von Kassettenkultur führen. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass sich eben darum keine eindeutige Technikgeschichte der Kompaktkassette schreiben lässt, sondern dass wir es mit vielen verschiedenen Technikgeschichten zu tun haben: neben einer Geschichte der Speichermedien gibt es auch eine Geschichte der Magnetbandtechnologie oder eine der technischen Miniaturisierung. Und es lassen sich neben diesen Technikgeschichten auch verschiedene Sozialgeschichten als Entwicklungsgeschichten der Kassette untersuchen, neben einer Geschichte der Mobilität zum Beispiel auch eine Geschichte von Populär- und Jugendkultur. Alle diese Geschichtsschreibungen verlaufen in sich dabei keineswegs linear, sondern werden gestoppt, unterbrochen oder an anderer Stelle weitergeführt. Sie sind miteinander und mit vielen anderen Konzepten von Geschichtsschreibung verschränkt. Es ist also unmöglich zu behaupten, Kompaktkassetten seien aus diesem einen oder jenem anderen gesellschaftlichen Bedürfnis heraus entwickelt worden oder ein bestimmter Umgang mit Kassetten ließe sich wiederum mit der einen oder anderen technischen Entwicklung begründen. »Es ist klar, dass keine Technologie direkte, geradlinige Auswirkungen hat – nicht zuletzt deshalb, weil man mit der Frage beginnen muss, welche Menschen (auf unterschiedliche Weise) eine gegebene Technologie als relevant bzw. irrelevant ansehen, und wie sie diese in ihrem spezifischen Lebenszusammenhang ignorieren, mobilisieren oder nutzen.«18
Zu guter Letzt gibt es auch keine fest- oder vorgeschriebenen Muster, um mit dem Massenmedium Kassette Kommunikation zu betreiben, was neben der Mediennutzungsforschung oder der Erforschung von Mediengeschichte ein weiteres klassisches Forschungsfeld der Medien- und Kommunikationswissenschaften wäre. Es ergeben sich aber mit und über Kassetten die unterschiedlichsten Diskurse. Ein Mixtaper wird anders mittels Kassetten kommunizieren als ein Hörspiellabel, ein Punkmusiker anders als ein Radioreporter. Kassettenkommunikation kann mithin in direkter Kommunikation, also face to face, stattfinden. Sie kann aber auch medial vermittelt erfolgen. Sie kann privaten oder öffentlichen Charakter haben, den Gesetzen der Massenkommunikation folgen oder denen des Dialogs zwischen Menschen. Sie kann mit nur einem Akteur stattfinden, als Zwiegespräch oder in einem kommunikativen Netzwerk mit unendlich vielen Akteuren. Sie kann sogar als Kommunikation über das Medium stattfinden, als »Kassettengeschichte«19 wie man sie zum Beispiel häufig in belletristischen Büchern oder im journalistischen Feuilleton findet.
18 19
Morley 2010, S. 41. Vgl. Herlyn/Overdick 2005.
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Stellt sich also die Frage: Wie und nach welchen Kriterien lässt sich ein Phänomen wie die Kompaktkassette eigentlich überhaupt untersuchen oder wissenschaftlich erforschen? Die erste Antwort auf diese Frage muss lauten: Um sich einem so vielgestaltigen und facettenreichen Medium wie der Kompaktkassette wissenschaftlich nähern zu können, gibt es keine andere als eine interdisziplinäre Herangehensweise. Ein isoliert historischer, kommunikations-, medien- oder kulturwissenschaftlicher Ansatz, der andere Ansätze ausblendet, würde das Phänomen Kompaktkassette und die Entstehung einer Kassettenkultur nicht abbilden können. Stattdessen gilt es, in vielen verschiedenen Disziplinen – in der Neurologie ebenso wie in der Erziehungswissenschaft, in der Medienwissenschaft ebenso wie in der Pädagogik oder der Soziologie – in Sachen Kassettenkultur auf Spurensuche zu gehen. Die zweite Antwort auf diese Frage muss lauten: Kassettenkultur kann nur multiperspektivisch beschrieben werden. Weil wissenschaftlich kein einheitlicher Begriff von Kultur besteht, weil Kultur weder Massenkultur noch elitäre Minderheitenkultur meint, weil mit Kultur auch kein territoriales Konzept einer homogenen Nationalkultur gemeint ist, sondern vielmehr eine Verdichtung bestimmter Muster, Verhaltensweisen und Werte, ein von Gefühlen und Emotionen durchzogenes Bedeutungssystem also, »wird davon ausgegangen, dass die Gesellschaften einzelner Staaten in eine Vielzahl von Kulturen bzw. Subkulturen zerfallen, wie beispielsweise die Kulturen der Arbeiter(-klasse), bürgerliche Kulturen, Jugendkulturen, etc.«20 Die Vorstellung von Medienkultur geht darüber hinaus davon aus, dass durch die Mediatisierung von Kultur alle Bereiche des Alltags mit und durch Medien geformt werden. »So können wir Medienkulturen als Kulturen definieren, deren primäre Bedeutungsressourcen durch technische Kommunikationsmedien in einem konfliktären Prozess vermittelt bzw. zur Verfügung gestellt werden. Kultur ist dabei eine Verdichtung von Klassifikationssystemen und diskursiven Formationen, auf die die Bedeutungsproduktion in alltäglichen Praktiken Bezug nimmt.«21
Strebt man also eine medienkulturelle Betrachtung an, so ist es nötig, bei der Untersuchung verschiedene Teil-Perspektiven von Kultur einzunehmen. Konkret bedeutet das: Kassettenkultur lässt sich nur in den sich teils überlappenden und teils sogar widersprüchlichen Perspektiven ihrer Teilkulturen – als Subkultur, Populärkultur, Widerstandskultur, Massenkultur, Technikkultur, Alltagskultur, und so weiter – und ihren jeweiligen Diskursen beschreiben. 20 21
Hepp 2010, S. 44. Hepp u. a. 2010, S. 21.
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Die dritte Antwort auf diese Frage lautet: Man kann Kassetten und Kassettenkultur nur ausgehend vom eben bereits angedeuteten Begriff der Kulturpraktik untersuchen, indem man spezifische Handlungsformen in ihrem soziokulturellen und diskursiven Kontext beschreibt, von dem sie sich nicht trennen lassen. Man kann dabei zwei verschiedene Typen von Handlungsformen oder Praktiken unterscheiden: Praktiken, die der Produktion von Kulturobjekten dienen, und Praktiken, die dem Konsum von Kulturobjekten dienen. »Ein solches Verständnis von Kulturprodukten als ›Durchgangspunkte sozialer Praxis‹ […] führt zu einer Betrachtungsweise, bei der nicht nach dem einzelnen Produkt gefragt wird, sondern mit der Produktanalyse gleichzeitig nach den Kontexten und Praktiken der Produktion und Konsumtion.«22 Eine vierte und letzte Antwort, die ich auf diese Frage geben möchte, ist: Kassettenkultur kann nur über eine genaue Beschreibung erforscht werden. Es ist nicht möglich, Kassettenkultur in ihrer Gesamtheit mittels singulärer Theorien zu analysieren. Kassettenkultur ist – wie in den Ausführungen weiter oben gezeigt – so vielgestaltig, dass ein abstraktes Theoretisieren immer zu kurz greifen muss. Oder dass Kassettenkultur auf einzelne Kulturpraktiken – wie etwa das Mixtapen – beschränkt werden müsste, um darauf eine Theorie anwenden zu können. Umgekehrt ergibt sich aus einer genauen, multiperspektivischen, interdisziplinär angelegten und kontextualisierten Beschreibung von Kulturpraktiken im Umgang mit Kassetten das schillernde Bild einer Medienkultur, das sich möglicherweise auch als exemplarisch, modellhaft oder flankierend für die Betrachtung heutiger Medienphänomene wie einer Smartphonekultur heranziehen lässt.23 Einen idealen Forschungsrahmen für die Erforschung von Kassettenkultur habe ich folglich in der interdisziplinären Tradition der Cultural Studies gefunden. Seit ihrer Entstehung Mitte der sechziger Jahre in Birmingham und zunächst geprägt durch die Arbeiten von Stuart Hall, bemühen sich die Cultural Studies um die wissenschaftliche Erforschung kultureller Praktiken und ihr Verhältnis zur Macht. Kultur wird im Sinne Stuart Halls und der Cultural Studies dabei weder als System betrachtet, das hochwertige künstlerische Werke wie Musikstücke, Bilder oder Literatur hervorbringt, noch als etwas, das überall vorhanden, beliebig und nicht genau definierbar ist. Die Cultural Studies wenden sich mit ihrer Auffassung von Kultur also zum einen gegen den schwarz-weißmalerischen Gedanken der Hoch- oder Massenkultur, zum anderen aber auch gegen den inflationären Gebrauch des Begriffs »Kultur«. Nicht alles, was mus22 23
Hepp 2010, S. 47. Vgl. Kapitel 5 Bandsalat: Eine Schlussbetrachtung.
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terhaft oder häufig gebraucht wird, ist gleichbedeutend mit einer Kultur. Vielmehr ist Kultur – und insbesondere Medienkultur – etwas, das sich in einem »radikalen Kontextualismus«24 untersuchen und darstellen lässt und sich in seiner Gesamtheit manifestiert in einem sogenannten »Kreislauf der Kultur«, das heißt auf verschiedenen Ebenen: der Ebene der Produktion, der Ebene von (sprachlicher) Repräsentation, der Aneignung, der Identifikation und der Regulation.25 Auf die Kassette übertragen bedeutet das, dass sich Kassettenkultur auf diesen verschiedenen Ebenen untersuchen und beschreiben lässt, es also konkret darum gehen muss, herauszufinden und darzustellen, wie Kassettensysteme und ihre Inhalte hergestellt werden, wie Kassettentechnologie im Alltag auch schriftlich und sprachlich repräsentiert wird, was die Nutzer von Kassetten mit den Tonträgern machen, welche Bedeutungen Kassetten zugeschrieben bekommen und wie der Umgang mit ihnen schließlich reguliert wird. Die Vorstellung des radikalen Kontextualismus' verpflichtet weiterhin dazu, Kassettenkultur aus verschiedenen Perspektiven, aber immer in ihren Kontexten zu beschreiben, denn »der Kontext ist alles, und alles ist kontextuell.«26 Quellen und der Umgang damit Ausgehend von dieser Feststellung und von der Verankerung dieser Arbeit in der Tradition der Cultural Studies bleibt jedoch eine wichtige Frage nach wie vor offen: Wie gelangt man zu einer klaren Vorstellung von Kontexten und Perspektiven, in denen Kassettenkultur untersucht, erforscht und beschrieben werden soll? Wie eingangs dargestellt, gäbe es unendlich viele Möglichkeiten, Kassetten zu kontextualisieren, schon aufgrund der Tatsache, dass sie während ihrer Blütezeit in nahezu allen Bereichen des täglichen Lebens präsent und sogar nach ihrem scheinbaren Verschwinden noch immer »irgendwie da« sind. Denken wir beispielsweise an das im Vorwort zu dieser Arbeit beschriebene Konzert der Consolers in Tübingen. Die Literatur gibt auf diese Frage keine zufriedenstellende Antwort, denn die wissenschaftliche Quellenlage zur Kompaktkassette ist bis jetzt sehr dürftig. Wenn überhaupt, sind Kassettensysteme nur punktuell und in sehr spezifischen, jedenfalls keineswegs gesamtkulturell repräsentativen Kontexten untersucht worden: im Kontext der gesellschaftlichen Mobilität und technischen Miniaturisierung etwa, wenn man an den Walkman denkt, 27 oder in pädagogischen Kon24 25 26 27
Hepp 2010, S. 18. Hepp u. a. 2010, S. 17. Kleiner 2012, S. 24. Vgl. zum Beispiel: Du Gay 1997, Weber 2008, Röther 2012, u.a.
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texten, wenn Kassetten als für den Schulunterricht geeignete Medien untersucht werden.28 Nicht beschrieben worden ist die Kompaktkassette dagegen bisher beispielsweise als spezifischer Teil eines technisch, historisch oder sozial kontextualisierten Medienverbundsystems. Im Vergleich zu anderen Tonträgern wie Tonbandgeräten, Schallplatten, CDs oder zu anderen Massenmedien wie Radio oder Fernsehen ist die Kassette als solche nirgends wissenschaftlich in den Fokus genommen worden, sondern fristet in der Forschung ein kümmerliches Nischendasein. In den letzten Jahren hat sich die allgemeine Quellenlage zwar etwas verbessert – wohl auch ausgehend vom fünfzigjährigen Jubiläum des Kassettensystems im Jahr 2013. Allerdings sind die meisten der jüngsten Veröffentlichungen zum Thema Kassette entweder pop-feuilletonistischer oder belletristischer Natur.29 Natürlich können und müssen auch solche Texte zur Analyse und Beschreibung von Kassettenkultur herangezogen werden. Sie müssen dann aber im Sinne einer Diskursanalyse als primäre Quellen betrachtet werden. Einen Ersatz für wissenschaftliche Forschungsliteratur stellen sie nicht dar. Andere primäre Quellen liegen zum Beispiel in Form von historischen Archivmaterialien vor, die mir freundlicherweise von der Firma Philips zur Verfügung gestellt wurden, aber keinerlei systematische oder sonstige Ordnung haben. Auf Nachfrage schickte mir das Unternehmen in zwei Pappkartons Hunderte loser Archivalien: Negative zu unveröffentlichten Pressephotos, Bögen zur Kundenbefragung, Artikel aus Hauszeitschriften, Originale von maschinegeschriebenen Pressemitteilungen auf brüchigem blauen Fließpapier, die zudem nur fragmentarisch erhalten sind, undatierte, aus Zeitschriften ausgeschnittene und auf Karton aufgeklebte Werbeannoncen, Faltblätter mit technischen Daten und Gebrauchsanweisungen zum Umgang mit speziellen Rekordertypen, um nur einige wenige aufzuzählen. Für mich als Journalistin und Wissenschaftlerin stellen diese Archivmaterialien eine besonders faszinierende Forschungsgrundlage dar, mit der ich mich ausführlich beschäftigt habe. Nachdem ich die Quellen gesichtet, geordnet, kategorisiert und bewertet hatte, war ich einer Antwort auf die Frage nach Untersuchungsperspektiven, -kontexten und -methoden, wie sie nun in der vorliegenden Arbeit zur Anwendung kommen, einen entscheidenden Schritt näher gekommen: Ich habe zum einen den auf Glaser und Strauss (1967) zurückgehenden qualitativen Forschungsstil der Grounded Theory geeignet gefunden, um die in den Daten, Texten und Bildern schlummernden theorieleitenden Zugänge zu entdecken und zu beschreiben. Beim Verfahren der Grounded Theory, die im Deut28 29
Vgl. zum Beispiel: Hengst 1979, Schill 1996, Germann 1996, u.a. Vgl. Bonner/Weiss 2016, Stuckrad-Barre 2007, Sheffield 2008, u.a.
1 Einleitung | 29
schen auch ein wenig irreführend »Gegenstandsbezogene Theorie« genannt wird, handelt es sich nicht um die Anwendung einer Theorie auf einen Forschungsgegenstand. Es geht vielmehr darum, in der Auseinandersetzung mit diesem Hypothesen zu entwickeln, zu überprüfen, zu modifizieren und schließlich zu Theorien zu erhärten. Darum wechseln sich beim Verfahren der Grounded Theory iterativ Phasen der Quellensichtung, der Auswertung, der Interpretation und Kontextualisierung und der Neuformulierung wissenschaftlicher Hypothesen ab. An die Bildung neuer Hypothesen schließt sich wiederum neue Feldforschung an, und Forschungskategorien – im konkreten Fall Kategorien von Untersuchungskontexten und -perspektiven – ergeben sich schließlich anhand immer wiederkehrender Muster bei der induktiven und abduktiven Interpretation der Quellen. Grounded Theory ist also genau genommen keine einzelne Forschungsmethode, sondern eine Reihe ineinander greifender Verfahren. »As such, researchers begin with inductive cases and define an intriguing finding, which they attempt to explain. Abductive reasoning involves the imaginative interpretation of accounting for this finding by entertaining all possible theoretical interpretations, and then checking these interpretations against experience until arriving at the most plausible theoretical explanation.«30
Mit Hilfe der Grounded Theory wurde mir zudem recht schnell klar, dass das vorliegende primäre und sekundäre Quellen- und Dokumentenmaterial und meine eigenen beruflichen und privaten Erfahrungen im Umgang mit Kassetten nicht ausreichen würden, um umfängliche Forschungskategorien und -hypothesen zu bilden oder Kulturpraktiken im Umgang mit der Kassette im Detail zu beschreiben. Viele Photos oder Werbeannoncen können nur mit Hilfe von Zeitzeugen und deren autobiographischen Erfahrungen hinreichend interpretiert werden. »Wir bleiben angewiesen auf biographische Interviews, die die verbliebenen Leerstellen füllen, vor allem aber das Kontextwissen bereitstellen, durch das ein Text-, Ton- oder Bilddokument erst verstanden wird.«31 Darum, und weil es meiner täglichen Arbeit beim Radio sehr entspricht, habe ich anhand narrativer Interviews mit Zeitzeugen, anhand »medienbiographischer Erzählungen«32, weitere primäre Quellen generiert, die sich mit Grounded Theory bearbeiten und interpretieren lassen. Ich habe verschiedene Zeitzeugen dafür ausgewählt, die direkt und intensiv, vor allem aber in verschiedenen Kontexten und über längere Zeit mit Kassetten zu tun hatten. Nach jedem Gespräch habe
30 31 32
Charmaz 2008, S. 471. Baacke u. a. 1990, S. 20. Baacke u. a. 1990.
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ich zunächst einmal den genauen Wortlaut desselben transkribiert. 33 Anschließend habe ich Aussagen, Überlegungen, Berichte und Erzählungen meiner InterviewpartnerInnen in Zusammenhang mit dem bereits vorhandenen ArchivMaterial und entsprechender Literatur gebracht, wobei entsprechend der Vielschichtigkeit des Untersuchungsgegenstandes ein Mix aus verschiedenen interpretativen Methoden wie etwa Diskurs- oder Einzelfallanalyse zum Einsatz gekommen ist.34 Dabei sind ganz im Sinne der Grounded Theory neue Leerstellen und offene Fragen zutage getreten, die für die Auswahl des oder der nächsten InterviewpartnerInnen entscheidend waren. So sind insgesamt acht Interviews von einer Dauer zwischen einer und zweieinhalb Stunden zusammengekommen. Sechs dieser Interviews habe ich im direkten Dialog face to face geführt. Die näheren Umstände beschreibe ich am Ende dieses Abschnitts. Zwei Interviews wurden von mir telefonisch geführt, weil aus privaten Gründen seitens meiner Interviewpartner kein direktes Treffen zum gewünschten Zeitpunkt möglich war. Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass Telefon-Interviews weniger flexibel sind als direkte Interviews, weil ihnen zur Interpretation des Gesagten die visuelle Ebene fehlt und das Interview damit eine Beschränkung erfährt. Dennoch haben beide Interviews viele Informationen geliefert, die zum Fortschreiten der Arbeit wesentlich beigetragen haben.35 Bei der Gestaltung und Durchführung der Interviews habe ich mich im Wesentlichen an die Traditionen und Techniken der Oral history gehalten, in der Personen aus verschiedenen Milieus und gesellschaftlichen Kontexten für die Nachwelt ihre Sichtweise auf die Geschichte und ihre eigenen Lebenswelten schildern. Oral history wird als Methode vor allem in der Erforschung von All33
34
35
Zur besseren Lesbarkeit habe ich direkte Zitate aus diesen Interviews für die vorliegende Arbeit etwas »geglättet«, etwa Pausen und Wiederholungen gestrichen, wenn sie nicht sinntragend waren, oder angefangene Sätze, denen Satzteile wie Verben oder Subjekte fehlten, um diese ergänzt. Ich habe derartige Veränderungen an den Texten nur vorgenommen, wenn sich dadurch nichts am Sinn der eigentlichen Aussage verändert hat. In der noch recht jungen Disziplin der Populär- und Popkulturforschung gibt es seit einigen Jahren eine noch offene Methodendebatte, die bislang vor allem zu der Einsicht gekommen ist, dass es keine universale Methode zur Erforschung populärkultureller Phänomene gibt, sondern jeder Gegenstand und jede Fragestellung einen eigentümlichen Methodenmix erfordert. Vgl. Kleiner 2012, S. 24. In der qualitativen und quantitativen Sozialforschung sind Telefon-Interviews zur Erhebung grundsätzlich zugelassen. Da jedoch der visuelle Kanal im Vergleich zu direkten Befragungen fehlt, wird explizit auf die erhöhten Anforderungen an die Geschicklichkeit der Interviewer hingewiesen. Vgl. de Leeuw 2008, S. 319: »However, just as in face-to-face interviews, well-trained interviewers are an advantage. In telephone surveys the interviewer can assist respondents in understanding questions, […] and probe for answers on open questions.«
1 Einleitung | 31
tagsgeschichte angewendet, um eine reine Geschichtsschreibung der Eliten zu unterbinden und ihr eine Geschichtsschreibung der einfachen Leute gegenüberzustellen. Besonders in der Frühzeit der Oral History versprach man sich von dieser Methode, dass die offizielle Geschichtsschreibung eine demokratischere würde. »With this unashamedly political and partisan approach to history, a contribution to the histories of elites was always going to be less likely.«36 Diese Ideen kommen meinem eigenen Forschungsziel sehr nahe. Auch mir ist daran gelegen, Kassettenkultur nicht rein elitenzentriert zu beschreiben. Natürlich soll im Folgenden die Rede sein von Erfindern, Königen, Industriellen, Gesetzgebern, Lehrern und Feuilletonisten. Es sollen aber auch die Perspektiven eingenommen werden von Jugendlichen, Kindern, Raubkopierern, Hausbesetzern, Hausfrauen, Musikern, Kassettenaktivisten und Autofahrerinnen. Um von meinen InterviewpartnerInnen also möglichst viel über ihre Alltagswelten und den Umgang mit Kassetten zu erfahren, habe ich eine offene Interviewform gewählt, die darauf ausgelegt war, die Interviewten selbst zum Sprechen zu bringen und sie nicht in ein Gespräch zu zwingen, in dem sie bloße Antwortgeber sind. Vielmehr ging es mir darum, biographische Erinnerungen zur Kompaktkassette möglichst störungsfrei entstehen zu lassen und nur an entscheidenden Stellen rück- beziehungsweise weiter zu fragen. Dies ist vor allem wichtig, um die Interviewten in der Narration selbst Schwerpunkte setzen zu lassen, um also beispielweise herauszufinden, in welchen Alltagsbereichen Kassetten für die Erzählenden wirklich wichtig waren. Dass Kassetten über viele Jahre tatsächlich eine entscheidende und auch emotionale Rolle im Alltag meiner Interviewpartner gespielt haben und teilweise bis heute spielen, konnte ich unschwer daran erkennen, dass alle angefragten Interviews prompt und mit viel innerer Beteiligung der Interviewten zustande gekommen sind. Als Erzählstimuli haben wir in beiderseitigem Einverständnis meist persönliche Kassetten, Schallplatten, Studiotechnik oder bestimmte Schriftstücke gewählt. In Einzelfällen habe ich als Erzählstimulus bewusst auch einzelne der oben genannten Archivalien benutzt. In den meisten Fällen wurden die Stimuli für Kassettengeschichten aber bereits von den Interviewten zum Gespräch mitgebracht oder während des Gesprächs herausgeholt und gezeigt. Einiges davon dufte ich im Anschluss an die Interviews als weiteres Quellenmaterial für meine Arbeit mit nach Hause nehmen.
36
Bornat 2008, S. 348.
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Interviews, Lebensgeschichten und Erzählstimuli So habe ich zum Beispiel einen hochinteressanten Nachmittag mit dem pensionierten Ingenieur, HiFi-Fachmann und -sammler Gert Redlich verbracht. Wer sich für Technikgeschichte interessiert, stößt früher oder später auf die bunten, anekdotenreichen Museumsseiten37, die Gert Redlich im Internet betreibt. Er selbst lebt auf einem ehemaligen Bauernhof im hessischen Wiesbaden. Scheune, Garage, Ställe und Heuboden sind – nach eigenen Angaben – mit 920 Kilogramm wichtiger HiFi-Zeitschriften, mit Reparaturzubehör und audiovisuellen Geräten aus nahezu allen technikgeschichtlichen Epochen vollgestellt. Vom Kinoverstärker, über Kameras, frühe Tonbandgeräte, historische Geräte zur Schallaufzeichnung, Schreibmaschinen, Radios, Lautsprecher, Schnittgeräte, Musiktruhen bis hin zu Kassetten, Schallplatten und Tonbändern aller Art reicht das Anschauungsmaterial. Mit Gert Redlich habe ich nicht nur praktisch alle Modelle verfügbarer Audio- und Videokassetten angeschaut. Ich habe im wahrsten Sinn des Wortes in sie hineingeschaut. Denn die meisten Exemplare waren für meinen Besuch auseinandergebaut, um die Bandwickel oder Spulen und die zur besseren Gleitfähigkeit der Bänder beschichteten Innenseiten des Gehäuses genau in Augenschein nehmen zu können. Im Anschauungsunterricht und in den dadurch stimulierten Interviews habe ich gelernt und begriffen, was Miniaturisierung von Technik in der Praxis bedeutet und warum eine gute »Usability« für den Erfolg eines Mediums entscheidend ist. »Die Kompaktkassette von Philips hat einen Umschwung in der Bedienbarkeit von Technik aller Art hervorgerufen oder angekurbelt oder initiiert. Und dann kann man sich natürlich fragen: Wo überall ist das extrem aufgetreten und warum erstmals 1963?«38 Gert Redlich, der in seinem Leben selbst als Filmvorführer, Diskotheken- und Tanzschulenbauer, Hochfrequenztechniker und Toningenieur gearbeitet hat, gab mir zum Abschluss dieses Tages einen 1963 gebauten Philips Taschenrecorder mit. Ich habe den Kassettenrekorder seither oft in die Hand genommen, seine Anschlüsse und Anzeigen untersucht und beschrieben. Einen ähnlich spannenden und doch ganz anderen Nachmittag habe ich mit Markus Bella in seinem Wohnzimmer in Tübingen erlebt. Für unser Interview hatte der Musiker und Lehrer einen ganzen Karton voll interessanter Materialien auf dem Wohnzimmertisch aufgebaut. Wir haben gemeinsam Kassetten und CDs gehört, in Fanzines geblättert und die Rückseiten von Tonbandkartons studiert. Markus Bella war in der Tübinger Kassettenszene der achtziger Jahre unter dem Pseudonym Le Marquis als Musiker, Produzent und Fanzinemacher aktiv. Die Initialzündung zu einer musikalischen Karriere begann im Jahr 1963, im selben 37 38
Vgl. hifimuseum.de, tonbandmuseum.info, magnetbandmuseum.info, u.v.a. Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2016.
1 Einleitung | 33
Jahr also, in dem in Berlin der Kassettenrekorder auf den Markt kam. Markus Bella reiste damals als kleiner Junge mit seinen Eltern nach Ungarn in die Heimat seines Vaters. Dort bekam er zum ersten Mal einen Flügel zu Gesicht. Es folgte eine viele Jahre dauernde klassische Klavierausbildung, die unter anderem auch in die Punkmusik führte: »Und sehr beeinflusst bin ich auch in meiner Klavierausbildung gewesen von Bartók, der ja auch mit dem Phonographen durch die Lande zog und Volkslieder aufgenommen und die dann praktisch umgearbeitet hat mit Mitteln der Atonalität oder damals der modernen Klassik. Und das ist so eine Spannung, die ich zeitlebens interessant fand. Also, jetzt nicht so etwas Eindeutiges hinstellen, sondern etwas, wo die Dinge anfangen, über sich selbst hinauszuwachsen, anders zu werden.«39
Kennengelernt hatte ich Markus Bella bei einem Vortrag im Tübinger Landratsamt zum Thema Kassettenkunst. Zum Abschluss unseres Gesprächs knapp zwei Jahre später durfte ich den Karton voller Zeitungsartikel, Fanzines, Bücher über Punk und die deutsche Kassettenszene mit nach Hause nehmen. Einen angenehmen, kuriosen und unterhaltsam-informativen Vormittag habe ich auch mit Frank Apunkt Schneider in seiner Wohnung in Bamberg verbracht: »Hauptberuflich bin ich eigentlich Plattenhändler. Oder zumindest stark nebenberuflich. Also, ich arbeite im Plattenladen, ich mache Online-Business, verkaufe allen möglichen Kram. Und ich verkaufe zum Beispiel auch Kassetten.«40 In den Regalen von Frank Apunkt Schneiders Altbauwohnung stapeln sich bis in eine Deckenhöhe von über drei Metern Kassetten, Schallplatten und Kuriositäten. Allein seine Sammlung an Kassetten der achtziger Jahre umfasst rund 1000 Stück. Eine Spezialität des Bamberger »Kassettentäters« sind selbstgemachte Kassettensampler, die er auf Anfrage noch immer herstellt. Auf Frank Apunkt Schneider bin ich wegen seines Buches zur Neuen Deutschen Welle Als die Welt noch unterging aufmerksam geworden. Ich war gerade mit einer Recherche zu einem Radiofeature über die NDW beschäftigt, als es mir in die Hände fiel. Von seinem Autor habe ich nicht nur vieles über das Neue geistliche Lied erfahren, was unter dem Stichwort Sakropop mit christlicher, oft auf Kassetten produzierter Pop-Musik gleichzusetzen ist, er hat auch von Kassetten in der DDR erzählt und von Kassettenexperimenten, die er als Kind und Jugendlicher mit seinem Kassettenrekorder durchgeführt hat. Aus Bamberg habe ich verschiedene Kassettensampler mit nach Hause genommen, die ich oft gehört habe, um die entsprechende Musik zu analysieren. Ich habe auch den Vorsatz mitgenommen, über Sakropop und das Neue geistliche Lied zu forschen. Dieser Vorsatz besteht noch 39 40
Interview mit Markus Bella vom 1.3.2016. Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016.
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immer, auch wenn er fürs Erste auf einen späteren Zeitpunkt und eine andere Arbeit verschoben werden musste. Ein weiteres Interview habe ich mit dem Tübinger Radioredakteur Reinold Hermanns am ersten Tag seines offiziellen Ruhestandes in seinem halb ausgeräumten Büro im Südwestrundfunk (SWR) geführt. Wir waren umgeben von Tonbandkartons, unbeschrifteten Kassetten, von Erinnerungen und Zukunftsplänen für eine Zeit »nach dem Radio«. Besonders spannend war dabei die damals aktuelle Frage, welche Aufnahmen eine Archivierung wohl wert sein würden, welche Kassetten man nochmals anhören müsste, um das zu entscheiden, und was man mit den bespielten, aber privat nicht mehr abspielbaren Tonbändern künftig machen könnte. Außerdem erinnerte sich der frisch pensionierte Kulturredakteur in seiner Erzählung an die Zeit, in der Reporter vom tragbaren Tonbandgerät auf Kassettenrekorder umstiegen und plötzlich weniger Gewicht, dafür mehr Verantwortung zu tragen hatten, weil sie nicht mehr im Team mit einem Techniker, sondern allein unterwegs waren. Mit Reinold Hermanns habe ich selbst etliche Jahre zusammengearbeitet, und ich kenne ihn als akribischen, gründlichen Rechercheur, Beobachter und Interviewer, von dem ich sehr viel abschauen konnte: »Ich behaupte für mich zumindest, dass ich bei all diesen Interview-Tätigkeiten, die meistens ja mit Kassette abgelaufen sind, nicht nur gelernt habe, hoffe ich jedenfalls, diszipliniert und strukturiert Fragen zu stellen. Sondern ich habe auch das Zuhören gelernt. Und das war der segensreiche Aspekt für den Beruf für mich persönlich.«41 Bei meinem Interview mit Wolfgang Bauernfeind, dem studierten Theaterwissenschaftler, war die Situation eine andere. Ich konnte mir bei ihm zu Hause bereits anschauen, was der ehemalige Feature-Chef bei Radio Berlin Brandenburg (RBB) aus seinem Berliner Büro in den Ruhestand mitgenommen hatte. Es war ein Sony Walkman, der ihm viele Jahre lang, während seiner Tätigkeit als Feature-Autor, gute Dienste geleistet hatte und heutzutage das einzige Kassettenabspielgerät im Haus darstellt. Und es waren Kassetten mit allerlei Zeitzeugen-Aufnahmen. Mit Wolfgang Bauernfeind, den ich als Dozenten in einem Feature-Seminar in Berlin kennen gelernt hatte, habe ich vor allem über die praktische Arbeit mit Kassetten im künstlerischen Radiofeature gesprochen. Über Umbrüche, die mit neuer Technik und neuen ästhetischen Vorstellungen zusammenhingen, aber auch über digitales Speichern und die Auswahl des richtigen Mikrophons. Wolfgang Bauernfeind hat außerhalb des Studios selbst nie Kassetten gehört und arbeitet heute nur noch mit digitaler Aufnahmetechnik. Und dennoch hat der analoge Sound von Kassetten für ihn noch immer eine besondere Qualität: 41
Interview mit Reinold Hermanns vom 4.8.2016.
1 Einleitung | 35
»Es ist einfach eine Qualität, die nicht so gleichförmig ist. Digital heißt, dass man immer technisch unglaublich sauber aufnimmt. Bei analog gab es immer wieder auch Kollegen in der Tontechnik, die sagten: Da ist Schmutz auf der Aufnahme. Das heißt: Die atmet. Und das habe ich jetzt selbst erfahren. Nachdem ich dann pensioniert war, habe ich noch einmal eine Langzeitbeobachtung gemacht über Armut in Deutschland und habe angefangen mit einem Kassettenrekorder. Und bin dann nachher umgestiegen auf Zoom, also digital. Und habe dann das verglichen und muss sagen: Doch. Die Aufnahmen, die mit dem Kassettenrekorder gemacht wurden, hatten mehr … ja … die hatten mehr Seele.«42
Die Interviews mit Heikedine Körting, Produzentin beim führenden HörspielLabel Europa, und Alfred Hilsberg, Musikjournalist und Betreiber des ehemaligen alternativen Musiklabels Zickzack (heute What's so funny about?), sind beide telefonisch in Richtung Hamburg geführt worden. Wir konnten uns also nicht sehen, sondern nur hören. Dennoch sind wunderbare Erzählungen zustande gekommen. Heikedine Körting, die als »Hörspiel-Königin« mit derzeit mehr als 2.000 produzierten Kinderhörspielen in die Geschichte des kommerziellen Kassettenhörspiels eingegangen ist, erzählte über ihre ersten eigenen Hörspielerfahrungen aus dem Radio, über Fanclubs für die Europa-Kinderhörspiele, bis hin zum großen Live-Hörspiel unserer Tage in ausverkauften Stadien wie der Berliner Waldbühne. Heikedine Körting ist selbst mit Kassetten großgeworden, besitzt heute noch mehrere Kassettenrekorder, einen davon im Auto. Sie hat Lieblingssendungen aus dem Radio mitgeschnitten und zum Aufbau eines eigenen Geräusche-Archivs mit Tonband und Kassettenrekorder in freier Natur Aufnahmen gemacht. Die oft viele Jahre alten Geräusche sind im Studio noch immer auf Kassetten gelagert und kommen sogar heute noch gelegentlich zum Einsatz: »Jetzt hatten wir gerade zum Beispiel eine Fünf Freunde-Geschichte, die spielt auf einem Markt. Da suchen die nach einem Typen, der immer die Taschen klaut. Und die Fünf Freunde sind da unterwegs, und dann beobachten sie einen am Käsestand. Und dann fiel mir ein: ›Oh, ich habe doch irgendwann einmal mit meinem Mann am Käsestand gestanden.‹ Und da habe ich dann die Geräusche gefunden. Die waren dann fünfunddreißig Jahre alt ungefähr, wo einer sagt: ›Ja, ich hätte aber lieber gerne einen schönen Harzer.‹ Das hat man dann alles irgendwie immer noch im Kopf.«43
Auch Alfred Hilsberg, der bekannt dafür ist, immer schwarze Anzüge zu tragen, hat die Kassettenjahre noch ziemlich genau im Kopf. Die Jahre von Punk und Postpunk, in denen kleine unabhängige Musik-Labels wie sein Label Zickzack entstanden sind. Als Kolumnist der Musikzeitschrift Sounds, die zum Sprachrohr
42 43
Interview mit Wolfgang Bauernfeind vom 10.5.2016. Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016.
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von Punk, Neuer deutscher Welle und Kassettenszene wurde, begleitete er Kassettenaktivitäten in Deutschland und dem Ostblock sozusagen first-hand. Den Beinamen »Punkpapst«, der ihm von verschiedenen anderen Musik-Journalisten beharrlich zugeschrieben wird, kann er nicht leiden. Er erzählte im Interview von einer bis zum Punk nie dagewesenen Aktivität des Do-it-yourself, von billigen Synthesizern, Vierspurgeräten und Kassettenrekordern, von der Verramschung von Musik in heutiger Zeit und einem möglichen Comeback der analogen Kassette. Über Alfred Hilsbergs Schreibtisch sind im Lauf der Jahre viele tausend Demobänder der verschiedensten Musikgruppen gegangen. Er erinnerte sich aber auch an frühere Kassettenformen: »Ich kenne Kassette noch als Werbemedium. Es gab sowohl Sieben-Inch-Platten wie auch Zwölf-Inch-Platten, die als Werbeträger für viele Firmen genutzt worden sind. Auch Schallfolien wurden ja bereits Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre als Werbetonträger genutzt. Das war bei Kassetten so ähnlich. Einfach, weil sie billig und leicht waren. Und klein.«44
Mein erstes Interview zum Thema Kassettenkultur habe ich mit dem Filmemacher, Comedian und Werbefachmann Dominik Kuhn, alias Dodokay, in Reutlingen geführt. Wir trafen uns in seiner Firma STARPATROL Entertainment. In diesen Räumen einer ehemaligen Fabrik wurden in den achtziger Jahren populäre Hits der Neuen Deutschen Welle aus der Taufe gehoben. Dominik Kuhn ist heute wie damals ein Sound-, Musik-, Schallplatten- und Technikfreak, der immer auf der Suche ist nach Möglichkeiten, Musik selbst zu gestalten und zu produzieren. Der wahl- und planlose Zwangs-Konsum von Musik in Form unkontrollierbarer Beschallung ist ihm ein Gräuel. Sein Auto betrachtet er darum als private Erweiterung seines Reutlinger Studios, in dem er nur alleine und nur nach seinem Geschmack und seiner aktuellen Stimmungslage Musik hören kann. Obwohl ihr Sound vermeintlich deutlich schlechter war, stellten Kassetten, ein Autoradio und ein Walkman bis zur Erfindung des Smartphones die einzigen mobilen Alternativen zur Schallplatte und dem fest verbauten Plattenspieler dar: »Also, ich weiß, meine Familie – da kann ich mich nebulös erinnern – hatte eine Tonbandmaschine. Und das war vom Handling schon deutlich ungünstig. Und die Kassette war natürlich der Wahnsinn: dieses Plastik-Ding, das mich irgendwie auch echt fasziniert hat, weil ich so eine technische Affinität hatte. Und plötzlich konntest Du selber aufnehmen und das Ganze irgendwo hinschleppen. Walkman, der Sony-Walkman, der blanke Wahnsinn!«45
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Interview mit Alfred Hilsberg vom 20.1.2016. Interview mit Dominik Kuhn vom 13.7.2015.
1 Einleitung | 37
Alle meine Interviews habe ich aufgezeichnet – nicht auf Kassette – sondern auf Flashkarte mit einem digitalen Aufnahmegerät der Marke Edirol. Mein Edirol ist neben meinem Stereo-Mikrophon und der Schnittsoftware im Studio nicht nur mein wichtigstes Arbeitsgerät als Radiojournalistin. Es ist auch der Nachfolger meines tragbaren Profi-Kassettenrekorders, der Jahrzehnte lang überall, in allen deutschen Rundfunkanstalten verwendet wurde. Als ich mit dem Edirol für die vorliegende Arbeit aufgezeichnet habe, habe ich mir zwangsläufig irgendwann die Frage gestellt, wie wohl Feldforschung betrieben wurde in Zeiten, als es noch keine tragbaren Aufnahmegeräte gab oder diese noch unglaublich schwer und teuer waren. Und da wurde mir erstmals bewusst, dass die Kassette nicht nur Radiopraxis, sondern auch Forschungspraxis radikal verändert hat. 46 Überblick über die Arbeit Im ersten Kapitel der vorliegenden Publikation möchte ich zunächst darstellen, welche technischen Grundvoraussetzungen für die Entwicklung von Kassetten notwendig sind. Dazu werfe ich einen Blick auf die Technikgeschichte der Speichermedien, an deren Beginn Stahldraht und Wachswalze stehen, später Wachsplatten, schwarze Schellack- und Vinylscheiben, unendlich schwere Geräte mit Tonbändern aus Stahl und schließlich ein pfiffiger Erfinder. Dieser will eigentlich der Tabakindustrie einen Gefallen tun und entwickelt quasi nebenbei das Magnettonband, das später durch die Plastikgehäuse von Kompaktkassetten geschleift wird. Im Sinne der Cultural Studies geht es dabei um den technischen Kontext der Medienproduktion, also um Praktiken, die der technischen Produktion von Kulturobjekten dienen. Ich möchte ausgehend von der Idee des Kreislaufs der Kultur untersuchen, wie in diesem Kontext Produktion, Repräsentation, Aneignung, Identifikation und Regulierung funktioniert haben. Im zweiten Kapitel dieses Buches steht die Beschreibung von Praktiken, die dem Konsum des Kulturobjekts Kassette dienen, im Vordergrund. Immer wieder wird auch dabei die Vorstellung von Kultur als oben geschildertem Kreislauf in Erscheinung treten. Die Kassettenjahre werden dafür in einen sozialgeschichtlichen Kontext gesetzt. Ich beziehe mich dabei auf die Sozial- und Kulturgeschichte Westdeutschlands, wenngleich ich auch immer wieder einen Blick werfe nach Großbritannien, in die USA und die DDR. 46
Bornat 2008, S. 344.: »Biographical methods thrive on invention and have changed and adapted to methodological, theoretical and technological change. The arrival of the small portable audio recording machine has undoubtedly played a leading role. Indeed it would be impossible to imagine much of what is now recognised as biographical work without it.«
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Bei dieser Betrachtung geht es darum zu zeigen, welche gesellschaftlichen Umstände die Kassette begleiten und unterstützen, mit welchen Anliegen und zu welchen Anlässen Kassetten benutzt werden, welche Gruppen besonders aktiv mit Kassetten umgehen, welchem Zeitgeist das geschuldet ist und welche Entwicklungen ohne das Medium Kassette möglicherweise niemals oder jedenfalls sehr viel langsamer stattgefunden hätten: Als die Kassette 1963 auf den Markt kommt, erlebt die Nachkriegsgesellschaft in Europa gerade grundlegende Veränderungen. Das neue Kompaktkassettensystem aus Kassette und Rekorder trifft dabei den »Nerv der Zeit«. Schon bald ist es aus dem Alltag der Menschen nicht mehr wegzudenken. Es wird zum Gegenstand der Alltagskultur. Vor allem Jugendliche können sich ein Leben ohne Kassetten im Walkman, im Ghettoblaster oder im Computer nicht mehr vorstellen. Im dritten und letzten Teil der Arbeit möchte ich Kassetten in einem kommunikativen Kontext untersuchen und Kommunikation mit und über Kassetten beschreiben. Ich untersuche modellhaft verschiedene kommunikative Netzwerke, die sich rund um die Kassette und mit ihr entwickeln. Mich interessiert dabei vor allem die Frage, wie diese Netzwerke aufgebaut und organisiert sind, warum sie entstehen oder sich wieder auflösen, mit wem und warum kommuniziert wird, auf welchen Wegen diese Kommunikation stattfindet, und was das alles mit Kassetten zu hat. Ich werde dabei zum Beispiel zeigen, dass die Kassette als Kommunikationsmittel in einem überwiegend anarchisch funktionierenden Netzwerk wie der sogenannten »Kassettenszene« im Postpunk der achtziger Jahre völlig anders verwendet wird und Kassettenkommunikation gänzlich andere Beweggründe hat als in einem zentralistischen Netzwerk wie der Unterhaltungs- und Lernmittelindustrie mit ihren kommerziellen Musik- und Sprachkurskassetten. Auch ein Mixtaper wird in seinem privaten Netzwerk die Kassette zu anderen kommunikativen Prozessen und mit einer anderen Absicht nutzen als ein Radiojournalist das in seinem beruflichen Netzwerk tut. Denn die Kassette ist nicht nur ein billiger Tonträger zur Verbreitung von Musik und Informationen jedweder Art. Sie ist nicht nur ein praktisches Speicher-, Unterhaltungs- und Archivmedium. Sie kann auch Liebesbrief sein, journalistisches Beweismittel oder Kreativmedium, eine Art »demokratisches Spielzeug«, das aus seinen NutzerInnen Radio-, Hörspiel- oder Rockstars macht, sie in jedem Fall aber befähigt, ein eigenes Produkt herzustellen und in der Öffentlichkeit zu präsentieren.
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Technische Entwicklungen auf dem Weg zur Kompaktkassette
Bevor wir am Ende dieser Arbeit über heutige Technologien wie das Smartphone oder gängige Flashkarten-Rekorder nachdenken und damit einen Blick auf die späten, womöglich einzigen »echten« Nachfolgemedien der Kompaktkassette werfen, ist es zunächst einmal wichtig, ihre Vorgänger etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Indem man nicht nur das Medium selbst, sondern auch seine technische und gesellschaftliche Umgebung betrachtet, lässt sich die relativ kurze Zeitspanne von Anfang der 1960er bis Anfang der 2000er Jahre, in der Kompaktkassetten im Verbund der Speicher- und Abspielmedien eine immens wichtige Rolle spielen, besser begreifen und einordnen.
2.1 MEDIALES SPEICHERN Dafür lohnt sich in diesem Kapitel ein Rückblick nicht nur ins 19. Jahrhundert, als die ersten Bild- und Tonspeicherverfahren mittels Photoapparat, Phonograph und Kinematograph erprobt werden, sondern noch viel weiter zurück. Denn auf eine diffuse Weise besteht schon seit Menschengedenken der Wunsch, etwas zu schaffen oder zu hinterlassen, das auf Dauer besteht, eine Spur der Unsterblichkeit in die Zukunft zu legen, um der eigenen Vergänglichkeit sozusagen ein Schnippchen zu schlagen. »Jeder hartnäckige, vergebliche Anspruch auf Dauer oder gar Ewigkeit ist zunächst eine Absage an die Auflösung von allem und allen in Unordnung, die negentropische Auflehnung gegen das unausweichliche Ärgernis des Todes.«47 Mit dieser Auflehnung beginnt nach Ansicht von Medienphilosophen wie Friedrich Kittler und anderer Medientheoretiker die Ge47
Ernst 2007, S. 11.
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schichte des Speicherns, konkret also mit dem Übergang vom gesprochenen zum geschriebenen Wort als erstem Aufschreibesystem der Menschheitsgeschichte.48 Nach Kittler reichen Aufschreibesysteme – grob skizziert – von den nichtmechanischen Systemen wie der Handschrift über mechanische Systeme wie Grammophon, Phonograph oder Schreibmaschine hin zu elektrifizierten und elektronischen Systemen wie Tonbandgerät, elektrischem Schallplattenspieler oder eben auch dem Kassettenrekorder. Den momentanen Abschluss der Entwicklung von Aufschreibe- und Speichersystemen sieht Kittler in der digitalen Speichertechnik und den damit verbundenen Datenströmen auf CDs, Festplatten oder Speicherchips. Man muss Kittlers philosophisches Pathos hinsichtlich Unsterblichkeit und Ewigkeit nicht unbedingt teilen, wenn man ganz konkret über eher profane und simple Speichermedien wie das Kassettensystem nachdenkt. Man kann dieses Pathos sogar rundheraus ablehnen. Kittlers Gedanken einen Augenblick lang nachzuspüren, hilft aber dennoch dabei, eine Art innere Logik hineinzubringen in die auf den ersten Blick chaotisch verlaufende Geschichte der Speichermedien, allen voran die der Magnettontechnologie, an deren Ende schließlich Kassette und Kassettenrekorder stehen. Beginnen wir also mit einer ganz kurzen Betrachtung von Schrift und Schreibwerkzeugen als einem der ersten menschlichen Speichersysteme. 49 Wo, in welchem Kulturkreis und in welchem Jahrhundert dieses Speichersystem seinen genauen Ursprung hat, ist bis heute nicht endgültig geklärt. Erst im Sommer 2016 wurde in Bulgarien ein Artefakt ausgegraben, das die Vermutung nahelegt, dass es vor den bekannten alten Schriftkulturen in Mesopotamien, Ägypten oder China auch in Europa schon Schriftzeichen gegeben haben könnte. Auch die Mayas und andere alte Kulturvölker haben wohl Schriftzeichen verwendet, um menschliche Sprache zu fixieren. Fest steht damit zumindest, dass die Geschichte der Speichermedien schon viele tausend Jahre alt ist.50 Der Fluch der Vergänglichkeit von Erzählungen alter Stammeskulturen, von mündlich überliefertem prähistorischem Wissen ist damit sozusagen gebannt. Was einmal aufgeschrieben und folglich gespeichert ist, kann im Prinzip wieder reproduziert werden – und das unabhängig von der physischen Anwesenheit des ursprünglichen Speicherers. Wissen und Erinnerungen, die bislang exklusiv im Gedächtnis einzelner Menschen gespeichert waren, werden jetzt theoretisch auch späteren 48 49
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Kittler 1986. Auch Höhlenmalereien, wie sie vermutlich schon Neandertaler und die ersten modernen Menschen um 40.000 v.Chr. in Europa (v.a. bislang entdeckt in Spanien und Frankreich) angefertigt haben, sind im weitesten Sinne Speichersysteme, deren Speicherinhalte und -absichten jedoch heute nur schwer und nur äußerst rudimentär zu decodieren sind. Darum werde ich an dieser Stelle nicht genauer auf dieses wahrscheinlich älteste Speichersystem der Menschheit eingehen. Haarmann 2002.
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Generationen zugänglich, das Erinnern einzelner Individuen um eine Art kollektives Langzeit-Gedächtnis ergänzt. Schrift reproduziert immer nur Wörter Mit der Herausbildung verschiedener Zeichensysteme und der Erfindung von Papier – wozu im übrigen auch Malerei und Notenschrift zählen – ist die Menschheit dem Bedürfnis nach einem Festhalten von Wissen für spätere Generationen und einer beständigen Dokumentation von aktuellen Zeitumständen also einen Schritt näher gekommen. Aber: »Schrift«, sagt Kittler, »speicherte Schrift, nicht mehr und nicht weniger.«51 Zeichen bleiben eben Zeichen. Und Symbole bleiben Symbole. Was fehlt, ist die Möglichkeit einer tatsächlichen Reproduktion von sinnlicher Erfahrung, von Gefühlen, Geräuschen oder Gerüchen. Und was auch fehlt, ist die Komponente »Zeit«. Einfach gesprochen: Dem Leser fehlt die Möglichkeit eines Wiedererlebens des Erinnerten in Echtzeit und mit allen Sinnen. »Was […] auf der physikalischen Ebene oder […] auf der realen Ebene als Zeit läuft, blindlings und unvorhersehbar, war schlechterdings nicht zu encodieren. Alle Datenflüsse mussten, waren sie wirklich Flüsse von Daten, den Engpass des Signifikanten passieren. Alphabetisches Monopol, Grammatologie.«52 Wenn es »nur« Schrift und Papier gibt, ist das Wieder-Erlebbarmachen einer Erfahrung also vollständig der Phantasie eines Lesers überlassen. Er muss imstande sein, sich beim Lesen beschriebene Zeiträume, Geräusche oder Stimmen, Bilder und Bewegungen vorzustellen, sonst ist das Gespeicherte praktisch wertlos. »Solange das Buch für alle seriellen Datenflüsse aufkommen musste, zitterten seine Wörter vor Sinnlichkeit und Erinnerung. Alle Leidenschaft des Lesens war es, zwischen den Buchstaben oder Zeilen eine Bedeutung zu halluzinieren: die sichtbare oder hörbare Welt romantischer Poetik.«53 Schriftwissen ist Exklusivwissen Kittlers Überlegungen zur Geschichte der Speichermedien tragen neben diesem Aspekt der möglichst genauen und reproduzierbaren Wirklichkeitsabbildung noch einen weiteren Gedanken in sich, auf die der Verfasser zwar nicht genauer eingeht, die aber mit Blick auf die Untersuchung der Kompaktkassette meines Erachtens sehr wichtig ist: Betrachtet man nämlich die vormechanischen Speichersysteme wie Texte, Partituren oder Malereien, so ist der Prozess des Spei51 52 53
Kittler 1986, S. 15. Kittler 1986, S. 12. Kittler 1986, S. 20.
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cherns nur von einem entsprechend (aus-)gebildeten Menschen durchführbar. Soll heißen: Nur jemand, der des Malens, Text- oder Notenschreibens mächtig ist, kann Erinnerungen verschriftlichen, Bilder oder Töne festhalten. Umgekehrt ist eine Rezeption des Gespeicherten nur Menschen möglich, die ihrerseits wiederum lesen können und über eine entsprechende Kenntnis und Vorstellungskraft verfügen, um aufgeschriebene Melodien, Geschichten oder Ereignisse zum Leben, zu einer sekundären Realität sozusagen, zu erwecken. Menschen, die in Zeichen encodierte Inhalte wieder decodieren und die fehlende Dimension Zeit hinzu erfinden können.54 Speichern und Abrufen sind also Prozesse, die gebildeten Schichten vorbehalten bleiben. Diese sind es abgesehen davon ja auch, die vorrangig Zugang zu den Bibliotheken haben, in denen alle wichtigen Schriftstücke einer Epoche archiviert werden und damit die Jahrhunderte unbeschadet überdauern. Man kann im vormechanischen Zeitalter also von einer Art »Speichermonopol« der Eliten sprechen, die zum einen des Speicherns und Abrufens mächtig sind, zum anderen aber auch darüber entscheiden, was wert ist, dauerhaft in sicheren Archiven gelagert und damit für die Nachwelt gespeichert zu werden. Tagebuchaufzeichnungen und Augenzeugenberichte einfacher Leute, wie man sie aus großen europäischen Krisen wie dem Napoleon-Feldzug 1812 oder aus dem Dreißigjährigen Krieg55 kennt, finden zum Beispiel kaum Eingang in die Bibliotheken und sind heute höchstens zufällig erhalten. Diese Schriftstücke werden zur Zeit des Speicherns weder als literarisch, noch als historisch oder politisch relevant betrachtet, darum nicht systematisch archiviert oder überhaupt aufbewahrt. In seinen Maximen beklagt der Dichter Johann Wolfgang von Goethe: »Wie wenig von dem Geschehenen ist geschrieben worden, wie wenig von dem Geschriebenen gerettet! Die Literatur ist von Haus aus fragmentarisch. Sie enthält nur Denkmale des menschlichen Geistes, insofern sie als Schriften verfasst und zuletzt übrig geblieben sind.«56 54
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Vgl. auch Kapitel 4 dieser Arbeit: Kommunikation und damit Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs ist ebenfalls nur möglich, wenn Kommunikationssignale und Inhalte vom Empfänger decodiert werden können, wenn also Sender und Empfänger über einen gleichen kulturellen Referenzrahmen verfügen. Die Fähigkeit zu speichern, ist somit auch die Fähigkeit zur Teilnahme an gesellschaftlicher Kommunikation. Bekannt sind zum Beispiel das Zeytregister des Ulmer Schusters Hans Heberle oder die Chronik des Bickenklosters zu Villingen, aufgeschrieben von der Nonne Juliana Ernstin, beides Zeitzeugenberichte zum 30jährigen Krieg. Oder die Tagebucherinnerungen der Katharina Morel aus Napoleons Rußlandfeldzug 1812. Die bei dtv erschienene Reihe »... in Augenzeugenberichten« ist ebenfalls ein Versuch, bislang unveröffentlichte private Schriftstücke einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen und dadurch eine andere Perspektive auf die »offizielle« Geschichte einzunehmen. Goethe 1824, S. 167.
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Ich betone das deswegen an dieser Stelle so deutlich, weil es für die Analyse der Kommunikation mit Kassetten eine wesentliche Rolle spielen wird. Die Kassette und der dazugehörende Kassettenrekorder werden nämlich das erste Speichersystem der Geschichte sein, das dank seiner sehr simplen Bedienbarkeit ganz bewusst und kreativ die geschilderten Hierarchievorstellungen unterwandern kann. Der Tübinger Journalist und Radioredakteur Reinold Hermanns benötigt bei seinem ersten Einsatz als Radioreporter im Jahr 1978 zum Beispiel keine Unterstützung mehr von einem Tontechniker oder einem Redakteur. Er hat sich einen eigenen Kassettenrekorder zugelegt und kann alleine entscheiden, was er damit aufnehmen will: »Mit dem bin ich dann zum Interview hin. Hab das gemacht und habe mir das vorher kurz zeigen lassen. Oder auch selber natürlich. Gebrauchsanweisung. Bin nicht groß eingewiesen worden in dem Sinne. Und das war's dann. Das war eine ausreichende Qualität, also Sendequalität, wurde dann nicht beanstandet und gar nichts.«57 Akustisches Speichern ist zu diesem Zeitpunkt also bereits eine Technologie »für jedermann«. Wir werden darauf noch einige Male zurückkommen. Zunächst wenden wir den Blick noch einmal zurück in die Anfangszeiten der elektronischen Speichertechnologien. Bilder und Töne kann jeder verstehen Ende des 19. Jahrhunderts beginnt nach der Entwicklung von Buchdruck und Photographie die Entwicklung moderner Ton- und Bildspeicherverfahren. Was nun gespeichert wird, sind nicht mehr sprachliche oder bildnerische Kunstwerke, sondern Frequenzgemische, Einzelbildfolgen und technische Daten. Töne werden reproduzierbar. Vormals statische Bilder lernen das Laufen. »Seit dieser Epochenschwelle gibt es Speicher, die akustische und optische Daten in ihrem Zeitfluss selber festhalten und wiedergeben können. Ohr und Auge sind autonom geworden. Und das hat den Stand der wirklichen Dinge mehr verändert als Lithographie und Photographie, die im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts lediglich das Kunstwerk […] ins Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit beförderten.«58
Mit Film- und Tonaufnahmeverfahren ist neben konkreten Erinnerungen nun auch der Faktor »Zeit« abbildbar und reproduzierbar. Aus bloßen Speichersystemen werden mit diesem Schritt Verbreitungs- und in der Folge dann Kommunikationsmedien. Um zu speichern, muss man nun kein Künstler mehr sein. Um abzurufen auch nicht. Hören und sehen kann jeder Mensch, auch wenn er keine Buchstaben
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Interview mit Reinold Hermanns vom 4.8.2016. Kittler 1986, S. 10.
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oder Noten lesen kann. »In a person's voice we encounter his personal moods; in the sound of a running machine we can hear force and speed; the sound of birds connects us with nature.«59 Was hingegen wichtig wird, ist ein gewisses technisches Knowhow, nennen wir es ruhig »Kunstfertigkeit«, um die Speicherapparaturen bedienen zu können. Leichte Bedienbarkeit wird zum Entwicklungsimpuls Um die Erfordernisse an Kunstfertigkeit möglichst weit abzubauen, um also eine breite Anwenderfreundlichkeit statt Geheimwissen zu generieren, wird die Weiterentwicklung der mechanischen und elektronischen Speichermedien maßgeblich durch den Impuls vorangetrieben, Speicher- und Abrufprozesse möglichst einfach und logisch zu gestalten. Soll heißen: Unter dem Aspekt der Bedienbarkeit, heute nennen wir das »Usability«, sind Wissenschaftler, Ingenieure und Hersteller ständig bemüht, Technologien von Ton- und Bildaufnahmeverfahren zu vereinfachen und damit auch einer breiteren Masse zugänglich zu machen. Das Grammophon beispielsweise wird von Emile Berliner ursprünglich als einfachere und anwenderfreundlichere Alternative zu Edisons Phonographen entwickelt, auf den ich gleich noch zurückkommen werde. Wie der Phonograph muss auch das Grammophon dabei zunächst mit einer Handkurbel betrieben werden. Und wie bei Edisons »verbessertem Phonographen« geht die Weiterentwicklung des Prototypen in Richtung Motorisierung. Der nächste Entwicklungsschritt ist beim Grammophon 1896 ein Federmotor, der aufgezogen wird und dann den Plattenteller dreht.60 Gleichmäßiges Drehen, Übung und Fachwissen, die bislang unabdingbar waren, werden für den Betrieb dieser Aufnahmetechnik immer weniger wichtig, bis sie schließlich durch die Elektrifizierung des Grammophons und dessen Weiterentwicklung zum elektrischen und dann zum vollautomatischen Plattenspieler gar nicht mehr notwendig sind. In Sachen Bedienbarkeit ist der Weg in die Massifizierung des Mediensystems PlattePlattenspieler also geebnet. Und sie setzt ziemlich zügig ein: Während im Jahr 1957 nur etwa ein Viertel aller westdeutschen Haushalte einen Plattenspieler besitzt, sind es knapp zehn Jahre später schon mehr als die Hälfte. 61 Eine ähnliche Entwicklung hinsichtlich der Bedienbarkeit – man könnte fast von einem Primat der Bedienbarkeit sprechen – beobachtet der Wiesbadener Diplom-Ingenieur und HiFi-Sammler Gert Redlich übrigens auch in anderen Bereichen, in denen technische Geräte zum Einsatz kommen. Auch die Geschichte der Fortbewegungsmittel (zum Beispiel Autos mit Automatikgetriebe) 59 60 61
Bijsterveld/Jacobs 2009, S. 29. Wilke 2010, S. 194. Röther 2012, S. 266.
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oder die der Küchengeräte ist – seinen vielen Gesprächen mit ehemaligen Entwicklern und Technikern großer Herstellerfirmen zufolge – maßgeblich vom Wunsch nach einer möglichst einfachen Bedienbarkeit für ein möglichst breites Publikum vorangetrieben worden. »Zum Beispiel die Braun-Küchengeräte haben auf einmal eine ganz andere Handhabung gehabt, weil man sagte: Das muss einfacher werden. Am Anfang hieß es bei Braun: Wir müssen mixen können. Dann hieß es: Das Ding muss schön sein, und es muss optisch was Stylisches sein, denn Braun hat ja im Design-Bereich sehr viel bewirkt. Und dann hieß es: Es muss bedienbar sein. Design ist schön. Nutzen ist auch gut. Mixen wollen sie alle. Aber das muss die Mutti zu Hause können, die zwei linke Hände hat. Das ist das Wichtigste.«62
Gute Usability bestimmt den Erfolg So werde ich also in den folgenden Abschnitten, von 2.2 bis 2.5, die Entwicklung der ersten Tonaufnahmeverfahren des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zur Marktreife der Kompaktkassette im Jahr 1963 nicht nur unter technischen Gesichtspunkten oder vor dem Hintergrund der qualitativen Verbesserung von Klang, Technologie oder Wiedergabetreue darstellen. Es soll vielmehr gezeigt werden, dass die Entwicklung von Edisons Phonographen hin zur Kompaktkassette und weiter zu digitalen Speichersystemen auch und vor allem eine Geschichte der Usability ist. Gemeinsam mit einer hohen Klangqualität und für die Masse erschwinglichen Preisen ist es maßgeblich diesem Aspekt zuzuschreiben, dass aus einer technischen Erfindung ein Gegenstand der Alltagskultur wird und damit eine Kassettenkultur mit eigenen Kulturpraktiken entsteht, überhaupt entstehen kann. Im dritten Kapitel dieser Arbeit wird die Entwicklung gesellschaftlicher Umstände und der damit verbundene, ständig wachsende Wunsch nach Mobilität, Inidvidualität, Unterhaltung und Selbstbestimmung genauer untersucht. Er bildet die soziologische Grundlage für den Erfolg der Kassettentechnologie. Durch das zeitliche Zusammentreffen dieser beiden Momente – gesellschaftliche und technische Entwicklung – ist meiner Meinung nach zu erklären, warum der kleine Philips Taschenrecorder und die Kompaktkassette, obwohl Klangqualität und Optik bei der Markteinführung 1963 von HiFi-Kennern wie Gert Redlich noch als äußerst bescheiden beschrieben werden, schon bald imstande sind, etablierten, klanglich exzellenten Speichermedien wie Schallplatten oder Spulentonbändern den Rang abzulaufen.
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Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2016.
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»Das Gerät sah echt gekotzt aus. Es sah damals wirklich so schlimm aus, dass wir gesagt haben: Haha, das kauft doch keiner. Aber Pustekuchen! Alle haben es gekauft. Dabei hat es auch in der physikalischen Technik eigentlich nichts Neues gekonnt. Es konnte auch nur Töne aufnehmen und wiedergeben. Das konnte man mit dem Uher-Report, mit der Nagra, mit der Majak Maschine. Mit allen Tonbandgeräten, die transportabel waren, konnte man das. Aber trotzdem kam mit diesem Philips-Gerät ein Umschwung. Mit dieser Kassette.«63
2.2 DIE WELTSENSATION: ERSTE MECHANISCHE AUFNAHMEN AUS DER KONSERVE Zwischen 1840 und 1900 beginnt sich die westliche Welt insgesamt für die Menschen auf dramatische, bisher nicht da gewesene Weise zu verändern. Nicht nur, dass mechanische Echtzeit-Speicher das Schriftmonopol unterwandern und Leinwand und Pinsel Konkurrenz von Kamera und Film bekommen. Auch andere Entwicklungen modernisieren und beschleunigen den Alltag und die Arbeitswelt, wie Engel et al. in Zeitschichten, ihrem umfassend recherchierten Standardwerk zur Entwicklung von Magnetbandtechnik, anschaulich darlegen:64 »Eisenbahnen eroberten Kontinente, 1844 sind Nachrichten dank Morses Telegraphen schneller als jede Postkutsche. Nur zweiunddreißig Jahre später werden sie erneut von Bells Telefon überrundet. 1886 macht der nach Amerika ausgewanderte, schwäbische Uhrmacher Ottmar Mergenthaler aus Setzerkästen zeilenspuckende ›Linotypes‹, Kniehebelpressen weichen Rotationsdruckmaschinen, Zeitungen werden Allgemeingut, Umfang und Auflagen steigen. Kerzen und Gasleuchten verlöschen, als Thomas Alva Edison ab 1880 die Glühlampe industriell produziert und bald die Infrastruktur, elektrische Kraftwerke und Verteilernetze, mitliefert.«65
Edisons Phonograph erfüllt einen alten Menschheitstraum Edison ist nicht nur mit der Elektrifizierung der deutschen und amerikanischen Großstädte beschäftigt. Er treibt die Entwicklung neuer Speichersysteme so entscheidend voran, dass Kittler den Beginn unserer medialen Gegenwart auf
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Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2016. Außer diesem Werk gibt es fast keine technikgeschichtliche Darstellung, die neben den frühen Speichersystemen, Tonbändern und Schallplatten auch Kompaktkassetten beschreibt. Ich werde mich darum im Folgenden häufig auf Zeitschichten und die dort genannten Primärquellen beziehen. Engel u. a. 2010, S. 10.
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den 6. Dezember 1877 datiert.66 An diesem Tag nämlich präsentiert Edison einen soeben erfundenen Sprechapparat aus seinem Forschungslabor in Menlo Park bei New York. Einige Monate zuvor hat er begonnen, mit einer Mischung aus Telefonie und Telegraphie Versuche zu machen. So ist in seinem Tagebuch am 18. Juli 1877 zu lesen: »Habe eben mit einer Membran experimentiert, die mit einer Stichelspitze versehen ist und gegen ein rasch vorbeiziehendes Wachspapier gehalten wird. Die Sprachschwingungen werden hübsch eingraviert, und es besteht kein Zweifel darüber, dass ich imstande sein werde, die menschliche Stimme in vollkommener Weise zu konservieren und zu beliebiger Zeit automatisch zu reproduzieren.«67
Das Wort »Hulloo«, das der seit einer Scharlach-Erkrankung in Kinderjahren stark schwerhörige Edison beim ersten Experiment in ein Telephonmundstück 68 brüllt, bringt mittels Schallwellen eine Membran zum Schwingen und setzt einen angeschlossenen Griffel in Bewegung. Dieser schreibt die Bewegungen der Membran in die Paraffin-Beschichtung eines Papierstreifens hinein, der mit einer Handkurbel über eine Walze vorwärts bewegt werden muss. Beim Abspielen funktioniert der Vorgang genau andersherum: Die in der Beschichtung entstandenen Rillen bewegen den Griffel. Dieser versetzt wiederum die Membran in Schwingung. Und es ertönt leise – weil natürlich noch nicht elektrisch verstärkt – und kaum verständlich das Wort »Hulloo«. Am 19. Februar 1878 wird das Patent für die Vereinigten Staaten offiziell eingetragen. Fünf Monate nach dem ersten Experiment führt Edison die Erfindung, die inzwischen statt in Paraffinpapier in eine Zinnfolie ritzt, der Öffentlichkeit vor: »Edison brüllte in den Schalltrichter, während er oder (der Mechaniker) Kruesi die Kurbel drehten – diesmal das Kinderlied ›Mary Had A Little Lamb‹. Dann setzten sie die Nadel zurück, ließen die Stanniolwalze ein zweites Mal laufen – und der erste Phonograph gab die gebrüllten Laute wieder.«69 Zum ersten Mal ist menschliche Stimme für die Nachwelt reproduzierbar festgehalten.
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Kittler 1986, S. 26. Zwar gab es auch schon vor Edison Versuche, Töne zu speichern wie beispielsweise durch den französischen Drucker und Buchhändler EdouardLéon Scott de Martinville in Paris. Sein 1857 erfundener Phonautograph wird in der Literatur häufig als das älteste Gerät zur Tonaufzeichnung bezeichnet. Da ein Abspielen der Schallschrift von diesem Gerät jedoch zunächst nicht möglich war, sondern erst im Nachhinein durch Rekonstruktion der historischen Phonautogramme gelang, möchte ich auf diese Versuche hier nicht weiter eingehen. Steinke 2001, S. 1371. Völz/Völz 2005. Kittler 1986, S. 37.
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Obwohl die Tonqualität nicht berauschend ist und die schwankenden Geschwindigkeiten der Handkurbel beim Abspielen der Walze Edisons Stimme unnatürlich verzerren, ist der Moment, in dem ein Mensch erstmals seine eigene Stimme hörbar machen kann, ein besonderer Moment. Ein Moment, auf den seit über hundert Jahren spielerische Experimente mit künstlichen Zungen und sprechenden Puppen, die »Mama« oder »Papa« sagen konnten, hingearbeitet haben.70 Und bis heute ist diese Mischung aus Irritation und Faszination beim Hören der eigenen Stimme geblieben. Der Dichter Rainer Maria Rilke beschreibt es, als er im Physikunterricht mit seinen Klassenkameraden einen einfachen Phonographen nachbaut: »Es zitterte, schwankte aus der papierenen Tüte der eben noch unsrige Klang, unsicher zwar, unbeschreiblich leise und zaghaft und stellenweise versagend auf uns zurück. Die Wirkung war jedesmal die vollkommenste. Unsere Klasse gehörte nicht eben zu den ruhigsten, und es möchten nicht viele Augenblicke gewesen sein, da sie, gemeinsam, einen ähnlichen Grad von Stille zu erreichen fähig war. Das Phänomen blieb ja auch überraschend, ja recht eigentlich erschütternd, von einem Male zum anderen. Man stand gewissermaßen einer neuen, noch unendlich zarten Stelle der Wirklichkeit gegenüber, aus der uns, Kinder, ein bei weitem Überlegenes doch unsäglich anfängerhaft und gleichsam Hülfe suchend ansprach.«71
Ab 1963 wird genau diese Mischung aus Faszination und Erschrecken ein Grund dafür sein, dass Millionen von Menschen ihre eigenen Stimmen und die ihrer Familien und Freunde auf Kassette aufnehmen, speichern und immer wieder abhören: sich selbst zu hören und diesen Moment vor dem Vergessen zu bewahren. Und obwohl Sprachaufnahmen heute allgegenwärtig sind – sei es nun im Radio, auf der Mailbox oder auf Tonträgern – ist dieses leicht befremdete Staunen geblieben, das schon Rilke beim Klang der eigenen Stimme vom Band beschreibt. Der Tübinger Radio-Journalist Reinold Hermanns schildert im Interview beim SWR rückblickend zum Beispiel Folgendes: »Die eigene Stimme in einer Aufnahme zu hören, das war immer der wichtigste Reiz. Viele waren auch bei der Aufnahme schon aufgeregt, wie sich das anhören wird. Das ist ganz klar. Viele waren auch – so wie ich beim ersten Mal, als mir das widerfuhr – befremdet bis erschrocken. Denn man hört sich in der Aufnahme natürlich ganz anders, als man sich selbst sonst hört. Das liegt an der Schallübertragung im Knochen. Was klar ein Fremdheitseffekt ist und immer ein Aha-Erlebnis in jedem Fall.«72
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Kittler 1986, S. 42. Rilke 1906. Interview mit Reinold Hermanns vom 4.8.2016.
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Der Phonograph ist nicht alltags- und massentauglich Die Nachricht von Edisons Erfindung im amerikanischen Menlo Park sorgt zunächst für wenig öffentliche Aufmerksamkeit. Welche tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen folgen werden, ist niemandem so recht bewusst.73 Ähnlich ist das im Übrigen auch knapp sechzig Jahre später, als die erste Kompaktkassette auf der Berliner Funkausstellung erstmals gezeigt wird. Doch dazu später. Sieben Monate nach der Erfindung, am 30. März 1878, berichtet die politische Wochenzeitschrift Harper's Weekly über den Phonographen.74 Weitere zwei Monate später schreibt die Leipziger Illustrierte in Deutschland dazu: »Die Nachrichten über die neue Erfindung fließen sehr spärlich, doch steht soviel fest, daß wir es nicht mit einer Schwindelei, sondern mit einer wissenschaftlichen Tatsache zu tun haben.«75 Die beliebte illustrierte Familienzeitschrift Gartenlaube nimmt auch erst Anfang 1878 Notiz von Edisons Erfindung. Ausgehend von einem Zehn-Punkte-Plan für die Einsatzmöglichkeiten seiner Maschine, den Edison 1878 in der North American Review veröffentlicht76, schleicht sich in diesen Artikel bereits eine Ahnung, dass der Phonograph in Zukunft den Alltag der Menschen verändern könnte: Nicht nur, dass ein Erblasser mit seiner eigenen Stimme sozusagen ein akustisches Testament hinterlassen könnte, auch Thronund Parlamentsreden könnten auf Walze gespeichert und als Phonogramme verschickt, fremde Sprachen mit Hilfe von Sprechwalzen erlernt werden. Und – besonders kurios – wenn ein Theaterschauspieler krank würde, könnte er via Phonograph doch zumindest seine Stimme »gastiren« und einen anderen Schauspieler die entsprechenden Mienen und Gesten dazu machen lassen.77 All das und Ähnliches mehr – von mobilem Sprachtraining bis hin zu Karaokeveranstaltungen in Bars und Kneipen – wird viele Jahre später ideales Einsatzgebiet für Kassetten sein, nachdem aus dem exklusiven, technisch komplexen Phonographen benutzerfreundliche, preiswerte Kassettensysteme geworden sind. 1878 überträgt Edison die Auswertung seines Patentes, das vorerst nur für die USA und Großbritannien gilt, der neu gegründeten Edison Speaking Phonograph Company und kümmert sich wieder um andere Erfindungen. Die Verwertungsgesellschaft muss ihre Arbeit schon ein Jahr später aufgrund der ausbleibenden Gewinne wieder einstellen. Edison betrachtet den mechanischen Phono-
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Edison, Thomas Alva 1878, S. 527. Wilke 2010, S. 192. Ebd. Edison, Thomas Alva 1878, S. 533ff. Wilke 2010, S. 193.
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graphen inzwischen als »reines Spielzeug ohne kommerziellen Wert«78 und widmet seine ganze Aufmerksamkeit der Glühlampe. Von der breiten Öffentlichkeit wird der Phonograph in seinen Anfangsjahren nicht als wegweisende Erfindung für den Alltag wahrgenommen. 79 Die meisten Menschen sehen im Phonographen eher ein verblüffendes technisches Paradestückchen oder eine Jahrmarktsensation als einen Gebrauchsgegenstand. Zum Beispiel wird eine Lieferung von fünfhundert Phonographen, die eigentlich als Diktiergeräte für den obersten Gerichtshof be- und hergestellt waren, nach der Pleite der Vertriebsgesellschaft als Attraktion auf verschiedenen Jahrmärkten ausgestellt.80 In vielen Städten Amerikas gibt es auch sogenannte Automatic Phonograph Parlors, Vorläufer der späteren Musikautomaten, in denen Walzen verschiedener Künstler abgespielt werden. Der Kunstpfeifer Billy Golden ist zu hören oder die US-Marineband mit Märschen von John Philip Sousa. Len Spencers Bariton bringt es mit mehreren hundert Aufnahmen auf Wachszylindern sogar zu weltweiter Berühmtheit. 1896 schreibt das monatlich erscheinende Musikmagazin The Phonoscope: »Mister Spencer ist der Urheber des dunklen Schreies auf der Walze. Seine Negro-Songs wurden damit berühmt. Sein Repertoire besteht aus sechshundert verschiedenen Liedern, und er verkaufte insgesamt zweiundsechzigtausend Walzen. Er kann auch trefflich Kastagnetten, Tamburine und Glocken nachahmen, ja, er macht überhaupt die merkwürdigsten Geräusche am Trichter.«81
Wir werden uns an diese Aussage später noch erinnern, wenn wir es mit der Kassettenszene im Postpunk der achtziger Jahre zu tun bekommen: Nicht nur einer, sondern Hunderte von »Kassettentätern« sitzen dann vor ihren Rekordern und produzieren avantgardistische Geräusche, die nur entfernt etwas mit Musik zu tun haben müssen. Auch diese Aufnahmen finden Verbreitung in der Musikwelt, genauso wie der »dunkle Schrei« von Len Spencer am Ende des 19. Jahrhunderts auf Musikwalze. Zu einem gebräuchlichen Alltagsgegenstand oder gar zu einem Massenmedium wie später Schallplattenspieler oder Kassettenrekorder wird der Phonograph trotzdem nicht.82 Der HiFi-Fachmann und Internet-Autor Gert Redlich glaubt: »Edison mit seiner Walze hat weltweit vielleicht tausend Leute motiviert, 78 79 80 81
82
Engel u. a. 2010, S. 11. Ein Stündchen beim Phonographen 1987, S. 121. Große 1989, S. 15. Zitiert nach http://www.hifimuseum.de/geschichte-der-schallplatte-1.html, abgerufen am 8.9.2016. Die Museumsseite hifimuseum.de wird genauso wie tonbandmuseum.de und fernsehmuseum.info von meinem Interviewpartner Gert Redlich aus Wiesbaden betrieben. Wilke 2010, S. 194.
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nach dem Motto: Schaut mal, ich habe was Tolles. Und dann haben alle gesagt: Oh, super! Aber die Masse hat sich gefragt: Was macht der denn da eigentlich?«.83 Das liegt zum einen am anfangs noch illusorischen Preis von über fünfhundert Dollar, was einem heutigen Preis von mehr als 11.000 Dollar entsprechen würde. Zum anderen liegt es an bestehenden Patentstreitigkeiten für Europa, fehlenden Vertriebswegen, einer Bedienbarkeit, die einiges an Sachverstand voraussetzt, und verschiedenen technischen Mängeln wie dem extrem niedrigen Ausgangspegel, der geringen Aufnahmedauer von gerade einmal zwei Minuten und der schweren Verständlichkeit der Aufnahmen. Die Zeitschrift Die Gartenlaube schreibt 1878: »So schön das alles klingt, dennoch wird sich Niemand dem Bedenken verschließen, daß diese Zinnblätter nicht als Documente dienen können. Denn abgesehen davon, daß die Maschine manche Buchstaben, namentlich die Zischlaute, bisher nicht klar genug wiedergeben will, obwohl man ihr schon einen gezähneten Mund und ähnliche Nachhülfen gewährt hat, gestattet die weiche Zinnfolie nur wenige Male das Lesen. Die Nadel der Leseplatte verwischt […] und damit wird die Aussprache jedesmal etwas undeutlicher […] und zuletzt bleibt in einem allgemeinen Summen nur noch ab und zu ein einzelnes Wort verständlich.«84
Lediglich in Büros und Sekretariaten, wo vor allem die weiblichen Mitarbeiter im Umgang mit dem Phonographen geschult werden, erfreut er sich als Vorläufer der späteren Diktiergeräte viele Jahre lang gewisser Beliebtheit. Dass sich Menschen einen Phonographen zu Hause aufstellen, bleibt die Ausnahme. Eine Ansprache von Adolf Rechenberg, der seiner Frau Anna zu Weihnachten 1899 einen Phonographen schenkt, gehört darum zu den wenigen überlieferten privaten Aufnahmen auf Sprechwalze. Rechenberg erklärt in der aufgezeichneten Geburtstagsansprache, dass seine Stimme dem »geliebten Weib« von nun an für immer erhalten sei, auch über Rechenbergs eigenes physisches Ableben hinaus.85 Sie dokumentiert also das bereits angesprochene Bedürfnis nach Speicherung und quasi »ewiger« Reproduzierbarkeit. Sie zeigt aber auch, mit welchen technischen Schwierigkeiten, Rechenberg zu kämpfen hat. Weil der Phonograph einen hohen Eingangspegel braucht, muss er beim Besprechen der Walze laut schreien, was der Aufnahme statt der eigentlich beabsichtigten Intimität etwas eher Militärisches verleiht. Gleichzeitig sind laute Nebengeräusche wie ständiges Knacken und Rauschen zu hören. Von Rechenbergs Kindern hört man dagegen nichts. Rechenberg hat sie in einem Halbkreis um den Schalltrichter des Phonographen gesetzt. So beschreibt er es 83 84 85
Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2016. o.A. (1878): Die Gartenlaube, Illustriertes Familienblatt, S. 464. Deutsches Rundfunkarchiv (1997): Rechenberg, Adolf.
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selbst zumindest am Anfang der Aufnahme. Als ich dieses Tondokument angehört habe, wirkte die akustische Abwesenheit physisch anwesender Personen auf mich unter dem Eindruck heutiger Hörgewohnheiten befremdend. Aufgrund hoch sensibler Mikrophone ist es in unserer Zeit praktisch unmöglich, eine Person im Studio nicht zu hören. Rechenberg hat seinerzeit dagegen ganz offenbar noch Mühe, beim Speichern überhaupt etwas hörbar zu machen. Die deutschen Institutionen würdigen den Phonographen Dass sich Privatleute wie Rechenberg an den Phonographen heranwagen, liegt daran, dass Edison seine Erfindung noch einmal überarbeitet hat. Im August 1889 führt er den Improved Phonograph auf der Weltausstellung in Paris vor. Verbessert ist jetzt vor allem die Usability: Das diffizile, gleichmäßige Kurbeln erledigt ein Elektromotor, statt in schnell verschleißendes Stanniol gräbt sich die Nadel jetzt tiefer in eine wiederbeschreibbare Wachswalze. Und das Gewicht des immens schweren Apparates ist auch deutlich reduziert. Von Paris reist Edison auf Einladung des deutschen Erfinders und Industriellen Werner von Siemens nach Berlin. In der Wissenschaftsgesellschaft Urania, die sich zum Ziel gesetzt hat, wissenschaftliche Erkenntnisse einem breiteren Publikum nahe zu bringen, beschäftigt man sich ausführlich mit dem Phonographen. Man ist – heute, im Zeitalter digitaler Speichermedien beinahe unbegreiflich – begeistert von der »Naturtreue« der Tonaufnahmen. Kaiser Wilhelm II., der neben Kanzler Bismarck den Phonographen ebenfalls in Augen- oder besser in »Ohrenschein« nimmt, hebt in der Diskussion den »Werth der Erfindung für den geschäftlichen Verkehr«86 hervor. Damit ist das Echtzeit-Speichern in Deutschland nun von den obersten wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Institutionen abgenickt und für gut befunden. Wenn es nach dem deutschen Kaiser geht, soll seinem Volk die neue Erfindung vor allem beim Sprachunterricht zu Gute kommen – Punkt zwei87 in Edisons bereits erwähntem Zehn-Punkte-Programm zur Nutzung des Phonographen in der North American Review. Der Erfinder träumt in diesem Plan unter anderem von klingenden Familienarchiven, phonographischen Büchern für Blinde, Musikaufnahmen, sprechenden Uhren oder Puppen und Telefonmitschnitten. Und eben auch von Aufnahmen fremder Sprachen zu Unterrichtszwecken. Leichter als bisher könnte seiner Ansicht nach die richtige Aussprache nun mittels Sprechwalzen geübt werden.
86 87
Zit. n. Wilke 2010, S. 197. Edison, Thomas Alva 1878, S. 533.
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Doch trotz der potenten Fürsprecher in Adel und Politik findet der akustische Sprachunterricht mit Sprechmaschinen im großen Stil erst statt, als das viel einfacher zu bedienende Grammophon erfunden wird und den Phonographen in seiner Bedeutung allmählich zurückdrängt. 88 Ein nächster Meilenstein ist das Grammophon Zehn Jahre nach Edison präsentiert Emile Berliner sein erstes Grammophon, das Tonaufnahmen in bisher nicht gekannter Qualität ermöglicht und die Beschäftigung mit alltäglichen Sprach- und Tonaufnahmen im Lauf der Zeit für ein breiteres Publikum attraktiver macht, als es der Phonograph getan hat. Es vergeht gar nicht viel Zeit, da betreiben bereits Sprachforscher wie beispielsweise der Gymnasiallehrer Wilhelm Doegen in Berlin im großen Stil die Tonaufzeichnung fremder Sprachen, um die komplizierten Lautschriften verständlicher zu vermitteln.89 1905 entwickelt der Berliner Unternehmer Gustav Langenscheidt in Kooperation mit der Deutschen Grammophon-Gesellschaft die weltweit ersten Platten für den Selbstlern-Sprachunterricht der englischen Sprache.90 Langenscheidt schafft damit vermutlich die Grundlage für einen riesigen Markt an akustischen Sprachkursen, der bis weit in die neunziger Jahre und zum Teil bis heute auf Schallplatten, CDs und vor allem auch auf Kompaktkassetten erscheinen wird. 1909 gibt auch Sprachforscher Doegen eine mehrbändige SchallplattenReihe für den eigenen Unterricht heraus: »Unterrichtshefte für die selbständige Erlernung fremder Sprachen mit Hilfe der Lautschrift und der Sprechmaschine«. Nur drei Jahre später benutzen schon 1000 Schulen und Universitäten die »Lautplatten« als Hilfsmittel für den Sprachunterricht.91 Doch Doegen sammelt nicht nur fremde Sprachen mit seinem Grammophon. Er sammelt auch bekannte Stimmen. »Es kam eine Zeit, die es sich zur höchsten Aufgabe stellte, die Stimme beliebiger Personen auf Sprechplatten zu bannen. Man ahmte also gewissermaßen die Photographie phonographisch nach und rechnete mit der Eitelkeit der Menschen.«92 Am 10. Januar 1918, kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges, nimmt Wilhelm Doegen für seine Stimmensammlung, eine Sammlung akustischer Portraits, den noch in Amt und Würden waltenden deutschen Kaiser Wilhelm II. auf. Doegen lässt den Monarchen seinen »Aufruf an das Deutsche
88 89 90 91 92
Vgl. 4.1. Fallbeispiel Kassetten im Sprachunterricht: »Où est la famille Leroc?« Simon, Gerd u. a. 2006. Plate u. a. 2011, S. 339. Vgl. http://www.sammlungen.hu-berlin.de/sammlungen/78/ http://www.sprechapparate.de/geschichte.htm, abgerufen am 6.9.2016.
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Volk«, die Kriegserklärung von 1914, noch einmal vorlesen und hält damit die Originalstimme des letzten deutschen Kaisers für alle Zeiten fest. Das Abspielen von Schallplatten ist zwanzig Jahre nach der Erfindung des Grammophons schon ausgereift. Viele Menschen hören Musik oder auch Fremdsprachen von Schellack oder später Vinyl. Wenige Amateure betreiben dagegen selbst Tonaufnahmen, obwohl das Grammophon prinzipiell dazu in der Lage ist. Ähnlich wie die Probleme beim gleichmäßigen Antrieb sind Schwierigkeiten mit dem dauerhaften Speichern oder mehrmaligen Abspielen von Tönen noch nicht zufriedenstellend gelöst. Als langlebiges Speichermedium ist die Wachsplatte schon wegen ihrer leichten Verformbarkeit ungeeignet. Versuche, Abdrücke in Zelluloid oder Hartgummi herzustellen, gibt es schon bald nach Erfindung des Grammophons.93 Aber erst die aufwändige Pressung auf Schwarzplatten – ab 1897 Schellack, der aus fein gemahlenem Baryt, Schiefermehl, Baumwollflock und Ruß 94 besteht, oder ab 1948 Vinyl95 – macht die Aufnahme haltbar und häufig abspielbar. Bei kleinen oder gar einzelnen Stückzahlen lohnt sich der Aufwand kaum. Für Büroarbeiten bringt das Grammophon darum keinerlei Vorteil gegenüber dem Phonographen und wird darum eigentlich gar nicht eingesetzt. Lieber bleibt man zunächst bei Edisons verbessertem Modell. In den Funkhäusern und Radiostationen der Reichsrundfunkgesellschaft (RRG) der Weimarer Republik – wie etwa die Deutsche Stunde, Gesellschaft für drahtlose Belehrung und Unterhaltung mbH im Voxhaus in Berlin – gibt es hingegen lange Zeit kein alternatives Aufnahmeverfahren zur Wachsplatte. Zwar ist noch immer die Live-Sendung die häufigste Sendeform. Doch die Programme werden umfangreicher und ohne Tonkonserven auszukommen, ist irgendwann praktisch unmöglich. Allerdings ist im Alltag der Rundfunkstationen keines der bisher bekannten Aufzeichnungsverfahren besonders anwenderfreundlich. Noch weit bis ins übernächste Jahrzehnt hinein kämpft man beispielsweise mit den kurzen Aufnahmezeiten der Wachsplatten:96 gerade einmal vier bis viereinhalb Minuten pro Seite. Zur Aufzeichnung längerer Musikstücke, aber auch, um solche im Radio abspielen zu können, entwickeln die Tontechniker darum ein sogenanntes »Überlappungverfahren« mit zwei Schneidemaschinen: Dreißig Sekunden, bevor die erste Wachsscheibe zu Ende ist, wird eine zweite Maschine in Gang gesetzt und schneidet parallel mit. Beim Abspielen hat der Techniker 93 94 95 96
Schubert 1983. URL (abgerufen am 11.9.2016): http://www.dra.de/rundfunkgeschichte/radiogeschichte/pdf/historie_der_-schallauf zeichnung.pdf Leonhard u. a. 2001, S. 1363. Antébi 1983, S. 163. Engel u. a. 2010, S. 154 ff.
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wiederum dreißig Sekunden Zeit, beide Maschinen parallel laufen zu lassen, die beiden Aufnahmen unterdessen zu synchronisieren und zu »überblenden«. Manchmal muss dieser komplizierte Vorgang bis zu sechzehn Mal pro Stunde wiederholt werden, was nicht nur technisch anspruchsvoll, sondern auch nervenaufreibend ist, denn jede Überblendung erfordert viel Geschick und volle Konzentration.97 Dass die etwa zwei Zentimeter dicken »Wachskuchen« vor einer Aufnahme in eigenen Wärmeschränken auf rund dreißig Grad erwärmt werden müssen, bevor sie geschnitten werden können, und nach dem Schneiden abkühlen sollen, macht Tonaufnahmen zusätzlich aufwändig und teuer. Besonders schwierig ist außerdem, dass sich eine Wachsplatte nach der Aufnahme höchstens noch ein weiteres Mal abspielen lässt, bevor das Kratzen der Tonabnehmernadel die Form der Rillen und damit die Tonaufnahme verändert, bei weiterer Nutzung sogar beschädigt und im schlimmsten Fall ganz zerstört. Die Tonmeister der Rundfunkanstalten entwickeln im Umgang mit der empfindlichen Wachsplatte über die Jahre natürlich genauso Routine wie Wilhelm Doegen und andere passionierte Sprachen- und Stimmensammler. Für den beweglichen Einsatz im Übertragungswagen wird ab der zweiten Hälfte des Jahres 1932 unter dem Namen Decelith eine Schallfolie eingeführt, die zwar leichter zu bearbeiten und weniger empfindlich ist, aber längst keinen so guten Ton aufweisen kann wie die Platte.98 Für private Tonaufnahmen und technisch unerfahrene Nutzer gibt es allerdings – im Zeitalter von Smartphone und Co. heute unvorstellbar! – bis zur Entwicklung dünner magnetisierter Tonbänder keine wirklich anwenderfreundlichen akustischen Speichermedien.
2.3 »I CAN MAKE A BETTER ONE«: DIE MAGNETBAND-STORY Die Geschichte der magnetischen Tonaufnahmen beginnt im Winter 1877/78, kurz nachdem Thomas Alva Edison im Dezember 1877 den Phonographen erfunden hat. Der Erfinder bekommt Besuch von einem nimmermüden Ingenieur, Tüftler und Fabrikanten aus Bridgeton in New Jersey. Der damals knapp vierzig Jahre alte Oberlin Smith ist Chefingenieur in der von ihm gegründeten Maschinenfabrik Ferracute Machine Company, zu deren wichtigsten Kunden nicht nur
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Wittkop 1939, S. 29. Schubert 1983, abgerufen am 11.9.2016.
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die Ford Motor Company gehört, sondern interessanterweise später auch die Viktor Talking Machine Company von Grammophonerfinder Emile Berliner. 99 Oberlin Smith lässt sich also den mechanischen Phonographen vorführen, ist beeindruckt von dessen vielen potentiellen Einsatzgebieten, gleichzeitig aber sicher: »I can make a better one«.100 Er bestellt sich einen Phonographen und beginnt auf dem Gebiet der Tonaufzeichnung selbst zu experimentieren. Für ihn komplettes Neuland. Trotzdem hat er innerhalb weniger Monate auf dem Papier einen elektromagnetischen Typ des Phonographen entwickelt, der nicht mehr mit einer Nadel in einen Wachszylinder ritzt. Dieses Verfahren ist Smith wegen der damit verbundenen Klangverfärbungen und Kratzgeräusche von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen. Für seinen eigenen Phonographen verwendet er statt Nadel und Walze darum einen magnetisierten Draht auf einer Spule. Als möglicher Einsatzbereich für seine Sprechmaschine schweben ihm Telefonmitschnitte vor. Genau genommen: eine Art Anrufbeantworter. Am 23. September 1878 dokumentiert Smith seine Arbeiten genau und veröffentlicht einige Jahre später in der Fachzeitschrift Electrical World einen Experimentalbericht darüber.101 In Frankreich erscheint dieser Artikel in der ebenfalls beliebten und weit verbreiteten Fachzeitschrift La lumière électrique. In beiden Fällen allerdings mit wenig Resonanz. Es scheint der Fluch der Magnettontechnik zu sein, dass sie auch in Zukunft etliche Anläufe benötigt, bis sie schließlich so weit ausgereift ist, dass sie für eine große Zahl von Anwendern interessant wird. Als Smith versucht, ein Patent auf seinen elektrischen Phonographen anzumelden, gelingt ihm das jedenfalls erst einmal nicht, denn er kann den dafür notwendigen, funktionsfähigen Prototypen nicht vorweisen. 102 Die Zeichnungen und Pläne, die Smith an Edison schickt, bleiben ebenfalls unkommentiert. Edison ist mit der Weiterentwicklung der elektrischen Glühbirne und der Elektrifizierung der Stadt New York beschäftigt.103 Und auch Smith kann nicht nachhaken – weder bei Edison, noch beim Patentamt. Seine boomende Firma Ferracute belegt ihn mit Beschlag.104 99
100 101 102 103 104
Vgl. Engel 1989: In seinem Essay wertet Engel persönliche Korrespondenz von Oberlin Smith mit verschiedenen Zeitgenossen aus, darunter auch etlichen Behörden und Erfinderpersönlichkeiten. Engel kommt zu dem Schluss: »His parents were born in England; his father was deeply committed to the anti-slavery-movement. Oberlin Smith himself later shared this commitment, and was also an advocate of women's suffrage—clearly he was a progressive personality not only in technical matters.« Engel u. a. 2010, S. 8. http://www.magnetbandmuseum.info/magnetband_story1.html, abgerufen am 12.9.2016. Clark, Mark H. , S. 7. Read/Welch 1976, S. 26. Engel 1989.
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Die ersten Magnettonaufnahmen der Welt Und so vergehen mehr als zehn Jahre, bis schließlich ein anderer, ein Juristensohn aus Dänemark, die Lorbeeren bekommt, die sich Oberlin Smith gerne verdient hätte. Valdemar Poulsen ist seit 1893 bei der Copenhagen Telephone Company angestellt und macht seither Versuche mit der Aufzeichnung von Telefongesprächen.105 Auch ihm würde – wie Oberlin Smith ein paar Jahre zuvor – eine Art Anrufbeantworter mit Magnettontechnik gefallen. Durch einen einfachen Grundlagenversuch löst der Autodidakt Poulsen ein Problem, das vielen anderen Zeitgenossen noch Kopfzerbrechen bereitet: »Herrschende Lehre war seinerzeit – gültig bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts –, ein Magnetfeld würde ferromagnetisches Material spontan und undifferenziert magnetisieren, etwa wie auslaufende Tinte alle Worter unleserlich machen würde, wenn jemand auf Loschpapier zu schreiben versuchte.«106 Poulsen beweist das Gegenteil: Er zieht einen Magnetstift über ein Stemmeisen. Der Magnet hinterlässt auf der Eisenfläche offenbar eine magnetische Spur, denn feine Eisenspäne, die Poulsen danach auf das Stemmeisen aufstreut, bleiben an dieser Spur haften. »Die wichtige Lehre aus diesem Versuch heißt: Ferromagnetische Körper lassen sich örtlich begrenzt magnetisieren. Was Oberlin Smith vermutet hatte, bewies Valdemar Poulsen: Stahldraht taugt zur Schallaufzeichnung.«107 Poulsen baut danach die erste funktionsfähige Magnettonmaschine der Welt und nennt sie »Walzen-Telegraphon«. Am 2. September 1899 wird das Patent für Deutschland vom Kaiserlichen Patentamt in Berlin erteilt. Als Poulsen seine Erfindung, die Edisons Phonographen gar nicht so unähnlich sieht, im darauffolgenden Jahr auf der Pariser Weltausstellung präsentiert, schlagen die Wellen der Begeisterung hoch. Im Besucherbuch tragen sich Mitglieder der Familie Siemens und der Schriftsteller Emile Zola ein.108 Die deutsche Wochenzeitschrift Prometheus berichtet: »In der dänischen Abtheilung des Elektrizitätspalastes der Pariser Weltausstellung ist das Telegraphon des dänischen Telegraphen-Ingenieurs ausgestellt, das bei seinem unscheinbaren Aeusseren anfänglich übersehen wurde, seitdem es jedoch bekannt geworden ist, übt
105 http://www.magnetbandmuseum.info/magnetband_story1.html, abgerufen am 12.9.2016. 106 Engel u. a. 2010, S. 13. 107 Engel u. a. 2010, S. 13. 108 Clark/Nielsen 1999, S. 20.
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es eine so grosse Anziehung auf die Besucher der Ausstellung aus, dass die Zeitschrift ›La Nature‹ das Telegraphon zu den ›Clous‹ der Ausstellung zählt.«109
Ein bisschen belustigt äußert sich in der Rubrik »Vermischtes« dagegen das Berliner Centralblatt der Bauverwaltung über den Namen von Poulsens Sprechapparat: »Da der Erfinder den obigen Namen nun einmal gewählt hat, so sind wir genöthigt, ihn (wenigstens vorläufig) zu benutzen. Wir wollen aber doch darauf hinweisen, daß wir – ganz abgesehen von der Geschmacklosigkeit solcher Modenamen überhaupt – die Wortbildung ›Telegraphon‹ für sprachwidrig halten.«110
In Poulsens Erfinder-Logik ergibt der Name aber durchaus Sinn, denn das Walzen-Telegraphon betrachtet er immer als Zusatzapparat für das Telefon und nie als eigenständiges Gerät. Es verfügt über eine maximale Aufnahmedauer von vielleicht 45 Sekunden – gerade genug also für das Aufzeichnen einer kurzen telefonischen Nachricht. Poulsen erhält dafür einen begehrten Grand Prix der Pariser Weltausstellung. Ein Jahr später lässt sich Kaiser Franz Joseph I. von Österreich-Ungarn auf einer Ausstellung in Wien Poulsens Erfindung vorführen. Poulsen ist eigens aus Kopenhagen angereist und also persönlich anwesend, als seine Majestät eine Aufnahme auf Draht hinterlässt, was später in der Zeitung Illustrirtes Wiener Extrablatt auf Seite drei beschrieben wird: »Diese neue Erfindung hat mich sehr interessiert und ich danke sehr für die Vorführung derselben.« Diese vierundzwanzig Sekunden sind die bis heute älteste erhaltene Magnetton-Aufzeichung der Welt.111 Poulsens zweites bekanntes Modell des Telegraphons, das »StahlbandTelegraphon«, wird aus unbekannten Gründen weder dem Österreichischen Kaiser vorgestellt, noch auf der Pariser Weltausstellung gezeigt, sondern praktisch parallel dazu in Berlin. Die Zeitschrift Prometheus beendet ihren Bericht über das Walzen-Telegraphon in Paris mit dem Zusatz: »Indem wir diesen Aufsatz zum Druck geben, erfahren wir, dass sich zur praktischen Verwerthung der bedeutsamen Erfindung ein dänisch-deutsches Syndikat gebildet hat, an dem als technische Leiterin die Actiengesellschaft Mix & Genest in Berlin betheiligt ist. Wir werden auf den Gegenstand mit einem eingehenden Bericht in allernächster Zeit zurückkommen.«112
109 110 111 112
Mückenberger 1900, S. 716. Schultze 1900, S. 344. Engel u. a. 2010, S. 16. Mückenberger 1900.
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Poulsens anderes Telegraphon-Modell verwendet statt Draht ein dünnes Stahlband und kann sechzehn bis achtzehn Minuten Ton aufnehmen – im Zweifelsfall also sogar ein ganzes Telefonat mitschneiden. Es wiegt allerdings auch stolze zweiunddreißig Kilo und hat mit demselben Problem zu kämpfen wie alle anderen Magnetton-Experimente: Das Aufgenommene wird zu leise wiedergegeben. Die Lösung dafür findet sich erst, als Anfang des 20. Jahrhunderts, um 1907, die beiden Erfinder Robert von Lieben und Lee de Forest mehr oder weniger parallel die Verstärkerröhre entwickeln. Doch der Verstärker braucht Reifezeit, und auch bei dieser technischen Entwicklung blockieren – wieder einmal – Patentstreitigkeiten eine zügige Weiterentwicklung. Während sich von Lieben mit seinem Verstärkermodell vorwiegend im Bereich der Telefonie einen Namen macht, verschreibt sich de Forest vorrangig dem Radio. Berühmt geworden ist die erste öffentliche Live-Übertragung am 12. und 13. Januar 1910 aus der Metropolitan Opera in New York, die dank der neuen Verstärkertechnik offenbar in guter Lautstärke empfangen werden kann. Neben Tosca und der Cavalleria Rusticana ist auch die Oper Pagliacci zu hören.113 Es singt kein geringerer als der italienische Tenor und Weltstar Enrico Caruso. Magnettongeschichte der Irrungen und Wirrungen Obwohl schon in ihren Anfangszeiten die Idee der Magnettontechnik ganz offensichtlich gekrönte Häupter gleichermaßen fasziniert wie die Leser illustrierter Wochenzeitschriften, gerät ihre Entwicklung – anders als die der mechanischen Aufnahmeverfahren – immer wieder ins Stocken. Es bleibt bei Experimenten. Bestenfalls werden einige Kleinserien – wie etwa Poulsens Telegraphon – hergestellt. Gründe dafür scheinen ihre fehlende Praxistauglichkeit im Vergleich etwa zum Grammophon zu sein, der hohe Preis, die bereits erwähnte mangelnde Abspiellautstärke der Aufnahmen und auch das immense Gewicht von Geräten und Spulen. Im Übrigen sind auch die Nebengeräusche, die schon Oberlin Smith bei den mechanischen Tonaufnahme-Verfahren bemängelte, bei magnetischen Aufnahmen noch nicht wirklich ausgeräumt. Auch kann der Tonträger zwar mehrmals gelöscht und neu bespielt werden, doch wenn der Draht einmal reißt, muss er umständlich neu verschweißt werden, was in der Aufnahme als lautes Knacken zu hören bleibt.114 An ein gezieltes Schneiden oder Bearbeiten der Aufnahmen ist nicht im Traum zu denken. Die Usability ist noch nicht ausgereift. Etliche
113 Stiller 2006, abgerufen am 12.9.2016. 114 Rose o.J., abgerufen am 12.9.2016. http://tonbandgeschichte.studerundrevox.de/aller_anfang.html
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Erfindungen wie etwa das Graphophone115, der Dailygraph116 oder das Textophone117 geraten schnell wieder in Vergessenheit, kaum sind sie der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Das aufbrandende Interesse der Menschen an den neuen Erfindungen erlahmt in der Regel rasch wieder. »Bedenkt man die in den übrigen Schutzrechten investierte Arbeit – ganz zu schweigen von den erfolglosen, daher meist ›untergegangenen‹ Anmeldungen –, steht man vor einer bedrückend langen Kolonne vergessener Erfinder und vergeblich durcharbeiteter Stunden. Ein Labyrinth zu früh gekommener Erfindungen, teils unterbewertet, teils in Sackgassen festgefahren.«118 »Aber die Technik ist eine ruhelose Dame«, schreibt der deutsche Journalist, Arzt und Schriftsteller Peter Bamm etwa fünfzig Jahre später im Vorwort zur Produktbroschüre eines neuen Tonbandtyps. »Wenn sie einmal einer Sache sich bemächtigt hat, ist jeder Fortschritt nur eine neue Aufgabe. Vor fünfzig Jahren hat man mit Versuchen, Schallschwingungen magnetisch aufzuzeichnen, begonnen. Erst kam nicht viel dabei heraus. Aber die Technik ist nicht nur eine ruhelose, sondern auch eine ehrgeizige Dame. Hartnäckig wurde dem Projekt weiter nachgegangen.«119
Vom Zigarettenmundstück zum Tonband Am Ende der 1920er Jahre tritt ein junger Erfinder, ein Elektroningenieur und Papiersachverständiger aus Dresden, auf den Plan, der die wirklich wegweisende Erfindung für die Weiterentwicklung der Magnetton-Technologie auf den Markt bringt: der in Salzburg geborene Fritz Pfleumer. 120 Gemeinsam mit seinem Vater und seinen Brüdern arbeitet er beispielsweise an der Entwicklung von Autoreifen, die mit vulkanisiertem und mit Stickstoff aufgeschäumtem Kautschuk121 gefüllt werden, oder an einem Verfahren zur Verdichtung von Holz. Insgesamt bringen es die Pfleumers auf zweiundzwanzig angemeldete Patente. Fritz Pfleumer entwickelt das Material für Kreppsohlen122, Trinkröhrchen aus Kunststoff
115 Fast baugleiches Gerät zu Edisons verbessertem Phonographen, mit Mundstück und langem Schlauch, patentiert 1880 für die USA von Sumner Tainter und Alexander Graham Bell, dem Erfinder des Telephons, Vgl. Read/Welch 1976, S. 28. 116 1930 vom damals 35jährigen Semi Joseph Begun bei Schuchhardt in Berlin entwickeltes Stahlton-Gerät, Engel u. a. 2010, S. 27ff. 117 1934 entwickeltes Stahlton-Gerät, das auf magnetisiertem Draht aufnimmt, vgl. Mor ton 1999, S. 102. 118 Engel u. a. 2010, S. 36. 119 Bamm 1954. 120 Leonhard u. a. 2001, S. 1364. 121 Vgl. http://dingler.culture.hu-berlin.de/article/pj331/ar331021, abgerufen am 3.3.2017. 122 Antébi 1983, S. 161.
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und beschichtete Einwickelpapiere für Lebensmittel 123, bis er schließlich auch eine Methode zur magnetisierbaren Beschichtung von Papierbändern entdeckt und damit den bis weit in die neunziger Jahre hinein gebräuchlichen Standard für Tonbänder setzt. Zunächst einmal hat Pfleumers Erfindung, die bahnbrechend sein wird für die Aufnahmetechnik etlicher Jahrzehnte, überhaupt nichts mit Magnetton zu tun. Pfleumer arbeitet als Berater in der Dresdner Zigarettenmaschinenfabrik Universelle124 und erhält den Auftrag, neue Zigarettenmundstücke zu erfinden. Mundstücke sehr teurer Zigaretten sind damals mit Blattgold belegt, damit Papier und Tabak nicht an den Lippen der Raucher kleben bleiben.125 Mundstücke billiger Zigaretten sind dagegen nur mit Bronzepulver bestäubt, das an Händen und Lippen haftet. Die Raucher dieser Billig-Zigaretten sind leicht an ihren ständig verfärbten Fingern zu erkennen.126 Das soll Pfleumer ändern und entwickelt 1924 ein Verfahren, mit dem sich der Bronzestaub mittels einer Beschichtung fixieren lässt. Pfleumers Erfindung setzt sich durch. Das Blattgold kommt aus der Mode, irgendwann natürlich auch die Bronze. Doch bis heute sind in Erinnerung daran die Filter-Ummantelungen der meisten Zigaretten gelb eingefärbt. Aus Stahl und Eisen werden »Schnürsenkel« Es soll im Jahr 1927 gewesen sein,127 dass Fritz Pfleumer im Straßencafé auf einem der Pariser Boulevards sitzt und ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schießt: Man könnte mit dem Verfahren zur Beschichtung von Zigarettenpapier auch Tonbänder zur Magnettonaufzeichnung herstellen. Der Tonfilm ist inzwischen erfunden, das Lichttonfilmverfahren also auch. Die Schallplatte befindet sich unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Nur die Magnettontechnik ist fünfzig Jahre nach Oberlin Smith immer noch nicht ausgereift. Am erfolgversprechendsten sind die Draht-Diktiergeräte des deutschen Physikers Curt Stille mit extrem dünnem Magnetdraht und zwei Stunden Aufnahmezeit. Stille tüftelt an Stahldraht- und Stahlbandmaschinen, seit er Poulsens »sprechenden Draht« in Paris gesehen hat. 1929 bringt er gemeinsam mit Louis Blattner ein Stahltonbandgerät auf den Markt. 123 Engel u. a. 2010, S. 37. 124 Rose o.J., abgerufen am 11.9.2016. http://tonbandgeschichte.studerundrevox.de/30er.html 125 Engel u. a. 2010, S. 38. 126 Rose o.J., abgerufen am 12.9.2016, http://tonbandgeschichte.studerundrevox.de/aller_anfang.html 127 http://www.magnetbandmuseum.info/magnetband_story1.html#c1517, abgerufen am 11.9.2016.
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Durch seine vielen Veröffentlichungen sind Stilles Gedanken und technischen Überlegungen in der Fachwelt präsent. Mittelbar inspirieren sie wohl auch Pfleumer zu seiner die Idee, für Magnettonaufnnahmen statt der schweren Bänder und Drähte gemahlenen Stahl zu verwenden und das Pulver nach dem gleichen Prinzip, wie er das Bronzepulver auf dem Zigarettenpapier »befestigt« hat, auf dünnen langen Papierbändern zu fixieren. Von der Idee und der Patentschrift im Jahr 1928 bis zur Marktreife im Jahr 1935 ist es indessen wieder ein langer Weg. Pfleumer baut sich zunächst selbst ein Abspielgerät für seine neuen, sechzehn Millimeter breiten Tonbänder.128 Als er die Maschine öffentlich vorführt, das Band absichtlich zerreißt und es danach wieder zusammenklebt, sind die Experten der AEG beeindruckt: An den Klebestellen ist fast kein Knacken mehr zu hören. Wenn das Papierband aber feucht wird, zerreißt es unabsichtlich. Und weil Pfleumer den Stahl nicht fein genug gemahlen hat, rauscht das Band auch heftig. Spätestens ab den fünfziger Jahren sind moderne Magnettonbänder dann aber aus keiner Radiostation mehr wegzudenken: Von Redakteuren und Technikern werden sie liebevoll »Schnürsenkel«129 genannt. Auch Tausende Amateure experimentieren in der Folge mit Heimtonband- und tragbaren Reportagegeräten. Das Tonband gilt bis zur Erfindung digitaler Speichermethoden unumstritten als qualitativ hochwertigster Tonträger. Doch das liegt noch in weiter Ferne, als am 25. und 26. Juli 1931 der Dresdner Anzeiger und die Dresdner Neue Post zunächst nur konstatieren, ein Dresdner Ingenieur habe »singendes Papier«130 erfunden. Viele Wege führen zum Tonband Wie schon erwähnt: Die Geschichte der Magnettonaufnahmen ist keine lineare. An vielen Orten zu vielen verschiedenen Zeiten experimentieren Ingenieure, Physiker und Autodidakten gleichzeitig mit der neuen Technik. Parallel zu Fritz Pfleumers Tonbändern, die 1935 im neuen Magnetophon K1 von AEG erstmals auf der Berliner Funkausstellung präsentiert werden, entwickeln auch andere Ingenieure brauchbar klingende, aber deutlich unhandlichere Produkte: riesige Stahlbandmaschinen wie etwa das Blattnerphone oder die Marconi-StilleRecorder-Serie,131 die optisch schon ein wenig an die Tonbandgeräte späterer Tage erinnern. Diese rund eine halbe Tonne schweren Kolosse werden zunächst
128 129 130 131
Antébi 1983, S. 161. Vgl. auch Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016. Kuhn 1931. Schubert 1983, abgerufen am 11.9.2016.
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zum Nonplusultra des Stahlbandzeitalters,132 weil sie besser klingende und länger haltbare Aufnahmen produzieren als die bisher gebräuchlichen Wachsplatten. In den 1930er Jahren, als Pfleumers Erfindung noch nicht ausgereift ist, setzen Rundfunkanstalten wie die BBC darum allmählich statt Wachsplatten solche Stahltonbandmaschinen für den Alltagsbetrieb in den Funkhäusern ein. 133 Die Technik mit magnetisierbaren Stahlbändern funktioniert in den Funkhäusern zunächst zwar besser als die Überblendtechnik mit Schallplatten, die Bänder lassen sich auch besser lagern als Drahtspulen. Aber das lästige Grundrauschen ist immer noch da. Und in den Geräten lauern wegen des enormen Gewichtes darüber hinaus auch ernsthafte Gefahren: »Das Stahlband, das Ding wog siebenundzwanzig Kilo, und es haben sich öfter mal Montageteile gelockert. Und wenn dann dieser Bandwickel durch das Zimmer geschossen ist und hat alle Leute halb erschlagen und die Schränke zertrümmert, weil die Rotationsenergie in so einer großen Spule war wie ein drehender Autoreifen. Und wenn es gerissen ist, die herumzischenden losen Enden mit ihren scharfen Kanten – dann war das schon gefährlich. Das muss zwar nur ein paar Mal vorgekommen sein. Aber es ist halt vorgekommen. Und dann hat man gesagt: So wird das nix.«134
Also wendet man sich ab 1935 auch in den Rundfunkanstalten allmählich Pfleumers Erfindung zu. Pfleumer hat seine Ideen inzwischen weiterentwickelt. Die Bänder klingen jetzt besser und sind biegsamer als Stahlbänder, die Bandgeschwindigkeit ist auch höher.135 Die Zusammensetzung der Beschichtung ist verändert, ein Kunststoffband aus Acetat hat das Papierband ersetzt, ein neues Abspielgerät mit dem von Eduard Schüller erfundenen Ring-Tonkopf ist dazugekommen und die AEG zum potenten Vertragspartner geworden. Für Reportagen sind in den Runfunkanstalten noch tragbare Aufnahmegeräte mit Stahldraht wie etwa das 1933 entwickelte Magnetton-Diktiergerät Textophone im Einsatz, auf das auch die Nationalsozialisten nach ihrem Regierungsantritt rasch aufmerksam werden. 1944 scheinen diese Geräte gegenüber den inzwischen verbesserten Tonbändern allerdings an Beliebtheit einzubüßen: Mindestens fünfzig Dienststellen der NSDAP, Reichspost und Wehrmacht sind bereits mit Tonschreibern136 ausgestattet.137 Auch zur Aufzeichnung wichtiger Reden, 132 133 134 135 136
Engel u. a. 2010, S. 33. Engel u. a. 2010, S. 33. Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2016. Antébi 1983, S. 162. Die zivile Bezeichnung für Tonbandgeräte lautet »Magnetophon«. In militärischen Kontexten wird dagegen von »Tonschreibern« oder »Heeres-Tonschreibern« gesprochen. 137 Engel u. a. 2010, S. 101.
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um Telefongespräche mitzuschneiden oder für andere militärische Zwecke werden von der NS-Propaganda sogenannte Tonschreiber eingesetzt.138 1954 rangiert die BBC zugunsten der neuen, auf Pfleumer zurückgehenden Tonbandtechnologie endgültig ihre allerletzte Stahltonbandmaschine aus.139 Das Zeitalter der magnetisierbaren Kunststofftonbänder und damit das Zeitalter des umfänglichen und authentischen Speicherns von Tönen ist unwiderruflich angebrochen. Peter Bamm konstatiert im selben Jahr in der bereits zitierten Produktbroschüre für ein neues Tonband: »Zweifellos hat sich die Welt durch diese Erfindung ein wenig verändert. Es gibt Schallarchive, in denen Tausende von Ereignissen aufgehoben werden, die früher verlorengegangen wären. Reihte man alles das, was bisher auf Magnettonband aufgenommen worden ist, aneinander, man könnte dieses Band der Ereignisse ein paarmal um die alte Erde schlingen. Das Magnettonband begleitet Expeditionen in ferne Länder. Es steigt mit hinauf in die Stratosphäre. Es taucht tief in den Ozean hinab. Das Magnettonband nimmt Olympiaden und Opern, Kongresse und Feierstunden, Parlamentssitzungen, Festspiele und Präsidentenwahlen auf. Es läßt den Menschen an den großen Ereignissen sowohl wie an den Narreteien seines Zeitalters teilnehmen. Das Magnettonband verbreitet Bildung und Wissen. Es dient der Kunst. Es dient dem Vergnügen. Und brächten wir es soweit, daß für jedermann die Kunst ein feines Vergnügen und das Vergnügen eine feine Kunst wäre, so könnten wir vielleicht sagen, daß der Mensch von dieser Erfindung der alten Zauberin Technik wirklich einmal einen ganz vernünftigen Gebrauch macht.«140
2.4 AUF DEM WEG ZUR KOMPAKTKASSETTE: SCHWIERIGKEITEN MIT DEM TONBAND Mit dem modernen, leichten Kunststoffband bricht zunächst in den Funkhäusern und Tonstudios, aber bald auch in den privaten Haushalten eine neue Ära an. Anders als mit Stahlband oder Draht ist es neben dem reinen Aufnehmen und Abspielen jetzt zum ersten Mal auch möglich, eine Aufnahme gezielt zu bearbeiten, das heißt zu schneiden, zu mischen oder zu arrangieren. Der HiFi-Sammler Gert Redlich aus Wiesbaden erinnert sich: »Das Magnetband auf Plastikbasis, das man schneiden konnte, war eine richtige Revolution: Man konnte was aufnehmen, schnippelte da was raus und konnte dann einen neuen Sinn in das Band reinlegen.«141 Über ein Mischpult lassen sich außerdem mehrere Bandmaschinen
138 Engel u. a. 2010, S. 126. 139 Vgl. http://www.magnetbandmuseum.info/w-bruch-artikel-nr45.html, abgerufen am 3.3.2017. 140 Engel u. a. 2010, S. 226. 141 Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2016.
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zusammenschließen, und selbst mit einem einzigen Gerät sind einfache Tonmontagen möglich. Der amerikanische Superstar und Entertainer Bing Crosby142 liefert mit seiner legendären Radioshow nur ein Beispiel für die Möglichkeiten, die sich dank der neuen Geräte im Radio- wie auch im Showgeschäft auftun. Als ein USamerikanischer Funkoffizier, der Bild- und Toningenieur Jack Mullin, für die amerikanische Firma Ampex nach dem Krieg im Jahr 1946/47 aus einer deutschen Rundfunkanstalt in Bad Nauheim zwei AEG Tonbandgeräte und fünfzig Tonbänder als Kriegsbeute mitnimmt, sie modifiziert und schließlich vorführt, ist Bing Crosby begeistert. Schon lange sucht er nach einer Möglichkeit, seine wöchentliche halbstündige Radio-Show nicht drei Mal live senden zu müssen: einmal für die Ostküste, drei Stunden später für Mittelamerika und drei Stunden später noch einmal für die Westküste. Bis Mullin mit den deutschen HiFiGeräten in Hollywood auftaucht, gibt es von der Soundqualität her keine wirklichen Alternativen zur Live-Sendung. Crosby, der Live-Auftritte hasst, investiert mit insgesamt 50.000 Dollar eine Menge Geld in die Firma Ampex und in die Weiterentwicklung der deutschen Technologie »à l'américaine«. Crosby besorgt den USA damit indirekt ein erstes eigenes Tonbandmodell 143, beginnt, seine Show auf Band aufzuzeichnen und von New York aus über eine neu gebaute Leitung zu senden. Kommt eine Pointe nicht gut beim Publikum an, setzen die Techniker einfach ein paar Lacher aus einer anderen Sendung ein. Die Schnitte sind am Ende nicht zu hören. »Das war dann die Revolution für das Magnetband durch den Nutzen. Die Deutschen hatten den Nutzen nicht richtig verkaufen können. Und dann war das in Deutschland später Militärsache, das war sowieso nichts. Aber das in Amerika war ein Umschwung, dass das Magnetband weltweit publik wurde und auch den Durchbruch erreicht hat.«144 Als die Beatles 1966 ihren Song Strawberry Fields forever aufnehmen, ist die Praxis des Schneidens, Manipulierens und Neu-Montierens so weit ausgereift, dass folgende Geschichte überliefert wird: Nachdem die Band in den Abbey-Road-Studios den Song bereits mehr als zwei Dutzend Mal eingespielt hat, ist John Lennon noch immer nicht zufrieden mit dem Ergebnis. Ihm gefallen der Anfang der vierten und das Ende der sechundzwanzigsten Version 145. Also bittet er George Martin, den Produzenten, die Hälften beider Takes zu einem zusammenzufügen. Die beiden Versionen sind in unterschiedlichen Tonarten und Tempi gespielt. Das Tempo des schnelleren Teils wird beim Zusammenschnitt etwas gedrosselt, wodurch auch die Tonhöhe absinkt. Nach etwa einer Minute 142 143 144 145
Hammar 1999, abgerufen am 13.9.2016. Antébi 1983, S. 163. Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2016. Morton 2006, S. 41.
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des fertigen Songs sitzt der Schnitt, der nicht zu hören ist. Ein technisches Kunststück, das zwar mehr als fünfzig Stunden Studiozeit frisst, sich langfristig aber auszahlt. Noch 2004 wählt die Musikzeitschrift Rolling Stone das Stück unter die besten hundert Popsongs der Weltgeschichte. Schon lange vor den Beatles, im Jahr 1952, hat die Schweizer Expeditionsgruppe bei der gescheiterten Erstbesteigung des Mount Everest ein Tonbandgerät zu Dokumentationszwecken im Gepäck: den Prototypen eines mobilen Tonbandrekorders, der später legendären Nagra. Als das Gerät in Serie geht, werden bald überall Radioreporter für Außenaufnahmen mit mobilen Klein-Tonbandgeräten wie dem erwähnten Modell Nagra des Schweizer Herstellers Kudelsky oder dem Report der Münchener Firma Uher ausgestattet.146 Im Innendienst der öffentlichrechtlichen Studios sind dagegen schwere Maschinen von Telefunken oder Studer Revox im Einsatz. Auch kleinere, sogenannte Heimtonbandgeräte für den privaten Gebrauch erobern in den fünfziger Jahren den Markt, wie beispielsweise in der Biographie von Max Grundig, dem damals größten Tonband- und Musikschrankhersteller der Welt,147 1951 zu lesen ist: »Im Schatten der Fernseheuphorie148 gehörten zu den Neuerscheinungen jetzt auch die ersten Heim-Tonbandgeräte, die zunächst in Musikschränke integriert, dann auch solo gebaut wurden. Zum wahren Verkaufsknüller reüssierten sie, als mit dem Reporter 300L für 998 DM der erste Tonbandkoffer unter 1000 Mark aufgelegt wurde – etwa zeitgleich mit dem ersten großen Fernsehgerät für 1800 DM.«149
»Tonbandeln« als teures Freizeitvergnügen Tonbandhersteller wie Grundig, aber auch AEG oder Philips vermarkten ihre Maschinen und die dazugehörigen Bänder für private Nutzer als »Geräte der unbegrenzten Möglichkeiten«.150 Die »Tonjagd« nach Geräuschen in der Natur (Abb. 4) und die akustische Untermalung von Dias oder Schmalfilmen (Abb. 5) gehören ebenso zu den beworbenen Einsatzgebieten wie Musikaufnahmen aus dem Radio oder von der ebenfalls boomenden Schallplatte. Zubehörteile wie Kleber zum Fixieren der Bandenden nach einem Schnitt, Stative für Mikrophone, Kupplungen zum Anschluss an den Diaprojektor oder Hallgeräte zum Ver146 Mehr zum professionellen Gebrauch von Tonband und Kassette im Rundfunk auch in Kapitel 3.3 Mobile Kassettengeräte im professionellen Einsatz und in 4.3.2 Kassette goes »on air«. 147 Bronnenmeyer/Grundig 1999, S. 60. 148 Ab dem 27. September 1951 strahlt ein Sender auf dem Grundig Werksgelände in Fürth täglich ein Fernseh-Versuchsprogramm aus. 149 Bronnenmeyer/Grundig 1999, S. 54. 150 Röther 2012, S. 337.
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fremden der Aufnahmen erscheinen bald ebenfalls auf dem Markt. Und trotzdem ist bis zum Jahr 1963 nicht einmal jeder zehnte westdeutsche Haushalt im Besitz eines Tonbandgerätes.151 Abbildung 4: »Tonjagd mit Papagei«
Quelle: Archiv Philips
151 Röther 2012, S. 370.
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Abbildung 5: »Filmaufnahme«
Quelle: Archiv Philips
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Ein Grund dafür ist unter anderem der immens hohe Anschaffungspreis von durchschnittlich um die eintausend Mark pro Gerät. Bei einem »normalen« Monatseinkommen im Jahr 1960 von etwa dreihundert Mark brutto 152 bleibt das »Tonbandeln« ein Vergnügen für Bessergestellte, für die meisten Teenies, die höchstens um die zwanzig Mark Taschengeld im Monat bekommen, gar ein unerfüllbarer Traum.153 Grundig, Philips und Telefunken versuchen, den Absatz ihrer Geräte durch billigere Modelle zu steigern – Philips kommt 1953 mit einem Gerät für zirka achthundert Mark154 heraus, Telefunken bringt im Jahr 1957 eines für »nur« 496 Mark auf den Markt. Trotzdem bleibt auch die Anschaffung eines solchen günstigeren Apparates ein kostspieliges Unterfangen, zumal es von Telefunken für ein Fünftel des Preises bereits akzeptable Plattenspieler wie den Musicus 105S zu kaufen gibt.155 Doch ist der Preis alleine noch keine hinreichende Erklärung für den schleppenden Absatz der Tonbandgeräte, der weit hinter den Hoffnungen von Herstellern wie Philips zurückbleibt.156 Denn schließlich sind auch Fernsehgeräte teuer. Sie kosten – wie im vorigen Zitat von Grundig bereits erwähnt – sogar weit mehr als ein Tonbandgerät. Und trotzdem sind in Holland, dem Heimatland des zukünftigen Kassettengeräteherstellers Philips, im Jahr 1960 über ein Drittel aller Haushalte im Besitz eines Fernsehers.157 Was beim Absatz der Tonbandgeräte mindestens so schwer ins Gewicht fällt wie der hohe Preis, ist die komplizierte Technik der Geräte, gepaart mit einer enormen Unhandlichkeit. Kurz: die fehlende Usability für Nicht-Profis. Um ein Tonbandgerät bedienen zu können, wird ein gewisses technisches Grundverständnis vorausgesetzt, was viele potentielle Käufer von der Anschaffung einer Bandmaschine abschreckt. Bevor eine Aufnahme auf Tonband gemacht werden kann, muss zuerst die richtige Bandgeschwindigkeit eingestellt werden. Das drei- oder vierstellige Zählwerk sollte auf Null stehen, um bestimmte Stellen in der Aufnahme später wiederfinden zu können. Auch die Entscheidung zwischen Halb- oder Viertelspuraufnahmen muss mittels einer Spurwahltaste noch vor der Aufnahme getätigt werden. Dazu kommt die richtige Aussteuerung, die beim Stereo-Gerät in zwei getrennten Feldern durch Zeiger dargestellt wird; ganz zu schweigen von 152 Vgl. Zahlen des Statistischen Bundesamtes https://www.destatis.de, abgerufen am 13.9.2016. 153 Jugendwerk der Deutschen Shell 1966. 154 Bijsterveld/Jacobs 2009, S. 28. 155 Röther 2012, S. 269. 156 Bijsterveld/Jacobs 2009, S. 28. 157 Röther 2012, S. 270.
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sogenannten »Tricktasten«, die den Löschkopf abschalten und es möglich machen, zwei Aufnahmen »übereinander« zu legen.158 Auch wer gar nicht selbst aufnehmen, sondern nur Musik von Tonband hören will, hat oft seine liebe Not. Allein das Auflegen der Bandspulen und das Einfädeln des Bandes erfordern einiges an Geschick. Auch die Tasten oder Hebel für schnellen Vor- und Rücklauf wollen mit Sachverstand bedient und rechtzeitig losgelassen werden, wenn das Band dem Ende entgegen läuft. Sonst fliegen die »Schnürsenkel« wie Schlangen um die Spulen und müssen wieder mühevoll eingefädelt werden. Sogar die meisten Kinobetreiber verzichten darum vorerst auf die Anschaffung eines teuren, schweren und komplizierten Tonbandgeräts und bleiben bei Schallplatten, um ihre Kinosäle vor und nach dem Abendfilm mit Musik zu beschallen, auch wenn diese mehr knacken und knistern als Tonbänder. Daran erinnert sich auch Gert Redlich bei meinem Besuch in Wiesbaden. Der pensionierte Toningenieur hat selbst eine Zeitlang als Filmvorführer in Wiesbaden gearbeitet und hütet in seiner Sammlung noch heute einen alten Kino-Tonverstärker: »Und da sehen Sie: Der hat also Anschlüsse für Platte und Gong, Mikrophon. Und das war's schon. Und man konnte fürs Kino also Musik spielen von der Platte oder den Ton vom Projektor. Und dann war da so ein riesengroßer Knopf dran für laut und leise. Mehr war da nicht. Das Tonbandgerät war im Kino viel zu teuer und viel zu schwer. Hatte keiner. So ein Teil fürs Kino kostete damals 2000 Mark. War auch ein Misserfolg von Telefunken.«159
Tonbandamateure sind die Beherrscher der Bandwelt Die Tonbandamateure, zu denen damals auch Gert Redlich gehört, denken anders: weniger praktisch, mehr technisch. Sie bilden eine kleine, aber gut vernetzte Gruppe und freuen sich über jede neue technische Finesse, über jede Verbesserung der Klangqualität, über jedes Zubehörteil, mit dem sie ihrem Hobby noch ausgetüftelter frönen können. Bei meinem Besuch in seiner Sammlung in Wiesbaden zeigt mir der pensionierte Ingenieur ein Saba-Gerät aus dem Jahr 1965: »Das war damals für uns der Renner. Das hatte sogar ein Vier-Kanal-Mischpult. Sie sehen unheimlich viele Knöpfe und viele Tasten. Und da musste man das Band irgendwie wild rumschlingen. Und das hat dann da auch wieder viele Schalter und Tasten. Optisch eine Wucht. Wir Kinder oder junge Erwachsene standen vor den Schaufenstern und sagten: Das sieht toll aus! Gerade die vielen Tasten haben uns begeistert.«160
158 Monse 1987, S. 15. 159 Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2016. 160 Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2016.
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Tonband-Amateure wie Gert Redlich begreifen sich bis weit in die sechziger Jahre hinein als »technische Elite« der privaten Anwender, eifern den professionellen Toningenieuren nach, nehmen an eigens – zum Beispiel von Philips – für sie ins Leben gerufenen Hörspielwettbewerben teil. Rezensionen und Tipps zu neuen Geräten liefern selbst geschriebene Handbücher und Vereinszeitschriften wie der Tonband-Freund, Das Tonband oder Die aktuelle Zeitschrift für Tonband-Amateure. »Consequently, authors of tape recorder books discussed extensively microphone positions, music recordings, outdoor recordings, tricks, reverberation, tape speeds, editing, reel sizes, the options of two- and four-track recorders, plugs, cables, splices, and the role of dust or dirt on the tapes.«161 Viele Tonband-Amateure richten sich auch Hobby-Studios ein, die mancher Radiostation alle Ehre machen würden. Kurzum: Sie pflegen ihr »Guru-Image« genüsslich: »Es ist ein Spiel mit Knöpfen und Tasten. Technisches Wissen und Verständnis gehört dazu, sich in diesem Spiel auszukennen, und viel Übung. Wie einfach ist dagegen zum Beispiel das Klavierspiel. Dort braucht man nur im richtigen Augenblick mit dem richtigen Finger die richtige Taste anzuschlagen, und es ergibt sich ein vollendetes Spiel. […] Mit Schaltern, Reglern oder Drucktasten zu spielen, erscheint komplizierter. Aber man kann es lernen. […] Sie bleiben jenem vorbehalten, der um sie ringt.«162
Gert Redlich zum Beispiel übernimmt 1965 als Sechzehnjähriger die »technische Leitung« über ein Schultheaterprojekt. Gegeben werden soll die Geschichte der gefühlskalten chinesischen Prinzessin Turandot als Marionettentheater: »Wir hatten eine Bühne. So richtig mit Vorhängen und Licht. Und dann: Donnergrollen... Hmmm, habe ich mich gefragt: Wie sollen wir das machen? Wir können ja nicht mit vier Mann hinter der Bühne laut husten oder so. Und da habe ich gesagt: Ich möchte ein Tonbandgerät haben. Ich habe den Kunstlehrer so lange geärgert und gelöchert, bis er bei seinem Direktor 650 Mark locker gemacht hat 1963/64. Und wir haben ein Grundig TK 46 gekauft. Mit einer Spule und einem Tonband. Das Grundig TK 46 war so ein großer Kasten, den ich mühsam gerade so tragen konnte. Achtzehn Kilo. Und dann war endlich ein Gewitter. Und ich war der Einzige, der das Tonbandgerät bedienen konnte: richtig aufnehmen, aussteuern, wiedergeben. Und so habe ich das Gewitter aufgenommen. Und dann: Verstärker hintendran, Lautsprecher aufbauen. Dieses Donnergrollen musste ja richtig die Hütte erschüttern. Und so haben wir dann Turandot gespielt. Ein toller Erfolg. Alle Eltern waren da. Und für einen sechzehnjährigen Jungen war das eine Form der Wertschätzung: Der kann was, was die anderen weder können noch dürfen.«163
161 Bijsterveld/Jacobs 2009, S. 31. 162 Schurig 1963, S. 20. 163 Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2016.
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Alles zu kompliziert: erste Versuche mit Kassetten Aber längst nicht alle Jugendlichen, die mehr und mehr zur Zielgruppe für die Musikgeräteindustrie werden, sind so begeistert von der Magnettontechnik wie der ambitionierte Hobby-Tonmeister Gert Redlich. Um die beschriebene komplizierte Handhabung der Geräte also zumindest etwas zu vereinfachen und damit auch Menschen mit einem weniger ausgeprägten Sinn für Technik zu erreichen, beginnen einige Hersteller recht bald, Gehäuse für Bänder aller Art zu bauen. Alle Möglichkeiten der frühen Kassettenentwicklung und -nutzung hier darzustellen, ist wegen der zum Teil sehr spärlichen Quellenlage unmöglich. Ich möchte im Folgenden lediglich auf einige ausgewählte Beispiele näher eingehen, um exemplarisch aufzuzeigen, welche Bereiche der Usability sich durch den Gebrauch von Kassetten deutlich haben verbessern lassen und welche grundsätzlichen Anwendungsgebiete es für Kassetten aller Art vor 1963 schon gibt. Dadurch soll auch klar werden, wie sehr und auch wie lange Bemühungen um die Verbesserung der Usability von Audio-Medien bereits von den HerstellerFirmen fokussiert wurden, als Philips 1963 offenbar zum richtigen Zeitpunkt mit der neuen Technologie der Kompaktkassette für viele Probleme eine Lösung anbieten kann. Bänder und Kassetten in Diktiergeräten Während der gesamten Lebensspanne der Magnettontechnik bietet der Diktiergerätemarkt den Herstellern stabile und einigermaßen lohnende Absatzmöglichkeiten. Diktiergeräte werden überall gebraucht – sei es nun für polizeiliche Verhöre, Telefonabhöraktionen oder Sprachdiktate. Schon seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts sind Diktiergeräte wie das Dictaphone mit seinem Wachszylinder auf dem Markt. Ab Mitte der zwanziger Jahre gehen weitere zentrale Impulse zur Weiterentwicklung der Magnettontechnik vom Diktiergerätemarkt und der Suche nach einer optimalen Usability aus.164 Wie man auch am Beispiel von Edisons Phonographen erkennen kann, sind die NutzerInnen von Diktiergeräten zwar tolerant, was die Tonqualität ihrer Aufnahmen angeht; toleranter jedenfalls als etwa die Fans von klassischer Musik. Nicht kompromissbereit sind sie aber hinsichtlich der Usability ihrer Geräte. Ab den dreißiger Jahren ist Rationalisierung und damit Einsparung von »Menschenmaterial« ein wichtiges Ziel im Büro- und Firmenalltag. »Rationalisierung, das Zauberwort der Betriebswirtschaftler, bedeutete, die Körper mit Maschinen und Werkzeugen abzustimmen zu einer höchst effektiven Funktionseinheit.«165 164 Engel u. a. 2010, S. 21. 165 Maase 1997, S. 180.
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Ein Diktiergerät muss darum vor allem eines sein: robust, einfach zu verstehen und bedienbar ohne Zeitverlust. Mehr als die notwendigen Funktionen zum schnellen Speichern und gezielten Abrufen einer Sprachaufnahme in passabler Qualität sind nicht erwünscht. Weil die Aufnahmequalität für Musikaufnahmen noch nicht optimal ist, wird auch 1935 das erste AEG Magnetophon mit Fritz Pfleumers neuem Magnetband zunächst als Gerät zur reinen Sprachdokumentation empfohlen. 166 Seine ersten Jahre bis zur Stereo- und HiFi-Fähigkeit kann das Magnetophon nur überdauern, weil es Einsatzmöglichkeiten auf dem zwar kleinen, aber stabilen Diktiergerätemarkt gibt. Ab Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts allerdings beginnt man sich vom Magnetophon ab- und anderen Geräten zuzuwenden. Die schweren Tonbandgeräte, die unzählige, aber auch unnötige Knöpfe haben, entsprechen dem Ideal von guter Usability, Effektivität und Schnelligkeit nicht mehr. Nach 1950 entwickelt sich darum ein gänzlich neuer Diktiergerätemarkt, der mit eigenen Geräten aufwartet, die praktisch passgenau auf die Bedürfnisse im Büroalltag zugeschnitten sind. Das Diktiergerät Stenorette der Grundig Radio Werke ist dabei ein echter Verkaufsschlager. Schon 1956 im Herbst, einundzwanzig Monate nach dem Beginn der Produktion, hat Grundig mehr als 100.000 Stück verkauft.167 Die Neue Züricher Zeitung beschreibt das schlichte, funktionale Design der beige-braunen, nur etwa fünf Kilo schweren Stenorette, die auf einem gusseisernen Sockel ruht, dabei sehr anschaulich: »Sie hatte die Ausmasse und ungefähr die Form eines Campingkochers. Aber wo man auf dem Campingkocher zwei eher kleine Topfe mit Erbsenwurstsuppe oder Gulasch aufs Propangas gestellt hätte, da wurden bei der Stenorette die beiden Spulen der glänzend braunen Tonbänder eingelassen, welche sich zu nicht mehr als zwei Zentimetern Dicke aufrollten und dann wie schlanke Reifen das leere Spuleninnere umgaben.«168
Ein geschwungener, silberner Namenszug auf der Front des Gerätes, zwei Drehregler und gerade einmal fünf Knöpfe, die an Schreibmaschinentasten erinnern, runden das Erscheinungsbild des ersten Modells ab. Es gibt keinen überflüssigen Zierrat, keine technischen Spielereien, nichts, was nicht zweckdienlich wäre. Die Aussteuerung der Aufnahme erfolgt automatisch, ein kleiner Abhörlautsprecher ist eingebaut. Ebenfalls mitgeliefert wird ein Handmikrophon mit einer Taste, die den Aufnahmebetrieb von selbst startet und beendet. Das kleine Gerät kostet dreihundert Mark. Inflationsbereinigt sind das heute in etwa 1.500 Euro. Nicht wenig, aber im Vergleich zu Tonbandgeräten damals ein Schnäppchen. Im Au166 Engel u. a. 2010, S. 93. 167 Engel u. a. 2010, S. 312. 168 Gumbrecht 2002, abgerufen am 17.9.2016.
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gust 1957 kommt ein noch weiter funktionalisiertes Modell auf den Markt, das die Vorratsspule des Magnetbandes durch eine Kassette mit einem Loch in der Mitte, eine sogenannte »Einloch-Kassette«, ersetzt. Das Band liegt nun ordentlich verstaut in einer Box und erinnert optisch an ein heutiges Rollenbandmaß. Die Stenorette ist damit ein relativ kleines, tragbares und vor allem leicht bedienbares Gerät, das beim ersten Philips Taschenrekorder optisch und auch funktional wieder aufscheint. Nicht umsonst werben die ersten Anzeigen für den Kassettenrekorder als »sprechendes Notizbuch«, wenngleich die Konstrukteure schon sämtliche technische Vorkehrungen für einen Stereo-Betrieb des Taschenrecorder 3300 getroffen hatten.169 Dass sein Preis im Jahr 1963 mit etwa dreihundert Mark praktisch derselbe ist wie der einer Stenorette bei deren Markteinführung, zeigt außerdem, dass Philips selbst anfangs den Kassettenrekorder vermutlich eher im Diktiergeräteals im HiFi-Segment sieht. Zumindest soll er mit den gleichen wichtigen Eigenschaften ausgestattet sein, wie sie eine Stenorette mitbringt: klein, leicht, robust, preiswert und zweckdienlich. Und weil sie sich auf dem Diktiergerätemarkt schon etabliert hat, hält man wohl auch an der Kassetten-Idee fest, wenngleich die Kompaktkassette 1963 ganz anders aussieht als die Kassette der Stenorette. Von der Optik her ähnelt diese neue Zweiloch-Kompaktkassette eher Modellen, die aus dem Bereich der Heimtonbandgeräte oder der Servicedienstleistungen stammen. Ein Häuschen für das Band: Das Optaphon Denn auch dort werden schon bald Versuche gemacht, die missliebigen Bänder in Plastikgehäusen zu verstauen. Ein erstes Kassetten-Tonbandgerät wird zum Beispiel von der AEG 1949 in Berlin entwickelt, ist allerdings nie im Handel zu kaufen. Vielmehr tritt es am 1. Oktober 1949 seinen Dienst bei der Post an. Von einem siebzehn Meter langen Magnetband, das in eine riesige Kassette von der Größe eines Kuchenblechs eingespult ist, können Anrufer drei Minuten lang bei RIAS Berlin aufgenommene Tagesnachrichten mit Wetterbericht hören.170 Bis zu hundert Anrufer der Nummer 23 sind in der Lage, gleichzeitig die Bandaufnahme abzuhören. Bei allen übrigen ertönt im Hörer ein Besetztzeichen. Auf dem privaten Markt wird wenig später dann die Berliner Firma LoeweOpta aktiv. Sie entwickelt um das Jahr 1950 herum das sogenannte Optaphon, eine hölzerne Truhe aus edlem, poliertem Holz, in die das Tonbandgerät und – gegen einen Aufpreis – auch ein Plattenspieler eingebaut sind (Abb. 6). 169 Engel u. a. 2010, S. 441. 170 Engel u. a. 2010, S. 250.
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Abbildung 6: »Optaphon«
Quelle: Privatphoto Gert Redlich
Der Clou gegenüber anderen Musiktruhen oder -schränken, die damals gerade groß in Mode kommen, ist aber: Beim Optaphon sind das Tonband und die dazugehörenden Spulen mit je achtzehn Zentimeter Durchmesser in einer Kunststoff-Kassette verschwunden. Diese Kassette, die in etwa die Form eines überdimensionalen Brillenetuis von einem knappen halben Meter Länge hat, muss nur auf das Optaphon aufgelegt und mit einem Hebel eingerastet werden. Im Katalog des neuen Gerätes heißt es: »Der technische Vorgang des Einlegens ist so vereinfacht, daß Sie das Band überhaupt nicht mehr in die Hand bekommen.«171 Außerdem ist das Optaphon auch mit einer neuen Aufnahme-Automatik ausgestattet, durch die das Band am Ende selbständig die Richtung wechselt und damit zu einer Art »Endlosschleife« wird: »Während der ersten 30 Minuten läuft das Band in der einen Richtung und erhält die obere Tonspur. Danach kehrt sich die Laufrichtung automatisch um und die zweite Tonspur entsteht darunter während weiterer 30 Minuten.«172 Die Firma preist das Gerät vor allem (Haus-)Frauen an, die damit nun »endlich« auch selbst ein »klingendes Familienalbum« herstellen könnten, ohne sich dem eher männlich besetzten Tonband-Hobby173 mit der gleichen Intensität 171 Zitiert nach http://www.tonbandmuseum.info/optaphon-51wa-prospekt.html, abgerufen am 19.9.2016. 172 Ebd. 173 Bijsterveld/Jacobs 2009, S. 32.
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widmen zu müssen wie ihre Ehemänner. Um diese allerdings mit dem neuen, einfacher zu bedienenden, aber ziemlich teuren Gerät um die siebenhundert Mark nicht als potentielle Kunden zu verlieren, kann das Optaphon auch ohne Kassette betrieben werden: »Selbstverständlich sind auch normale Spulen ohne Kassette zu verwenden, wenn sich der geübte Amateur seine Bänder selbst ›cuttern‹ [sic!], d.h. schneiden und zusammenkleben will.«174 Verstaute Bänder statt verstaubter Bänder Loewe-Opta hat auch ein anderes praktisches Problem im Umgang mit Tonbändern erkannt und versucht nun, mit dem Optaphon entgegenzuwirken: das Archivieren und Wiederfinden von einmal gemachten Aufnahmen. Die langen Plastikkassetten lassen sich gut im Regal stapeln. Sie sind außerdem mit einem kleinen, zweigeteilten Fenster ausgestattet, unter das sich ein beschrifteter Papierstreifen einlegen lässt, auf dem wiederum Stücke, Interpreten und eine Zählwerkangabe notiert werden können. Zusätzlich geben zwei schmale seitliche Schlitze den Blick frei auf die Bandspulen. Eine Skala zeigt, wieviel Minuten Band verbraucht beziehungsweise noch verfügbar sind. Das alles mag auf den ersten Blick wie eine Ansammlung unbedeutender Spielereien erscheinen, ist doch die Technologie der magnetischen Tonaufzeichnung beim Optaphon dieselbe wie bei allen anderen Tonbandgeräten auch. Aber es sind eben Kleinigkeiten, die eine Verbesserung der Usability bedeuten. Wer viel mit Tonbändern arbeitet und seine Aufnahmen auf den endlosen Schnürsenkeln wiederfinden will, musste sich bislang auf mehr oder weniger improvisierte Weise behelfen. Für aus dem Radio aufgenommene Songs oder Interviews werden etwa Notizbücher geführt, in die sorgfältig die Titel gemeinsam mit den entsprechenden Zählwerknummern eingetragen werden. Wichtig ist dabei natürlich, dass die Bandmaschine und damit das Zählwerk nicht gewechselt wird, sonst stimmen die Angaben nicht mehr. Außerdem gibt es noch keinen Geräte- und Bandstandard: Nicht alle Bandtypen sind auch auf allen Geräten abspielbar. Und schließlich ist auch unbedingt notwendig, dass die Bänder in ihren handelsüblichen Pappkartons entsprechend durchnummeriert sind. »But such systems happened to be far from robust. Users lost or threw away their notes and notebooks; they had tape boxes without labels, or labels without any comprehensible system.«175 In den Rundfunkanstalten gibt es ein offizielles Ordnungssystem. Die Redaktionsassistentinnen schreiben für gesendete Aufnahmen alle wichtigen Informa174 Zitiert nach http://www.tonbandmuseum.info/optaphon-51wa-prospekt.html, abgerufen am 19.9.2016. 175 Bijsterveld/Jacobs 2009, S. 37.
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tionen zu Mitwirkenden, prägnanten Interviewstellen oder Musikeinspielern mit Schreibmaschine auf DIN-A4-Blätter, falten die Blätter und legen sie zu den Bandspulen in die jeweiligen Pappkartons. Eine Kopie der Angaben landet im alphabetisch geordneten Zettelkasten des Archivs. Diese Informationen sind nicht nur wichtig, um Aufnahmen wiederfinden zu können. Sie dienen auch dem Nachweis von Senderechten bei den Verwertungsgesellschaften wie der GEMA oder der VG Wort. Da die Bandkartons keine Sichtfenster haben, ist allerdings von außen meist nicht zu erkennen, was auf dem Band ist. Und es ist Vorsicht geboten, wenn die Pappkartons geöffnet werden – und sei es nur zum Studium der »Beipackzettel«. Oft genug wickeln sich die lose in den Kartons liegenden Bandspulen einfach ab und müssen umständlich über eine Bandmaschine wieder aufgespult und erneut im Karton verstaut werden. Das zentrale Sammeln, korrekte Verschlagworten und Verwalten der Ausleihe bleibt darum den professionellen Archivaren der Rundfunkanstalten überlassen. Zuspielbänder, auf denen sich die Rohaufnahmen von Interviews oder Geräuschen befinden, werden dagegen gar nicht archiviert, weil das viel zu aufwändig ist. Sie werden in der Regel einfach überspielt oder verstauben bestenfalls in den Büros von Reportern und Redakteuren. Wolfgang Bauernfeind, der ehemalige Feature-Chef beim Radio Berlin Brandenburg (rbb), berichtet ebenso wie der Tübinger Kulturredakteur Reinold Hermanns im Südwestfunk von endlosen Reihen nicht beschrifteter Tonbandkartons, die er beim Eintritt in den Ruhestand entsorgt hat: »Das war glaube ich dumm, weil das historische Dokumente sind und eigentlich sehr interessant. Aber dann standen die Container da vor meinem Büro und dann immer rein damit. Ich hätte mir Zeit nehmen müssen. Ich hätte mehr noch hören müssen von sehr schönen Aufnahmen, die ich für meine Sendungen da in der Vorbereitung irgendwie gemacht habe. Jetzt ist es vorbei. Die sind weg. Die sind im Müll. Schade.«176
Neben dem Gerätehersteller Loewe-Opta mit seinen Kassettengehäusen hat beispielsweise auch der Bandhersteller BASF die Problematik des Verstauens und Wiederfindens erkannt. Die Firma entwickelt Hilfsmittel wie eine Bandlängenuhr beziehungsweise einen Spielzeitanzeiger, eine Art Papp-Lineal, mit dem man aus der Dicke des Bandwickels auf die ungefähre Länge der Aufnahme schließen und somit eine wichtige Stelle wiederfinden kann. Es gibt auch vorgedruckte Archivkärtchen mit dazugehörenden Karteikästen. Oder graue Plastikkassetten, die in diesem Fall als »Ordnungshelfer« dienen sollen.
176 Interview mit Wolfgang Bauernfeind vom 10.5.2016.
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Eine ordentliche Archivierung von privaten Bandaufnahmen wird ohne viel Aufwand aber erst möglich, als tatsächlich die Kompaktkassette auf den Markt kommt und sich das Philips-Format als weltweites Standard-Format durchsetzt. Zum einen laufen die Zählwerke an allen Kassettenrekordern nun gleich. Notierte Passagen sind also auch bei einem Modellwechsel wieder auffindbar. Zum anderen ist bei allen Kompaktkassetten durch ein kleines Fenster die Dicke der Bandwickel zu sehen. Das macht den Umgang mit Archivmaterial leichter, wenn auch nicht so störungsfrei wie später mit der CD, findet Wolfgang Bauernfeind: »Bei einer CD kannst Du den Track entsprechend anwählen. Wobei die CD ja auch in Verruf gerät als Speichermedium, weil man der nicht mehr so viel zutraut wie einem Tonband von Länge der Haltbarkeit her.«177 Schon bald nach der Markteinführung macht Philips Werbung mit der leichten und ansprechenden Verstaubarkeit von Rekorder und Kassette. Auf einem Pressefoto (Abb. 7) aus dem Jahr 1965 ist ein Bücherregal zu sehen, in dem neben Taschenbüchern und einem Schmuckstein auch ein Taschenrecorder und verschiedene Kassetten stehen. Der beigefügte Text erklärt: »Musik-Cassetten und Compact-Cassetten für eigene Aufnahmen werden in kleinen, handlichen Kunststoffboxen geliefert. Zur Aufbewahrung dienen praktische 6-er Ständer. Aneinandergesetzt ergeben sie eine ›Bandothek‹ von Taschenbuchgröße.« Für viele Musikfans wie den Reutlinger Regisseur und Comedian Dominik Kuhn oder den Tübinger Musiker und »Kassettentäter« Markus Bella lassen sich nun Aufnahmen über Jahrzehnte und mehrere Generationen unterschiedlichster Kassettengeräte hinweg jederzeit wieder abspielen und – ganz wichtig – auch säuberlich aufbewahren: »Das war für mich ein ordentlich verpacktes Ding. Viel cooler als bei Reel-to-reel Bandmaschinen. Viel cooler. Ich habe mit dem Rapidograph, das ist so ein dünner Tuschestift aus der Grafikerwelt, ganz säuberlich meine Kassetten beschriftet. Die sind im Regal gestanden und sahen aus – der Hammer. Vom Feinsten. Durchnummeriert. Alle im gleichen Style.«178 »Gefallen hat mir das Praktische. Dann auch die Möglichkeit der CoverGestaltung, indem man es praktisch wie ein Buch hat. Man hat einen Rücken, man kann es ins Regal stellen, kann diesen Rücken lesen, hat doch eine gewisse Fläche, die man gestalten kann. Also, ich hatte jetzt kein erotisches Verhältnis zur Kassette, das kann man wirklich nicht sagen. Aber die waren praktisch und eine tolle Sache. Und ich denke, auch bis heute durch nichts wirklich ersetzt.«179
177 Interview mit Wolfgang Bauernfeind vom 10.5.2016. 178 Interview mit Dominik Kuhn vom 13.5.2015 in Reutlingen. 179 Interview mit Markus Bella vom 1.3.2016 in Tübingen.
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Abbildung 7: »Regal«
Quelle: Archiv Philips
Egal ob Bandlängenmesser, Abrollsicherung oder Kunststoffbox – die aufgezählten Hilfsmittel werden von der Mehrzahl der Musik- und Tonliebhaber als Krücken empfunden und wohl auch darum nicht angenommen. Genauso wenig wie das Optaphon von Loewe übrigens. Obwohl das ästhetisch ansprechende Gerät schon viele Ansätze von dem zeigt, was später Kaufkriterien für den kleinen Kompaktkassettenrekorder sein werden, kann es sich auf dem Markt nicht durchsetzen. Die Kassetten sind für den Geschmack der Amateure noch immer zu groß und die beschriebenen Schwierigkeiten im Umgang mit dem Tonbandgerät trotz Kassette noch zu abschreckend, vermutet Gert Redlich: »Von der
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Usability immer noch nicht ausreichend. Noch nicht mal befriedigend. Aber ich will auch nicht sagen mangelhaft. Die Idee immerhin war schon da.«180 Anfang der fünfziger Jahre ist wohl die Zeit noch nicht reif für Kassetten; vielleicht auch deswegen, weil sich der Sektor der Pop- und der Unterhaltungsmusik, für den die Kassetten später wichtige Tonträger werden, in Deutschland erst noch im Aufbau befindet. Schallplatte, Tonband und Kassette in einem: Das Tefifon Dennoch gibt es auch zu Beginn der fünfziger Jahre schon Versuche, mit Kassetten in die Unterhaltungsmusik vorzudringen. Im Jahr 1951 ist es zum Beispiel wieder die Berliner Firma Loewe-Opta, die diesmal ein Radiogerät statt mit einem Plattenspieler oder einem Tonbandgerät mit einem sogenannten »Schallbandspieler« kombiniert, besser bekannt unter dem Namen Tefifon (anfangs auch Tephifon geschrieben). Das Tefifon ist ein exotischer »Zwitter« aus Tonband und Schallplatte, den es sich aufgrund der verwendeten Kassettentechnik näher anzuschauen lohnt: Abbildung 8: »Tefifon (a)«
Quelle: Auktionshaus Kiefer
180 Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2016. in Wiesbaden.
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Abbildung 9: »Tefifon (b)«
Quelle: Auktionshaus Kiefer
Das Tefifon arbeitet dabei in der Regel nicht mit Magnetbandtechnik, sondern – ähnlich wie das Grammophon – mit einem elektromechanischen Aufnahmeverfahren, also mit Tonrillen in einem Trägermaterial.181 Anders als bei der Schallplatte sind die Rillen aber nicht in eine runde Scheibe eingeschnitten, sondern in ein etwa daumenbreites Kunststoffband, ein Filmband, das elektrisch an einem feststehenden Tonabnehmersystem mit Stahlnadel vorbei geführt wird. Bevor das Tefifon Anfang der fünfziger Jahre auch für den Heimgerätemarkt herauskommt, wird es hauptsächlich für Sprachaufnahmen und im militärischen Kontext verwendet. In der Fachzeitschrift Funktechnische Monatshefte vom 4. April 1934 ist es folgendermaßen beschrieben: »Das neue Aufnahmegerät ›Tefiphon‹ wendet die allgemein bekannte Tonschrift der Schallplatte an, bei der die Schallschwingungen in Form einer gleichmässig tiefen, quer zur Bewegungsrichtung des Schallträgers hin- und herlaufenden Rille eingeschnitten werden. Als Schallträger wird ein perforierter Zelluloidstreifen in den Maßen des Normal181 Offenbar scheint es Ende der fünfziger Jahre auch vereinzelt Modelle des Tefifons gegeben zu haben, die mit Magnetband arbeiteten, die aber bei der Verbreitung des Gerätes keinen nennenswerten Einfluss gespielt haben: »Das System war nur kurz auf dem Markt, weil es genauso teuer war wie ein vernünftiges Grundig Bandgerät, und das bei deutlich schlechterer Handhabung.« Vgl. http://www.tonbandmuseum.in fo/das-tefifon0.html, abgerufen am 20.9.2016.
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Kinofilms benutzt, der beiderseitig eine etwa 0,05 mm starke Aufnahmeschicht trägt. In diese Schicht wird nun die Tonrille eingeschnitten. Das Zelluloid bleibt unbeschädigt, es ist also nur der Träger.«182
Weil die längsgerichteten Rillen nebeneinander auf dem Band liegen und viele Rillen auf ein einziges Band passen, ergeben sich deutlich längere Aufnahmezeiten, als man das damals von Grammophon- oder Schallplatte gewöhnt ist. Die meist leuchtend roten Tefibänder sind dabei wie die Bänder des Optaphons in einer handlichen Kunststoffkassette verstaut, die mit einem einzigen Griff auf das Abspielgerät aufgelegt und sofort angehört werden kann. Bei meinem Besuch in der Technik- und HiFi-Geräte-Sammlung von Gert Redlich in Wiesbaden kann ich mich unmittelbar selbst davon überzeugen. Die TefiTechnik ist denkbar einfach: Mit einem kleinen Schalter, ähnlich dem einer Nachttischlampe, wird das Gerät eingeschaltet. Das rote Schallband wird ein paar Zentimeter weit aus der Kassette herausgezogen. Die herausgezogene Bandschlaufe muss nur über eine Art Umlenkrolle gestülpt werden. Mittels eines zweiten Hebels lässt sich dann die Tonabnehmernadel auf das Band setzen. Fertig. Dazuhin sind die Tefikassetten deutlich kleiner als die des Optaphons, das ich mir kurz zuvor in der Scheune des alten Bauernhofs angeschaut habe, oder gar die alten »Kuchenbleche« der Reichspost. Sie sind nur gut faustgroß, und damit praktisch aufzubewahren. Aufgrund der größeren Breite des Bandes hat eine Tefikassette aber einen breiteren Rücken als die Magnetbandkassetten. Der lässt sich wiederum – ähnlich wie später bei der Kompaktkassette – gut beschriften. Warum die Tefikassetten so kompakt sein können, erklärt ein Blick ins Innere der Kassette: Das Auf- und Abspulen des Bandes funktioniert völlig anders und damit auch platzsparender als bei anderen Geräten. Überlegungen, wie Kassetten möglichst klein und kompakt konstruiert werden können, beschäftigen übrigens einige Jahre später immer noch die Ingenieure des PhilipsEntwicklungsteams bei den Plänen zu Kompaktkassette und Kassettenrekorder. Das Tefifon hat Anfang der fünfziger Jahre für dieses Problem folgende Lösung parat: Während die herkömmliche Tonbandtechnik in der Kassette des Optaphons zwei nebeneinander liegende Spulen verwendet und jeweils von der linken auf die rechte spult beziehungsweise umgekehrt, arbeitet das Tefifon mit einem sogenannten »Endlosband«. Das bedeutet: Es gibt nur eine Spule, die von innen, vom Kern heraus, abgewickelt und außen wieder auf den Wickel aufgespult wird. Eine Tefikassette beginnt also nach ihrer ohnehin schon sehr langen Spielzeit von bis zu vier Stunden Musik automatisch wieder von vorne. 182 Zitiert nach: http://www.tonbandmuseum.info/1937-das-tefifon.html, abgerufen am 7.2.2017.
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Da es in den sechziger Jahren immerhin fast zweihundert meist mit deutscher Schlagermusik industriell vorbespielte Tefikassetten gibt, könnten sich Besitzer eines Tefifons theoretisch rund um die Uhr mit Musik beschallen lassen. Aber: Das Angebot ist im Vergleich zum Sortiment von Schallplatten zu einseitig, um am Markt langfristig bestehen zu können, glaubt der Wiesbadener HiFiFachmann Gert Redlich: »Die hatten vor allem Freddy Quinn und Roy Black. Also Musik von 1934 bis 1949/50, die irgendwann niemand mehr hören konnte. Und dann haben sie keine Lizenzen mehr bekommen. Und für klassische Musik war das Tefifon nicht gut geeignet von der Qualität. Es war einfach zu verrauscht und zu verrumpelt.«183 So ist auch das Tefifon nach einer kurzen Blütezeit schnell wieder vom Markt verschwunden. 1965 wird die Produktion eingestellt. Selbst drastische Preissenkungen von rund dreihundert Mark auf etwa die Hälfte oder die Möglichkeit, ein Tefifon vor dem Kauf zu testen und danach in Raten abzubezahlen, können den Untergang des Geräts nicht aufhalten. Die Idee der kompakten Einspulen-Kassette dagegen bleibt in den Köpfen der Entwickler bestehen. Sie ist zugegebenermaßen auch nicht ganz neu. Es wäre falsch, sie dem Tefifon alleine zuzuschreiben. Schon der deutsche Ingenieur Eduard Schüller, der auch den ersten modernen Tonkopf für Fritz Pfleumers Magnetbänder entwickelt, entwirft 1944 eine Kassette mit einem einzigen Wickel, die entfernt die Form eines kleinen Geigenkastens hat. 184 Doch das immerhin kurzfristig sehr populäre Tefifon trägt sicherlich dazu bei, dass Form und Bedienung von Kassetten mit einem Bandwickel (und später dann auch mit einem Loch) wahrgenommen und weiterentwickelt werden. Normale Menschen und ihre Intuition Bevor Einloch-Kassetten zum Beispiel in Anrufbeantwortern, ComputerDisketten oder Diktiergeräten, die Grundigs Stenorette beerben, zum Einsatz kommen, sind sie Gegenstand eines heftigen Streits zwischen Max Grundig und der niederländischen Firma Philips. Denn Grundigs Entwicklungsabteilung arbeitet gemeinsam mit der Wiener Tochtergesellschaft von Philips, der WIRAG, die für den preislich gehobenen Tonbandgerätesektor von Philips zuständig ist, an einem Ein-Spulen-Kassetten-System,185 das auf der Funkausstellung in Berlin 1963 präsentiert werden soll. Dass im Belgischen Philips-Werk Hasselt unter der Führung von Lou Ottens, dem leitenden Ingenieur aus dem Stammwerk Eindhoven, gleichzeitig ein anderes, kleines Team aus zumeist jungen Ingenieuren mit Erfahrung aus der Schall183 Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2016. 184 Engel u. a. 2010, S. 438. 185 Engel u. a. 2010, S. 441.
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platten- oder Magnetbandherstellung an einem »Zwei-Loch-MinicassettenSystem« arbeitet, unterliegt strengster Geheimhaltung durch die Konzernleitung. Ottens folgt bei der Entwicklung des »Taschentonbands« vor allem seinem Bauchgefühl, wie er in einem Interview mit dem Online-Magazin The Register fünfzig Jahre später erzählt. Dieses Bauchgefühl orientiert sich an der Alltagstauglichkeit des neuen Produkts, an seiner »Usability«. Das scheint dem Ingenieur der sicherste Garant für einen Erfolg: »Succesful products are created by normal people who just follow their intuition.«186 Und Ottens hat Recht. Sein Rekorder ist früher funktionstüchtig als das Produkt der Koproduktion mit Grundig. Und er ist funktional und praktisch. So verwirft die Konzernleitung kurzerhand alle weiteren Pläne für eine Einloch-Kassette samt Rekorder. Statt dessen wird auf der Funkausstellung das von Ottens entwickelte Modell vorgestellt. Max Grundig, der für seine Temperamentsausbrüche weithin bekannt ist,187 wird erst kurz vor der Funkausstellung über den neuen ZweilochKassettenrekorder informiert. Die Philips-Leitung hält es davor »nicht für angebracht«.188 Grundig ist mehr als verstimmt und beeilt sich in der Folgezeit, möglichst schnell ein Konkurrenzprodukt auf den Markt zu bringen.189
2.5 DIE KOMPAKTKASSETTE KOMMT AUF DEN MARKT Trotz Grundigs Verärgerung wird der Öffentlichkeit 1963 zunächst einmal auf der Funkausstellung in Berlin am Philips-Stand ein Gerät vorgestellt, das mitten ins Niedrigpreissegment des Heimgerätemarktes zielt, noch mobiler, billiger und energiesparender ist als das erste batteriebetriebene, tragbare Heimtonbandgerät Philips EL 3585 von 1958. Dieses ist mit mehr als einer Million verkaufter Geräte zwar sehr erfolgreich,190 aber die Idee eines noch kleineren und preiswerteren Gerätes, das nicht mit offenen Spulen, sondern mit Tonband-Kassetten arbeitet, liegt 1963 sozusagen in der Luft. Die ersten Kassetten-Ideen aus den fünfziger Jahren haben sich in den Köpfen der Entwickler inzwischen nachhaltig festgesetzt und sind weltweit auf dem Vormarsch.
186 187 188 189 190
Dormon 2013, abgerufen am 22.9.2016. Bronnenmeyer/Grundig 1999. Duk 2013, abgerufen am 2.10.2016. Engel u. a. 2010, S. 442. Vgl. Pressemitteilung (im Folgenden abgekürzt PM) Philips, Quelle: Archiv Philips.
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Kassettenideen liegen in der Luft Zum einen ist schon seit 1959 für knapp tausend Mark das Diktiergerät Miniphon-Attaché der Firma Protona auf dem Markt.191 Es benutzt zur Speicherung kleine Magnetband-Kassetten, die nur etwas größer sind als die späteren Kompaktkassetten von Philips. Auch das Gerät selbst ist klein und handlich, aufgrund seines nicht sehr breiten Frequenzbereichs aber für Musikaufnahmen nicht unbedingt geeignet. Das verbesserte Gerät Miniphon-Hifi, das sogar annähernd Studio-Qualität erreicht, kommt 1961 auf den Markt. Allerdings meldet Protona im Jahr 1962 Konkurs an und wird anschließend von Telefunken übernommen, was die Weiterentwicklung der grundsätzlich erfolgversprechenden Kassettentechnologie erst einmal verzögert. Als es 1963 dann weitergehen könnte, ist Protona von Philips und dem Taschenrecorder 3300 sozusagen rechts überholt worden und hat das Nachsehen. In den USA hat mehr oder weniger parallel der bekannte Ingenieur Peter Goldmark192 für die Firma CBS eine Einloch-Kassette entwickelt, die erstmals mit einem schmaleren Magnetband arbeitet, als es die großen Tonbandgeräte tun. Statt einen Viertelzoll oder 6,3 Millimeter ist Goldmarks »Bändchen« nur 3,81 Millimeter breit. Eigens für diese Kassette wird von 3M erstmals ein sehr gutes Low-Noise Magnetband hergestellt.193 Auch der Gerätehersteller RCA hat seit 1958 eine neuartige Kassette auf dem Markt. Sie verwendet ähnlich wie die Protona-Kassette zwei Miniatur-Bandwickel, die nicht mehr auf starren Spulen laufen. Das spart Platz im Kassettengehäuse, weil die Wickelräder nun näher beieinander sein können, was der HiFiSammler Gert Redlich so erklärt: »Ich habe eine Unterschale, da kommt der Bandwickel rein. Und wenn sich der große Wickel abwickelt, wird er kleiner, der kleine wird größer, so dass man die beiden Wickel praktisch dichter nebeneinander bauen konnte, als das bisher der Fall war.«194 Kassetten-Erfinder Lou Ottens erinnert sich im Interview mit El Reg: »Flangeless hubs facilitate smaller dimensions because one reel diminishes as the other grows in diameter. It was an intelligent solution, but with a few drawbacks.«195 Der Rekorder von RCA fabriziert bei schnellem Vor- und Rücklauf häufig Bandsalat. Außerdem verbraucht das Gerät viel Strom, weil sich die spulenlosen Bandwickel aufgrund der Reibung an den Innenflächen des Kassettengehäuses 191 Engel u. a. 2010, S. 440. 192 Auf Goldmark gehen auch die ersten Versuche der Übertragung des Farbfernsehens sowie die Entwicklung einer Rauschabsenkung für Schellack- und die Entwicklung der Langspielplatten zurück. 193 Engel u. a. 2010, S. 441. 194 Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2016. 195 Dormon 2013, abgerufen am 22.9.2016.
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nur schwer drehen lassen. Für den mobilen Batteriebetrieb kommt es darum nicht in Frage. Auch Goldmarks Einloch-Kassettenrekorder ist kompliziert in Konstruktion und Bedienung, teuer und wenig zuverlässig. Lou Ottens und der Backstein Im belgischen Philips-Werk Hasselt kombinieren darum der Entwicklungsleiter Lou Ottens und sein Team – das aus mehreren holländischen und belgischen Ingenieuren besteht – die Prinzipien von Goldmark und RCA und machen daraus ein eigenes Versuchsmodell, das bereits auf Anhieb erstaunlich gut funktioniert: »When the RCA proposal came on our desk, and soon afterwards the CBS tape size, we made a working sample of a tape deck based on a shrunken sort of RCA cartridge with 20 minutes playing time and the CBS size of tapes. It worked surprisingly well. The guys from the commercial product management were very happy with the proposal, but were in favor of 30 minutes – and they were right. Our first point of departure had been a good speech quality, but with the obvious potential suitability for music quality it was better to choose for a space that would equal the possibilities of a long play record which is a maximum of about 30 minutes per side.«196
Wenn also bei der Betrachtung der Entwicklung von Kassetten und Rekorder bis heute immer wieder behauptet wird, das Gerät sei eigentlich als Diktiergerät konzipiert worden, so ist das nur bedingt richtig. Die Philips-Entwickler haben von Anfang an sicherlich die Funktionalität und Optik eines Diktiergerätes im Kopf gehabt, aber auch an einen Einsatz der Kassettentechnologie zur Aufnahme und Wiedergabe von Unterhaltungsmusik gedacht. Nicht nur die Bandlänge der Kompaktkassetten und Lou Ottens zitierte Aussage sprechen dafür. Auch dass bereits die erste Generation der Taschenrecorder mit Fernbedienung und einem Überspielkabel für Radio oder Schallplattenspieler ausgeliefert wird, ist untrügliches Zeichen für eine weiterreichende Planung der Ingenieure in Richtung einer möglichst breiten Anwendung. »Den schlagenden Beweis liefert jedoch die fortschrittliche, stereo/mono-kompatible Spurenkonfiguration. Ottens hatte bereits im ersten Entwicklungsstadium den Magnetkopf-Spezialisten seines Teams, Herman Cornelis Lalesse, beauftragt, die Machbarkeit von Stereoaufzeichnungen auf der geteilten 1,5 mm-Spur zu untersuchen – was dieser für realisierbar hielt.«197
All diese Technik in einem möglichst kleinen Abspielgerät unterzubringen, stellt neben dem Zeitdruck, bis zur Funkausstellung fertig zu sein, für Lou Ottens und 196 Dormon 2013, abgerufen am 22.9.2016. 197 Engel u. a. 2010, S. 441.
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sein Team zu Beginn des Jahres 1963 die größte Herausforderung dar. »We had the size of the cassette, the size of the 2.5in loudspeaker, the volume of five batteries (to have 7.5 volts), and the room for the electronics and two connectors (DIN for audio and remote). All those things had to fit into the block size. Not easy, I remember.«198 Ottens hat sich als Größenvorlage für seinen geplanten Kassettenrekorder ein Stück Holz anfertigen lassen, das er in der Tasche seines Tweedmantels verschwinden lassen kann. Sein Leitmotiv ist die Miniaturisierung der Technik. Daraus ergibt sich für ihn alles andere, erklärt er rückblickend in einem Interview mit der deutschen Wochenzeitung Die Zeit im Juli 2013: »Klein bedeutet sicherer und billiger, weil weniger Materialien benutzt werden, und es bedeutet weniger Energieverbrauch. Und natürlich: Tragbarkeit. Das ist wichtig für die Konsumenten.«199 Optisch erinnert der Prototyp des Taschenrecorders 3300, als er auf der Funkausstellung schließlich vorgestellt wird, immer noch ein wenig an den Ottens'schen Holzklotz. Nicht umsonst behält er noch ziemlich lange seinen etwas despektierlichen Beinamen »Backstein«. Erst nach 1965 beginnt sich das Design allmählich zu verändern. Die Funkausstellung in Berlin 1963 Der Taschenrecorder ist also zunächst einmal alles andere als ein »Hingucker«. Und so scheint sich das Interesse der Fachbesucher auf der Funkausstellung auch in Grenzen gehalten zu haben. In der hausinternen Zeitschrift für die PhilipsMitarbeiter heißt es im November 1963 zwar: »Als Ausstellungstrumpf erwies sich in Berlin das neuentwickelte Kleintonbandgerät, der Philips-TaschenRecorder, von dessen Leistungsfähigkeit und leichter Bedienbarkeit sich ungezählte Besucher eigenhändig überzeugten.«200 Doch der Artikel ist eine PRVerlautbarung des Unternehmens, keine journalistische Arbeit, und umfasst gerade einmal ein paar Zeilen und zwei Pressefotos in Schwarz-Weiß. Eines davon zeigt eine Gruppe skeptisch dreinschauender Besucher, denen der kleine Apparat vorgeführt wird (Abb. 10). Einer der Ausstellungbesucher auf dem erwähnten dpa-Photo ist Richard Stücklen, der damalige Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen, ein anderer Kurt Nowack, Vorsitzender des Fachverbandes Rundfunk und Fernsehen. Was auf dem Photo im Vergleich zu anderen Pressebildern der Funkausstellung auch deutlich wird: Der neue Taschenrecorder kann auf den ersten Blick weder optisch noch technisch mit den meisten Messeneuheiten mithalten, ge198 Dormon 2013, abgerufen am 22.9.2016. 199 Duk 2013, abgerufen am 26.1.2016. 200 Mitarbeiterzeitschrift »Wir bei Philips« IX/X/1963, S. 12, Quelle: Archiv Philips.
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schweige denn konkurrieren. Bei der Firma Grundig, die ihren Stand in nächster Nähe zu Philips hat, steht beispielsweise der hochpreisige HiFi-Steuerschrank Studio 50 mit Stereo-Transistor Vollverstärker, zwei völlig neu entwickelten Lautsprecher-Raumklangboxen, Tonbandchassis und Studio-Plattenspieler.201 Bei Philips selbst ist mit der Capella Stereo Truhe ein ähnliches Modell ausgestellt: Boxen, Radio, Schallplattenspieler – alles eingebaut in einen Schrank aus edlem Echtholz. Dual hat den neuen Plattenspieler 1009 entwickelt, der drei verschiedene Plattengrößen und bis zu acht Schallplatten über einen Wechsler nacheinander abspielen kann. Bis ein Kassettenrekorder optisch und technisch mit solchen Geräten mithalten kann, gehen noch einige Jahre ins Land. Abbildung 10: »Auf dem Messestand«
Quelle: Archiv Philips
All diese Messeneu- und -schönheiten erregen natürlich viel eher die Aufmerksamkeit der Besucher als der schmuddelig grau-beige Philips »Backstein«, der darüber hinaus nur in mono aufnehmen und abspielen kann. Von einem tatsächlichen Hype um das neue Gerät kann also nicht die Rede sein. Weder im Nachrichtenmagazin Spiegel noch in den einschlägigen Fachblättern wird es zunächst umfassend zur Kenntnis genommen. Berichtet wird über ganz andere Dinge. Die Berliner Funkausstellung steht 1963 ganz im Zeichen des vierzigjährigen Jubiläums des deutschen Rundfunks. Als Hauptereignis wird dabei der Start der 201 Tauber 1963.
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Rundfunk- und Senderstereophonie gefeiert. »Die Repräsentanten aller Rundfunkanstalten hatten dabei Gelegenheit zu erkennen, daß der Wunsch nach Sender-Stereophonie einem allgemeinen Bedürfnis entspricht und nicht nur der launenhafte Einfall einiger Journalisten ist.«202 So beschreibt der Leitartikel in der bereits erwähnten Mitarbeiterzeitschrift von Philips neben Besucher- und Ausstellerzahlen, dass während der Ausstellung fünfundvierzig Stunden lang Stereodirektsendungen vom Sender Freies Berlin (SFB) ausgestrahlt werden und im »Ruhenden Pol« klassische Musik von »vorbildlich wiedergebenden Schallplatten« zu hören ist. Auch im Philips-Pavillion können sich die Besucher in einem eigenen Raum »von der Klangschönheit und Transparenz stereophonischer Musikdarbietungen überzeugen.«203 In der »Schallplattenstadt«, einer Gemeinschaftsausstellung der Schallplattenindustrie, oder der Sonderschau »Wunschkonzert-Café« läuft ununterbrochen Unterhaltungsmusik auf höchstem Klangniveau. Die Fach-Zeitschrift HiFi-Stereophonie spricht im Editorial ihrer Oktober-Ausgabe 1963 rückblickend gar von einem »Jahrmarkt in Stereo«204, nicht aber von einem kleinen, batteriebetriebenen Mono-Kassettenrekorder. In den Monaten nach der Funkausstellung muss Philips darum kräftig die Werbetrommel rühren. Die Firma schaltet Annoncen in Illustrierten, Zeitungen und HiFi-Zeitschriften, die den Taschenrecorder als »sprechendes Notizbuch« und alternatives oder zusätzliches Gerät zum Tonbandgerät empfehlen. Vor allem die »kinderleichte« Bedienung wird angepriesen: Mit einer einzigen Schiebetaste kann man das Gerät an- und ausschalten, das Band laufen lassen, schnell vor- oder zurückspulen. Für die Aufnahme muss nur zusätzlich ein roter Knopf gedrückt werden. Zwei seitliche Rädchen regeln die Aufnahme- und Wiedergabelautstärke. Ein kleiner Zeiger überwacht den Ladezustand der Batterien. Mehr Knöpfe gibt es nicht. Allmählich nehmen nun auch die Redakteure von Tonbandzeitschriften mehr Notiz vom Taschenrecorder und entwickeln beim Testen sogar »viel Freude«205 an der Arbeit mit dem kleinen Gerät. »Wir haben während der Fahrt in einem Renault Dauphine aufgenommen und wiedergegeben. Die Aufnahmen gelangen einwandfrei und die Wiedergabelautstärke reichte auch bei höheren Geschwindigkeiten völlig aus.«206 Eingefleischte Technik-Fans wie den Wiesbadener Ingenieur Gert Redlich reizen diese Art von Berichten hingegen eher zum Lachen als zum Kaufen, genauso wie die Werbeanzeigen. Das mitgelieferte Überspielkabel passt in die 202 203 204 205 206
Mitarbeiterzeitschrift »Wir bei Philips« IX/X/1963, S. 7, Quelle: Archiv Philips. Ebd., S. 9. Pfau, Ernst 1963, S. 3. Gaffrey 1964. Gaffrey 1964.
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wenigsten Schallplattenspieler oder Radiogeräte. Wer aufnehmen will, muss sich häufig mit dem Mikrophon in der Hand vor den Lautsprecher setzen. Und das, wo Kassettenaufnahmen verglichen mit Schallplatten oder großen Tonbändern ohnehin eine höchst bescheidene Qualität haben. »Und es war so klein und so leicht. Wir haben uns nur amüsiert und gedacht: Wer soll denn dieses hässliche, blöde Ding kaufen? Wer ist denn so bescheuert und kauft so ein Brickett?«207 Abbildung 11: »Musikkassetten«
Quelle: Archiv Philips
207 Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2016.
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Tausende. Hunderttausende. Millionen. Zwei Jahre nach der Berliner Funkausstellung schreibt Philips in einer Pressemitteilung: »Die schon damals an eine vielversprechende Zukunft dieser Geräte und vor allem des neuen Tonträgers glaubenden Optimisten behielten recht, denn das System hat sich in den vergangenen zwei Jahren bewährt. Es ist ausgereift und ein voller Erfolg geworden. Weit über eine Million Cassetten konnten bisher im In- und Ausland verkauft werden.«208
Fünfundachtzig verschiedene, industriell bespielte Musikkassetten sind inzwischen auch auf dem Markt. Philips hat bereits mehr als 100.000 Stück davon verkauft.209 Im Jahr 1969 sind rund sechzig verschiedene Kassettenrekordertypen erhältlich. 1973 hat jeder dritte westdeutsche Haushalt einen Kassettenrekorder. Jährlich werden mehr als zwei Millionen Geräte verkauft.210 Diese rasante Erfolgsgeschichte des Kassettenrekorders und der kleinen Plastikkassette beginnt – wie ich gezeigt habe – aber nicht mit dem vielleicht erwarteten Knall. Sie schleicht sich ganz allmählich ein, und sogar Lou Ottens selbst begreift erst etliche Jahre später, welche Umwälzungen er durch seine Erfindung herbeigeführt hat: »The biggest surprise was the world wide revolution it caused in the individual availability of music. But that surprise came into being only very gradually, which is not normal for a surprise.«211
2.6 DIE KOMPAKTKASSETTE WIRD ERWACHSEN In den ersten beiden Jahren nach der Markteinführung der Kassette leidet die spätere Erfolgsgeschichte noch unter einer deutlichen Unwucht. Hier und da wird über die neue Technologie berichtet. Die Absatzzahlen sind nicht schlecht, sie sind aber auch nicht weltbewegend. Im ersten Geschäftsjahr werden 9.000212 Rekorder verkauft. Im Jahr 1965 sind es zwar schon 180.000 213. Noch kann sich Philips am Markt trotzdem nicht endgültig durchsetzen. Usability, Angebotsvielfalt und Klangqualität stecken noch in den Kinderschuhen. Es fehlen nicht nur die erwähnten DIN-genormten Anschlüsse für andere Geräte, man wartet auch auf stereotaugliche Kassetten und Rekorder, rauscharme Bänder und – ähnlich wie schon beim Tefifon – auf ein interessantes Angebot an bereits bespielten Tonträgern. Bisher ist die Auswahl an Musik des hausinternen Plattenlabels von 208 209 210 211 212 213
Philips PM vom August 1965, Quelle: Archiv Philips. Ebd. Röther 2012, S. 416f. Dormon 2013, abgerufen am 22.9.2016. Braun/International Committee for the History of Technology 2000, S. 173. Röther 2012, S. 416.
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Philips eher bescheiden. Erst 1965 geht Philips Kooperationen mit anderen großen Plattenfirmen wie Decca und Polydor ein, übernimmt schließlich sogar das komplette Programm vom EMI und verfügt 1966 damit über das »stärkste Musikprogramm auf Band«.214 Klassik-MCs, von denen es auch schon einige auf dem Markt gibt, verkaufen sich zunächst schlecht. Grund ist die schlechte Klangqualität. »Mittelstands-Schnulzen dagegen, die Musik von James Last, Wim Thoelkes Starparade oder Karel Gott sind Bestseller der Branche.«215 Der Kassettenkrieg mit Grundig Besonders ärgerlich ist für die Kassettenkäufer außerdem, dass Max Grundig noch immer wegen der kurzfristig geplatzten Kooperation mit Philips grollt und an einem Konkurrenz-Produkt tüftelt, das er zur Funkausstellung 1965 in Stuttgart auf den Markt bringt. Mit den Firmen Telefunken, Blaupunkt und Uher haben sich dem Grundig-System drei potente Vertreter der geräteherstellenden Industrie angeschlossen. Von da an gibt es zwei verschiedene ZweilochKassetten-Systeme auf dem deutschen Markt. Die Grundig Kassette DCInternational, der Rekorder C100 ebenso wie das Telefunken Cassettengerät magnetophon 401 weichen in ihren Maßen von den Philips Produkten ab, sind etwas größer und damit nicht mit dem Taschenrecorder kompatibel. Das hemmt die Ausbreitung der Kassette als Standard-Tonträger zunächst erheblich, ähnlich wie es schon bei verschiedenen Spulentonbandgeräten in der Vergangenheit war. Erst ab 1967, als die Kompaktkassette in jedem Rekorder der Welt abspielbar ist, setzt sie sich endgültig durch. So lange aber der Konkurrenzkampf zwischen Grundig und Philips ausgefochten wird, haben die Verbraucher das Nachsehen. Die Warenzeitschrift DM wettert gegen den »Kassettenkrieg«, kritisiert den »Eigensinn der Hersteller« und bedauert die Käufer als »Dumme bei dieser Eigenbrötlerei«.216 1967 muss Grundig schließlich die Waffen strecken. Der zeitliche Vorsprung, den Ottens und seine Männer dem Philips-Kassetten-System verschafft haben, ist nicht mehr aufzuholen. Philips hat durch eine sehr liberale, nämlich kostenlose Lizenzpolitik217 weltweit einen Standard bei den Geräteherstellern herbeigeführt, an dem nicht mehr zu rütteln ist. Weder von Grundig noch von der amerikanischen 8-track-cartridge, einer in den USA, aber nur dort, relativ erfolgreichen Einloch-Kassette, kann dieser Standard erschüttert werden. »Über die Bandbreite alleine haben die [Entwickler] von Philips schon den Weltstandard fixiert. Wie 214 215 216 217
Röther 2012, S. 413. Röther 2012, S. 443. Zitiert nach: Röther 2012, S. 413. Engel u. a. 2010, S. 448., Vgl. auch Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2017.
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in der Schallplatte: Die Rille ist so und so lang und so und so breit. Und damit basta. Und dann könnt ihr Platten bauen, wie ihr wollt. Ihr könnt auch Bänder bauen, wie ihr wollt. Aber die Bandbreite ist reglementiert.«218 Von diesen und anderen Standard-Werten, wie etwa der Bandgeschwindigkeit, weicht Philips auch in der Folgezeit nicht ab, erklärt Ingenieur Lou Ottens: »As long as there was no technical revolution at stake, international standardisation was a holy cow with Philips, and rightly so. […] No reason for us to choose something out of the range.«219 Zwar arbeitet auch das konkurrierende Grundig-System mit 3,8 Millimeter breiten Bändern, aber Philips hat in den Verhandlungen mit Band- und Geräteherstellern die Nase vorn. Eine Philips-Delegation verbringt zum Beispiel im Mai 1966 drei Wochen während der Kirschblütenzeit in Japan bei Norio Ohga von Sony.220 Sie haben ein Modell der kleinen Kassette dabei und einen Standardisierungsvorschlag für japanische Geräte. Kurz darauf springt der Konzern auf den Philips-Zug auf und zieht etliche andere japanische Firmen wie Matsushita oder SEL mit. »1966 besaßen 43 Tonbandgeräte-Erzeuger Philips-Lizenzen für die Compact-Cassette, davon allein 20 in Japan, und zusammen hatten sie bereits ›mehrere Millionen‹ Kassettengeräte abgesetzt.«221 »Damals hatte von Hongkong und China noch kein Mensch Geräte. Das kam alles aus Japan. Es gab auch ganz billige Geräte von der Type Monacor. Aber die gleichen Kassetten. Und kosteten nur noch 98 Mark und nicht mehr 298 oder 398 Mark. Dann kamen die ersten Stereo-Geräte raus. Die Entwicklung war rasant. Und irgendwann wurde Philips von den andern getrieben. Spätestens da hat Grundig gemerkt, dass sie mit ihrem C100 kein Bein in die Tür kriegen, weil Philips den Markt schon infiziert hatte, nicht abgeräumt, aber doch stark infiziert.«222
Irgendwann springt mit Telefunken auch der stärkste Grundig-Partner ab und wechselt das Lager. Auf der IFA 1967 in Berlin präsentiert Grundig selbst schließlich stillschweigend den C200, das erste Kassettengerät mit Philips Standardmaßen.223 Der Kampf um das richtige Format geht damit zu Ende.
218 219 220 221 222 223
Interview mit Gert Redlich vom 17.3. 2016. Dormon 2013, abgerufen am 22.9.2016. Duk 2013, abgerufen am 26.1.2016. Engel u. a. 2010, S. 447. Interview mit Gert Redlich vom 17.3. 2016. Engel u. a. 2010, S. 444.
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Die Kompaktkassette bekommt ihren Namen 1965 verwendet Philips erstmals einen »offiziellen« Namen für die handlichen Plastikkassetten, die nun seit zwei Jahren auf dem Markt sind. Im Wettkampf mit Grundig und anderen Kassettenherstellern, die ihre Produkte immer mit dem Firmennamen versehen, ist das wichtig. Der Name soll klar machen, dass es sich beim Versuch, den kleinen Kassettenrekorder und die Kassette am Markt zu etablieren, weder um eine der vielen bereits gezeigten Eintagsfliegen im Magnettonbereich handelt, noch um einen Alleingang der Marke Philips, der wie etwa im Fall Protona und dem Miniphon-Attaché maßgeblich von der wirtschaftlichen Gesundheit eines Konzerns abhängt. Es soll vielmehr klar gemacht werden, dass es sich um eine neue, weltumspannende Technologie handelt, um ein System, das völlig unabhängig von den Bemühungen und Erfolgen einzelner Hersteller funktioniert. Ähnlich wie bei der firmenneutralen Bezeichnung »Schallplatte«, die sich auf das Produkt und nicht auf den Hersteller bezieht, soll der Name Kontinuität am Markt und Verlässlichkeit vermitteln. »Und so entstand die Bezeichnung ›Compact-Cassette‹, mit der ihre besonderen Eigenschaften sinnvoll gekennzeichnet wurden. Zukünftig wird daher von allen mit diesem System arbeitenden Unternehmen der Ausdruck ›Compact-Cassette‹ verwendet werden.«224 Die »musikalische Ausgabe«, die kommerziell vorbespielte Schwester der leeren Kompaktkassette, soll nach dem Willen des Konzerns künftig »MusicKassette« genannt werden. Interessanterweise ist die Bezeichnung »Compact-Cassette« nur so lange wichtig und auch gebräuchlich, wie sich andere Formate in Umlauf befinden. Als sich die Maße des Philips-Kassettensystems am Markt durchgesetzt und alle anderen Konkurrenten aus dem Feld geschlagen haben, erlebt die CompactCassette zwischen dem Ende der siebziger und der Mitte der neunziger Jahre ihre absolute Blütezeit. Niemand spricht mehr von Kompaktkassetten oder Tonbändern, erinnert sich Dominik Kuhn: »Ich habe das Ding Kassette genannt. Genau wie alle anderen. Einfach nur Kassette. Oder manchmal auch Tape.«225 Der englische Begriff »Tape«, der ursprünglich die Bänder großer Spulentonbandgeräte meint, ist in den achtziger und auch noch in den neunziger Jahren neben der Bezeichung »Kassette« im deutschsprachigen Raum überall zu hören. Zumindest Jugendliche, die in diesem Zeitraum die Hauptkunden der Kassettenindustrie darstellen, verwenden ihn ganz selbstverständlich im Zusammenhang mit selbst bespielten Kassetten, wie etwa den »Mixtapes« oder den »Demotapes«. Niemand denkt dabei mehr an Reel-to-Reel-Geräte, denn spätestens da hat das Kassettentonband auch in Sachen Absatzzahlen das Spulentonband 224 PM vom August 1965, Quelle: Archiv Philips. 225 Interview mit Dominik Kuhn vom 13.7.2015 in Reutlingen.
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längst überflügelt. Im Jahr 1982 werden mehr als sechzig Millionen Kassetten im Wert von rund dreihundert Millionen Mark in der BRD verkauft. Verkaufte Spulentonbänder gibt es dagegen so wenige, dass die Zahlen unter eine Million rutschen und vom Hersteller BASF beim Erheben der Verkaufszahlen nicht mehr dokumentiert werden.226 Im Bewusstsein der Menschen sind Kompaktkassetten-Systeme also zu den wichtigsten, selbstverständlichsten und allgegenwärtigsten HiFi-Geräten mit Magnetbandtechnologie geworden. Wer jetzt einen Reel-to-reel-Rekorder mit Spulentonband meint, muss das explizit dazu sagen. Abbildung 12: »Sprechendes Notizbuch«
Quelle: Archiv Philips
226 Engel u. a. 2010, S. 345.
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Mobilität, Sound-Qualität und High Fidelity Zunächst führt Philips den Taschenrecorder als »sprechendes Notizbuch« in den Markt ein (Abb. 12). Oder besser gesagt: muss ihn so einführen. Denn eines ist schon Lou Ottens, dem Entwickler des Gerätes, völlig klar: Für anspruchsvolle Musikaufnahmen taugt sein Kassettensystem (noch) nicht. Das ist dem Ingenieur anfangs jedoch ziemlich gleichgültig. Er setzt für seine Erfindung einen anderen Schwerpunkt: »At the time of the concept (somewhere around 1960) we were not thinking about hi-fi or something similar. But of a cheap, portable proposal which, hopefully, would find a willing market.«227 Der Plan von Philips geht auf. Die meisten Käuferinnen und Käufer der neuen Rekorder legen in der Anfangszeit tatsächlich wenig Wert auf die SoundQualität. Sie freuen sich an der einfachen, »kinderleichten« und »narrensicheren« Bedienung, die es nun jedem möglich macht, selbst etwas aufzunehmen. Abbildung 13: »Wellensittiche«
Quelle: Archiv Philips
Vor allem Jugendliche beginnen schon bald, mit dem »sprechenden Notizbuch« auch Musik aus dem Radio oder von Schallplatte aufzunehmen. Wenn man Glück hat, passt das mitgelieferte Überspielkabel. Sonst hält man eben das Mikrophon vor den Lautsprecher von Radio oder Plattenspieler. Musik ist ein im227 Dormon 2013, abgerufen am 22.9.2016.
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mens wichtiger Bestandteil der jugendlichen Unterhaltungskultur. In einem Bericht des Sinus-Instituts von 1982 geben fünfzehn- bis siebzehnjährige Jugendliche als wichtigste Freizeitbeschäftigung das Musikhören an. Ein Gerät, mit dem man angesagte Songs speichern und jederzeit reproduzieren kann, ohne teure Schallplatten selbst anschaffen zu müssen, trifft also den Nerv der Zeit. Wer schert sich da um die verglichen mit Platte oder Spulentonband kümmerliche Sound-Qualität! Abgesehen davon schätzen Jugendliche auch die Mobilität der Geräte. Bald liefert Philips Halterungen, um den Kassettenrekorder im Auto unter dem Armaturenbrett einzubauen. Der Kassettenrekorder kann ganz einfach an den Verstärker des Autoradios angeschlossen werden. Für Autos ohne Radio liefert die Firma ab 1965 Halterungen mit eingebautem Verstärker. Die Wiedergabe der Aufnahmen erfolgt über die klanglich wesentlich besseren Autolautsprecher, die Stromversorgung läuft über die Autobatterie. Langfristig will sich Philips natürlich auch den Markt der ernsthaften Musikliebhaber besser erschließen und die Kritiker der neuen Kassettentechnologie als Käufer gewinnen, die anfangs noch die schlechte Band- und Wiedergabequalität bemängeln. Auch dass das Gerät nur mono aufnehmen und abspielen kann, behagt vor allem den Anhängern der sogenannten »High Fidelity«, also der hohen Klangtreue, absolut nicht. Bis 1966 ist die Definition von HiFi-Qualität zwar eine recht subjektive Wahrnehmung. Dann aber wird eine verbindliche DIN-Norm festgelegt, die die Qualität einzelner Audio-Unterhaltungs-Geräte vergleich- und messbar macht. Für den kleinen Kassettenrekorder und seine Tonträger ist es allerdings noch ein weiter Weg bis zur HiFi-Tauglichkeit. Im April 1965 kann der Konzern nur bescheidene Erfolge vermelden: »Der taschen-recorder [sic!] wird seit kurzem in einer verbesserten Ausführung als Cassetten-Recorder 3301 geliefert. […] Die technischen Verbesserungen am neuen RecorderModell bestehen in einer Erweiterung des Frequenzbereiches und in einer Einrichtung, die ein versehentliches Löschen der Musik-Cassetten verhindert.«228
In der Folgezeit entwickelt Philips das erste Mono-Gerät zu einem Stereo-Gerät weiter und verkündet 1967, man könne nun auch »anspruchsvollere Musikaufnahmen« damit durchführen.229 Anfang der siebziger Jahre stellt BASF das erste mit Chromdioxid (CrO2)-Pulver beschichtete Band vor, das die Wiedergabequalität der Kassetten im Vergleich zu den üblichen Eisenoxid-Produkten noch einmal deutlich verbessert. Die Aufnahmen werden klarer, haben mehr Höhen-
228 PM 72/65 vom April 1965, Quelle: Archiv Philips. 229 PM 1967, Quelle: Archiv Philips.
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anteile und klingen damit weniger dumpf. Schon bald nehmen auch andere Hersteller die neuen Bänder ins Programm auf. »Die Chromdioxid-Produktion der BASF begann 1972 mit der bescheidenen Menge von 1 Tonne pro Monat. Die Produktion stieg rapide an; 1984 waren als Jahres-Kapazität 2.800 Tonnen verwirklicht, 1989 ausgebaut bis auf 5.000 Tonnen pro Jahr, und 1992 waren schließlich 8.000 Tonnen pro Jahr erreicht.«230
Mit FerroChrom- und Reineisen-Kassetten kommen nach den ChromdioxidBeschichtungen noch einmal verbesserte Bänder auf den Markt. Auch für vorbespielte höherwertige Musikkasetten, die sich vom Billigmarkt absetzen wollen, wird in der Regel jetzt wenigstens Chromdioxd-Band verwendet. 1967 erhält BASF von Philips die Erlaubnis, nicht nur Kassettenbänder, sondern ganze Kassetten herzustellen. Der Aufbau einer Endfertigung beginnt. Wer privat auf Kassette aufnehmen oder überspielen will, hat die Auswahl zwischen verschiedensten Kassettenmarken wie zum Beispiel TDK, Agfa, Maxell, BASF oder Fuji – um nur einige zu nennen – aber auch zwischen unterschiedlichen preislichen Abstufungen und Bandlängen von sechzig, neunzig und sogar einhundertzwanzig Minuten. Die Auswahl der richtigen Kassette wird vor allem unter Jugendlichen in den achtziger Jahren zu einer Art Religion, erinnert sich Dominik Kuhn: »Es gab bei uns eine Maxell- und eine TDK-Fraktion. Ich war auf der TDK-Seite. Und wenn ich Geld hatte, habe ich mir Fuji-Metal gekauft. Neunziger. Weil die Legende sagte, dass bei 120ern die Bänder zu dünn seien und das nicht mehr gut von der Qualität her sei. Und die waren richtig teuer. Da hat eine fast zwölf Mark gekostet oder so. Fuji war damals die beste aus meiner Sicht.«231
Doch nicht nur durch die Verbesserung der Bandqualität holt die Kassette im Vergleich zu Schallplatte und Tonbandgerät auf. Auch das lästige hochfrequente Rauschen, das den Sound von Kassettenaufnahmen beeinträchtigt, wird mit dem Rauschminderungsverfahren des US-amerikanischen Ingenieurs Ray Dolby erheblich reduziert. Sein ausgefeiltes System Dolby A hat er bereits in professionellen Tonstudios an großen Bandmaschinen erfolgreich erprobt. Anfang der siebziger Jahre bekommt er mit dem vereinfachten Verfahren Dolby B auch das Rauschen der Kompaktkassetten weitestgehend in den Griff. Das System hebt den Pegel zunächst bei der Aufnahme an und senkt ihn bei der Wiedergabe anschließend wieder ab. Dadurch wird auch das Rauschen deutlich leiser.
230 Engel u. a. 2010, S. 470. 231 Interview mit Dominik Kuhn vom 13.7.2015 in Reutlingen.
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Abbildung 14: »Kassettenwechsler«
Quelle: Archiv Philips
Schon bald sind Dolby-Systeme in fast alle handelsüblichen Rekorder eingebaut, die meisten sind darüber hinaus zum Abspielen von CrO2- und besseren Kassetten geeignet. In späteren Modellen gibt es sogar ab Fabrik fest eingebaute Schalter, um die Bandsorte zu wählen, und solche, um Dolby B oder das weiterentwickelte Dolby C ein- beziehungsweise auszuschalten. In punkto Soundqualität können es viele Kassettengeräte Mitte der achtziger Jahre also mit guten Schallplattenspielern aufnehmen. Selbst von tonangebenden Musikzeitschriften wie Stereoplay oder dem HiFi-Magazin wird das Kassettensystem irgendwann als »klassiktauglich« geadelt. »Your own music anytime, everywhere«232 – Die Miniaturisierung geht weiter Den ganz breiten Durchbruch schafft die Kassettentechnologie dann schließlich ab Mitte der siebziger Jahre. In der Musikindustrie sind einfache Vervielfältigungsverfahren eingeführt, die die Produktion hoher Stückzahlen ermöglichen. Leerkassetten werden nicht mehr von Hand, sondern auf Produktionsstraßen gefertigt, die bis zu 2.000 Exemplare pro Stunde herstellen können. Im Jahr 1977 werden in der BRD fünfundsiebzig Millionen Leer- und fünfundvierzig Millio232 Interview mit Dominik Kuhn vom 13.7.2015.
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nen Musikkassetten abgesetzt. 233 Und die Zahlen steigen weiter. Bald laufen Kassetten der Schallplatte in Sachen Verkaufszahlen den Rang ab. Im Jahr 1976 werden mit einer Stückzahl von rund 140 zu 110 Millionen erstmals mehr Kassetten als LPs an den Mann und an die Frau gebracht. Mit 1,4 Milliarden Gesamtvolumen ist das Geschäft mit Kassetten lukrativ und zukunftsträchtig. Der Spiegel sieht im Jahr 1977 gar das Jahrhundert der Schallplatte zu Gunsten der Kassette zu Ende gehen: »Hundert Jahre nach Edison, trotz Hi-Fi und Stereo, bei aller Saphir-Sensibilität und Quadro-Spielerei, verstaubt und verschleißt die Platte noch immer unabwendbar. Das Knistern und Kratzen läßt sich auch bei bester Pflege und hochwertigen Anlagen kaum vermeiden. An einen festen, ebenen, stoßfreien Abspielplatz ist die Platte immer noch gebunden. Die Kassette dagegen tönt knisterfrei an jedem Ort und in jeder Lage – über Schlaglöchern im Kraftfahrzeug, auf dem Campingplatz wie im Kinderzimmer. Sie ist in ihrer Kapsel vor Sonne, Staub und Stoß geschützt. Das Band kann in modernen Abspielgeräten nicht mehr gezerrt werden; es ist nahezu unbegrenzt nutzbar.«234
Nach den ersten Mono-Taschenrecordern sind zuerst etwas größere tragbare Stereogeräte auf den Markt gekommen, gefolgt von Tapedecks zum Einbau in Stereo-Anlagen und voluminösen Radiorekordern, die bald schon zur typischen »elektroakustischen Erstausstattung« von Jugendlichen zählen, bevor sie sich die wesentlich teureren Stereoanlagen leisten können.235 Im Jahr 1975 nennen etliche Jugendliche auf die Frage der Shell-Jugendstudie nach der größten Freude des Jahres wörtlich den Kauf eines Radiorekorders. 236 1979 trifft der Sony Walkman, ein taschenrechnergroßer, batteriebetriebener Mini-Kassettenspieler den Nerv der Zeit. Die Miniaturisierung der Technik, die Lou Ottens mit dem Philips Taschenrecorder schon 1963 angestoßen hat, ist auf ihrem vorläufigen Höhepunkt angekommen. Getoppt wird sie erst Ende der neunziger Jahre, als die ersten nochmals deutlich kleineren mp3-Player in Umlauf kommen. In den achtziger Jahren wird der Walkman, die »akustische Zigarettenschachtel«237, deren Größe sich bei der Konzeption diesmal an der Hemdtasche eines japanischen Designers orientiert hat,238 schnell zum Inbegriff eines sportlichen, lässigen und unabhängigen Lebens. Musikhören ist durch den passenden Stereo-Kopfhörer in der Öffentlichkeit, im Auto und Zuhause plötzlich möglich,
233 234 235 236 237 238
Engel u. a. 2010, S. 62. o.A. 17/1977 Der Spiegel, »Klangsupermarkt zum Nulltarif«, S. 208. Weber 2008, S. 222. Jugendwerk der deutschen Shell 1975, S. 2. Weber 2008, S. 189. Weber 2008, S. 184.
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ohne wie mit dem Radiorekorder andere zu stören oder selbst gestört zu werden. Das Gerät ist bald sogar mit Autoreverse-Funktion, Equalizer und anderen HiFiSpielereien ausgestattet. Für viele Jugendliche und junge Erwachsene, die sich noch keine große, HiFi-taugliche Stereoanlage leisten können, ist der rund vierhundert Mark teure Walkman zunächst ein adäquater Ersatz. Und ähnlich wie schon beim Kassettenrekorder finden sich in der Herstellerbranche recht schnell Nachahmer, die billigere Geräte herausbringen, deren Klangqualität zwar nicht so gut wie die des Originals ist, die aber denselben Zweck erfüllen. Dominik Kuhn beschreibt ihn im Interview: »Your own music anytime, everywhere.«239 Schon vier Jahre nach dem ersten Walkman gibt es im westdeutschen Handel dreihundertzwölf Walkman-Modelle von vierundachtzig verschiedenen Marken. Und die Zahl steigt weiter.240 »Dass es so ein Ding gab, war der Hammer! Weil man da rumliegen konnte im Bett oder auf der Wiese mit dem Kopfhörer und Musik hören konnte. Ich hatte nicht den ersten SonyWalkman. Ich hatte den zweiten. Walkman II hieß der.«241 1987 bringt Sony mit der Produktlinie »My first Sony« sogar einen Walkman für Kinder auf den Markt. Märchen- oder Detektivhörspiele können nun bei langen Autofahrten auf dem Rücksitz gehört werden, ohne die übrigen Mitfahrer zum Mithören zu verdammen. Die Bedienung des kleinen Kassettengerätes ist im wahrsten Sinn des Wortes »kinderleicht«.
2.7 »BYE, BYE KASSETTE« Mit dem Aufkommen des Walkmans beginnt unbestreitbar die absolute Blütezeit der Kassette. Eine lange Phase, in der sie fester Bestandteil der Alltagskultur ist, bevor sie allmählich wieder vom Markt verschwindet. Bis Ende der neunziger Jahre ist die Kassette allgegenwärtig in Rekordern aller Art, in Autoradios, in Diskotheken, Kinderzimmern, Anrufbeantwortern und Diktiergeräten. Kassetten dienen als Speichermedien für die frühen Computersysteme, sie werden als Blindenbriefe verschickt, tun ihren Dienst als Audioguides, Musiklehrer, Liebesboten, Sprach- und Vokalbeltrainer. Als 1969 die Apollo 12-Mission zum Mond aufbricht, sind Kassetten an Bord. Als im selben Jahr das iranische SchahRegime durch den Schiitenführer Khomeini abgelöst wird, gelten Kassetten »in millionenfacher Auflage« als »wichtigste Waffe« der Revolutionäre.242 Kurzum: Ein Leben ohne Walkman und Kompaktkassetten ist nicht mehr denkbar. 239 240 241 242
Interview mit Dominik Kuhn vom 13.7.2015. Weber 2008, S. 181. Interview mit Dominik Kuhn vom 13.7.2015. Engel u. a. 2010, S. 462.
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Die CD kommt auf den Markt Doch selbst etablierte Alltagskulturen verändern sich und entledigen sich nicht länger nötiger Artefakte. Denn die »alte Dame Technik«243, von der bereits mehrmals die Rede war, ist in der Tat ein ruheloser Geist. Und so bekommen die erfolgreichen analogen Audiosysteme Mitte der achtziger Jahre eine digitale Konkurrenz, die zunächst »nur« den Untergang der Schallplatte, schließlich aber auch den der Kassette einläutet. Und ausgerechnet Philips-Ingenieur Lou Ottens, der »Vater der Kompaktkassette«, ist daran federführend beteiligt: Im März 1983 stellt der Konzern die von Ottens mitentwickelte Compact Disc in Europa und den USA vor: zwölf Zentimeter Durchmesser, 1,1 Millimeter Dicke, eine Milliarde digitaler Informationen auf einem sechs Kilometer langen Laufstreifen, der von einem Laserstrahl in rasendem Tempo abgetastet wird. Das Loch in der Mitte ist genauso groß wie die holländische Zehn-Cent-Münze.244 Im technikverrückten Japan sind die superleichten silbernen Scheiben schon seit November 1982 erhältlich. Herbert von Karajan hat Gustav Mahlers Alpensinfonie auf CD eingespielt, Billy Joels Album 52nd Street erscheint digital, und die letzten Songs der schwedischen Superstars ABBA sind von der PhilipsTochter Polygram mit dem Album The Visitors ebenfalls auf Compact Disc gebrannt.245 Die Silberlinge bestechen durch eine brillante Klangqualität, kristallklaren Klang und einen hohen Bedienkomfort. Zum Beispiel lassen sich einzelne Stücke auf dem Tonträger jetzt direkt anwählen. Das umständliche Vorund Zurückspulen der Kassette entfällt. Allerdings: Aufnehmen und arrangieren kann man mit der neuen CD nicht. Noch nicht. Und so behält die Kassette neben der CD deutlich länger ihre Daseinsberechtigung als die Schallplatte, erinnert sich Markus Bella: »Die Kassette hat auf jeden Fall weiterhin ihre Wirksamkeit gehabt bis, denke ich, weit in die Neunziger hinein. Obwohl die CD schon da war. Also, wir hatten mit meiner Band Die Sache 1986 dann noch eine recht gute Produktion auf Kassette herausgegeben, die man eigentlich hätte auch auf Platte bringen können.«246
Der Absatz vorbespielter Musikkassetten erreicht in Deutschland erst 1991 seinen Höhepunkt, als die CD schon längst auf dem Markt ist: 78,4 Millionen Exemplare.247 Ein Grund für die relative Stabilität der Absatzzahlen bis kurz 243 244 245 246 247
Vgl. Peter Bamm im Vorwort zur bereits mehrfach zitierten Produktbroschüre. Duk 2013, abgerufen am 26.1.2016. Soltau 2007, abgerufen am 16.10.2016. Interview mit Markus Bella, 1.3.2016 in Tübingen. http://www.swr.de/swr1/bw/programm/die-geschichte-der-musikkassette-vomholzklotz-zum-massenmedium/-/id=446250/did=11961718/nid=446250/klvlmg/index.html, abgerufen am 16.10.2016.
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nach der Jahrtausendwende dürfte wohl auch der ab Mitte der neunziger Jahre regelrecht explodierende Markt an Hörbüchern sein.248 Neben CDs sind es vor allem Kassetten, die sich als Tonträger für stundenlange Lesungen anbieten. Doch anders als CDs auf dem Disc-Man, dem tragbaren CD-Spieler, laufen die Kassetten im Walkman nach wie vor ruckel-, sprung- und störungsfrei. Der analoge Medienmarkt bricht ein Nach diesem letzten Aufflackern der Kassettenbegeisterung geht es jedoch unaufhaltsam bergab. Die ebenfalls von Philips entwickelte Idee, Anfang der neunziger Jahre Kompaktkassetten mit digitalen Bändern als Nachfolger der Kompaktkassette auf den Markt zu bringen, geht nicht auf. Auch das »Digitale Audio Tape« DAT in Kleinstkassettengehäusen setzt sich auf dem Unterhaltungsmarkt nie richtig durch. Der Musiker Markus Bella erinnert sich: »Die digitalen Medien, die nach der Kassette kamen, waren nicht wirklich ganz durchdacht, sehr anfällig, sehr schwierig in der Handhabung. Allein zum Beispiel die Aussteuerung war immer ein Riesenproblem bei diesen Dingen. Also dieses Einfache und eigentlich Idiotensichere einer Kassette, das gab es nicht mehr.«249
Die als Nachfolger des Kassettensystems designierten digitalen Systeme sind zwar klanglich exzellent, aber für den Massengeschmack zu teuer und vor allem – viel zu spät dran, um den Siegeszug der Compact Disc noch aufhalten zu können. Sie hat sich inzwischen zum Standardmedium entwickelt und die analogen Medien fast vollständig verdrängt. 1994 überrunden die Verkaufszahlen der CD die aller anderen Tonträger zusammen um mehr als das Doppelte. 250 Der Branchenriese unter den Bandherstellern Emtec Magnetics, der aus der Fusion der Magnetsparten von Agfa und BASF hervorgegangen ist, muss 2004 Insolvenz anmelden. 2006 werden in Deutschland einhundertfünfzig Millionen Musik-CDs verkauft und fast fünfhundert Millionen Rohlinge,251 auf denen Musikliebhaber wie Dominik Kuhn nun ihre Lieblingssongs nach Belieben arrangieren und brennen können. »Ich habe aufgehört mit Kassetten, als ich CDs brennen konnte. Ich konnte den Titel von Franky Goes to Hollywood ›rippen‹, wie man heute sagt. Und dann war das mit der Kassette sowas von geschwätzt.«252
248 249 250 251 252
Rühr 2010, S. 86f. Interview mit Markus Bella vom 1.3.2016. Soltau 2007, abgerufen am 26.2.2017. Ebd. Interview mit Dominik Kuhn vom 13.7.2015.
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Ein bisschen Kassette hat überlebt Bis heute wurden weltweit mehr als hundert Milliarden Kassetten verkauft. Und – man mag es kaum glauben – in vergleichsweise geringen Zahlen verkaufen sie sich noch immer. Seien es nun Hörspiele der Drei ???, die bei ihren Hörern Kultstatus erreichen und bis auf weiteres neben CDs und Downloads bei Sony Entertainment auch als Kassetten erhältlich sein werden, wie der Konzern in einer Pressemitteilung im November 2011 verlauten lässt. Sony Entertainment verfügt noch heute über eine eigene wirtschaftliche Kassettenfertigung in Gütersloh.253 Oder seien es Leerkassetten, die vom Hersteller Maxell noch immer gefertigt werden. Oder seien es kleine Auflagen unabhängiger Verlage im Avantgardemusikbereich, von denen der Hamburger Label-Betreiber Alfred Hilsberg zu berichten weiß: »Gerade im Bereich von experimenteller, atonaler Musik gibt es zunehmend wieder Kassetten-Veröffentlichungen, weil die das auch als Kennzeichen ihrer Musik benutzen wollen. Das sind kleine Auflagen. Also, wir gehen back to the roots und machen wieder Kassetten. Und das ziemlich erfolgreich.«254
Steve Stepp, Chef des größten verbliebenen Kassetten-Herstellers und -Vertreibers in den USA National Audio Company (NAC), erlebt mit seinem Unternehmen, das sich immerhin seit 1968 am Markt etabliert hat, im Jahr 2015 sogar einen kleinen Kassetten-Boom und das erfolgreichste Jahr der Firmengeschichte, wie er im youtube-Kanal Rock it out am 11.11.2015 erzählt.255 Die NAC verzeichnet seit etwa fünf Jahren einen Anstieg der Nachfrage nach Kassetten. 2015 liegt er bei mehr als dreißig Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die NAC gibt in diesem Jahr mehr als sechshundert neue Titel auf Kassette heraus. Steve Stepp spricht im November 2015 gar von einem »Comeback der Kassette« und nennt als Grund dafür – wie Alfred Hilsberg auch beobachtet – vor allem den wachsenden Markt der Independent Music Industry in den Vereinigten Staaten. Künstler dieser Sparte besinnen sich wieder auf die Langlebigkeit von Kassetten-Aufnahmen, auf die niedrigen Produktionskosten, auf den geringen technischen Aufwand bei der Herstellung, die Tragbarkeit, die simple Usability und die »Wärme« des analogen Kassettenklangs. Im Januar 2017 meldet die dpa: »Der Absatz von Audio-Kassetten ist im vergangenen Jahr in den USA nochmals sprunghaft angestiegen […]. Die Verkaufszahlen kletterten um 74 Prozent
253 Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016. 254 Interview mit Alfred Hilsberg vom 20.1.2016. 255 »Cassette Tape Sales Are On The Rise Thanks To This Company«, Onlinekanal »Rock it out«. URL (abgerufen am 16.10.2016). https://www.youtube.com/watch?v=jfDr6yc_Ww4
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von 74.000 auf 129.000 Stück. Der Großteil der Kassetten wurde mit 43 Prozent im Internet vertrieben.«256 Retro ist Trumpf Kassettenkünstler und -produzenten schwimmen damit auf einer Welle der Kassetten-Romantik, die einhergeht mit einer rückblickenden Verklärung der achtziger und neunziger Jahre. Buchtitel wie Love is a mixtape, Wir Kassettenkinder oder High Fidelity entwickeln sich im 21. Jahrhundert zu Bestsellern. Zum fünfzigsten Geburtstag der totgesagten Kompaktkassette ergehen sich im Jahr 2013 außerdem nahezu alle führenden und nichtführenden deutschen Wochen- und Tageszeitungen – vom Spiegel über den Stern bis hin zur Zeit – in nostalgieschwangeren, oft autobiographisch angelegten Lobgesängen auf den kleinen Tonträger.257 Die Kassette wird zum putzigen, liebenswerten, leicht schrulligen Vintage-Kultobjekt stilisiert. Im Internet kursieren auf dem Musikkanal youtube Videoclips zur Handhabung, Lagerung und Pflege alter Kassetten. Es gibt sogar Tutorials, die zeigen, wie mit einem Bleistift ein verheddertes Kassettenband wieder aufgewickelt werden kann. Funktionierende Highend-Kassettendecks für Stereoanlagen aus den achtziger und neunziger Jahren erzielen auf der InternetAuktionsplattform ebay Spitzenpreise. Eine Retromanie, die sich im volldigitalisierten 21. Jahrhundert wieder analogen Speichermedien zuwendet, hat neben der Schallplatte also auch die Kassette zumindest gestreift. Womöglich idealisiert man heutzutage gerne den »warmen Sound« analoger Medien, weil der Stern der CD angesichts von mp3Playern und Streaming-Diensten schon längst wieder am Sinken ist und sich damit das letzte haptische Speichermedium anschickt, vom Markt zu verschwinden, vermutet Markus Bella: »Ich denke, das Zeitalter der CD ist im Prinzip auch rum. Die Dinge haben sich entmaterialisiert. Und das hat Konsequenzen für die Produktion und für die Rezeption auf jeden Fall auch.« Die Menschen brauchen etwas »Greifbares« Offenbar ist es für viele Menschen schwierig, mit derart entmaterialisierten Speicherinhalten zurechtzukommen. Jedenfalls, wenn es sich um persönliche Erinnerungen handelt. Es scheint so, als seien Musik, Photos oder Texte, die ganz real auf einem Trägermedium gespeichert sind, in unserer Vorstellung beständiger als im virtuellen Raum. »People like holding something in their 256 Meldung im Reutlinger Generalanzeiger vom 25.1.2017. 257 Klein, Julia 2013; Steinkirchner 2013; Leubecher, Marcel 2013; Ramm, Daniel 2013; Meyer, Luisa u. a. 2013.
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hands«, sagt NAC-Chef Steve Stepp im bereits angesprochenen Interview vom November 2015 zur Erklärung des von ihm beobachteten Kassetten-Comebacks. Und das Times Magazine berechnet: »The numbers confirm Stepp's observations. In 1993, Nielsen SoundScan found rough parity between the CD and the cassettes (USA). Although sales of the latter have declined, 200.000 albums sold on tape in the U.S. in 2012 – a fraction of a percent of the 316 million total albums sold but a 645% increase over 2011 cassette sales.«258
Bei Vinyl-Pressungen ist dieses Phänomen schon länger zu beobachten. Die Schallplatte wurde vom Retrotrend gegen die zunehmende Virtualisierung bereits zu Beginn des neuen Jahrtausends erfasst. In den letzten Jahren haben sich die Umsätze mit Schallplatten vervielfacht, erzählt Label-Betreiber Alfred Hilsberg und stellt einen ähnlichen Trend für die Kassette in Aussicht: »Bei Kassetten ist die Wiederverbreitung noch nicht so gelungen, weil viele Leute keine guten Geräte mehr haben zum Abspielen. Aber ich denke, das wird sich auch noch ändern. Heute gibt es ja auch wieder gute Plattenspieler ab zweihundert Euro. Und die waren eine Zeitlang gar nicht da. Doch, die gab's natürlich als Importe. Klar. Aber gute Plattenspieler sind heute wieder überall zu haben. Und so wird es irgendwann auch wieder Kassettenrekorder geben.«259
Steve Stepp von NAC hat für die Zukunft den Bau eines neuen Highend Kassettenrekorders angekündigt.260 Die US-Firma Jensen wolle künftig ebenfalls wieder mit einem aufpolierten Retro-Modell an den Markt kommen, verrät Steve Stepp im selben Interview. Und auch wenn dem kleinen Tonträger wohl nie mehr so glanzvolle Zeiten blühen wie zwischen den siebziger und den neunziger Jahren – daran, dass Kassettensysteme nie ganz aus den Köpfen der Menschen und wohl auch nicht aus den Verkaufsregalen verschwinden werden, zweifelt heute niemand mehr.
2.8 ZWISCHENRESÜMEE EINS Betrachtet man nun zusammenfassend die geschilderten, vielen Jahrzehnte technischer Entwicklungen und Modelle, in die die Ära des Kompaktkassettensys258 Online-Ressource: http://nacduplication.com/pdf/TimeMag_NAC_article.pdfm, abgerufen am 16.10.2016. 259 Interview mit Alfred Hilsberg vom 20.1.2016. 260 »Cassette Tape Sales Are On The Rise Thanks To This Company«, Onlinekanal »Rock it out«. URL (abgerufen am 16.10.2016) https://www.youtube.com/watch?v=jfDr6yc_Ww4
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tems eingebettet ist, so ist klar, dass hier kein lineares oder stringentes Voranschreiten stattgefunden hat. Vielmehr ist die Geschichte der Speichermedien, wie ich in diesem Kapitel gezeigt habe, eine Geschichte vieler paralleler Erfindungen, Sackgassen und wiederholter Anläufe.261 Dennoch liegt der Historie der Speichermedien, insbesondere der Magnettontechnologie, eine Logik zu Grunde, die zumindest aus technischer Sicht den überraschenden und vor allem nachhaltigen Erfolg des einfachen Kompaktkassettensystems zu erklären hilft. Der Logik dieser Erfolgsgeschichte nachzuspüren, bedeutet auch, die Ursache für das Scheitern vieler anderer Versuche besser verstehen zu können. Speichern ist ein Grundbedürfnis Am Anfang der Entwicklung von akustischen Speichermedien steht das beschriebene, offenbar urmenschliche Grundbedürfnis, wichtige Ereignisse, Dinge oder Erinnerungen festzuhalten und ihnen damit ihre Flüchtigkeit zu nehmen. Wann immer in der Vergangenheit ein System entwickelt wurde, mit dem gespeichert werden konnte, wurde auch gespeichert – egal, ob es sich dabei, überspitzt gesagt, um Knochenstücke und Höhlenwände handelte, um Kassetten und Kassettenrekorder oder um mp4-Formate und Smartphones. Speichern und Abspielen sind akustische Akte der Selbstvergewisserung, ähnlich dem visuellen Akt, in einen Spiegel zu schauen und sich dort zu betrachten. Überdies ist es offenbar – ganz unabhängig von praktischen Erwägungen, die sicher später die Basis von Technologien wie Diktiergeräten bildeten – eine für den Menschen tröstliche Vorstellung, der Nachwelt etwas hinterlassen zu können und damit die eigene Existenz der Vergänglichkeit zu entreißen. Erinnern wir uns an den Fabrikanten Adolf Rechenberg, der für seine Ehefrau die eigene Stimme ewigkeitsbeständig auf Sprechwalze festhalten wollte, oder an den Stimmensammler Wilhelm Doegen, der nicht ruhte, bis er den letzten deutschen Kaiser auf Wachsplatte gebannt hatte. Frank Eichstädt, der in den späten Achtzigern zu den aktivsten und produktivsten Kassetten-Bootleggern262 der BRD zählt, beschreibt das Gefühl so: »Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass in zwanzig Wohnzimmern ein paar von meinen CDs stehen, ein Stück von mir sozusagen. Wenn ich 261 Vgl. Theorie der Mediengeschichte nach Hickethier: Ein neueres Medium verdrängt ein älteres Medium nicht. Vielmehr existieren mehrere Technologien parallel. Manche Technologien entwickeln sich weiter, andere verschwinden wieder. Hickethier, Knut 2007, S. 25. Zum Teil gehen auch Funktionen eines Mediums in der Geschichte auf andere, neuere Medien über, wie etwa Riepl dargestellt hat. Vgl. Riepl, Wolfgang 1913. 262 Als Bootlegger werden Menschen bezeichnet, die mit versteckten Kassettenrekordern und Mikrophonen illegale Konzertmitschnitte machen, sie im Anschluss vervielfältigen und ggf. auch verkaufen.
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heute vor einen Baum fahren würde, hätte ich was hinterlassen – ein Stück von Frank im Wohnzimmer meiner besten Freunde und Bekannten.«263 HörspielProduzentin Heikedine Körting erzählt: »Ich habe das Pech, dass mein Mann gestorben ist. Und ich bin so froh um alles, was ich noch von ihm habe. Wenn ich jetzt mich alleine fühle oder so, dann kann ich mir was anhören von ihm, was er mir gesagt hat, was er mir erzählt hat. Das tut sehr gut. Das ist sogar viel mehr noch als ein Foto anschauen oder so.«264 Speichermedien sind auch Kommunikationsmedien Ein zweites Motiv bei der Entwicklung von Speichermedien ist der jedem Menschen innewohnende Wunsch nach Kommunikation. Eigene Erfahrungen zu speichern, um sie mit anderen Menschen zu teilen, zu interagieren und weiter zu kommunizieren, sind Handlungen, die der Mensch als soziales Wesen anstrebt – ganz gleich, über welche Bildung, welches Vermögen, welche soziale Macht oder welches Ansehen er verfügt. Erinnern wir uns wieder an Adolf Rechenberg: Ihm genügte es nicht, die eigene Stimme aufzunehmen und sie im stillen Kämmerlein abzuspielen. Erst im Austausch mit anderen Mitgliedern seiner Familie erhielt das Gespeicherte seinen nachhaltigen Sinn und eine Bedeutung. Oder nehmen wir das Beispiel von Gert Redlichs Schul-Marionettentheater: Allein das Geräusch eines Gewitters auf Tonband zu speichern, war nicht das Ziel seiner Bemühungen. Seine Aufnahmen einem Publikum aus Kameraden, Lehrern und Eltern zu präsentieren, machte dagegen aus dem reinen Speichern einen kommunikativen Akt.265 Geradeso wie das Streben nach Beständigkeit der eigenen menschlichen Existenz ist auch der Wunsch nach Kommunikation ein dem Speichern innewohnendes Bedürfnis, das nicht nur bestimmte gesellschaftliche Schichten durchzieht, sondern die Mehrheit der Menschen antreibt. Speichertechnologien müssen massentauglich sein Um die menschlichen Grundbedürfnisse nach Existenzsicherung und Kommunikation befriedigen zu können, müssen Speichertechnologien also massentauglich sein. Das bedeutet: Sie müssen von der Mehrheit der Menschen, gleich über welche Bildung oder welches Einkommen sie verfügen, genutzt werden können. Das stellte an Ingenieure, Tüftler und Erfinder über Jahrzehnte den Anspruch, Speichersysteme zu entwickeln, die einfach zu bedienen und zu erschwinglichen 263 Drees/Vorbau 2011, S. 170. 264 Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016. 265 Vgl. Kapitel 4 Kommunikative Prozesse in Netzwerken.
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Preisen überall zu bekommen waren. Was viele dabei übersahen und erst Kassetten-Erfinder Lou Ottens klar vor Augen hatte: Klangqualität oder Wiedergabetreue sind zunächst einmal zweitrangig. Sie waren und sind nie die erste und ausschlaggebende Größe dafür, ob sich ein Speichersystem im Bewusstsein und im Alltag der Menschen einen Platz sichern kann oder nicht. Sie werden immer erst dann wichtig, wenn es um eine langfristige Verfestigung dieses Platzes geht. Denken wir kurz an die Entwicklungen vom Telegraphon zum Heimtonband zurück: Je preiswerter und einfacher die Geräte wurden, umso mehr Menschen schafften sich ein Speichersystem mit Magnettontechnologie an. Ob die Aufnahmen dabei rauschten, dumpf oder hell klangen, war zweitrangig. Dasselbe lässt sich auch in den Kindertagen der Kompaktkassette beobachten: Dass sie klanglich mit keinem anderen modernen Speichersystem mithalten konnte, war für die Masse der »Kassettenkinder« nicht von großer Bedeutung. Von Bedeutung waren einzig Usability, Preis und Verfügbarkeit der neuen Technologie. Erst im Lauf der Jahre wurde die Verbesserung der Qualität entscheidend für den Fortbestand des Kassettensystems, glaubt auch »Punkpapst« Alfred Hilsberg: »Natürlich war die Qualität oft nicht besonders. Vor allem bei Billigkassetten, das ist richtig. Aber heute spielt das ja auch überhaupt keine Rolle mehr. Die Leute hören den letzten Schrott über die digitalen Kanäle. Die kümmern sich gar nicht darum, wie das klingt. Das ist genauso schlecht oder noch schlechter als das damals von Kassette klang.«266 »Eliten-Dämmerung«: Massentauglichkeit ermöglicht neue Zugänge Die Erklärung für dieses Phänomen liegt auf der Hand: Während aus Sicht von Herstellern und Entwicklern das Schaffen von Massentauglichkeit immer ganz pragmatisch mit einer Steigerung der Absatzzahlen und dadurch mit mehr Umsatz einhergeht, bedeutet es für die AnwenderInnen viel mehr. Die Massentauglichkeit einer Speichertechnologie löst nicht nur ein Konsumversprechen ein, sie eröffnet auch neuen und anderen Gruppen als bisher Zugangschancen zu einem wichtigen Teilbereich von Kommunikation. Speichern verliert mit der Entwicklung zur Massentechnologie seinen Exklusivitätsanspruch. Hierin liegt ein weiterer, ganz wichtiger Grund für die Erfolgsgeschichte des Kassettensystems, der sich vom Prinzip her in der Erfolgsgeschichte des Smartphones wiederholt: Erstmals konnten und durften alle Menschen im großen Stil speichern und abrufen, ganz egal, über welche sozialen oder wirtschaftlichen Privilegien sie zuvor verfügten. Beim Smartphone war es vor allem das visuelle 266 Interview mit Alfred Hilsberg vom 20.1.2016.
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Speichern und Kommunizieren von digitalen (Bewegt-)Bildern. Akustisches Speichern und Kommunizieren wurde mit der Kassette erstmals zu einer Art »Volkstechnologie«. Gert Redlich, der Tonmeister im Schul-Marionettentheater, empfand diese erste Entprivilegisierung der Speicher-Eliten rückblickend als drastischen Einschnitt in seine eigene Technikbiographie: »Ich war in der Schule bis dahin der Einzige, der ein Tonbandgerät bedienen konnte. Und als das Kassettengerät dann richtig publik wurde, so ab 1966/67, brauchten die mich nicht mehr. Der Lehrer konnte das. Der durfte das sogar. Und alle anderen auch. Oh, war das bitter! Das hat an meinem Ehrgeiz geknabbert.«267 Alter, Bildung, soziale Schicht, Geschlecht oder Nationalität der Nutzer spielten ab dem Beginn der Kompaktkassetten-Ära beim Gebrauch von akustischen Speichersystemen keine Rolle mehr. Prinzipiell konnte mit den neuen Kassetten-Systemen erstmals jeder weltweit speichern und über gespeicherte Inhalte verfügen, sie bearbeiten und unautorisiert weiterverbreiten. Jeder »User« konnte mit einem Mal zum »Producer« werden. Und wurde es aus genannten Gründen auch. Wie gesagt: Wann immer die Möglichkeit zu speichern in der Geschichte gegeben war, wurde sie auch genutzt. Schallplattenspieler und Platte hatten sich – ganz nebenbei bemerkt – aus diesem Prozess insofern schon lange vorher verabschiedet, als aus dem einst zur Speicherung tauglichen Grammophon ein reines Abspielgerät geworden war. Selbständig Vinylscheiben zu produzieren, war nicht nur umständlich oder schwierig wie im Falle der Spulentonbänder – es war vom technischen Aufwand her betrachtet für private Zwecke praktisch unmöglich und Profi-Labeln wie etwa Alfred Hilsbergs Zickzack vorbehalten. Für den Label-Betreiber war die Kassette darum eine Art kultureller Revolution: »Denn es war das erste Mal in der Geschichte überhaupt, dass man Musik, also Töne, hörbar machen, speichern und verbreiten konnte, ohne dass man viel Geld investieren musste. Das war ein kaum zu erwartender Schritt. Der war eben sehr bedeutsam für die Kreativität gerade unter jungen Menschen, unter Musikern. Also, ohne die Kassette wären viele Dinge auf diesem Sektor einfach überhaupt gar nicht passiert.«268
Speichern wird zur Alltagskultur Ist ein Speichersystem in dem Sinne massentauglich, dass die Mehrheit der Menschen Zugang dazu hat, und ist es in zweiter Instanz schließlich so weit entwickelt, dass flächendeckende Qualitätsansprüche zufriedengestellt werden, so wird das System zu einem Bestandteil der Alltagskultur. Am Beispiel der 267 Interview mit Gert Redlich vom 17.3.016. 268 Interview mit Gert Redlich vom 17.3.016.
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Kassette ist dieses Phänomen gut zu beobachten. In den achtziger Jahren verfügte praktisch jeder deutsche Haushalt über einen oder mehrere Kassettenrekorder. Es gab vom Diktiergerät, über das Kassettenradio im Auto, über Reportagegeräte für Journalisten bis zum Highend Kassettendeck in Stereoanlagen eine Unzahl verschiedener Modelle, die für unterschiedlichste Einsätze geeignet waren. Schon kleine Kinder konnten ohne Schwierigkeiten mit Kassetten und Rekordern umgehen. Aufnehmen, produzieren und abspielen waren genauso selbstverständliche Vorgänge geworden wie Autofahren oder Telefonieren, erinnert sich der Label-Betreiber Alfred Hilsberg: »Jeder hatte eigentlich ein KassettenAbspielgerät. Es war einfach überall und überall verbreitet.«269 Kassetten gab es nicht nur im Fachgeschäft zu kaufen, sondern auch im Supermarkt, in Kaufhäusern, auf Autobahnraststätten oder am Kiosk. Kassetten waren schlechterdings zum unverzichtbaren Alltagsgegenstand geworden. Betrachtet man den Gebrauch des Walkman, so kann man gar behaupten, dass das Kassettensystem aufgrund seiner geringen Größe und seiner Mobilität zu einem Teil des Menschen selbst geworden war – wiederum eine ähnliche Entwicklung wie sie sich heute mit dem Smartphone wiederholt: »Im Falle von Geräten, die stundenlang griffbereit in der Tasche umhergetragen wurden oder mit denen der Nutzer sich sogar dauerhaft verkabelte, lässt sich nicht nur von einer Individualisierung des Technikgebrauchs sprechen, sondern die Technik beeinflusste die Identitätsgestaltung des Nutzers ebenso wie sein Verständnis von Mensch und Körper. Manche Portable-Nutzer sahen ihre Geräte sogar als eine Grundausstattung des Menschen an; sie waren zum Mensch-Technik-Cyborg geworden. […] So bewerten manche Walkman- oder Handy-Nutzer ihre Geräte als lebensnotwendige Erweiterung ihres Selbst oder gar ihres Körpers: Ohne sie […] könnten sie sich ihr Leben nicht mehr vorstellen.«270
Den Anfang dieser Entwicklung machte sicherlich der kleine Philips Taschenrecorder. Eine Steigerung erfolgte durch den Walkman. In die menschliche Haut implantierte Speicherchips werden derzeit erforscht und werden diese Entwicklung von Mobilität und Miniaturisierung noch ein weiteres Stück vorantreiben. Ähnlich, wie es uns heute ergeht, erging es dabei bereits den Menschen der Kassetten-Ära: Nachzügler oder Verweigerer der Technologie wurden durch ihr ureigenes Partizipationsbedürfnis an kulturellen Praktiken wie Kommunikation mehr oder weniger gezwungen, sich irgendwann anzuschließen. Wer kein Mixtape abspielen konnte, konnte auch die dahintersteckende Botschaft nicht empfangen. Wer keine Märchenkassetten besaß, konnte auch keine tauschen. Wer heute kein Smartphone besitzt, kann an der Kommunikation auf WhatsApp nicht
269 Interview mit Alfred Hilsberg vom 20.1.2016. 270 Weber 2008, S. 22f.
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teilnehmen. Er kann nicht im gleichen Umfang wie Smartphone-NutzerInnen Bilder, Videos oder Töne aufnehmen und sie anderen zukommen lassen. Eine Studentin sagte unlängst in einem Seminar, in dem wir uns überlegten, warum und wie oft am Tag wir eine internetbasierte Kommunikationstechnologie nutzen: »Ohne Smartphone wäre ich sozial erledigt.« Die Entstehung einer Medienkultur wie der Kassettenkultur hat neben der technischen also auch eine wichtige soziale Komponente, die sich wiederum nicht in einem technischen, sondern eher in einem sozialgeschichtlichen Kontext erklären und beschreiben lässt. Die Funktionalität einer Technologie ist also zwar eine notwendige Voraussetzung für ihren gesellschaftlichen und kulturellen Erfolg. Sie kann ihn aber nicht hinreichend erklären. Eine Medienkultur entsteht erst durch die praktische Aneignung einer Medientechnologie und durch die Entwicklung bestimmter Kulturpraktiken, die entweder der Produktion von Kulturobjekten oder dem Konsum von Kulturobjekten dienen. Technische Entwicklungen haben darauf einen ebenso großen Einfluss wie soziale Entwicklungen. Und – wie bereits im Sinne der Cultural Studies am Beispiel des Kreislaufs der Kultur beschrieben – sie beeinflussen, stimulieren und reglementieren sich gegenseitig. Technikgeschichte ist darum untrennbar mit Sozialgeschichte verbunden. Technik verändert die Gesellschaft oder beeinflusst zumindest gesellschaftliche Entwicklungen, wie zum Beispiel auch die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen und den öffentlichen Diskurs darüber. Der kulturelle Umgang mit einer Technologie beeinflusst und verändert wiederum deren technische Weiterentwicklung.271 Dies im Zusammenhang mit der Kassette zu beschreiben, soll Gegenstand des folgenden Kapitels sein.
271 Fiske 2010, S. 1.
3
Tape on me: Versuch einer Sozialgeschichte der Kassette
Es bietet sich an, im Sinne der Cultural Studies zusätzlich zur Geschichte der Usability und technischer Innovationen auch über eine Geschichte der Kassette als »Technology-in-use«272 nachzudenken, darüber, welche Nutzergruppen sich überhaupt mit Kassetten beschäftigen, warum und in welchem Kontext sie Kassetten benutzen, was sie damit ausdrücken und welche Bedürfnisse sie damit befriedigen. Kurz: Welche Art von Medienkultur sich durch den Umgang mit dem Kassettensystem herausbildet. »Medienkultur interessiert in einer solchen Perspektive nicht einfach als ästhetische Dimension von Medienkommunikation oder einer bestimmten Sparte eines Medienangebots. Vielmehr rückt – bei aller Varianz unterschiedlicher Kulturbegriffe – ein breiteres Verständnis von Medienkultur ins Zentrum der Betrachtung, wonach Medienkulturen als Gesamtphänomen zu fassen sind, das sich auf den Ebenen von Medienproduktion, Medieninhalten, deren Rezeption und Aneignung aber auch der (politischen) Regulation und Identifikation konkretisiert. Journalismuskulturen, Organisationskulturen von Medienunternehmen, politische Diskurskulturen, digitale Spielkulturen und mediatisierte Protestkulturen werden dann als einzelne Momente heutiger Medienkulturen betrachtet, die es in ihrer Differenziertheit, Konflikthaftigkeit und historischen Kontextualisierung zu analysieren gilt.«273
Bei der Untersuchung von Kassettenkultur unter sozialgeschichtlichen Gesichtspunkten ist es also notwendig, verschiedene Momente von Medienkultur und verschiedene Ebenen des kulturellen Kreislaufs zu untersuchen, statt eine rein innovationszentrierte Untersuchungsperspektive einzunehmen. Diese allein könnte nicht erklären, warum Kassetten und Rekorder, deren technisches Grundprinzip kaum anders ist als das ähnlicher, früherer Geräte, ab einem bestimmten 272 Hepp 2011, S. 51. 273 Hepp u. a. 2010, S. 9f.
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Zeitpunkt weltweit erfolgreich werden.274 »Diese Kompaktkassette konnte ja auch nicht viel mehr als Töne aufnehmen und Töne wiedergeben, wie das Magnetbandgerät sowieso schon. Aber auf eine ganz andere Art. Sie hat in der Gesamtgesellschaft etwas initiiert, was die Leute erst gar nicht richtig realisiert haben.«275 Kassetten erleben ihre Blütezeit nicht als technische Neuheit, sondern als etablierte Medien in den achtziger und neunziger Jahren, als andere Tonträger wie die CD oder später die DAT-Kassette schon erfunden und auf dem Markt sind. Dessen ungeachtet ist die Kompaktkassette fast drei Jahrzehnte lang für den privaten Gebrauch Standardtonträger Nummer eins. Zu Beginn der neunziger Jahre erreicht der Absatz von vorbespielten Musikkassetten sogar seinen absoluten Höhepunkt.276 »Wir arbeiten von jeher mit einer Mischung aus alten und neuen Technologien bzw. benutzen gleichzeitig paläolithische Erfindungen wie Hammer und Nagel neben modernen kabellosen Bohrmaschinen. Aus denselben Gründen hat uns […] Hermann Bausinger […] vor langer Zeit daran erinnert, dass die Volkskultur in einer Welt der Technologie durchaus gesund und munter ist.[277] Statt also die von den Neuerungsfetischisten propagierten, simplifizierenden binären Periodisierungen zu übernehmen, müssen wir […] erkennen, dass wir alle Brauer und Vermischer von Zeiten und ›Systemen‹ sind – und zwar in Mediendingen genau wie in jeglichen anderen Bereichen auch.«278
Ein rein innovationszentrierter Untersuchungsansatz würde also in Sachen Kassette in eine Sackgasse führen. Es gilt vielmehr, die Kassettenkultur im Verlauf der Jahre zu untersuchen, in denen Kompaktkassetten ein marktbestimmendes Medium waren.
274 Vgl. Morley 2010, S. 50: »Das tiefgehende Problem ist […], dass die meisten Historiker dazu tendieren, sich ausschließlich auf technologische Neuheiten zu konzentrieren, während in Wirklichkeit ältere Technologien weiterhin unser Leben dominieren. Zudem sind unsere Darstellungen der Technologie grundsätzlich durch die Tendenz ungleichgewichtig, dass sie sich auf Erfindungen statt auf Anwendungen konzentrieren, auf Erwerb anstatt Unterhalt, und dass sie Unvermeidbarkeit über freie Entscheidung stellen – wo es doch viel relevanter ist, wie und von wem sie genutzt werden, und wie sie in hybriden oder kreolischen Formen gewandelt und neu erfunden werden, wenn ihre Anwendung von einem Kontext zum nächsten wechselt.« 275 Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2016. 276 Weber 2008, S. 216. 277 Vgl. Bausinger 1986, S. 40: »Manchmal tragen technische Einrichtungen sogar dazu bei, ›Gemeinschaftsformen‹ alter Art wieder oder neu herzustellen. […] So zeigt auch ein Blick auf die sozialen Grundlagen nicht das Ende, sondern Veränderungen der Volkskultur durch die Technik, welche die Volkswelt auf natürliche Weise durchdringt.« 278 Morley 2010, S. 52.
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Medien beeinflussen Kultur, Kultur beeinflusst Medien Wissenschaftler, Journalisten und auch einige meiner Interviewpartner verwenden häufig Begriffe wie »Kassettentäter«, »Kassettengeneration« oder »Kassettenkinder«, wenn sie über KassettennutzerInnen zwischen den ausgehenden sechziger und neunziger Jahren sprechen. Das zeigt deutlich, wie sehr der Alltag der Menschen mit und durch das Medium bestimmt ist und wie sehr sich die NutzerInnen ihrerseits mit dem Medium identifizieren. »Alltagskultur ist dabei nicht nur die Praxis von Einzelnen, sondern die von sozialen und kulturellen Kollektiven, in die sich der einzelne eingebunden weiß.«279 Werbeannoncen in Illustrierten, Jugendzeitschriften oder Tageszeitungen bringen Kassetten meist in Zusammenhang mit diesen Kollektiven, typischen Nutzergruppen und deren kulturellem Alltag oder mit typischen Kulturpraktiken im Umgang mit der Kassette. Ein Pressephoto von Philips aus den sechziger Jahren zeigt zum Beispiel eine jüngere Frau im modischen Stadtmantel vor der Berliner Gedächtniskirche. Sie schaut den Kurfürstendamm entlang und hört über einen Kopfhörer offenbar einen Reiseführer von Kompaktkassette. Vom Philips Archiv sind handschriftlich die Worte »Kleiner Mann im Ohr« unter das Photo notiert (Abb. 15, umseitig). Ein anderes Pressebild zeigt einen gut gekleideten Herrn mittleren Alters mit Hornbrille, tadellosem Seitenscheitel, Schlips und Manschettenknöpfen, wie er mit dem tragbaren Kassettenrekorder vor einer Modelleisenbahn sitzt. Er spricht ins Mikrophon, während ein Zug in den Modellbahnhof einfährt. Offenbar imitiert der Mann einen Stationsvorsteher bei der Bahnhofsdurchsage oder einen Reporter, der über die Eisenbahn berichtet (Abb. 16). Auf einem dritten Bild sind vier flott gekleidete Jugendliche zu sehen, zwei junge Frauen in knielangen Kleidern, zwei junge Männer in Strickpullovern und schmal geschnittenen Hosen. Sie tanzen, trinken mit Strohhalmen Cocktails aus schlanken Bechern und scheinen sich gut zu amüsieren. Im Zentrum des Photos steht ein Kassettenrekorder, einige Musikkassetten liegen daneben (Abb. 16, S. 118). Die Kassette erscheint also in den unterschiedlichsten Ausdrucksformen von Alltagskultur: Spiel, Reise, Freizeit, Unterhaltung, und vieles andere mehr. Es ist daher meines Erachtens durchaus legitim, im Sinne der Bedeutung von Medienkultur, von einer eigenen Kassettenkultur zu sprechen, die in Denken, praktischem Handeln und Diskurs verschiedene Bereiche des Alltags durchzieht. »Der Begriff der Medienkultur behauptet, dass Kultur ihren Charakter ändert, weil Medien bestimmend für Kultur geworden sind.«280 Der Begriff der Kassettenkul279 Hügel 2003, S. 25. 280 Krotz 2010, S. 95.
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tur behauptet mithin, dass sich durch und mit Kassetten charakteristische Kulturpraktiken herausgebildet haben und möglicherweise auch kulturelle Phänomene durch Kassetten hervorgebracht worden sind, die ohne Kassetten nicht oder nicht auf diese Weise entstanden wären. Ob dies zutreffend ist, soll unter anderem in diesem Teil der Arbeit geklärt werden. Abbildung 15: »Kleiner Mann im Ohr«
Quelle: Archiv Philips
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Abbildung 16: »Modelleisenbahn«
Quelle: Archiv Philips
Im folgenden Kapitel sollen Kassettenkultur, ihre Einflüsse auf die und ihre Verankerung in der Alltagskultur ausgehend von den Ebenen der Rezeption und Aneignung untersucht werden, was automatisch auch eine Betrachtung der politischen und gesellschaftlichen Regulation mit sich bringt, da beide Ebenen einander im Alltag der Nutzer unmittelbar beeinflussen und bedingen. Dass Veränderung von Kultur nicht ohne eine öffentliche Debatte, ohne gesellschaftliche Konflikte, Sanktionen und gesetzliche Regelungen vonstatten gehen kann, versteht sich von selbst. Der öffentliche Diskurs mit und über Kassetten in ihren verschiedenen Erscheinungsformen ist ein wesentlicher Teil von Kassettenkultur. Das Beispiel Walkman Ich möchte das kurz an einem Beispiel erläutern. Als 1979 der Sony Walkman auf den Markt kommt, ist die Gesellschaft eine andere als 1963 bei der Vorstellung des Philips Taschenrecorders in Berlin: Seit den sechziger Jahren ist in Deutschland eine eigenständige Jugendkultur am Aufblühen. Klare Linien, kühle metallische Farben und sportliche Outfits kommen in Mode. Die schwingenden Stoffe der ausgehenden Sechziger, hippiehafte Blümchen und Rüschen sind
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allmählich out. Die Jugend will außerdem noch flexibler sein, noch mobiler als in den Jahrzehnten davor. Motorräder, Vespas und Mopeds brummen durch die Straßen. Wer kann, leistet sich ein eigenes Auto. Überall Musik zu hören, ist gleichbedeutend mit Coolness und Lässigkeit. »Jugendliche setzten dabei Musik sowohl für die Lenkung ihrer Gefühlswelt als auch für das Hören von Hintergrundmusik ein. Das Nebenbeihören von Musik bei Schularbeiten war gang und gäbe.«281 Abbildung 17: »Kassettenparty«
Quelle: Archiv Philips
281 Weber 2008, S. 172.
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All dies fließt in die Weiterentwicklung der Kassettentechnologie von 1963 ein. Ende der siebziger Jahre braucht die Welt andere Audio portables als das »hässliche Brikett« von Philips: solche, die neue, aufregende Klangerlebnisse in Stereo versprechen und gleichzeitig auch Modeaccessoires sein können, die für Fortschrittlichkeit stehen, oder Statussymbole darstellen, die leicht zu bedienen sind. Möglichst klein und leicht sollten sie außerdem sein. »Technische Miniaturisierung« lautet das Zauberwort. Nicht mehr die riesigen Tweedmanteltaschen eines Lou Ottens sind das Maß aller tragbaren Kassettengeräte. Kaum zigarettenschachtelgroße Radios282, die schon seit einiger Zeit auf dem Markt sind, entsprechen jetzt dem Zeitgeschmack. Kein Wunder also, dass der Sony-Walkman, dieses neue Kassettenabspielgerät, das kaum größer ist als eine Brieftasche, trotz seines hohen Preises sofort viele begeistert. Vor allem für junge Leute wird das Gerät zum Objekt der Begierde, auf das es sich zu sparen lohnt. Zehn Jahre nach seiner Markteinführung besitzen bereits fast drei Viertel aller Jugendlichen einen Walkman.283 Zu Profigeräten weiterentwickelte Modelle verfügen über alle technischen Raffinessen eines guten Aufnahmegerätes und werden zum Prestigeobjekt von Erwachsenen, die Wert auf Tonklangtreue und ein schickes Design legen.284 Wer Walkman hört, gilt Mitte der achtziger Jahre als Individualist, als sportlich und selbständig. Oder andersherum: Wer keinen Walkman hat, ist irgendwie »out«.285 »We can explore […] that the Walkman is now ›part of our cultural universe‹. It means that the Sony Walkman has become inscribed in our informal social knowledge – the ›what-everybody-knows‹ about the world – without consciously knowing where or when they first learned it.«286 Als sich der Walkman anschickt, zum festen Bestandteil der deutschen Alltagskultur zu werden, ruft der alltägliche und selbstverständliche Umgang mit der miniaturisierten Kassettentechnologie kritische Journalisten auf den Plan, Jugendschützer oder Juristen mit neuen Verordnungen und Gesetzen, die das soziale Leben mit dem Walkman regulieren und formen sollen. Der Bielefelder Pädagoge Ralf Vollbrecht gibt beispielsweise auf einer medienpädagogischen Fachtagung 1987 zu bedenken: »Ärzte warnen vor Hörschäden, Psychologen vor Einsiedlertum, Polizei und Automobilclubs vor Gefährdungen des Straßenverkehrs […], ein Skiverband vor der Gefährdung anderer ebenso wie der eigenen Person bei Abfahrten unter Walkman-Beschallung. […] 282 Vgl. zum Beispiel die Modelle Nanette oder Rosette von Philips, Quelle: Archiv Philips. 283 Gottwald/Hibbeln/Lauffer 1989, S. 106. 284 Weber 2008, S. 184. 285 Vollbrecht 1989, S. 106. 286 Du Gay 1997, S. 8.
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Diese Bedenken sind nicht alle einfach von der Hand zu weisen. Der Straßenverkehr ist beispielsweise gefährlich genug, auch ohne dass man seine Wahrnehmungsmöglichkeiten durch Walkman oder überlautes Autoradio einschränkt.«287
Am 1. August 1980 besagt schließlich die veränderte bundesdeutsche Straßenverkehrsverordnung, dass Walkman wie Autoradio künftig nur so laut gehört werden dürfen, dass die Verkehrssignale und wichtige, den Verkehrsteilnehmer orientierende Sounds noch wahrgenommen werden können. Ende der achtziger Jahre, als sich dennoch die Beschwerden von Bus- und Bahnreisenden häufen, misst die Stiftung Warentest die Lärmabstrahlung der halboffenen WalkmanKopfhörer nach außen und stellt eine unzumutbare Lärmbelästigung für die Außenwelt fest, wenn das Gerät sehr laut spielt. 1988 mahnen die Kölner Verkehrsbetriebe mit der Plakataktion »Walkman leise – gute Reise« dazu, den Walkman in Bussen und Bahnen so leise zu stellen, dass er andere Fahrgäste nicht belästigt.288 Die Münchner Verkehrsbetriebe reimen auf ihren Plakaten aus dem selben Grund: »Aus dem Walkman tönt es grell – den Nachbarn juckt's im Trommelfell.«289 Darauf, dass die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Omnibusverkehr den Gebrauch von Tonwiedergabegeräten in öffentlichen Verkehrsmitteln grundsätzlich schon seit 1970 verbieten (und zwar bis heute), wird dagegen nicht hingewiesen. Nicht in Köln, nicht in München. Keiner der Verkehrsbetriebe will ein sauertöpfisches, jugendfeindliches Image riskieren, das möglicherweise zur Folge hätte, dass Fahrgäste ausbleiben. Es müssen also gewisse Zugeständnisse dahingehend gemacht werden, dass der Walkman bereits unwiederbringlich zum Alltag der Menschen gehört, dass also zwar der öffentliche Umgang mit dem Gerät geregelt werden kann, nicht aber seine Benutzung an sich. Weniger zaghaft ist da der amerikanische Kirchenhistoriker Mark Noll. Er unkt im Fachmagazin Christianity today, der Walkman befördere den Hedonismus in die Gesellschaft, wie kein anderes Gerät. Er sieht den kleinen Kassettenrekorder gar als Konkurrent zur Stimme Gottes290 und fordert ein Verbot, eine sozusagen »walkmanbereinigte« Welt für »wehrlose« Kinder und Jugendliche. Am Beispiel des Walkman, auf den wir im Folgenden noch ein paar Mal zurückkommen, wird klar, warum erst die gesellschaftlich, technisch, sprachlich und wirtschaftlich kontextualisierte Beschreibung einer Medienkultur diese wirklich umfassend begreifbar machen kann. Erst wenn klar ist, auf welche 287 288 289 290
Vollbrecht 1989, S. 105. Miehling 2010, S. 18. Weber 2008, S. 199. Leipold 2014, abgerufen am 13.3.2017.
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finanziellen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen eine Technologie trifft, wie der Alltag ihrer NutzerInnen aussieht, wie sie sich in diesem Alltag etabliert und welche öffentlichen Regulierungen oder Duldungen sie erfährt, kann man sie in ihrem Wesen verstehen und vielleicht auch nachvollziehen, welche Veränderungen durch sie herbeigeführt oder doch zumindest begünstigt werden. Kontextualisiert und multiperspektivisch beschreiben So soll an dieser Stelle nun die Beschreibung des sozialen Umbaus zwischen den sechziger und den neunziger Jahren von einer industriellen in eine postindustrielle Moderne erfolgen: die Entwicklung von einer durch Arbeit, finanzielle Entbehrungen und Wiederaufbau geprägten Nachkriegsgesellschaft hin zu einer modernen, hochmobilen Konsum- und Dienstleistungsgesellschaft, in der Unterhaltungsmedien wie Schallplatten, Kassetten, Tonbänder oder später auch CDs, ihr Gebrauch oder auch ihr bewusster Nicht-Gebrauch eine wichtige Rolle spielen. Anhand einiger repräsentativer Beispiele soll gezeigt werden, welche kulturellen Praktiken sich während dieses gesellschaftlichen Umbaus mit dem Kassettensystem ausbilden, wie es im Alltag der Menschen verankert ist, welche Organisationen, Verfahren und Gesetze seine Anwendung regeln, welche Bedeutung einzelne Geräte in diesem Zusammenhang zugeschrieben bekommen und welche Funktion Industrie und Wirtschaft dabei haben. Der Kalte Krieg spielt dabei ebenso eine Rolle wie der Rückzug von Jugendlichen aus dem elterlichen Wohnzimmer, ein neues Urheberrechtsgesetz, der Bau der Startbahn West, Camping oder die Privatisierung des Rundfunks. Natürlich ist es unmöglich, fast vierzig Jahre Weltgeschichte an dieser Stelle umfassend zu beschreiben. Und so werde ich mich auf eine Beschreibung der Zeit aus verschiedenen Perspektiven konzentrieren, die charakteristisch für die Epoche und die Kompaktkassette sind. Ich untersuche den Zeitraum zwischen 1963 und dem Beginn der 2000er Jahre unter den Perspektiven von Mobilität und Individualisierung, Freizeitkultur, Jugend-, Sub- und Protestkultur. Eine stabile Demokratie, die verbesserte Finanzlage der einzelnen Haushalte, mehr freie Stunden zur individuellen Gestaltung, die Lust an einem möglichst ausdifferenzierten Unterhaltungsangebot, die ständig wachsende Mobilität der Menschen, das Streben nach einem modernen, fortschrittlichen Lebensstil, ein erwachendes Bewusstsein für die Bedürfnisse der jungen Generation und ein schier unüberschaubares Warenangebot – all dies sind Merkmale einer Epoche, in der sich die Kassette für ihre NutzerInnen als vielseitiges, praktisches und individuell gestaltbares Medium bewährt und gleichzeitig von staatlichen oder wirtschaftlichen Institutionen im Alltag akzeptiert wird.
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3.1 THE AMERICAN WAY OF LIFE: UNTERHALTUNG, KONSUM UND MASSENWAREN Die Nachkriegsjahre in Deutschland sind vom Wiederaufbau der zerstörten Heimat bestimmt und davon, im Alltag zu einer gewissen Normalität zurück zu finden. Bis in die fünfziger Jahre hinein leiden Eltern und Kinder gemeinsam unter dem Trauma von Vernichtung, Krieg und Vertreibung. Der NachkriegsHorror aus Massenvergewaltigungen, Plünderungen und bitterer Hungernot ist noch frisch. Die Währungsreform und die neue D-Mark, die Abhilfe schaffen sollen, sorgen ab Juni 1948 zunächst sogar für noch mehr Armut statt für wirtschaftlichen Aufschwung. Die Familienmitglieder müssen eng zusammenrücken, um Wohnungsnot, Fettlücke und Lebensmittelrationierung zu überstehen. Familie wird zum Inbegriff von Sicherheit und Geborgenheit: »Gemeinsam fühlt man sich den Trümmerwüsten der Nachkriegszeit um vieles näher als den bunt schillernden Einkaufsboulevards eines Wirtschaftswunderlandes. Doch allzu lange sollte diese beschauliche Harmonie nicht dauern. Schon bald drängt die amerikanische Freizeitindustrie, ständig auf der Suche nach neuen Märkten, ins Land.«291 Es ist Mitte der fünfziger Jahre, als Deutschland zu einem interessanten Absatzmarkt für Konsumgüter aus Amerika wird. Das Land beginnt sich wirtschaftlich zu erholen, und die Konjunktur springt wieder an. Zeitgenossen sprechen euphorisch von »goldenen Jahren« und »unbegrenzten Horizonten«, weil praktisch Vollbeschäftigung in Westdeutschland herrscht, die Reallöhne so stark zunehmen wie in keiner anderen Zeitspanne vorher oder nachher 292 und die Entbehrungen und materiellen Entsagungen der Nachkriegsjahre fühlbar zu Ende gehen. Die finanzielle Grundversorgung der Menschen ist erstmals nach dem zweiten Weltkrieg gesichert. Die Ausgaben für Ernährung nehmen prozentual ab. Die Ausgaben für Transportmittel, Kommunikation und Freizeit steigen dagegen. Geld kann jetzt für andere als lebenserhaltende Dinge ausgegeben werden, zum Beispiel für Fortbewegungsmittel, eine gut gelegene Wohnung und für deren Ausstattung, für modische Kleidung, aber auch für Medien wie Zeitschriften, Schallplatten, Radios, Tonbänder und etwas später auch für Kassetten. Der Dienstleistungssektor mit Gastronomie und Einzelhandel entwickelt sich rasend schnell und überholt in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre sogar den noch immer wachsenden industriellen Sektor. »In den Sechzigern waren die Wunden des Zweiten Weltkriegs zumindest oberflächlich vernarbt, die Erinnerungen an die Millionen Toten verblassten. Europas verwüstete Städte waren 291 Großegger u.a. 2003, S. 52. 292 Siegfried 2006, S. 13.
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auf- und umgebaut worden, die einstigen Kriegsgegner hatten sich die Hände gereicht, die europäische Wirtschaftsgemeinschaft schien dauerhaft Frieden und Wohlstand zu garantieren.«293 Bis in die siebziger Jahre regiert dieses Gefühl von Überfluss und Wohlstand, weswegen man heute auch von den »langen sechziger Jahren« spricht. »Doch der Ölschock des Jahres 1973 wirkt wie eine kalte Dusche. Ein Ölboykott der arabischen Länder führt zu drastischen Preissteigerungen. Die Wirtschaft gerät ins Wanken. Der Traum vom Überfluss ist zunächst einmal vorüber.«294 Ganz allmählich setzt der Übergang ein von einer industriellen in eine eher postindustrielle Moderne und mit ihm ein Wertewandel, der bis weit in die neunziger Jahre hinein andauert. Der Blick über den Atlantik Beschwingt vom Wirtschaftswunder riskieren die meisten Deutschen gerne und oft einen Blick über den Atlantik zur Supermacht Amerika. Nicht aus politischen Gründen. Von der großen Politik und ihren Heilsversprechen haben die Menschen noch bis weit in die sechziger Jahre genug. Ihnen geht es eher darum zu erfahren, was im Land der unbegrenzten Möglichkeiten gerade »in« ist, denn mit Amerika sind für viele Deutsche die wenigen positiven Erfahrungen der vorangegangenen schweren Jahre verbunden. Viele erinnern sich zum Beispiel an die knapp eineinhalb Millionen Dollar aus dem Marshall Plan zum Wiederaufbau Deutschlands oder an die amerikanischen Care-Pakete, Schokolade oder Kekse, die Soldaten den Kindern zusteckten – eine süße Ahnung von einer besseren Welt und eine gute Grundlage für das teils bonbonbunte Amerika-Bild der Deutschen. Beim »großen Bruder Amerika« scheinen Stars wie James Dean und Elvis Presley das Leben zu bestimmen, schnittige Autos, erotischer Hüftschwung, Petticoats, Kaugummi und Nietenjeans. Das Land gilt in Sachen Lebensstil, Wirtschaft und Technik als Inbegriff von Modernität und Fortschrittlichkeit. Nirgendwo auf der Welt genießen die Menschen einen größeren Wohlstand. Der »American Way of Life« verspricht ein gutes, leichtes und genussvolles Leben, in Wohlstand und ohne Sorgen. Solch ein Leben nach amerikanischem Vorbild zu genießen, wird für viele Menschen in Deutschland zwischen den fünfziger und den achtziger Jahren mehr und mehr zur zentralen Lebensaufgabe. »Die Annehmlichkeiten von Kühlschrank, Auto und Fernseher wurden zum Markenzeichen ihrer Lebensweise.«295 Im Winter 1956 glauben siebzig
293 Mohr 2016. 294 Großegger u.a. 2003, S. 38. 295 Maase 1992, S. 21.
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Prozent der westdeutschen Erwachsenen in demoskopischen Umfragen, man könne in Sachen Technik und Medien noch viel von den Amerikanern lernen. 296 Die Geburt der Massenkonsumgesellschaft Unter dem Einfluss Amerikas gelangt auch in Deutschland und in Europa eine populäre Form von Kultur zur Blüte, die weder mit der traditionellen »Volkskultur« noch mit der »Hochkultur« und ihren intellektuellen Errungenschaften und Künsten vergleichbar ist. Populärkultur ist kurzweilig und kurzlebig.297 Sie liefert Unterhaltung, Abwechslung, Ablenkung, Spaß, Zerstreuung und Entspannung vom beruflichen Alltag. Sie bietet auch Möglichkeiten zum Protest, erhebt aber nicht wie ein Kunstwerk den Anspruch zu bilden oder den Geschmack zu schulen, schon gar nicht moralisch. Sie bewahrt volkskulturelle Artefakte und kontextualisiert sie neu, verschreibt sich aber nicht der Pflege von kulturellem Brauchtum. Sie lebt durch den Konsum industrieller Massenwaren, gleichzeitig durch Konsumverweigerung und ist auch sozial weniger Privilegierten zugänglich. Zu den besonders begehrten Konsumartikeln gehört neben modischer Kleidung, Kosmetik, Haushaltsgeräten, Unterhaltungselektronik und -literatur, Genussmitteln oder Fahrzeugen aller Art ganz zentral auch amerikanische, britische und später auch deutsche Pop- und Jazzmusik. 3.1.1 Kassetten und Schallplatten als musikalische »Billigduschen«298 Anfang der fünfziger Jahre tönt Unterhaltungsmusik zunächst vor allem aus dem Radio: eine bunte Mischung verschiedener englisch- und deutschsprachiger 296 Siegfried 2006, S. 57. 297 Mit ist bewusst, dass kein genauer Zeitraum und auch keine singulären Ursachen für die Entstehung populärer Kulturformen genannt werden können. Der Debatte um den historischen Beginn populärer Kultur und Kulturpraktiken liegt eine Debatte um die Definition populärer Kultur als solcher zu Grunde. Ich möchte im Folgenden Populär- oder Popkultur nicht als Synonym von Massenkultur oder Kulturindustrie verstanden wissen, sondern als Kulturkonzept, das vorwiegend auf Freizeitgestaltung und Unterhaltung ausgerichtet ist und Massenkultur als Teilkonzept ebenso integriert wie Sub- oder Soziokultur, in jedem Fall aber immer durch die Akteure selbst geschaffen ist. Vgl. Fiske u. a. 2003, S. 16: »Popularkultur wird von innerhalb und von unterhalb geschaffen, nicht von außerhalb oder von oben her auferlegt, wie dies Massenkulturtheoretiker behaupten. Immer gibt es ein Element der Popularkultur, das außerhalb der sozialen Kontrolle liegt, das den hegemonialen Kräften entkommt oder entgegentritt.« 298 Röther 2012, S. 318.
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Songs. Wer selbst entscheiden will, welche Songs in welcher Reihenfolge öffentlich abgespielt werden sollen, muss in Cafés, Eisdielen oder Milchbars gehen. Dort stehen Musikboxen, die gegen ein paar Münzen beliebte Musiktitel von Single-Schallplatten abspielen. Nicht umsonst aber werden die stylischen, auf amerikanisch getrimmten, bunten Maschinen im Volksmund »Groschengräber«299 genannt. Billiger und bequemer ist Musik zu Hause zu haben. Mit der aufkommenden Musikbegeisterung der Gesellschaft explodiert in Deutschland darum der private Plattenmarkt ab Mitte der fünfziger Jahre. Schallplatten sind jetzt aus dem robusten und leicht herzustellenden Material Polyvinylchlorid und werden zum ersten industriell produzierten Massentonträger der Geschichte. Mit der Schallplatte entwickelt sich auch der Absatz von Abspielgeräten in atemberaubendem Tempo und bringt neue Industriezweige zur Blüte. Fachzeitschriften wie das Ton Magazin oder der Musikmarkt fordern von der Industrie die Herstellung so günstiger Geräte, »dass sich jede [jede!] Familie, jeder Teenager damit ausstatten kann und ›die Preise für diese Sachen‹ endlich mal ein vernünftiges Maß annehmen«. Grundig, Philips, Telefunken und viele andere Hersteller fertigen millionenfach Radios, Tonbandgeräte und vor allem Schallplattenspieler. Der Bedarf ist riesig: Während 1955 gerade etwas mehr als dreißig Millionen Schallplatten verkauft werden, finden 1965 knapp fünfzig Millionen und 1970 schon über achtzig Millionen Vinylscheiben den Weg in die westdeutschen Haushalte. Auch immer mehr Jugendliche investieren jetzt ihr Geld in Musik und Schallplatten. Die Musik-Industrie reagiert prompt. Schon 1960 sind neunzig Prozent der Schallplatten, die in Deutschland produziert werden, Schlagerplatten. Unterhaltungsmusik ist unaufhaltsam auf dem Vormarsch. 1963 beginnt die Beatlemania. Peter Alexander, Caterina Valente, Connie Francis und Heintje stürmen ebenfalls die deutschen Single-Charts. Auch Elvis Presley, der »King«, landet in den Sechzigern noch einige Hits in Deutschland. 1971 werden dreimal so viele PopAlben verkauft wie Klassik-Platten.300 Allerdings sind die meisten Schallplatten teuer. In den sechziger Jahren müssen Musikfans für eine Single im Durchschnitt fünf Mark, für eine Langspielplatte rund zwanzig Mark bezahlen. Wer nicht berufstätig ist, kann sich kaum mehr als eine Single im Monat leisten. Auf Langspielplatten müssen vor allem Jugendliche noch deutlich länger sparen.
299 Mersch 1988. 300 Röther 2012, S. 320.
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Kassettenboom in Zahlen Da kommen Kassetten und Kassettenrekorder als preisgünstigere Variante im Jahr 1963 natürlich gerade recht. Auf eine Neunziger Leerkassette passen immerhin zwei Plattenalben oder etwa dreißig aus dem Radio aufgenommene Songs. Als BASF 1967 mit der Kassettenproduktion beginnt, wächst die Zahl der hergestellten Leerkassetten innerhalb von nur zwei Jahren von 10.000 auf eine halbe Million. »Träger dieses Wachstums waren meist Verbrauchergruppen, die sich […] von der Compact-Cassette angesprochen fühlten, wie Jugendliche, deren Taschengeld durchaus für einen preiswerten Recorder reichte, und Autofahrer, die lieber Musik von Cassetten als gestorte Rundfunksendungen horen wollten. Weitere potente Abnehmer kamen hinzu, als Mitte 1969 internationale Musikproduzenten wie CBS, RCA, EMI, Decca und Capitol bespielte Musicassetten in ihr Sortiment aufnahmen.«301 Ab 1965 verdoppeln sich Jahr für Jahr auch die Verkäufe dieser kommerziell bespielten Kassetten. Ende 1972 erreichen die Verkaufszahlen die ZehnMillionen-Marke und generieren der Musikindustrie einen Umsatz von 104 Millionen Mark.302 1975 überrunden verkaufte Musikkassetten die Schallplatten »nach Stück- und Werteumsatz«.303 Am Ende des Jahrzehnts finden zusätzlich Kinderhörspiele in großem Umfang ihren Weg in die deutschen Kinderzimmer. Heikedine Körting, Produzentin bei Europa, dem erfolgreichsten Label der Branche, erinnert sich: »Da kam der ganz, ganz große Boom mit der Kassetten-Generation.«304 Zum Ende der achtziger Jahre setzen »literarische Wortkassetten«, besser bekannt als »Hörbücher«, zum Höhenflug an und bescheren der schon etwas im Abklingen begriffenen Kassettenbegeisterung in Deutschland noch einmal einen Aufschwung und mehrere hundert Millionen verkaufte Exemplare. Automatisierte Fertigung Grundvoraussetzung für die Massifizierung von Leer-, Wort- und Musikkassetten ist eine Rationalisierung der Produktion. In den Anfangsjahren werden die kleinen Tonträger noch überwiegend in Handarbeit zusammengebaut. Diese Art der Fertigung kommt ab Mitte der siebziger Jahre der explodierenden Nachfrage nicht mehr hinterher. Mit automatischen Produktionsstraßen, die in Prüfautomaten enden, können gegen Ende der siebziger Jahre bis zu zweitausend Kassetten 301 302 303 304
Engel u. a. 2010, S. 447. Engel u. a. 2010, S. 460. Engel u. a. 2010, S. 461. Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016.
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pro Stunde von gerade einmal fünf Mitarbeitern hergestellt werden. 305 Auch die Kopierzeiten werden auf einen Bruchteil der Spielzeit verkürzt. »Die wirtschaftlichste Losung für die Großserienfertigung war, an einen ›Master‹ (ein Nur-Wiedergabe-Tonbandgerät, auf dem eine bearbeitete Kopie der Originalaufnahme[n] läuft), mehrere Tochtermaschinen (slaves) anzukoppeln, also Nur-Aufnahme-Geräte, die die Kopierbänder bespielen. Nach diesem Prinzip hatte schon die Berliner Tonband GmbH in den vierziger Jahren gearbeitet, konnte aber den zweiten, wichtigeren Schritt nicht realisieren, nämlich das Duplizieren mit einem Vielfachen der originalen Bandgeschwindigkeit.«306
Mit dem neuen »High-Speed-Duplicating-Verfahren« läuft der Vervielfältigungsprozess mit bis zu 128-facher Geschwindigkeit ab. Außerdem wird das Masterband zu einem Endlosband zusammengeklebt, das, einmal bis ans Ende abgespult, immer wieder von vorne startet. Auf den Tochtermaschinen entstehen etliche Aufnahmen derselben Produktion hintereinander. Von Spul-, Schneideund Klebeautomaten werden sie an Markierungssignalen getrennt und in Kassettengehäuse eingespult. Auch in der zum Hörspiel-Label Europa gehörenden Fertigung hält die Rationalisierung und Massifizierung Einzug. Endlich können Kassetten, die praktischen und einfachen Tonträger, die Hörspiele in Tausende Kinderzimmer hinein tragen, auch kostendeckend hergestellt werden. In der Fertigung kosten Kassetten bis dahin sehr viel mehr als Schallplatten307. Trotzdem werden sie nur unwesentlich teurer verkauft. Mitte der siebziger Jahre senkt das Unternehmen den Verkaufspreis von Kinderkassetten sogar auf das Niveau der Schallplatte von dann sechs Mark. Bisher ist die Produktion auf Kassetten also ein Minusgeschäft, eine kostenintensive Marketingmaßnahme, um das Genre des Kinderund Jugendhörspiels in Konkurrenz zum Radio populär zu machen und schnell zu verbreiten. Mit der Massenproduktion von Kassetten beginnt sich diese Investition für die Produzenten in klingender Münze auszuzahlen, erinnert sich Heikedine Körting: »Zunächst war das schon auch ein gewisses Wagnis. Kassetten waren noch mühsam zu machen. Da mussten die kleinen Bandstückchen hier aufgewickelt werden.308 Und dann wurden die mit fünf Schrauben verschraubt. Später brauchten die dann nur noch mit vier Schrauben verschraubt zu werden. Und noch später wurden die dann konfektioniert und wurden einfach mit Hitze
305 306 307 308
Engel u. a. 2010, S. 456. Engel u. a. 2010, S. 449. Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016. Es geht um bereits bespielte und zurechtgeschnittene Bandstücke, die von Hand in die Kassettengehäuse eingebaut werden müssen.
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zusammengebatscht. Das war alles nachher mit wesentlich weniger Personalaufwand zu machen.«309 Als preiswerte Massenartikel beginnen Kassetten nun die Alltagskultur der Menschen in Deutschland in vielen verschiedenen Bereichen mitzugestalten. Und – wie schon am Beispiel Walkman gezeigt – erfährt solch ein Prozess in der Regel recht schnell öffentliche, gesellschaftliche oder politische Regulierungen. Auch bei der Kassette dauert es nicht lange, bis sich erste ernste Interessenskonflikte anbahnen. Streit mit Plattenindustrie und GEMA Um die Hartnäckigkeit verstehen zu können, mit der diese Konflikte in der Kassetten-Ära ausgetragen werden, müssen wir zunächst noch einmal einen Blick zurück werfen an den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts: Am 19. Juni 1901 unterzeichnet Kaiser Wilhelm II. in Cuxhaven an Bord des Schaufelraddampfers Hohenzollern, seiner Staatsyacht für repräsentative Zwecke, ein neues Urheberrechtsgesetz für das Deutsche Reich. Im bisher gültigen Gesetz von 1870 ist nur der Nachdruck von Schriftstücken jeder Art urheberrechtlich verboten. Jetzt stehen auch »Werke der Tonkunst« urheberrechtlich unter Schutz. In §22 des neuen Gesetzes ist zu lesen: »Zulässig ist die Vervielfältigung, wenn ein erschienenes Werk der Tonkunst auf solche Scheiben, Platten, Walzen, Bänder und ähnliche Bestandtheile von Instrumenten übertragen wird, welche zur mechanischen Widergabe von Musikstücken dienen.«310 Allerdings ist eine solche Vervielfältigung nur mit der Zustimmung des Urhebers zulässig, und nur der Urheber selbst hat »die ausschließliche Befugniß, das Werk zu vervielfältigen und gewerbsmäßig zu verbreiten«. Eine Vervielfältigung für den persönlichen Gebrauch ist nach §15 ausdrücklich gestattet, »wenn sie nicht den Zweck hat, aus dem Werke eine Einnahme zu erzielen.«311 Bis zum massenhaften Aufkommen von preiswerten Heimtonbandgeräten und später Kassettenrekordern ist das kaiserliche Verdikt ausreichend, um Produzenten und Künstler vor privaten Kopierern zu schützen, da die Produktion von Tonträgern eine aufwändige und teure Angelegenheit ist. Dann aber beginnen Gerätehersteller wie Grundig oder Philips, mehr oder weniger offensiv mit
309 Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016. 310 Deutsches Reichsgesetzblatt 1901, Nr. 27, S. 227-239 URL (abgerufen am 7.12.2016) https://de.wikisource.org/wiki/Gesetz_betreffend_das_Urheberrecht_an_Werken_ der_Literatur_und_der_Tonkunst 311 Ebd.
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der Möglichkeit zu werben, sich mit dem Heimtonbandgerät »eine eigene, selbst aufgenommene Hitparade«312 zusammenzustellen. Anfang der fünfziger Jahre meldet die Schallplattenindustrie durch die Plattenfirmen Electrola, Philips-Ton und die Deutsche Grammophon erstmals Bedenken an dieser Werbepraxis der Hersteller an. Die Unternehmen, die inzwischen die Aufführungsrechte an vielen Musiktiteln halten, befürchten »einen Zusammenhang zwischen der ungeheuren Zunahme der Tonbandgeräte im Privatbesitz und dem zurückgehenden Schallplattenabsatz«313, kurz: einen Absturz der Verkaufszahlen durch die unkontrollierbare, private »Hitjagd« der Heimtonbandbesitzer. 1962 – also ein Jahr vor der Einführung des Kompaktkassettensystems – erklärt der Arbeitskreis der deutschen Schallplattenindustrie, es sei vor allem »für die Jugendlichen ein bekannter Sport und ein beliebtes Hobby, auf Band zu überspielen (und damit das Geld für Schallplatten zu sparen)«.314 Als Beweis dafür wird angeführt, dass die meisten Heimtonbandgeräte inzwischen ohne Mikrophon verkauft würden. Was anderes – so die logische Schlussfolgerung – könne man dann mit einem Tonbandgerät tun, als sich Musik mit einem Überspielkabel von Radio oder Schallplattenspieler widerrechtlich anzueignen und diese dann abzuspielen? Gejammert wird wie so oft auf hohem Niveau: Die deutsche Phonoindustrie hat 1960 gerade einen neuen Produktionsrekord aufgestellt. Dem stehen die Umfragen führender Musikzeitschriften gegenüber, denen zufolge 1963 gerade einmal jeder zehnte westdeutsche Haushalt mit einem Tonbandgerät ausgestattet ist.315 Dennoch fordert schon ab den frühen fünfziger Jahren auch die Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte GEMA als Vertreterin der Urheber schärfere Gesetze. »Solange das Magnettonverfahren nur vom Rundfunk und von der Schallplattenindustrie verwendet wurde, waren die Urheber in der Lage, die Bandherstellung zu kontrollieren, so daß kein Unbefugter ein Band herstellen oder verwenden konnte. Dies hat sich jedoch jetzt mit einem Schlage dadurch verändert, daß die Industrie dazu übergegangen ist, solche Geräte für den freien Handel herzustellen. […] Sie sind […] als Einzelgeräte und auch als Kombination mit Rundfunkempfangsgeräten erhältlich. Jeder Besitzer eines solchen Gerätes ist daher in der Lage, sich gewissermaßen ein Band-Archiv nach eigenem Geschmack zuzulegen.«316
312 313 314 315 316
Vgl. verschiedene Anzeigen in Stern, Quick oder Kristall, Quelle: Archiv Philips. Siegfried 2006, S. 104. Zitiert nach: Röther 2012, S. 317. Röther 2012, S. 389. o.A. 22/1953 Der Spiegel, »Lauscher an der Wand«, S. 26.
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Auf Schallplatten findet sich jetzt immer öfter der Aufdruck, dass es verboten sei, zum persönlichen Gebrauch Überspielungen auf Band oder Draht vorzunehmen. AEG und Loewe Opta schließen zur Markteinführung ihrer Heimtonbandgeräte im Winter 1951/52 darum einen Vertrag mit der GEMA ab. Um Ärger und gerichtliche Auseinandersetzungen zu vermeiden, die das Geschäft behindern könnten, wollen sie künftig ein Prozent des Herstellungswertes als Lizenz abführen und erhalten von der GEMA dafür die Zusage, Käufer von Loewe- oder AEG-Geräten nicht mit diesem Thema zu behelligen. Andere Gerätehersteller wie Grundig, Schaub, Lorenz oder Metz sperren sich gegen solche Verträge. Zahlungspflichtig seien nicht die Hersteller, sondern – wenn überhaupt – die Nutzer, finden sie. Im Grunde genommen gebe es aber gar keine juristische Handhabe für irgendeine Form von Gebühren.317 Die Bandhersteller Agfa und BASF legen ihren Bandkartons sogar Zettel mit dem Hinweis bei, dass private Vervielfältigungen zum persönlichen Gebrauch innerhalb der häuslichen Gemeinschaft ausdrücklich im geltenden Urheberrechtsgesetz gestattet seien, auch wenn auf Langspielplatten Gegenteiliges aufgedruckt sei. Dagegen strengen GEMA und Plattenindustrie 1953 einen Prozess vor dem Berliner Landgericht an. Das Gericht spricht ein Urteil, das 1955 nach einem Berufungsverfahren rechtskräftig wird: Es untersagt den Herstellerfirmen, künftig Reklame für ihre Geräte als tragbare Hitspeicher zu machen. Derartige Anzeigen müssten den ausdrücklichen Zusatz enthalten, dass vor der Überspielung von Musik auf Magnetband eine urheberrechtliche Genehmigung einzuholen sei. Außerdem seien unter Angabe ihrer Wohnungsadresse die Käufer von Tonbandgeräten schriftlich dazu zu verpflichten, diese nur mit Einwilligung der GEMA zur Vervielfältigung zu benutzen. Begründet wird dieses Urteil wieder mit einer möglichen Beeinträchtigung der Schallplattenverkaufszahlen.318 »Lauscher an den Wänden« statt prophylaktischer Gebühren Das kommt einer faktischen Lizenzpflicht für Tonbandgeräte gleich, die aber praktisch nicht durchsetzbar ist. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel raisonniert im Sommer 1953 in einem Artikel darüber, wie Tonbandkäufer durch Plattenindustrie oder GEMA effektiv kontrolliert werden könnten. Man kommt zum Ergebnis, dass nur »bestellte Musikspione« oder berufsmäßige »Lauscher an den Wänden« durch Ausspähen privater Hörgewohnheiten belastbare Auskünfte über 317 Röther 2012, S. 319f. 318 Röther 2012, S. 386.
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den Umgang mit dem Tonbandgerät liefern könnten. 319 Das allerdings wäre eine Verletzung der Privatsphäre oder sogar Hausfriedensbruch, ist in Deutschland verboten und darum nach Meinung des Nachrichtenmagazins nicht umsetzbar. Auch weigern sich die Rundfunk- und Fernseh-Fachgroßhändler, beim Verkauf eines Tonbandgerätes den Personalausweis der Käufer zu verlangen und die Namen an die GEMA weiterzuleiten. Noch zu Beginn der sechziger Jahre müssen sie sich darum immer wieder vor Gericht verantworten. 320 Eine Alternative wäre, eine Pauschale für Magnettonbetrieb an die monatlichen Rundfunkgebühren zu koppeln und wie diese durch die Post einziehen zu lassen. Dagegen protestieren wiederum der Deutsche und der Internationale Tonjäger-Verband (Fédération Internationale des chasseurs de Sons). Ein Tonbandgerät werde schließlich nicht von allen zum Mitschneiden oder Überspielen von Musik genutzt, selbst wenn die Mehrzahl der Heimtongeräte ohne Mikrophone verkauft würde. Gerade in der Szene der Tonbandamateure werde im Gegenteil sehr viel Kreatives produziert: vom naturalistischen Hörspiel bis zum modernen Tonexperiment. 1970 lässt wiederum der Bandhersteller Agfa über tausend Gerätebesitzer in einer internen Studie zu ihren Nutzungsgewohnheiten befragen und kommt zum Ergebnis, dass »wie Urheberrechtsgesellschaften richtig vermuteten, […] letztlich doch drei Viertel aller Geräte zum Aufnehmen oder Abspielen von Schallplatten- oder Rundfunkmusik (dienten), wobei klassische Musik mit etwa 20%, Unterhaltungsmusik mit 70%, Wortsendungen aber nur selten vertreten waren«.321 Dass schließlich Kassettenrekorder und Kassetten den Markt überfluten, macht sämtliche Diskussionen, die in Richtung Datenerhebung gehen, hinfällig. Schon 1966 werden über 180.000 Rekorder verkauft. 300.000 sind es ein Jahr später. 1968 hat sich die Zahl noch einmal auf 600.000 Stück verdoppelt. Tendenz weiter steigend. Welche Institution wäre in der Lage, viele Millionen Haushalte zu kontrollieren, um gegebenenfalls die diskutierten Lizenzen in Höhe von zehn Mark zu verlangen? Weil die kleinen Rekorder dank ihres geringen Gewichts überallhin mitgenommen und bald auch in Autoradios eingebaut werden können, stellt sich darüber hinaus auch die Grundsatzfrage nach dem Unterschied zwischen privater und öffentlicher Nutzung. Wo endet das eine, wo beginnt die andere? Und schließlich: Was kann man gegen eine inzwischen etablierte Praxis tatsächlich tun? Zwar taucht der Hinweis auf das geschützte Urheberrecht – wie es das geltende Gesetz fordert – in allen Anzeigen auf, doch gleichzeitig macht Philips mit 319 o.A. 22/1953 Der Spiegel, S. 27. 320 Ebd. 321 Engel u. a. 2010, S. 338.
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der Audiopiraterie auch wieder Reklame. In einer 1965 in der Illustrierten Kristall geschalteten Werbeanzeige für den Taschenrecorder heißt es: »Natürlich spielt er nicht nur die fertigen Musik-Cassetten, sondern auch die leeren und ›füllt‹ sie – ganz nach Ihrem Wunsch: mit den Klängen des Alphorns aus der Schweiz. Mit dem faszinierenden Pfeifen eines startenden Düsenflugzeuges oder mit Ihren Gedanken, die Sie – ins Mikrofon gesprochen – einmal festhalten wollen. Auch Interessantes aus dem Radio können Sie mit ihm ›aufbewahren‹. Und alles geht so sensationell einfach.«322
Am 1. Januar 1966 tritt in der Bundesrepublik darum schließlich ein neues Urheberrechtsgesetz in Kraft: Hersteller und Importeure von Tonband- und Kassettengeräten müssen nun gegen ihre ursprüngliche Weigerung fünf Prozent des Fabrikwertes an die GEMA abführen. Der Spiegel kommentiert diesmal: »Der Gesetzgeber zog mit dieser Regelung die Konsequenz aus dem in zahlreichen Prozessen offenkundig gewordenen Dilemma, daß die nach Millionen zählenden Tonbandsünder praktisch weder zu erfassen noch zu kontrollieren sind. […] Juristisch ist nun also geklärt, was schon viele Jahre kulturelle Alltagspraxis der NutzerInnen ist: Es ist erlaubt, Aufnahmen aus dem Radio oder von Schallplatten auf Band zu machen, […] vorausgesetzt, die Wiedergabe dient lediglich privater Erbauung und nicht einem Geschäft.«323
»Hometaping is killing music « Erst einmal beruhigen sich danach die Gemüter im Streit um die Urheberrechte, bis er zu Beginn der achtziger Jahre erneut aufflammt. Von der britischen Schallplattenindustrie wird wieder eine Kampagne entworfen, die sich gegen das massenhafte Vervielfältigen von Schallplatten auf Kassetten richtet: »Hometaping is killing music«. Im Stile einer Piratenflagge stellt das schwarz-weiße Logo der Kampagne eine stilisierte Kassette dar, unter der sich zwei Knochen kreuzen. Meist findet es sich in Form von Aufklebern auf Plattencovern oder aufgestempelt auf die weißen Innenhüllen von gefragten LPs. Inzwischen sind – jedenfalls der Erinnerung meiner Interviewpartner nach – Kassettenrekorder auf dem Markt, die bei moderierten Musiksendungen automatisch ausblenden, wenn der Moderator spricht.324 In westdeutschen Schulklassen werden neue LPs angeblich nur noch einmal pro Klasse angeschafft und dann im Klassensatz kopiert; das behauptet zumindest Der Spiegel.325 Der Hamburger Musikjournalist Alfred Hilsberg kann bestätigen: 322 Quelle: Archiv Philips. 323 o.A. 04/1966 Der Spiegel, »Mitschneiden erlaubt«, S. 39. 324 Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016, Interview mit Gert Redlich vom 7.3.2016. 325 o.A. 17/1977 Der Spiegel, »Klangsupermarkt zum Nulltarif«, S. 209.
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»Die Kassette hat dazu beigetragen, dass viele Leute sich die tausend Alben eben nicht gekauft haben, sondern vor allem aus dem Radio Musik aufgenommen haben oder sich von Freunden die Platten auf Kassette überspielt haben. Das hat schon zu einer Veränderung der Kaufgewohnheiten beigetragen. Man hat sich alles kopiert. Und es hat sich niemand darum gekümmert, ob das erlaubt war oder nicht. Das hat ja ohnehin keiner kontrollieren können.«326
Wieder oder noch immer sieht sich die Plattenbranche weltweit von TonbandPiraten und ihrer Überspielwut bedroht. Nicht nur in Großbritannien boomen neben den Heimaufnahmen offenbar auch gewerbliche und damit illegale Kassettenüberspielungen, ebenso in Deutschland und vor allem in Südeuropa, wo auf beinahe jedem Wochenmarkt der Kassetten-Schwarzmarkt blüht und für kleines Geld tonnenweise professionell kopierte Kassetten angeboten werden. 1977 blickt Der Spiegel sorgenvoll auf den »Klang-Supermarkt zum Nulltarif«: »Branchenkenner schätzen, daß in der Bundesrepublik rund 10.000 gewerbsmäßige Schwarzkopierer den Tonträgermarkt unterlaufen. Vor allem aber Tonband-Piraten, namentlich in Italien, haben mit Billigangeboten in Millionenauflage 1976 die westdeutschen Tonträger-Firmen um ihre Rendite gebracht. Mehr als eine Milliarde Mark ging der deutschen Musikbranche im vergangenen Jahr durch Leerkassetten und Piraterie verloren«.327
Abgaben von bis zu drei Mark pro Kassette sind im Gespräch, setzen sich aber nicht durch. Und auch die Anti-Hometaping-Kampagne der britischen Schallplattenindustrie bleibt ohne die erhoffte Wirkung. Sie wird eher belächelt als ernst genommen und zur Zielscheibe von Spott und Häme gegen die notorisch konservative, innovationsfeindliche Musikindustrie und ihren verbissenen Widerstand gegen die Kassette. 1981 bringt beispielsweise die US-Punk-Band Dead Kennedys ihr Album In God We Trust auch auf Kassette heraus. Auf der B-Seite befindet sich das erwähnte Logo, aber keine Musik. Alle Titel des Albums sind auf der A-Seite zusammengestellt. Die B-Seite schmückt der Spruch: »Home taping is killing big business profits. We left this side blank so you can help«. Bald wird die Kampagne auch von anderen Bands im Sinne der Kassettenfreunde umgedeutet. Sie drucken auf Plattencover und Kassetten: »Home taping is living music« oder »Home taping is fun« oder »Hometaping is killing music. Be venom«. Etwas später folgen im großen Stil T-Shirts, Sticker und Baseball-Kappen mit anderen Verballhornungen: »Home cooking is killing the restaurant industry«, »Home sewing is killing fashion« und schließlich: »Home fucking ist killing prostituti326 Interview mit Alfred Hilsberg vom 20.1.2016. 327 o.A. 17/1977 Der Spiegel, S. 209.
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on«. Heute werden Platten mit dem Kassetten-Totenkopf-Aufdruck als Kultgegenstände gehandelt.328 Mit dem Aufkommen von CD-Brennern und später, als das virtuelle FileSharing, mp3-Player und schließlich das Smartphone in Mode kommen, eröffnen sich immer wieder ähnliche Szenarien. Die Praxis des Vervielfältigens hat mit Tonband und Kassette ihren Anfang genommen und zu einem grundlegenden Wertewandel geführt, glaubt Alfred Hilsberg: »Heutzutage gehen die meisten Menschen davon aus, dass Musik etwas ist, das kostenlos verfügbar ist. So wird Musik behandelt. Das ist ein austauschbares Konsumgut geworden, mit dem man sich gar nicht unbedingt identifzieren können muss. Sondern das ist jederzeit erneuerbar, auch wieder löschbar. Man sammelt ja keine Platten oder Kassetten mehr. Das tun die meisten Leute ja nicht mehr. Das ist völlig austauschbar. Musik wird einem eben überall kostenlos um die Ohren gehauen und da kann man dann immer kostenlos drauf zugreifen. Das ist wirklich eine Entwicklung, die wahrscheinlich nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.«329
Bis heute hat die Musikindustrie weder eine Ebene der Verständigung mit Musik-Kopierern gefunden, noch ein wirksames Vorgehen gegen sie. Junge Bands wie die im Vorwort beschriebene Berliner Formation Von wegen Lisbeth gehen den Konflikt darum konstruktiv an: Sie stellen offizielle Musikvideos kostenlos im Video-Portal Youtube ein oder machen neue Songs über den MusikstreamingDienst Spotify zugänglich. Musik medial zu verbreiten, wird hier als Marketingmaßnahme für Konzerte betrachtet. Man hofft auf eine wachsende Zahl an Besuchern, die neue Albumprojekte über Eintrittsgelder statt über CDs finanzieren. Das Konzept scheint zu funktionieren: Von wegen Lisbeth zählte 2016 noch weniger als fünfzig BesucherInnen in Tübingen. 2017 sind es schon knapp zehn Mal so viel. 3.1.2 »Verschwende deine Zeit« 330: Freizeit als »Motor des Wertewandels«331 Dass sich das Kopieren von Musik und die Beschäftigung mit Unterhaltungsmusik als Kulturpraxis ausbreiten können, ist neben der Massifizierung entspre328 Vgl. https://www.discogs.com/label/168916-Home-Taping-Is-Killing-Music, abgerufen am 5.3.2017. 329 Interview mit Alfred Hilsberg vom 16.1.2016. 330 Songtitel der Toten Hosen auf dem Jahr 1986 vom Album Damenwahl: »Irgendwo gehen wir schon hin, überall sind wir im Weg. Gucken, was der Tag uns bringt, was der Tag uns bringt. Komm mit uns, verschwende deine Zeit.« 331 Siegfried 2006, S. 41.
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chender Tonträger auch entscheidend auf eine weitere Entwicklung zurückzuführen: Zwischen 1960 und 1974 sinkt die effektive Jahresarbeitszeit der Menschen in West-Deutschland von 2.100 auf 1.760 Stunden. Die wöchentliche Arbeitszeit verringert sich im selben Zeitraum von durchschnittlich sechsundvierzig auf rund fünfunddreißig Stunden.332 1969 verbringen die Menschen pro Woche mehr Stunden mit Freizeit als mit Arbeit. Zwar müssen vor allem berufstätige Frauen in der freien Zeit noch den Haushalt erledigen, auch Jugendliche mit Nebenjob arbeiten teilweise in ihrer Freizeit. Nichtsdestotrotz ermittelt das Allensbach-Institut eine Steigerung der tatsächlichen Tagesfreizeit zwischen den fünfziger und den siebziger Jahren um rund ein Drittel. Nicht nur Arbeiter haben durch neue Gesetze mehr freie Zeit als vorher. Die Arbeitszeitgesetze gelten auch für Dienstleister, Bürger und Akademiker. Der Wunsch, freie Zeit genussvoll, frei von Arbeit und auch frei von moralischen Pflichten zu verbringen, angespartes Geld dafür auszugeben und sich sorglos zu amüsieren, zieht sich darum bereits seit den sechziger Jahren durch alle gesellschaftlichen Schichten. »Damals begannen sich Arme und Reiche, Mächtige und Abhängige bei Radrennen und Flugvorführungen, in Music Halls und vor der Kinoleinwand zu begegnen. Sie nahmen wahr, dass sie gemeinsame Interessen hatten und dass sie auf Spannendes, Rührendes und Komisches übereinstimmend reagierten. Volksschüler und Lehrlinge verschlangen Detektiv-, Abenteuer- und Jugendgeschichten, und genauso taten das Gymnasiasten und Zöglinge der Militärschulen. Die Leserschaften überschritten alle Klassengrenzen. Es begann offensichtlich zu werden, dass auch Gruppen, die sich als ›etwas Besseres‹ fühlten und gaben, dem ›Massengeschmack‹ zuneigten.«333
Fast überall in der Republik haben die Menschen am Samstag frei. Zusätzlich steigt in den sechziger Jahren die Zahl der Urlaubstage um etwa ein Drittel auf durchschnittlich zwanzig Tage im Jahr. Damit entstehen im Jahres- oder Wochenablauf zusammenhängende Einheiten an freier Zeit, die nach Belieben ausgefüllt werden können, umgekehrt aber auch ausgefüllt werden müssen, will man sich nicht einer langen »Freizeittristesse« überlassen. Zum Beispiel am freien Sonntag: Während der Samstag noch in den Achtzigern mit alltäglichen Erledigungen wie Einkaufen, Putzen oder Baden verbracht wird und eine Art Übergangszeit zwischen Freizeit und Arbeitswoche darstellt, ist der freie Sonntag »heilig« und traditionell der Familie gewidmet. Vor allem in den bürgerlichen Familien ist er noch bis weit in die neunziger Jahre hinein mit Kirchgang, Braten und Sonntagspaziergang gefüllt. Und für viele Teenager vor allem mit
332 Siegfried 2006, S. 38. 333 Maase 1997, S. 24.
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Langeweile.334 Am freien Wochenende erleben sie den Wunsch nach Zerstreuung und Abwechslung, nach einer unterhaltsamen Gestaltung der freien Zeit besonders intensiv. Dieser Wunsch treibt das rasche Aufblühen einer Medienund insbesondere der Kassettenkultur in Deutschland weiter voran. Denn mit Unterhaltungsmedien und Musik lässt sich freie Zeit besonders kurzweilig gestalten. »Nach einer Untersuchung von 1977 nahm Musikhören mit 71 Prozent den absoluten Spitzenplatz unter den Freizeitaktivitäten Jugendlicher ein, gefolgt von Fernsehen (64 Prozent) und Lesen (59 Prozent) – alle anderen Aktivitäten blieben weit abgeschlagen.«335 Herstellerfirmen wie Grundig, Saba, Sony oder Philips produzieren also, was die Produktionsstraßen hergeben: Fernseher, Schallplattenspieler, Tonbandgeräte und vor allem auch Kassettenrekorder in Millionen Stückzahlen. Um Musik zu hören oder aus dem Radio aufzunehmen, Radiosendungen mitzuschneiden, die an Wochenenden speziell für Kinder und Jugendliche ausgestrahlt werden, ist die Kassette ideal. In vielen Kinderund Jugendzimmern steht nach kleinen Monorekordern bald ein eigener Radiorekorder in Stereoqualität – später sogar mit Kassetten-Doppeldeck. Kassetten als Freizeitbeschäftigung In relativ guter Qualität können Songs oder ganze Sendungen aus dem Radio mit einem einzigen Gerät auf Kassette aufgenommen und auch wieder abgespielt werden. Wenn ein externes Mikrophon angeschlossen wird, sind auch Sprachaufnahmen möglich. Ein fertiges »Tape« kann mittels Doppelkassettendeck und »Highspeed-Duplicating«, das inzwischen nicht nur in der automatisierten Fertigung, sondern auch in privaten Geräten üblich ist, in der doppelten Geschwindigkeit kopiert und anschließend an Freunde verschenkt werden. Viele Teenies und junge Erwachsene produzieren in ihrer Freizeit nun eigene Kassetten. Sie basteln individuelle Cover und beschriften sie liebevoll, was viel Zeit und Muße braucht. »As songs were generally recorded in real time, the process of making a mix tape was time consuming and required considerable skills.«336 Die etwas teureren Modelle der neuen Radiorekorder haben neben ihrer Aufnahme- und Kopierfunktion zusätzlich leistungsfähige Verstärker und starke integrierte Boxen. Große Flächen – etwa Parties, Fußgängerzonen oder Schulhöfe – lassen sich mit selbst für den Zweck zusammengestellter Musik ganz einfach und ohne zusätzliches Equipment beschallen. Jugendliche, die nach amerikanischer Hiphop-Manier in ihrer Freizeit einen sogenannten »Ghettoblaster« auf der Schulter oder am Henkel mit sich herum334 Siegfried 2006, S. 44. 335 Siegfried 2006, S. 81. 336 Jansen 2009, S. 43.
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tragen und neben ihren privaten Räumlichkeiten auch die Öffentlichkeit akustisch erobern, gehören in den achtziger und neunziger Jahren zum Straßenbild. 337 Im Vergleich mit den USA, wo vor allem schwarze Jugendliche mit der »Boombox« ihren sozialen Protest auf den Straßen akustisch in Form von Hiphop oder Rap zum Ausdruck bringen, geht es in Europa in Sachen Kassette friedlicher zu. Hiphop, Rap oder Punk werden eher zu kommerziell kanalisierten Freizeit- und Musikmoden als zu Elementen einer sozial motivierten Subkultur. Aber es sind Moden, die auch und vor allem wegen der allgegenwärtigen mobilen Kassettentechnologie in einem weitaus größeren Maße in der Gesellschaft präsent sind, als sie es vermutlich gewesen wären, hätte es nur die Schallplatte als Tonträger gegeben. Dasselbe gilt beispielsweise auch für den »Break Dance«, der Mitte der achtziger Jahre hierzulande als Freizeitbeschäftigung in Mode kommt. Die Breakdancer, unter denen sich auch viele Jugendliche mit ausländischen Wurzeln befinden, laden durch lautes Abspielen ihrer eigens dafür zusammengestellten Musik vom Ghettoblaster zum »Street-Battle« ein, also zu einem auf öffentlichen Plätzen stattfindenden, von Kassettenmusik untermalten Wettbewerb. Die Inbesitznahme öffentlichen Raums wird von Außenstehenden oft als provokant empfunden und zudem als sinnlose Zeitverschwendung angesehen. Wo immer Menschen akustisch einen Raum außerhalb ihrer Privatsphäre beanspruchen, bleibt das nicht ohne Folgen. Schon 1970 wird – wie ich weiter oben gezeigt habe – als Reaktion auf die ersten Audio-Portables die Nutzung von Tonwiedergabegeräten in Fahrzeugen und Bahnhöfen der westdeutschen Verkehrsbetriebe in den Allgemeinen Beförderungsbedingungen gemäß §4 »Verhalten der Fahrgäste« untersagt.338 Andere kommunale Verordnungen wie Lärmschutzverordnungen zur öffentlichen Nutzung von Radiorekordern in Schwimmbädern, auf Spiel- oder Campingplätzen folgen. Auch Boomboxer und Breakdancer werden mit solchen Verordnungen reglementiert. Die Öffentlichkeit tut sich schwer, die neuen freizeitorientierten Kulturpraktiken, die sich im Umgang mit dem Kassettensystem manifestieren, zu akzeptieren. Emnid konstatiert bereits 1969: »Seitdem wir das 2. Drittel des Jahrhunderts überschritten haben, werden die grundlegenden Wandlungen in unserer Gesellschaft immer deutlicher. Man orientiert sich auf Freizeit, Konsum und Wohlstand, den faktischen Veränderungen auf diesen Gebieten folgt die Bewusstseinsanpassung dagegen nur zögernd.«339 337 Weber 2008, S. 222. 338 Online Quelle des Bundesjustizministeriums, URL (abgerufen am 8.1.2017) https://www.gesetze-im-internet.de/befbedv/__4.html 339 Siegfried 2006, S. 54.
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Kritische Positionen zu Unterhaltungs-, Freizeitund Medienkultur Grund für diese zögerliche Bewusstseinsanpassung ist ein tiefsitzendes Misstrauen des Bürgertums gegenüber Freizeit- und Populärkultur. Schon als Tonbänder und später Kassetten auf den Markt kommen und populäre Kultur gerade dabei ist, sich in der Mitte der Gesellschaft zu etablieren, gibt es kritische Stimmen gegen den unbeschwerten Umgang mit Althergebrachtem. Es ist noch gar nicht allzu lange her, da schmückte viele deutsche Haushalten eine Stickerei mit dem Sinnspruch, dass Müßiggang aller Laster Anfang sei. Diese Vorstellung prägt den Argwohn gegenüber Freizeit als solcher und einer Kultur der unterhaltsamen, konsumorientierten Freizeitgestaltung, die mehr und mehr zum Lebensinhalt zu werden scheint, im Besonderen: »Moderne Massenkultur und Freizeitorientierung kamen als Zwillinge zur Welt. Sie sorgten für tiefgreifende Verunsicherung – und die erste Reaktion war, alle Praktiken zu verdammen, die eine arbeitsethisch und puritanisch ausgerichtete Lebensführung in Frage zu stellen schienen.«340 Populäre Freizeitkultur hat den Beigeschmack einer Unterschichtenkultur, einer Arbeiterkultur für die ungebildete Masse, die freie Zeit mit vulgären Vergnügungen und ästhetisch wertloser Unterhaltung, mit Nichtstun, Spaß oder Zerstreuung »totschlägt«, statt sie mit sinn- und wertvoller Beschäftigung zu füllen. Ein Freizeitführer für junge Leute aus den fünfziger Jahren illustriert das folgendermaßen: »Fortwährendes Trödeln, Gammeln, Gelangweilt-aus-demFenster-Gucken ist keine Freizeitgestaltung – es ist die Bankrotterklärung dessen, der mit dem ihm übergebenen Vermögen ›Freizeit‹ nicht zu wirtschaften versteht.«341 Zur bürgerlichen Skepsis gesellt sich eine kulturpessimistische und medienkritische Debatte, die von Philosophen, Juristen, Erziehern und Pädagogen mit großer Leidenschaft geführt wird. Noch immer unter dem Eindruck von HurraPatriotismus und millionenfacher Begeisterung für die inszenierten Spektakel der Nationalsozialisten, herrscht in weiten Teilen der Welt große Angst vor der Verführbarkeit der unkritischen Massen. Dementsprechend ablehnend ist etwa die Haltung der Frankfurter Schule um die Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer gegenüber der aufblühenden, amerikanisierten Unterhaltungskultur. Unter dem Begriff der »Kulturindustrie« belegen sie Massenkonsum, Zerstreuung und Freizeitvergnügen sozusagen mit einem ideologischen Bannfluch. »Dem Arbeitsvorgang in Fabrik und Büro ist auszuweichen nur in der Anglei340 Siegfried 2006, S. 28. 341 Wagner, Reinhard, Düsseldorf, o.J., zit. n. Siegfried 2006, S. 5.
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chung an ihn in der Muße. Daran krankt unheilbar alles Amusement. Das Vergnügen erstarrt zur Langeweile, weil es, um Vergnügen zu bleiben, nicht wieder Anstrengung kosten soll und daher streng in den ausgefahrenen Assoziationsgeleisen sich bewegt. Der Zuschauer soll keiner eigenen Gedanken bedürfen: das Produkt zeichnet jede Reaktion vor.«342 Hinsichtlich der Folgen, mit denen die Kulturindustrie die Menschheit und vor allem die Heranwachsenden überziehen könnte, hegen Adorno und andere Kapitalismus- und Medienkritiker viele Jahre und Jahrzehnte lang die schlimmsten Befürchtungen.343 Nicht nur, dass die Kulturindustrie durch ihre vorgefertigte, standardisierte Massenware sich sozusagen beständig selbst reproduziere. Sie verhindere auch selbständiges Denken, entmündige und manipuliere die Menschen, verderbe den Geschmack und das Interesse an »echter« Kunst. Sie verleite die Menschen zu einer Flucht aus dem Alltag und mache sie süchtig nach immer neuen Warenangeboten und immer stärkeren sinnlichen Reizen, den sogenannten »Effekten«. Diese wiederum beschränkten sich auf reine Äußerlichkeiten, seien nicht mit tiefgehenden Inhalten verbunden und würden passiv konsumiert, das heißt ohne aktive intellektuelle Beteiligung. Schon in den wilden zwanziger Jahren schreibt Siegfried Kracauer über den »Kult der Zerstreuung«, der zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg erstmals in den Berliner Kinos auftritt: »Die Erregungen der Sinne folgen in ihnen so dicht, daß nicht das schmalste Nachdenken sich zwischen sie einzwängen kann.«344 In den achtziger Jahren entstehen in der Soziologie Begriffe wie »Erlebnis-«345 oder »Risikogesellschaft«346. Der bereits mehrfach erwähnte Walkman wird als »Ende der Aufklärung«347 beschrieben, obwohl neben Musik beispielsweise auch Sprachlernkassetten unter den halboffenen Kopfhörern ertönen. Dennoch prophezeit der amerikanische Medienwissenschaftler Neil Postman bis in die neunziger Jahre hinein: »Wir amüsieren uns zu Tode«. Sein gleichnamiges Buch wird zum Bestseller.
342 343 344 345 346 347
Horkheimer/Adorno 2013, S. 145. Süss 2004, S. 15 ff. Hecken 2012, S. 36. Schulze 2000. Beck 1986. Vollbrecht 1989.
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3.2 VON MODEN, MÜTTERN UND MEDIEN: JUGENDUND PROTESTKULTUR Während die Erwachsenenwelt noch Jahrzehnte lang erbittert über den Sinn und Unsinn von unterhaltsamer Freizeitgestaltung debattiert, vollziehen vor allem junge Menschen der ausgehenden fünfziger und beginnenden sechziger Jahre den Wertewandel schneller und springen leichter auf das Freizeitangebot aus Amerika auf. Sie sehen sich durch den Krieg um eine unbeschwerte Kindheit und Jugend betrogen und wollen jetzt teilhaben an der unpolitischen Leichtigkeit und Leichtlebigkeit der Welt, die ihnen aus Hollywood und von den Kinoleinwänden entgegen flimmert.348 Gleichzeitig sind Produkte der amerikanischen Kulturindustrie in der Folgezeit auch ein probates Mittel, um sich gegen die heimattümelnde, als reaktionär empfundene Welt des erwachsenen Establishments abzugrenzen. Und so gilt der Erwachsenenwelt zu Beginn der Sechziger alles, was junge Menschen an ungewohnten Dingen tun, hören, tragen oder verzehren, als »typisch amerikanisch« – seien es nun Ringelsöckchen, Coca Cola, Pferdeschwanz oder Lederjacken. Der erste Generationenkonflikt der Nachkriegszeit ist geboren.349 Michael Breitkopf, der Gitarrist der Toten Hosen, erinnert sich an seine Jugend rund zwanzig Jahre später, als dieser Generationenkonflikt noch immer nicht gelöst ist: »Unsere kulturellen Vorbilder suchten wir uns in England und Amerika: in einer Musik und Ausdrucksweise, die unseren Eltern fremd war. Ihnen hatte man ihre Kultur und Musik genommen, die Volksmusik, die die Nazis vereinnahmt hatten, die klassische Musik, die missbraucht wurde. Oder deren Schöpfer die Nazis geächtet oder ermordet hatten. Wir hatten dafür eher kein Verständnis, es interessierte uns auch nicht, wir suchten uns eine neue kulturelle Identität – in Ablehnung der Wurzeln unserer Eltern.«350
3.2.1 Exkurs: »Oh baby, baby halbstark ...«351 oder was »Jugend« eigentlich ist Bevor ich im folgenden die Ausprägungen und Merkmale einer eigenständigen Jugendkultur im Zeitalter der Kompaktkassette beschreibe, möchte ich zunächst einen kurzen Blick auf den Begriff und die Vorstellung von »Jugend« an sich werfen. Denn etliche Jahre bevor man in Deutschland und Europa »jungen Er348 349 350 351
Maase 1992, S. 83. Großegger u.a. 2003, S. 31. Oehmke 2014, S. 79. Titel der ersten Single der Bremer Beat-Band The Yankees von 1965.
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wachsenen« oder »großen Kindern« überhaupt so etwas wie eine eigene Kultur zugestehen kann, muss ihnen erst grundsätzlich das Recht auf eine besondere Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsensein eingeräumt werden. Analog zur Entwicklung eines gesellschaftlichen Bewusstseins für diese Lebensphase entstehen jugendliche Alltagswelten und Kulturpraktiken, in denen der Umgang mit Moden, Musik und Medien eine wichtige Rolle spielt. Aber auch die Abgrenzung von den Eltern, insbesondere die Abgrenzung junger Mädchen von ihren Müttern und ihrem Lebensideal der häuslichen Fürsorge. Jugend als Lebensphase Die Vorstellung von Jugend als einer selbständigen Lebensphase kann man als Erfindung des ausgehenden 18. Jahrhunderts betrachten, genauer gesagt: als Erfindung der Aufklärung. Insbesondere der französische Philosoph und Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau hat mit seinem Erziehungsroman Émile der Kindheit und Jugend erstmals einen besonderen Stellenwert in der Biographie eines Menschen zugewiesen. Bis dahin werden Kinder und Jugendliche als »unfertige« Erwachsene betrachtet, was sich zum Beispiel auch an höfischen Gemälden erkennen lässt, auf denen Kinder meist nach der aktuellen Erwachsenenmode, etwa in bodenlange Gewänder oder Matrosenanzüge, gekleidet erscheinen. Rousseau, der befremdlicherweise seine eigenen Kinder in ein Waisenhaus gibt, formuliert in seinem Roman 1762 eine Pädagogik, die Heranwachsende als eigenständige Individuen betrachtet, altersentsprechend ausbildet und reifen lässt. Für Rousseau endet die Zeit, in der Jugendliche einen Erzieher brauchen, erst mit etwa zwanzig Jahren. Er beginnt damit, in die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts eine neue Vorstellung von Jugend einsickern zu lassen, die ihrer Zeit weit voraus ist und sich erst ganz allmählich im Lauf des nächsten Jahrhunderts zu etablieren beginnt.352 In eher städtischen Regionen, in denen die Eltern über mehr Bildung verfügen, entwickelt sich im Zeitalter der Industrialisierung langsam ein pädagogisches Verständnis für die Phase, in der ein Mensch nicht mehr Kind, aber auch noch nicht erwachsen ist. Ab 1900 sorgt die Einführung der Schulpflicht für eine klarere Trennung der Generationen und ihrer Aufgaben. Jugend wird damit zunehmend als eigenständige Lebensphase anerkannt.353 »Zu einem allgemeinen biografischen Muster für ›den‹ Heranwachsenden schlechthin (für den die Bevormundungen der Kindheit allmählich entfallen, der die eigene Existenz aber noch nicht letztverantwortlich selber gestalten und sichern muss) wurde sie 352 Rieger, Dietmar 1994, S. 209. 353 Hurrelmann/Quenzel 2013, S. 18f.
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allerdings tatsächlich erst im 20. Jahrhundert – und in ihrer uns zwischenzeitlich geläufigen Ausprägung eigentlich erst im Kontext wirtschaftlicher Prosperität der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.«354 Der Beginn einer deutschen Jugendkultur Erste Anzeichen für eine Jugendkultur mit Zielen, die sich elementar von denen der Erwachsenenwelt unterscheiden, gibt es schon lange vor den fünfziger und sechziger Jahren: beispielsweise an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Damals macht sich ein engagierter Student namens Homann Hoffmann mit einer Gruppe von Berliner Gymnasiasten auf zu längeren Wanderfahrten. Die Kinder aus gutbürgerlichen Elternhäusern nennen sich »Wandervögel« und wollen der städtischen Entfremdung von der Natur, der materialistischen Zivilisation, davonwandern.355 Auch eine andere Gruppierung von vorwiegend männlichen Jugendlichen sorgt in dieser Zeit erstmals für Aufregung. Es sind die sogenannten »Halbstarken«, jugendliche Müßiggänger und Randalierer, die Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem von Juristen – wie dem Rechtsanwalt und Schriftsteller Herman Popert356 – oder von Theologen – wie dem deutschen Pfarrer Clemens Schultz – angeprangert werden: »Die Halbstarken treiben meistens ihr Wesen erst des Abends und in der Nacht; die Kaschemmen, die Herbergen allerniedrigster Ordnung, die gemeinsten Kellerwirtschaften und vor allen Dingen die Bordelle und die Hinterräume der kasernierten Straßen sind ihre Schlupfwinkel. Es gibt keine Roheit, keine Sünde, keine Niederträchtigkeit, zu der diese Halbstarken nicht bereit sind, wenngleich sie sich, fast möchte man sagen leider, von einem wirklichen Verbrechen noch fern halten, so daß man sie, wenigstens auf längere Zeit, nicht unschädlich machen kann.«357 Schon damals stehen Erwachsene also Jugendlichen und deren Vorstellung von Freizeitgestaltung verständnislos bis ablehnend gegenüber, empfinden jugendliches Verhalten als bedrohlich und provokant, vor allem wenn Jugendliche öffentlich in Gruppen auftreten. Konsumgüter für die Jugend Gleichzeitig werden die Halbstarken, als sie nach dem Zweiten Weltkrieg in leicht modifizierter Form wieder in Erscheinung treten,358 – und nach ihnen praktisch alle anderen Jugendbewegungen und -kulturen – von der Industrie 354 355 356 357 358
Hitzler u. a. 2005, S. 9. Maase 2003, S. 43. Popert 1925. Schultz 1912, S. 34. Lindner 1996, S. 27.
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auch als potentielle Käufergruppe entdeckt. Die Halbstarken benötigen in den fünfziger Jahren zur Selbstinszenierung knatternde Motorräder, Jeans, schwarze Lederjacken und Pomade, um ihre Frisuren à la James Dean oder Elvis Presley in Form zu bringen.359 »Ganze Industriezweige stellen sich auf die Jugend ein, gehen mit der Jugend, leben mit der Jugend und verdienen mit der Jugend. Nirgends ein so sicheres Geschäft.«360 Der Grund dafür liegt auf der Hand: Nach Berechnungen, die die Zeitschrift Bravo in Auftrag gibt, steigt die Kaufkraft junger Leute zwischen vierzehn und vierundzwanzig Jahren innerhalb eines halben Jahrzehnts von knapp fünfzehn Milliarden Mark im Jahr 1963 auf knapp zwanzig Milliarden im Jahr 1968.361 Waren und Dienstleistungen werden ganz speziell auf Jugendliche zugeschnitten. »Jugendkultur avancierte zum erstrangigen Marktsegment. Teenagermode und Teenagermusik wurden damals von den einen als kommerzielle Formierung einer Jugend nach amerikanischem Modell angeprangert, von anderen als weichgespültes Imitat der Halbstarken-Rebellion verachtet.«362 In den sechziger Jahren entwirft der dänische Architekt und Designer Verner Panton – um ein weiteres Beispiel zu nennen – statt traditioneller Familiensofas oder Couchen ganze Pop-Art-Wohnlandschaften in buntesten, psychedelischen Farben. Und wie die gefragten Möbeldesigner distanzieren sich auch die Heranwachsenden zunehmend von der Familienidylle heimischer Wohnzimmer. Sie wollen eigene, andere soziale Formen ausprobieren: Interessens- oder Wohngemeinschaften oder gar rebellische Kommunen wie die legendäre Kommune 1 in Berlin, die ständig für Schlagzeilen sorgt. Gleichzeitig werden Erfahrungen mit »bewusstseinserweiternden« Rauschmitteln wie Cannabis, LSD und Heroin unter Jugendlichen zum Massenphänomen. Während Polizei und Zoll im Jahr 1960 bundesweit gerade einmal 1,5 Kilogramm Haschisch beschlagnahmen, sind es zwischen Januar und September 1969 schon mehr als 1,5 Tonnen. 1980 haben es die westdeutschen Jugendlichen mit einer voll ausgereiften Drogenszene zu tun. In diesem und dem darauffolgenden Jahr ist die Geschichte der drogenabhängigen Teenie-Fixerin Christiane F. unter dem Titel Wir Kinder vom Bahnhof Zoo das meistverkaufte Buch der BRD.363 Drogen sind Mittel, um sich von der Erwachsenenwelt abzugrenzen, um den Ausbruch zu inszenieren »aus jener sterilen Sicherheit von Familienharmonie und Volkswohlfahrt, von Sonntagsspaziergängen und Gärtchenglück«,364 359 360 361 362 363 364
Großegger u.a. 2003, S. 30f. Röther 2012, S. 294. Weber 2008, S. 128. Hügel 2003, S. 13. Mohr 2016. Gelpke 1995, S. 179.
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bemerkt der Schweizer Drogenforscher und Islamwissenschaftler Rudolf Gelpke nach einem Selbstversuch mit LSD Anfang der achtziger Jahre. Jugendzeitschriften wie Twen und Bravo schmücken mit MainstreamBerichten über Stars wie Elvis Presley, Peter Krauss und Conny Froboess ab dem Ende der fünfziger Jahre die Zeitungsständer der Kioske. Dass ab Mitte der Sechziger in den Jugendpostillen ganz selbstverständlich auch Nacktphotos und Berichte über Liebe, Petting und Sex zu finden sind, bringt wiederum die großen Illustrierten in Zugzwang. Der Stern, Quick und die Neue Revue ziehen nach. Als die Designerin Mary Quant 1962 in »Swinging London«, dem Epizentrum der Mode, den Minirock entwirft, endet bald auch bei vielen deutschen Mädchen zum Entsetzen ihrer Mütter und Väter der Rocksaum deutlich über dem Knie. Modische Strumpfhosen lösen altbackene Strapse ab. Schon wenige Jahre danach bekommen diese Strumpfhosen Laufmaschen und lugen unter Leder- und Nietenminis hervor: der Punk ist auf dem Vormarsch. Wie auch immer man sich zur Entstehung verschiedener Jugendkulturen verhalten mag – faktisch bedeuten sie den Durchbruch für kommerzielle Musikstile und für einen altersspezifischen Markt an Konsumgütern von Musik über Autos, Mode und natürlich Medien. Mit ihm entwickeln sich junge Menschen, die Mainstream und Massenwaren begeistert konsumieren und solche, die Konsum an sich kritisch betrachten oder ganz verweigern. Und mit ihm gehen kulturelle Konflikte zwischen Jugendlichen und der Elterngeneration einher, zwischen Anpassung und Rebellion, zwischen dem Wunsch nach individueller Freizeitgestaltung und nach gesellschaftlicher Regulation bzw. öffentlicher Ordnung. Dieses Muster lässt sich bei der Untersuchung jugendlicher Sprache und Kulturpraktiken immer wieder beobachten. Wir werden darauf im Zusammenhang mit Kompaktkassette im Folgenden noch mehrmals zurückkommen. Dass sich wiederum eine derart bunte und breite Jugendkultur entwickeln kann, hat mit politischer Stabilität im Land zu tun, mit dem wachsenden Wohlstand der Elterngeneration, mit einer guten Ausbildungssituation am Arbeitsmarkt, aber auch mit verlängerten Ausbildungszeiten, wodurch die Jugendlichen länger zu Hause wohnen, deutlich mehr Freizeit haben, weniger früh Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen müssen und mehr eigenes Geld ausgeben können. Ab dem Ende der sechziger Jahre verfügen Jugendliche bereits über eine erkleckliche Summe an eigenem, selbstverdientem Geld oder Taschengeld. Auch wenn die meisten Studierenden oder Auszubildenden etwas davon zu Hause abliefern müssen und viele einen Teil »auf die hohe Kante« legen, bleibt eine Menge übrig, um sich den einen oder anderen Wunsch zu erfüllen. »Ein Trend, der […] sich in den 70ern noch verstärkt. 1975 haben die Jugendlichen schon
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doppelt so viel Geld zur freien Verfügung wie die Jugend Anfang der 50er Jahre. Und sie geben das Geld natürlich auch aus – für Schallplatten, Konzertbesuche, Klamotten und, sobald sie den Führerschein haben, einen gebrauchten VWKäfer.«365 Zudem entdeckt die 68er Generation ihr Interesse an der Erforschung kindlicher Entwicklung und an einem neuen Erziehungsstil, der in den siebziger Jahren unter dem Sammelbegriff »Antiautoritäre Erziehung« bekannt wird. Der britische Pädagoge und Freigeist Alexander Sutherland Neill predigt genauso wie die Anhänger der Frankfurter Schule gegen Wohlanständigkeit und Untertanengeist. Die Verfechter der neuen Pädagogik fordern ein »Wachsen in Selbstbestimmung«: »Keiner ist gut genug, einem Kind zu sagen, wie es leben soll. Nein, die Hauptsache ist, dass für uns Spielen an erster Stelle steht, Gefühle an erster Stelle stehen, und Freiheit. Wir glauben an das Kind, und wir glauben, wenn es frei aufwächst, wirklich frei, dann entwickelt es sich auf seine Art in seinem Tempo«.366
Viele andere Entwicklungen sorgen zusätzlich dafür, dass ab Mitte der sechziger Jahre immer häufiger Biographien entstehen, die von den bis dahin üblichen, zum Teil noch landwirtschaftlich oder vorindustriell geprägten »Normalbiographien« abweichen und die Jugendzeit deutlich über die Teenager- und die Mittzwanziger-Jahre hinweg ausdehnen. Es wird beispielsweise länger und selbstverständlicher studiert als noch in den fünfziger Jahren. Die Antibaby-Pille, die ab dem Ende der sechziger Jahre in Westdeutschland auch unverheirateten Frauen verschrieben werden darf, sorgt ebenfalls dafür, dass das Kinderkriegen nicht mehr notwendigerweise schon wenige Jahre nach der Pubertät stattfindet und damit die Jugendzeit beendet. Diese ist auch nicht mehr zwangsläufig mit dem Abschluss der schulischen Laufbahn und dem Beginn einer Berufstätigkeit zu Ende, sondern kann sehr viel länger andauern; eine Entwicklung, die sich bis in unsere Zeit fortgesetzt hat.
365 Großegger u.a. 2003, S. 53. 366 Neill 2014, S. 123.
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3.2.2 »I Feel like Jesse James«367: Jugendlichkeit und Juvenilität als Lebensstile Anfang der achtziger Jahre werden zusätzlich zu den »Teenagern« die »Twentysomethings«, die »Mittzwanziger«, als neue Gruppe von Jugendlichen entdeckt. Diese »Nachjugendphase«, eine verlängerte Übergangsphase vom Jugend- ins Erwachsenenalter, wird 1981 von den Wissenschaftlern der Shell-Jugendstudie als »Postadoleszenz« beschrieben. »Während sich das Establishment noch daran abarbeitet, junge Menschen möglichst rasch und effizient in die Erwachsenengesellschaft rein [sic!] zu sozialisieren, haben sich die Jugendlichen schon ganz anders entschieden. Mit dem Einstieg in die sogenannte Normalkultur haben sie es nicht eilig. Sie wollen erst einmal richtig leben. Ihre Zielperspektive ist klar: Die Jugend genießen und später dann mal Teil des Establishments sein.«368 Heute bezeichnen Soziologen und Psychologen unter dem Begriff »Emerging Adulthood«369 junge Menschen bis zum Alter von dreißig Jahren noch als Jugendliche. Das hat vor allem mit den durchschnittlich nochmals verlängerten Ausbildungszeiten und der damit verbundenen noch späteren Familiengründung zu tun, aber auch damit, dass Eltern ihre Kinder häufig noch bis über das dreißigste Lebensjahr hinaus finanziell unterstützen oder zuhause wohnen lassen. Damit verschwimmt seit den siebziger Jahren, kaum dass sie sich richtig etabliert hat, analog zur Vorstellung von Jugend auch die Idee einer altersgebundenen Jugendkultur wieder. Jugendlichkeit oder Juvenilität werden eher zu Lebensstilen, zu Phänomenen der Selbstinszenierung als zu einer in Jahren messbaren Lebensphase. Jugendkultur muss demnach auch nicht ausschließlich von jungen Menschen praktiziert werden, sondern ist prinzipiell offen für Menschen aller Altersklassen: »Das Phänomen Juvenilität, mit seinen Konnotationen von Vitalität und Erlebnisorientierung, ist immer weniger eine Frage des Alters und immer mehr eine Frage der Einstellung zur Welt. […] Juvenilität als mit einer bestimmten Geisteshaltung korrelierende Lebensform wird zur prinzipiellen kulturellen Alternative gegenüber der Lebensform des Er-
367 Erste Zeile im Refrain des Country-Songs Troubadour (2008) von George Strait: »I still feel 25 most of the time. I still raise a little cain with the boys. […] Sometimes I feel like Jesse James, still tryin' to make a name. Knowing nothing's gonna change what I am. I was a young troubador when I wrote in on a song. And I'll be an old troubador when I'm gone.« 368 Großegger u.a. 2003, S. 62. Shell zitiert hier in der zusammenfassenden Überblicksausgabe aus der früheren Shell-Studie. 369 Fritsch 2016, S. 21.
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wachsenseins – und damit für zunehmend mehr Menschen nachgerade jeden Alters zu einer ›echten‹ existenziellen Option.«370
Dies hier zu betonen, ist mir im Zusammenhang mit der Beschreibung von Kassettenkultur sehr wichtig. Denn sicherlich sind zwischen den sechziger und den neunziger Jahren die NutzerInnen von Kassetten und tragbaren Kassettenrekordern vor allem junge Menschen. Denken wir etwa an die bereits erwähnten Breakdancer, die Punks oder die Boomboxer. Aber über Teenies und Twens hinaus gibt es unter den Kassetten-NutzerInnen auch etliche erwachsene Menschen, die mit der Kassette Juvenilität und Kreativität in ihr Konzept von Alltagskultur integriert haben. Kassettenkultur bezieht sich also auf Konzepte von Jugendkultur, insofern damit ein Lebenskonzept gemeint ist. In diesem erweiterten Sinne lässt sich die Kassette tatsächlich als Medium der Jugendkultur begreifen, die zwischen den sechziger und den neunziger Jahren sozialgeschichtlich eine wichtige Rolle spielt. Ich möchte das gerne an einigen Beispielen erklären: Alte und junge KassettentäterInnen 371 In den achtziger Jahren bildet sich in Süddeutschland eine der buntesten und produktivsten Kassettenszenen der Bundesrepublik aus. Hier gibt es bis in die neunziger Jahre hinein viele kleine und kleinste Kassettenverlage mit Produkten, die auch in den großen Musikzeitschriften wie der Sounds oder der Spex Beachtung finden. Eine der zentralen Gestalten ist Le Marquis aus Tübingen, mit bürgerlichem Namen Markus Bella. Als er Ende der siebziger Jahre aus Backnang bei Stuttgart in die Uni-Stadt am Neckar kommt, findet er dort zunächst nur eine wenig kreative, von Mainstream-Rock und Hippie-Musik dominierte Musiklandschaft vor. Das ändert sich schlagartig, als der Marquis und einige Gleichgesinnte wie die Familie Hesselbach Kassetten und mit ihnen die Idee des »Do-ityourself« für eine buntere und abwechslungsreichere regionale Musiklandschaft entdecken und verwenden. »Die Langeweile und das Unbehagen an Platten waren vergessen, als ich ein neues Medium entdeckte, die Kassette. Die sind nämlich viel spannender. Leute setzen ihren Dilettantismus ein, um sich auf ein Abenteuer einzulassen, dessen Ende von vorneherein nicht abzusehen ist. Sie experimentieren. Sie spielen. Mit Klängen. Es kommen Dinge zustande, die nie den Weg auf Vinyl gefunden hätten.«372 370 Hitzler u. a. 2005, S. 19. 371 Eine genaue Analyse und weiterführende Betrachtungen zur deutschen Kassettenszene im Postpunk findet sich im Kapitel 4.3.2 Zwischen Casio-Getschilpe und Avantgarde. 372 Le Marquis im Tübinger Stadtmagazin Tüte 3/82, zitiert nach: http://www.punkdisco.com/Kassetten-Intro.htm, abgerufen am 27.1.2017.
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Die neu entstehende süddeutsche Kassettenszene zwischen den besonders aktiven Zentren Pforzheim, Tübingen und Reutlingen ist eine Art Schmelztiegel kreativer Köpfe, die sich selbst »Kassettentäter« nennen. Punkmusiker, avantgardistische Dada-Künstler, Studenten, Schüler, Linksintellektuelle und Elektronik-Freaks bringen in den achtziger Jahren Dutzende von Kassettenproduktionen auf den Markt. Sie werden begleitet von eigenen Fanzines, selbstgebastelten Musikzeitschriften, und über die verschiedensten individuellen oder professionellen Vertriebswege vertrieben. Was die Kassettentäter eint, ist ihre juvenile Begeisterung für Musik, für Spontaneität, für den Do-it- Yourself-Gedanken, für die Idee, die kommerzielle Musikindustrie mehr oder weniger bewusst zu unterwandern, verkrustete Strukturen aufzubrechen und kreative Kräfte freizusetzen. Das Lebensalter der aktiven Kassettentäter spielt dagegen eine eher untergeordnete Rolle: »Es war vielleicht so die Ballung Anfang zwanzig, schätze ich mal. Aber es gab nach oben und unten natürlich Ausläufer. So vielleicht von fünfzehn bis über die dreißig raus. Es gab aber auch Leute, die aus ganz anderen künstlerischen Richtungen schon sehr lange Erfahrung hatten, die da auch mitgemischt haben in irgendeiner Form.«373
Kinderkassetten als Kultobjekte Ein weiteres Beispiel für Kassetten als Kennzeichen eines jugendorientierten Lebensstils sind die kommerziellen Hörspielkassetten für Kinder und Jugendliche, die ab den ausgehenden siebziger Jahren einen regelrechten Boom in Deutschland erleben. Selbstredend setzt sich der Kreis der HörerInnen zunächst einmal tatsächlich vorwiegend aus Kindern und Jugendlichen zusammen. Sie sind es, die in ihren Kinderzimmern oder vom Rücksitz des Familienautos aus Kassette hören. Am Anfang sind das noch Karl-May-Geschichten und Kinderlieder. Dann beginnt der Markt in rasender Geschwindigkeit zu wachsen. Detektivgeschichten für Jugendliche wie Fünf Freunde, Drei ??? oder TKKG bekommen für Hunderttausende verkaufter Tonträger eine Schallplatte in Gold oder Platin nach der anderen. Auch Serien für Kinder wie Bibi Blocksberg und Benjamin Blümchen haben Hochkonjunktur. In den achtziger Jahren folgen einige wenige Hörspiele für Erwachsene: nach den Bestsellern von Heinz Konsalik, Edgar Wallace und Uta Danella, nach Fernsehserien wie Dallas oder Kriminalgeschichten. Mitte der neunziger Jahre bricht mit dem allmählichen Untergang der Kassette der Hörspielmarkt plötzlich und unerwartet ein, um sich dann in einer zwei-
373 Interview mit Markus Bella vom 6.3.2016 in Tübingen.
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ten Welle einige Jahre später offenbar ohne ersichtlichen Grund wieder zu beleben. Heikedine Körting, Produzentin beim Hörspiel-Label Europa, das heute zu Sony gehört, will damals der Sache auf den Grund gehen. Sie lässt jeder neuen Kassette ein Einsteckkärtchen mit einer kurzen Kundenbefragung beilegen. Das Ergebnis ist mehr als überraschend. Auch in der zweiten Hörspielwelle sind die Hörer natürlich Kinder und Jugendliche. Aber es sind im gleichen Maß auch deren Eltern, die »Kassettenkinder« der achtziger Jahre, für die ihre Kinderhörspiele inzwischen zu Kultobjekten geworden sind, mit denen sie »ein Fest des Wiedersehens«374 feiern: »Ganz plötzlich haben die sich offensichtlich besonnen und gedacht: Ach Mensch, da gab es doch auch irgendwas, das uns in unserer Jugend Freude gemacht hat. Und dann haben die das wieder rausgekramt. Und dann Stück für Stück haben die das dann auch ihren Kindern zum Hören gegeben. Und deswegen sieht man heute bei direkten Treffen der Fans auf Veranstaltungen: Vater, Mutter, Kind, manchmal auch Oma oder Opa noch dazu. Also, die Kassetten sind irgendwie generationsübergreifend geworden.«375
Kassettenmixen als Alltagspraxis 376 Ein ähnliches Phänomen lässt sich auch am Beispiel sogenannter Mixtapes beobachten. Das bereits mehrfach angesprochene Bespielen einer Leerkassette mit verschiedenen, bewusst aus dem Radio oder von Schallplatte ausgewählten Songs in einer bestimmten Reihenfolge ist eine Praxis, die sich ab den späten siebziger Jahren herauszubilden beginnt. Vermutlich ist das Mixtapen davon inspiriert, dass viele jugendliche Musikfans schon seit der Heimtonband-Ära der späten fünfziger Jahre mit ihren Aufnahmegeräten auf Hitjagd gehen. Aus den verschiedensten Radioprogrammen nehmen sie ihre Lieblingslieder auf, um sie jederzeit und überall auf Band verfügbar zu haben, erinnert sich der heute 68jährige Gert Redlich: »Hitparade gab's, fünfzehn Jahre lang immer donnerstags im Hessischen Rundfunk. Und das war der einzige Moderator, der nicht dauernd in die Musik rein gequasselt hat. SWF, Radio Luxemburg und Saarländischer Rundfunk – die haben immer in die Musik reinmoderiert. Das fand ich echt grausam, weil ich wollte doch die Musik haben und nicht das Gequatsche vom Moderator.«377
374 Hügel 2003, S. 296. 375 Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016. 376 Ausführlicher untersuche ich die Praxis des Mixtapens in Kapitel 4.2.3 Now sing the praises of the Mixtape: Unterhändler von Erinnerungen. 377 Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2016. in Wiesbaden.
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Auf Mixkassetten zusammengestellte Songs bekommen durch die Überspielung einen neuen Kontext, der sich vom ursprünglichen Zusammenhang in einer Radiosendung oder einem Konzeptalbum oft grundlegend unterscheidet. Rob Sheffield, Kultur- und Musikkritiker der Zeitschrift The Rolling Stone beschreibt das in seinem Roman: Love is a mix tape folgendermaßen: »I believe, when you're making a mix, you're making history. […] You go through an artist's entire career, zero it on that one moment that makes you want to jump and dance and smoke bats and bite the heads off drugs. And then you play that one moment over and over. A mix tape steels these moments from all over the musical cosmos, and splices them into a whole new groove.«378
Diese Form des Song-Mixens ist bis zum Auftauchen von Smartphones in dieser Vielfalt nur auf Kassette oder auf Tonband möglich. Sie wird zunächst vor allem von Jugendlichen und jungen Erwachsenen betrieben, für die Musik ein wesentlicher und wichtiger Bestandteil des Alltags ist. Doch die Jugendlichen von damals sind in den Neunzigern erwachsen geworden und haben bis heute die mit der Kassette entwickelte Praxis beibehalten oder sogar weitergegeben. Heute lebt das individuelle Zusammenstellen und Teilen von Musik in virtuellen Formen weiter. »After all, what is a playlist if not a glorified mixtape, shared on Spotify or carried on an iPod? Tapes took music from labels and gave it to listeners, heralding a change in the very meaning of entertainment. That change has no rewind button. The world won't go back to listening to songs on an album in the sequence picked by a band, just as the news isn't read in the order a paper chooses and a TV shot isn't watched at the hour it's broadcast. Mixtape culture thrives even among those for whom the cassette revival is out of earshot.«379
Die mit der Kassette erworbene Kulturpraxis ist also aus einem vorwiegend jugendlichen Kontext zunächst in einen allgemeinen Alltagskontext und von dort schließlich auf ein anderes Medium übergegangen. Wie außerdem zahlreiche Buch-, Zeitungs- und Roman-Veröffentlichungen der letzten Jahre zeigen – von Nick Hornbys Roman High Fidelity, über Thurston Moores Anekdotensammlung Mix Tape: The Art of Cassette Culture bis hin zu Stuckrad-Barres Essay Kassettenmädchen oder das Jugendbuch Press Play –: Das Aufnehmen von Mixtapes wird in der Rückschau aus heutiger Sicht gleichsam zur Allegorie für die gesamten achtziger und frühen neunziger Jahre. Eine einst jugendliche Alltagspraxis wird gewissermaßen also zum Platzhalter für die Beschreibung einer ganzen Generation: 378 Sheffield 2008, S. 23. 379 Rothman 2013.
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»Mix taping became a widespread practice between the late 1970s and early 1990s, after which its popularity declined, gradually giving way to digital forms of rerecording. Soon after its decline, however, mix taping began to reappear in a number of cultural narratives in novels, essays which calibrated its meaning from an innocent pastime to a sociocultural practice of existential significance.«380
3.2.3 »Krieg den Palästen« 381: Gegenkultur, Revolution und subtiler Protest Konsumkritiker wie Theodor W. Adorno, der amerikanische Soziologe und Systemtheoretiker Talcott Parsons oder der US-Medienwissenschaftler Neil Postman – um exemplarisch nur einige wenige zu nennen – sehen in ihrer Kritik an der sich seit den fünfziger Jahren unaufhaltsam weiter ausbreitenden Populärkultur vor allem Jugendliche als gefährdet oder gar als naive Opfer von Industrie, Kommerz, Schund und Kitsch. Denn es sind Jugendliche, die gemeinhin als besonders empfänglich für Neues gelten und damit auch für die »Verlockungen« von Unterhaltungs- und Freizeitindustrie.382 Leichter noch als Erwachsene ließen sie sich durch die Kulturindustrie verführen zu Realitätsflucht und passivem, triebgesteuertem Konsum. Die stark ästhetisch und intellektuell motivierte Kritik der Kulturpessimisten greift bei einer umfassenden Betrachtung von populärer Kultur jedoch sehr kurz. Denn Popkultur hat nicht nur eine andere ästhetische Komponente, in der sie sich klar von der sogenannten Hochkultur absetzt, z.B. klassische Musik vom Schlager trennt oder klassische Malerei vom Comic. Popkultur definiert sich auch maßgeblich über den Umgang der KonsumentInnen mit den angebotenen Konsumgütern. Und dieser ist – schaut man genauer hin – bei weitem nicht so passiv und fremdbestimmt, wie viele Konsumkritiker glauben machen. Bei Adorno klingt beispielsweise allenfalls an, was Vertreter der Cultural Studies wie Stuart Hall oder John Fiske in den folgenden Jahrzehnten einleuchtend beschreiben und als zentrales Charakteristikum in den Mittelpunkt ihrer 380 Bijsterveld/Dijck 2009, S. 43. 381 Parole aus einem Pamphlet, das Georg Büchner im Jahr 1834 verfasste. In seiner Flugschrift »Der Hessische Landbote« fordert der Medizinstudent die arme Landbevölkerung zum Umsturz auf. 382 Im öffentlichen Diskurs über Heranwachsende und ihr Verhältnis zu Medien hat die kulturpessimistische Position, die beispielsweise von Neil Postman, Werner Glogauer oder Manfred Spitzer vertreten wird, die längste Tradition: »Bei den Kulturpessimisten finden wir vor allem Warnung vor den möglichen negativen Einflüssen der Medien auf die Gesellschaft und die einzelnen Individuen. Es wird den Medien die Verantwortung für das Verschwinden der Kindheit oder gar der Wirklichkeit zugeschrieben, […] Wegen ihrer noch nicht gefestigten Persönlichkeit werden Heranwachsende als besonders gefährdet betrachtet […].« Vgl. Süss 2004, S. 15.
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Betrachtungen zu popkulturellen Phänomenen stellen: das revolutionäre und subversive Moment populärer Kultur. Dieses äußert sich zunächst einmal darin, dass – entgegen der These von bloßer passiver Berieselung – aus dem unüberschaubaren industriell gefertigten Warenangebot von den KonsumentInnen eine aktive Auswahl getroffen werden muss. Es äußert sich vor allem aber in einem häufig kreativen oder auch ironisierten Gebrauch von industriellen Waren, der vom Gebrauch, den die Hersteller dieser Waren vorgesehen haben, fundamental abweicht. Auf die Spitze getrieben, gipfelt dieses Verhalten auch in einem gezielten Nicht-Gebrauch bestimmter Waren. »Die Vielzahl der zur Verfügung stehenden Konsumgüter ermöglicht eine Vielzahl von Kombinationen, die die Individuen zur Ausbildung eigener Identitäten nutzen. Doch Stil wird nicht nur über die Kombination von Konsumgegenständen kreiert, sondern auch über Nicht-Konsum oder Konsumverweigerung.«383 Dadurch können eigene »neben«-, »gegen«- oder subkulturelle Ausprägungen des kommerziellen Mainstreams entstehen, die unabhängig sind von sozialem Milieu, Geschlecht oder Alter. Denken wir zur Veranschaulichung etwa kurz an die Punk-Bewegung der siebziger und achtziger Jahre: Nylon- oder Perlonstrümpfe sind bis zum Aufkommen einer neuen Mode durch die Designerin Vivienne Westwood industrielle Massenware, Symbole für einen ästhetisch normierten Massengeschmack und das Einhalten gesellschaftlicher Etikette. Die Laufmaschen, die mit dem Punk bewusst einreißen, sind von Strumpfherstellern sicherlich nicht vorgesehen. Sie brechen offensiv mit bisher geltenden Normen und werden Teil einer neuen, sich gezielt vom Mainstream abgrenzenden Subkultur, zum Symbol von »No Future« und »Do it yourself«. Bottom-up wie die Graswurzeln Nach Fiske und anderen Vertretern der Cultural Studies ist populäre Kultur also keineswegs nur eine von Industrie und Kapitalismus aufgezwungene, verführerische Form von Kultur, der sich vor allem Jugendliche mehr oder weniger hilflos – passiv jedenfalls – ausgeliefert sehen. Populäre Kultur hat vielmehr das Potential, von »unten« her in einer Art Graswurzelbewegung – »bottom-up« wie die Soziologen sagen – kommerziell vorgegebene Muster von Kapital und Macht aktiv zu unterwandern, umzudeuten und zu einer eigenen Kulturform zusammenzubauen. »Popular culture is the culture of the subordinated and disempowered and thus always bears within it signs of power relations, traces of the forces of domination and subordina383 Siegfried 2006, S. 16.
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tion that are central to our social system and therefore to our social experience. Equally, it shows signs of resisting or evading these forces: popular culture contradicts itself.«384
Sie ist in diesem Sinne keine Unterschichtenkultur, wie etwa die Frankfurter Schule sie versteht.385 Aber sie ist eine Kultur der Nicht-Privilegierten, zu denen – jedenfalls finanziell und institutionell betrachtet – auch Jugendliche zählen. Und sie ist eine Kultur, die sich definiert durch ein klares Verhältnis der NichtPrivilegierten zu Konsum, Macht, Unterhaltung und verschiedenen Massenprodukten. »Excorporation is the process by which the subordinate make their own culture out of the resources and commodities provided by the dominant system, and this is central to popular culture, for in an industrial society the only resources from which the subordinate can make their own subcultures are those provided by the system that subordinates them. There is no »authentic« folk culture to provide an alternative, and so popular culture is necessarily the art of making do with what is available. This means that the study of popular culture requires the study not only of the cultural commodities out of which it is made, but also of the ways that people use them. The latter are far more creative und varied than the former.«386
Der ironisch gebrochene, entkontextualisierte und kreative Gebrauch kommerzieller Waren und deren Kombination ist ein zentrales Merkmal für den Umgang mit populärer Kultur. Dieser drückt mitunter eine mittelbare Kritik aus an bestehenden Macht- und Dominanzverhältnissen, er kündet aber auch von einer gewissen Lust am Widerstand und am Sich-Reiben mit der eher konservativen Gesellschaft. »Denn individuell und kollektiv abweichendes Verhalten kann […] zugleich auch eine potenziell positive Infragestellung von erstarrten Routinen und Traditionen sein und damit eine Quelle von Veränderungen und Neuerungen.«387 Kommen wir in diesem Zusammenhang wieder auf das Kompaktkassettensystem zurück. Es scheint für alle Facetten populärer Kultur das nachgerade ideale Medium zu sein. Zum einen erfüllt es alle Bedingungen, die es als Ware im kommerziellen Sinn definieren. Es ist massenhaft herstellbar und massenhaft verbreitet, für Geld zu kaufen und in allen Kaufhäusern zu haben. Die Kassette 384 Fiske 2010, S. 4. 385 Vgl. Horkheimer/Adorno 2013, S. 141.: »Die Konsumenten sind die Arbeiter und Angestellten, die Farmer und Kleinbürger. Die kapitalistische Produktion hält sie mit Leib und Seele so eingeschlossen, daß sie dem, was ihnen geboten wird, widerstandslos verfallen. […] Die Reinheit der bürgerlichen Kunst, die sich als Reich der Freiheit im Gegensatz zur materiellen Praxis hypostasierte, war von Anbeginn mit dem Ausschluß der Unterklasse erkauft.« 386 Fiske 2010, S. 13. 387 Schäfers/Scherr 2005, S. 161.
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ist ein Medium, das sich in Form von Musikkassetten wunderbar für den passiven Konsum kommerzieller Unterhaltungsmusik eignet. Zum anderen sind Rekorder industriell gefertigte Produkte, mit denen sich – denken wir an teure Radiorekorder oder den Walkman – der soziale Status darstellen und festigen lässt. Und last but not least: Dadurch dass die Herstellerfirmen ständig neue Rekorder in verändertem Design und Kassetten mit neuen Musikalben auf den Markt bringen, üben sie kommerziellen Druck und damit Macht auf die Konsumenten aus. Das Bedürfnis nach dem Kauf der neuen Waren reißt dementsprechend nie wirklich ab, sondern erneuert sich in sehr kurzen Abständen. Abgesehen von diesen Eigenschaften, die Kassetten und Rekorder zu typischen Produkten der Kulturindustrie machen, sind sie aber auch Kreativmedien, mit denen sich genau das Gegenteil der von der Herstellerindustrie intendierten Absicht erreichen lässt. Wie am Beispiel der GEMA-Debatte gezeigt, eignen sie sich, um unbewusst oder bewusst die Absatzzahlen im Schallplattengeschäft zu drücken. Sie geben eigene Gestaltungsfreiheit und die Möglichkeit zur NeuKontextualisierung kommerzieller Produkte, denkt man etwa an die Gestaltung von Mixtapes. Und sie eröffnen – als ultima ratio sozusagen – auch eine Möglichkeit, mit der kein anderer populärer Tonträger aufwarten kann: Man kann den auf industriell bespielten Kassetten eingebauten Löschschutz ganz einfach ausschalten. Die Plastiklaschen, die bei bespielten Kassetten ausgebrochen sind und damit ein Überspielen der kommerziellen Aufnahme unmöglich machen sollen, können mit simplen Tesafilm-Streifen überklebt werden. Damit ist der Löschschutz deaktiviert und ein Bespielen des Industrie-Tonträgers mit eigenen Aufnahmen möglich. In vielen Kassettensammlungen – auch in meiner eigenen – finden sich kommerzielle Schlager-, Sprachlern- oder Klassik-Kassetten, die im Nachhinein mit Punk- oder Hitparadenmusik überspielt wurden. Viele von ihnen tragen noch die Originaletiketten. Legt man sie in einen Rekorder ein und drückt die Play-Taste, ertönen statt Karajan oder Heintje jedoch Die Toten Hosen oder die Dead Kennedys. Das Anhören dieser Art von Überspielungen ist insofern etwas Besonderes, weil neben dem Vergnügen des Musikhörens leise auch eine subversive Freude mitschwingt, das Diktat von Industrie und Kommerz unterlaufen zu haben. Traumenergie und die revolutionäre Kraft des Spiels Abgesehen vom revolutionären Potential, das Fiske im zweckentfremdeten Umgang mit Massenprodukten sieht, besitzt populäre Kultur noch weiteres, widerborstiges Potential. Fiske geht darauf nicht ein. Der Tübinger Kulturwissen-
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schaftler Kaspar Maase bezeichnet es dagegen als »Traumenergie«388. Diese Traumenergie ist auf den ersten Blick vielleicht nicht sofort sichtbar, aber nach Maase doch in den meisten kommerziellen Produkten – wie Kleidung, Filmen oder Musik – enthalten: »Revolution verweist metaphorisch auf Überschreitungspotentiale. Bei aller notwendigen Kritik an zynischer Ideologie, an falschen Versprechungen und spießigen Phantasien von einer Belohnung der Angepassten ist dieser unzerstörbare Rest an Traumenergie zu beachten. Die war nötig, um Alltag zu bewältigen, und sie hielt zugleich die Hoffnung auf seine Veränderung lebendig. Da gab es Bilder von exotischen Paradiesen, von einem Glück jenseits des Vernünftigen, von Lust ohne Druck und Genuss ohne vorherige Zwangsleistung.«389
KonsumentInnen benutzen kommerzielle Waren also dazu, um sich veränderte, bessere Zustände auszumalen, in denen sie meistens besser und heldenhafter dastehen als in der Realität. Sie identifizieren sich beispielsweise mit besonders gut aussehenden Models, wenn sie bestimmte Kleidung tragen oder mit den Helden von Geschichten, wie sie in Büchern, Filmen oder auch in der Musik dargestellt werden. Ein Beispiel, an dem sich diese Traumenergie gut veranschaulichen lässt, liefert etwa der Song Zu spät der Fun-Punk-Band Die Ärzte. Darin geht es um einen jungen Mann, der von seiner Freundin verlassen wird. Sie sucht sich einen anderen Freund, der nicht nur viel Geld hat, sondern auch gut aussieht, sportlich ist und schlau. Mit dem Refrain des Songs beginnt der Traum: »Eines Tages werd‘ ich mich rächen. Ich werd‘ die Herzen aller Mädchen brechen. Dann bin ich ein Star und Du läufst hinter mir her, doch dann ist es zu spät, dann kenn‘ ich Dich nicht mehr!« Dieser Wunsch, der Traum, die Grenzen der Realität zu verändern und die Verhältnisse auf den Kopf zu stellen, hat viele Gemeinsamkeiten mit dem kindlichen Spiel, mit einem So-tun-als-ob. »Die Spannung zwischen Wünschen, welche in der Realität und den damit verbundenen sozialen Normen nicht erfüllt werden können, sollte ausgesöhnt werden durch Spiel, durch die Erschaffung einer imaginären Welt. […] Solche unerreichbaren Möglichkeiten finden sich auch im Rollenspiel, wenn Mädchen Prinzessin spielen […] oder Knaben Könige oder Helden mimen.«390
Die spielerische Komponente populärer Kultur an dieser Stelle herauszustellen, ist darum so wichtig, weil gerade das Kassettensystem dem Bedürfnis nach Spiel, Traum und So-tun-als-ob entgegenkommt wie eigentlich kein anderes 388 Maase 1997, S. 36. 389 Maase 1997, S. 37. 390 Hauser u. a. 2016, S. 19.
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Medium. Drückt man den Aufnahme-Knopf oder nimmt das Mikrophon zur Hand, kann man ohne Mühe zum Rockstar werden, zum Stadionsprecher, zur Moderatorin, zur Reiseleiterin oder zum Hörspielproduzenten. »In der Geschichte der Massenkultur waren stets Sinn und Sinnlichkeit im Angebot, und was die Menschen daraus machten, bewegte sich zwischen geistigem Probehandeln vor dem Hintergrund persönlicher Betroffenheit und zweckfreiem Spiel mit Fiktionen.«391 Dieses fiktionale Spiel funktioniert deshalb so gut mit Kassettensystemen, weil es der Imagination sozusagen eine perfekte Vorlage liefert: ein Mikrophon, einen Tonträger, ein technisches Gerät. Kurz: Eine Ausstattung, die der Ausstattung der erträumten, professionellen Rolle zumindest ähnelt, erklärt der Bamberger Kassettentäter Frank Apunkt Schneider: »So funktioniert ja Spiel. Du hast irgendetwas in der Hand, das aussieht wie ein Auto. Und dann machst du ›Brummbrumm‹. Und in dem Moment ist es wirklich ein Auto. Und du sitzt drin. Das ist sozusagen deine Kinderwirklichkeit gerade. Und da ist es ähnlich. Weil wir dieses Spiel von der Starwerdung so toll finden in diesen Geschichten, die wir hören, spielen wir das nach. Und das einfachste Medium, um das zu spielen, ist eben dieses Medium Kassette.«392
Gespielte Interviews, gruselige Hörspiele und Phantasie-Bands Es ist auffällig, dass sich fast alle meine Interviewpartner an Momente erinnern, in denen sie sich mit ihren Kassettengeräten in eine bestimmte Rolle hineingeträumt und -gespielt haben. Als Kinder ebenso wie als Erwachsene. Radio-Redakteur Reinold Hermanns berichtet zum Beispiel von den Geburtstagsfeiern seiner Töchter: Die Kinder bekommen ein Mikrophon und spielen Radioreporter, Nachrichtensprecher oder Interviewgäste. Der Vater, der »echte« Journalist, leitet das Spiel an und zeichnet Reportagen und Interviews mit einem Kassettenrekorder auf. »Jedenfalls war es immer eines der Highlights bei Kindergeburtstagen, ein schöner Programmpunkt. Das habe ich ein paar Mal gemacht [...] ich [...], der richtige Radiomensch, dass ich Kinder interviewt habe. Und das wurde dann glaube ich auch abgehört und abgespielt. Das war ein Riesenvergnügen.«393 Die fertigen Kassetten dürfen alle Kinder als Erinnerung an den Tag mit nach Hause nehmen. Auch Dominik Kuhn erinnert sich an spielerische Experimente mit dem Kassettenrekorder seiner Kindheit:
391 Maase 1997, S. 34. 392 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016. 393 Interview mit Reinold Hermanns vom 4.8.2016.
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»Wenn Du Record und Play gedrückt hast und hast die Play-Taste nur halb reingedrückt, dann ist der Motor doppelt so schnell gelaufen. Und dann lief auch das Band ungefähr doppelt so schnell. Und wenn Du es dann abgespielt hast, lief es mit der normalen Geschwindigkeit. Und so konntest Du dann halt so Monsterstimmen machen. Und ich habe stundenlang da irgendwelche Hörspiele aufgenommen. Man kann das heute noch hören, das ist ganz spooky: Ich bin da in meiner eigenen Welt, weggepustet, und mache da meine eigenen Captain-Kirk-Hörspiele. Ich bin ein großer Science-Fiction-Fan.«394
Hörspiele sind auch die ersten Experimente mit Kassetten, an die sich Frank Apunkt Schneider erinnert: »Dass wir mit neun oder zehn Jahren irgendein Tim&Struppi-Comic quasi gelesen haben und dabei durchs Zimmer gerannt sind und das dabei dann auch irgendwie gespielt haben. Das war natürlich völlig sinnlos, weil wir einfach die Sprechblasen gelesen haben. Aber das haben wir aufgenommen, auch mit einer gewissen Ernsthaftigkeit, wo es dann schon scheiße war, wenn einer losgelesen hat und aber die Pausen-Taste noch gedrückt war. Da hat man sich dann auch kurz mal gestritten.«395
Später, als Jugendlicher, werden die Träume ambitionierter: Die Vorstellung, eine eigene Band zu gründen und eine Platte herauszubringen, hat es dem Dreizehnjährigen Frank und seinem etwa gleichaltrigen Cousin angetan: »Und da gab es dann so eine komische Souvenir-Percussion-Trommel, die der Vater aus Indien mitgebracht hat, und eine kaputte Gitarre. Und wir haben eine Stunde lang da auf dem Zeug rumgeklopft und dazu irgendwas gebrüllt. Keiner von uns hatte auch nur ansatzweise eine Ahnung davon, wie man ein Instrument bedient. Und es war auch einfach nur Krach. Aber wir haben uns dafür schon einen Bandnamen ausgedacht, irgendeinen Schwachsinn halt ausgedacht. Also, es war uns schon immer bewusst: Das ist keine Band, das ist einfach nur ein Spiel. Aber es hat Spaß gemacht. Und es hat auch so eine gewisse, momentane, kindermäßige Erregung generiert.«396
Rufen wir uns nun auch noch einmal das bereits beschriebene Philips Pressephoto in Erinnerung, auf dem der gepflegte Herr mittleren Alters mit dem Kassettenrekorder vor seiner Modelleisenbahn sitzt und Bahnhofsvorsteher spielt. Die Parallelen zu den geschilderten Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen sind unübersehbar: Mit der erwähnten »Traumenergie« von Kassetten, Mikrophon und Rekorder befördern sich Kinder und Erwachsene gleichermaßen in Rollen außerhalb der eigenen Realität hinein, spielen kreativ und frei und entziehen sich damit bis zu einem gewissen Grad der Einflussnahme von Kommerz und Industrie. 394 Interview mit Dominik Kuhn vom 13.7.2015. 395 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016. 396 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016.
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Politische Protestbewegungen Neben den gerade gezeigten, eher weichen Formen von Widerständigkeit existiert im Zeitalter der Kassette natürlich auch dezidiert politischer und sozialer Protest. Im Hinblick auf die verschiedenen Einsatzbereiche der Kassette lohnt es sich, auch diesen Bereich etwas genauer zu untersuchen. Zum einen, weil sich die Dynamik der westdeutschen Jugendkultur im wesentlichen aus dem Spannungsfeld zwischen den beiden Polen Konsum und Politisierung speist. Zum anderen – und das ist für diese Arbeit noch viel wichtiger – , weil sich neben Flugblättern und anderen Printmedien vor allem und gerade Kassetten als niederschwellige Protestmedien besonders gut eignen. Ich unternehme im Folgenden also einen Schnelldurchlauf durch die deutsche Protestgeschichte, um im Anschluss daran anhand einiger ausgewählter Beispiele zu erklären, wie und warum Kassetten in diesem Zusammenhang in Erscheinung treten. Wichtig ist, dass man sich dabei immer der Tatsache bewusst ist, dass Protestbewegungen zwar für Aufregung und Schlagzeilen sorgen, in der Regel aber nur einen kleinen oder sogar sehr kleinen Teil der Gesamtgesellschaft betreffen. Selbst wenn in der Rückschau oft ein anderer Eindruck entstehen mag: Der weitaus größere Teil der Deutschen nimmt auch sehr prominente Protestbewegungen wie die Studentenunruhen hauptsächlich durch die Medien wahr, ohne selbst aktiv beteiligt, also dezidiert politisch zu sein.397 Protestkultur, wie ich sie in den folgenden Abschnitten schildern werde, ist also meistens auch eine Form von Nischen- oder Subkultur. Das lässt sich gut am Ergebnis der ersten beiden Shell-Jugendstudien aus den Jahren 1953 und 1955 zeigen. Zum ersten Mal werden für Deutschland repräsentative Jugenstudien durchgeführt, zum ersten Mal geraten jugendliche Werte und Einstellungen umfassend in den Blick von Soziologen und Psychologen. Die beiden Studien kommen dabei zu dem Ergebnis, dass viele Jugendliche zwar latent unzufrieden, aber in der Mehrzahl gänzlich unpolitisch sind. Statt sich politisch zu artikulieren, leben sie – wenn überhaupt – ihren Protest gegen die Lebensumstände in der sich zunehmend kommerzialisierenden Alltagskultur aus. Sie fahren schnelle Motorräder und tragen nach amerikanischem Vorbild Nietenjeans und Lederjacken. Das ändert sich bedingt im darauffolgenden Jahrzehnt, als vor allem für junge Intellektuelle, Studenten und Schüler Themen wie persönliche Freiheit, Abkehr von Familie, Spießertum und Faschismus, Kampf gegen Unterdrückung, Diktaturen und Krieg und auch die Konsumkritik zu wichtigen Themen werden. In den Sechzigern sorgen der Kalte Krieg und die Kubakrise international für Schlagzeilen, der gewaltfreie Widerstand und die Ermordung von Martin Luther 397 Großegger u.a. 2003, S. 34ff.
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King, Mauerbau und Prager Frühling, die Chinesische Kulturrevolution, Krieg in Vietnam und im Westjordanland.398 Gleichzeitig spitzen sich die Studentenunruhen durch den gewaltsamen Tod von Benno Ohnesorg während einer Demonstration gegen den Besuch des Persischen Schahs zu. Die legendäre Kommune 1 um Langhans, Enzensberger und Obermaier erscheint beinahe täglich in den Zeitungen, weil sie öffentlich Sex haben, Drogen konsumieren und Bücher von Kirchtürmen werfen. In der Nacht zum 3. April 1968 zünden Radikale um Gudrun Ensslin und Andreas Baader in Frankfurt am Main zwei Kaufhäuser an, die für sie Wahrzeichen von Konsumhörigkeit und Angepasstheit sind. Zusätzlich entwickelt sich ein stark ausgeprägter Anti-Amerikanismus, der bis weit in die neunziger Jahre hinein anhält.399 Die siebziger Jahre bringen einen erneuten Wandel. Die Hippie-Bewegung wird größer und setzt nun ganz auf Harmonie, Selbstentfaltung und AntiKonsum. In Deutschland demonstrieren die Menschen gegen den Bau eines Atomkraftwerks in Brokdorf. Die studentische Protestkultur der 68er löst sich auf oder radikalisiert sich im Untergrund. Im Jahr 1977 erreicht der blutige Terror der RAF seinen Höhenpunkt. Die Zeit zwischen September und Oktober 1977 geht mit der Verschleppung und Ermordung des Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer, der Entführung der Lufthansa Maschine Landshut und dem anschließenden Selbstmord der in Stammheim inhaftierten RAF-Terroristen als »Deutscher Herbst« in die Geschichte ein. Nichtsdestotrotz lebt die Mehrheit der westdeutschen Jugendlichen noch immer in Frieden mit dem kapitalistischen System. Jugendliche aus dem Arbeitermilieu liebäugeln genauso wie die meisten Studierenden mit den Vorteilen, die der Kapitalismus verspricht: Wohlstand, Mobilität, Spaß, Unterhaltung und Freizeit. »Auch sie wollen im Sommer in den Süden auf Urlaub fahren, auch sie sparen auf ein neues Auto, und auch sie träumen vom kleinen Einfamilienhaus, das sie vielleicht später mal haben werden.«400 In den achtziger Jahren verändert sich die Welt weiter: In Sachen Protest und Revolution geht es jetzt etwas friedlicher und demokratischer zu als im Deutschen Herbst. Kritische junge Menschen formieren sich in ganz unterschiedlichen Basisgruppierungen zu einer Gegenöffentlichkeit: »Go-ins, Besetzungen und Blockaden werden zu einem trendigen Mittel der politischen Artikulation. Bürgerinitiativen schießen aus dem Boden. Die etablierte Politik sieht damit eine neue »Polit-Landplage« auf sich zukommen.«401
398 399 400 401
Mohr 2016. Siegfried 2006, S. 749. Großegger u.a. 2003, S. 60. Großegger u.a. 2003, S. 65.
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Während die deutschen Punks gegen mangelnde Zukunftsperspektiven anpöbeln und später die Neue Deutsche Welle die etablierte Rockmusik aufs Korn nimmt, demonstrieren Hunderttausende Menschen Anfang des Jahrzehnts gegen den Bau der Startbahn West am Frankfurter Flughafen. Das Hüttendorf im angrenzenden Wald wird gewaltsam geräumt. Am sechsten Jahrestag der Räumung werden zwei Polizisten erschossen und etliche Startbahngegner daraufhin festgenommen. Die Umweltbewegung ist geboren.402 Als in Tschernobyl ein Atomkraftwerk explodiert, werden auch die Proteste der Anti-Atomkraft-Bewegung radikaler und vor allem zahlreicher. Die Angst vor der Kernkraft ist mit der ersten radioaktiven Wolke aus der Sowjetunion auch in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen. Sogar die Rockmusik beginnt sich zu politisieren. 1986 findet das große Anti-WAAhnsinns-Festival als Protest gegen Atomkraft und die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf statt. Die bisher nicht an Politik interessierten Fun-Punker Die Toten Hosen stehen im Lineup. »Immer mehr Menschen wandten sich in Wackersdorf gegen die Wiederaufbereitungsanlage, die zudem zunehmend als ein Privatobjekt des bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß erschien. Bei den so genannten Pfingstkrawallen ein paar Tage später wurden sechshundert Menschen verletzt. Die Polizei schoss mit Tränengasgranaten aus Hubschraubern, was später als Verstoß gegen das Völkerrecht gewertet wurde.«403
Mit dem Nato-Doppelbeschluss und der Stationierung von amerikanischen Pershing II Raketen auf deutschem Boden entsteht eine neue Welle der Friedensbewegung. Millionen Menschen gehen für Abrüstung auf die Straße. Am 22. Oktober 1983 bilden mehrere hunderttausend Anhänger der Friedensbewegung eine 108 Kilometer lange Menschenkette zwischen Stuttgart und Ulm.404 Die Angst vor einem Atomschlag der Supermächte ist groß. Im 2016 erschienenen Buch Wir Kassettenkinder erinnern sich die Autoren: »Wenn der Nachrichtensprecher mit ernster Miene Worte wie Rüstungswettlauf, Pershing II, Cruise Missiles, SDI und atomarer Erstschlag in den Mund nahm, beschlich jeden von uns ein ungutes Gefühl.«405 Umweltkrisen wie das Waldsterben oder die Verschmutzung der deutschen Flüsse machen junge alternative Parteien wie die Grünen stark. Lebensmittelskandale – wie der Flüssigei-Skandal um die schwäbische Nudel-Firma Birkel oder die Entdeckung des Frostschutzmittels Glykol in deutschem und österreichi-
402 403 404 405
Treber u. a. 2016. Oehmke 2014, S. 331. Keber u. a. 2015, S. 66. Bonner/Weiss 2016, S. 204.
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schem Wein – leisten Vorschub für eine Welle von Moden zur bewussten Ernährung. 1989 fällt die Mauer zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands. Der Kalte Krieg ist zunächst an ein Ende gekommen. Deutschland steht für die kommenden Jahrzehnte vor der schwierigen Aufgabe, nicht nur zwei politische Staaten, sondern auch zwei Kulturen miteinander zu vereinigen. Kassetten als politisierte Protestmedien Was der Schnelldurchlauf durch drei Jahrzehnte deutscher Protestgeschichte gezeigt hat: Protest gibt es in den verschiedensten Kontexten, von verschiedensten Seiten und mit diversesten Zielen. Und ebenso unterschiedlich wie sich Protest gestaltet, sind auch die Erscheinungsformen von Kassetten als Protestmedien. Was sie alle eint: Ihr tatsächlicher Einsatz in subversiven Gegenkulturen, revolutionären Sub- oder Protestkulturen war weder von der Industrie beabsichtigt, noch bedacht. Einige Reklame-Anzeigen bringen das Kassettensystem zwar in Zusammenhang mit vermeintlichen Subkulturen wie etwa den Blumenkindern. Sie sind jedoch nichts weiter als kommerziell vermarktete Klischees. In einer Werbeanzeige der Jugendzeitschrift Twen (Abb. 18) vom Sommer 1968 ist beispielsweise ein bunt bemalter Mercedes 190 Ponton zu sehen, einstiges Statussymbol, das damals schon seit einigen Jahren nicht mehr gebaut wird. Auf der Beifahrertür des Retro-Wagens prangt der Hippie-Wahlspruch: »Make Love not War«. Vier junge Männer sitzen, stehen und fläzen auf dem Dach und der Kühlerhaube des Wagens. Einer tanzt um die offene Autotür. Es sind die Mitglieder der deutschen Musikgruppe The Rattles, der damals höchst erfolgreichen »deutschen Beatles«. Jeder der fünf hat ein schickes Kassettenabspielgerät von Philips in der Hand, das in diesem Sommer neu auf den Markt gekommen ist. Im Hintergrund des Bildes ist das Meer zu sehen. Der Schriftzug Cassettophon im Titel der Anzeige ist in typischen Flowerpower-Schriftzeichen verfasst. Gelbe, lila- und orangefarbene Töne, die bevorzugten Farben der Zeit, dominieren die Anzeige, die sich natürlich in keinster Weise an die Hippies als potentielle Käufer richtet. Sie will dem Produkt vielmehr den Anschein von Jugend, Freiheit und Modernität geben. Im Text wird mit dem »modernsten Musikgerät der Welt« geworben. Und das, obwohl die Aufnahmefunktion an diesem Kassettengerät fehlt und es laut Werbung einzig zum Abspielen von kommerziellen Musikkassetten aus dem Philips Sortiment verwendet werden soll. Und zwar für »Pop, Folklore, Musical, Jazz – alles, was fab ist.« Nicht gerade die Art von Musik, auf die Hippies damals für gewöhnlich stehen.
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Abbildung 18: »Rattles Hippie«
Quelle: Archiv Philips
Das demonstriert deutlich die Tatsache, dass subkulturelle Stilelemente häufig schon kurz nach ihrem Auftreten von der Industrie aufgegriffen und als kommerzielle Mode vermarktet werden. Die revolutionäre Komponente verschwindet dabei völlig. »›Revolution‹ und ›Provokation‹ dienten der Werbung als Parolen; das Marketing machte sich bald das Konzept des ›Stils‹ zu eigen und suggerierte Jugendlichen, welche Waren von der Underground-Schallplatte bis zur Punkfrisur sie zu kaufen hatten, um ›authentisch‹ den jeweils neuesten Stil zu
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zeigen.«406 Der britische Medien- und Kulturwissenschaftler John Fiske erläutert diesen Mechanismus auch am Beispiel zerrissener Jeans, die etwa für die Punkoder die linksalternative Szene wichtige Symbole des Widerstands waren: »Manufacturers quickly exploited the popularity of ragged (or old and faded) jeans by producing factory-made tears, or by ›washing‹ or fading jeans in the factory before sale. This process of adopting the signs of resistance incorporates them into the dominant system and thus attempts to rob them of any oppositional meaning.«407
Man kann bei der Betrachtung von Kassettenkultur anhand der gerade beschriebenen Werbeanzeige also feststellen, dass es Tendenzen gab, Kassetten als reine Unterhaltungsmedien zwischen den sechziger und neunziger Jahren kommerziell zu vereinnahmen, was sicherlich – man denke an kommerzielle Musikkassetten und Hörspiele – in Teilen auch gelungen ist. Gleichzeitig – und das werde ich im Folgenden zeigen – haben Kassetten ganz gegen die kommerzielle Absicht von Kassetten- und Geräteherstellern aber auch die Verbreitung einer Gegenkultur in Form feministischer, antikapitalistischer oder umweltschützerischer Botschaften unterstützt. In Kassettenkultur scheint also wie in jeder populären Kultur neben dem Moment des Konsums auch das des Protests auf. Provokateurinnen- und Aktivisten-Kassetten Um gleich mit einem recht amüsanten Beispiel zu beginnen: die Kassetten der »Deutschen Supersau«408 oder »schocklüsternen Hausfrau«409 Helga Goetze. Sie bezeichnet sich selbst als Künstlerin, Schriftstellerin und politische Aktivistin für den Feminismus. Selbst aus einer Ehe mit sieben Kindern ausgebrochen, nimmt sie in ihrem Haus in Hamburg Drogensüchtige und unverheiratete Mütter auf. 1972 gründet sie im Alter von fünfzig Jahren ein Institut für Sexualinformation, später die »Geni(t)ale Universität«. Im Fernsehen löst sie immer wieder Skandale aus, weil sie sich zum Beispiel vor laufender Kamera auszieht. Ab 1982 hält sie beinahe täglich eine Stunde lang Mahnwache mit einem selbstgemalten Pappschild vor der Berliner Gedächtniskirche. »Ficken ist Frieden« ist darauf zu lesen.410 Neben mehr als 3.000 Gedichten, Essays und anderen Zeugnissen ihres Ausbruchs aus dem Hausfrauendasein fertigt sie farbenprächtige Stickbilder mit pornographischen Szenen, Kunstwerke, die heute in der Collection de l'Art Brut in Lausanne zu sehen sind. »Das ist so eine legendäre Figur, die in Berlin obszö406 407 408 409 410
Hügel 2003, S. 41. Fiske 2010, S. 13. Goetze 1973. o.A. 14/1983 Der Spiegel, »Rauhe Töne«, S. 229. Senft 2008, abgerufen am 13.3.2017.
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ne Gedichte verteilt hat an Passanten und vorgelesen hat und sozusagen so eine Sexual-Befreierin oder -Performerin werden wollte, nachdem sie schon über fünfzig war. Das ist also eine typische Kassetten-Frau.«411 Beim Berliner Kassettenlabel Stechapfel wird für 12 Mark 50 eine Kassette von Helga Goetze zum Bestseller.412 Auf dem Kassettencover ist eine grün und pink kolorierte Bleistiftzeichnung zu sehen – vermutlich von Helga Goetze selbst gezeichnet. Sie zeigt eine nackte Frau mit unrasiertem Schamhaar auf einem Holzschlitten. Der Titel der Kassette: »Zottellieses Schlittenfahrt«.413 Der Inhalt: Eine Live-Lesung mit verschiedenen Gedichten, Liedern und Gedanken von Helga Goetze selbst. Sie lässt sich aus über die (sexuellen) Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten der Welt. Das Publikum klatscht, lacht und ist offenbar gut gelaunt: ein Abend mit der Kultfigur, die in keine Schublade so richtig passen will. Im Stechapfel-Katalog von 1983 ist als Werbung zu Helga Goetzes Kassette die Rezension einer Münchner Zeitung zu lesen: »Die Frauenbewegung lehnt sie wegen ihrer Fixierung aufs Ficken ab, die Linken haben noch immer an den Brocken zu knacken, den der kurze, rauschhafte Anspruch ›Sexuelle Befreiung‹ der Studentenbewegung immer noch unverdaut in ihrem Magen hinterließ. – Aber darüber spricht man nicht mehr.«414 Aber man hört davon. Mit der Kassette hat sich neben Flugblättern ein ideales Medium gefunden für die Verbreitung halb exotisch-verrückter, halb künstlerischer, halb politischer Botschaften für ein spezielles Publikum aus dem sogenannten »Underground«. Erhältlich sind Kassetten dieser Art entweder im Direktversand, über Buchläden oder spezielle »Cassetten-Vertriebe«, auf die ich im letzten Kapitel dieser Arbeit noch genauer eingehen werde. Zum Ende der siebziger Jahre gibt es in Deutschland noch wenige Kassettenlabels wie den Berliner Stechapfel-Verlag. Doch es werden ständig mehr. Ihre Blütezeit erleben sie schließlich in den achtziger Jahren. Sie produzieren Musik in Klein- und Kleinstauflagen und geben linken und alternativen Protestgruppen ein Forum. Bei Stechapfel können Provokateurinnen und Aktivisten gegen Geld produzieren, ein Layout und ein Vertriebssystem erstellen lassen. Das Label hat neben Helga Goetze im Jahr 1983 beispielsweise auch eine Kassette des Kabarettisten und ehemaligen APO-Anhängers Wolfgang Neuss im Programm, die er selbst über einige Monate hinweg besprochen hat. Ebenfalls erhältlich ist eine Dokumentation mit Originalaufnahmen aus dem Deutschen Herbst, Lieder und Texte aus der Deutschen Arbeiter-Bewegung unter dem Titel »Sorgenhobel«, 411 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016. 412 o.A. 14/1983 Der Spiegel, S. 232. 413 https://www.discogs.com/Helga-Goetze-Lieder-Gedichte-Zottellieses-Schlittenfahrt/ release/4283229, abgerufen am 2.3.2017. 414 Stechapfel Katalog von 1983, http://subkultur-ost.de, abgerufen am 11.12.2016.
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»Quo vadis Kreuzberg – Eine akustische Reise in den Berliner Häuserkampf« oder eine Kassette mit Mitschnitten von Reden des ermordeten Aktivisten Rudi Dutschke. Im Verlagsprogramm ist aus einem Artikel der taz zitiert: »Rudis Mörder sind unter uns. Die Kräfte der gesellschaftlichen Gegen-Aufklärung und Re-Aktion (auf jede fortschrittliche Bewegung und Regung) sind weiter aktiv. Auch gegen sie geht der Kampf weiter. Gegen die Springerpresse, den Ausbeutungs- und MeinungsTerror der Privat-Eigentümer, gegen die Verdummung von Kanzel und Katheder (schriftlich und im Äther) … .«415
Wer etwas zu sagen hat, das abseits von Mainstream und großer Politik liegt, bedient sich zur Verbreitung seines Protests neben Flugblättern und anderen günstig herzustellenden Printerzeugnissen also ab den ausgehenden siebziger Jahren zunehmend auch ebenso einfach und günstig herzustellender Kassetten. Viel Lärm um die Startbahn West Neben diesen zwar nur in kleiner Auflage, aber dennoch auf offiziellen Wegen erhältlichen subkulturellen Kassetten gibt es auch private WohnzimmerProduktionen, die nur für den Gebrauch innerhalb einer bestimmten, ziemlich klar definierten Protestgruppe gedacht sind, und solche, die Protestler als Medium für die oft schwierige Kommunikation innerhalb und außerhalb ihres Netzwerks benutzen. Ein anschauliches Beispiel hierfür sind die Aktivisten, die monate- und jahrelang gegen den Bau der Startbahn West am Flughafen Frankfurt mobil machen. Im April 1965 gründet der Pfarrer Kurt Oeser in Frankfurt Mörfelden eine Interessengemeinschaft zur Bekämpfung des Fluglärms. Drei Jahre zuvor hat die Betreibergesellschaft des Flughafens Frankfurt die Planung eines neuen Empfangsterminals und einer neuen 4.000 Meter langen Startbahn in Auftrag gegeben. Das Rhein-Main-Gebiet profitiert in den sechziger Jahren besonders stark vom deutschen Wirtschaftswunder. Der große Flughafen, das »Luftdrehkreuz«416 des Aufschwungs, ist überlastet. Im März 1972 wird der neue Terminal eröffnet. Der Bau der Startbahn West verzögert sich dagegen immer wieder, weil über hundert Anfechtungsklagen die Gerichte beschäftigen. Die Menschen haben Angst vor dem Lärm, der mit der neuen Startbahn kommen wird. Außerdem sollen 129 Hektar Wald gerodet werden. Das ruft Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten und Gruppierungen auf den Plan: Umweltschützerinnen, Alternative, Sozialdemokraten,
415 Stechapfel Katalog von 1983, http://subkultur-ost.de, abgerufen am 11.12.2016. 416 Treber u. a. 2016, S. 148.
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Kommunisten und Antifaschisten, Chaoten, Spontis, Frauenrechtlerinnen, aber auch engagierte Christen, Unternehmer, Hausfrauen mit ihren Kindern und Menschen, die den Wald in den Nachkriegsjahren wieder aufgeforstet und damit einen bescheidenen Lebensunterhalt verdient haben – eine »Allianz der Grauhaarigen und Langhaarigen«.417 Dass die Ölkrise zudem für sinkende Passagierzahlen sorgt, ist Wasser auf die Mühlen der Startbahngegnerinnen und -gegner. Zwischen 1978 und 1982 gründen sie mehr als dreißig Bürgerinitiativen. Eine von ihnen errichtet am 3. Mai 1980 in einem Akt zivilen Ungehorsams eine Hütte im Flörsheimer Wald, mitten auf dem Gelände, wo die Startbahn 18 West gebaut werden soll. Am 21. Oktober 1980 fällt der Hessische Verwaltungsgerichtshof nach jahrelanger Juristerei die endgültige Entscheidung für den Bau. Der Widerstand vor Ort spitzt sich zu. Die ersten sieben Hektar Wald werden gefällt. 15.000 Menschen demonstrieren dagegen. Die einzelne Wald-Hütte der Bürgerinitiative entwickelt sich zu einem Hüttendorf mit rund siebzig Hütten, in dem dauerhaft Menschen wohnen. Eine Schreibstube kommt zum Beispiel dazu, in der gelegentlich auch der Schriftsteller Peter Härtling arbeitet, eine Küche, eine Hüttenkirche, wo immer wieder Gottesdienste abgehalten werden, und eine Radiostation: Das freie und eigentlich illegale Radio Luftikus sendet über Funk und auf einer sehr schwachen terrestrischen Frequenz mindestens einmal zur vollen Stunde, um die Bevölkerung im Umland zu informieren. 418 Es wird live aus dem Wald berichtet. Wenn die Polizei im Anmarsch ist oder es zu Auseinandersetzungen zwischen Staatsgewalt und Startbahngegnern kommt, soll das Radio alle alarmieren. Dirk Treber, einer der zeitweiligen Bewohner des Hüttendorfes, erzählt mir in einem Telefonat: »Der Senderadius betrug gerade zwischen fünf und acht Kilometern. Darum haben die das Programm auch auf Kassette mitgeschnitten und dann Kassetten verteilt.« Insgesamt zwei Kassettenmitschnitte von Radio Luftikus existieren noch. Später erscheinen sie beim unabhängigen Münchner Verlag Tricont. Andere kreative Kassettenproduktionen, die quer durch Deutschland verschickt werden, um auch »entlegenere Gebiete der BRD« zu informieren419, sind heute nirgendwo mehr aufzutreiben. Vielleicht wurden sie überspielt, vielleicht sind sie verloren gegangen. Vielleicht sind sie auch schlicht in Vergessenheit geraten, weil sie als Protestmedien nicht mehr gebraucht wurden. »Da war zum Beispiel selbst aufgenommener Fluglärm drauf«, erzählt Dirk Treber. »In allen Varianten. Den haben wir zu unterschiedlichen Anlässen gespielt. Auf 417 Keber u. a. 2015, S. 28. 418 https://www.zum.de/wettbewerbe/sdg99/Lindert/arbeit/dorf4.htm, abgerufen am 13.12.2016. 419 Treber, S. 68.
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Demos zum Beispiel oder Info-Veranstaltungen. Aber erst nach der akuten Blockadezeit.« Die endet im November 1981 mit der gewaltsamen Räumung des Hüttendorfes und wiederum mit einer Kassettengeschichte. Im Morgengrauen des 2. November rücken schwer bewaffnete Polizeieinheiten im Flörsheimer Wald an. Und mit ihnen die Waldarbeiterkolonnen. Der Spiegel berichtet später: »Der Polizei-Angriff auf das Hüttendorf der Startbahn-West-Gegner rollte: Knüppel und Tränengas gegen Steine und Wurfgeschosse. Dann fielen die ersten Bäume.«420 Etwa zwanzig Kilometer weiter nördlich, in den Stadtteilen Nordend und Bockenheim kreischen auch die Motorsägen. Aber sie kommen von Band. »Dort hatten Startbahngegner Kassettenrecorder in die offenen Fenster gestellt. Vom Band schallte, lange vorher präpariert, das Gekreisch von Sägen: akustisches Memento an einen politischen Kampf.«421 Subversive und staatsfeindliche Kassetten in den Ländern des Ostblocks Kassetten lassen sich jedoch nicht nur als schnelle Kommunikationsmedien innerhalb von demokratischem Protest und Widerstand wie im Falle der Auseinandersetzungen um die Startbahn West nutzen, sondern auch, um ganz gezielt autoritäre und totalitäre Strukturen zu unterlaufen. Werfen wir zum Beispiel einen Blick über die Mauer, die zwischen 1961 und 1989 Ost- und Westdeutschland voneinander trennt: Die Kontrolle von Medien, Information und Unterhaltung ist ein wirksames machtpolitisches Werkzeug. Das wissen nicht nur die sozialistischen Parteibonzen der DDR, das wussten schon die Monarchen zu Zeiten von Thomas Edison oder Valdemar Poulsen. Erinnern wir uns: Fast jeder Erfinder, der sich mit Aufnahme-, Speicher- und Reproduktionstechnologien von Tönen auseinandersetzte, durfte die neuen Gerätschaften früher oder später den Obrigkeiten vorführen, also Fürsten, Königen oder Kaisern. Die Regenten der damaligen Zeit hatten großes Interesse daran, ihren Einfluss und ihre Macht durch das gesprochene Wort, das jetzt auch ohne persönliche Anwesenheit vermittelt werden konnte, bis in den letzten Winkel ihrer Herrschaftsbereiche vordringen zu lassen. »The new sound media represented an opportunity for cultural integration and the consolidation of authority. The pope can more easily get messages out to his followers; the word of kings can now be heard at the edge of the state. In fact, this model seems to cut across 420 o.A. 14/1983 Der Spiegel, S. 229. 421 Ebd.
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mass media as one possible understanding of the ways in which a medium can intergate a nation or some other large collectivity.«422
In totalitären Strukturen, wie sie im Ostblock Realität waren, kann also keine Vervielfältigungs-, Publikations-, Presse- oder Medienfreiheit herrschen. Produktionsmittel sind und bleiben Machtmittel. In der DDR hat nur der Staatliche Rundfunk offizielle Sendeerlaubnis, und Schallplatten können bis zur Wende ausschließlich bei staatlichen Plattenlabels wie Amiga produziert werden. Dort regiert aus ästhetischen Ressentiments heraus, aus Mangel an ökonomischen Ressourcen und politischem Verdikt die Zensur und damit ein schmales, wenig vielfältiges offizielles Angebot. Rock aus den USA oder Großbritannien, Flower Power, Punk, die Neue Deutsche Welle und damit ganze Musikzweige finden nur sporadisch und politisch widerwillig geduldet auf der Jugendwelle DT 64 statt. Doch die Menschen wissen sich zu helfen. Sie benutzen Kassetten, um das kulturelle Vakuum der offiziellen Ost-Medien-Landschaft mit etwas mehr Vielfalt und Leben zu füllen. Sie entwickeln die verschiedensten Strategien, die fast immer mit Kassetten zu tun haben, erzählt Frank Apunkt Schneider, der für sein Buch Als die Welt noch unterging über Punk und die Neue Deutsche Welle423 zahllose Interviews mit Kassettenaktivisten in der DDR geführt hat. »Es kamen Platten natürlich über inoffizielle Kanäle rein. Und es gab so LesezirkelModelle. Also, zum Teil hat man die sich einfach auf Kassette überspielt und die Platte dann weitergegeben. Und die ist dann durch die gesamte DDR zirkuliert. Man hat das so gemacht und hat dafür dann auch andere Platten bekommen. Deswegen waren die Leute zum Teil ganz gut informiert und hatten doch ziemlich vieles.«424
In der Sendung Duett – Musik für den Rekorder spielt der Sender DT 64 außerdem ganze Langspielplatten – auch aus dem Westen – ohne Unterbrechung, damit die HörerInnen auf Kassette mitschneiden können. Nach dem gleichen Prinzip verfährt sonntagabends die Sendung Hit-Globus mit Charts aus aller Welt oder Parocktikum am Samstag zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht. Der »Wessi« Frank Apunkt Schneider erinnert sich an ein persönliches Erlebnis aus den achtziger Jahren: »Als ich als Zivi im Altenheim nachts das Radio angedreht hatte. Und dann kam da Culturcide. Die kannte ich damals natürlich nicht. Aber das ist so eine Industrial-Band, die eine Platte gemacht hat, wo sie quasi bekannte Hitparaden-Titel ihrer Zeit nehmen, also Bruce Springsteen und so, und einfach nochmal drübersingen, also andere Texte und einfach noch ein bisschen Krach dazu machen. Das hört sich natürlich total bizarr an. Und 422 Sterne 2003, S. 206. 423 Schneider 2008. 424 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016.
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ich dreh das Radio damals an. Und dann kommt das. Und es läuft die komplette Platte durch. Und ich denke: Was ist denn das für ein Sender? Und dann kommen plötzlich Nachrichten der DDR. Ich dachte irgendwie: Hä? Was ist denn jetzt passiert? In keinem Radio der Welt kannst Du sowas spielen in den achtziger Jahren, so eine subversive, bescheuerte, gegen jegliche Regeln aufgenommene Platte. Aber das lief dort. Und ganz klar mit dem Hintergedanken: Wir spielen die komplett aus, damit man sich die aufnehmen kann.«425
Auch der West-Radiosender RIAS Berlin spielt bewusst Platten und Kassetten, damit sie auf der anderen Seite der Mauer aufgenommen werden können. So kommen zur Zeit der Neuen Deutschen Welle zum Beispiel Songs von kleinen Punkbands aus dem Westen in den Osten und verbreiten sich dort zum Teil sogar noch weiter und mit ganz anderen Auswirkungen als in ihrem Herkunftsland. »Zum Beispiel Müllstation, eine DDR-Punkband, covert auf einer Kassette, die sie rausgebracht haben, ein Stück der West-Gruppe Co-mix, die auch nur Kassetten rausgebracht haben. Wo man sich dann echt fragt: Wie kommt denn dieses Stück da hin? In die DDR? Also, solche komischen Sachen gibt es auch.«426
In der DDR und vielen anderen Ostblockländern wie der Tschechoslowakei oder Ungarn sind Kassetten in den siebziger und achtziger Jahren darum die wichtigsten nicht-staatlichen Medien, das Medium der Gegenöffentlichkeit sozusagen, dessen Produktion vom ersten bis zum letzten Schritt ohne offizielle Beteiligung stattfinden kann. »Mitte der siebziger und Anfang der achtziger Jahre ging es in erster Linie um das Kopieren und Weiterreichen von Mitschnitten verbotener Veranstaltungen und unveröffentlichter Texte von Seiten des Staates ungeliebter Literaten.«427 In der DDR kursieren beispielsweise von einem sehr beliebten Live-Mitschnitt eines Wolf-Biermann-Konzerts in Köln zig illegale Kopien. Auf dem Einsteckblatt der Kassette steht nur ein kryptisches WB, Nr. 13. Auch andere Kassetten- und Tonband-Kopien von Biermann-Alben gehören zur »heißen Ware«. Wie viele illegal kopierte Exemplare tatsächlich in Umlauf waren, kann man nur schätzen oder auch ab-schätzen an der akustischen »Abnutzung« des Originals, wie sich der Liedermacher selbst sich in seiner Autobiographie erinnert: »Beim analogen Kopieren eines Tonbandes verdoppelt sich jedes Mal das Grundrauschen der Aufnahme. Es kursierten im Osten kopierte Kopien von Kopien, bei denen das Rauschen so laut wurde, dass das Lied selbst nur noch mühsam zu erlauschen war. Nervig? Gewiss – aber eine brisante Information: Du, der du jetzt die Fenster zum Hof geschlossen 425 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016. 426 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016. 427 Binas , S. 456.
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hast und leise in deinem Zimmer dieses verbotene Lied hörst, bist nicht so einsam auf verlorenem Posten, wie du denkst. Tausende Menschen wie du kennen genau diese Töne und Worte auch.«428
Rund zwanzig Jahre später, im Jahr 1987, treten die Toten Hosen zum ersten Mal im Ostblock auf. In der tschechoslowakischen Stadt Pilsen findet das OlofPalme-Friedensfestival statt. Obwohl es die Platten der Band nirgends offiziell zu kaufen gibt, kursieren sie überall als Kassetten-Kopien. Die Band ist landauf landab bestens bekannt. In der Biographie der Toten Hosen erinnert eine Passage über den Jungjournalisten und Fan Alexej an diese Zeit: »Die kopierte Kassette ihres aktuellen Albums Damenwahl besaß so ziemlich jeder, den Alexej kannte. […] Auf den illegalen Plattenbörsen machten sie immer noch Razzien, alle drei Monate ungefähr, dann musste man weglaufen, aber es war weniger geworden, fand Alexej. Es gab dort eigentlich nur überspielte Kassetten. Alexej hatte sich The Stranglers, Talking Heads, The Clash, 999 und vieles andere besorgt, was in Prag im Jahr 1987 nicht Punk heißen durfte, sondern nur ›Neue Welle‹.«429
Auch in Russland blüht Jahrzehnte lang eine ähnliche Kassettenkultur: Zum Beispiel werden unveröffentlichte, weil von der Staatszensur nicht genehmigte Aufnahmen des unbequemen Dichters und Sängers Wladimir Semjonowitsch Wyssozki zu Hunderten weitergereicht. 430 Nebenbei blüht auch der Handel mit illegalen Pressungen von Westmusik-Alben auf Röntgenbildern. Nach dem Krieg gibt es in allen Krankenhäusern reichlich Material, das günstig zu haben ist. »Dort lagerten Tausende alter Röntgenbilder, für die niemand Verwendung hatte. Bilder gebrochener Hände und Füße, Rippen, Schädelhöhlen und Hüftknochen – kiloweise nicht mehr gebrauchtes Filmmaterial.«431 Im Untergrund werden auf diese Bilder, die niemand mehr braucht und auch niemand vermisst, Songs aller Art gepresst. So entstehen unbeschriftete Flexidiscs mit geschmuggelter Rock- und Jazzmusik aus dem Westen, sogenannter »Rock auf Knochen«.432 Samisdat und Magnetisdat In der DDR presst man keine Untergrund-Platten. Anders als in der Sowjetunion gibt es kaum Aktivisten mit eigenen Pressen. Für eigene Musikexperimente ist darum die Kassette praktisch der einzige Tonträger. »Alles, was in der DDR an 428 429 430 431 432
Biermann 2016, S. 233. Oehmke 2014, S. 317. Ebd. Seethaler 2001. Seethaler 2001.
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Aufnahmen gemacht wurde bis ein oder zwei Jahre vor dem Mauerfall, wo dann die ersten Underground-Platten offiziell gemacht werden durften, war auf Kassette.«433 Punker oder andere alternative Gruppen sind in den Augen des Staates »negativ-dekadente« Jugendliche, »deren Einstellungen konträr zu den proklamierten sozialistischen Werten standen. Man schätzte sie als Gefahr für die politische Ordnung ein, die es einzudämmen galt.«434 Für sie und andere politisch missliebige Musiker, Tonkünstler oder Literaten gibt es keine Möglichkeit, offiziell Tonaufnahmen herzustellen oder zu verbreiten. Ein Plattenvertrag mit einem Staatslabel wie Amiga wäre für beide Seiten aus ideologischen Gründen unmöglich. »Und da bot sich natürlich die Kassette als Verbreitungs- und Produktionsmedium noch viel mehr an als hierzulande. Das war eigentlich ein sehr subversiver Verbreitungsträger von Informationen, von Musik aller Art. Das spielte dort im Untergrund eine ganz große Rolle, wie in den meisten Ostblockstaaten.«435 All dies geschieht immer im Bewusstsein, dass für nicht genehmigte Druckoder Tonerzeugnisse, die an der Zensur vorbei geschmuggelt werden, drakonische Strafen verhängt werden können. Samisdat, wie sich das selbständige Verfassen von Druckerzeugnissen nennt, was auch das Kopieren von Gedrucktem über Wachsmatrizen, Photokopiergeräte oder das Abschreiben beinhaltet, ist für die Aktivisten hochgradig gefährlich. In der DDR drohen zum Beispiel fünf bis zehn Jahre Gefängnis,436 in der Sowjetunion Lagerhaft, Schulausschluss oder Ausweisung. Die Verfasser illegaler Flugblätter oder literarischer Periodika landen reihenweise hinter Gittern. Kopiergeräte werden »von der SED gehütet […] wie Schußwaffen«.437 Nur staatliche Behörden, Schulen oder Kirchengemeinden dürfen Kopierer besitzen. »Und du durftest nicht kopieren ohne Genehmigung. Für die Photokopierer musstest du Anträge ausfüllen, um da überhaupt ranzudürfen. Aber es gab zum Beispiel in der Kirche oft irgendwelche Leute, die gesagt haben: Okay. Mach.«438 Tragen Samisdat-Zeitschriften den Vermerk einer Kirchengemeinde »Nur für den innerkirchlichen Gebrauch«, ist das Risiko, politisch verfolgt zu werden, zwar etwas kleiner, als wenn selbst gedruckt wird. Samisdat ist und bleibt jedoch ein hoch gefährliches Unterfangen. Etwas weniger riskant und darum häufig eine Alternative zum Samidat ist Magnetisdat, das Herstellen illegaler Tonaufnahmen. Die Bezeichnung setzt sich zusammen aus Magnitofon, dem russischen Wort für Kassettenrekorder oder 433 434 435 436 437 438
Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016. Schmidt 2013, S. 472. Interview mit Alfred Hilsberg vom 16.1.2016. Schmidt 2013, S. 476. Schmidt 2013, S. 473. Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016.
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Tonbandgerät und dem Wort für Verlag: Isdatelstwo. Zusammengesetzt bedeutet es wohl in etwa so viel wie »Selbstverlag für Tonbandaufnahmen.« Ab Mitte der achtziger Jahre werden immer mehr private Vierspur-Kassettenrekorder legal aus dem Westen eingeführt. Sie bilden die technische Infrastruktur zum Homerecording und damit zur Produktion von Kassetten.439 Kassetten heraus- und unters Volk zu bringen, ist vor allem in der DDR dabei nicht ganz so riskant, wie Gedrucktes zu verbreiten, denn anders als beim Thema Photokopiergeräte oder Druckerpressen ist es überall erlaubt, einen Kassettenrekorder zu besitzen und für private Zwecke zu benützen. Kassetten sind also von Seiten des Staates viel schwieriger zu kontrollieren als Druckerzeugnisse. Darüber hinaus stellt sich – wie im Kapitel über die GEMA-Streitereien bereits angerissen – auch hier die Frage: Was ist privat, was ist öffentlich? Was ist bloß unerwünscht, was ist wirklich ein Verstoß gegen das Gesetz und damit strafbar? Zwar sind etliche Stasi-Spitzel bis zum Ende der achtziger Jahre im Einsatz, um die Kassettenszene der DDR auf staatsfeindliche Umtriebe hin zu durchleuchten, aber aufgrund der unübersichtlichen Lage kommt es selten zur Verfolgung einzelner Kassettentäter. »Es mag sicher sein, dass auch mal jemand Ärger deswegen bekommen hat. Aber im Prinzip wurde das ja alles kleinklein gemacht. Auch in Heimarbeit. Oft waren die Cover dann nicht photokopierte, sondern gesiebdruckte Sachen. Oder geklebte. Oder was halt grad ging. Das ist wirklich eine dezidierte Kassetten-Szene gewesen.«440
Selbstgemachte Kassetten trudeln Monat für Monat auch dutzendfach bei DT 64, dem bereits erwähnten Jugendprogramm des Deutschen Demokratischen Staatsrundfunks, ein. Das Ziel ist, vom DJ und Moderator Lutz Schramm im Parocktikum gespielt zu werden, wo neben internationalen Musikern auch bekannte und unbekannte DDR-Künstler eine Plattform finden können. Ihre Musik spielt Lutz Schramm direkt von Kassetten, die per Post von überallher in die Redaktion geschickt werden: »... ich hab halt auch, wenn ich Kassetten bekommen habe, nie darüber nachgedacht, hat das jetzt die Band geschickt, weil sie gespielt werden will, hat mir das ein Fan geschickt, weil er möchte, daß seine Gruppe gespielt wird oder hat mir das jemand geschickt, damit ich diese Musik höre. Aber wenn dagestanden hätte: spiel das nicht!, hätte ich natürlich auch nichts davon im Radio gespielt, das ist klar. Natürlich ist da auch ein bißchen Nervenkitzel dabei.«441
439 Binas 2013, S. 469. 440 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016. 441 Schramm, zitiert in: Galenza 2013, S. 561.
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Die Sendung wird zwar beobachtet. Aber man lässt den Moderator weitgehend gewähren und gewährt der DDR-Jugend stillschweigend ein kleines Stückchen kontrollierte Freiheit für die Nischenkultur: Punk, Avantgarde, Geräuschexperimente – die Staatssicherheit drückt ein Auge zu, vorausgesetzt, die Texte der Songs lassen sich nicht als dezidiert systemfeindlich einstufen, sonst werden die Musiker bei den Behörden vorgeladen. Kassettentäter Frank Apunkt Schneider erinnert sich an ein Gespräch mit dem Sänger von AG Geige, der damals bekanntesten Underground-Kassettenband der DDR: »Der meinte: Es gab schon Versuche, uns bei unseren Texten einen Strick draus zu drehen. Und einzelne Textstellen wurden als systemfeindlich herausgezoomt. Aber wir konnten mit unseren Texten auch immer das Gegenteil beweisen, nämlich, dass wir fest auf dem Boden der sozialistischen Tatsachen stehen. Wir haben so formuliert, dass es immer ganz absurde Texte waren. Also wirklich surrealistisch und dadaistisch. Die Texte waren einfach so merkwürdig offen, dass man alles Mögliche herauslesen konnte. Und genau: Er hat noch erzählt, bei der Einstufung haben sie angegeben, sie spielen für Studenten, nicht und niemals für Arbeiter. Das war, meinte er, die entscheidende und richtige Antwort, weil, okay, Studenten, das hat irgendwas mit Kunst zu tun.«442
Dank der Kassette und der vielfältigen Möglichkeiten, die der Umgang mit ihr eröffnet, blüht also neben der offiziellen Einheitskultur des Ostblocks an den Rändern auch eine bunte, bisweilen subversive Nischenkultur, die manchmal sogar den Weg durch den Eisernen Vorhang und wieder zurück findet. Sei es in Form von kreativen Eigenproduktionen, die über die Grenzen geschmuggelt und dort gehört werden, sei es in Form von Demobändern für westliche Plattenfirmen, sei es in Form von literarischen Texten, die nie gedruckt, aber auf Kassette gesprochen und durch die Republik geschickt werden. Oder sei es in Form von halb legalen oder illegalen Konzert- beziehungsweise Radiomitschnitten. Kassetten sind ein Weg nach draußen und holen die Welt nach innen. Kassetten helfen den Randgruppen, in Kontakt zu bleiben. Sie sind die Einzigen, die den Ostblock ohne Visum verlassen und betreten können. Denn wer sollte sie daran hindern? Kassetten sind nicht grundsätzlich verboten. Welcher Grenzbeamte wollte sich also hinsetzen und täglich mehrere bespielte Leerkassetten à neunzig Minuten durchhören? Und wer wollte dann darüber entscheiden, ob das Gehörte – wenn es überhaupt etwas zu hören gibt – gut oder böse sei? Kassetten sind subversiv, immer wieder für eine Überraschung gut und hoch mobil.
442 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016.
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3.3 »ALWAYS ON THE RUN« 443: MOBILITÄT ALS KENNZEICHEN EINES MODERNEN LEBENSSTILS Überhaupt ist Mobilität das gesellschaftliche Zauberwort der Kassettenära. Schauen wir uns ihre Ursprünge etwas genauer an, verlassen wir die Welt jenseits der deutsch-deutschen Mauer und kehren zurück in den Westen, in die Zeit direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis zum Ende der vierziger Jahre liegt Westdeutschland dort in einer Art psychischer »Schockstarre«. Es geht darum, die Heimat für ein paar Pfennige Stundenlohn zu enttrümmern, das Leben auf den Stand zu bringen, den es vor dem Krieg hatte, und die häusliche Sicherheit wieder herzustellen. Dem Ideal vom »trauten Heim, Glück allein« möglichst nahe zu kommen, ist vor allem für viele Frauen die zentrale Alltagsaufgabe. An Ausgehen, Ausflüge oder Spazierfahrten braucht man bis auf weiteres nicht zu denken. Das beginnt erst einige Jahre später. So lange ist Dreh- und Angelpunkt des gemeinsamen Familienlebens zunächst nicht die große weite Welt, sondern das heimische Wohnzimmer. Trotzdem möchte man natürlich nicht reaktionär erscheinen, sondern mit dem eigenen Lebensstil den Aufbruch in ein neues und modernes Zeitalter signalisieren. Als die Geldsorgen allmählich nachlassen, schaffen sich viele darum für ihre »gute Stube« auch einen Fernseher oder eine Musiktruhe an. Dort ist neben einem Radiogerät, das seit den dreißiger Jahren zur Standard-Einrichtung der deutschen Haushalte gehört,444 meist auch ein Schallplattenspieler mit automatischem Plattenwechsler, gelegentlich sogar ein Tonbandgerät eingebaut. Tragbare Geräte erweitern den Hörradius Dass Audio-Geräte neben dem Wohnzimmer erfolgreich auch andere Räume des »trauten Heims« erobern können, beginnt mit der Entwicklung tragbarer Radiogeräte. Sie sind die Vorboten für einen beginnenden Umschwung in Europa: Die Schockstarre der Nachkriegsjahre scheint sich langsam zu lösen. Die Menschen werden im Ganzen wieder flexibler und – damit einhergehend – wieder mobiler. Grundlegend für tragbare Audio-Geräte ist zunächst einmal deren technische Verkleinerung gegenüber fest verbauten Modellen: geringere Größe und geringeres Gewicht. Ein Henkel, Bügel oder Koffer zum besseren Transport ist notwendig. Außerdem sollte das Gerät unabhängig vom Stromnetz, also mit Batterie, betrieben werden können. Weil Batterien immens teuer und immens schwer sind, ist auch ein niedriger Stromverbrauch für ein audio-portable wichtig. 443 Musiktitel von Lenny Kravitz, auf: Mama Said, Virgin Records 1991. 444 Vgl. Bijsterveld/Dijck 2009, S. 70: 1953 besitzen 80 Prozent der Haushalte ein eigenes Radio.
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Bereits Ende 1949 kommt das erste von Grundig fabrizierte Kofferradio auf den Markt. 1950 gehen tragbare Radiogeräte in Massenproduktion. Wenig später bietet Philips zum Beispiel die Nanette als »kleinstes UKW-Gerät der Welt« an. Die Rosette ist ein noch winzigeres Radiogerät und kaum größer als ein Stück Butter heute.445 Die miniaturisierten Geräte sind enorm erfolgreich: 1966 besitzt ein Drittel aller westdeutschen Haushalte mindestens ein tragbares Radiogerät. Nur fünf Jahre später ist es schon mehr als die Hälfte.446 Im Kielwasser von Mini- und Kofferradios verkaufen sich auch einfache, tragbare Kofferplattenspieler gut. Seit 1962/63 sind sie bereits für unter hundert Mark zu haben. Allerdings müssen die meisten noch an den Verstärker des Radios angeschlossen werden. Ende der sechziger Jahre gibt es dann Geräte für unter zweihundert Mark mit eigenen Lautsprechern, zum Beispiel den nur etwa vier Kilo schweren Party Hit der Marke Telefunken für 165 Mark. »Dieser Typus erweiterte den möglichen Hörradius beträchtlich. Nicht der bestmögliche Klang, sondern die allgegenwärtige Möglichkeit des Musikkonsums war das entscheidende Charakteristikum der Koffergeräte.«447 Dasselbe gilt auch für den Philips Taschenrecorder, als er 1963 auf den Markt kommt. Die Klangqualität ist vor allem aufgrund des kleinen Frequenzbereichs und der schlechten Bänder – im Vergleich zu Tonband oder Schallplatte – zunächst bescheiden. Sein geringes Gewicht von unter zwei Kilo dagegen, die handlichen Ausmaße, der Batteriebetrieb, seine Mobilität und Tragbarkeit machen ihn attraktiv. Er kann mühelos von einem Zimmer ins andere und sogar nach draußen getragen werden. Anders als das schwere unhandliche Tonbandgerät, das in der Regel einen festen Platz in Hobbyraum oder Wohnzimmerregal besetzt und nur im Notfall wegbewegt wird,448 kann ein einzelner Kassettenrekorder sowohl im Kinder- oder Jugendzimmer als auch in der Küche oder im Garten eingesetzt werden. Wenn keine Steckdosen vorhanden sind, kann das Gerät mit Batterie betrieben werden, ansonsten mit einem dazugehörenden Netzteil. »Portable devices were also used as stationary devices were, as users set up their portable sets at home to expand their domestic listening radius, and most West German portable radios operated both a battery and a fixed power supply.«449 Schon das erste Modell des Philips Taschenrekorders ist darum für mobilen Betrieb und gleichzeitig auch für den Netzbetrieb geeignet. Von Anfang an 445 Maße Nanette: 105mm x 75mm x 30mm, Rosette: 69mm x 101mm x 30 mm, aus: Philips PM April 1964 zur Hannover Messe Halle II, Stand 12, Quelle: Archiv Philips. 446 Weber 2008, S. 237. 447 Röther 2012, S. 276. 448 Bijsterveld/Jacobs 2009, S. 36. 449 Weber 2009, S. 73.
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ist ein zusätzliches Netzteil lieferbar. Spätere Modelle werden sogar serienmäßig mit Netzteil geliefert. Der moderne Mensch und sein fahrbarer Untersatz Ab den fünfziger Jahren werden Audio-Geräte aber nicht nur innerhalb der Wohnräume mobiler. Sie erobern in der Folge auch Naturräume. 450 Die Menschen unternehmen Fahrten ins Grüne, veranstalten Picknicks im Freien, radeln in die Badeanstalten oder in den Wald. Von einem portablen Musikgerät begleitet zu sein, gilt dabei als schick und modern. Die Hersteller von tragbaren Audio-Geräten vermarkten ihre Waren darum zunächst als zusätzliche Ausrüstung für Freizeitaktivitäten an der frischen Luft. Kofferradios werden anfangs nur in den Sommermonaten zum Verkauf angeboten und beworben, wenn es die Menschen ohnehin nach draußen zieht 451. »Die mobilen Geräte wurden so als fester Bestandteil eines lebensfrohen, dynamischen Lebensstils gekennzeichnet. Nicht das kultivierte Konzerterlebnis wurde versprochen, sondern Tanzmusik und lockere Partystimmung sollten […] die Freizeit ihrer Nutzer bereichern.«452 Mit den tragbaren Begleitern wird allüberall »outdoor« lautstark gedudelt und geknistert, so lange, bis die noch etwas leistungsschwachen Batterien eine Pause brauchen oder eben leer sind. Die damit einhergehende Veränderung der natürlichen akustischen Umgebung bleibt nicht unbemerkt. Außenstehende beginnt der Lärm, der ihnen von überallher und immerzu entgegen tönt, zur Verzweiflung zu treiben. Die Zeitschrift Funkschau bemängelt schon 1954 zum Beispiel, dass offenbar viele Menschen nicht mehr auf den Gebrauch des Radios verzichten könnten und Geräusche der Natur von der Dauerberieselung durch die Radioapparate überdeckt würden. Statt dessen sollten die Leser doch »auch einmal still und andächtig dem Vogelgezwitscher am Morgen, dem Rauschen der Bäume, dem Plätschern der Wellen zuhören.«453 Auch eine Anekdote aus der Biographie von Max Grundig zeigt dies auf sehr amüsante Weise: Eduard Rhein, der Schriftsteller und Gründungschefredakteur der Fernsehzeitschrift Hörzu, und Max Grundig hatten sich Mitte der fünfziger Jahre bei einem Urlaub an der französischen Riviera kennengelernt. Rhein hatte vom Geräte-Tycoon Grundig zum Abschied ein »bildhübsches, lustig zwitscherndes Kofferradio« bekommen. »Wie konnte ich ahnen«, erinnert er sich über dreißig Jahre später, »daß er mir mit dieser gut gemeinten Geste ein Da450 451 452 453
Röther 2012, S. 285. Weber 2009, S. 73. Röther 2012, S. 489. Zitiert nach: Weber 2008, S. 99.
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naergeschenk hinterlassen hatte! Es musizierte so sauber und so lustig, daß meine Feriengäste es vom frühen Morgen bis in die azurblauen Sommernächte zwitschern ließen. Aber ich las damals gerade die 500 Umbruchseiten meines Romans ›Wie ein Sturmwind‹. Kein Wunder, daß mich nun diese reizende Musik des noch reizenderen Köfferchens langsam zur Verzweiflung brachte.«454 In einer unbeobachteten Minute wirft Rhein das Gerät in den Swimming Pool des Hotels. Doch am nächsten Tag wird es vom Rest der Gesellschaft aus dem Becken gefischt, die Rückwand abgeschraubt, das Wasser ausgeschüttet und das Innenleben getrocknet. »Und nachmittags gegen fünf drang es dann wieder frisch und frech zu mir herauf. Wie es mir schien, noch frecher und lauter als vor dem nächtlichen Vollbad.« Mit dem Kassettenrekorder nimmt die Veränderung der natürlichen Soundscape durch Musik weiter zu. Die Musik, die die Umwelt beschallt, wird noch vielfältiger, besonders dann, wenn sich viele Menschen am selben Platz zur Freizeitgestaltung befinden, in Parks zum Beispiel oder auch in öffentlichen Schwimmanlagen: »Elvis Presley schluchzt von links, Willi Schneider schmalzt von rechts, und Heintje knödelt in den höchsten Tönen – […] Geräuschkulisse in der Badeanstalt.«455 Autoradio und Autokassettenrekorder Wer in den fünfziger Jahren auf der Höhe der Zeit, mobil und modern sein will, schafft sich nun einen fahrbaren Untersatz an. 456 Während die Deutschen zu Anfang des Jahrzehnts vorwiegend noch mit Fahrrädern, Motorrollern, dem Messerschmitt Kabinenroller oder dem Goggomobil unterwegs sind, explodieren Mitte der Fünfziger die Absatzzahlen von Automobilen aller Art: »Ein VW war seinerzeit in acht Tagen lieferbar, zum stolzen Preis von 5.300 Mark.«457 Billiger ist mit etwa 3.300 Mark der Lloyd LP 300 mit Hartholzgerippe und Sperrholzkarosserie, der sogenannte »Leukoplastbomber«.458 In den späten Fünfzigern sind verchromte, möglichst amerikanisch daher rollende Schlitten angesagt, wie der Opel Kapitän, die Isabella von Borgward oder der Ford Taunus.459 Sie sind zu neuen Statussymbolen und zum Ausdruck von Wohlstand und Mobilität geworden. 454 455 456 457 458
Bronnenmeyer/Grundig 1999, S. 88. Weber 2007, S. 151. Röther 2012, S. 291. Jung 2006, S. 98. http://www.wirtschaftswundermuseum.de/autowerbung-50er-1.html, abgerufen am 19.12.2016. 459 http://www.wirtschaftswundermuseum.de/autowerbung-50er-1.html, abgerufen am 19.12.2016.
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Ende der Fünfziger fahren schon fünf Millionen Autos auf Deutschlands Straßen. 1959 bekommt die Stadt Hannover das Prädikat der »ersten autogerechten Stadt Deutschlands«.460 Auf mehrspurigen Straßen wird der »moderne motorisierte« Verkehr reibungslos durch das Zentrum gelenkt. Zehn Jahre später, Ende der sechziger Jahre, hat sich die Zahl der Fahrzeuge weiter verdreifacht. Die Zulassungsstellen zählen rund fünfzehn Millionen private PKW. Dabei gibt es gerade einmal 4110 Kilometer Autobahn in der BRD.461 In Städten, die sich nicht wie Hannover rechtzeitig um ein funktionierendes Straßenbaukonzept gekümmert haben, bricht regelmäßig der Verkehr zusammen und verstopft die Straßen in den Zentren.462 Und dennoch fährt der moderne Mensch oder der, der sich dafür hält, überallhin mit dem Auto. Der Markt ruft also nach Unterhaltungselektronik, die zu dieser wachsenden Motorisierung der Gesellschaft passt und sie unterstützt. »Mobile technologies that addressed the aural rather than the visual sense came to be seen as the perfect companions for people on the move.«463 Aus Sicherheitsgründen und um längeres Stehen im Stau zu überbrücken, empfehlen die Hersteller von Radiogeräten wie Philips zum Beispiel den Einbau eines Autoradios: »Mit Autoradio fährt es sich besser. Wetterberichte, Straßenzustandsmeldungen und andere interessante Informationen werden in steigendem Maß zur Unterrichtung der Autofahrer vom Rundfunk verbreitet. Rechtzeitiges Wissen erspart manchen Ärger und das Autoradio ist eine sichere Informationsquelle.«464 Philips stattet 1963 eine mobile Produktreihe, die sogenannten »Autokoffer« namens Colette und Dorette, mit einer automatischen Frequenzkontrolle für den UKW-Bereich aus, damit die Sender leichter eingestellt werden können. Um störende Schwankungen der Versorgungsspannung im Auto zu überbrücken, haben Colette und Dorette eigene Stabilisierungszellen für konstante Spannung. Und natürlich eine Halterung für den Betrieb während der Autofahrt.465 Als 1963 der neue Taschen-Recorder von Philips auf den Markt kommt und ein Jahr später auch ans Autoradio angeschlossen werden oder mittels einer solchen Halterung ins Auto eingebaut werden kann, ist auch er geeignet für den bequemen Gebrauch beim Autofahren (Abb. 19). Musikkassetten mit kuriosen Titeln wie »Autofahrer-Cocktail« gibt es gleich passend dazu. Interessanterweise 460 o.A. 23/1959 Der Spiegel »Das Wunder von Hannover«, S. 57. 461 https://www.zahlenbilder.de/Infografiken/Kategorie/Deutschland%7C Wirtschaft%7CVerkehr%7CStra%DFernverkehr/Bestand-an-Kraftfahrzeugen-inDeutschland_3084.html, abgerufen am 8.8.2017. 462 Trischler/Dienel 1997, S. 28. 463 Weber 2009, S. 69. 464 PM August 1965, Quelle: Archiv Philips. 465 PM 78/64, April 1964, Quelle: Archiv Philips.
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ist auf dem Cover einer sehr frühen MC mit Latinomusik für Autofahrer eine junge, modisch gekleidete Frau hinter einem riesigen Lenkrad zu sehen. Offenbar hält man diese Kombination für den Inbegriff modernen Denkens! Abbildung 19: »Autohalterung«
Quelle: Archiv Philips
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Das Auto wird in der Folgezeit mehr und mehr zum »Musikzimmer auf Rädern«466, sozusagen zur mobilen Erweiterung der eigenen vier Wände. Führende Musikfachblätter wie die KlangBild wollen im Auto gar einen noch besseren Ort für Audio-Erlebnisse ausmachen als im heimischen Wohnzimmer. Zum einen, weil man Musik ungestört und in beliebiger Lautstärke hören kann, zum anderen, weil das Auto zu einem »personalisierten, von der Familie wie von der Umwelt abgekapselten Raum« wird, »den der Fahrer musikalisch ganz nach eigener Lust und Laune gestalten kann.«467 Und schließlich, weil auch Radios und Kassettengeräte bald eine durchaus akzeptable Klangqualität erreichen. 1969 ist diese Entwicklung auf einem ersten Höhepunkt angekommen, als Kassetten im Auto stereo abgespielt werden können und damit endlich auch für einen erleseneren Musikgeschmack in Frage kommen. In einer Anzeige aus dem Sommer desselben Jahres bewirbt Philips eine Stereo-Radio-KassettenKombination und ein Stereo-Kassettengerät für das Auto mit offenbar neuen Adressaten. Erstmals ist auf dem Werbephoto ein offenbar gut situiertes, britisch-distinguiertes Paar im Auto zu sehen: Der Fahrer trägt Lederhandschuhe, Rollkragenpullover, Jackett und eine Sonnenbrille, seine Beifahrerin Schmuck, einen Mantel und ein geknotetes Halstuch. Darunter steht zu lesen: »Dieses neue Klangerlebnis fasziniert jeden, und es paßt auch zu Ihnen. Musik nach Wunsch, die Freude macht und munter hält. Sie sind ›mittendrin‹. Die Musik klingt nicht mehr ›flach‹. Sondern wirklich in Stereo. Ein hinreißender Sound.« Die Firma sieht sich mit ihren mobilen Stereo-Kassettenradios nun offenbar im oberen Segment der Abspielgeräte angekommen. Sie spricht selbstbewusst auch anspruchsvollere Kunden aus dem vormals eher vorsichtig behandelten Klassikoder Jazzsektor an. 1973 verschickt Philips ein weiteres interessantes Photo an die Presse, das wohl zeigen soll, wie fortschrittlich, einfach und praktisch deutsche Kassettenradios fürs Auto im internationalen Vergleich sind. Und es zeigt auch eine erste, schüchtern-ironische Distanzierung vom Super-Vorbild Amerika. Auf dem Photo sind ein Auto-Stereo-Rekorder zu sehen, eine Kompaktkassette und eine amerikanische Stereo-8-Cassette im direkten Größenvergleich. Auf der amerikanischen Audio-Kassette steht neutral das Wort »Unterhaltung« geschrieben. Im Hintergrund des Etikettes sind Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten in traditionellen Uniformen zu sehen, wie man sie aus Indianer-Filmen kennt. Klischees, die zeigen, in welcher Ecke die Konsummacht Amerika in der Wahrnehmung der eher konsumkritischen deutschen siebziger Jahre zu suchen ist. Doch das nur nebenbei. Vordergründig geht es um einen Größenvergleich: die 466 Weber 2008, S. 175. 467 Weber 2008, S. 175.
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Audio-Kassette aus Amerika, »bei deren Erschaffung wohl mehr an die Dimensionen amerikanischer Straßenkreuzer gedacht wurde,« ist fast ebenso groß wie der gesamte Philips-Rekorder. Das Kompaktkassettensystem ist damit – so die Botschaft dieser Werbung – der perfekte Begleiter für lange Autofahrten und für jedermann, weil es in jedes noch so kleine Auto eingebaut werden kann. Aufgrund ihrer geringen Größe können Kassetten darüber hinaus in großer Auswahl im Auto mitgenommen werden. Transportköfferchen, in denen man rund ein Dutzend Kassetten verstauen kann, sind ebenfalls im Angebot. Später finden Kassetten auch im Handschuhfach oder den seitlichen Türfächern ihren Platz. Sie gehören praktisch zur Innenausstattung eines jeden Autos dazu. Darum haben kurz nach der beschriebenen Pressekampagne viele Autoradios bereits standardmäßig einen Kassettenrekorder eingebaut, was wiederum andere Neuerungen nach sich zieht: 1975 wirbt Philips im Stern mit dem Slogan »Auf den Straßen der Welt« (Abb. 20) für eine Radio-Kassetten-Kombination in Stereo mit automatischem Sendersuchlauf über alle Wellenbereiche: »Damit Ihre Augen auf der Straße bleiben.« Auch Anschlüsse für den »Verkehrsfunk-Pilot«, ein Anzeige-Gerät für Sender mit Verkehrsnachrichten, werden serienmäßig mitgeliefert. Etwa zur selben Zeit führt der UKW-Hörfunk die »AutofahrerRundfunk-Information« ARI ein, ein akustisches System, das unter anderem dafür sorgt, dass Kassetten in der Wiedergabe stoppen, wenn im Radio Verkehrsnachrichten laufen.468 Auch stummgeschaltete Radios geben plötzlich Laut, wenn Verkehrshinweise gesendet werden. Das ARI-System, das bis 2008 in Betrieb bleibt, sorgt dafür, dass keine Meldungen mehr verpasst werden können, ganz gleich, welche akustische Untermalung gerade in der Fahrzeugkabine läuft. Ein sicheres Zeichen dafür, das Kassettenhören im Auto inzwischen ganz selbstverständlich zur Alltagspraxis der Menschen gehört. Der Radio-Redakteur Reinold Hermanns erinnert sich: »Da habe ich natürlich Musikkassetten gehört, das ist ganz klar, aber auch Radiosendungen, die ich interessehalber aufgenommen habe. Die habe ich mir auf langen Autofahrten tatsächlich auch aus privater Freude oder aus Lust und Interesse angehört. Oder es waren dann auch schon mal, natürlich in dem Maße, wie man dann Familienvater wurde, Kindersachen, also Kinderlieder, und so weiter. Also, wenn die Kinder dabei waren, da hat man dann schon immer mal wieder Kassetten reingeschoben. Also, das waren dann, was weiß ich, Rolf Zuckowski oder irgendwelche Hörspiele. Das war schon eine tolle Sache.«469
468 Orgeldinger 2010. 469 Interview mit Reinold Hermanns vom 4.8.2016 in Tübingen.
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Abbildung 20: »Auf den Straßen der Welt«
Quelle: Archiv Philips
Die Aufnahmefunktion, die Kassettenrekorder mit Autohalterungen in den sechziger Jahren noch hatten, ist in diesen modernen Autokassettenradios nicht mehr vorhanden. Und das, obwohl noch wenige Jahr zuvor gerade das Aufnehmen beim Autokassettenradio noch als wichtiges Alleinstellungsmerkmal gegenüber dem reinen Radiogerät herausgestrichen worden war:
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»Aufnahme und Wiedergabe, erst beide Möglichkeiten machen das Tonbandgerät im Auto zu einem vollwertigen Reisebegleiter […] Überspielungen und Mikrofonaufnahmen sind während der Fahrt ohne Schwierigkeiten möglich. […] Der Frequenzbereich von 100 bis 6000 Hz ermöglicht neben reinen Sprachaufnahmen auch das Aufnehmen von musikalischen Darbietungen beispielsweise auf Urlaubsreisen und beim Camping.«
Tonaufnahmen fertigen die Menschen inzwischen mit anderen, mobileren Geräten wie dem Radiorekorder an. Das Kassettenradio fürs Auto ist zu einem im Fahrzeug fest verbauten, reinen Abspielgerät geworden. Mit Radio und Kassettenrekorder auf Reisen Durch die Motorifizierung und Mobilisierung der Gesellschaft kommen neben Ausflügen ins Grüne auch längere Urlaubsreisen und vor allem Camping in Mode. Mit den schicken modernen Limousinen à la Ford Taunus, Mercedes Ponton oder Opel Kapitän macht man seit den fünfziger Jahren in Deutschland nicht nur bei Stadtfahrten eine gute Figur. Man kann auch wie Kanzler Adenauer zum Urlaubmachen gen Süden und ins Ausland fahren oder einen Campingwagen bis ans Meer ziehen. Seit dem Ende der fünfziger Jahre quälen sich jeden Sommer schier endlose Blechkarawanen aus Reisebussen und bis unters Dach vollgestopften Privatwagen über die Passstraßen in Richtung Adria. 1961 fährt fast die Hälfte aller Städter einmal im Jahr in die Ferien ins Ausland.470 Die meisten Gerätehersteller empfehlen schon ab den ausgehenden fünfziger Jahren darum ganz selbstverständlich, für die »schönsten Wochen des Jahres« mobile Musikabspielgeräte an den Urlaubsort mitzunehmen. Um ein moderner Mensch zu sein, bräuchte man einfach nur einen guten Reiseempfänger, wirbt die Firma Grundig immer wieder sinngemäß für ihre Kofferradios. Auf dieses Pferd setzt später natürlich auch Philips, um den Kassettenrekorder am Markt zu etablieren. Ein Pressephoto zeigt eine junge Frau, auf Buhnen (Holzpfählen zum Uferschutz) über der schäumenden Brandung sitzend (Abb. 21). Auf ihrem Schoß hält sie einen silbernen Radiorekorder. Offenbar versucht sie, einen Sender einzustellen. Ihr Haar weht im Wind. Ein Träger ihres Bikinis ist von der Schulter gerutscht. Die junge Frau ist ganz in die Beschäftigung mit dem Radiorekorder versunken. Tatsächlich wird das Mitnehmen von Unterhaltungselektronik vor allem dank Kassetten und Rekordern bei Urlaubsfahrten gängige Praxis. Die meisten Reisenden haben noch bis weit in die neunziger Jahre hinein einen Radiorekorder oder einen Walkman im Reisegepäck. Zum einen, weil sie im Ausland zumindest gelegentlich gerne deutsche Radiosender hören wollen, um sich über das 470 Karasek 2006, S. 145.
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Leben in der Heimat zu informieren. Deutsche Zeitungen sind, wenn überhaupt, immer erst mit einigen Tagen Verspätung in den Kiosken der Urlaubsmetropolen zu haben. Zum anderen haben sich viele in Form von selbst aufgenommenen oder gekauften Kassetten eine eigene mobile Musikbibliothek zusammengestellt. Abbildung 21: »Am Meer«
Quelle: Archiv Philips
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Die besten Schallplatten von zu Hause sind längst auf Leerkassetten überspielt, um sie überallhin mitnehmen zu können. Zusätzlich sind eigens für den ultimativen Urlaubssoundtrack zusammengestellte Mixtapes schon Wochen vor der Reise entstanden. Wer also ein gut sortiertes Kassettenköfferchen und ein entsprechendes Abspielgerät mit in die Ferien nimmt, hat stets ein akustisches Stück Heimat und Sicherheit dabei. »While tourists bring along souvenirs from distant places to commemorate their experiences in a foreign culture, portable sound functions inversely. As mobile ›sound souvenirs‹, they help to configure and shape peoples‘ cultural identities when they travel elsewhere.«471 Heute, im Zeitalter einer digitalen und virtuellen »Supermobilität«, ist dieses mit dem Radiorekorder gelernte Verhalten noch immer selbstverständlich. Wenn ich mich in meinem Freundes- oder Bekanntenkreis und in meiner Familie umschaue: Kaum jemand verreist ohne Smartphone, Laptop oder mp3-Player. Die meisten Ferienwohnungen sind zudem mit Abspielgeräten oder WiFi ausgestattet, damit Urlauber in einer fremden Umgebung ihre persönliche Musik von zu Hause anhören und sich über Neuigkeiten in der Heimat informieren können. Tonjäger unterwegs und zu Hause Eine weitere Entwicklung, die unmittelbar mit der ständig wachsenden Reiseund Urlaubslust der Deutschen einhergeht, ist das Sammeln von Erinnerungen für zu Hause. Neben Gegenständen wie zum Beispiel Muscheln, Bierdeckeln oder Wanderstockplaketten sind das ganz traditionell und in erster Linie natürlich Urlaubsphotos oder Super-8-Filme, die mit kleinen Kameras gedreht werden. Es können aber auch akustische Erinnerungen sein, die mit Tonband oder Kassettenrekorder vor Ort festgehalten und später nach Hause transportiert werden. In etlichen Werbeanzeigen der Marke Philips ist die Rede von verschiedenen Soundquellen, die sich als Souvenirs aufnehmen lassen: »Volksmusik aus Ihrem Urlaubsort« (Abb. 22) oder »Klänge des Alphorns in der Schweiz«, wie die bereits oben auf Seite 21 abgebildete Werbeanzeige (Abb. 2) verspricht. Um Urlaubserinnerungen weiter zu verarbeiten, entwickelt Philips ganz gezielt auch spezielle Geräte zur Vertonung von Amateurfilmen und Diashows – Spielzeug für die bürgerliche Familie. Neben Diasteuergeräten oder ÜberblendAdaptern ist das zum Beispiel ein halbautomatischer Kassettenrekorder, der mittels eines Impulsverfahrens mit dem Diaprojektor gekoppelt werden kann: »Eine vertonte Dia-Schau, im Bildwechsel synchron zum Ton gesteuert, das wird für immer mehr Familien zum großen Erlebnis. Durch neue Technik ist der erforderliche Aufwand so sehr verringert worden, daß sich beinahe jeder dafür 471 Weber 2009, S. 70.
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interessiert, der nur einmal bei Freunden oder Bekannten zuschauen oder zuhören konnte« (Abb. 23 und Abb. 24). Tonjagd und Film- oder Diavertonungen werden schon seit dem Auftauchen der ersten Heimtonband-Modelle von den Herstellern massiv beworben, genauso wie das Aufnehmen und akustische Dokumentieren der Stimmen von Familienmitgliedern, dem Herstellen eines »klingenden Familienalbums«. Abbildung 22: »Die eigene Hitparade«
Quelle: Archiv Philips
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Abbildung 23: »Filmvertonung« (a)
Quelle: Archiv Philips
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Abbildung 24: »Filmvertonung« (b)
Quelle: Archiv Philips
Als einige Jahre später die ersten Kassettenrekorder auf den Markt kommen, sind die Werbetexte der Anzeigen beinahe identisch mit jenen zu den früheren Heimtonband-Geräten. 1964 wirbt Philips in der Illustrierten »Quick«: »Diese Cassette bietet Ihnen 1 Stunde ›Platz‹ für die vielen Dinge, die es lohnt festzuhalten. Babys erste Worte. Vaters Ansprache. Das Flötenspiel der Tochter. Die spanischen Volkslieder aus den Ferien für die Dias.« Allerdings setzen sich für Tonband, Kassettenrekorder und Kassette gerade diese Einsatzfelder – verglichen mit dem Aufnehmen von Musik aus dem Radio oder von der Schallplatte – nie im großen Stil durch. »Not one interviewee mentioned making a family sound album as the sole reason for buying a tape recorder. In spite of the manufacturer's original intentions, playing music was thus the main reason for purchasing one. In the use of the tape recorder, collecting and playing popular and classical music was still the predominant activity.«472
Dennoch lohnt sich ein kurzer Blick auf einige Werbeanzeigen im Zusammenhang mit eigenen Tonaufnahmen mittels tragbarer Kassettenrekorder. Sie sagen viel darüber aus, welche Vorstellungen von Mobilität noch in den siebziger Jahren vorherrschen. Und dass dabei etablierte Geschlechterbilder eine wichtige Rolle spielen: So ist zum Beispiel auffällig, dass in vielen Anzeigen oder Bedienungsanleitungen rund um die Vertonung privater Photos oder Filme Frauen im Umgang mit den Geräten abgebildet sind. Ganz anders als in Anzeigen, mit denen die »männliche« Tonjagd im Freien beworben wird.
472 Bijsterveld/Jacobs 2009, S. 35.
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Auf einem Pressephoto vom Ende der sechziger Jahre etwa (Abb. 25) ist eine verheiratete Frau zu sehen – der Ehering ist im unteren Bildteil prominent sichtbar – wie sie ganz alleine mit Kopfhörer, Kassettenrekorder und Diaprojektor offenbar einen Super 8 Film vertont. Auf der Kontrollleinwand läuft ein Pferd über freies Feld: Vielleicht hat die Familie Ferien auf dem Bauernhof gemacht. Abbildung 25: »Filmvertonung« (c)
Quelle: Archiv Philips
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Eine Anzeige aus dem Jahr 1969 zeigt dagegen ein Pärchen bei der Tonjagd vor Ort: Die Frau sitzt interessiert dabei, während der Mann einen Autorennfahrer interviewt und sowohl Mikrophon als auch Rekorder bedient. Möglicherweise handelt es sich bei dem Interviewten um den 1969 auf dem Höhepunkt seiner Karriere angekommenen deutschen Formel I und II Rennfahrer Gerhard Mitter. Zumindest suggeriert die Anzeige mit ihrer Überschrift eine gewisse Relevanz der Begegnung für den (männlichen) Tonjäger: »Ein großer Augenblick« steht da zu lesen. Und im Text: »Wir haben den Philips Cassetten-Recorder 3302 für vernünftige Leute geschaffen: für Leute, die Größe für hinderlich und komplizierte Bedienung für umständlich halten – und für die Leistung das einzig Wesentliche ist. Ein Tonbanderät also, das drinnen und draußen aufnimmt, was gefällt. Blitzschnell – problemlos.« (siehe Abb. 27 auf Seite 192) Ähnliche Beobachtungen lassen sich bei vielen anderen Photos und Anzeigen machen. So hat sich also zwar nach Angaben der Hersteller im Vergleich zum Tonband das tatsächliche Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Nutzern durch den Kassettenrekorder »erheblich angeglichen«473. Es wird aber noch immer das alte Klischee aufgegriffen, dass Männer als Jäger hochmobil an aufregenden, vielleicht sogar gefährlichen Plätzen der Welt unterwegs sind, um an interessante Töne zu kommen, die aufzuzeichnen sich lohnt. Für sie sind das kleine Format des Kassettenrekorders und sein geringes Gewicht sozusagen überlebenswichtig. Frauen werden dagegen als Sammlerinnen und Bewahrerinnen von Tonaufnahmen in erster Linie im häuslichen Kontext dargestellt. Für weibliche Kassettennutzer scheint das Moment der Mobilität nicht besonders ins Gewicht zu fallen. Sie benutzen den Kassettenrekorder vor allem dann, wenn es darum geht, Tondokumente der eigenen Kinder oder Verwandter aufzunehmen und das berühmte »klingende Familienalbum« herzustellen. Wenn Frauen überhaupt im Zusammenhang mit Technik dargestellt sind, dann in der Regel nur, um die gute Usability des Gerätes herauszustellen, um zu zeigen, wie einfach diese Technik zu bedienen ist, dass also »sogar Frauen« damit umgehen können (Abb. 26). »Typically, Philips and BASF advertisements portrayed men as creators of sound effects, such as for radio plays, and women as the ones taking care of recording their children. A 1965 article in the German magazine for recording amateurs ›Ton + Band‹, underlined, that women should not complain about their husbands using kitchen devices for making sounds, since (those) recording activities would, at least, keep their husbands at home.«474
473 Siegfried 2006, S. 106. 474 Bijsterveld/Jacobs 2009, S. 32.
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Abbildung 26: »Sogar Frauen«
Quelle: Archiv Philips
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Abbildung 27: »Interview Rennfahrer«
Quelle: Archiv Philips
Mobile Kassettengeräte im professionellen Einsatz Was in dieser Art Anzeigen auch mitschwingt, ist der bereits erwähnte Wunsch, professionelle Formen im Umgang mit Tönen zu imitieren. Seien es nun die Hörspiel-Amateure, die in ihrer Freizeit eigene Stücke aufnehmen, die sie möglichst professionell gestalten und auch bei eigenen Wettbewerben einreichen, oder die gerade angesprochenen Tonjäger, deren Vorbilder sicherlich »echte« Radio- und Zeitungsreporter sind. Genau auf diese Zielgruppe der semiprofes-
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sionellen Amateure, aber auch auf die der professionellen Journalisten sind einzelne frühe Werbekampagnen, die Philips für den Taschenrecorder durchführt, ausgerichtet. Auch hier steht das Moment der Mobilität im Vordergrund. Die Analyse zweier weiterer Pressephotos soll dies veranschaulichen: Im ersten ist ein seriöser Herr mittleren Alters zu sehen, der Anzug, Schlips und Brille trägt. Sein schon etwas schütteres Haar hat er glatt nach hinten frisiert. Es könnte sich um einen Markt- und Meinungsforscher handeln oder um einen Journalisten (Abb. 28). Abbildung 28: »Reportage«
Quelle: Archiv Philips
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Der Herr interviewt eine Gruppe Kinder, die sich neugierig um das Mikrophon drängen. Den Rekorder hat der Interviewer in professioneller Manier in einer Reportertasche über die Schulter gehängt. Es ist schwer zu erkennen, ob es sich um einen Profi oder einen Amateur handelt. Mögliche Zielgruppe des Photos sind wohl beide Gruppen. Abbildung 29: »Interview Jesse Owens«
Quelle: Archiv Philips
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Im zweiten Photo (Abb. 29) ist ein anderer »Journalist« zu sehen, der in einem Stadion steht und einen dunkelhäutigen Mann photographiert. Auf der Schulter trägt er einen Kassettenrekorder. Die Hand, die den Photoapparat stützt, hält auch das Mikrophon. Der Schwarze ist der afroamerikanische Leichtathlet Jesse Owens. Bei den Olympischen Sommerspielen 1936 hatte er im nationalsozialistischen Berlin insgesamt vier Goldmedaillen gewonnen, vier olympische und zwei Weltrekorde aufgestellt.475 Adolf Hitler, der ebenfalls anwesend war, soll sich aus rassistischen Ressentiments geweigert haben, dem erfolgreichsten Athleten der Spiele die Hand zu schütteln. Nach fast dreißig Jahren ist die Sportlerlegende Owens nun als »Botschafter des Sports« erstmals zurück im Berliner Olympiastadion. Owens will dort einen Dokumentarfilm über sein Leben drehen lassen. Ob die dargestellte Szene bereits etwas mit diesem Film zu tun hat, oder ob es sich tatsächlich um einen Pressevertreter handelt, der Owens bei seinem ersten Berlin-Besuch nach knapp dreißig Jahren interviewt, ist nicht klar zu erkennen. Die professionelle Attitude des Bildes gibt jedoch klar wieder, dass sich diese sehr frühe Kassettenkampagne von 1963 an professionelle Journalisten als mögliche Käufer von Kassettengeräten richtet. Wenig später, im April 1964 können »echte« Pressebesucher der Hannover Messe schwarz auf weiß in einer Mitteilung lesen: »Besonders für Vertreter, Reporter und Journalisten dürfte das leicht zu bedienende Gerät eine große Arbeitserleichterung bedeuten. Nur zwei Tasten und zwei Regler sind neben dem Kassettenwechsel zu betätigen, ein Zeigerinstrument ist für die Kontrolle der Aussteuerung und des Batteriezustandes eingebaut.«476 Was Philips in den geschilderten Pressekampagnen als Einsatzmöglichkeiten für den Taschenrecorder beschreibt, ist in den sechziger Jahren allerdings noch Zukunftsmusik. Die beschriebenen Bilder sind reine Wunschbilder des Herstellers. Bis Kassetten ihren Weg in die professionellen Tonstudios finden, vergehen viele Jahre. Möglicherweise wird der kleine Kassettenrekorder in den sechziger Jahren tatsächlich bereits von Printjournalisten im Sinne der ersten PhilipsWerbung als »sprechendes Notizbuch« genutzt, also als Ersatz für ein Diktiergerät. Als Tonträger für Originaltöne im Radio werden Kassetten innerhalb der Radioredaktionen aber lange nicht akzeptiert. Aufnahmen, die mit Kassetten und Kassettenrekorder gemacht werden, gelten qualitativ zunächst als nicht sendefähig.477
475 https://de.wikipedia.org/wiki/Jesse_Owens, abgerufen am 21.12.2016. 476 PM April 1964 zur Hannover Messe, Quelle: Archiv Philips. 477 Interview mit Wolfgang Bauernfeind vom 10.5.2016.
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Bis zum Ende der siebziger Jahre ziehen Radioreporter für ihre Außeneinsätze darum mit tragbaren Spulentonbandgeräten los: beim Hessischen Rundfunk vorzugsweise mit dem Uher Report,478 beim Südwestfunk mit der Schweizer Nagra-Maschine,479 beim Radio Berlin Brandenburg sind sogar bis Mitte der achtziger Jahre beide Modelle im Einsatz,480 erzählt der ehemalige Feature-Chef Wolfgang Bauernfeind: »Da war natürlich das berühmte Uher-Tonband. Die Kollegen haben mich immer gewarnt: Da kriegst du eine schiefe Schulter davon, weil du auf der einen Seite das schwere Ding tragen musst. Hier, so mit ner Schlaufe über die Schulter. […] Die hohen Künstler haben die Nagra bekommen. Das waren die Feature-Spezies, die aber auch meistens einen Toningenieur dabei hatten, der die Aufnahmen begleitet hat. Also, man hatte damals wirklich den Luxus, dass da ein Toningenieur mitging.«
Doch irgendwann schlägt auch im professionellen öffentlich-rechtlichen Rundfunk der BRD die Stunde der Kassette: Als der heute pensionierte RadioRedakteur Reinold Hermanns im Jahr 1978 als aktueller Reporter beim damaligen Südwestfunk in Tübingen anfängt, stellen viele Redaktionen gerade auf Kassettenrekorder für die mobilere und damit schnellere O-Ton-Jagd um. Weil die Geräte billig und leicht sind, kauft sich auch der Berufseinsteiger Hermanns gleich für seinen ersten Vor-Ort-Termin eine eigene Ausrüstung: »ITT, das war so eine gängige Ware damals. Gut genug. Nicht zu teuer. Und das gleiche galt für das Mikrophon. Das hat, glaube ich, hundert Mark gekostet. Hätte ich mir auch ausleihen können, aber da habe ich gar nicht danach gefragt.«481 Speichern und Aufnehmen ist zu diesem Zeitpunkt auch beim Radio bereits allgemeine Reporter-Praxis, die ohne technische Ausbildung problemlos erlernbar ist, beziehungsweise eine Alltagstechnologie, die Reportern sicherlich auch aus ihrem privaten Umfeld bereits vertraut ist. Den endgültigen Durchbruch schafft das Kassettensystem im Radio mit einem tragbaren Rekorder, der 1978 auf den Markt kommt: der berühmte SONY TC-D5M. Das etwa schulheftgroße Gerät ist relativ leicht, besitzt einen eingebauten Limiter, um Übersteuerung zu vermeiden, hat Anschlüsse für Mikrophone aller Art, einen internen Lautsprecher, Drehknöpfe, um beide Kanäle optimal auszusteuern und wird mit Batterie betrieben – ein einfach zu bedienendes, klanglich exzellentes Gerät. Mehr als zehn Jahre lang, bis zur Einführung digitaler Speichermedien, ist »das Sony« und damit die Kassette als Tonträger die Standardausrüstung für Deutschlands Radio-Leute aller Sparten. Auch ich selbst 478 479 480 481
Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2016. Interview mit Reinold Hermanns vom 4.8.2016. Interview mit Wolfgang Bauernfeind vom 10.5.2016. Interview mit Reinold Hermanns vom 4.8.2016.
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habe mit diesem Gerät für SDR, SWF, DLR, WDR, im privaten Rundfunk und später beim SWR viele Jahre gearbeitet. Es hat mir für Straßenumfragen ebenso treue Dienste geleistet wie bei der Erkundung unerforschter Höhlen auf der Schwäbischen Alb, in Theatervorstellungen ebenso wie in einem indischen Kinderheim oder bei einem DJ Battle in Rom.482 Auch bei der Einführung des privaten Rundfunks leisten »das Sony« und damit die Kassette Schützenhilfe. Am 1. Januar 1984 geht mit Radio Weinstraße die erste private Radiostation auf Sendung. Etliche andere folgen, auch nichtkommerzielle Lehr- und Lernradios sind bald auf vielen UKW-Frequenzen zu hören. In Deutschland beginnt dank der einfachen Kassettentechnologie eine Zeit der radiophonen Experimente, der Vielfalt und der Abwechslung. Viele der neuen, ausschließlich durch Werbung und Investorengelder finanzierten Radiostationen haben nur kleine Etats für Ausrüstung und Technik zur Verfügung. Kleinere jedenfalls als die gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Für die Reporter Kassettenrekorder in Umhängetaschen aus Kunstleder anzuschaffen, ist daher eher möglich, als teure tragbare Tonbandmaschinen bereitzustellen. Technisches Personal ist ebenfalls rar. Dennoch möchte man vor allem in Sachen Information, Mobilität, Schnelligkeit und Tonqualität natürlich nicht hinter der öffentlich-rechtlichen Konkurrenz zurückstehen. Also führt man auch hier »das Sony« als Standardgerät ein. Bis zur Marktreife der Minidisc Ende der neunziger Jahre können damit sogar Radio-Anfänger und Praktikanten Umfragen, Beiträge, Originaltöne für die Nachrichten oder Interviews auf Kassette aufnehmen. Auch sogenannte »Air Checks«, Sendungsmitschnitte für das Archiv, werden bei vielen Privatradios täglich auf Kassetten gezogen. Auch aus dem öffentlich-rechtlichen Alltag sind »das Sony« und die vielen bespielten Leerkassetten bald nicht mehr wegzudenken. Von tragbaren Spulentonbändern will niemand mehr etwas wissen. »Der Sender hat die Geräte damals dann auch für die Redaktion angeschafft«, erzählt Redakteur Hermanns. »Die waren schon erheblich besser, also weniger Rauschen und bessere Ausstattung. Und die waren robuster und für alle Wetter besser geeignet als der ITT Rekorder. Also, das war technisch schon ein Fortschritt. Die Nagra ist dann vielleicht ab Mitte der achtziger Jahre irgendwann verstaubt in einem großen dicken schwarzen Koffer. Das war ungefähr die Zeit, wo der Berliner Feature-Kollege dann
482 Analog zum professionellen Übertragungswagen, der Live-Reportagen via mobiler Satellitentechnologie ins Funkhaus übertrug und »Sat-Mobil« oder kurz »SatMo« genannt wird, wurde eine auf Kassetten aufgezeichnete und zeitversetzt gesendete Reportage im Rundfunk-Jargon »SonyMo« genannt.
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auch zum Kassettenrekorder kam. Da war hier im aktuellen, also nichtkünstlerischen Betrieb die Nagra schon längst passé.«483 Fortan wird die Arbeit für Radioreporter im wahrsten Sinn des Wortes leichter, weil sie an ihrem technischen Equipment nicht mehr so schwer zu tragen haben. Die Arbeit wird aber auch mobiler, denn der Sony Kassettenrekorder kann in jeder Situation aufnehmen. Er muss nicht mehr unbedingt waagerecht stehen wie die Nagra, deren Spulen sonst zu leiern beginnen. »Man hat nicht unbedingt den großen Schreibtisch nötig. Man hängt das einfach um. Das war bei der Nagra nicht so möglich. Man ist mobiler, also partisanenhafter, wenn man so will, im Einsatz für diese Sache. Und man kann auch aufnehmen im Gehen, wenn man das raus hat. Und du kannst diese Kassetten, weil sie eben mobiler sind als die Bandmaschine – und das habe ich nebenbei oft gemacht – im Auto mitnehmen. Man ist ja als Reporter auch oft im Land rumgefahren. Und dann habe ich mir die Interviews, die ich gemacht habe, so ad hoc gleich auf der Rückfahrt im selben Gerät angehört und im Kopf sozusagen die Schnitte gesetzt. Das kannst du ja mit einer Bandmaschine nicht machen.«484
Mobilität schafft auch Individualität Was Reinold Hermanns im Interview erzählt, enthält noch eine weitere Facette von Mobilität im Zusammenhang mit dem Kassettenrekorder, die sich zunächst etwas paradox anhören mag: Die Mobilität des Gerätes sorgt zwar für viele gemeinschaftliche Hörerlebnisse außerhalb des angestammten heimischen Musikzimmers – sei es nun in der Badeanstalt oder auf Parties, wenn eine bestimmte Gruppe von RezipientInnen gemeinsam der gleichen Tonaufnahme zuhört. Die Mobilität der Kassetten-Geräte sorgt gleichzeitig aber auch dafür, dass das individuelle Alleinhören von Tonaufnahmen und damit das freiwillige Absondern einzelner HörerInnen aus einer Gruppe mehr und mehr zur gängigen Praxis wird. Kassetten schaffen also Gruppenerlebnisse, gleichzeitig aber auch von der Gruppe isolierte Hörerlebnisse. Gut lässt sich das noch einmal am Beispiel des Auto-Kassettenadios zeigen: Nehmen wir die gemeinsame Fahrt der Familie in den Sommerurlaub, wie sie Radio-Redakteur Hermanns beschrieben hat: Die Kinder sitzen auf dem Rücksitz. Von Kassette werden Hörspiele und Kinderlieder gespielt. Die Familie nutzt das Auto als gemeinsamen, frei gestaltbaren, mobilen Hörraum, um die lange Fahrt zum Urlaubsort mittels Kassetten für alle abwechslungsreicher zu gestalten. In einer anderen Situation, nämlich auf der Rückfahrt von einem InterviewTermin, steckt der Radio-Redakteur die gerade mit O-Tönen bespielte Kassette ins Autoradio. Er nutzt das Auto als ganz individuelle mobile Erweiterung des 483 Interview mit Reinold Hermanns vom 4.8.2016. 484 Interview mit Reinold Hermanns vom 4.8.2016.
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Tonstudios, wo er, alleine und von niemandem unterbrochen, seine Aufnahmen abhören kann. Für Dominik Kuhn, den Comedian aus Reutlingen, ist das Auto sogar ein ausschließlich individueller mobiler Hörraum, in den er sich zurückziehen kann, wenn er ungestört außerhalb seines Zuhauses Musik hören möchte: »Ich fühle mich einfach wohler, wenn ich meine Musik alleine hören kann. Außer mit meinem Freund Wieland, der ist auch Musiker, und wir stehen beide auf Dirty Loops. Und dann können wir das auch beide mal laut hören und keiner schwätzt rum.«485 Dem Wunsch nach einem individuellen und ungestörten Genuss von Tonaufnahmen kommen die wachsende Mobilität der Audiogeräte und ihre fortschreitende Miniaturisierung sehr entgegen. Vielleicht entsteht der Wunsch auch erst aus der technischen Möglichkeit heraus, Musik überallhin mitnehmen zu können. Schon früh sind jedenfalls auch für Kassettenrekorder Ohrknöpfe erhältlich, mit denen man unterwegs Aufnahmen hören kann, ohne andere zu stören. Damit einher geht die Tatsache, dass Musik nun praktisch ständig gehört werden kann – wenn gerade nichts anderes los ist, aber auch parallel zu anderen Tätigkeiten. »Portable radios and tape recorders became a means of creating a personally controlled auditory sphere when away from home, during holiday travels, on the way to work, on the subway or while shopping.«486 »For teenagers listening to music was […] a ubiquitious, all-encompassing lifestyle.«487 Je mobiler die Gesellschaft wird, umso mehr Menschen sind im öffentlichen Raum unterwegs. Nicht nur auf den Straßen und mit dem Auto, auch mit Bussen, Zügen und Bahnen. Ab den sechziger Jahren wird das Pendeln zwischen verschiedenen Arbeitsstellen und dem Zuhause normal. Und wie schon zur Blütezeit des Phonographen wünschen sich die Reisenden Unterhaltung, um die mitunter langweiligen Warte- und Umsteigezeiten zu überbrücken. Im Amerika des ausgehenden 19. Jahrhunderts finden sich darum in fast jeder größeren Stadt »coin-in-the-slot-machines«, Phonographen, die ein akustisches Unterhaltungsprogramm liefern und mit Münzen betrieben werden können. »Coin-in-the-slot machines, where a user could hear a song for a fee, were located in hotel lobbies, train stations, and arcades. As cities grew more spread out, a well-placed arcade could entertain commuters with a few minutes to kill and a few cents in their pockets.«488 In den sogenannten »Phonograph Parlors«, speziellen Wartehallen für Reisende, stehen sogar viele Phonographen dicht an dicht. Wer Zeit und ein bisschen Geld übrig hat, kann sich von einer Walze Musik oder einen kurzen 485 486 487 488
Interview mit Dominik Kuhn vom 13.7.2015. Weber 2009, S. 70. Weber 2009, S. 76. Sterne 2003, S. 201.
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Text vorspielen lassen. Gehört wird dann über sogenannte »Hörschläuche«, d.h. man lauscht individuell, und jeder hört für sich allein. »Limiting the sound to one listener at a time helped increase onlookers' curiosity and maximize sales. The phonograph parlor also handily demonstrates the connection between the construction of a private auditory space and the commodification of sound itself.«489
Diesem Bedürfnis nach individueller Unterhaltung während langweiliger, einförmiger Tätigkeiten oder langer Wartezeiten auf Bahnhöfen oder beim Arzt kommen mobile Audiogeräte nach. Je besser und bedienungsfreundlicher die Technik wird, umso fleißiger werden sie unterwegs benutzt. So lange die Batterien von Kofferradios bis Mitte der fünfziger Jahre zum Beispiel noch mehrere Minuten brauchen, um sich für den Betrieb aufzuwärmen, sind sie fürs Nebenbeihören unterwegs nicht geeignet. Sie werden als »stumme Gespäckstücke« mitgenommen und erst am Ziel benutzt.490 Als aber Stereokopfhörer auf den Markt kommen und mit ihnen der Walkman, das bis dato kleinste, batteriebetriebene Kassetten-Abspielgerät, ist die Entwicklung vom stationären gemeinschaftlichen Hören zum individualisierten, hoch mobilen Hören endgültig vollzogen. Auch Musikliebhaber wie Dominik Kuhn bekommen mit dem Walkman eine gute, individuelle Ergänzung zum Autoradio: »Ich hatte immer eine einigermaßen gute Anlage im Auto. Einigermaßen. Aber ich hatte schon immer auch einen Walkman im Gepäck. Wenn ich irgendwo rumhocke. Und dann nichts zu tun habe, weil ich ja wie gesagt ein Einzelgänger bin.«491 Auch Konkurrenzprodukte zum Gerät der Marke Sony tragen wie der geschützte Name Walkman die Idee des Nebenbeihörens und Unterwegsseins im Namen: City-Bummler, Bass Booster oder Wandersmann.492 Mit diesen Geräten ist Musikgenuss nun wirklich überall möglich. Beim Joggen, beim Bahnfahren, beim Hochleistungssport, beim Autofahren, an der Bushaltestelle – überall trifft man auf Menschen mit dem kleinen tragbaren Gerät, das sie am Gürtel festmachen und höchstens noch zum Schlafen abzulegen scheinen. »Schon Anfang 1981 taucht sogar eine Schwimmtasche für Kassettengeräte auf, samt Nässeschutz für Kopfhörer und Stirnband, damit diese beim Tauchen nicht wegschwimmen.«493 1983 präsentiert Sony einen wasserfesten Walkman für Strandurlauber: »Knöpfe, Kassettenfach und Buchsen waren mit Gummi versehen; statt wattierter Kopfhörer wurde auf Knopfhörer zurückgegriffen. Von Teenagern wurde das Gerät am Strand ebenso wie unter der häuslichen Dusche benutzt. Als ›street-wear‹ vermarktete Modelle 489 490 491 492 493
Sterne 2003, S. 162. Weber 2009, S. 96. Interview mit Dominik Kuhn vom 13.7.2015. Hügel 2003, S. 405. Hügel 2003, S. 506.
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sollten Urbanität, Sportlichkeit und Jugendlichkeit vermitteln, und seit 1987 wurden in der Produktlinie ›My first Sony‹ sogar Walkmans für Kleinkinder konstruiert.«494 Langsam entsteht, durch die Mobilität der Geräte angeregt und durch die Kopfhörernutzung weitergetrieben, eine Praxis des Nebenbeihörens, die wir bis heute kennen. Ob beim Kochen, Joggen, Hausaufgaben-Machen, Unkraut-Jäten oder Busfahren: »The portable simplified and supported this pratice of relieving and diversifying routines by secondary listening, as it could be taken along to any activity and any listening space.«495 Vorbehalte gegen individuelles Hören Ähnlich wie Jahre zuvor, als die ersten mobilen Abspielgeräte im öffentlichen Raum für Aufregung sorgen, gibt es neben den begeisterten Käufer- und NutzerInnen von tragbaren Kassetten-Geräten und Kopfhörern jedoch auch äußerst kritische Stimmen. Ein deutscher Journalist schreibt in der Wochenzeitung Die Zeit am 18. März 1988, nach immerhin einer knappen Dekade WalkmanErfahrung: »Am Ende der Aufklärung steht der Walkman. Am Ende der Aufklärung sitzt man in der U-Bahn und hört rhythmisches Zischen aus dem Kopfhörer des Mitmenschen. Am Ende der Aufklärung blickt man in das Gesicht eines Menschen, der zeitlebens unmündig bleiben wird. Ein Gesicht mit stumpfen Augen – wenn sie nicht hinter einer verspiegelten Sonnenbrille stecken. […] Ein Kopf der rhythmisch nickt, […] mechanisch wie eine Maschine, […] mechanisch wie das Zischen aus dem Kopfhörer, ein Blick, dumpf und träge, wie vom Hausvieh. […] Die Menschen haben den Nasenring der Dummheit nun eingetauscht gegen – einen Walkman. Und alles, worauf wir hoffen können, ist die gute Isolierung der Kopfhörer.«496
Die harsche Kritik erstaunt auf den ersten Blick. Warum stört sich der Verfasser so sehr am Walkman? Lärmbelästigung kann der Grund nicht sein. Schließlich verändert der kleine Kassettenspieler den öffentlichen Raum akustisch nicht allzu sehr – ganz anders als die frühen mobilen Audio-Geräte wie das »fröhlich zwitschernde Kofferradio«, die Boombox der Hiphopper, der Ghettoblaster der Breakdancer oder die zunehmende akustische Aufrüstung der Autoradios in den achtziger Jahren, als Musik aus Hochleistungsboxen dröhnt und nicht nur die Fahrzeugkabinen flutet, sondern die Welt außerhalb des Autos mit erzittern lässt. Freilich mag es tatsächlich Reisende geben, die zischende Musikfetzen aus dem 494 Weber 2008, S. 185. 495 Weber 2009, S. 74. 496 Vollbrecht 1989, S. 103.
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Walkman in öffentlichen Verkehrsmitteln als störend empfinden. Wir erinnern uns an die beschriebenen Kampagnen der Münchner oder der Kölner Verkehrsbetriebe, um die NutzerInnen zur Mäßigung der Lautstärke anzuhalten. Doch darum geht es im Kern der Walkman-Debatte gar nicht. Es geht um ein subtileres Problem. Kritik und gesellschaftlicher Unmut wie sie sich im oben zitierten Zeitungartikel Bahn brechen, richten sich vor allem gegen TrägerInnen, die mit dem mobilen Gerät überall anzutreffen, aber dennoch nicht ansprechbar sind. Statt dessen schotten sie sich mittels Kopfhörer von ihrer Umwelt ab und demonstrieren privates Leben im öffentlichen Raum – ein fast schon unschickliches Betragen. Anders als die Pendler, die für einige Minuten eine Phonographen-Walze spielen lassen und dazu Hörschläuche benutzen, scheinen sich Walkman-HörerInnen freiwillig und vor allem dauerhaft aus ihrer sozialen Umwelt auszuschließen, bewusst die Teilnahme am öffentlichen Dialog zu verweigern und ihre Absage an die zwischenmenschliche Kommunikation dabei auch noch zur Schau zu stellen. So lange der Kopfhörer auf den Ohren liegt, signalisiert das jedenfalls deutlich wie ein »Nicht-Stören-Schild«, dass man nicht angesprochen werden will. Zwar ist schon in jedem Walkman der ersten Generationen eine »Talk-In-Taste« eingebaut, die die Musik absenken und die Umwelt wieder unter den Kopfhörer einsickern lassen kann. Doch ist von außen nicht sichtbar, ob der Hörer gerade Musik oder keine Musik hört. Und so ändert die theoretische Möglichkeit, trotz Kopfhörern am öffentlichen Dialog teilzunehmen, nichts an der kritischen Haltung der Umwelt gegenüber dem abgeschotteten Alleinhörer. Sein Verhalten wird assoziiert mit wenig schmeichelhaften Eigenschaften. Es wird als unsozial betrachtet, autistisch, politisch und kulturell desinteressiert,497 oder – wie im zitierten Zeitungsartikel – sogar als dumm und träge. Nicht, weil es dafür tatsächliche Erfahrungswerte gäbe, sondern weil es gegen traditionelle Kommunikationsmuster verstößt: Bevor Musik aufgezeichnet werden konnte, war Musikhören ein kollektives Ereignis. Musik gab es entweder in Form von selbstgemachter Hausmusik oder in Form eines Konzert- oder Kirchenbesuchs. Immer jedenfalls in Gesellschaft und niemals für ein einzelnes Individuum zum einsamen Genuss. »In prephonographic times it had been for the most part neither practical nor possible to hear music alone. Listening was a culturally significant activity, for music accompanied central communal events, including birth or death rites, weddings and religious festivals. Solitary listening, then, contradicted centuries of tradition.«498 Das Aussperren der Umwelt beim Musikhören, was durch das Abspielen von Tonträgern möglich wird, gilt folglich als Verstoß gegen die Tradition und sogar 497 Weber 2008, S. 195. 498 Katz 2010, S. 17.
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als bestürzender, kränkender oder jedenfalls befremdlicher Akt, weil es zwischenmenschliche Konventionen verletzt. Der englische Schriftsteller Orlo Williams sinniert 1923 in seinem Essay »Times and Seasons« jedenfalls sehr belustigt über den praktisch unmöglichen individuellen Gebrauch eines Grammophons: »... what you would say, if, on visiting a lady or gentleman, you found her or him solitary, listening to the music of his own gramophone. You would think it odd, would you not? You would endeavour to dissemble your surprise, you would look twice to see whether some other person were not hidden in some corner of the room, and if you found no such one would painfully blush, as if you had discovered your friend sniffing cocaine, emptying a bottle of whisky, or plaiting straws in his hair. People, we think, should not do things ›to themselves‹, however much they may enjoy doing them in company; they may not even talk to themselves without incurring grave suspicion. And I fear that if I were discovered listening to the Fifth Symphony without a chaperon to guarantee my sanity, my friends would fall away with grievous shaking of the head. But, when science and enterprise have put so much pleasure within our reach as a gramophone and a selection of good records will give, you will find it hard to convince me by logic, or mere vociferation, that music in solitude is indecent. If I may read alone, I may turn on the gramophone alone: for a record is but another book, and why must I have company to enjoy it? Two persons, I admit, is the ideal number: but my reason for this opinion is no higher one than a distaste for winding up and changing the needles myself.«499
Einen weiteren Punkt, der neben dem Kommunikationsabbruch offenbar Befremden hinsichtlich des Alleinhörens von Musik auslöst, spricht Orlo Williams in seinem amüsanten Essay ebenfalls an: In der Wahrnehmung der Außenstehenden ähnelt das einsame Hören von Musik auf gewisse Weise einer Flucht des Individuums aus der menschlichen Gemeinschaft, wie sie sonst nur durch Drogenkonsum möglich ist. »Die Benutzer verschaffen sich damit akustisch imaginär-reale Erlebnisräume.«500 Walkman-HörerInnen haben eine veränderte, völlig individuelle Wahrnehmung ihrer Umwelt, die sie mit niemandem teilen wollen und können. Beim Walkman-Hören wird der originale Soundtrack der Umgebung so weit in den Hintergrund gedrängt, bis eine bloß noch optische, haptische und olfaktorische Umgebung übrig bleibt. Diese wird nun mit einem anderen, ganz individuellen Sound akustisch untermalt. Es ist nicht nur der Künstler verschwunden wie bei praktisch jeder Musik aus der Konserve. Es ist auch der etablierte Hörraum verschwunden. Es sind schlicht alle »störenden« akustischen Außeneinflüsse abgeschaltet. »Wir schlossen die Lade, setzten die Kopfhörer auf und drückten auf Play. Und in diesem Moment wurde unsere Welt von Musik 499 Williams 2012, S. 47. 500 Hügel 2003, S. 505.
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geflutet. Wir konnten in der Bahn sitzen oder auf einem belebten Platz stehen, und doch waren wir plötzlich für uns. Alles war nur noch Sound.«501 Erst die ständig weiter fortschreitende Individualisierung der Gesellschaft, die neben mehr Freizeit, mehr Geld und mehr Mobilität ebenfalls charakteristisch ist für die Jahrzehnte zwischen 1960 und 1990, sorgt dafür, dass das Alleinhören auf eine immer breitere Akzeptanz stößt und schließlich auch Kassettenportables wie der Walkman und spätere Geräte mit Kopfhörern uneingeschränkt salonfähig werden.502
3.4 »ICH MACH MIR DIE WELT, WIE SIE MIR GEFÄLLT« 503: INDIVIDUALISIERUNGEN In den siebziger Jahren setzt sich der bereits in den fünfziger Jahren begonnene Trend fort, dass sich die einstige Industriegesellschaft in Deutschland in eine Dienstleistungsgesellschaft verwandelt. Immer weniger Menschen arbeiten in der Produktion. Handel und Verkehr, Tourismus, Bildungswesen und Medien boomen dagegen. »Im Dienstleistungssektor tummelt sich eine kunterbunte Mischung verschiedener Berufe: Verkäufer, Rechtsanwälte, Richter, Taxifahrer, Lehrer, Kellner, Ärzte, Bürgermeister, Busfahrer, Redakteure, Lastkraftfahrer, Bankkassierer, Sozialarbeiter, Museumsführer, Friseure, Computerprogrammierer, Architekten und so weiter und so fort.«504 Die Arbeitszeiten der Angestellten müssen flexibler werden, zum Teil wird nun auch abends oder am Sonntag gearbeitet. Die Termine, die üblicherweise für Familien-, Kirchen- oder Vereinsleben frei waren, bekommen Konkurrenz. Dementsprechend werden andere, weniger organisierte Freizeitbeschäftigungen wichtiger. »Mit dem Abschied vom Industriearbeiter ging die Prägung der Alltagskultur durch Fabrik-, Familien- und Feierabendleben in pluralen Lebensformen auf. Traditionelle Bindungen lockerten sich zugunsten individualisierender Tendenzen.«505 Der in den Sechzigern begonnene Wertewandel weg von einer festen Verankerung in Familie, Religion und gesellschaftlicher Klasse vollzieht sich immer schneller. Mehr und mehr individuelle, freiwillige, einkommens- und klassenunabhängige Gemeinschaften entstehen, in denen die Mitglieder Möglichkeiten 501 Bonner/Weiss 2016; S. 223. 502 Vgl. Weber 2009, S. 80. 503 Aus dem Titelsong der deutsch-schwedischen Fernsehserie Pippi Langstrumpf (1969) nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Astrid Lindgren. 504 Context Politik: Wissenschaft: Kultur URL (abgerufen am 14.2.2017) http://www.cpw-online.de/kids/wirtschaftsbereiche.html 505 Weber 2008, S. 174.
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zur Partizipation und Orientierung finden. Auf dem Gebiet der neuen Unterhaltungs-, Freizeit- und Konsumkultur gibt es kaum Erfahrungen der älteren Generation, auf die zurückgegriffen werden kann. 506 »Wer nun cool und im Trend sein wollte, pfiff auf Vorbilder. Sich an anderen zu orientieren war out.«507 Es ist ein Zeitalter der Selbstentfaltung und des freien Willens. 3.4.1 Individuelle Rückzugsräume Durch den Wohnungsboom der sechziger Jahre und den zunehmenden Wohlstand entspannt sich die vor allem in den Städten beengte Wohnsituation der Nachkriegszeit. Damit können in vielen Wohnungen für den Einzelnen private Rückzugsräume entstehen, in denen der Alltag individuell und kreativ gestaltet wird. Der Hobbyraum kommt in Mode, Partykeller, Bastel- oder Bügelräume werden eingerichtet und natürlich Kinder- und Jugendzimmer. Das eigene Zimmer Zunächst bekommen vor allem männliche Jugendliche ihre eigenen Rückzugsräume. Schwestern teilen sich meist länger ein gemeinsames Zimmer. Doch bis zum Beginn der siebziger Jahre dürfen sich auch Mädchen mehr und mehr von althergebrachten Rollenbildern verabschieden und bekommen eigene Gestaltungsspielräume. 1967 verfügen laut einer Allensbach-Studie bereits 65% der westdeutschen Jugendlichen über ein eigenes Zimmer.508 Im Nostalgie-Sachbuch Wir Kassettenkinder erinnern sich die Autoren: »In den frühen Achtzigern war unsere Bude noch vorwiegend mit Möbeln aus dem vorangegangenen Jahrzehnt bestückt, dazwischen stand vereinzelt ein modernes Stück: ein Tischchen aus Glas und Chrom oder ein Regal mit Holzimitatfolie, das wir zum Geburtstag bekommen hatten. Bei einigen Kassettenkindern stand sogar der Spieltisch, den wir Jahre zuvor mit Pelikan-Malmäusen und Wachsstiften bekritzelt hatten, als Ablage noch in der Ecke, wenn er nicht zu den jüngeren Geschwistern abgewandert war – man bekam generell viel Gebrauchtes, Getragenes, Repariertes.«509
Dazu gehören neben Möbeln, Teppichen oder Vorhängen auch eigene AudioGeräte. Als tragbare Plattenspieler, Kofferradios und schließlich vor allem Kassetten- und Radiorekorder dank ihrer Mobilität die Jugendzimmer zu erobern be506 507 508 509
Siegfried 2006, S. 52. Großegger u.a. 2003, S. 97. Siegfried 2006, S. 39. Bonner/Weiss 2016, S. 63f.
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ginnen, ist im Grunde genommen ein erster Grundstein gelegt für das individuelle Hören, das später im Zusammenhang mit dem Walkman so heftig kritisiert wird. Die Hörspielproduzentin Heikedine Körting erzählt: »Ich denke mal, die meisten haben ihre Hörspiele im Kinderzimmer gehört. Da konnte man ja auch schön dabei malen, Bauklötze spielen oder nur zuhören. Oder eben, noch ganz was anderes – das war immer meine Domäne und ist es bis heute – am liebsten im Bett. Also, gemütlich vor der Schule – also, heute gehe ich ja nicht mehr zur Schule, aber damals – oder dann auch abends vor dem Einschlafen.«510 Das Wohnzimmer als Ort des gemeinsamen Hörens von Musik wird vom eigenen Zimmer als Ort für individuelles Hören oder Hören in selbst gewählten Gemeinschaften abgelöst. Über die Stereo-Anlage im Wohnzimmer, die sehr häufig in einen Musikschrank eingebaut und damit alles andere als mobil ist, haben weiterhin die Eltern die »akustische Hoheit«, wodurch sie den kollektiven, innerhalb der Wohnung gleichsam »öffentlichen« und allgemeinen Musikkonsum steuern und kontrollieren können. Im Jugendzimmer, im Partykeller, auf dem Dachboden oder im Hobbyraum, wo Eltern und Kinder alleine Schallplatten, Kassetten oder Radio hören, endet dieses Hoheitsgebiet. Hier kann jeder das hören, was ihm oder ihr gefällt – Märchen, Musik oder Moderationen – bei den Hausaufgaben, beim Zimmeraufräumen, zum Einschlafen, so oft es Spaß macht, mit wem auch immer und so laut es notwendig scheint, ohne sich absprechen zu müssen und auch ohne um Erlaubnis zu bitten. »At home, teenagers not only gained freedom and independence from parental audio equipment, but also evaded the control of their parents by installing their radios beyond an audible radius, in the attic for instance.«511 Noch mehr als tragbare Schallplattenspieler oder Kofferradios erfüllen Kassettengeräte – insbesondere Radiorekorder – diesen Wunsch nach Individualität und Unabhängigkeit: Musik kann in einer individuellen Zusammenstellung direkt aus dem Radio aufgenommen werden. Man kann fremde bespielte Kassetten abhören und natürlich auch duplizieren. Leere Kassetten sind viel preiswerter als Schallplatten, und man kann auf eine einzige C-90 Kassette zwei ganze Langspielplatten aufnehmen. Oder auch nur den einen Song eines Albums, der einem am Herzen liegt. Kassetten lassen sich individuell gestalten, aufnehmen, beschriften, bekleben und verschenken. Und schließlich ist Kassettenaufnehmen und -hören ein Hobby, das man auch in Gemeinschaft mit Freunden betreiben kann. »Und dann haben wir uns halt mordsmäßig Mühe gegeben und Cover gebastelt. Man hatte damals viel Zeit und man hat da nebenher auch Musik hö-
510 Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016. 511 Weber 2009, S. 76.
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ren können. Das waren typische, ich nenn das jetzt mal verkiffte Nachmittage, wo man das dann so gemacht hat. Das hat sehr viel Spaß gemacht.« 512 In den achtziger Jahren sind Kassettenrekorder und Kassetten darum aus nahezu keinem Jugendzimmer mehr wegzudenken. Ähnlich wie in Badeanstalten oder in Parks tönen nun auch aus verschiedenen Ecken der Wohnung unterschiedliche Musiken: »Unsere Eltern hörten ihre Musik selten richtig laut, sondern lieber so, dass es die Nachbarn nicht störte. Unsere Musik klang dagegen erst so richtig gut, wenn man sie voll aufdrehte. Der Monorekorder, dessen einziger Lautsprecher inzwischen vom Endlosbetrieb knisterte wie eine Butterbrottüte, genügte da nicht mehr. Bei den meisten von uns reichte das Geld noch nicht für eine teure Anlage, und so mussten wir uns auf halbem Wege zufriedengeben – mit einem Stereo-Radiokassettenrekorder. Er verfügte in den meisten Fällen über zwei Kassettendecks, was beim Überspielen ungemein praktisch war, und stellte mit den beiden Lautsprechern auch klangtechnisch einen deutlichen Schritt nach vorn dar.«513
Der eigene Stil Bereits Ende der fünfziger Jahre entsteht innerhalb der weltweiten Jugendkultur eine Massenkultur mit Beat- und Dixieland Musik. In Westdeutschland werden mit der Twen und später mit der Bravo erste Jugendzeitschriften gegründet, die festlegen, was en vogue ist und was nicht, womit sie zugleich neue Begehrlichkeiten wecken und neue Trends »pushen«. Mobilität und Individualität zum Beispiel: »The Urge for mobility was cleary stated in an article published by the teenager magazin ›Twen‹ in 1961 […]. ›Young people want to be mobile. Thus, also the things and artifacts which they use day-to-day should be as transportable as possible.... One wants to take one’s music along – to a friend, to a party, on a journey, or just to the adjoining room‹.«514
In der Vereinheitlichung von Trends, Waren und Meinungen liegt ein weiterer Grund für die gleichzeitig zunehmenden Individualisierungstendenzen, auch wenn sich das zunächst widersprüchlich anhören mag. Als in den sechziger Jahren industrielle Konsumgüter massenhaft die Märkte überfluten, entsteht parallel dazu wiederum auch eine gewisse Notwendigkeit, sich von der Masse der »stromlinienförmigen« Konsumenten abzusetzen, um Wiedererkennbarkeit der eigenen Person zu schaffen und um einen eigenen Stil zu entwickeln, der bestimmend für Status, Ansehen und Außenwirkung ist. 512 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016. 513 Bonner/Weiss 2016, S. 219f. 514 Bijsterveld/Jacobs 2009, S. 75.
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»Die Suche nach dem richtigen ›look‹ und ›sound‹ wird zu einem beinahe lebenswichtigen Faktor. Es gilt branchè [sic!] […] zu sein (wörtlich: an den Stromkreis angeschlossen). Dies meint, auf der Suche zu sein nach dem Mehr, dem Neuen, dem Noch-nieGesehenen, dem Anders- und Einzigartigen – und das in allen Lebensbereichen. In diesem Sinne ›in‹, à la mode zu sein, ist ein Geschäft, das man jeden Tag betreiben muß, das Kleidung, Bildung und Sprache ebenso beinhaltet wie Freizeit und Musik.«515
Vor allem Jugendliche sind auf der Suche nach einer eigenen Identität, nach einem eigenen Stil, der sich optisch und auch akustisch vom Mainstream unterscheidet. »Die Jugend ist ziemlich jung und sehr verschieden, meinen die Studienautoren der Shell Studie '85 ein wenig nachdenklich. […] Zwar setzt sich die Jugendkultur nach wie vor gegenüber der Kultur der Erwachsenen ab. Aber sie ist längst kein homogenes Ganzes mehr. Ganz im Gegenteil. Mitte der 80er ist die Jugendkultur zu einem Schmelztiegel geworden. Sie zerfällt in viele bunte Teilkulturen. Die Jugendlichen finden das gut so – nicht zuletzt deshalb, weil sich jeder nun nach Lust und Laune daraus bedienen kann.«516
Es beginnen sich neue, eigenwillige Stile und Anti-Stile herauszubilden, deren Anhänger gar nicht oder jedenfalls nicht wie von der Industrie beabsichtigt mit den vorhandenen Konsumgütern umgehen. »Die Vielfalt der zur Verfügung stehenden Konsumgüter ermöglicht eine Vielzahl von Kombinationen, die die Individuen zur Ausbildung eigener Identitäten nutzen. Doch Stil wird nicht nur über die Kombination von Konsumgegenständen kreiert, sondern auch über Nicht-Konsum oder Konsumverweigerung.«517 Versteht man Stil als »Gesamtheit der auf typische Weise genutzten oder neu geschaffenen Ausdrucksmittel, insbesondere Sprache, Mode, Körpersprache und Musik«518 so lässt sich mit dem Aufkommen von Wohlstand und einer eigenen Jugendkultur ab den fünfziger Jahren eine Ausdifferenzierung verschiedenster Stile und deren Kombination untereinander beobachten: von den Beatnicks und Halbstarken der fünfziger Jahre hin zu den Hippies, Rock'n'Rollern und Pilzköpfen der Sechziger, über Punker und Psychos, Teds oder Rocker in den Siebzigern und Achtzigern, Wavern, Ökos, Ravern und Techno-Freaks hin zu Emos, Gamern und Computernerds – um nur einige wenige zu nennen. Es ist mir wichtig, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die Ausbildung verschiedener auffälliger und provokativer Stile zwar ein gesellschaftlicher Trend der Kassettenjahre ist, dass sich aber keineswegs die gesamte Gesellschaft in einzelne verwegene Stilwelten oder Gruppenzugehörigkeiten aufteilen lässt. 515 516 517 518
Vollbrecht 1989, S. 107. Großegger u.a. 2003, S. 65. Siegfried 2006, S. 16. Schäfers/Scherr 2005, S. 39.
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Vielmehr strebt die Mehrheit der Menschen seit den fünfziger Jahren nicht nach auffälligen, provokanten Styles, nach maximaler Individualisierung oder einer Zugehörigkeit zu Sub- oder Gegenkulturen.519 Wie im Zusammenhang mit den unterschiedlichen deutschen Protestbewegungen schon beschrieben, lebt der weitaus größte Teil der Bevölkerung einen »normalen« Alltag in einer Welt, in der es zwar ein immenses Angebot an Waren gibt, in der aber die damit einhergehenden Angebote an Stilwelten oft nur als theoretische Option bestehen. Das Bemühen um die Ausbildung eines eigenen privaten Stils im Sinne einer »individuellen Note« ist dagegen eine Tendenz, die sich quer durch die gesamte Gesellschaft zieht. Darum möchte ich etwas genauer betrachten, was grundsätzlich bei der Ausdifferenzierung eines Stils geschieht, denn auch dabei können Kassetten auf verschiedene Art und Weise eine wichtige Rolle spielen: als preiswerte Tonträger für schwer erhältliche Nischenmusik, als modische Accessoires und als individuelle Kreativmedien. Eigene Musik im Supermarkt der Stile 520 Der britische Anthropologe Ted Polhemus prägt 1997 den Begriff vom »Supermarkt der Stile«, um die schier unüberschaubare, teils auch sehr kurzlebige Stilvielfalt zu beschreiben, die sich ab den sechziger Jahren in Europa herauszubilden beginnt. In diesem »Supermarkt« verschiedenster Stile können sich die Menschen frei und nach eigenem Gutdünken bedienen, auch um aus Artefakten verschiedener Stile einen neuen Stil zusammenzustellen oder zumindest eine individuelle Stilvariante zu erschaffen. Dabei spielt Unterhaltungsmusik eine zentrale Rolle. »Music is the highly marketable tip of the pop culture iceberg. Plastered over advertising hoardings, celebrated by television, newspapers, magazines and radio, pop music has inevitably come to represent pop and youth culture as a whole. Popular musicians have, therefore, rarely been able to concentrate solely in their music; as representatives of pop culture they have to dress the part.«521
Was Pop-Stars tragen, wird schnell zur Mode. Seien es die grellbunten Haare der Sängerin Toya, die Tollen von Elvis oder Stray Cats-Gitarrist Brian Setzer, die Streetboots der Beatles, Brillen wie John Lennon oder Lou Reed sie tragen, Sicherheitsnadeln und Stachelfrisuren wie bei den Sex Pistols, Mützen, Hüte, Uniformen, Krawatten, Pettycoats oder Nietenjeans – über das Tragen extrava519 Großegger u.a. 2003, S. 15. 520 Dieser Begriff wurde von dem britischen Modehistoriker und Anthropologen Ted Polhemus in den neunziger Jahren geschaffen. 521 Polhemus/Procter 1984, S. 5.
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ganter Kleidungsstücke, das Imitieren bekannter Stars und den Konsum bestimmter Musikrichtungen kann man zeigen, wie man als Individuum fühlt und denkt. Man kann sich auch trefflich abgrenzen: von anderen Jugendlichen, die andere Musik hören, und von der als spießig und konservativ empfundenen Erwachsenenwelt. »Er ist ein besonders wichtiges Mittel der Identitätsbildung und der Markierung von Differenz gegenüber anderen. Musik verschafft einen Sinn für reale oder imaginäre Gemeinschaft, die im Akt des Konsums geschaffen wird.«522 Das erklärte Votum für eine bestimmte stilbildende Musik beeinflusst in der Regel alle Lebensbereiche. Es bestimmt, welche Kleidung man trägt, wie man Frisuren und den Körper stylt, wie man sich ausdrückt, was man in seiner Freizeit unternimmt, wie man sich dem anderen Geschlecht oder Autoritäten gegenüber verhält, welche anderen Musikrichtungen man gut findet oder ablehnt, wo und mit wem man sich häufiger trifft. Sich mit einer bestimmten Musikrichtung zu beschäftigen, selbst Musik zu machen oder entsprechende Musik zu sammeln, ist eine Form der Selbstinszenierung und gleichzeitig ein Signal von Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Wer sich gegenüber der breiten Masse der Konsumenten absetzen will, beginnt darum oft mit dem Aufbau einer eigenen Plattensammlung. Der deutsche Autor Benjamin von Stuckrad-Barre erinnert sich: »Was später in manchen Mannes Leben das Auto ist, das ist vor der Volljährigkeit und meistens auch danach noch die Plattensammlung.«523 Ausgefallene und seltene Scheiben einer bestimmten Musikrichtung zu besitzen, ist als Statement wichtig, denn je individueller und besonderer eine Musiksammlung ist, umso mehr Aufmerksamkeit wird sie bekommen, wenn sie mit Freunden angehört oder zu Parties mitgenommen wird. »Record collecting involves more than music. Collecting is about the thrill of the hunt, the accumulation of expertise, the display of wealth, the synthetic allure of touching and seeing sound, the creation and cataloging of memories and pleasures (and dangers) of ritual. Record collecting represents a relationsship with music, that helps us, in some part small or large, to articulate and, indeed, shape who we are.«524
Um an »Rares«, seltene Aufnahmen, heranzukommen, muss sich ein Sammler auskennen, Geld und Zeit investieren. Und er muss sich oft Wochen und Monate gedulden können, bis er eine bestimmte Schallplatte sein Eigen nennen kann. Denn – ganz anders als im virtuellen Zeitalter heute – kann Musik nicht als 522 Hügel 2003, S. 68. 523 Stuckrad-Barre 2007, S. 285. 524 Morton 2006, S. 11.
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binärer Code versendet, gestreamt oder gedownloaded, sondern nur ganz gegenständlich als Paket verschickt werden, erinnert sich Filmregisseur und Musiker Dominik Kuhn: »Ich war ja Franky-Fan. Und Franky Goes to Hollywood haben ja diesen Remix-Overkill angefangen in der Neuzeit. Das war für mich das größte Erlebnis, dass ich mir den HeavyMetal-Mix von Warriors of the Wasteland in England bestellt habe. Ohne Internet, ohne irgendwas. Da musstest du Briefe schreiben nach London und fünfzig Pfund hinschicken und was weiß ich. Und heute ist es halt so: Du bekommst alles überall durchs Internet. Und ich bin ein erwachsener Mensch und habe einigermaßen normal Geld. Das heißt: Wenn ich mir den und den Traum erfüllen will, bestelle ich in Australien, zahle mit Paypal, ist drei Tage später per FedEx da. Stinkend langweilig. Und das war damals eben anders.«525
Damals können Kassetten als Ersatzmedien für die Schallplatte selbst dezidierten Plattensammlern wie Dominik Kuhn gute Dienste leisten. Von anderen Musikfreaks ausgefallene Songs auf Kassette zu überspielen, wenn die Originalplatte nicht zu bekommen ist, eigene Konzertmitschnitte auf Kassette zu machen, angesagten DJs in Diskotheken eine Leerkassette zum Mitschneiden ihrer Sessions zu geben, ist unter Musikfans absolut nichts Außergewöhnliches. Einmal, erinnert sich Dominik Kuhn, sei er sogar mit dem Tapedeck im Gepäck nach Griechenland gereist: »Ich kannte einen DJ, einen griechischen DJ, der immer voll tolle Musik hatte. Das gab es damals schon, diese Insider-Typen, die irgendwelche White-Label-Maxis hatten, zu dem ist man schon. Da hat man dann das Kassettendeck nach Griechenland geschleppt, um da irgendwelche Bootlegs und Remixes aufzunehmen. Am liebsten hätte man natürlich diese Bootlegs selber auf Vinyl gehabt. Aber das war immerhin eine Notlösung.«526
Für Menschen, die gerne ihre eigene, individuelle Musik machen und in einem bestimmten Umfeld vielleicht sogar veröffentlichen wollen, ist die Kassette dagegen keine Notlösung, sondern das Medium der Wahl. Aufgrund ihrer leichten Bedienbarkeit verdrängt sie das Tonband als individuelles Kreativmedium Nummer eins vom Markt und nimmt dessen Platz und auch dessen gesellschaftlichen Stellenwert ein: Wer wie die KassettentäterInnen der achtziger Jahre selbst Kassettenmusik macht, Kassetten bespielt, gestaltet, produziert und vertreibt, gilt als individuell, unangepasst und kreativ. Mit eigenen Kassettenproduktionen setzt man sich effektiv von der Masse der Nur-Konsumenten, der Radio- und Schallplattenhörer ab.
525 Interview mit Domnik Kuhn vom 13.7.2015. 526 Interview mit Dominik Kuhn vom 13.7.2015.
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Zusätzlich spielen bei der Ausgestaltung einer bestimmten Stilzugehörigkeit auch zur Musik gehörende, klingende Accessoires eine wichtige Rolle. »Ebenso wie Kleidung – ob gewollt oder ungewollt – die Geschlechts- und Alterszugehörigkeit sowie den Lifestyle ihres Trägers unterstreicht, so diente auch die tragbare Konsumelektronik der eigenen Identitätsgestaltung sowie der Körper- und Identitätsinszenierung gegenüber anderen Personen, und zwar umso stärker, je dauerhafter sie mitgeführt wurden.«527
Auch dafür eignet sich die Kassette mit den verschiedenen mobilen Rekordern gut. Tragbare Radiorekorder, Boomboxes, Ghettoblaster oder der Walkman sind beispielsweise solche Accessoires, die viel über den individuellen Geschmack und die Selbstpositionierung ihrer NutzerInnen verraten können. »Wenn z.B. zwei Jugendliche Walkman hören und allenfalls über talk-in-Taste kommunizierend durch die Stadt schlendern, dann vielleicht deshalb, weil man eben dies ›nicht tut‹ und es genießt, die Blicke der Passanten auf sich zu ziehen […] Fast zynisch distanziert man sich vom ›bürgerlichen Lebensalltag‹, will sich gerade nicht politisch oder sozial engagieren, sondern erhebt das Spielerisch-Ironische zum obersten Lebensprinzip.«528
Gleichzeitig werden tragbare Abspielgeräte aber nicht nur aus praktischen oder provokativen Gründen mitgeführt, sondern auch als Statussymbole. Der »echte«, teure und qualitativ beste Sony-Walkman ist in den achtziger Jahren genauso ein Objekt der Begierde, des Neids und des Prestiges wie es die »echten« großen iPods zu Beginn des 21. Jahrhunderts oder später die iPhones werden. Lauscht man heute Gesprächen von Schülern im Tübinger Stadtbus, kann man regelmäßig ähnlichen Diskussionen um Marken-Kopfhörer oder kostspielige BluetoothLautsprecher-Boxen für Smartphones oder iPods folgen. 3.4.2 Stilwelten, Szenen und Cliquen: Neue Formen der Vergemeinschaftung Am Ende der Kassettenjahre ist nicht nur die erwachsene Freizeitkultur, sondern auch Jugendkultur nicht mehr in Verbänden oder Vereinen organisiert, sondern manifestiert sich vor allem in den bereits beschriebenen Stilwelten, die häufig in sogenannten »Szenen« organisiert sind, in Cliquen und informellen Freundesgruppen.
527 Weber 2008, S. 23. 528 Vollbrecht 1989, S. 106.
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»Das Schöne an den Jugendszenen ist, dass man sich dort nicht langfristig binden muss. Außerdem geht es dort auch toleranter zu. Wenn man zum Beispiel zur Hip-Hop-Szene gehört, heißt das nicht automatisch, dass man alle Jugendlichen aus der Metal-Szene hassen muss. Die Jugend findet das sympathisch. Das Bekenntnis für einen bestimmten Freizeitstil muss für sie nicht unbedingt mit Ablehnung eines anderen Stils verbunden sein. […] Sie sind in mehreren Jugendszenen gleichzeitig unterwegs. Starre Ideologien sind längst passé. Das Sampling-Prinzip erobert ihre Lebensphilosophien.«529
Szenen statt traditioneller Vergemeinschaftungsformen Weil sich die Vorstellung von Jugendzeit soziologisch und psychologisch ab den ausgehenden 1960er Jahren Schritt für Schritt ausweitet, steigt auch die Zahl und damit die Bedeutung der Vergemeinschaftungen an, die für die Sozialisierung von Jugendlichen und für die Gestaltung der Freizeit verantwortlich sind. Kirchen, Vereine, Schulen oder auch die Familie verlieren dabei als traditionelle »Sozialisationsagenturen« mehr und mehr an Bedeutung. Sie sind bis heute von teils als autoritär und bevormundend empfundenen Traditionen geprägt und liegen damit quer zu den individuellen und eher freiheitlichen Grundbedürfnissen der Jugend: Man will sich sein Leben selbst gestalten, will mitmachen bei der Gestaltung sozialer Freiräume und sich mit anderen Gleichgesinnten darüber austauschen. Interaktion und Partizipation werden damit zu zentralen Kriterien eines erfüllten Lebens.530 Darum suchen junge Menschen auch und gerade außerhalb der traditionellen Institutionen Möglichkeiten, um sich mit anderen jungen Menschen zu treffen und auszuprobieren. Sie versuchen, in privaten Cliquen oder Szenen, weitgehend vom Erwachsenen-Alltag befreiten Erfahrungsräumen, eigene Sinnwelten zu gestalten, eigene Wertvorstellungen und Kompetenzen zu entwickeln. »Jugendliche suchen […] typischerweise Verbündete für ihre Interessen, Kumpane für ihre Neigungen, Partner ihrer Projekte, Komplementäre ihrer Leidenschaften; kurz gesagt: Gesinnungsfreunde. Solche finden sie aber immer weniger oft in der Nachbarschaft oder in der Schulklasse. Sie finden sie selten in traditionalen Kirchengemeinden, Jugendverbänden oder Sportvereinen. Und sie finden sie meist schon gar nicht in ihren Eltern. […] Sie finden Gesinnungsfreunde vorzugsweise in Szenen, in ›ihren‹ Szenen.«531
Ich benutze den Begriff der Szene im Sinne eines lockeren Netzwerks unbestimmt vieler beteiligter Personen.532 In eine Szene wird niemand hineingeboren oder -sozialisiert. Sie ist eine freiwillige und temporäre Interessengemeinschaft 529 530 531 532
Großegger u.a. 2003, S. 89. Hurrelmann/Quenzel 2013, S. 26. Hitzler u. a. 2005, S. 16. Hitzler u. a. 2005, S. 15.
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von Jugendlichen oder juvenilen Erwachsenen im bereits erläuterten Sinne. Damit bietet sie nicht nur die gewünschten Möglichkeiten zur individuellen Stilbildung, zur Partizipation und zur Kommunikation. Sie hilft auch, sich zu orientieren innerhalb eines völlig unübersichtlichen Waren- und Konsumangebotes und innerhalb unendlich vieler Möglichkeiten, Erlebniswelten selbst zu gestalten, sich zu orientieren und Angebote mit einem Sinn zu versehen. »Dementsprechend erscheinen Szenen mehr und mehr als jene ›Orte‹ im sozialen Raum, an denen Identitäten, Kompetenzen und Relevanzhierarchien aufgebaut und interaktiv stabilisiert werden, welche die Chancen zur gelingenden Bewältigung des je eigenen Lebens über die Dauer der Szene-Vergemeinschaftung hinaus (also relativ dauerhaft) erhöhen.«533 Merkmale einer Szene Innerhalb der Gesinnungsgemeinschaft »Szene« sind also nicht mehr – wie in traditionalen Vergemeinschaftungsformen – gemeinsame Lebensumstände, ein gemeinsames Alter, eine gemeinsame Konfession, eine Milieu- oder eine politische Zugehörigkeit wichtig, sondern gemeinsame Moden, Rituale, Erkennungszeichen, gemeinsame Sprachcodes und vor allem ein gemeinsames Thema, auf das die Aktivitäten der Szenegänger ausgerichtet sind, ein sogenanntes »Issue«. »Dieses ›Issue‹ ist oft ein bestimmter Musikstil, kann aber auch eine Sportart sein, eine politische Idee, eine bestimmte Weltanschauung, ein spezieller Konsumgegenstand wie eine Automarke oder ein Filmtypus oder auch ein Konsum-Stil-Paket aus ›angesagten‹ Dingen. Szenegänger teilen das Interesse am jeweiligen Szene-Thema. Sie teilen auch typische Einstellungen und entsprechende Handlungs- und Umgangsformen.«534
Um dieses Issue herum wächst die Stilwelt oder Szene, die aus mehreren kleineren, miteinander vernetzten Gruppen besteht. Diese sind weitgehend zentralistisch um sehr aktive Schlüsselfiguren und ihre Freunde herum aufgebaut. Je weniger aktiv ein Mitglied innerhalb der Gruppe ist, umso weiter entfernt vom Zentrum bewegt es sich und umso schwächer ist gleichzeitig auch die Bindung an die Gruppe oder Szene. Dennoch gibt es keine eindeutige Trennlinie, die das Innen vom Außen unterscheiden würde. Es ist vielmehr typisch für eine Szene und ihre einzelnen Untergruppen, dass sie an den Rändern eher unscharf und damit prinzipiell offen sind. Zudem besitzen die allermeisten Szenen weder
533 Hitzler u. a. 2005, S. 26. 534 Hitzler u. a. 2005, S. 17.
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Rituale für den Ein- noch für den Austritt. Dadurch vollziehen sich solche Grenzgänge meist sehr organisch und ohne großes Aufheben.535 Gleichzeitig charakterisiert sich eine Szene auch durch prinzipielle Offenheit gegenüber anderen Szenen. Mitglieder einer Szene können parallel Mitglieder einer anderen Szene sein, vorausgesetzt, die Issues schließen sich in ihren Grundsätzen nicht gegenseitig aus. Ein Jugendlicher könnte also problemlos Teil einer Musikszene und gleichzeitig Mitglied einer Oldtimerszene sein, Mitglied der Punk-, der Hörspiel- und der Home-recordingszene, sofern er die Regeln der Interaktion und vor allem der Kommunikation der jeweiligen Szene einhält. Denn neben allen erwähnten Merkmalen, durch die sich individuelle Stilwelten, Gruppen und Szenen konstituieren, ist Kommunikation wahrscheinlich das Wichtigste. »Partizipation an einer Szene bedeutet also vor allem kommunikative und interaktive Präsenz des Akteurs.«536 Kassetten als Kommunikationsmittel Damit ist zum einen Kommunikation innerhalb der einzelnen Kleingruppen einer Szene gemeint, die in der Regel sehr eng und persönlich verläuft, zum anderen auch die kommunikative Vernetzung der Gruppen untereinander, also die weniger intensive Kommunikation innerhalb der gesamten Szene, in der sich die Mitglieder nicht mehr notwendigerweise persönlich kennen und begegnen. »Da nämlich Szenen nur selten […] aus kollektiv auferlegten Lebensumständen resultieren, ist ihre Existenz gebunden nicht nur […] an die ständige kommunikative Vergewisserung, sondern vielmehr an die ständige kommunikative Erzeugung gemeinsamer Interessen seitens der Szenegänger.«537 Kassetten sind darum innerhalb einiger Szenen die idealen Kommunikationsmedien. Musik, die eventuell das Issue der Szene darstellt, lässt sich mit Kassetten leicht verbreiten, tauschen oder vorführen. Man kann sich Neuheiten ebenso zukommen lassen wie alte »Rares«. Außerdem eignen sich Kassetten selbst als Issue, wie zum Beispiel in der schon beschriebenen Hörspielszene rund um die Ermittlungen der Drei ???, wo alte und neue Kassetten gesammelt, getauscht, digitalisiert, ins Internet hochgeladen, auf Flohmärkten ge- und verkauft werden. Die so entstandene altersübergreifende Fan-Gemeinschaft kann sich
535 Ausnahmen sind zum Beispiel in links- bzw. rechtsextremen oder religiös fanatisierten Szenen zu finden, wenn man den umgangssprachlichen Szenebegriff zu Grunde legt. Diese Szenen sind teilweise anders organisiert und hier ausdrücklich nicht angesprochen. 536 Hitzler u. a. 2005, S. 17. 537 Hitzler u. a. 2005, S. 17ff.
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anschließend bei Live-Hörspieltouren durch ganz Deutschland sogar physisch zusammenfinden. Auch die Kassettenszene der achtziger Jahre ist eine Szene mit KassettenIssue. Es geht um Selbstproduziertes, Kreatives, »Abgefahrenes«. Diese Szene ist eine Gemeinschaft vieler gleichgesinnter »Kassettentäter«538, vieler Eigenbrötler und Individualisten, die, quer über ganz West- und Ostdeutschland verteilt, ihrem Kassetten-Hobby frönen. Das einzige Medium, um in Kontakt zu kommen und zu bleiben, ist wiederum die Kassette, erklärt Frank Apunkt Schneider: »Da gibt es eben irgendwelche Leute, die zwar irgendwo anders sitzen, aber auf dem gleichen Film sind wie du. Und um diese Andersgesinnten zu erreichen, hast du genau dieses Medium gebraucht. Da gibt es dieses berühmte Zitat von Armin Hofmann von xmist-records in Tübingen. Er hat damals in Nagold gewohnt. Quatsch. Viel schlimmer. Nicht in Nagold, sondern in einem Dorf in der Nähe von Nagold. Also, Nagold wäre ja zumindest noch irgendwie eine Stadt. Und er hat eben erzählt: Ich war damals vierzehn oder fünfzehn – ich und mein Bruder saßen da, wir haben uns für die ganzen Sachen interessiert, für Musik interessiert. Und wenn am Tag der Postbote kam und eine Kassette gebracht hat, dann ist etwas passiert. Sonst war ja nichts. Das war also sozusagen ein Signal aus der Welt.«539
Kassetten ermöglichen es, außerhalb des regionalen Freundeskreises oder regionaler Szenen Teil einer ortsunabhängigen, translokalen Interessengemeinschaft, einer Szene oder einer Stilwelt zu sein. Sie machen es aber gleichzeitig auch möglich, innerhalb einer Szene oder einer Clique bilaterale Kommunikation zu betreiben. Denken wir etwa an Mixtapes mit einem dezidierten Empfänger und einer mehr oder weniger verschlüsselten privaten Botschaft. Oder schauen wir uns »Kassettenbriefe« an, wie sie die Hörspiel-Produzentin Heikedine Körting in ihrem beruflichen und privaten Netzwerk jahrzehntelang verschickt hat: »Also, ich habe immer richtige Kassettenbriefe verschickt. Und auch Kassettenbriefe bekommen. Jetzt nicht mit Geschichten, sondern einfach aus dem Leben erzählt. Da konnte ich noch was einspielen oder das Mikrophon mal schnell aus dem Fenster halten und sagen: Hier, da vor meinem Fenster singt gerade eine Amsel so schön. Und im Hintergrund konnte ich dann noch eine kleine Musik laufen lassen. Und außerdem hat mich der andere dann viel persönlicher. Er hat ja meine Sprache. Dann habe ich solche Kassetten natürlich auch zu Geburtstagen verschickt. Heute macht man das übers iPhone. Da macht
538 Der Ausdruck entstammt dem Titel eines regionalen Kassettensamplers aus Pforzheim und ist schnell bekannt und zum Szenebegriff geworden. 539 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016.
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man einen kleinen Film und singt dazu. Aber ich habe dafür viel Kassette benutzt und habe dann noch ein Geburtstagslied dazu gesungen oder sowas.«540
3.5 ZWISCHENRESÜMEE ZWEI Betrachtet man im Kontext der westdeutschen Gesellschaftsgeschichte die Kompaktkassette und die verschiedenen Kassettenabspielgeräte, die während mehr als drei Jahrzehnten auf dem Markt zu haben sind, analysiert man, wer ihre NutzerInnen sind, welche Muster sie im Umgang mit der Kassette ausprägen und welche öffentlichen Regulierungen diese wiederum erfahren, so kann man in den Jahren zwischen 1960 und 1990 von der Entstehung einer Kassettenkultur sprechen. Die Kassette ist hier nicht nur im praktischen Alltag allgegenwärtig und damit physischer Teil der deutschen Alltagskultur – egal ob im Auto, zu Hause, im Supermarkt, in der Kneipe, im Urlaub, in der Schule oder bei der Arbeit. Sie wird auch von Menschen aller Altersklassen und quer durch alle gesellschaftlichen Schichten genutzt. Außerdem steht sie im Zentrum gesellschaftlicher und medialer Debatten, ist Teil groß angelegter Werbekampagnen und selbstverständlicher Bestandteil der Alltagssprache. Wörter wie Demoband, Mixtape oder Walkman versteht damals fast jeder ohne weitere Erklärung: »So, the Walkman is ›cultural‹ because we have constituted it as a meaningful object. We can talk, think about and imagine it. It is also ›cultural‹ because it connects with a distinct set of social practices (like listening to music while travelling on the train or the underground, for example) which are specific to our culture or way of life. It is cultural because it is associated with certain kinds of people (young people, for example, or music-lovers); with certain places (the city, the open air, walking around a museum) – because it has been given or acquired a social profile or identity. It is also cultural because it frequently appears and is represented within our visual languages and media of communication.«541
Ich habe zu zeigen versucht, dass die Entwicklung einer Kultur wie der Kassettenkultur ein Prozess ist, in dem verschiedene Beteiligte um Kompromisse ringen müssen. »Es besteht (innerhalb der Cultural Studies) Einigkeit darin, dass Kultur nicht als homogenes Ganzes zu begreifen ist, sondern als ein konfliktärer Prozess: ein von Macht geprägter, fragmentierter Zusammenhang.«542 Offenbar kommt es immer dann zu Auseinandersetzungen, wenn eine bestimmte Umgangsform mit der Kassette für einige NutzerInnen bereits zur Alltagspraxis geworden ist, für andere Außenstehende im Gegenteil dazu noch 540 Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016. 541 Du Gay 1997, S. 10. 542 Hepp 2010, S. 20.
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fremde, unverständliche, exotische Züge trägt oder den Prinzipien einer eigenen Alltagspraxis diametral entgegen steht. »Als problematisch wird dabei meist das Medienverhalten der anderen dargestellt, nicht das eigene, und – wie könnte es anders sein – man sieht natürlich vor allem auf die wehrlosen Kinder und Jugendlichen, die naiv-lächelnd in die ausgebreiteten Arme des Medienmolochs laufen.«543 Derselbe Gegenstand wird von unterschiedlichen Gruppen in solch einem Fall unterschiedlich kontextualisiert und es werden ihm auch unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben. Erinnern wir uns z.B. an die Breakdancer und ihre selbst aufgenommenen Kassetten: Für die Aktiven unter den Tänzern sind diese Kassetten optimale Tonträger, um den Tanz akustisch zu untermalen, sie helfen Stimmungslagen zu erzeugen und zu kontrollieren, und sie unterstützen die Herausbildung eines individuellen Styles. Gleichzeitig fördern die Musik von Kassette und das gemeinsame Gestalten von Kassetten den Zusammenhalt und den Austausch innerhalb der Szene. Für Außenstehende ist die von Kassetten abgespielte Musik vor allem eine akustische Provokation, eine Störung der öffentlichen Ordnung, ein Bruch mit geltenden Konventionen. Tritt ein solcher Fall ein, beginnt in der Regel eine medial vermittelte juristische, politische oder auch philosophische Debatte, die meist hitzig und leidenschaftlich geführt wird. Es werden Verbote diskutiert, gesellschaftskritische Ansätze formuliert, Regulierungen ausgehandelt, Kompromisse eingegangen. Ist dieser Prozess abgeschlossen, so kommt es zu einer Phase der Integration, in der bestimmte Kulturpraktiken als Alltagspraktiken anerkannt und akzeptiert werden. Wie vielfältig der Gebrauch der Kassette im Alltag ihrer Ära ist, belegt die Tatsache, dass es rund um Kompaktkassetten und ihre Abspielgeräte eigentlich ständig zu Konflikten kommt, also immer wieder neue Kulturpraktiken verhandelt, bewertet und reguliert werden müssen. Auch das ist ein deutlicher Hinweis auf die Allgegenwart von Kassetten und die Existenz einer Kassettenkultur. Denken wir etwa zurück an die langen Streitigkeiten zwischen Schallplattenindustrie, Urheberrechtlern und Verbraucherschützern. Oder an die Debatte um eine öffentliche Nutzung des Walkmans. Auch die Verwendung des Autokassettenspielers und des kleinen tragbaren Rekorders im Freien tragen Konfliktpotential in sich, über das mit mächtigen Instanzen verhandelt wird: Im ersten Fall wird ein Verkehrsfunk eingerichtet, der die Wiedergabe von Kassetten im Auto einfach unterbricht. Im zweiten Fall wird im Bundes-, beziehungsweise Landesimmissionsschutzgesetz sowie in etlichen kommunalen Verordnungen gesetzlich
543 Vollbrecht 1989, S. 101.
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verfügt, dass Audio-Geräte grundsätzlich nur so laut gestellt werden dürfen, wie gewährleistet bleibt, dass sich niemand durch den Lärm belästigt fühlt. Ich habe weiterhin zu zeigen versucht, dass sich um die Kompaktkassette die unterschiedlichsten Gruppen von NutzerInnen ansiedeln, dass Kassettensysteme in den verschiedensten Kontexten zwischen Spiel, Protest, Selbstinszenierung, Freizeitvergnügen und professionellem Arbeiten und mit äußerst divergenten Absichten genutzt werden. Aufgrund der großen Mobilität von Kassetten entwickelt sich eine Hörpraxis des Nebenbeihörens, die sich parallel zur eher stationären Rezeptionsweise von Schallplatten oder Tonbändern als Alltagspraxis etabliert. »Welche Rezeptionsweise welchem Werk angemessen ist, entscheidet nicht die ästhetische Theorie. Es gibt Produkte, deren Qualität in der Spezialisierung auf bestimmte Aufnahmesituationen liegt.«544 Die Kompaktkassette ist spezialisiert darauf, sich praktisch jeder Aufnahmesituation als geeignetes Medium zur Verfügung zu stellen. Bis zur Erfindung des Smartphones bringt kein anderes Massenmedium darum eine ähnliche Vielfalt an Bedeutungszuschreibungen, NutzerInnengruppen und Wirkungen hervor. Das liegt in erster Linie daran, dass die Kassette praktisch das einzige Medium ist, das die wichtigsten gesellschaftlichen Entwicklungen, Moden, Trends und Strömungen ihrer Epoche mitmachen kann, ein Medium, das sowohl kommerziell als auch individuell, sowohl alleine als auch in einer Gruppe genutzt werden kann, das sich für den passiven Konsum ebenso eignet wie für den aktiven Gebrauch, fürs Nebenbeihören genauso wie für hochkonzentriertes Hören, und das zusätzlich einen ständigen Rollenwechsel zwischen user und producer ermöglicht. Kassetten sind aufgrund ihrer hohen Mobilität überall dabei, aufgrund ihrer leichten Massifizierbarkeit sind sie überall zu haben, sie funktionieren aufgrund ihrer standardisierten Maße auf der ganzen Welt und können dadurch sogar faktisch geschlossene Staatsgrenzen unterwandern. Sie lassen sich per Post verschicken, am Körper tragen oder persönlich überreichen. Sie können im Radio ebenso gespielt werden wie zu Hause im Bett. Weder Schallplatte, noch Tonband, noch später die CD sind als Medien derart flexibel und ubiquitär wie die Kassette. Umgekehrt bedeutet das, dass in den Kassettenjahren praktisch jeder Mensch mit Kassettenkultur in Berührung gekommen ist und eigene Erfahrungen gesammelt hat, die zumindest mittelbar mit Kompaktkassetten verbunden sind. Heute sind die »Kassettenkinder« der achtziger und neunziger Jahre in oder jenseits der Lebensmitte angekommen. Erinnerungen an die Kassettenjahre sind gleichbedeutend mit Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, Erinnerungen ans Erwachsenwerden, an erste berufliche Erfahrungen oder die erste Liebe. 544 Maase 1997, S. 31.
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Nostalgische Erinnerungen also, die unter Umständen sogar mittels Kassettenaufnahmen konserviert sind. Sicherlich ist das der Grund, warum im Jahr 2013, zum fünfzigsten Geburtstag der Kompaktkassette, ein wahrhafter Nostalgie-Hype in Medien und sozialen Netzwerken ausbricht, warum sich so viele Journalisten, Feuilletonisten oder Moderatoren mit leichter Wehmut an die Ära der Kompaktkassette zurückerinnern: Die Beschäftigung mit Kassetten kann uns heute in einer Art »akustischer Zeitreise« zurück katapultieren in unsere Kindheit und Jugend. In eine Zeit, als der Umgang mit Kassetten selbstverständlich und die Kassette noch nicht »Vintage« oder »Retro« war, sondern unser tägliches Leben mitbestimmte und -gestaltete. Darum liefern Suchanfragen bei Google unter den Suchbegriffen »Kassette« und »Bleistift« im Januar 2017 rund 200.000 Ergebnisse, die zum Teil auf Kaufangebote für mit Kassette und Bleistift bedruckte T-Shirts verweisen, auf Diskussionen in Internetforen, eigene Facebook-Seiten, Comics und die von subtilem Stolz erfüllte Erkenntnis: »Unsere Kinder werden diesen Zusammenhang nie verstehen.«
4
»Anybody out there?«545 Kassettenkultur als Kommunikationskultur
Wir haben gesehen: Kassetten werden als Freizeitbeschäftigung benutzt, als Reisebegleiter, als Informations-, Protest- oder Unterhaltungsmedium, zur Selbstdarstellung und bei der Ausbildung individueller Stile. Und sie werden zur Kommunikation zwischen Menschen benutzt. In diesem letzten großen Kapitel meiner Arbeit möchte ich nun detailliert der Frage nachgehen, wie diese Kommunikation mit Kassetten aussieht, in welchen Kontexten sie stattfindet, welchen Strukturen sie folgt, welche Formen von kommunikativen Beziehungen sich mit Kassetten zwischen dem Beginn der sechziger und dem Ende der neunziger Jahre ausbilden und welche Konnektivitäten sich dabei zwischen den einzelnen Kommunikationspartnern entwickeln. Kassettenkultur neben den Aspekten Technik- und Gesellschaftsgeschichte unter dem Blickwinkel der Kommunikation zu untersuchen, halte ich deshalb für ein gewinnbringendes Unterfangen, weil es die Betrachtung von Kassettenkultur als Medienkultur vervollständigt. Kassettenkultur als Bedeutungssystem kann – wie bereits in der Einleitung zu dieser Arbeit erläutert – nicht ohne Kommunikation zustande kommen. Und umgekehrt setzt auch jede Kommunikation mit und über Kassetten einen kulturellen Bezugsrahmen voraus. 546 Kassettenkommunikation kann dabei verschiedene Erscheinungsformen haben. Menschen hören alleine oder zu mehreren, sie kaufen Kassetten und nehmen selbst Kassetten auf. Sie schreiben, lesen und reden über Kassetten, teilen Musik oder Gesprochenes, erinnern sich mit ihren Kassetten an früher, basteln Cover, Hüllen und Aufkleber.
545 Vom Album The Wall, Pink Floyd, 1979, Harvest Records. 546 Hepp 2011, S. 95.
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Kommunikative Prozesse in Netzwerken Um all diese verschiedenen Formen von Kassettenkommunikation untersuchen und miteinander vergleichen zu können, ist es hilfreich, sich den grundlegenden Ablauf kommunikativer Prozesse zu vergegenwärtigen: Damit Kommunikation im Sinne eines Austausches überhaupt stattfinden kann, sind zunächst ein Sender oder Kommunikator und mindestens ein Empfänger oder Akteur nötig. Wenn ein Kommunikationsangebot des Senders – das übrigens jede Form von (verbaler) Handlung sein kann – vom Empfänger als solches erkannt und als relevant betrachtet wird, kann Kommunikation entstehen. Zeichen, Symbole oder (verbale) Handlungen können sich weiter zu kommunikativen Botschaften verdichten, wenn sie auf der Seite des Empfängers verstanden werden. Soll heißen: Erst wenn wir begreifen, dass uns jemand etwas mitteilen will, dass diese Mitteilung für uns von Bedeutung ist und wir diese Bedeutung auch verstehen, kann Kommunikation entstehen. Wenn nicht, findet keine Kommunikation statt, »weil Bedeutung nicht ›in den Kommunikaten‹ selbst liegt, sondern erst in der Aneignung entsteht.«547 Nach dem Verstehen des Kommunikationsangebotes und der kommunikativen Botschaft muss eine Anschlusskommunikation erfolgen. In der Regel signalisiert der Empfänger der Botschaft, dass er sie verstanden hat und macht nun seinerseits als Sender ein Kommunikationsangebot an den ursprünglichen Sender, der dann Empfänger der Botschaft ist, oder an einen weiteren Empfänger. Auch an diesen kommunikativen Akt muss zur Aufrechterhaltung der Kommunikation eine Anschlusskommunikation erfolgen, in die möglicherweise wieder andere Gruppen oder Individuen integriert werden können. Sender und Empfänger bilden dann gemeinsam die kleinste kommunikative Einheit in einem Geflecht aus mehreren kommunikativen Beziehungen mit verschiedenen Akteuren. Dieses Geflecht kann typische Strukturen eines Netzwerks mit verschiedenen Verbindungen und Knoten548 annehmen, sobald mehrere Kommunikationspartner beteiligt sind. Dann werde ich es im Folgenden »Kommunikationsnetzwerk« nennen. »Hierbei ist es wichtig, auf einen bereits erwähnten Punkt zurückzukommen, nämlich, dass Kommunikationsnetzwerke nicht ›an sich‹ bestehen, sondern fortlaufend im kommunikativen Handeln von Menschen hergestellt werden. Wichtig wird in einer solchen Sicht das ›Netzwerken‹ als Prozess, d.h. die ›Abfolgen‹ oder ›Flüsse‹ von kommunikativem Handeln, in denen sich Kommunikationsnetzwerke im zeitlichen Verlauf artikulieren.«549
547 Hepp 2011, S. 70. 548 Fuhse 2016, S. 15. 549 Hepp 2011, S. 88.
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Umgekehrt bedeutet das: Wenn keine Kommunikation mehr stattfindet, kann auch das Netzwerk nicht mehr bestehen und löst sich auf. Dasselbe gilt übrigens für soziale Systeme, wie Systemtheoretiker 550 sie beschreiben, oder für soziale Netzwerke, wie sie in der klassischen sozialen Netzwerkanalyse551 erforscht werden: Nur durch Kommunikation entsteht ein System oder ein Netzwerk. Ohne Kommunikation löst es sich auf. Anders formuliert: Soziale Netzwerke, in denen keine Kommunikation vorkommt, sind schlecht vorstellbar. Die Mitglieder müssen sich dabei zwar nicht notwendigerweise persönlich kennen und begegnen. Kommunikation kann auch medial vermittelt funktionieren. Wichtig ist aber, dass Kommunikation überhaupt stattfindet. Auch wenn in der Literatur gelegentlich darauf hingewiesen wird, dass soziale und kommunikative Netzwerke hinsichtlich ihrer Akteure und ihrer Beziehungen untereinander nicht unbedingt deckungsgleich sein müssen,552 so scheint mir diese Unterscheidung für die Untersuchung von Kommunikation mit Kassetten für die vorliegende Arbeit nicht relevant. Ein soziales Netzwerk wie eine Szene ist definiert als Geflecht spezifischer sozialer Beziehungen innerhalb einer bestimmten Gruppe von Akteuren, die Einzelpersonen sein können, aber auch Organisationen oder Gruppen.553 Soziale Beziehungen bezeichnen dabei »beobachtbare Regelmäßigkeiten der Interaktion zwischen Akteuren und entsprechende Verhaltenserwartungen«.554 Ein Kommunikationsnetzwerk ist dagegen definiert als Verknüpfung kommunikativer Beziehungen, die zwischen verschiedenen Akteuren bestehen und bestimmten kommunikativen Mustern und Codes folgen.555 Meinem Verständnis nach existieren also nicht zwingend grundlegende Unterschiede zwischen sozialen und kommunikativen Netzwerken. Es handelt sich lediglich um verschiedene Perspektiven auf denselben Untersuchungsgegenstand: So verweist der Begriff des sozialen Netzwerks auf eine soziologische Untersuchungsperspektive, der des Kommunikationsnetzwerks dagegen auf eine medien- oder kommunikationswissenschaftliche. Und um diese Perspektive soll es im Folgenden gehen. Kommunikation mit Medien Kommen wir zurück zum beschriebenen Ablauf kommunikativer Prozesse in einem Netzwerk. In dem, was ich beschrieben habe, zeigen sich modellhaft die 550 551 552 553 554 555
Vgl. Niklas Luhmann, Talcott Parsons et al. Vgl. Paul Lazarsfeld et al. Hepp 2011, S. 83. Mitchell 1969, S. 2. Fuhse 2016, S. 16. Hepp, Andreas 2011, S. 20.
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Abläufe von Kommunikation im Allgemeinen und von direkter zwischenmenschlicher Kommunikation, der sogenannten Face-to-face-Kommunikation, im Besonderen. Bei Kommunikation mit Kassetten handelt es sich dagegen um medienvermittelte Kommunikation. Diese betrachte ich mit Friedrich Krotz nicht als grundsätzlich verschieden von direkter zwischenmenschlicher Kommunikation, sondern als Modifikationen derselben.556 Um diese Modifikationen zu beschreiben, möchte ich – wie auch Krotz plausibel darlegt – medienvermittelte Kommunikation in zwei verschiedene Grundtypen unterteilen: Es gibt zum einen die Kommunikation zwischen Menschen mittels Medien, die ich im Folgenden als »wechselseitige Medienkommunikation« bezeichne. Dazu gehören zum Beispiel das Telefonieren oder die Kommunikation per Mail oder Chat-Tools. Daneben gibt es die Kommunikation mit Massenmedien, die ich »standardisierte Medienkommunikation« nennen werde.557 Beide Typen von Medienkommunikation sind im mediatisierten Alltag des 20. und 21. Jahrhunderts häufig miteinander und auch mit Formen direkter Kommunikation verschränkt, was bedeutet, dass Menschen verschiedene Typen von Kommunikation parallel und aufeinander bezogen betreiben. Gleichzeitig lassen sich die verschiedenen Formen von Medienkommunikation aufgrund dieser Verschränkungen häufig auch nicht klar voneinander unterscheiden. Beiden angesprochenen Formen medial vermittelter Kommunikation gemeinsam ist dabei die Tatsache, dass im Vergleich zu direkter Kommunikation mit reduzierten Wahrnehmungskanälen kommuniziert wird. Bei Kassetten ist der Haupt-Kommnikationskanal beispielsweise der über die Ohren, also über akustische Signale oder Symbole. Visuelle oder haptische Kanäle, die zur Kommunikation etwa mittels Kassettencover oder -booklets genutzt werden, spielen zwar ebenfalls eine Rolle. Im Vergleich zu direkter Kommunikation, wo Empfänger direkt auf visuell wahrgenommene Mimik oder Gestik oder auf Berührreize seitens des Senders reagieren, treten sie in ihrer Bedeutung für den Kommunikationsprozess aber zurück. Die Wahrnehmungsmöglichkeiten sind bei Kassettenkommunikation im Vergleich zu direkter Kommunikation also eingeschränkt. Während bei standardisierter Kommunikation mit Kassetten meist keine direkte Anschlusskommunikation mit dem ursprünglichen Sender stattfinden kann, es sich also um eine unidirektionale Form der Kommunikation handelt, kann bei wechselseitiger Medienkommunikation eine Anschlusskommunikation im Sinne einer tatsächlichen Antwort erfolgen. Akteure in einem wechselseitigen Kommunikationsprozess können unter Umständen also direkten Einfluss auf die Kommunikation, auf ihre Inhalte und ihren Verlauf nehmen. Akteure in einem 556 Krotz 2001, S. 75. 557 Krotz 2001, S. 51.
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standardisierten Prozess können Kommunikation dagegen nicht beeinflussen. Sie konsumieren oder verbrauchen Kommunikate, wie sie sind. Zugespitzt formuliert: Es ist zunächst einmal egal, ob Kommunikation gelingt oder nicht – der Sender sendet so oder so ununterbrochen weiter. Am Beispiel des Fernsehens verdeutlicht, bedeutet dies: »Die ›Antworten‹ des oder der Zuschauerinnen und Zuschauer verändern das Kommunikat nicht. Es kann nur entweder verfolgt oder nicht verfolgt werden.«558 Diese Feststellung gilt vor allem bezogen auf den unmittelbaren Moment der Rezeption. Auch bei standardisierter Kommunikation ist eine mittelfristige, zeitversetzte Anschlusskommunikation natürlich möglich: Es können zum Beispiel Gespräche über bestimmte standardisierte Kommunikate – wie etwa eine Fernsehserie, einen neuen musikalischen Hit oder bestimmte Kassetten – geführt werden. Auf diese Weise können auch ausgehend von einem standardisierten Kommunikationsprozess kommunikative Netzwerke entstehen. Ausgehend von groß angelegten Nutzeranalysen der Medienforschung559, verändert das kommunikative Verhalten der NutzerInnen dementsprechend langfristig natürlich auch standardisierte Kommunikate. Eine Serie, die »nicht läuft«, wird abgesetzt oder nach einer erfolglosen Pilotsendung gar nicht erst weiter produziert. Ein Moderator, der keine Einschaltquoten generiert, hat wenig Chancen, seine Show langfristig behalten zu können. Dennoch ist das Kommunikationsinteresse in massenmedialen Kommunikationskontexten seitens der Kommunikatoren, die standardisierte Kommunikate verwenden, meist rein ökonomischer Natur: Tonträger, die gehört werden, lassen sich gut verkaufen. Kinderkassettenserien, die entsprechende Absatzzahlen bringen, werden weitergeführt. Einschaltquoten bei Radio oder Fernsehen legen den Preis für Werbesekunden und Sponsoring fest. Eine direkte und spontane Anschlusskommunikation seitens der Rezipienten mit dem ursprünglichen Sender des Kommunikationsangebotes ist dabei in der Regel nicht erwünscht und nur mit dem Einverständnis des Senders möglich. Denken wir beispielsweise an sogenannte »Call-In-Aktionen«, wenn die Hörer einer Radiosendung explizit aufgefordert sind, sich mittels Telefon oder Mail direkt mit der Moderatorin oder dem Moderator in Verbindung zu setzen: Sie können auf diesem Weg bis zu einem gewissen Grad an massenmedialer Kommunikation teilhaben, jedoch nur nach Aufforderung und Filterung durch den Kommunikator, der den Kommunikationsprozess steuert.
558 Krotz 2001, S. 77. 559 z.B. Media-Analyse Radio: https://www.agma-mmc.de/media-analyse/ma-radio/ (abgerufen am 25.8.2017) oder Arbeitsgemeinschaft Video-Forschung (AGV), etc.
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Kultur als Referenzrahmen für Kommunikation Weil es den Empfängern von Botschaften in der medienvermittelten Kommunikation gar nicht oder aufgrund von reduzierten Wahrnehmungskanälen nur schwer möglich ist zurückzufragen, ist die Gefahr des Missverstehens bei medienvermittelter Kommunikation deutlich höher als bei direkter interpersonaler Kommunikation. »In interpersonaler Kommunikation bemerkt das Individuum Diskrepanzen aufgrund der Reaktion der anderen, die auf ein eventuelles Mißverstehen reagieren. […] Damit fehlt der Kommunikation mit Medien ein Element sozialer Verbindlichkeit, das interpersonaler Kommunikation immanent ist, nämlich, sich selbst in seinem Verstehen und Antworten an anderen zu überprüfen.«560
Damit der beschriebene Prozess des kommunikativen Netzwerkens, des Sendens, Erkennens, Verstehens und Beantwortens mit Medien also überhaupt stattfinden kann, müssen die Akteure im Netzwerk zumindest über eine gleiche Vorstellung von zeitlichen und räumlichen Kontexten verfügen: Findet Kommunikation für beide Seiten zur selben Zeit am selben Ort statt? Oder findet sie zeitversetzt statt und überbrückt sie – wie etwa per Brief, Telefon oder Radio – eine gewisse räumliche Distanz zwischen den Akteuren? Wichtig ist für alle beteiligten Akteure im gemeinsamen Referenzsystem auch eine bekannte kulturelle Basis. Nur dann nämlich haben kommunikative Symbole, Zeichen und Handlungen für Sender und Empfänger eine (gleiche) Bedeutung. Nur dann kann überhaupt Kommunikation stattfinden, nur dann kann sich mithin ein kommunikatives Netzwerk ausbilden und bestehen bleiben. Kommunikationsnetzwerke haben dabei »dieselbe Funktion wie ein mittelalterlicher Markt, es geht vor allem um Tausch und Austausch.«561 Man kann sich an diesem Bild des Marktes leicht vergegenwärtigen, wie schwierig es ist, mit Menschen aus anderen Kulturkreisen zu (ver-)handeln, zu feilschen, zu tauschen oder zu einer Einigung zu kommen, wenn es keine gemeinsame Sprache gibt. Wenn Gesten obendrein nicht oder falsch verstanden werden, Symbole keine für beide Seiten verständliche Bedeutung haben und Handlungen nicht gedeutet werden können, wird Kommunikation auf diesem Markt unmöglich. Ein prototypisches Beispiel für eine solche Situation wäre gegeben, wenn man es mit einem zeitreisenden oder einem außerirdischen Wesen zu tun hätte, mit dem uns kein gemeinsames räumlich-zeitliches und kulturelles Referenzsystem verbindet.
560 Krotz 2001, S. 55. 561 Hepp 2011, S. 88.
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4.1 KASSETTEN IN KOMMUNIKATIONSNETZWERKEN Wenn kassettenvermittelte Kommunikation stattfindet, kann die Kassette als Issue, als zentrales Kommunikationsthema562 also, im Zentrum kommunikativer Aktivitäten eines Netzwerks stehen. Sie kann aber auch als Kommunikationskanal im Sinne eines »Channels«563 dienen. Oder sie kann selbst Teil der kommunizierten Botschaft sein. Klar ist dabei, dass die Kassette in unserer mediatisierten Welt niemals als einziges Kommunikationsmedium, sondern immer im Kontext mit anderen Medien in Erscheinung tritt. Wenn beispielsweise alternative Kassettenproduktionen innerhalb der deutschen Punkszene eine wichtige Rolle spielen, so sind auch Schallplatten, Fanzines oder Filme Teil von Punkkultur. Wenn Bürgerinitiativen in Frankfurt am Main gegen den Ausbau der StartbahnWest mobil machen, indem sie mit Fluglärm bespielte Kassetten in Umlauf bringen und illegale Radiosendungen auf Kassetten verbreiten, so benutzen sie dessen ungeachtet zur Kommunikation auch andere Protestmedien wie Flugblätter oder Zeitschriften. Kassettenakteure sind Kommunikationsnetzwerker Betrachten wir nun Kommunikatoren und Akteure eines Kommunikationsnetzwerks: Sie sind allgemein definiert durch ihre meist freiwillige Zugehörigkeit zum Netzwerk, durch ihre Rolle und ihre hierarchische Stellung innerhalb des Netzwerks, durch kommunikative Interaktion und Partizipation am Issue. Sie können prinzipiell gleichzeitig Mitglied mehrerer Kommunikationsnetzwerke sein und gehören auch nicht zwangsläufig einem bestimmten Milieu, einer sozialen Schicht, einer politischen Gruppierung, einer religiösen Richtung oder einer bestimmten Altersgruppe an. Sie können durch Kommunikation nicht nur Unterhaltung oder Information im landläufigen Sinn finden, sondern auch einen Austausch mit (ebenfalls an Kommunikation interessierten) Gesinnungsgenossen und dadurch wiederum Hilfe bei der Orientierung in einer komplexen kommunikativen Welt. »In der Vielfalt der Handlungspraxis liegt begründet, dass Kommunikationsnetzwerke alles andere als hermetisch voneinander abgeschlossen sind, dass ein und dieselbe Person Teil verschiedener Kommunikationsnetzwerke sein
562 Vgl. S. 214: Kapitel 3.4.2 Merkmale einer Szene. 563 Der US-amerikanische Kommunikationswissenschaftler Harold Dwight Lasswell formulierte 1948 die so genannte »Lasswell-Formel«: »Who says what to whom in which channel with what effect?« Die Lasswell-Formel beschreibt ein grundlegendes Modell der Massenkommunikation.
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kann«564: Ein Punkmusiker kann beispielsweise in das kleine Kommunikationsnetzwerk seiner unmittelbaren, lokalen Peergroup eingebunden sein, zusätzlich in das Netzwerk der überregionalen Punkszene und gleichzeitig womöglich ins Kommunikationsnetzwerk der Schallplattenindustrie. Nicht auszuschließen ist dabei, dass diese Kommunikationsnetzwerke wiederum untereinander vernetzt sind oder sich über die Akteure miteinander vernetzen. Nicht auszuschließen ist auch, dass diese Netzwerke Konnektivitäten aufbauen zu wieder anderen Netzwerken wie etwa der Hausbesetzerszene oder einem Fußballverein. Ein anschauliches Beispiel dafür sind die deutschen Funpunker Die Toten Hosen: Schon in den ersten Jahren ihres Erfolgs, als Sänger Campino noch immer gelegentlich im Düsseldorfer Szene-Punk-Club Ratinger Hof verkehrt, beginnt die Band damit, den Fußballverein Fortuna Düsseldorf finanziell zu unterstützen. Gleichzeitig wird sie mit ihrem ersten selbstverlegten Album OpelGang zur Gallionsfigur für Tausende Automobilfans. Nach dem Album wird die Band schließlich von EMI unter Vertrag genommen und damit auch Akteur in einem großen Kommunikationsnetzwerk aus kommerzieller Musikproduktion, Werbung, Vertrieb, Kunden, Konzertveranstaltern und Radiosendern. Trini Trimpop, Gründungsmitglied der Band, erzählt: »Nach den ersten großen Erfolgen waren wir plötzlich an einem Punkt, wo für uns die Spielregeln der Plattenfirmen galten. Wir fingen an, Radiorundreisen zu machen. Zu Sendern, die nur Charts- oder Oldietitel gespielt haben.«565 Kassetten als Kommunikationsmedien treten in diesen verschiedenen kommunikativen Netzwerken in unterschiedlichen Funktionen in Erscheinung: Zunächst nehmen die Musiker im Proberaum selbst Kassetten auf, um neue Songs auszuprobieren und Demobänder für Konzertveranstalter wie beispielsweise den Ratinger Hof herzustellen, eine Praxis, die sie übrigens bis in die 2000er Jahre beibehalten566. Im Ostblock werden die späteren LPs der Band tausendfach illegal auf Kassette gezogen und verbreitet. 567 Wenn die Toten Hosen auftreten, werden die Konzerte dies- und jenseits der Berliner Mauer illegal auf Kassette mitgeschnitten. Sänger Campino erzählt in einem Live-Blog: »Es gibt lauter Live-Bootlegs und Kassettenmitschnitte von allen möglichen Konzerten, die wir damals gespielt haben. Wir wissen definitiv von einer Aufnahme vom Tanz in den Mai 1982 in Berlin. Und es gibt sicherlich auch eine Kassette von unserem ersten Konzert im Bremer Schlachthof.«568 Heute noch werden die Kassetten564 565 566 567 568
Hepp 2011, S. 82. Oehmke 2014, S. 123. Oehmke 2014, S. 102. Oehmke 2014, S. 317. http://www.dietotenhosen.de/band/fragen-an-dth/fragen-an-campino/teil-35, abgerufen am 10.1.2017.
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Bootlegs aus den Anfangsjahren der Toten Hosen auf internationalen Tauschbörsen als Schätze gehandelt. An Netzwerkknoten herrscht hohe Kommunikationsdichte Bleiben wir noch kurz beim Beispiel der Toten Hosen, um ein weiteres wichtiges Merkmal eines Kommunikationsnetzwerks zu beschreiben: In jedem der genannten kommunikativen Netzwerke, in denen die Bandmitglieder aktiv sind, fungieren sie neben ihrer Rolle als einfache Akteure gleichzeitig auch als sogenannte »Netzwerk-Knoten«. Knoten sind Punkte, an denen »sich kommunikative Konnektivitäten kreuzen«.569 Das bedeutet, dass an einem Netzwerk-Knoten mehrere Kommunikationsanfragen zusammenlaufen und auch mehrere Botschaften an verschiedene andere Akteure gesendet werden. Um einen Knoten herum finden also besonders viele Kommunikationsprozesse statt, die »Dichte« von Kommunikation ist sehr hoch. Ähnlich wie die Schlüsselfiguren einer Gruppe oder Szene können solche Netzwerkknoten auch Schaltstellen sein, die wiederum ein Netzwerk mit anderen verbinden und so offene Strukturen schaffen, die in der Lage sind, »grenzenlos zu expandieren und dabei neue Knoten zu integrieren, solange diese innerhalb des Netzwerks zu kommunizieren vermögen, also solange sie dieselben Kommunikationskodes [sic!] besitzen.«570 Diese Knoten oder Schlüsselfiguren können innerhalb des Netzwerks bestimmte ästhetische Erscheinungen, sprachliche Codes oder Symbole mit Bedeutung aufladen, mithin auch Deutungshoheit über die Kommunikationsprozesse haben. Wichtig ist dabei festzuhalten, dass nicht nur die einzelnen sprechenden Personen eines Netzwerks solche Knotenpunkte darstellen können, sondern Knoten auch andere soziale Formen haben können. »Zum Beispiel kann man lokale Gruppen als ›Knoten‹ in dem Kommunikationsnetzwerk einer weitergehenden sozialen Bewegung oder Szene beschreiben, oder man kann Organisationen wie lokale Unternehmungen als Knoten im weitergehenden Kommunikationsnetzwerk eines transnationalen Konzerns begreifen.«571 Im Falle der Toten Hosen treten also nicht nur die Musiker als Netzwerkknoten in Erscheinung, sondern auch die Band als ganzes kommunikatives Gebilde.
569 Hepp 2011, S. 82. 570 Hepp 2011, S. 82. 571 Hepp 2011, S. 83.
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Analysekriterien für Kassettennetzwerke Die zu untersuchenden Fallbeispiele dieses Kapitels habe ich zunächst anhand der beschriebenen beiden Grundtypen von Medienkommunikation ebenfalls in zwei Gruppen unterteilt: Es gibt Kassetten, die grundsätzlich eher der wechselseitigen Kommunikation dienen, wie zum Beispiel die selbst gestalteten, klar adressierten Mixtapes. Und es gibt solche, die eher der standardisierten Kommunikation dienen, wie zum Beispiel die bereits erwähnten kommerziellen Kinderhörspiele, die sich an eine unbestimmt große Menge von Adressaten richten, an eine »Zielgruppe« oder an »den Hörer«. Im ersten Fall wird eher dialogisch, im zweiten eher monologisch kommuniziert. Innerhalb der dialogischen Kommunikation herrschen darum andere, meist flachere Hierarchien vor als innerhalb der monologischen, eher zentralistisch organisierten Kommunikation. Gleichzeitig können beide Typen von Kassettenkommunikation parallel auftreten und sich auch mit direkten Prozessen der Face-to-face-Kommunikation verschränken. Wenn Kassettenkultur also untersucht und beschrieben werden soll, ist es wichtig anzuschauen, nach welchen modellhaften Mustern und Regeln mit Kassetten kommuniziert wird, welche und wie viele Akteure beteiligt sind und welche Rollen diese bei der Kommunikation besetzen, ob sie dauerhaft auf eine Rolle – zum Beispiel die des Produzenten oder des Rezipienten – festgelegt sind, ob sie als Knoten in einem Netzwerk fungieren, ob sie den Kommunkationsprozess steuern, ob sich diese Rollen dynamisch verändern können, und in welchem hierarchischen Verhältnis die Akteure zueinander stehen. Wichtig ist auch, die Kassette innerhalb der verschiedenen Modelle im Zusammenspiel mit anderen Kommunikationsmedien zu betrachten: »Es sind wohl weniger einzelne Leitmedien, die für Medienkulturen bestimmend sind, sondern hochgradig komplexe Arrangements von verschiedenen Formen des medienbasierten, kommunikativen Handelns. Diese gilt es zu bestimmen, wenn man Medienkulturen in deren Spezifik beschreiben will.«572 Weil die Kassette dabei als Kreativ-, aber auch als kommerzielles Massenmedium in Erscheinung tritt, halte ich weiter eine Betrachtung für zentral, die berücksichtigt, in welchem Maß der Kommunikationsvorgang selbst, Inhalte und Themen standardisiert und vorgefertigt sind, ob und inwieweit sich dies im kommunikativen Prozess verändern kann. Wie Kommunikationsstrukturen innerhalb eines Netzwerks beschaffen sind, ob Prozesse eher zentriert und gesteuert oder spontan, anarchisch und ungesteuert ablaufen, beziehungsweise welche Hierarchien und Machtverhältnisse diesen Strukturen zu Grunde liegen, soll ebenfalls Teil der Analyse sein. Ein letztes Kriterium ist schließlich auch die Kommunikationsabsicht. Ich halte es 572 Hepp 2011, S. 21.
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für wichtig zu wissen, aus welchen Gründen Kommunikation stattfindet, wen sie erreichen und was sie bezwecken soll, ob sie beispielsweise sozial, ökonomisch oder ideologisch motiviert ist. Am konkreten Beispiel von Sprachlernkassetten soll nun erläutert werden, wie die geschilderten Kriterien in den folgenden Einzelanalysen angewandt werden. An diesem Beispiel ist bereits deutlich zu erkennen, dass sich Formen der wechselseitigen und der standardisierten Medienkommunikation mit Kassetten nur holzschnittartig voneinander trennen lassen, sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern sehr wohl parallel vorkommen und miteinander verschränkt sein können. Fallbeispiel Kassetten im Sprachunterricht: »Où est la famille Leroc?«573 Lange bevor Philips 1965 im Freiburger Verlag Visaphon erste Sprachkurse auf Kassette produzieren und verkaufen lässt,574 beginnt die Entwicklung akustischer Sprachlernhilfen. Schon seit der Erfindung der ersten Speichermedien hat sich die Idee in den Köpfen von Erfindern und Obrigkeiten festgesetzt, die Bevölkerung mit Sprachaufnahmen sogenannter »Native Speaker« zum Lernen von Fremdsprachen zu animieren und sie dabei anzuleiten. Bereits als Thomas Alva Edison im Frühjahr 1878 seinen Phonographen patentieren lässt, hat er in einem zehn mögliche Einsatzgebiete umfassenden Manifest für seine Erfindung auch das Sprachenlernen im Blick. Edison notiert darin das Erteilen von Sprachunterricht und das Festhalten von Sprachen mit dem richtigen Akzent.575 Als Edison seinen Verbesserten Phonographen 1889 dem deutschen Kaiser Wilhelm II. präsentiert, hebt dieser für sich selbst den »Werth für den geschäftlichen Verkehr« der Maschine hervor.576 Seinem Volk, vermutet der Monarch, könnte der Phonograph dagegen tatsächlich beim Sprachunterricht gute Dienste leisten. Dazu kommt es allerdings zunächst einmal nicht. Zwar machen Sprachforscher wie der Pariser Linguist Ferdinand Brunot und sein Schüler Charles Bruneau im Jahr 1912 beispielsweise mit dem Phonographen umfangreiche Sprachaufnahmen in den französischen Ardennen, um den dortigen Dialekt zu erforschen. Brunot erstellt in der Pariser Sorbonne auch ein bedeutendes phonographisches Archiv mit Aufnahmen verschiedenster Sprecher. Doch diese Auf573 In einigen Französisch-Lehrbüchern der siebziger bis neunziger Jahre wurde Grammatik und Vokabular anhand von Geschichten den Familie Leroc gelernt. Vgl. Erdle-Hähner 1987. 574 PM vom August 1965, Quelle: Archiv Philips. 575 Edison, Thomas Alva 1878, S. 533ff. 576 Kammer u. a. 2010, S. 197.
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nahmen dienen der wissenschaftlichen Feldforschung. Aufnahmen für den Sprachunterricht werden in großem Umfang erst verwendet, als die Schallplatte erfunden ist.577 1905 veröffentlicht G. Langenscheidts Verlagsbuchhandlung in Berlin in Kooperation mit der Deutschen Grammophon-Gesellschaft die weltweit ersten Platten für den Selbstlern-Englischunterricht.578 Das gibt individuell Lernenden eine gewisse Selbständigkeit im Überprüfen ihrer Lernfortschritte. Es beginnt gleichzeitig aber auch eine akustische Normierung von eigener und fremder Sprache, die durch die Erfindung des Rundfunks in den zwanziger Jahren weiter verstärkt wird. Mit Schallplatten und Radio hat man nun – anders als zu Zeiten, in denen Sprachlernhilfen nur in gedruckter Form existierten – auch eine Klangvorstellung vom »richtigen« Sprechen, »bis nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Tonband – und dann in den siebziger Jahren mit dem Kassettenrecorder – ein auch leicht trag- und bedienbares Gerät zur Aufnahme und Wiedergabe von Tönen zur Verfügung stand, das, anders als die Schallplatte, keine weiteren technischen Transformationen zwischen Aufnahme und Wiedergabe erforderte. Jetzt war der Weg frei für Sprachlabors [sic!], deren Raumeinrichtung dem seit dem 16. Jahrhundert gültigen Konzept des Schul- und Unterrichtsraums weitgehend entsprach. Diese neue unterrichtstechnische Einrichtung führte zur Methode des ›Pattern Drill‹.«579
Jeder, der in den siebziger und achtziger Jahren zur Schule gegangen ist, wird sich – wie die Autoren von Wir Kassettenkinder – erinnern können an die mit Audiokassetten, Kassettengeräten und Kopfhörern kostspielig ausgestatteten Sprachlabore. »An den einzelnen Tischen waren dünne Seitenwände montiert, so dass wir uns untereinander nicht sehen konnten. Der Blick führte durch die Frontscheibe zur großen Schaltzentrale an der Kopfseite des Raums, von wo aus der Lehrer wie ein DJ am Mischpult die Sprachübungen steuerte. Jeder Platz war mit einem Kassettendeck ausgerüstet, zu dem ein Set Kopfhörer mit eingebautem Mikro gehörte.«580
Die Schüler lauschen französischen und englischen Sätzen von Kassette und müssen sich anschließend selbst an der korrekten Aussprache des Gehörten versuchen. Brav wiederholen sie etwa die Geschichten der Familie Leroc aus den französischen und die der Familie Scott aus den englischen Schulbüchern und können sich und ihre Aussprache dabei mittels Bandaufnahme und Kopfhörer kontrollieren. 577 578 579 580
Börner/Vogel 2000, S. 28. Plate u. a. 2011, S. 344. Börner/Vogel 2000, S. 29. Bonner/Weiss 2016, S. 55.
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Während die Lernenden durch Sicht- und Hörschutz akustisch und visuell streng voneinander getrennt werden, entsteht um den Lehrer als zentrale Figur herum ein kleines, in seinem Zentrum auf den Raum Sprachlabor begrenztes und stark hierarchisches Kommunikationsnetzwerk. Die Akteure kommunizieren dabei nicht uneingeschränkt freiwillig in diesem Netzwerk, sondern werden durch die Autoritäten »Schule« und »Lehrplan« dazu angehalten. Wer nicht kommuniziert, wird sanktioniert. Das verordnete Issue dieses Netzwerks ist das Erlernen der französischen oder der englischen Sprache. Die Rollen der einzelnen Akteure als Lehrende oder Lernende innerhalb des Netzwerks sind klar festgelegt und verändern sich nicht. Der Lehrer kann sich als höchste Instanz und einziger kommunikativer Knoten im Netzwerk jederzeit und überall zuschalten, er kann alle Schüler gemeinsam akustisch zusammenbringen oder auch einzelne untereinander vernetzen, die ihrerseits nicht selbständig miteinander kommunizieren können. Der Lehrer entscheidet, welche Informationen im Netzwerk kommuniziert werden. Er beurteilt, bewertet und kontrolliert auch sämtliche Kommunikationsvorgänge. Er weiß, wer mit Eifer und Ehrgeiz bei der Sache ist, wer vor sich hinträumt, wer das »th« vorbildlich britisch lispelt und wessen Nasale sich gegen Pariser Normfranzösisch noch sträuben. Er kann auch zu Wiederholungen und Pausen auffordern beziehungsweise einzelne Schüler absichtlich oder unabsichtlich von der Kommunikation ausschließen, indem er sie nicht anhört, also auf Kommunikationsangebote nicht reagiert. Da diese Schüler keine Möglichkeit haben, sich selbst ins Netzwerk einzubringen – meist können sie nicht einmal den Lehrer direkt ansprechen –, sind sie in solch einem Fall nur noch einseitig, also rein monologisch, über die Kassette eingebunden. Sie können Botschaften empfangen, verstehen und nachsprechen, aber nicht selbständig an andere weitersenden. Ihre Verbindung ins Netzwerk ist mithin sehr schwach, denn es wird synchron und lokal kommuniziert, das heißt: auf ein Kommunikationsangebot muss in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe eine Anschlusskommunikation erfolgen. Es wird im direkten Dialog oder medial – und dann ausschließlich über Kassetten – kommuniziert, es liegt also eine Verschränkung zweier verschiedener Kommunikationstypen vor. 581 Die Kassette tritt dabei als genormtes, standardisiertes Kommunikationsmedium in Erscheinung und verweist ihrerseits – wie übrigens fast alle Sprachlernkassetten – auf noch mächtigere Autoritäten als den Lehrer im Sprachlabor: auf staatliche Institutionen wie beispielsweise die Académie Française, das British Council oder die BBC, die Sprachnormen festlegen und versuchen, diese weltweit auch durchzusetzen. Oder auf die Lehr- und Lernmittelindustrie, die kommerzielle Sprachlernkassetten fertigt und verkauft. Kassetten stabilisieren als 581 Vgl. Krotz 2001.
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Kommunikationsmedien also die Machtverhältnisse im Netzwerk. Ganz anders, als sie das in anderen Kommunikationsnetzwerken wie der Punk- oder der Hörspielszene tun, auf die wir gleich noch zurückkommen werden. Weil nur wenige Möglichkeiten zu einer echten Anschlusskommunikation bestehen, die über das Nachsprechen von vorgefertigten Sätzen hinausgeht, und weil auch keine Vernetzung mit anderen kommunikativen Netzwerken möglich ist, ist das in sich geschlossene Kommunikationsnetzwerk Sprachlabor temporär und sehr kurzlebig. Es löst sich in der Regel nach fünfundvierzig Unterrichtsminuten wieder auf, wenn der Sender und Netzwerkknoten Lehrer keine Kommunikationsangebote mehr macht. Er eilt in eine andere Klasse, die eben noch angesprochenen Akteure werden mehr oder weniger erleichtert ihre Kopfhörer absetzen und ebenfalls den Klassenraum wechseln.
4.2 KASSETTEN ALS MITTEL DER WECHSELSEITIGEN MEDIENKOMMUNIKATION Wie gesagt – genau voneinander trennen lassen sich wechselseitige und standardisierte Kommunikation mit Kassetten nicht. Gleichwohl bildet die grobe Unterscheidung beider Kommunikationsformen einen hilfreichen Rahmen zur Strukturierung der folgenden Analysen. Daher möchte ich zunächst Kassetten untersuchen, die der wechselseitigen, dialogischen Kommunikation dienen. Im Unterschied zu direkter Kommunikation ist wechselseitige Medienkommunikation unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass sie losgelöst ist von Raum und Zeit und damit asynchrone und translokale Kommunikationsvorgänge erlaubt. Kommunikation kann also unabhängig von Ort und Zeit stattfinden. Egal ob Kassetten per Post verschickt, auf einem Flohmarkt eingetauscht oder bei einer Party gespielt werden – der Empfänger einer Botschaft hört diese in der Regel an einem anderen Ort und auch zu einem anderen Zeitpunkt als der Sender beim Produzieren der Botschaft. Das bedeutet, dass eine Botschaft auf Kassette vom Empfänger verstanden werden sollte, auch wenn der Sender nicht persönlich anwesend ist. Direkte Rückfragen sind ja nicht möglich. Zum Beispiel beim Erstellen von Mixtapes zur »Flirtintensivierung« kann das eine echte Herausforderung sein: Allzu konkret sollte die Botschaft nicht sein, um nicht direkt »mit der Tür ins Haus zu fallen«. Allzu vage aber auch nicht, denn sonst wird die Botschaft vielleicht nicht verstanden. »Solche Kassetten müssen zu ungefähr gleichen Teilen aus wohlbekannten Hits einerseits und potentiellen MädchenErfreu-Liedern andererseits bestehen. […] Schließlich knüpft man auch gewisse Erwartungen an die Auswirkungen einer solchen Kassette. Bei aller Liebe, kein
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Junge setzt sich ohne Hintergedanken mehrere Stunden lang fiebrig vor sein Tape-Deck.«582 Diese »Hintergedanken« spielen bei Kommunikationsvorgängen eine Rolle als sogenannte »Handlungsorientierung« an einem oder mehreren klar benannten Empfängern der Botschaft, von denen angenommen wird, dass sie die Botschaft verstehen. Wer zum Beispiel ein Demoband an einen Konzertveranstalter oder Kneipenbesitzer schickt, hat sich in der Regel vorher über dessen Musikgeschmack informiert und hofft, durch die Kassette eine Einladung zu einem Gig zu bekommen. Wer dagegen ein Mixtape für eine Party aufnimmt, hat nicht nur die Gästeliste im Kopf, sondern auch eine Vorstellung davon, was die Zusammenstellung der Musik bei den eingeladenen Gästen bewirken soll: Sollen sie sich unterhalten? Entspannen? Tanzen? Allein oder zu zweit? Langsam oder schnell? In den folgenden Abschnitten möchte ich nun modellhaft Kassetten beschreiben, die zwar alle zur vorwiegend wechselseitigen Medienkommunikation verwendet werden, aber mit ganz unterschiedlichen Handlungsorientierungen und in ganz unterschiedlicher Form. Es geht um Kassetten in der Punkszene und in regionalen Kassettenszenen583 sowie um Mixtapes, ihre Hersteller und ihre Adressaten. Da die Akteure in der Punk- und in der Kassettenszene teilweise dieselben sind, gibt es auch auf kommunikativer Ebene einige Gemeinsamkeiten. Manche Akteure wechseln mit dem Erfolg ihrer Musik auch vom einen ins andere Netzwerk oder wieder zurück. Daran lässt sich sehr gut illustrieren, dass selbst sehr ähnliche oder sogar in Teilen überlappende Netzwerke dasselbe Medium Kassette in unterschiedlichen Kontexten und mit unterschiedlichen Absichten zur Kommunikation einsetzen. 4.2.1 Der Schneller-Lauter-Härter-Dreisatz 584: Punk und NDW Auch wenn die Medien den Ausbruch des Punk gerne romantisieren: Er ist in seinen Ursprüngen wohl nicht der breite, wütende Protest der unterprivilegierten Arbeiterjugend gegen das System und dessen soziale Ungerechtigkeit als der er oft dargestellt wird. Leitfiguren der Bewegung wie die britischen Punkbands The Clash oder The Sex Pistols entstammen nur zum Teil der Unterschicht. ClashFrontman Joe Strummer wird als Diplomatensohn geboren und verbringt seine 582 Stuckrad-Barre 2007, S. 285. 583 Der feststehende Begriff der »Kassettenszene« wird im Postpunk der achtziger Jahren verwendet, um eine lockere Gemeinschaft von kreativen Akteuren zu beschreiben, die Kassetten ausgehend von einzelnen Musikgruppen und -initiativen als Verbreitungsmedien für selbst produzierte alternative Musik verwenden. 584 Schneider 2008, S. 64.
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Jugend in einem Edel-Internat. Sex Pistols-Bassist Sid Vicious studiert Fotographie, bevor er für die wilde Skandalband gecastet wird. Punk ist also eine Subkultur, wie es im Lauf der Geschichte viele andere gab und gibt. Eine Subkultur, die dadurch entsteht, dass sich Jugendliche schichtübergreifend ihre Helden in einem extravaganten Musikstil suchen und – wie ich es im vorigen Kapitel beschrieben habe – bestimmte Elemente populärer Massenkultur aus ihrem Kontext herauslösen und sie anders einsetzen, als es industriellen und gesellschaftlichen Standards entspräche. Viele der Muster und Varianten von Mustern, die sich unter Angehörigen der Szene dabei herausbilden, erscheinen heute beinahe klischeehaft: Punks tragen zerrissene Jeans, Nylonoder Netzstrumpfhosen, sie besprühen Lederjacken mit anarchistischen Symbolen, bohren sich Sicherheitsnadeln durch Nase und Ohren und hängen sich Hakenkreuze oder leere Patronenhülsen um den Hals. Vielen sitzen lebendige Ratten auf den Schultern oder in den Jackentaschen. Andere schminken ihre Gesichter weiß und stehen auf Neonlicht und kahle Betonwände. Man gibt sich eine martialische, gewaltbereite Attitüde, trinkt Bier, lungert herum und pöbelt gegen das Establishment. Erlaubt ist alles, was mit Konventionen bricht, der breiten Öffentlichkeit auf die Nerven geht und bisher noch nicht da war, also zeigt »daß Punk in der öffentlichen Demonstration des Abseitigen und Häßlichen bisherige Außenseiter-Moden übertrifft«.585 Davon abgesehen, gibt es für Punk als neue Subkultur auch einen fruchtbaren gesellschaftlichen Boden, der es begünstigt, dass aus einer kleinen schrägen Gruppe von »Spinnern«, die zunächst in alternativen New Yorker Musikclubs für Aufregung sorgt, in Großbritannien eine regelrechte Welle wird, »ein gesamtkulturelles Signal, eine alles mitreißende Bewegung. Etwas, das die so genannte Rock-Landschaft unterspülte oder überflutete, eine Sturzflut, die alles Mögliche mit sich fortriss und zum Treibgut erklärte.«586 Die Menschen haben mehr Freizeit, mehr Geld und ein größeres Warenangebot als in den fünfziger Jahren. Die Euphorie um das Wirtschaftswunder der sechziger Jahre 587 und der Traum von endlosem Wohlstand und Glück, hat sich allerdings abgeschwächt. Die Ölkrise wirkt wie eine kalte Dusche. Und der Boom im Dienstleistungssektor geht immer merklicher zu Lasten der klassischen Industrien. Es werden Arbeitsplätze abgebaut, und die europäische Wirtschaft wankt. Im Nachrichtenmagazin Spiegel sinniert man angesichts des Aufruhrs, für den die Sex Pistols in London sorgen:
585 o.A. 04/1978 Der Spiegel, »Punk: Nadel im Ohr, Klinge am Hals«, S. 142. 586 Schneider 2008, S. 72. 587 Hornberger 2011, S. 5.
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»Das gesellschaftliche Klima ist offenbar so beschaffen, daß es einen gewalttätigen Gossen- und Mülleimer-Kult begünstigt. Und wieder einmal, wie seinerzeit die Beatles den durch starke Geburtsjahrgänge und starke Kaufkraft bestimmten Jugend-Markt aufschlossen, war es eine Popgruppe, die den Tendenzwandel zur neuen Häßlichkeit signalisierte.«588
England ist der »kranke Mann Europas « In Großbritannien sind starke Gewerkschaften am Drücker, kämpfen für einen Mindestlohn, für bessere Arbeitsbedingungen und legen mit ständigen Streiks und Protesten viele Betriebe lahm. England steht seit dem Krieg sogar bei Kolonien wie Indien in der Kreide. Der finanzielle Aufwand für Waffen und Waren im Kampf gegen Hitler hat das Land ausgeblutet. Die Schuldenlast am Ende des Krieges beläuft sich auf vierundfünfzig Milliarden Mark, und das Land hat keine Chance, sich zu erholen.589 Anfang der siebziger Jahre, als die Kassette ungefähr zehn Jahre auf dem Markt ist, gilt England als »kranker Mann Europas«. Die Zustände im Britischen Empire sind katastrophal. In allen größeren Städten wuchern Slums nur wenige Kilometer neben den Stadtzentren. Jugendbanden zerschmettern Fensterscheiben und räumen Lebensmittelgeschäfte aus. Mehr als fünf Millionen Menschen leben an oder unter dem Existenzminimum. 590 Im Jahr 1979 sind 50.000 Menschen nach Schätzung sozialer Organisationen sogar obdachlos. Die Times bezeichnet die Elendsviertel in Glasgow als die »schrecklichsten der westlichen Welt.« In Nordirland herrscht seit Jahren Bürgerkrieg. Gleichzeitig verliert das britische Pfund knapp sechzig Prozent seines Wertes, und die Arbeitslosenzahlen steigen auf einen Höchststand.591 Vielerorts beginnen Jugendliche angesichts der als deprimierend und beängstigend empfundenen Zukunftsaussichten gegen verkrustete bürokratische Strukturen zu murren, gegen Bevormundung und die als spießig und kleinbürgerlich empfundene Erwachsenenwelt, genauso wie gegen die Ernsthaftigkeit von Hippies und Linksintellektuellen, die mit ihrer Rebellion in den Augen der Jugend ganz offensichtlich gescheitert sind. Einen musikalischen Soundtrack für ihren Unmut können die Unzufriedenen weder im aktuellen Bombast-Rock à la Pink Floyd, Genesis oder ELP finden, noch in den überkommenen Flower-PowerProtestsongs der Alt-68er: »Ein popinhärenter Generationskonflikt hatte sich angebahnt: Die Nachgewachsenen, die ebenfalls ihre Poprebellion absolvieren
588 589 590 591
o.A. 04/1978 Der Spiegel, S. 142. o.A. Der Spiegel 49/1967, »So gesund«, S. 148. o.A. 06/1979 Der Spiegel »Das kranke England« Teil III, S. 150. o.A. 04/1979 Der Spiegel »Das kranke England« Teil I, S. 148.
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wollten, konnten die entwicklungspsychologisch ältere Musik schon rein physisch nicht mehr repräsentieren«.592 Also schaffen sich die jungen Leute eine eigene Ausdrucksform und nennen sie »Punk«, was in der englischen Sprache gleichbedeutend ist mit »armselig«, »verdorben« oder »schäbig«. Das gilt nicht nur für die Outfits, sondern auch für die Musik. Viele Anhänger der neuen antikommerziellen Bewegung beherrschen kein Instrument. Aber sie sind laut, dreschen auf ihre Instrumente ein. Je provokanter, umso befreiender. »Ganze drei Harmonien konnten die Sex Pistols damals auf ihren Gitarren spielen. Die Kinder des britischen Kapitalismus machten Front nicht nur gegen den gescheiterten Sozial- und Wohlfahrtsstaat, sondern auch gegen die gesamte Ästhetik und Musikindustrie ihrer Zeit.«593 Sex PistolsSänger Johnny Rotten wird von einem Journalisten der Musikzeitschrift Sounds als »Satansbraten in Aspik« bezeichnet, »zusammengehalten von Sicherheitsnadeln und Arroganz.«594 Mit diesem Image lässt es sich als Punk gut leben: Man hat von der Zukunft nichts zu erwarten, wozu sich also gesellschaftlichen oder wirtschaftliche Konventionen anpassen? »Dass die Welt untergehen würde – jene Gewissheit, die schrecklich und behaglich im selben Atemzug war –, reichte aus, alles noch schnell aus- und anprobieren zu wollen. Sich alles zu nehmen. Die Gegenwart, der Moment wurde bedeutsam und die Zukunft ein schaler Witz. Gerade die Zukunftslosigkeit verlieh also der Gegenwart ungeahnte Fähigkeiten, den Mut, aufzukündigen, abzubrechen, abzurechnen.«595
Die Textzeile »No future« aus dem skandalträchtigen Sex Pistols-Song God save the Queen wird zur Parole der neuen Bewegung. Punk kommt nach Deutschland Es dauert einige Zeit, bis die rotzige, schnelle Drei-Akkorde-Musik ihren Weg von Großbritannien auch nach Deutschland findet.596 Der Berliner Musikjournalist Burghard Rausch erzählt mir in einem Interview für eine Radiosendung: »Bis 1976 haben wir in Deutschland noch belanglosen Mainstream-Pop wie Boney M., Village People oder Gebrüder Blattschuss gehört. Und in England ging es schon richtig los: Sex Pistols, Clash, Ultravox oder Iggy Pop, Stranglers, Buzz-
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Schneider 2008, S. 39. Faulstich 2004, S. 143. Hornberger 2011, S. 340. Schneider 2008, S. 8. Sterneck 1998, S. 11.
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cocks, oder Eddie And the Hot Rods: Das waren irgendwie großartige Kapellen.«597 In Deutschland sind die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht ganz so dramatisch wie im Mutterland des Punk, aber auch angespannt. Außerdem macht der Kalte Krieg den Menschen Angst, und die Hoffnung auf eine deutsche Wiedervereinigung durch die von Willy Brandt begonnene »Neue Ostpolitik« schwindet zusehends. Am Ende des Jahrzehnts fällt der Nato-Doppelbeschluss. In Deutschland werden amerikanische Pershing II-Raketen stationiert. Zusätzlich lässt die Regierung trotz massiver Gegenstimmen immer neue Atomkraftwerke bauen. Alles in allem hat also auch die Lage in Deutschland reichlich Potential für Unmut und Protest. Trotzdem ist es bis 1979 in Deutschland zunächst nur ein kleines Häuflein großstädtischer Jugendlicher, »einer Clique ähnlicher als einer sozialen Bewegung«598, das sich identifizieren kann mit den britischen und amerikanischen Punkhelden, die unter den Jugendlichen dort längst zu Idolen geworden sind. Die meisten anderen empfinden die aus England herübergeschwappte Mode als nihilistisch, destruktiv, Gewalt und Pessimismus verherrlichend.599 Trotzdem zieht die Parole »No future« auch in Deutschland ganz allmählich immer weitere Kreise. Und mit ihr kommt eine neue Begeisterung auf für selbstgemachte Musik. »Do-it-Yourself« (DIY), lautet der Wahlspruch in England. Die Deutschen kontern: »Das kannst Du auch«600. Junge Bands schießen wie Pilze aus dem Boden, verschwinden oft ebenso schnell wieder, um sich neu zu erfinden oder Platz zu machen für andere. »1979 war der vorläufige Höhepunkt fieberhafter Aktivitäten. Unaufhörlich gab es irgendwelche Veranstaltungen mit irgendwelchen Punk-Bands, Avantgarde-Gruppen … und, und und …: Vom berühmt-berüchtigten Rocker-Treffen bis zum Keller des Zensors, dem ersten Schallplattenhändler601 der Neuen Musik. Überall lief Musik, Musik, Musik, gab es zig ideenreiche Leute, war alles in Bewegung.«602
Im Jahr 1979 gibt der Hamburger Musikjournalist Alfred Hilsberg dieser extrem heterogenen Musikbewegung unfreiwillig auch einen Namen. In einem Artikel der Musikzeitschrift Sounds nennt er sie – analog zum englischen Wort New Wave – »Neue Welle«. Neue Deutsche Welle.603 Hilsberg fasst Musikerinnen und Musiker der verschiedensten Musikstile unter diesem Begriff zusammen, um 597 598 599 600 601
Interview mit Burghard Rausch vom 21.7.2015. Schneider 2008, S. 48. Hornberger 2011, S. 340. So der Label-Aufdruck der Singles des Düsseldorfer Labels Rondo. Beim Zensor wurden später auch viele Kassetten vertrieben. Es handelt sich also um einen Schallplatten- und Kassettenhandel. 602 Schneider 2008, S. 40. 603 Hilsberg 1979.
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dem fröhlichen deutschen Krachdilettantismus einen Namen zu geben, und um die kunterbunte, zum Teil auch sehr gegensätzliche Szenerie journalistisch beschreibbar zu machen. Er ahnt nicht, dass nur ein halbes Jahrzehnt später unter dem Kürzel NDW landauf, landab weichgespülte Blödelcharts aus dem Radio prasseln werden. Schon zu Beginn der Achtziger treten kommerzielle NDWStars wie Hubert Kah oder Markus in der ZDF- Hitparade auf. 1979 ist das noch nicht einmal im Entferntesten denkbar. Die extreme Vielfalt und Buntheit der Bewegung führt zunächst einmal zur Gründung vieler Independent-Labels und unabhängiger Plattenläden in Deutschland. »Die Läden Zensor und Vinyl Boogie (West-Berlin), Rip Off und Unterm Durchschnitt (Hamburg) entstanden schon 1978 beziehungsweise 1979, kurz darauf kamen weitere Läden in München, Düsseldorf und Hannover dazu. Noch wichtiger: Labels wie Pure Freude, Rondo, Ata Tak (Düsseldorf), Zickzack (Hamburg), […] No Fun (Hannover) pressten ab 1978 unabhängige, selbstproduzierte Schallplatten in Deutschland, die niemals unter den Bedingungen der Schallplattenindustrie hätten veröffentlicht werden können.«604
Um bei den neuen kleinen Labels oder bei Konzertveranstaltern vorstellig zu werden, produzieren viele Bands in Heimarbeit eine »akustische Bewerbungsmappe«, ein sogenanntes Demotape. Manche verschicken Kassetten an Musikund Fanzeitschriften oder an Radiosender mit alternativen Programmfenstern, um auf sich aufmerksam zu machen.605 Auch Musikjournalist Alfred Hilsberg begleitet mit seinem 1980 gegründeten Label Zickzack einige Punkbands der ersten Stunde, die ihm Musik auf selbst produzierten Demokassetten zugeschickt haben. »Vor Punk und New Wave konnte man sich das gar nicht vorstellen, selbst Musik zu machen und zu verbreiten. Sondern das kam eben aus England herüber geschwappt in alle möglichen Länder. Und aus den USA auch. Das hat die Leute hier wirklich ermutigt, selbst zu Hause, im Keller oder sogar auch im Wohnzimmer, Musik aufzunehmen, die natürlich größtenteils nicht gerade toll innovativ war. Aber es war trotzdem ein Schritt in die richtige Richtung. Auch wenn es bloß stumpfe Drei-Akkorde-Nachspielerei war.«606
Mach es selber! Mit Kassetten! Mit Eisengrau betreiben die Musikerin Gudrun Gut und Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten in Berlin neben einem Laden für Punkmode ab 1979 604 Emmerling u. a. 2015, S. 15. 605 Letzteres machen vor allem kleine und kleinste Gruppen abseits der Metropolen. Ich werde darauf im nächsten Kapitel noch genauer eingehen. 606 Interview mit Alfred Hilsberg vom 20.1.2016.
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auch ein erstes Kassettenlabel, um der neuen Musik zusätzlich zur Vinyl-Platte eine andere, niederschwellige Möglichkeit zur Veröffentlichung zu geben. Es folgen das Berliner Kompakt Produkte und später das Cassettencombinat. Auch Alfred Hilsberg gibt bei Zickzack bald Kassetten mit neuer Musik heraus. »Denn der Schritt von einer Kassette zu einer Platte ist doch für viele ein ganz großer gewesen. Dazu brauchte man schon die Gewissheit oder die Sicherheit, dass sich eine Platte gut verkaufen wird. Und das hat man doch gerne erst einmal auf Kassette probiert, wie da die Resonanz war.« Mit Kassetten ist das unternehmerische Risiko kleiner. »Kassetten waren für mich eigentlich nicht so sehr das kommerzielle Medium, mit dem ich Musik verbreitet habe. Sondern da spielte dann schon eine Rolle, dass ich da Musik veröffentlicht habe, von der ich erwartet habe, dass sie sich nicht vieltausendfach würde verkaufen können. Aber die Kassette hat auch den Künstlern genützt, die etwas abseits Musik gemacht haben, die etwas andere Musik gemacht haben, die man nicht so gut kommerzialisiert anpreisen konnte. Da habe ich trotzdem die Möglichkeit gehabt; Kassetten in 50er, 100er oder 300er Auflagen zu verbreiten.«607
Wer sich über die junge Szene musikalisch informieren will oder auf der Suche nach einer neuen Entdeckung unter den unzähligen deutschen Nachwuchspunks ist, kommt um stundenlanges Kassettenhören nicht herum. Als Informationsund Kommunikationsmedium zwischen Labels, Zeitschriften, Plattenläden, Hörern, Konzertveranstaltern, Kneipenbesitzern, Fans und Musikern sind Kassetten unverzichtbar, sagt Alfred Hilsberg: »Für mich als Labelbetreiber waren Kassetten einfach schnell verfügbar. Man konnte anderen Leuten etwas schnell zugänglich machen. Ich konnte selbst mich schnell informieren, was Bands im Studio oder zu Hause auch auf Kassettenrekorder produziert hatten. Das war eigentlich die hauptsächliche Beschäftigung, dadurch geprägt, dass ich manchmal täglich dreißig bis vierzig Demos gekriegt habe. Dadurch haben sich bei mir sechs- bis sieben- oder sogar achttausend Kassetten angesammelt. Die meisten Bands haben ihre Aufnahmen mit Kassette verschickt. Eine andere Möglichkeit gab es ja damals gar nicht an Kommunikation.«608
Kassetten sind zugänglich für alle, unabhängig von Geld, Gelegenheit und Beziehungen. Es gibt sie überall zu kaufen. Und ein Tape herzustellen, kostet nicht viel. Nicht einmal viel Zeit: »Kassetten gab es in jedem Dorfladen, bei Spezialanbietern sogar in individuellen Längen. Kassetten konnten also schnell, unbürokratisch, kostengünstig und vor allem privat und 607 Interview mit Alfred Hilsberg vom 20.1.2016. 608 Interview mit Alfred Hilsberg vom 20.1.2016.
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selbstbestimmt eher fabriziert denn produziert werden. Dass sich das Material beinahe in Echtzeit herausbringen ließ, entsprach dem Entwicklungstempo des New Wave. Platten hingegen waren durch ihre langwierigen, mehrteiligen Produktionsabläufe oft im Erscheinen bereits veraltet, weil sich die Band längst um- oder neu erfunden hatte. Oder aufgelöst.«609
Anfang der achtziger Jahre kommen auch bezahlbare Synthesizer und Sequenzer in die Geschäfte. Zusammen mit Kassetten und Rekordern ergibt das eine kleine, günstige DIY-Studioeinrichtung. »Das hat die Industrie natürlich auch nicht so geahnt, dass sie da Hilfestellung leistet für eine kulturrevolutionäre Bewegung. Das hat sie auch gemacht an anderer Stelle, indem sie günstige Produktionsmittel entwickelt hat, wie zum Beispiel Vierspur-Aufnahmegeräte. Das war schon die Vorstufe zu großen Studios. Da konnte praktisch jeder zu Hause mit Hilfe von Vierspur-Geräten etwas auf Kassetten produzieren. Und das hat dann Verbreitung auf Platte gefunden. So ist eigentlich der Hintergrund der meisten IndependentLabels. Ohne Kassetten und diese Vierspur-Geräte wäre vieles nicht denkbar gewesen.«610
Bis zur Gründung unabhängiger Kleinlabels wie Hilsbergs Zickzack regiert die Plattenbranche das Geschäft alleine. Sie ist der Inbegriff der von Adorno so heftig kritisierten Kulturindustrie: »Verschwiegen wird dabei, dass der Boden, auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft ist.«611 Die Standards für Instrumente, Licht- und Verstärkeranlagen, Outfits, Konzerttouren und großangelegte Marketingaktionen sind hoch. Die immensen Kosten dafür können nur von professionellen Plattenfirmen und Agenturen getragen werden. Einen Vertrag bekommt darum nur, wer gute oder gar beste Erfolgsaussichten am Markt hat. Dadurch steuert die Unterhaltungsindustrie den allgemeinen Musikgeschmack und musikalische Moden. »Das trug dazu bei, dass sich die gewissermaßen mittelständischen deutschen Rockbands um so stärker am internationalen Superreichen-Rock orientierten. Was bedeutete: Ein ständig steigender technischer Aufwand, um mit den auf deren Platten gesetzten Soundstandards mithalten zu können. […] Musikmachenwollen wurde zu einer Entscheidung im Sinne des Arbeitsamtes: ernsthaft MusikerIn zu sein, und zwar als Berufsbezeichnung.«612
Genau dieser Umstand ist auch der deutschen Punkbewegung ein ideologischer Dorn im Auge. KünstlerInnen sollten ihrer Meinung nach nicht an Umsätzen gemessen werden, nicht an den Verkaufszahlen ihrer Platten, sondern auch und 609 610 611 612
Schneider 2008, S. 137. Interview mit Alfred Hilsberg vom 20.1.2016. Horkheimer/Adorno 2013, S. 129. Schneider 2008, S. 46f.
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vor allem an Kriterien wie Kreativität, Witz oder Spontaneität. Für Markus Bella ist Punkmusik daher ein echter Befreiungsschlag: »Der Punk war für mich eine ganz, ganz wichtige Bewegung. Hat für mich vielleicht den Stellenwert gehabt wie für andere der Blues in den fünfziger und sechziger Jahren. Also etwas ganz radikal Einfaches, was aber gleichzeitig auch das Politische dabei hatte, das Kritische, das Konsumkritische. Dass das Individuum sich mit kreativen Mitteln Platz verschafft, sich Luft verschafft gegen die Vereinnahmung durch Konventionen und Regeln. Und plötzlich hat man mit der Kassette einfach ein Medium, das in beliebiger Stückzahl herstellbar war. Und auch in Eigenregie. Ich denke, diese Idee vom autonomen Produzenten, die ist natürlich ganz stark gewesen in dieser Punk-Bewegung. Dass man eben kein Presswerk bezahlt, dass man keine GEMA bezahlt, dass man diese ganzen Systeme praktisch unterläuft. Und es gab auch immer wieder Ideen, die so weit gingen zu sagen: Wir werden dieses System stürzen! Diese bösen Plattenfirmen mit ihren Zigarre rauchenden Bossen, diesen Kapitalismus, den werden wir abschaffen.«613
Deutsch wird rockmusiktauglich Diese Abgrenzungsbewegung und der Do-it-yourself-Gedanke der britischen Punks gehen in Deutschland auch mit einer Neuentdeckung der deutschen Sprache für die Musik einher. Bisher haben deutsche Musiker, die auf internationale Erfolge hoffen, ihr Glück auf englisch versucht, indem sie Rock- und Pop-Stars aus England und Amerika kopiert haben. Von wenigen Ausnahmen wie etwa Udo Lindenberg, Marius Müller-Westernhagen oder den Polit-Rockern Ton, Steine, Scherben einmal abgesehen, singt niemand auf deutsch.614 Das ist bis zum Punk der Schlager- oder der Liedermacherszene vorbehalten, einer Musik, die in den Augen der Punks reaktionär und wertkonservativ daherkommt. Dieser freudlosen Ernsthaftigkeit der Erwachsenenwelt hält der Punk eine permanente Spaßforderung entgegen.615 Zum provokativen »No future« kommt ein nicht minder provokatives »No fun« – sozusagen als Replik auf die bildungsbürgerlichen Ideale, die mehr und mehr auch die Rock- und Popmusik durchziehen und damit alles Frische und Leichte zu ersticken drohen, was populäre Musik in ihrem Wesen eigentlich auszeichnet. Auch in Tübingen beginnen sich Anfang der achtziger Jahre erste, vom Punk inspirierte Bands zu gründen – die Familie Hesselbach zum Beispiel, die später einige Bekanntheit in Deutschland erlangt. Ihr erstes Album Froh zu sein erscheint 1982 auf einer C60-Kassette. Diese produzieren die Musiker gemeinsam
613 Interview mit Markus Bella vom 1.3.2016. 614 Emmerling u. a. 2015, S. 19. 615 Interview mit Barbara Hornberger vom 27.11.2015.
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mit Markus »Le Marquis« Bella auf dessen Mini-Label Infam (Initiativgruppe für aggressive Musik)616 in der Tübinger Schellingstraße: »Da gab es einen Übungsraum. Und dann gab es noch einen zweiten Raum über den Flur rüber, einen Kellerraum, so dass wir praktisch eine Art Regie hatten. Das Ganze ging aus dem Übungsraum raus mit sieben oder acht Mikrophonen. Und ich saß dann am Mischpult und habe das dann irgendwie zusammengemischt. Bisschen bearbeitet. Aber Hall oder so hatte man gar nicht, solche Effekte. Und der Sänger war dann praktisch auch im Kontrollraum mit drin, damit man es sauberer raus mischen kann. Und dann wurde das direkt auf ein Masterband geschnitten, auf einer Revox-Maschine. Es waren fünfundzwanzig Songs. Die haben wir innerhalb von zwei Tagen aufgenommen. Klar, da haben wir Tag und Nacht durchgearbeitet und das mal zusammengeschnitten. Aber Hesselbach, diese erste Kassette, die ist ja jetzt auch wieder als Doppel-LP rausgekommen und dieses Direkte, ganz Schnelle und auch dieses Frische spürt man dem glaube ich heute noch an.«617
Betrachtet man Kassettenveröffentlichungen unter dem Aspekt des Prestiges für Punk-MusikerInnen und -Bands, können sie wohl ehrlicherweise der Schallplatte den Rang nicht ablaufen. Auch wenn es damals viele in bewährter Antihaltung nicht zugeben wollen: Eine Veröffentlichung auf Vinyl ist und bleibt für die meisten der Ritterschlag – nicht nur für die großen Player im Musikgeschäft, auch für kleinere Punkbands, die auf Bekanntheit und Anerkennung hoffen, erzählt Frank Apunkt Schneider: »Also, ich erinnere mich noch an das Ding, wo das erste Mal ein Freund von mir eine Platte gemacht hat. Das war eine Single in 500er Auflage, die heute wahrscheinlich noch nicht einmal auf Discogs618 gelistet ist. Aber das war ›Wow!‹ Wir waren vollkommen beeindruckt. Er hatte eine Platte. Das war einfach da ganz oben.«619
In Frankfurt schneidet Ende der siebziger Jahre beispielsweise auch die noch völlig unbekannte Gruppe Der Plan um die Künstler Frank Fenstermacher und Moritz Reichelt, die rückblickend als Wegbereiter der Neuen Deutschen Welle gilt, Jam-Sessions auf einem Kassetten-Diktiergerät mit.620 Unter dem Titel Das Fleisch veröffentlicht die Band 1979 einen Zusammenschnitt dieser Aufnahmen – aber nicht auf Kassette, sondern als EP auf Vinyl. In der Online-Datenbank Discogs steht noch heute als Hinweis zu lesen: »All recordings on this EP were 616 Interview mit Markus Bella vom 1.3.2016. 617 Interview mit Markus Bella vom 1.3.2016. 618 Die weltweit größte kostenlose, von Mitgliedern aufgebaute Online-Datenbank mit Diskographien von Bands, Labeln und Musikern. www.discogs.com zählt zu den meistbesuchten Webseiten der Welt. Vgl. Statistik auf: http://www.alexa.com/siteinfo/discogs.com, abgerufen am 3.3.2017. 619 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016. 620 Emmerling u. a. 2015, S. 54.
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made with a dictating machine.« Auch die Familie Hesselbach aus Tübingen wird 1982 parallel zur Kassette den Weg auf Platte einschlagen, nachdem sie mit ihrer ersten Kassetten-Veröffentlichung die nötige Aufmerksamkeit hergestellt hat. 1984 landen sie mit ihrem Mini-Album Süddeutschland bei Alfred Hilsberg und Zickzack.621 Auf dem Weg zum Stardom kommt man also auch im Punk an der Schallplatte nicht vorbei. Und der Traum vom Stardom ist – selbst wenn oft Gegenteiliges behauptet wird – der Traum der meisten Punkmusiker, glaubt Frank Apunkt Schneider: »Der Punkmusiker ist natürlich ein Star, einer, der auf der Bühne steht und angeschaut wird. Zumindest die guten Punkmusiker sind Stars. Also jemand, der praktisch exemplarisch etwas vorführt, auf das sich andere beziehen können. Das ist im frühen Punk schon die Idee, die dann immer ein bisschen davon überdeckt wird, das gesagt wird: Ja, das ist der Bruch mit diesen Mega-Bands der siebziger Jahre, Pink Floyd und blabla. Aber ich glaube, das ist eine ganz wichtige Idee, dass es zwar schon um die Demokratisierung des Popstars geht. Also jeder kann das sein. Aber es erfordert dann trotzdem noch eine gewisse repräsentative Handlungsweise. Und die gibt dir die Kassette ja nicht wirklich an die Hand.«622
Punk-Fanzines als (klingende) Szene-PR In der quirlig-bunten, unübersichtlichen Landschaft des deutschen Punk ist es wichtig, bekannt zu werden, um Hörer und Fans und damit potentielle Abnehmer für die eigene Musik zu gewinnen. Gute Multiplikatoren sind neben LiveKonzerten alternative Radiosender und die offiziellen Musikzeitschriften wie Rock-Session, Scritti, Sounds oder Spex. Manchmal veröffentlichen auch Stadtmagazine Konzerthinweise oder kurze Besprechungen. Doch all das sind die »Großen«, die »Offiziellen«, die Zwängen wie Auflagezahlen, Deadlines, Seitenumfängen, Layouts oder Zeilenhonoraren unterliegen. »Es formierte sich eine Gegenöffentlichkeit, auch gegen die kommerziellen Musikzeitschriften, die eine rasante musikalische Entwicklung nicht reflektieren konnten und den vielen Subszenen im Gefolge des Punk kein Forum boten.«623 So entdeckt man nach englischem Vorbild624 für das Medienensemble des Punk noch ein anderes, passend zur Kassette ebenfalls selbstgemachtes Kommu621 https://www.discogs.com/artist/269883-Familie-Hesselbach, abgerufen am 19.1.2017. 622 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016. 623 Stadtbücherei Reutlingen 2005, S. 2. 624 Als erste Fanzines der Punk-Bewegung werden in der Literatur das Sniffin' Glue und Ripped & Torn von 1976/77 betrachtet. Als erstes deutsches Fanzine gilt The Ostrich, das von März 1977 an erscheint.
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nikationsmedium für Szene-Neuigkeiten: Fanzines, Magazine, die von Fans für Fans gemacht werden. Dabei war das Fanzine »weit mehr als eine Art Infodienst für Musikfans. Es diente genauso zur privaten Artikulation zu allen Themen, die Menschen beschäftigten. Der Ausgangspunkt bliebt zwar stets die Popmusik, aber ansonsten konnten Fanzines Äußerungen zu den unterschiedlichsten Fragen über Kultur und Politik enthalten.«625 Zwar hat auch ein Fanzine in der Regel einen (ehrenamtlichen) Herausgeber und eine Redaktion, die über interessante Themen der Hefte entscheiden. Es gibt aber durchaus auch Einzeltäter. Fanzine-MacherInnen sind weitgehend unabhängig von kommerziellem Druck und damit meist offener als die kommerziellen Zeitschriften für alles Mögliche, was die Szene interessieren könnte. »Unterschied ist natürlich der: Wenn ich jetzt die Sounds aufschlage und ich habe hier die Anzeige einer Plattenfirma drin. Und dann habe ich drei Seiten weiter die Besprechung, dann ist schon klar, wohin der Hase läuft. Das heißt, diese kommerziellen Medien sind auch – um es mal vorsichtig zu sagen – eingeschränkter in der Wahl ihrer Notenvergabe. Was beim Fanzine völlig wegfällt. Man ist ja offen zu schreiben, was immer man will.«626
»Auch ist oftmals das Fachwissen der Fanzines besser, da sie sich nur um einen kleinen Ausschnitt der Musikszene kümmern und deshalb die Auseinandersetzung intensivieren können.«627 Fanzine-Inhalte reichen von Interviews mit lokalen Bands über Konzert- und Plattenkritiken, Szeneberichte, Comics und Ankündigungen bis hin zu Leserbriefen, der Veröffentlichung wichtiger Adressen, die das »Lebensblut des Netzwerks«628 sind, und natürlich Kleinanzeigen, die bei der Finanzierung der Druckkosten helfen können. Auch Markus Bella ist in Tübingen Anfang der achtziger Jahre als ehrenamtlicher Fanzine-Redakteur für die insgesamt sechs Ausgaben des Lautt unterwegs: »Das waren einige Leute aus dieser Szene. Der Sven Gormsen 629, das war der Herausgeber. Und es gab einige Leute, die geschrieben haben. Ich habe dann auch so Redaktionsaufgaben übernommen, habe auch geschrieben und bin nach Stuttgart gefahren, habe Läden abgeklappert wegen Anzeigen, also solche Dinge. Man hat versucht, ein Organ zu schaffen für diese Gesamtszene in Süddeutschland.«630
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Emmerling u. a. 2015, S. 143. Interview mit Markus Bella vom 1.3.2016. Raitzig 1993, S. 24. Sterneck 1998, S. 202. Zwischen 1981 und 1984 ist Sven Gormsen gemeinsam mit Markus Bella in der Tübinger Formation Zimt aktiv. Er singt, spielt Saxophon und Flöte. 630 Interview mit Markus Bella vom 1.3.2016.
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Allein in Westdeutschland erscheinen in den Anfangsjahren des Punk über zweihundert völlig verschiedene, selbst gebastelte Hefte. 631 Darin werden teilweise Adressen und Bezugsquellen anderer Fanzines genannt, teilweise werden andere Fanzines auch in Grund und Boden geschrieben. Vielleicht weil sie nicht professionell genug agieren, vielleicht aber auch, weil sie eben zu professionell auftreten. Genau kann man das im Voraus nie wissen. Denn die Fanzine-Szene ist genauso bunt und vielfältig wie die Szene, die sie beschreibt. Die meisten Fanzines sind auf einfachem Papier von Hand geschrieben, manchmal auch mit Klebebuchstaben oder im Stil von Erpresserbriefen mit aus Zeitschriften ausgeschnittenen Buchstaben verschönert, zusammengeklebt, kopiert und getackert. Sie haben kleine Auflagen zwischen fünfzig und zweihundert Stück. Daneben gibt es auch Hochglanzproduktionen, die im Offsetdruck hergestellt sind, professionellere Fotos abdrucken und tausend und mehr Exemplare auflegen. Manche dieser Fanzines haben eine große Reichweite und werden sogar europaweit über Platten- oder Kassettenläden vertrieben. Aus einigen werden später professionelle Musikzeitschriften wie die Visions. Manche Fanzines erscheinen alle zwei Wochen (ZAP), andere unregelmäßig mehrmals im Jahr, wieder andere bloß ein einziges Mal (Howl). Manche kosten wie Der Wahrschauer oder Niagara zwei, manche wie 59 to 1 über zehn Mark.632 Einige der teureren Fanzines haben Demokassetten mit Ausschnitten neuer Platten oder Kassetten dabei. Andere sind gerade ein paar Seiten dick, und die Fanzine-MacherInnen verteilen sie kostenlos bei Konzerten oder in Kneipen. »Es ist auf jeden Fall etwas, was immer diese Begrenztheit hat. Sei es von der Auflage her, auch von der Perspektive her. Man hat also immer irgendwas, was man selbst angeguckt hat, eben mitgeteilt. Und dann hat man es natürlich durch einen selber durch mitgeteilt. Man hatte nicht den Anspruch einer Objektivität, das war völlig subjektiv. Eine radikale Subjektivierung.«633
Ein ganz besonderes Fanzine, mit dem sich der Kreis zur Kassette wieder schließt, gibt der damals neunzehnjährige Tim Renner 1983 in Hamburg heraus, mehr als dreißig Jahre bevor er in Berlin Staatssekretär für kulturelle Angelegenheiten wird. Das Festival der guten Taten ist das erste selbsternannte Kassetten-Fanzine Deutschlands, das statt Papier bespielte C-60 Kassetten verwendet: »an audio fanzine with interviews, live recordings and reviews, record reviews, music clips from current and upcoming records and occasionally tapes.«634 Die 631 632 633 634
Galenza/Havemeister 2013, S. 472. Raitzig 1993, S. 23ff. Interview mit Markus Bella vom 1.3.2016. https://www.discogs.com/de/label/187563-Festival-Der-Guten-Taten, abgerufen am 18.1.2017.
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erste Ausgabe kostet zwei Mark fünfzig pro Stück, zeigt auf dem kopierten Kassettencover Zeichnungen eines Mannes und einer Frau und handschriftliche Hinweise auf den Inhalt der sechzig Bandminuten: »mit bisher unveröffentlichten Aufnahmen von den Zimmermännern, Contortions und den Quälenden Geräuschen – mit Alfred Hilsberg, Rex Dildo, Plattenbesprechungen und vielem mehr!«635 Auf dem Band sind tatsächlich von Tim Renner selbst gesprochene Plattenrezensionen zu hören, kurze Musikausschnitte, kleine Sound-Collagen und Interviewfetzen. Zu Beginn und am Ende jedes Sprachtakes ist das typische Klacken der Aufnahme-Taste des Kassettenrekorders zu hören. Die Aufnahmen sind teilweise übersteuert, manchmal fehlt der Anfang, manchmal der Schluss, manche sind verrauscht oder von anderen Störgeräuschen unterbrochen. Immer wieder wird trotzdem betont: »Ihr seht, dass ihr euer Geld wirklich nicht umsonst ausgegeben habt!« Denn die Themen sind bunt und abwechslungsreich, amateurhaft frech und ungeniert. In investigativer Journalistenmanier versucht sich Tim Renner leicht näselnd auch als Moderator zum Thema »Profit und Plattenlabels«. Ziel der Kritik, die im Interview und zum Teil auch als Geräuschcollage formuliert wird, sind neben dem Musikmagazin Sounds auch die GEMA und Alfred Hilsberg mit seinem Plattenlabel Zickzack: »Zickzack ist ein Ein-Mann-Monopolbetrieb. Und dieser Mann ist Alfred Hilsberg. Diesem Mann kann keiner in die Karten kucken. Man muss dem Mann vertrauen. Man muss sich auf den Mann verlassen. Alfred Hilsberg baut sich eine Villa. Eine Platte von Zickzack kostet zwanzig Mark […] Aber grundsätzlich halten wir hier in Hamburg Zickzack trotzdem für eine gute Sache. Ohne Alfred würde es hier einiges nicht geben. Wir mögen Alfred!« Fanzines, vor allem auch Kassetten-Fanzines, sind eigenwillige, höchst subjektive Kommunikationsinstrumente, die außerhalb des Netzwerks, in dem sie verwendet werden, zum Teil nur schwer verständlich sind. Fanzines sind Produkte aus einer Kommunikations-Gemeinschaft für eine KommunikationsGemeinschaft, die entlang festgesetzter Codes kommuniziert. Fanzines und der Osten Neben Konsum-, Monopolbildungs- und Kommerz-Kritik ist ein beliebtes Thema der westdeutschen Fanzines ab etwa 1983 auch die kritische Berichterstattung über die Situation der Punks in der DDR. Einige Fanzine-Schreiber berichten von eigenen Eindrücken während Besuchen im Osten Deutschlands. Dort existiert aus den Gründen, die ich bereits beschrieben habe, 636 keine eigene Fan635 http://tapeattack.blogspot.de/search?q=festival+der+guten+taten, abgerufen am 19.1.2017. 636 Vgl. Kapitel 3.2.3 »Krieg den Palästen«, Unterkapitel Samisdat und Magnetisdat.
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zine-Szene. Zu empfindlich sind die Strafen, wenn man mit illegalen Druckerzeugnissen erwischt wird, zu kompliziert sind die Prozesse, um überhaupt an Fotokopierer oder Druckmaschinen heranzukommen. »Um sich über aktuelle Bands, Tonträger oder die nächsten Konzerte zu informieren, mußte man auf persönlich geknüpfte Kontakte zurückgreifen.«637 Zum Beispiel zu FanzineSchreiberInnen aus dem Westen, die auf Besuch in der DDR unterwegs sind. Oder zu westdeutschen Fanzine-Herausgebern, denen man eigene Berichte zur Lage des Punk in der DDR per Post zuschickt. »Kürzlich bekam ich Post aus der DDR«, schreibt zum Beispiel das westdeutsche Fanzine Der Sensenmann in seiner zweiten Nummer 1985. »Klar gibt’s dort auch Punks, Skins und solche Musikgruppen. In der DDR ist aber Punk im Gegensatz zum Westen reiner Underground. […] Die Konzerte sind also meist als reine Privatfeten getarnt, was den Vorteil hat, dass keine unerwünschten Doofmänner kommen, wie bei uns. […] Vielleicht wäre es auch gut für uns, wenn wir solche Schwierigkeiten hätten, gäbe dann wohl weniger abgeschlaffte Ärsche!«638
Am Ende seines Artikels veröffentlicht der Schreiber die Adressen seiner zwei DDR-Kontakte und eine Adresse in Polen. Daneben steht der Zusatz: »Suchen Briefkontakt! Wer schreiben möchte: […]« Natürlich entgehen der Stasi solche »Mauersprünge« nicht. Und selbst unverfängliche Artikel wie der zitierte können massive Repressalien nach sich ziehen. 1985 löst der Beitrag eines OstBerliner Punks in einem West-Berliner Fanzine den operativen Vorgang »Fanzine« aus.639 Die noch frischen kommunikativen Verbindungen zwischen Ost- und West-Punks werden schnell wieder gekappt. Weil es in der DDR aber weder einschlägige Schallplatten noch unabhängige Musikzeitschriften wie die westdeutsche Sounds gibt, sind selbstgemachte Fanzines und Kassetten für die OstPunks mehr oder weniger die einzigen Möglichkeiten, um an Informationen, Musik, interessante Adressen und Kontakte zu Gleichgesinnten im Ausland zu kommen. Kurz: um sich mit der Szene in Europa und den USA zu vernetzen. Manch ein DDR-Punk riskiert dafür schon in den frühen achtziger Jahren Kopf und Kragen. Kein Wunder, dass jede Menge künstlerische und politische Fanzines samt Kassettenverlagen praktisch über Nacht entstehen, als sich das politische Klima in den Jahren unmittelbar vor der Wende allmählich zu liberalisieren beginnt. »Das Ende der DDR war also erst der Anfang der autonomen Punk-Medien in Ostdeutschland«640 und bringt auch Musik-Fanzines wie das Messitsch, Punk637 638 639 640
Galenza/Havemeister 2013, S. 478. Punk /New Wave in der DDR. In: Der Sensenmann Nr. 2 1985, S. 3. Galenza/Havemeister 2013, S. 485. Galenza/Havemeister 2013, S. 487.
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rott oder Rattenpress hervor, als in Westdeutschland von Punk und Neuer Deutscher Welle schon niemand mehr etwas wissen will. NDW bringt das Ende des Punk Nicht die stürmischen Anfangsjahre des deutschen Punk sind es, die unter dem Begriff der Neuen Deutschen Welle in die Geschichte eingehen. Der Name wird Anfang der achtziger Jahre offensiv weiterverwendet, als die großen kommerziellen Labels die Neue Deutsche Welle von einer ambitionierten Non-ProfitBewegung zum kommerziellen Mainstream-Phänomen glattzubügeln beginnen. Alfred Hilsberg erinnert sich: »Die Majors haben darauf geachtet, was da im Untergrund an eventuell kommerziell verwertbaren Dingen passiert ist. Das haben die dann in erster Linie über die Zettelveröffentlichungen641 und Kassetten von Zickzack mitbekommen und haben dann versucht, diese Bands nicht nur für sich einzukaufen, sondern auch die neu entwickelten Sounds umzusetzen in kommerziell verwertbare Musik.«642
Zu Beginn der achtziger Jahre setzen einige unabhängige Labels wie Innovative Communications mit der Gruppe Ideal oder Ata Tak mit Andreas Doraus Fred vom Jupiter Zehntausende Platten ab.643 Nun bekommen auch der einst wirtschaftlich uninteressante Deutschpunk und die NDW für die Major Labels einen Marktwert, erzählt der Musikjournalist Burghard Rausch: »Die haben irgendwann erkannt: Hmmmm. Mit der deutschen Ausgabe von Punk oder New Wave kann man ja doch Geld verdienen. Und ab etwa 1982 wurde plötzlich schlichtweg alles unter Vertrag genommen, was ein Instrument halten konnte oder einen wirren Namen hatte oder in verrückten Kostümen auftrat oder eben abgedrehte Texte absonderte. Und als dann die Bravo auch noch auf diesen Zug aufsprang und die neue deutsche Musik ›laut, schrill und irre fetzig fand‹ – diese Zeile fand ich sowas von dämlich –, da sank auch das Durchschnittsalter der Anhänger. Aber eben auch das Niveau. Das ist dann das Problem.«644
Bald bringt das, was einmal provokative handgemachte Kultur fernab bürgerlicher Wertvorstellungen war, goldene und silberne Schallplatten am laufenden Band hervor. Von selbstgemachten Kassetten oder Fanzines will die Industrie dagegen nichts wissen. Betreibern kleiner Labels, die dem deutschen Punk zu Beginn eine Plattform geboten haben, dreht diese Entwicklung praktisch den 641 642 643 644
Ein anderes Wort für Flyer. Interview mit Alfred Hilsberg vom 20.1.2016. Schneider 2008, S. 190f. Interview mit Burghard Rausch vom 20.10.2015.
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Geldhahn zu. Kein Wunder dass sich keiner der Punk-Pioniere mehr unter dem verbrannten Etikett NDW wiederfindet,645 die Bewegung für viele uninteressant und langweilig wird. Um 1985 herum verliert auch Markus Bella in Tübingen seine Lust an der einstigen Kreativmusik: »Ich muss ehrlich sagen, ich habe dann ab Mitte der Achtziger sehr viel auch wieder auf englisch gemacht, weil ich da dann doch freier war. Und weil das Deutsche einfach auch besetzt war durch diese Beliebigkeit von Neuer Deutscher Welle, was immer man darunter dann verkauft hat. Für mich war es da dann einfach auch gut, mal wieder in der Ursprache der Rockmusik zu schreiben. Schreibt sich viel einfacher. Würde ich Opern schreiben, hätte ich wahrscheinlich auf Italienisch geschrieben.«646
Kommunikationsnetzwerk Punk Das kommunikative Netzwerk, das sich mit der Punkbewegung herausbildet, darf man sich nicht als statisches Ganzes vorstellen. Analog zum sozialen Netzwerk der Punkszene, bildet sich im Punk auch auf kommunikativer Ebene ein höchst dynamisches Netzwerk heraus, das sich aus vielen kleinen und kleinsten einzelnen, in sich vernetzten Gruppen zusammensetzt: So verbirgt sich etwa hinter einem Label wie Zickzack ein kleines kommunikatives Netzwerk mit verschiedenen Akteuren, hinter den meisten Fanzines stecken Akteure, die miteinander kommunizieren, und auch eine Punkband ist an sich ein Netzwerk, in dem die Bandmitglieder miteinander in ständigem kommunikativen Austausch stehen. Dazu kommen Musikzeitschriften, Plattenläden, später auch die kommerzielle Musikindustrie, Konzertveranstalter, Szene-Kneipen und lokale Kleingruppen. Sie alle sind mittelbar kommunikativ miteinander vernetzt und bilden gemeinsam mit vielen einzelnen Rezipienten die Akteure des großen Kommunikationsnetzwerks, das ab Mitte der siebziger Jahre um das Issue Punk herum entsteht. Auffällig sind dabei verschiedene Akteure, bei denen sich besonders viele Kommunikationsprozesse kreuzen und die Dichte an kommunikativen Aktivitäten außergewöhnlich hoch ist: die Netzwerkknoten. Diese Knoten der Punkszene sind neben den berühmten und besonders aktiven Bands vor allem Fanzines und Musikzeitschriften wie die Sounds, die kleinen Labels wie Zickzack, Pure Freude, Ata Tak oder Rondo und alternative Platten- und Kassettenläden wie Rip Off in Hamburg, Scheißladen, Eisengrau oder Zensor in Berlin, die gleichzeitig als Versand, Vertrieb, Konzertveranstalter und unter Umständen sogar als Produzenten in Erscheinung treten können. Sie alle bilden als Knoten auch Anschluss645 Interview mit Barbara Hornberger vom 27.11.2015. 646 Interview mit Markus Bella vom 1.3.2016.
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stellen für andere kommunikative Netzwerke, die nicht unmittelbar mit dem Issue Punk in Verbindung stehen. Das können zum Beispiel Netzwerke mit einem anderen musikalischen, mit einem künstlerischen, sportlichen, politischen oder modischen Issue sein. Auch das Netzwerk der KassettentäterInnen, auf das ich im nächsten Kapitel genauer eingehen werde, findet über einige der Knoten wie zum Beispiel die Sounds Möglichkeiten, sich ans Kommunikationsnetzwerk Punk anzuschließen. Im Netzwerk Punk verlaufen viele Kommunikationsprozesse – vor allem anfangs – dialogisch. Viele Fanzines stehen zum Beispiel praktisch allen Mitgliedern des Netzwerks offen. Wer sich äußern will, kann das in der Regel auch tun. Labels wie Zickzack stehen in engem Kontakt mit den Künstlern, die sich wiederum bei Gestaltung und Verkauf ihrer Musik einbringen können. Sie werden nicht nach den Regeln der Industrie vermarktet, sondern haben eigenen Gestaltungsspielraum. Das Netzwerk Punk hat an sich kein eigentliches steuerndes Zentrum und damit auch eher flache Hierarchien. Prinzipiell können alle Akteure demokratisch und dialogisch miteinander kommunizieren, und jeder Akteur ist in der Lage, auch mit wichtigen Knoten innerhalb des Netzwerks selbständig kommunikativ zu interagieren. Das Aufladen von Symbolen und Zeichen mit Bedeutungen geschieht während des Kommunikationsprozesses an verschiedenen Stellen im Netzwerk. Es gibt keine eindeutige Hoheit über diesen Prozess, wenngleich einzelne Stars oder Idole der Punkszene sicherlich Vorbildfunktionen übernehmen und von den Knoten des Netzwerks auch gewisse Kommunikationsregeln vorgegeben werden. Die Kommunikation verläuft also zwar demokratisch, aber nicht anarchisch. Zum Beispiel ist das Verschicken von Demokassetten an Labels oder Konzertveranstalter ein akzeptiertes und etabliertes Kommunikationsmuster. Andere ungesteuerte Formen von – beispielsweise direkter Kommunikation – werden eher nicht akzeptiert, glaubt Alfred Hilsberg: »Als Band einfach so im Büro eines Labels vorspielen? Das geht ja wohl schlecht. Ansonsten hat man, glaube ich, vorwiegend die Kommunikation zwischen Bands und Plattenfirmen hergestellt, indem man die Plattenfirmen zu Konzerten eingeladen hat.«647 Zweck der Kommunikation im Netzwerk ist vor allem ein Informationsaustausch über Musik und musikalische Neuerscheinungen. Kommunikation wird aber auch benutzt, um sich selbst ins Netzwerk besser einzubinden, also mehr und neue Möglichkeiten zu erhalten, mit anderen Akteuren in Kontakt zu treten. »Als Multiplikator und Informationsbörse vernetzt das Magazin (Sounds) die dezentral entstandene Subkultur und trägt so maßgeblich zu einer Festigung des
647 Interview mit Alfred Hilsberg vom 10.1.2016.
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Stils bei.«648 Wichtig ist Kommunikation also auch, um das Netzwerk als solches zu stabilisieren und aufrechtzuerhalten, und um sich von der Welt außerhalb des Netzwerks abzugrenzen. Die Kommunikationsflüsse verlaufen dabei in der Regel nicht synchron, das heißt: Die einzelnen Schritte müssen zeitlich nicht unmittelbar aufeinander folgen, sondern können zeitversetzt mit einigen Stunden oder auch Tagen Abstand stattfinden, also asynchron erfolgen. Kommunikationsprozesse sind auch nicht regional oder lokal gebunden, sondern können große geographische Distanzen überwinden, weil zusätzlich zur direkten Kommunikation ein Ensemble verschiedener Speichermedien benutzt wird, in dem Kassetten neben Schallplatten, Briefen und gedruckten Artikeln eine herausragende Rolle spielen. Besonders selbst aufgenommene Demokassetten sind wichtige Kommunikationsmedien zwischen Zeitschriften-, Radio- oder Fanzineredaktionen, Bands, Labels und Konzertveranstaltern. Sie werden vorzugsweise per Post hin- und hergeschickt und bieten in hohem Maße Möglichkeiten zur zeitversetzten Anschlusskommunikation – sei es nun beispielsweise in Form einer Besprechung, einer Konzertveranstaltung oder einer Radiosendung. Auch auf diesen Kommunikationsakt erfolgt in der Regel eine Anschlusskommunikation – in Form eines Erfahrungsberichts zum Beispiel, eines Konzertbesuchs oder eines Leserbriefes. Auch das Mitschneiden von entsprechenden Radiosendungen auf Leerkassette stellt einen solchen kommunikativen Anschluss dar. Radiosendungen, in denen Kassetten gespielt und besprochen werden, erscheinen heute in Internetdatenbanken wieder als gesuchte Mitschnitte, zum Beispiel Sendungen im NDR Club, die der bereits erwähnte, spätere Kulturstaatssekretär Tim Renner im Jahr 1982 moderiert.649 Zum Teil treten Kassetten im In- und Ausland auch als Ersatzmedien für Schallplatten in Erscheinung, also als eher standardisierte Kommunikationsmittel in Form von Tonträgern für Veröffentlichungen alternativer, von der Industrie unabhängiger »Indie«-Plattenlabels. »Zum Beispiel ROIR – Reach Out International Records: Die waren ein Kassetten-Label aus New York, die professionell produziert haben. Die haben viele so Sachen wie Bad Brains live rausgebracht, Suicide live, auch Bands, die es nur auf Kassette gab, oder so New-York-Punk-Sampler oder so. Die wurden dann auch richtig in Platten-RezensionsSpalten rezensiert. Die haben dann auch 1000er Auflagen gemacht. Malaria haben die auch rausgebracht, Einstürzende Neubauten haben die rausgebracht. Das war der Versuch, das Medium sozusagen auch professionell zu nutzen. Dann gibt es dieses Compact Casset-
648 Hornberger 2011, S. 343. 649 http://tapeattack.blogspot.de/2010/12/club-ndr-08021982-kassettentater.html, abgerufen am 20.1.2017.
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te Echo in Italien, die auch relativ professionell waren. Also, es gibt auch Labels, die das wirklich professionell betrieben haben. Zum Teil auch mit der Idee, damit doch Geld zu verdienen. Und dann gibt es ganz viele Abstufungen. Und es gibt auch Labels, die beides gemacht haben.«650
Auffällig ist dabei, dass die Kommunikationsmittel und ihre Inhalte innerhalb des Punk-Netzwerks einer weniger strengen Standardisierung oder Normierung unterliegen als etwa kommerzielle Musikzeitschriften oder die meisten kommerziell vermarkteten Platten der Musikindustrie. »›gut‹ und ›schlecht‹ sind einfach keine kriterien mehr, nicht für texte, nicht für musik, nicht für sonstwas; ›lesbar‹ und ›unlesbar‹, ›anhörbar‹ und ›unanhörbar‹ sind da schon eher zu gebrauchen, obwohl diese begriffe nichts über qualität, funktion und wirkung aussagen; doch am sinnvollsten sind immer noch: ›bringt's‹ oder ›bringt's nich‹. so und nicht anders müssen wir an das phänomen punk-rock herangehen.«651
Hört man zum Beispiel in die Kassettenmitschnitte aus dem Proberaum von Der Plan hinein, die später auf Vinyl veröffentlicht werden, sind immer wieder pfeifende Rückkoppelungen zu hören. Auch die Balance zwischen den einzelnen Instrumenten ist alles andere als ausgewogen. Trotzdem werden die KassettenVinyl-Aufnahmen ein Erfolg. Punkprodukte dürfen sich also nach professionellen Studioaufnahmen anhören und eine ordentliche Qualität mitbringen wie viele Zickzack-Produktionen, man akzeptiert aber und freut sich auch an einer gewissen Dilettanten-Ästhetik, wie sie zum Beispiel Tim Renners Kassetten-Fanzine Festival der guten Taten auszeichnet. »Zumindest war es nicht so, dass der Produzent sich daran gestört hätte und es anders gemacht hätte. Ob das Absicht war oder ob das Zufall war? Oft weiß man es nicht.«652 »Das sind schon auch so relativ typische Dinge. Dass viele Dinge scheitern. Dass es auch nicht wichtig ist, ob man die Gitarre gut hören kann. Oder ob man den Sänger versteht. Wo es wirklich eigentlich um so eine Form von Dokumentarismus geht. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch diese Vierspur-Tüftler, die sich dann auch wirklich mit den Vierspurgeräten auseinandersetzen. In England die Cleaners from Venus zum Beispiel, die dann auch wirklich so eine eigene Vierspur-Ästhetik entwickeln. Das gibt es natürlich auch.«653
Diese größere ästhetische Bandbreite der Kommunikationsmedien entsteht maßgeblich durch den Einsatz von Kassetten im Medienensemble des Punknetz650 651 652 653
Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016. Mall u. a. , S. 2. Interview mit Markus Bella vom 1.3.2016. Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016.
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werks, der es theoretisch möglich macht, dass aus jedem Rezipienten auch ein Produzent wird. Dadurch können mehr und unterschiedlichere individuelle Akteure in das kommunikative Netzwerk des Punk integriert werden, als das bei anderen Musikstilen der Fall ist. Betrachtet man zum Beispiel Netzwerke um Jazz oder Techno, sind die Kommunikationsmedien standardisiert und genormt. Nur allerhöchste Qualität wird den Ansprüchen der Akteure, zu denen neben Hörern maßgeblich auch die Musikindustrie und Clubbetreiber zählen, gerecht. LoFi wie im Punk wäre in einem solchen Netzwerk undenkbar. Grundsätzlich ist auch die Rolle der Plattenindustrie mit ihren professionellen Vertriebswegen als Akteur im kommunikativen Netzwerk Punk eine andere als in den meisten anderen Netzwerken mit musikalischem Issue. Sie steht im Punk nicht im Zentrum des Netzwerks, sondern weit am Rand, ist also im Gegensatz zu den meisten anderen Akteuren kommunikativ kaum eingebunden oder vernetzt. Außer in Form von Demokassetten spielen bei den wenigen Kommunikationsvorgängen zwischen Schallplattenindustrie und anderen Akteuren Kassetten als Medien keine Rolle. Selbiges gilt für staatliche Kontrollgremien oder offizielle Institutionen wie die GEMA. Die wenigsten Bands lassen ihre Urheberrechte durch die GEMA vertreten. Auch Alfred Hilsberg hat für Zickzack keinen Vertrag mit der GEMA. Einzige Akteure, mit denen im Netzwerk Kommunikation stattfindet, sind – wenn überhaupt – die etwas größeren Independent-Labels und professionelle Musikzeitschriften. Eine Kontrolle der Kommunikationsprozesse durch Industrie, Wirtschaft oder Staat ist umgekehrt also auch nicht möglich, sieht man von totalitären Kontrollmechanismen, wie sie in der DDR gang und gäbe waren, einmal ab. Das ändert sich erst, als ab etwa 1982 die Neue Deutsche Welle als Antwort auf den selbstgemachten deutschen Punk kommerziell vermarktet wird. Zu diesem Zeitpunkt verändert das kommunikative Netzwerk seine Struktur. Statt demokratischer Kommunikationsflüsse, wird die Kommunikation nun zentral von der Plattenindustrie gesteuert. GEMA und öffentlich-rechtliche Medienhäuser greifen ebenfalls massiv in die Kommunikationsprozesse ein. Akteure, die zuvor gut vernetzt waren, werden an den Rand gedrängt und einstige Knoten wie Fanzines oder kleine Labels verlieren ihre Schlüsselfunktion. »Die Neue Deutsche Welle hat die Gehirne der Leute, aber auch die Medienkanäle verstopft, so dass wir bei Zickzack große Probleme hatten – ganz anders als zu Beginn dieser Bewegung – überhaupt noch wahrgenommen zu werden.«654 Kassetten sind in diesem Netzwerk als Kommunikationsmedien nicht mehr wichtig, womit das dialogische Kommunizieren, das bisher für das Netzwerk kennzeichnend war, nicht mehr möglich ist. Alfred Hilsberg versucht noch eine 654 Interview mit Alfred Hilsberg vom 20.1.2016.
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Zeitlang, sich dagegen zu stemmen. »Ich habe versucht, die Probleme, die schon entstanden waren, durch die über uns hereingebrochene Form der Neuen Deutschen Welle, denen zu begegnen mit Kassetten. Aber das war illusorisch.«655 Das Kommunikationsnetzwerk Punk beginnt sich folglich aufzulösen und zerfällt. Es beginnt die Zeit nach Punk, die Ära des Postpunk, und mit ihr verstreichen bis etwa 1986 noch einige bunte Kassetten-Jahre fern der Neuen Deutschen Welle. 4.2.2 Zwischen Casio-Getschilpe und Avantgarde: Kassetten im Postpunk Nachdem zwischen Mitte und Ende des Jahres 1981 der einst so subversive Punkgedanke in Deutschland zu einer regelrechten Bewegung wird, beinahe täglich neue Bands gegründet werden, nachdem sich neue unabhängige Plattenlabels neben der Musikindustrie in Position bringen, stimmen ab Ende 1982 die großen Musikmedien wie die Sounds oder auch einige Jugendradiowellen zunächst noch unterschwellig, dann immer offenkundiger den Abgesang auf die deutsche Punkbewegung an.656 Die Metropolen wie Berlin, Hamburg, Hannover oder Düsseldorf sind übersättigt mit dilettantischem Provo-Krach. Die Neue Welle ist auch längst nicht mehr neu, sondern beginnt als domestizierter deutscher Neo-Pop aus allen Kanälen von Kaufhaus bis Kinderkarussell zu rieseln. Punk ist chartstauglich und salonfähig geworden. Was in den Anfangstagen um 1979 noch als innovative und rebellische Qualität wahrgenommen wurde – amateurhafte Sounds, unflätige Texte, schräge Namen und bescheidene Aufnahmequalität – wird in Rezensionen nun genüsslich unter dem Vorwurf mangelnder Professionalität zerpflückt. »Der Tod von Punk war in dem Moment besiegelt, als die ersten ›Punk's not dead‹ Parolen auftauchten, er also seine eigene Unsterblichkeit als Verwesungsgeruch verbreitete. […] Punk wurde so zur kulturellen Identität, die kein protestierendes Durchgangsstadium mehr sein wollte, sondern der abverlangt wurde, ein Leben lang zur Verfügung zu stehen. Eben erwachsen zu werden. Dazu musste Punk politisch in einem Sozialkunde-LehrerInnenverträglichen Sinne werden, woran er dann auch zügig verstarb.«657
Punks gehören inzwischen zum alltäglichen Straßenbild. Stachelfrisuren, zerfetzte Lederjacken, Nieten, Sicherheitsnadeln und Rasierklingen haben ihren provokativen Charakter verloren. Sogar Hakenkreuze als Halsschmuck stellen keine 655 Interview mit Alfred Hilsberg vom 20.1.2016. 656 Hornberger 2011, S. 349. 657 Schneider 2008, S. 40.
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Aufreger mehr dar. Genau genommen ist Punk dadurch ein bisschen öde geworden. Die Trendsetter in den Großstädten, die ein paar Jahre zuvor so empfänglich für die Impulse der britischen Punk-Bewegung gewesen sind, wenden sich darum nun neuen Strömungen zu. KassettenmacherInnen im regionalen Underground Ein wenig anders präsentiert sich die Lage außerhalb der einstigen Epizentren des Punk. Dort steht vielerorts der sogenannte Underground noch in voller Blüte. Inspiriert vom DIY-Gedanken des Punk und vom rauen, selbstgemachten Sound der Musik haben sich eigene regionale Szenen herausgebildet, die mit energischem Das-kannst-Du-auch-Elan und ungeheurer Kreativität an den neuen Ideen weiterarbeiten, als diese schon gar nicht mehr neu sind. Sie artikulieren sich nahezu ausschließlich über Kassettenproduktionen und entsprechende Fanzines und betrachten sich als Teil einer weltumspannenden großen Kassettenszene. Ihre Akteure nennen sich selbst »KassettentäterInnen«: »Schon im Begriff ›KassettentäterInnen‹ […] klang das Überwinden der für die Plattenkultur notwendigen Passivität an und mit ihm die alte anarchistische Idee einer ›Propaganda durch die Tat‹ – wer Kassetten machte, war TäterIn, nicht Opfer.«658
In erster Linie stehen für die KassettentäterInnen Ideen von Selbstverwirklichung, Kreativität und individueller Abgrenzung im Mittelpunkt ihrer Aktivitäten, die sich zwar häufig, aber nicht ausschließlich als Musik artikulieren. »Deshalb war die Kassettenszene damals musikalisch überhaupt nicht festlegbar, da sind ja völlig unterschiedliche Sachen passiert, von Punk-Beeinflusstem über pure Geräusche und Collage, und zwar als Ausdruck einer Szene. Und das ging über den Ansatz Musik zu machen hinaus. Es war halt dieses Interesse für Technik der Collage mit dabei, beeinflusst natürlich auch von so was wie Dadaismus. Es gab auch Fanzines, die nicht über Musik berichtet haben, sondern Collagenhefte waren oder sonstwie in künstlerischer Form sich ausgedrückt haben. Und das gehörte alles irgendwie zusammen.«659
Hauptsache selbstgemacht, Hauptsache kein Mainstream, erinnert sich Markus Bella, der 1978 nach Tübingen kommt. Unter seinem Künstlernamen Le Marquis ist er zentral am Aufbau der dortigen Kassettenszene beteiligt und bis Mitte der achtziger Jahre auch aktiv: »Es gab viele Leute auch hier in der Region, die radikal rangingen ohne Vorkenntnisse. Nach vorne wie die Ochsen oder wie die Stiere losgelaufen sind, mit einer Energie ihre 658 Schneider 2008, S. 141. 659 Sahler 2005, S. 852.
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Dinge gemacht haben. Und es gab natürlich viele – da gehöre ich auch dazu – aus dem studentischen Bereich, die schon ein bisschen intellektueller sich selbst reflektiert haben und das, was sie tun. Ich war immer auch ein Lernender. Und das hat mich eben ganz stark unterschieden von dieser Hippie-Fraktion hier in Tübingen. Die waren fertig, fertig mit der Welt. Die haben ihr fertiges Weltbild gehabt. Da ist nichts mehr passiert. Das fand ich immer so etwas Schreckliches.«660
Diesen fertigen Weltbildern des Establishments, gesellschaftlichen Dogmen, auch wissenschaftlichen Normen und dem allgegenwärtigen Kommerz stellen die KassettentäterInnen ihre wilden Eigenproduktionen entgegen. Im Herbst 1982, als in den Punk-Zentren Düsseldorf, Hamburg oder Berlin schon eine gewisse Punk-Müdigkeit einzusetzen beginnt, schreibt Fanzine-Redakteur Hank Ewalds im Tübinger Fanzine Lautt: »Wo sonst, bitte, außer in Tübingen (und noch wenigen anderen Städten) bietet sich ein solches Mekka für Gammel-Geißbock-Hippie-Öko-Alternativ-Politik-Freaks? Wo sonst sind diese ekelhaften Wesen so wenig von neugewellten 661 Reformen verunreinigt wie hier? Wo also sonst sind die Voraussetzungen so gut, sich in immer frischer Abgrenzungswut zu wirklich phantasievollen und kreativen Schaffensprozessen hinreißen zu lassen?«662
Die süddeutsche »Kassetten-Achse« Das bunte Publikum in der Unistadt, die latenten Rangeleien mit den Alt-Hippies und viele hoch aktive Kassetten-Enthusiasten im weiteren Umfeld zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb sorgen dafür, dass sich entlang der Achse Pforzheim-Tübingen-Reutlingen eine der buntesten und produktivsten Regionalszenen Deutschlands oder zumindest des süddeutschen Raumes ausbildet. Hier gibt es bis in die späten achtziger Jahre hinein neben Dutzenden unterschiedlichster Fanzines auch unzählige Initiativen, Kassetten-Communities, Klein- und Kleinstkassettenverlage mit klangvollen Namen wie Intoleranz, Werke junger Monarchen, Infam, Edition Oberton, Gruppensex und viele mehr. 1982 existieren allein in Pforzheim, einer Kleinstadt am Rande des Schwarzwalds mit rund 100.000 Einwohnern, siebzehn Bands der neuen Musikrichtung. Ein Sampler mit süddeutschen Bands, den die Pforzheimer Initiative Intoleranz um Klaus Schmidbauer im Frühling 1981 herausgibt, trägt den Titel Kassettentäter 1. Über die Musikzeitschrift Spex, die den Sampler euphorisch bespricht, wird der Name bald zum Synonym für die gesamte deutsche Kassettenwelle.663 660 661 662 663
Interview mit Markus Bella vom 1.3.2016. Gemeint ist »New Wave«. Schneider 2008, S. 89. Sahler 2005, S. 843.
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Viele KassettentäterInnen sind experimentelle EinzeltäterInnen, haben gar keine Band im klassischen Sinn, sondern sind Mitglieder in mehreren verschiedenen ein bis fünf Mann oder Frau starken Kleinst-Formationen: »damals zerwirklichte sich jeder moderne mensch in mindestens zwei komplett verschiedenen bands und pflegte nebenher diverse solo- & sezessions-attitüden.«664 Reale Auftritte finden meist nur in einem mehr oder weniger privaten Rahmen statt. Oft auch überhaupt nicht. »Bei vielen war es halt einfach so: Die wollten praktisch über ihr Produkt in Kontakt kommen. Ich glaube, das waren sehr viele so Eigenbrötler gewesen. Die vielleicht nie rausgegangen sind, die gar keinen Bock darauf hatten. Das kann man sicher nicht verallgemeinern, weil es gab natürlich alle Arten von Typen dabei. Aber es gibt sicher eine gewisse Schnittmenge von Leuten, die das als so eine Art Briefkultur betrieben haben.«665
Die KassettentäterInnen des Postpunk träumen – anders als die Punks noch wenige Monate zuvor – normalerweise nicht davon, einmal im Rampenlicht einer großen Bühne zu stehen oder in einschlägigen Clubs der Szene live aufzutreten. Auch eine eigene Vinyl-Platte ist – ganz anders als für die meisten Punkmusiker – nicht das Fernziel der KassettentäterInnen. Kassettenfreundschaften statt BrieffreundInnen Vielmehr streben viele KassettentäterInnen mit unzähligen Kassetten, Briefen und Kassetten-Päckchen nach einer eigenen Art von Öffentlichkeit: einer Art virtueller Öffentlichkeit, die de facto vor allem in der eigenen Szene existiert. »Um in Kontakt mit der Szene zu kommen, mußt du bereit sein, dir die Zeit und die Energie zu nehmen, viele Briefe zu schreiben und, wenn du deine eigenen Aufnahmen veröffentlichen willst, einiges in Postgebühren und Leerkassetten zu investieren. Aber du wirst dann feststellen, daß dein Interesse mit jedem neuen Kontakt zunimmt und deine eigene Kreativität in ungeahnte Größen steigt. Du wirst Musik hören, die du nie zuvor gehört hast und wirst in Kontakt mit Leuten kommen, die hoffentlich versuchen, die äußeren Grenzen zu durchbrechen. Es geht nicht um Geld und auch nicht um Ruhm. Es ist eine Subkultur von ProduzentInnen, nicht von passiven KonsumentInnen.«666
Die unzähligen ProduzentInnen suchen nach Interesse und Lob von Gleichgesinnten, denen sie vielleicht niemals persönlich begegnen werden, denen sie
664 http://siemers.podspot.de/?page=33, abgerufen am 16.1.2017, Siemers ist der richtige Nachname von Ralf »van Daale«, dem Schlagzeuger der Formation Zimt. 665 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016. 666 Sterneck 1998, S. 198.
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Kassetten schicken, und von denen sie umgekehrt Feedback – und oft auch wieder Kassetten – per Post geschickt bekommen. »Wenn man ein abstraktes Kommunikations-Modell erstellen will – und das kann dann natürlich nicht alles stimmen, aber es würde zumindest gewisse Grundzüge abstrahieren – dann ging es darum, sich etwas schicken zu lassen und das Produkt des anderen als Eintrittskarte zu benutzen, um selbst etwas herumzuschicken. Ich bin mir auch nicht so sicher, wie viele dieser Sachen, die man so rumgeschickt hat, auch wirklich gehört wurden in dem Sinne, dass sie halt regelmäßig liefen oder zumindest öfter als ein Mal liefen. Ich glaube, das war eher so wie so Brieffreunde früher. Im Ernstfall entwickelt sich vielleicht dann doch eine wirkliche Kommunikation. Aber oft ist es auch nur so eine Abstrahierung von Kommunikation.«667
Man wünscht sich möglichst breite Aufmerksamkeit im Netzwerk für das eigene Produkt und damit für die eigene Produzententätigkeit und versucht darum, vor allem Fanzineschreiber und andere Multiplikatoren zu erreichen. Sie ermöglichen es, mit immer neuen Akteuren in Kontakt zu kommen und sich weiter und dichter zu vernetzen. Nicht Geld ist die Währung in diesem Netzwerk, sondern Kontakte. Sie sind das Kapital, das den Status der einzelnen Akteure bestimmt, und gleichzeitig eine wichtige Ressource für Prestige, persönliches und individuelles Wohlbefinden. »Oft hat bei diesen Tüftlern eben, wo es keine Live Auftritte gab, die große weite Welt diese Umfeld-Szene ersetzt. Weil die Leute im Umfeld das oft gar nicht verstanden haben. Die konnten damit nichts anfangen. Aber es gibt irgendwelche Leute, die eben irgendwo anders sitzen und auf dem gleichen Film sind. Und um diese Andersgesinnten zu erreichen, hast du genau dieses Medium gebraucht.«668
Je weiter die Kassetten- und Briefkontakte dabei geographisch reichen, umso stärker wird das Gefühl der eigenen Vernetztheit, bis hin zum Eindruck, Teil einer weltumspannenden Idee zu sein. Viele Kassettenproduktionen werden sogar aus Amerika, Italien, Österreich oder der Schweiz geschickt und angefragt, wo es ebenfalls regionale Kassettenszenen gibt. Wichtige Kontaktbörsen für die verschiedenen regionalen Szenen, die häufig auch überregionale Brückenschläge zwischen noch unvernetzten Gruppen oder Individuen schaffen, sind neben den Fanzeitschriften interessanterweise die großen kommerziellen Musikzeitschriften, allen voran die Sounds, das damals führende Organ für Punk und New Wave. »Das nicht gerade als aufregend angesehene Blatt wandelt sich zum Sprachrohr einer Subkultur, macht sich zum
667 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016. 668 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016.
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›publizistischen Flaggschiff der Neuen Deutschen Welle‹. Die persönliche Begeisterung der Redakteure wird zur journalistischen Leitlinie.«669 Wer in der Sounds erwähnt wird, bekommt danach in der Regel viel Post, denn meistens sind zusätzlich zum Titel der Produktion die Adresse des Labels abgedruckt oder gleich die privaten Adressen der KassettentäterInnen. Für viele EinzeltäterInnen in den Regionen ist das Magazin damit sozusagen das »Fenster zur Welt«. »Dem Zeitschriftenabo und dem Wissensdurst sei Dank, dass aber auch in der ländlichsten Gegend diese Zeitschriften […] gelesen wurden.«670 Nachdem aus dem 1980 anfänglich noch kleinen Kassetten-»Rinnsal« ab Ende 1981 eine regelrechte Welle geworden ist, haben Alfred Hilsberg und Diedrich Diederichsen, der seit Juli 1979 Mitglied der Chefredaktion ist,671 in der Sounds eine eigene Kassetten-Kolumne eingerichtet, und sichten Woche für Woche eine Flut an neuen Produktionen aus den verschiedenen regionalen Kassettenzentren der Republik, von Berlin bis Pforzheim, von Frankfurt bis Konstanz: »Die haben die Bands per Post geschickt, ohne dass ich danach gefragt habe. Da kamen täglich dreißig bis vierzig Kassetten an, also das war ungeheuerlich. Die haben die teilweise an die Label-Adresse von Zickzack, teilweise an die Redaktion der Sounds geschickt. Da habe ich die dann alle zwei bis drei Tage eingesammelt und mit nach Hause genommen und fast alles gehört. Und dann war das oft eine große, tolle Überraschung, was da zum Teil aus den entferntesten Dörfern und kleinen Städten, aus der Provinz ankam. Denn da haben Leute es gewagt, Musik zu produzieren, die weit entfernt war von allen Gedanken an eine kommerzielle Verwertung. Die haben sich ausprobiert, die haben versucht, Texte und Musik selbst zu entdecken und zu formen. Die haben eine Kreativität bewiesen, die es vorher noch nie so gegeben hat.«672 »Das heißt, das war eine unglaubliche Menge an Dingen, die in den Regionen verankert war. Ich glaube schon, dass dieser dezentrale Gedanke in gewisser Weise wichtig war. Dass man eben jetzt auf der Alb sitzen kann in irgendeinem Kinderzimmer, vervielfältigen kann, was dann einen Monat später in der Spex oder in der Sounds ganz euphorisch besprochen wird von Hilsberg oder von wem auch immer. Das sind natürlich schon so ganz neue Erfahrungen, die gegen den Zentralismus gehen, die gegen den organisierten Strukturweg gehen. Man kann das jetzt ganz hochtrabend – das ist auch ein Begriff aus der Zeit – dieses Rhizom nennen. Dieser Rhizom-Gedanke. Dieses Rhizom, das untergräbt, das unterläuft die etablierten Strukturen. Dieser Gedanke wird sich immer wieder finden.«673
Das Bild des unter der Erde wild wuchernden, weit verzweigten Wurzelgeflechtes illustriert auch den Aufbau der kommunikativen Strukturen des Kassetten669 670 671 672 673
Hornberger 2011, S. 342. Sahler 2005, S. 665. Hornberger 2011, S. 342. Interview mit Alfred Hilsberg vom 20.1.2016. Interview mit Markus Bella vom 1.3.2016.
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netzwerks sehr anschaulich: Wo Kommunikation stattfindet, also der »Lebenssaft« fließt, bilden sich neue Verzweigungen aus, neue Knoten und weitere Verbindungen, die wiederum neue Früchte hervorbringen. Ich werde darauf gleich noch einmal zurückkommen. Anders als in den großstädtischen Zentren sind kommunikative Zentren des Kassettenrhizoms in den Regionen nicht reale Szene-Treffpunkte. Denn die gibt es oft gar nicht. Kneipen, soziokulturelle Zentren, studentische Clubs oder Jugendhäuser, wo die KassettentäterInnen oft aktiv sind, finden sich nur in etwas größeren Städten wie Tübingen, Reutlingen oder Pforzheim. In dörflichen Gegenden ersetzen Fanzines oder eben die Sounds darum auch reale Treffpunkte als Umschlagplätze für Informationen und Kontakte. »Also, es gibt von Armin Hofmann674 zum Beispiel die Geschichte, wie er die Co-mix kennengelernt hat. Die Co-mix waren zwanzig Kilometer weiter gesessen, auch eine Band. Und er meinte: über die Sounds. Weil in der Sounds hat er diese Hilsberg-Kolumne gelesen und gemerkt: Hey, hier in Altensteig, gleich um die Ecke, gibt es eine Band. Ich weiß nicht, ob da eine Kontaktadresse dabei stand, aber so haben die sich halt kennengelernt. Weil die wussten ja vorher nichts voneinander.«675
Mit der radikalen Subjektivität ihrer Autoren, die sich selbst zu Paten von Punk, New Wave und Kassettentätern erklären, dem Theoretisieren über musikalische oder gesellschaftliche Zusammenhänge, einem Anzeigen- und Adressenteil unterscheidet sich die Sounds stilistisch kaum von einem Fanzine und gibt den LeserInnen neben Informationen auch die Möglichkeit zur kommunikativen Partizipation: »Die Subjektivität der Autoren fordert den Leser, bzw. Hörer auf, sich eine Meinung zu bilden, die nicht vermeintlich objektiven, sondern den eigenen, persönlichen Kriterien folgt. In den Leserbriefen wird diese Lust an der Auseinandersetzung deutlich, gerade dann, wenn es wütende Briefe an die Redaktionen sind oder sogar monatelange Debatten untereinander. […] Auf diese Weise sind am Diskurs über die Einordnung und Bedeutung der Musik die Fans genauso beteiligt wie die ›Fachleute‹.«676
674 Mitglied der Formation Brüder Hofmann, Gründer und Betreiber von x-mist Records und des Tape-Labels ExtremMist in Wildberg im Schwarzwald. 675 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016. 676 Hornberger 2011, S. 346.
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»Cassette sich, wer kann«677: Vertriebswege für Kassettenproduktionen Unnötig zu erwähnen, dass sich die meisten Fans – seien es nun KassettenproduzentInnen oder FanzinemacherInnen – ohnehin als die besten Fachleute ihrer Szene und ihrer Produkte verstehen. Schließlich sind viele von ihnen Künstler, Produzenten, Rezensenten, Marketing- und Vertriebsspezialisten in einer Person. Erwähnungen oder Besprechungen bei Sounds, Scritti 678 oder in der ab 1980 erscheinenden Spex sind für diese multiple Aufgabe eine Art Allzweckwaffe: eine gute, weil weitreichende und kostenlose Produktwerbung, gleichzeitig ein nützliches Instrument für das Selbstmarketing der Fanzine- oder Kassettenproduzenten. Eine Garantie für einen Verkaufserfolg sind sie allerdings trotzdem nicht, denn die Konkurrenz um die oft nicht mehr als zwei Zeilen umfassenden Besprechungen ist groß. Viele Kassetten und Kassetten-Fanzines sind außerdem nur schwierig zu bekommen. Sie sind – im Gegensatz zu kommerziellen Platten, Zeitschriften oder Kassetten – nicht in Kaufhäusern, großen Buchläden oder Musikgeschäften zu haben. Und auch die unabhängigen Plattenläden und -vertriebe sind oft wählerisch und stellen längst nicht alles in ihre Regale. Bei den meisten Plattenhändlern entscheidet neben der künstlerischen Qualität auch der persönliche Geschmack über die Auswahl. Vertriebsstrukturen für die selbstgemachten Produkte zu organisieren, ist also neben der Produktion die Hauptherausforderung an alle KassettentäterInnen. Markus Bella, alias Le Marquis, klopft als »Außenhandelsvertreter« für Kassetten und Fanzines aus Tübingen zum Beispiel Anfang der achtziger Jahre bei vielen großen und kleinen Läden an. Mal mehr, mal weniger erfolgreich. In Berlin weist man ihn mit den Produkten von Infam recht rüde ab. Und auch dem Fanzine Lautt bleibt der Vertriebsweg über die offiziellen Adressen verschlossen: »Ich hab das ja damals versucht, überall, auch bei Wittwer679 und den Bahnhofszeitschriften-Läden reinzukommen. Das hat aber nicht funktioniert. Da waren wir einfach ökonomisch zu klein.680 Man muss sich als Fanzine- oder Kassettentäter in Sachen Vertrieb also oft selbst zu helfen wissen. Viele Bands vertreiben ihre Sachen von zu Hause aus und »on demand«. Wenn Briefe mit Bestellungen eintrudeln, wird kopiert und verschickt. Die Währung sind oft andere selbstgemachte Kassetten, Fanzines oder Leerkassetten.
677 Ausspruch und Titel eines Artikels von Molto Menz, dem Betreiber des Münchner Kassettenvertriebs Du bist so gut zu mir. 678 Emmerling u. a. 2015, S. 5. 679 Große, alteingesessene Verlagsbuchhandlung im Zentrum von Stuttgart. 680 Interview mit Markus Bella vom 1.3.2016.
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Manche Kassetten oder Fanzines sind auch über Minilabels zu bekommen, die nebenbei einen kleinen Vertrieb unterhalten. Oder über Minivertriebe, die nebenbei ein kleines Label unterhalten. »Man hat verschickt. Man hat bestellt und überwiesen. Ich weiß nicht mehr, inwieweit man auch bei Rimpo681 Kassetten reinstellen konnte, so als Kommissionsware. Dann hat man natürlich auch in der Mensa immer einen Stand gemacht mit Kassetten. Und dann gab es einen aus München, der Molto Menz. Der ist wirklich in den Unistädten so ringsrum gefahren und hat da immer einen Stand gemacht. Und man wusste, der kommt in einem bestimmten Zeitraum wieder. Und dann hat man dem was angeboten und dann: ›Ja, gib mir mal fünf Stück mit‹. Und so weiter.«682
Molto Menz betreibt in München mit Du bist so gut zu mir einen Cassetten- & Zeitvertreib. Dahinter verbirgt sich neben einem Vertrieb für Bücher, Kassetten und Fanzines auch ein kleines Label, mit dem Molto Menz Kassetten produziert. Das Vertriebs- und Labelprogramm lässt er auf A2-Plakate drucken. Der dazu gehörige klingende Katalog mit Tonproben aus dem Programm erscheint – natürlich auf Kassette. Auch zu diesem Geschäftsmodell lieferte die Sounds die Initialzündung, erzählt der Münchner in einem Interview: »Im Sounds stand mal ein Artikel und ein paar Adressen von Kassettenlabels. Das klang spannend, auch musikalisch. Der Vorläufer der heutigen Indieszene. Ich habe die alle kontaktiert, noch Beatnik-Lesungen und Hippie und linke, autonome Tapes mit ins Programm genommen, ein Plakat mit rückseitigem Katalog gedruckt und verteilt, versandt, Anzeigen aufgegeben. Gab viel Rückmeldung aus den unterschiedlichsten Ecken. Spannende Mischung bei Programm wie bei Kontakten.«683
Diese Kontakte klappert Molto Menz bei einer Fahrradtour quer durch ganz Deutschland später persönlich ab. Einfach, um diesen vielen Menschen, mit denen er bis dato nur schriftlich und per Post Kontakt hat, wenigstens einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen. Begleitet wird er von seinem Freund Uli Bassenge, der Redakteur beim Bayerischen Zündfunk ist. Ihre Erfahrungen veröffentlichen die beiden im Jahr 1983 unter der Überschrift »Cassette sich wer kann« in verschiedenen Zeitschriften und Fanzines. Im Vertriebsprogramm von Molto Menz steht im selben Jahr zu lesen:
681 Großer Plattenladen in der Tübinger Altstadt, seit Mitte der achtziger Jahre mit dem eigenen Label Music Maniac Records. 682 Interview mit Markus Bella vom 1.3.2016. 683 Sahler 2005, S. 803.
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»Ohne Rücksicht auf Verluste. Ohne große Ansprüche. Eben ein Experimentierfeld. Jeder kann mitmachen, eine Einladung an alle. Aber es wird nicht alles genommen.«684
Wer nirgendwo mit seinen Kassetten Fuß fassen kann, oder wer auch diesen letzten Produktionsschritt nicht gerne aus der Hand gibt, muss selbst mit seiner Ware hausieren gehen. Bei Live-Konzerten, Stadtfesten oder anderen Veranstaltungen gehören Kassetten- und Fanzineverkäufer darum dazu wie Bier und Coca Cola. Markus Bella erinnert sich: »Wenn ich zu Konzerten gegangen bin, habe ich halt fünf von meinen Le MarquisKassetten eingeschoben und dann getauscht. Oder, was mich dann auch immer so ein bisschen an diese Wachtturm-Leute erinnert hat: Wenn dann einer mit den Fanzines nach dem Konzert dagestanden ist und die den Leuten hingehalten hat. Dann hat man mal geguckt oder mal gekauft und getauscht. Also, das waren schon auch face-to-faceVertriebswege.«685
Auch bei einer Art »Gig-Sharing« bietet sich oft die Möglichkeit, eigene Kassetten unters Volk zu bringen. Jede größere Band, die etwas auf sich hält, macht nach dem Konzert die Bühne frei für NachwuchstäterInnen, damit diese noch ein paar Songs zum Besten geben können. Manchmal werden solche Auftritte mitgeschnitten und kurz darauf als Live-Tapes verkauft. Manchmal haben die Nachwuchsbands auch schon fertige Kassetten im Gepäck, die sie nach ihren »epiloghaften« Auftritten feilbieten. Wer also erfinderisch ist, neue Strukturen ausprobiert und nicht aufs Geld schaut, kann durchaus erfolgreich sein, erklärt der Bamberger Kassettensammler Frank Apunkt Schneider: »Es gibt zum Beispiel auch noch ein Modell, dass du quasi einen Vertriebs-Deal hast mit einem ausländischen Label. Kommt noch schlimmer-Tapes, ein Essener Label, hat zum Beispiel alle Tapes von Cassette Echo aus Italien hier in Deutschland vertrieben. Das heißt: Die hatten ein Zweitgenerationsmaster und haben die dann selber angefertigt. Das ist auch ein interessantes Modell, das sehr weit verbreitet war, dass man quasi sagt: Hier ist unser neues Tape. Nimm es in deinen Katalog auf. Und wenn es jemand bestellt, dann überspielst du es ihm halt. Wir wollen dafür nichts. Und du schickst uns dafür deines. Wir tauschen also praktisch die Masterbänder.«686
Vieles ist möglich, längst nicht alles betriebswirtschaftlich kalkulierbar. Denn auch Mundpropaganda, sozusagen eine Vorform des viralen Marketings, ist als Werbeinstrument nicht zu unterschätzen. Mitunter zeitigt sie im Schneeballsys684 http://tapeattack.blogspot.de/2015/10/molto-menz-du-bist-so-gut-zu-mir-munchen. html, abgerufen am 24.1.2017. 685 Interview mit Markus Bella vom 1.3.2016. 686 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016.
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tem kuriose Ergebnisse: zum Beispiel, dass auch gezielte Nicht-Werbung oder gezielter Nicht-Vertrieb den Verkauf einer Kassette ankurbeln können. So geschehen mit dem Sampler Die Brüderkassette von Intoleranz aus Pforzheim. Die Bedingungen des Projekts im Sommer 1982 haben sich drei Brüderpaare, die darauf als Musiker in Erscheinung treten, selbst gestellt: kein professioneller Vertrieb, absolut keine Werbung, alle Kopien in Echtzeit und von Hand. Kassettenmacher Klaus Schmidbauer, einer der sechs Brüder, erinnert sich in einem Interview: »Nach einigen Wochen kamen von überall Anfragen, wo man denn die Kassette bekommen könne. Das Pur-Hand-Kopieren wurde reichlich mühsam, aber bis zum bitteren Ende durchgehalten. Nach ein paar Monaten fragten die Briefe und Anrufe sogar schon nach der ›legendären Brüderkassette‹. Absolut null Werbung und doch fast 300 Exemplare verkauft.«687
Die Anarchie der Kassetten-Ästhetik Dass Kassetten überall in der Szene präsent sind, dass sie schnell und billig hergestellt werden und mit eigenem Engagement auch Abnehmer finden können, ist nicht nur für viele MusikerInnen Anreiz, selbst etwas aufzunehmen. Auch solche, die kein Instrument spielen, noch nie Musik oder Tonaufnahmen gemacht haben, verewigen sich in der ersten Hälfte der achtziger Jahre jetzt gerne niederschwellig auf Band. »Von irgendwo her müssen die gut 1.000 Kassettenveröffentlichungen von 1980 bis 1983 allein in Deutschland gekommen sein, all der Ausstoß an kometenhafter Eintagsgenialität unter Projektnamen wie Cunnilingus und die Intimbehörde oder Gefönte Rübenschweine. Und sei es nur, dass vormals private Rekorderexperimente zu zwar nicht minder privat bleibenden, aber dennoch prinzipiell veröffentlichungsfähigen Kassetten wurden.«688
Falls die Menge der eigenen musikalischen Ideen nicht reicht, um zwei Seiten einer Standard-Kassette zu füllen, tut es zur Überbrückung der leeren Bandstellen notfalls auch eine Live-Aufnahme der örtlichen Blaskapelle oder das Rascheln mit Chips-Tüten.689 Dilettantismus ist seit Punk nicht mehr verwerflich, sondern gilt als eigene Qualität. Mit Tausenden von DIY-Kassetten entsteht also nicht nur eine gewisse Anarchie in Produktions- und Vertriebsprozessen. Mit Kassetten entsteht auch eine Anarchie der Soundästhetik, bei der neue Instrumente wie ein kleiner, billi-
687 Sahler 2005, S. 845. 688 Schneider 2008, S. 48. 689 Ebd.
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ger690 Synthesizer aus Japan – das Casio-Keyboard VL 1, eine Mischung aus Taschenrechner, Drum-Computer und Synthesizer691 – eine wichtige Rolle spielen. Daran, dass überdies viele Aufnahmen rauschen, schlecht ausgesteuert oder mit billigen Mikrofonen aufgenommen sind, irgendwie blechern oder dumpf klingen, haben sich die meisten Kassettenhörer und -käufer auch längst gewöhnt. »Wenn man mit zwei Rekordern was zusammenschneidet, dann hat man ja nie so einen richtigen Schnitt, sondern mehr so Übergänge. Oder Stücke sind noch gar nicht zu Ende, dann werden sie abgemurkst, dann kommt das andere schon. Oder es sind einfach mal fünfzehn Sekunden Pause dazwischen. Oder irgendwas, wo man dann hört, wie die Aufnahmeautomatik hochzieht, wie das Rauschen dann immer lauter wird. Und dann kommt das nächste Stück. Und dann geht es wieder runter. Teilweise ist die Kassette aus, das Stück ist noch nicht zu Ende. Dann wird umgedreht, dann geht es halt da weiter. Oder fängt nochmal an. Oder dass die beiden Kanäle völlig unterschiedlich ausgesteuert worden sind. Also, solche Dinge sind einfach typisch für diese Produktionsweise. Verzerrungen oder falsche Aussteuerungen passieren dagegen eher weniger, weil man überwiegend mit Automatik eben aufnimmt. Die Verzerrung wurde teilweise eher bewusst eingesetzt.«692
Einzelne gut aufgenommene und sauber geschnittene Kassetten, die mitunter sogar in richtigen Studios aufgenommen werden, wie die der Pforzheimer Initiative Intoleranz stechen aus der Masse der DIY-Kassetten heraus und werden immer wieder auch breit in den Medien besprochen. Viele andere Bands und Einzeltäter betreiben Homerecording in den eigenen vier Wänden, stellen einen Kassettenrekorder in die Mitte des Raumes, drücken Record und Play und legen einfach los. Ungeprobt, ungefiltert, ungehemmt. »Wobei hier natürlich ganz stark die Räume entscheidend waren. In einem etwas halligen Raum kann das unheimlich gute Effekte haben. In einem sehr trockenen Raum ist das eher schwierig. Da hat man praktisch keinen Raumklang. Aber das wurde natürlich auch gemacht. Es gab ganz verschiedene Möglichkeiten.«693
Tausend Casio-Dudler und das Ende der Kassettenszene Die Anfangsjahre der Kassettenzeit sind bunt und stürmisch. Musikjournalisten wie Alfred Hilsberg in seiner Sounds-Kolumne Neuestes Deutschland feiern die Welle an Eigenproduktionen 1980 euphorisch als neue Musik-Bewegung und heizen damit quer durch ganz Deutschland Produktionseifer und Experimentier690 Die Preisempfehlung für Deutschland lag bei 149 Mark. 691 Die NDW-Gruppe Trio macht den Casio mit ihrem Superhit Dadada im Jahr 1982 sogar weltbekannt, er hält sich über 27 Wochen in den deutschen Single-Charts. 692 Interview mit Markus Bella vom 1.3.2016. 693 Interview mit Markus Bella vom 1.3.2016.
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freude an.694 Auch Rundfunksender springen auf den Kassetten-Zug auf, rufen eigene Kassettensendungen ins Leben und spielen sogar in regulären Musiksendungen immer wieder einzelne Songs von besonders gelungenen oder schrägen Tape-Produktionen. »Beim Westdeutschen Rundfunk gab es dann auch eine Sendung für Tapes. Da schickten wir einen Song hin. Sie zahlten 25 Mark für die Senderechte. Man hat allen Bescheid gesagt, wann das Lied im Radio lief, und von da an waren wir […] die Band, von der mal was im Radio gespielt worden war.«695
Der Bayerische Zündfunk lobt unter der redaktionellen Betreuung von Sandra Maischberger regelmäßig Kassettenwettbewerbe aus für Bands, die noch keine eigene Platte veröffentlicht haben. Kassettenmacher werden zu Studiogästen und Interviewpartnern, als zwischen 1981 und 1982 die Neuveröffentlichungen an selbst produzierten Tapes regelrecht explodieren. Es ist schwierig, genaue Zahlen zu nennen, weil die Szene so bunt, dynamisch und inhomogen ist und die Stückzahlen manchmal bei mehreren hundert Kopien – bei guten Produktionen wie der Pforzheimer Brüderkassette –, manchmal auch nur bei zwei bis zehn Exemplaren liegen. Kassettensammler Frank Apunkt Schneider aus Bamberg hat sich an einer Kassettographie der Neuen Deutschen Welle versucht und über tausend Tapes zwischen 1980 und 1983 zusammengetragen, was jedoch auch keinen reellen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Vielleicht liegt es an der ungeheuren Menge von Kassetten, die Redaktionen und Labels und auch den Schreibtisch von Alfred Hilsberg überschwemmen. Vielleicht liegt es auch daran, dass sich die Rezensenten – ähnlich wie beim Punk – am aufregend neuen Sound der Anfangszeit satt gehört haben oder daran, dass sich die durchschnittliche Qualität der vielen Produktionen im Lauf der Zeit nicht grundlegend verbessert, sondern auf einem immer gleichen amateurhaften Niveau stagniert. Jedenfalls macht sich bis zur Mitte der achtziger Jahre in der Musikwelt eine deutliche Kassettenverdrossenheit breit. Sounds-Redakteur Diedrich Diederichsen ist einer der Ersten, der genug hat. Er schreibt schon im Januar 1982 entnervt: »So und nun ist Schluß mit Deutschlands gesammelten Autisten. Ich weiß, dass der Casio ein tolles Spielzeug ist, auch ich habe einen, aber ich belästige nicht fremde Redakteure mit meinen Aufnahmen. Zehnmal bis dreihundertmal versonnen die selbe Figur zu klimpern, zum langsamen 4-Beat und dann auf Reset drücken und der Redakteur muß weiterhören, ob nicht vielleicht doch noch was Interessantes passiert – das sind böse Streiche!«696 694 Schneider 2008, S. 141. 695 Drees/Vorbau 2011, S. 10. 696 Zitiert nach: Sahler 2005, S. 908.
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1983 beginnen viele Rundfunksender deutsche Kassetten wieder aus dem Programm zu nehmen. Es wird wieder englische Musik gespielt. Viele Kassettensendungen sind ebenfalls Geschichte. Klaus Schmidbauer von Intoleranz aus Pforzheim erzählt in einem unveröffentlichten Radio-Interview: »Der Stefan Siller697 von SDR3 hat zu mir am Telefon gesagt, er darf überhaupt keine Kassetten mehr spielen.«698 Das Problem sei, sagen frustrierte Kassettenmacher im selben Interview, dass es kein klares Konzept innerhalb der Szene gebe und auch kein Konzept für eine Weiterentwicklung der Produktionen. Alles entstehe zufällig, wellenartig, ungesteuert, sagt Armin Hofmann vom Schwarzwald-Kassettenlabel ExtremMist: »Und je mehr Leute das machen, umso mehr Scheiß kommt halt raus. Tausend CasioDudler wären an sich ganz in Ordnung, wenn eben nicht jeder von denen glauben würde, er wäre das Nonplusultra. Wenn jeder einfach sagen würde, ich habe da eine hübsche kleine Kassette und verschenkt sie an seine Freunde oder verschickt sie im kleinen Rahmen. Aber halt nicht alle an die Spex schicken und meinen, ich bin hier der große Innovator.«699
1983 wird die Scritti mangels Absatzzahlen eingestellt. Das Tübinger Lautt wird ebenfalls nicht sehr alt. In der Tübinger Szene bahnt sich ein Generationenwechsel an. Und wie die Sounds schließt schließlich auch die Spex 1983 ihre Kassettenkolumne: »Cassetten waren tot, gescheitert. Experiment abgebrochen. Die ›Hör-mal-ich-hab'-nen-neuen-Ton‹-Fraktion hatte das handliche Medium ad absurdum geführt. Die Tape-Ideologen wurden fast geschlossen Maler, CDFanatiker oder freundeten sich mit der Platte an.«700 Das Hamburger Musikmagazin Nuvox ist lange Zeit die einzige Musikzeitschrift, die neben den Fanzines hartnäckig noch Kassetten bespricht. 1986 wird auch das Nuvox eingestellt. Selbst unter den KassettenhörerInnen beginnt sich die Euphorie für das kleine Kreativmedium in den darauffolgenden Jahren merklich abzuschwächen. Es wird immer schwieriger, Kassetten an der Mann oder die Frau zu bringen. Konzerte, zu denen in der Anfangszeit rund um Tübingen mehrere hundert Besucher strömten, finden kaum noch Anklang. Die Familie Hesselbach, einst wichtiges Zugpferd der neuen Bewegung in Süddeutschland, nimmt 1985 ihre letzte Platte mit dem symptomatischen Titel Der Untergang des Hauses Hesselbach auf.
697 Redakteur und Moderator beim SDR, Konzertveranstalter im Stuttgarter Club Mausefalle, der 1980 BAP und die Toten Hosen in die Landeshauptstadt bringt. 698 »Kassettentätern auf der Spur«, http://tapeattack.blogspot.de/search?q=kassettentätern+auf+der+Spur, abgerufen am 25.1.2017. 699 Ebd. 700 Sahler 2005, S. 911.
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Was der Kassette noch wenige Jahre vorher zu einem Boom gegenüber der Schallplatte verholfen hat, besiegelt nun ihren Niedergang: Sie ist billig, leicht zu bespielen und leicht zu verschicken. Sie überwindet weite Distanzen und bietet reichlich Platz für Selbstproduziertes. Sie regt zum Nachahmen an und ist so massenhaft vorhanden, dass sie nicht zu steuern ist. Genau diese fehlende zentrale Steuerung hat statt zu einer Diversifizierung der Musik nun zu einem allgegenwärtigen musikalischen »Einheitsbrei« geführt. Eine Entwicklung, die sich im übrigen auch andernorts und in anderen musikalischen Kontexten beobachten lässt: im weit entfernten Indonesien, auf der Insel Java zum Beispiel. Mit dem Aufkommen der Kassette beginnen in den späten sechziger Jahren einheimische Musikensembles, die traditionelle und extrem vielfältige Gamelanmusik aus Trommeln, Gongs, Metallophonen und Xylophonen aufzunehmen und bis in die entlegensten Winkel der Insel zu verschicken. »One striking effect of the new medium was that it seemed to facilitate a certain standardization within the world of gamelan performance pratice.«701 Doch was geschieht? Kleine Ensembles hören nun zum ersten Mal prominente Gamelan-Musiker von Kassette und beginnen, die Pattern und Strukturen ihrer eigenen Stücke diesen anzupassen. Wenn neue Ensembles zusammengestellt werden, orientiert man sich nicht mehr an der eigenen lokalen Tradition, sondern imitiert den Sound der »Großen«. Statt zu einer Diversifizierung, führt die Kassette dadurch indirekt zu einer Vereinheitlichung und Entindividualisierung der Musik. Eine ganz ähnliche Entwicklung, wie sie in der deutschen Kassettenszene der achziger Jahre stattfindet. Und man bekommt die immer gleichen oder zumindest ähnlichen Sounds der eigenen Szene dadurch allmählich über. »Damit brach die einzige Zielgruppe weg, die die Kassette überhaupt (noch) hatte: die Kassettenszene. Wo es für einen kurzen Moment einmal ein gemeinsames Thema gegeben hatte, setzte sich schnell wieder die Selbstbezüglichkeit und Eigenbrötelei der tausend IchAGs durch, und das überlebte das Medium nicht. Es sank von einer ästhetischpublizistischen Geheimwaffe zur umfassenden Perspektivlosigkeit herab.«702
Kommunikative Strukturen der Kassettenszene Versucht man die Gemeinschaft der KassettentäterInnen als Kommunikationsmodell darzustellen, so ergibt sich auch hier das Bild eines Netzwerks, das durch die Kassette, beziehungsweise das Hobby Kassetten- und Musikproduktion als Thema und Zweck klar zusammengehalten wird, in sich – anders als die bereits analysierte Punkszene – eher geschlossen ist und relativ scharfe Ränder hat. 701 Katz 2010, S. 13. 702 Schneider 2008, S. 140.
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Prinzipiell sind alle Akteure »TäterInnen«, aktive Sender und gleichzeitig Empfänger von Informationen und kommunikativen Handlungen. Anders als in der Punkszene, in der es etliche Akteure gibt, die nur konsumieren, ohne selbst zu produzieren, die beispielsweise Platten von The Clash, den Sex Pistols oder DAF im Regal stehen haben, ohne jedoch selbst jemals zum Instrument zu greifen oder gar über eine Veröffentlichung nachzudenken, gibt es für Nur-Rezipienten keine echte Einbindung in die Kassettenszene. »Ich denke, die Rollen waren schon festgelegt insofern, dass niemand nur Hörer war. Im Grunde gibt es niemanden, der sich dafür interessiert, ohne sowas selbst auch zu machen.«703 Während etliche Kommunikationsprozesse in der Punkszene also durchaus monologisch und über standardisierte Medien wie die Schallplatte ablaufen, erfolgt die Kommunikation zwischen den einzelnen Akteuren der Kassettenszene nahezu ausnahmslos dialogisch, entweder in direkter Kommunikation wie innerhalb der einzelnen regionalen Gruppen oder medial vermittelt per Brief, beziehungsweise über Kassetten und Fanzines. Im Vergleich zu anderen Musikszenen ist die Musikindustrie mit ihren gewinnorientierten Vertriebswegen und ihrer großen PR-Maschinerie folglich kein Akteur des Kassetten-Netzwerks. Als damals noch staatliche Institution spielt lediglich die Bundespost eine Rolle, die dem Netzwerk wichtige Infrastrukturen für die medial vermittelte Kommunikation mit Kassetten bereitstellt. Denn diese ersetzt – vor allem, wenn es darum geht, weite Entfernungen zu überbrücken – in großen Teilen die direkte Kommunikation. Kassetten werden dabei nicht als Demobänder, als Verweise auf andere Kommunikate, genutzt, Kassetten sind vielmehr selbst die Kommunikate des Netzwerks. »Man bastelte Cover, erfand Labelnamen und wollte die Kassette gar nicht als Demokassette sehen. Sondern erhob sie in den Status einer richtigen Veröffentlichung.«704 Die Akteure der Kassettenszene sind oft Einzeltäter und damit oft auch – anders als im Punk – nicht nur indirekt über kleine, in sich kommunizierende Gruppen, sondern direkt mit dem »großen« Netzwerk kommunikativ vernetzt. Sie sind »ganz normale Leute«, keine »Outlaws« oder »Freaks« mit StarAmbitionen wie viele Punkbands, sondern Menschen, die Musik und Kassetten in ihrer Freizeit produzieren, erklärt Frank Apunkt Schneider: »Die Leute sind nicht wirklich Rebellen. Wie heißt es so schön: Außer den KassettenAktivitäten verläuft alles in normalen Bahnen. Und ich glaube eben, dass es bei vielen Leuten einfach das Medium für gewisse biographische Freiräume war. Sprich: Neben der Schulzeit, während des Studiums, während des Zivildienstes. Es gibt relativ wenige Leute, die das aus einer Situation absoluter, selbst gewählter Armut heraus gemacht haben. Ich 703 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016. 704 Sahler 2005, S. 659.
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meine, das Essen hat halt die Mutter gekocht. Das war dann um fünf auf dem Tisch gestanden und man musste sich darum keine Gedanken machen. Und das Bier musste man halt von etwas anderem bezahlen. Das ist natürlich etwas, das nur bürgerlichen Kindern zur Verfügung steht in der Option. Das kann sich ein richtiger Ghetto-HipHopper so niemals leisten. So gesehen ist das auch was Klassenspezifisches.«705
Neben einzelnen Personen treten auch wenige, meist in direkter Kommunikation in sich vernetzte Gruppen als Akteure im Netzwerk in Erscheinung: FanzineRedaktionen zum Beispiel, Kassettenlabels, Musikinitiativen oder die Redaktionen kommerzieller Musikzeitschriften. Sie stellen immer auch kommunikative Knoten des Netzwerks dar. Für die überregionale kommunikative Vernetzung in der deutschsprachigen Szene ist die Zeitschrift Sounds der wahrscheinlich wichtigste Knoten. Besonders auffällig ist allerdings, dass neben den Kleingruppen wiederum auch viele Ein-Personen-Akteure aus diesen Kleingruppen sowohl innerhalb der Kleingruppe als auch innerhalb der ganzen Szene als wichtige Knotenpunkte fungieren können – in Süddeutschland etwa Molto Menz mit seinem Münchner Cassetten- & Zeitvertreib. Kommunikation im Kassettennetzwerk verläuft also teils direkt, meistens medial vermittelt, anarchisch, ungesteuert und mit einem hohen Tempo. »Die Musik war schnell, frisch und aktuell. Kein umständlicher Umweg über massenproduzierte Tonträger, sondern direkt und 1:1. Abends mit der Band irgendwo live gespielt und mitgeschnitten, am nächsten Tag schon an die Kunden verschickt: die Direktheit und das Lebendige daran waren sicher wichtig.«706
Es gibt zwar von den Knoten ausgehende Hierarchien. Doch diese sind sehr flach, da prinzipiell jeder Akteur selbst auch zum Netzwerkknoten werden kann. Macht und Einfluss im Netzwerk werden nicht durch Geld oder öffentliche Autorität hergestellt, sondern über die Menge an kommunikativen Prozessen, die über einen Akteur erfolgen. Verglichen mit anderen Kommunikationsnetzwerken, in denen mit Kassetten kommuniziert wird, ist genau dies eine besonders auffällige Eigenschaft des Kassettennetzwerks. Es besitzt kaum steuernde, noch kontrollierende Einheiten, was maßgeblich darauf zurückzuführen ist, dass standardisierte Kommunikationsmittel wie Schallplatten, industriell gefertigte MCs oder Chartradiosendungen, auf deren Gestaltung jeweils nur wenige Teile eines Netzwerks Einfluss haben, im Medienensemble der Kassettenszene kaum oder gar nicht auftauchen. Die wichtigsten Kommunikationskanäle Kassette und Fanzine stehen hingegen prinzipiell jedem Akteur zur Verfügung und sind auch von jedem Akteur (be-)nutzbar. 705 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016. 706 Sahler 2005.
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Interessant ist die Beobachtung, dass genau diese Eigenschaften dazu führen, dass die Zahl der kommunikativen Prozesse extrem ansteigt und die Gemeinschaft der KassettentäterInnen in ihrer Blütezeit dadurch im Sinne einer Kassettenkultur extrem produktiv werden lässt: »The combination of a social network and small cultural organizations appears to be especially conducive for the production of culture that is either aesthetically original, ideologically provocative, or both. This is partly because these networks attract the young who are likely to have fresh perspectives on culture and partly because they provide continuous feedback among creators themselves and between creators and their audiences.«707
Das Beispiel Kassettenszene zeigt also, dass Kassetten als normfreie und nicht standardisierte Kreativmedien in kommunikativen Prozessen eine hohe selbständige Partizipation der einzelnen Akteure ermöglichen. Allerdings erlauben sie kaum eine Regulierung der kommunikativen Prozesse, die zur Aufrechterhaltung von Kommunikation unter Umständen nötig sein kann. 4.2.3 »Now sing the praises of the Mixtape«708: Unterhändler von Erinnerungen Parallel zum Selbermachen von Kassettenmusik beginnt sich unter Jugendlichen Ende der siebziger Jahre noch eine andere DIY-Praxis im Umgang mit der Kassette herauszubilden: das Aufnehmen und individuelle Zusammenstellen einzelner Songs aus dem Radio oder von Schallplatte, das sogenannte Mixtapen. Es ist Gegenstand der meisten – eigentlich fast ausnahmslos aller – populären, journalistischen, feuilletonistischen oder belletristischen Betrachtungen über die Kassette, weswegen ich in diesem Kapitel verstärkt auch solche Quellen zur Beschreibung des Phänomens heranziehen werde. Zurückzuführen sind diese fast schon inflationären Nostalgierückblenden darauf, dass sich das Mixtapen in den achtziger und neunziger Jahren als Alltagspraxis im Bewusstsein der Menschen so stark verankert, dass die dabei entstehenden Kassetten heute als charakteristisches Merkmal dieser Zeit und gleichsam als Stellvertreter für eine ganze Generation betrachtet werden. »Nearly every music-loving teenager in the country participated. Think of it this way: If every kid who spent a Saturday afternoon making a mix tape over the past 25 years had
707 Crane 1992, S. 113. 708 Moore 2004.
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instead spent that time painting, sculpting or writing poetry, the ’80s and ’90s would be known as a period of unbridled renaissance in American outsider art.«709
Die Angehörigen dieser in Online-Communities und im journalistischen Feuilleton oft etwas generalisierend als »Generation Mixtape« bezeichneten Jugend der achtziger und neunziger Jahre beschreibt ein Artikel in der Zeit wie folgt: »Sie sind aufgewachsen mit Helmut Kohl als Dauerkanzler; auf dem Weg in den Urlaub stritten sich ihre Eltern vorne mit dem Atlas auf dem Schoß; sie warteten tagelang, bis ihre Fotos entwickelt waren, bekamen Sandkastenverbot nach Tschernobyl, nahmen Lieder aus dem Radio auf; sie kannten die Nummern ihrer Freunde auswendig, guckten Jurassic Park und Forrest Gump im Kino – und Das Schweigen der Lämmer heimlich auf Video.«710
Seine Vorläufer hat das Mixtapen auf Kassette sicherlich in der HeimtonbandÄra der fünfziger und sechziger Jahre, als es unter dem Stichwort »Hitjagd« in der Schallplatten- und Musikindustrie für Empörung sorgt. Kommerzielle Musik wird dabei – natürlich ohne Lizenzen zu vergüten, weil ja zu meist privaten Zwecken – sozusagen »zweitverwertet«. Sie wird aus ihrem ursprünglichen Kontext als Bestandteil eines (Konzept-)Albums, einer Radiosendung oder eines anderen Mixtapes herausgelöst und in einen neuen Zusammenhang gebracht. Rob Sheffield, Musikjournalist und Autor des Bestsellers Love is a mix tape, beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen: »We music fans love our classic albums. […] But we love to pluck songs off those albums and mix them up with other songs, plunging them back into the rest of the manic slipstream of rock and roll. […] When you stick a song on a tape, you set it free.«711
Meist halten ein Motto oder ein Thema diese neu aufgenommenen Kassetten inhaltlich zusammen, wobei die Palette möglicher Themen und Kassettentitel von allgemein wie Summerdreams über abstrakt wie Roter Balken bis sehr konkret Bretagne 1988712 reichen kann. »There are millions of songs in the world, and millions of ways to connect them into mixes. Making the connections is part of the fun of being a fan.«713 Nicht nur bezogen auf die unterschiedlichen Abstraktionsgrade bei der Titelwahl, auch hinsichtlich musikalischer und optischer Gestaltungsmöglichkeiten, Kommunikationsabsichten und -adressaten gibt es unüberschaubar viele 709 http://www.salon.com/2005/05/28/mixtape, abgerufen am 2.1.2017. 710 Anant Agarwala und Johanna Schoener: »Die Nächsten, bitte«, in: DIE ZEIT Nr. 50/ 2016, S. 87. 711 Sheffield 2008, S. 24. 712 Alle genannten Titel sind Teil meiner eigenen Sammlung von Mixtapes aus verschiedenen Jahren zwischen 1983 und 2000. 713 Sheffield 2008, S. 23.
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verschiedene Arten von Mixtapes. Genauso individuell wie die einzelnen Mixtaper beim Bespielen einer Kassette vorgehen, genauso individuell sind die von ihnen produzierten Ergebnisse. Nicht nur der persönliche Geschmack ist entscheidend, nicht nur die momentane Stimmung, sondern auch äußere Faktoren wie zum Beispiel die Verfügbarkeit spezieller Musik, die Erwartungshaltung einer möglichen Community, die Verfügbarkeit von technischem Equipment, die Beziehung zum Adressaten und vieles mehr. Ein Mixtape ist immer eine höchst subjektive musikalische Auswahl aus einer anderen musikalischen Auswahl, die zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort realisierbar und zielführend ist. Der Phantasie sind in Sachen Mixtape dabei keine Grenzen gesetzt. Ich werde im Folgenden dennoch versuchen, aus der schier unendlichen Varianz verschiedener Mixtapes einige besonders typische Formen herauszuarbeiten. Anhand derer lässt sich später gut modellartig erklären, wie Kommunikation mit Mixkassetten funktionieren kann, welche Akteure beteiligt sind, welche Hörästhetik dabei entsteht und welche Absichten damit verfolgt werden. »The rhythm of the mix tape is the rhythm of romance, the analog hum of a physical connection between two sloppy, human bodies. The cassette is full of tape hiss and room tone; it's full of wasted space, unnecessary noise. Compared to the go-go-go-rhythm of an MP3, mix tapes are hopelessly inefficient.«714
Das Hitjäger-Tape: Ausbau der eigenen Musiksammlung Beginnen wir mit einem Typus von Mixtapes, auf den ich schon im Zusammenhang mit den GEMA-Streitigkeiten bereits hingewiesen habe: Hitjäger-Tapes, also Kassetten, deren musikalisches Material vor allem gezielt aus dem Radio aufgenommen wird. »You kept a tape handy in your boombox at all times so you could capture the hot new hits of the week.«715 Diese Art Kassetten sind in der Regel vom Mixtaper für den eigenen Gebrauch zusammengestellt mit der klaren Absicht, einzelne Songs zu speichern und jederzeit wieder abspielen zu können, ohne Geld dafür ausgeben zu müssen. Ziel ist also im weitesten Sinn ein Ausbau der eigenen Musik- und Plattensammlung – auch mit schwer erhältlicher Nischenmusik – und ein damit einhergehender Statusgewinn. »Die Möglichkeiten, einen positiven Eindruck zu machen, wachsen mit zunehmender Sammlung. Wie ›Jäger‹ […] sind manche Musiksammler unterwegs nach ›Delikatessen‹ auf dem Musikmarkt. Andererseits wird durchaus auch gängige Ware in den eigenen
714 Sheffield 2008, S. 218. 715 Sheffield 2008, S. 22.
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Regalen angehäuft. In jedem Fall geht es aber auch darum, mit dem Besitz an Musik, den Kenntnissen und dem Umfang der Sammlung zu beeindrucken.«716
Die Reihenfolge der einzelnen Songs auf dem Hitjäger-Tape entsteht eher zufällig, je nachdem, wann ein Wunschtitel im Radio gespielt wird, und je nachdem, ob ein anderer Titel früher oder später, in der gleichen oder einer anderen Sendung auftaucht. Ein solches Mixtape verweist dabei meist akustisch noch auf seine Herkunft als Bestandteil einer Radiosendung. Häufig sind Radioelemente als Artefakte in oder zwischen den einzelnen Songs zu hören, die aber ihren ursprünglichen Sinnzusammenhang verlassen haben und im Gesamtkunstwerk Mixtape aufgehen: zum Beispiel die Stimmen der Moderatoren über Intro oder Outro eines Songs, Jingles, Wetter- oder Verkehrshinweise. »Gerade im Unperfekten lag der individuelle Charme unserer Mixtapes. Die genaue Reihenfolge der Songs auf einer bestimmten Kassette konnten wir schon nach ein paar Wochen aus dem Kopf hersagen – und Wettermeldungen und Sprüche ebenfalls auswendig mitsprechen. Wir denken selbst heute noch gelegentlich daran, wenn wir einen Song aus den Achtzigern im Radio hören.«717
Material für diese Art von Mixtapes halten vor allem Sendungen bereit, in denen Musikwünsche von Hörern erfüllt werden, Hitparaden- oder spezielle Musiksendungen. Besonders Radio Luxemburg, das seit den Siebzigern Kultstatus unter den Mixtapern besitzt, strahlt regelmäßig neuen Pop aus. Aber auch das Club Wunschkonzert auf NDR2, die Plattenpost und Dr. Music auf Südfunk 3 oder die HR3 Hitparade International sind beliebte Sendungen, in denen man für eine Mixkassette fündig werden kann. Besonders »coole«, weil amerikanische, und ausgefallene Songs liefern auch US-Musiksender wie der in Stuttgart ansässige Militärsender AFN, der für die in Deutschland stationierten GIs »Musik aus der Heimat« sendet. Als Kabel und Satellit eingeführt werden, erfreuen sich bei den Mixtapern auch Mitschnitte direkt aus dem Programm der BBC großer Beliebtheit, allen voran aus der legendären John Peel Show, wo DJ-Ikone und Radiomoderator John Peel, der »einflussreichste DJ der Welt«,718 Nachwuchs- und Kultbands aller Sparten von Reggae bis Heavy Metal präsentiert. Das Stimmungs-Tape: Mobiles Mood Management mit Mixtapes Ein zweiter Typus von Mixkassetten sind solche, die vom Mixtaper ebenfalls vorwiegend für den Eigengebrauch zusammengestellt werden, aber nur selten 716 Herlyn/Overdick 2005, S. 27. 717 Bonner/Weiss 2016, S. 12f. 718 Peel u. a. 2007.
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ausschließlich aus dem Radio aufgenommen sind und die gelegentlich auch mit anderen Menschen geteilt werden. Die verwendeten Songs sind eher eine Auswahl aus der eigenen Musiksammlung des Mixtapers, werden anhand eines Themas ausgewählt und auf der Kassette neu sortiert. Solcherart hergestellte Mixtapes unterscheiden sich deutlich hinsichtlich ihrer Absicht von den gerade dargestellten, denn sie werden nicht als Hitspeicher, als Erweiterung der eigenen Musiksammlung, begriffen, sondern zum »Mood-Management« eingesetzt, also als Stimmungsregulatoren und zur Untermalung verschiedener Stimmungslagen. Quantitative Studien haben ergeben, dass Menschen in ärgerlicher oder aggressiver Stimmung dazu tendieren, durch Musik eine ausgeglichenere Stimmung herzustellen, Menschen in eher ruhigen, eher langweiligen Momenten dagegen nach Stimulation suchen. Glückliche Stimmungen sollen meistens verstärkt werden. Traurige sollen häufig ins Gegenteil verkehrt werden. »Auf die offene Frage, welche Funktionen Musik in ihrem Alltag einnehmen würde, antworteten 16 Prozent, dass sie Musik oft hören, um sich in eine gute Stimmung zu versetzen. Sechs Prozent gaben an, ihre aktuelle Stimmung mit Musik zu unterstützen, und acht Prozent meinten sogar, ihre aktuelle Stimmung mit Musik zu verstärken.«719
Wie dabei vorgegangen wird, hängt vom einzelnen Individuum ab, denn jeder Mensch reguliert seine Stimmungszustände auf andere Weise. Fast allen Menschen gemein ist hingegen, dass sie Musik bewusst oder unbewusst einsetzen, um damit Einfluss auf ihre Stimmungen zu nehmen. Manche brauchen dazu eine musikalische Untermalung der jeweiligen Stimmung mit der gleichen emotionalen Farbe. Andere setzen durch die Musik ein Gegengewicht. Quantitative Befragungen zeigen aber auch, »dass Musik noch viele andere Funktionen zugeschrieben werden, die in einem gewissen Zusammenhang mit Stimmungsregulation stehen, wie zum Beispiel ›Weinen/Katharsis/Erleichtern, Beruhigen/Entspannen/Stressabbau‹ oder ›Trost und Heilung‹.«720 Entsprechend der Mood-Management-Theorie lässt sich darum diese Kategorie von Mixtapes auch als Stimmungs-Tapes beschreiben. Sie sind meistens bereits im Aufnahmeprozess auf bestimmte Situationen und emotionale Zustände hin konzipiert: auf eine Party zum Beispiel, eine Urlaubsreise, ein romantisches Treffen, eine Trennung oder zum Einschlafen. Gut möglich, dass ein Mixtaper schon beim Aufnehmen eines solchen Mixtapes seine Stimmung reguliert, sich für eine Party »in Schwung bringt« oder Liebeskummer verarbeitet. Im Bestseller Love is a mixtape wird beispielsweise ein »Breakup-Tape« beschrieben, auf dem der Autor nach einer Trennung passend zu seiner Gefühlslage 719 Schramm 2005, S. 14. 720 Schramm 2005, S. 14.
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einen spezifischen Soundtrack zusammenstellt und seine Stimmung mit Songtiteln verschiedener Bands beschreibt. »When we broke up, I was devasteted. I made myself this breakup tape as a sound track for my afternoon walks through the city. […] October first was the end of the world as I knew it. She called to say it was over. […] At least I had Martha and the Vandellas to guide me through the experience. They didn't have any good news, but they sure didn't lie. Love makes me do foolish things. I was lucky to learn early.«721
Besonders wichtig bei dieser Art Tapes ist die Tatsache, dass Kassetten und Kassettenabspielgeräte überallhin mitgenommen werden können. Mixtape, Walkman und Autoradio gehören in den achtziger Jahren zusammen wie Whiskey und Cola oder Tequila und Sunrise. Die Stimmungsregulation kann somit auch erfolgen, wenn der Stimmungs-Mixtaper mit Freunden im Auto sitzt, oder wenn er allein unterwegs ist und Kopfhörer trägt. Um in den Urlaub oder zu einer Party zu fahren, für lange Bahnfahrten oder beim Sport kommen Stimmungs-Mixtapes genauso zum Einsatz wie im Urlaub oder auf der Party selbst. Oft werden diese Kassetten im Anschluss an ihre eigentliche »Performance« von anderen Anwesenden, die das Tape für gut und erinnernswert befunden haben – beispielsweise Partygästen oder Urlaubsfreunden – kopiert. Es gibt auch Stimmungs-Tapes, die als Geschenke entstehen: für einen Freund mit Liebeskummer, eine Schwester, die ein Jahr im Ausland plant, einen Studienkollegen, von dem man sich verabschiedet. Dann werden StimmungsTapes natürlich im Original weitergegeben und haben die Absicht, die Stimmung beim Adressaten und beim Produzenten gleichermaßen zu regulieren. Es kommt darum nicht selten vor, dass der Mixtaper eine Kopie der verschenkten Kassette für sich selbst behält: »The fact that a gift tape has both a sender and a recipient to satisfy sets up a productive tension. Ideally, the songs define something like a musical ›common ground‹, that is, they create a musical experience that is appreciated by both and therefore truly shared.«722 Gemeinsamer Referenzrahmen zwischen Produzent und Adressat eines Geschenk-Tapes sind Musikgeschmack und Musikerfahrung – in jedem Fall eine Sozialisation mit Popmusik –, die es dem Empfänger des Mixtapes erlaubt, die durch die Kassette übermittelte Stimmung zu verstehen, nachzuempfinden und zu teilen. Über das Vorhandensein dieses gemeinsamen musikalischen Backgrounds und klarer AdressatInnen sind Stimmungs-Tapes als Geschenk-Tapes sozusagen Grenzgänger zur nächsten Kategorie von Mixtapes, die ganz besonders in den Bereich der »Kassetten-Shareware« fallen. 721 Sheffield 2008, S. 54. 722 Bijsterveld/Dijck 2009, S. 48.
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Das Love-Tape: Der musikalisch chiffrierte Liebesbrief »Solange die Liebe […] noch keimte, schenkten wir unserem Schwarm als Zeichen unserer Zuneigung ein selbst zusammengestelltes Mixtape – fast beiläufig, ohne darum besonders viel Aufhebens zu machen. Die dafür ausgewählten Lieder waren jedoch ebenso bedeutsam wie die Worte in einem Liebesbrief.«723 Die Lieder, die für diese dritte Kategorie von Mixtapes in Frage kommen, entstammen weitestgehend derselben Quelle wie das musikalische Material für Stimmungs-Tapes. Häufiger als in anderen Tape-Kategorien tritt der Mixtaper auf Love-Tapes darüber hinaus auch selbst akustisch in Erscheinung. Es ist absolut nichts Ungewöhnliches, dass Love-Taper eigene Songs aufnehmen und sie auf dem Mixtape kommerziellen Songs beimischen – vorausgesetzt natürlich, sie sind in der Lage, ein Instrument zu spielen oder zu singen. Gelegentlich sind Love-Taper mit ihrer eigenen Stimme auch als Kommentatoren der Songs zu hören oder mit einer direkten Botschaft. Denn allen Love-Tapes ist gemeinsam, dass sie unabdingbar an einen konkreten Adressaten oder eine Adressatin gerichtet sind. Sie sind Mittel zur »Flirtintensivierung« und damit chiffrierte Liebeserklärungen. Sie sind Liebesbotschaften für Menschen, die bereits zusammen sind. Und sie können – als Kehrseite der Liebe – Mittel sein, um eine Beziehung zu beenden. Die Songs, die aus ihrem ursprünglichen musikalischen Kontext – meist einer LP oder Vinyl-Single – herausgenommen sind, werden dabei mit neuen Bedeutungen aufgeladen und müssen von den Adressaten dechiffriert werden, ähnlich wie Gedichte, die vom Autor literarisch chiffriert sind und vom Leser ausgedeutet und interpretiert werden, um sie zu verstehen. Wichtiger als Hintergrundwissen über die Künstler, die Entstehungsgeschichte eines Songs oder musikalisches Knowhow sind dabei die Texte einzelner Songs. Sie sind die entscheidenden Träger von Informationen für die Adressaten und bestimmen gemeinsam mit der emotionalen Farbe der Musik in der Regel auch die Dramaturgie eines Love-Tapes. Ähnlich wie beim Geschenk-Tape kommt es beim Love-Tape also darauf an, dass bei Adressat oder Adressatin ein gleiches oder ähnliches musikalisches und sprachliches Verständnis vorliegt wie beim Mixtaper. Eine Anekdote aus dem Roman Love is a mix tape erklärt, warum: »In college I once thought I was breaking up with a girl by giving her a tape that began with Roxy Music's The Thrill of It All. It took a few days for me to realize that she had no idea we were broken up, wich I guess means it didn't work. 724 Love-Tapes dienen Mixtapern aber nicht nur zur Eroberung eines Flirts mittels konkreter Musik oder konkreter Texte. Sie sind auch ein wichtiges Mittel zur 723 Bonner/Weiss 2016, S. 14. 724 Sheffield 2008, S. 21.
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Selbstdarstellung und -vermarktung. Denn mit jedem Love-Tape liefert der Mixtaper neben musikalischen Inhalten auch ein Selbstportrait 725 oder einen akustischen Steckbrief ab. »Wenn du dir von einem Mann eine Kassette aufnehmen lässt«, sagt beispielsweise die Ich-Erzählerin Anne in Karen Duves 2002 erschienenem Roman Dies ist kein Liebeslied, »erfährst du mehr über ihn, als wenn du mit ihm schläfst.«726 Der Love-Taper erklärt mit seinen Kassetten nicht nur Zugehörigkeit zu einem bestimmten Musikstil und konstruiert damit eine eigene musikalische Identität, er macht auch einen Lebensstilentwurf727 sichtbar, präsentiert sich – je nach Notwendigkeit – zum Beispiel als unkonventionell, einfühlsam, cool oder außergewöhnlich, jedenfalls als individuell und einzigartig. Gleichzeitig erklärt er die Adressatin eines Love-Tapes ebenfalls zu einem einzigartigen Individuum, das nicht nur die kreativen und zeitraubenden Mühen eines eigenen Tapes verdient, sondern auch verehrenswertes Objekt und Ziel aller Songs darstellt. Der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre bezeichnet Love-Tapes darum in einem Interview auch als »Beeindruckungskompilationen«, als »Nerd-Hobby und immer auch eine Art Selbstgespräch«.728 LoveTapes sind somit Kassetten, die Zugehörigkeit erklären, Begehren transportieren und gleichzeitig soziales Prestige beim Sender und beim Empfänger generieren. »Mädchen, die viele solcher Köderkassetten besitzen, nennt man Kassettenmädchen«,729 sagt Stuckrad-Barre. Die Anzahl von Mixtapes kann also sogar zum Messinstrument für Prestige und sozialen Status werden, bestätigt auch der Reutlinger Filmregisseur und Comedian Dominik Kuhn die These vom Kassettenmädchen: »Damals habe ich mir über solche Sachen überhaupt keine Gedanken gemacht. Aus heutiger Sicht ist das aber unzweifelhaft so. Da geht es doch im ganzen Leben drum. Immer: Erhöhung des eigenen sozialen Status. Jeder macht ja irgendwas anderes. Also, von der Klofrau bis zum Milliardär. Und sich über seine Kassetten einen sozialen Status zu schaffen, war eben eine eher individualistischere Strategie, würde ich mal sagen. Aus heutiger Sicht ist das sehr schwer geworden, weil es so einfach ist, irgendetwas in der Richtung zu machen. Da kann sich einfach jeder irgendwie ausdrücken im künstlerischen, bildnerischen und musikalischen Bereich. Das war damals anders.«730
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Bijsterveld/Dijck 2009, S. 45. Drees/Vorbau 2011, S. 23. Herlyn/Overdick 2005, S. 6. Drees/Vorbau 2011, S. 138. Stuckrad-Barre 2007. Interview mit Dominik Kuhn vom 10.6.2015.
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Sonderfälle: Sampler und Bootlegs Um die Kategorien von Mixtapes, die ich hier untersuchen möchte, zu vervollständigen, werfen wir noch einen kurzen Blick auf zwei interessante Sonderfälle: Sampler und Bootlegs. Das Wort »Sampler« rührt vom englischen »to sample« her, was etwa so viel bedeutet wie »eine Probe entnehmen«. Ein Musik-Sampler ist für einen Produzenten demnach auf musikalischer Ebene in etwa dasselbe wie für einen Raumausstatter ein Katalog an Mustertapeten, der vor allem den Zweck hat, einen Überblick über verfügbare Ware zu geben, den Dienstleister als kompetenten und breit aufgestellten Fachmann darzustellen und Lust zu machen »auf mehr«. Sampler, die auf Kassetten aufgenommen werden, sind in der Freien Internet-Enzyklopädie folgendermaßen definiert: »A recording comprising a collection of tracks from other albums, intended to stimulate interest in the featured products.«731 Dass das Sampling-Prinzip in Sachen Musikmarketing gerade mit Kassetten sehr gut funktionieren kann, möchte ich an einem konkreten Beispiel zeigen: Im Jahr 1981 können die Leser der Musikzeitschrift New Musical Express in Großbritannien per Mailorder einen Sampler mit dem Namen C81 bestellen. Die Kassette haben die Redakteure des NME zum fünfjährigen Jubiläum des Plattenlabes Rough Trade unter dem Eindruck der gerade noch angesagten PunkBewegung zusammengestellt: fünfundzwanzig Songs, unter anderem von den Buzzcocks, DAF und den Virgin Prunes. Schon seit ein paar Jahren ist es bei den britischen Musikzeitschriften üblich, ihre Hefte mit Audiobeilagen – zum Beispiel Flexi-Discs oder Kassetten – aufzuwerten. Der C81-Sampler bricht jedoch sämtliche Rekorde. Innerhalb eines Monats werden 15.000 Exemplare versendet.732 Im Grunde genommen liegt Samplern also dasselbe technische Prinzip zu Grunde wie einem Mixtape, Musikstücke aus einem bestehenden Fundus auszusuchen und neu zusammenzustellen. Gleich wie Mixtaper achten auch SamplerHersteller bei einem »guten« Sampler darauf, mit dem Neu-Arrangieren der Songs auf Kassette Durchhörbarkeit, Spannung und Abwechslung zu schaffen, damit mögliche HörerInnen nicht ausschalten oder am Kassettenrekorder die Taste zum Vorspulen betätigen. Und ähnlich wie die Mixkassette dient auch der Sampler dem (Selbst-) Marketing. Allerdings werden Sampler in der Regel nicht von einzelnen Individuen für einen klar benannten oder mehrere bestimmte Adressaten hergestellt, sondern für eine unbestimmte Menge potentieller Käufer. Während Mixtapes verschenkt oder kostenlos kopiert werden, müssen Sampler gekauft werden. Der Sampler ist also sozusagen die kommerzielle Ausgabe des 731 http://www.thefreedictionary.com/sampler, abgerufen am 1.2.2017. 732 Drees/Vorbau 2011, S. 20.
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Mixtapes. »For instance, […] companies seek capitalize on the concept of the mixtape or the ›home mix‹ by selling inexpensive CD samplers as promotional vehicle for their brands. […] Such mixes aim to tap into and complement the ›lifestyle‹ defined by the company's products.«733 Entscheidend ist dabei nicht, wie viel Geld mit einem Sampler verdient wird, sondern eher, dass er sich grundsätzlich mit kommerziellem Interesse an eine »Zielgruppe« richtet. Erinnern wir uns: Auch die KassettentäterInnen der deutschen Postpunk-Kassettenszene geben gegen kleines Geld Sampler heraus: thematische, regionale Sampler zum Beispiel wie den Sampler aus Südwest oder Kassettentäter 1. Ziel ist, das Label – in diesem Fall die Pforzheimer Initiative Intoleranz – bekannter zu machen und den verschiedenen Bands des Labels eine Plattform zu bieten. Während sich der konkrete Benefit für einen Mixtaper meist in der Steigerung seines sozialen Status oder in einem Dialog erschöpft, der ans (Ver-)Teilen eines Mixtapes anknüpft, spült ein Sampler ganz konkret Geld in die Taschen seiner Hersteller, erzählt beispielsweise auch der Kassettensammler Frank Apunkt Schneider aus Bamberg. Schon als Jugendlicher gründet er ein Label, das er Hausmacherkassetten nennt: »Das ist ein Witz, den man natürlich außerhalb vom Kreis Bamberg oder von Franken nicht versteht, weil es nämlich in den Kellerwirtschaften immer die ›Hausmacherplatte‹ gab. Das war so ein Wurstteller. Und da haben wir uns überlegt: Naja. Wenn es Hausmacherplatten gibt, dann machen wir jetzt Hausmacherkassetten. Also, es ging gar nicht so sehr um diesen Hausmacher-Aspekt, sondern einfach um dieses blöde Wortspiel.«734
Mit den Hausmacherkassetten gibt Frank Apunkt Schneider später eine Reihe von insgesamt vier Kassettensamplern heraus. Die Reihe trägt den Namen The Power of German Lashcore. Auf den Kassetten ist allerlei seltsame Musik, »incredibly strange music«, zu hören: von vergessenen Beiträgen zu Vorentscheiden des Eurovision Songcontest über selbst komponierte Werbesongs mittelständischer Firmen bis hin zu amateurhafter christlicher Popmusik. Diese »Rare Grooves« hat der leidenschaftliche Musiksammler in Wühlkisten auf Flohmärkten entdeckt, von Schallplatten oder anderen Kassetten zusammengetragen und neu zusammengestellt. »Das ging so Anfang der neunziger Jahre los. Wir hatten damals einen Freund, der war bei den Amis Soldat und kam aus der amerikanischen Kassettenszene. Und wir saßen bei mir rum und kamen auf die blödsinnige Idee: Wir spielen dem jetzt mal Truckstop vor und so einen Scheiß. Weil ich immer schon so Trash-Sachen auch gesammelt habe. Und er: ›Was? Truckstop? German Country? Totally weird!‹ Und er war extrem begeistert und hat 733 Bijsterveld/Dijck 2009, S. 45. 734 Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016.
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gesagt, ich solle ihm mal so ein Tape zusammenstellen und er würde das dann in die Staaten mitnehmen und da rausbringen. Das hat natürlich damals alles Jahre gedauert. Bis ich das gemacht hatte, war der schon lange nicht mehr da. Und dann habe ich das halt selber rausgebracht. Und ich habe Massen davon verkauft. Ich habe fünf Mark dafür verlangt. Und ich weiß nicht mehr – was hat es gekostet? Vielleicht zwei Mark, schätze ich jetzt mal so alles in allem. Es war auch immer so die Idee dabei, dass man sich mit ›Untergrund-Ökonomie‹ zumindest ein Handgeld finanziert.«735
Auch Bootlegs, also illegale Konzertmitschnitte auf Kassetten, sind meist ausgehend von dieser Idee der Untergrund-Ökonomie produziert. Nicht umsonst geht der Ausdruck »Bootlegger« auf die Alkoholschmuggler zu Zeiten der amerikanischen Prohibition zurück, wie Walter Benjamin in einer seiner Rundfunkgeschichten für Kinder Anfang der dreißiger Jahre erklärt: »Diese Leute heißen ›die Stiefelschäftler‹ in Erinnerung an die Goldgräberzeit in Clondyke, wo jeder Mann die Schnapsflasche im Stiefelschaft stecken hatte.«736 Solche SchmuggelKassetten sind normalerweise nicht teuer, aber eben nicht umsonst zu haben. Sie sind auch nicht im eigentlichen Sinne Mixtapes, denn in der Regel sind auf einem Bootleg nur Songs einer einzigen Band zu hören. Dennoch folgen die Aufnahmen natürlich nicht der Dramaturgie der Plattenalben, auf denen sie ursprünglich veröffentlicht worden sind, sondern der Dramaturgie eines Konzertes, außerdem sind häufig Live-Ansagen der Bands ans Publikum zu hören, vielleicht sogar die Geräusche des Bootleggers selbst, der sich ja verhalten muss wie ein mehr oder weniger »normaler« Konzertbesucher. Bootlegs können darum im weitesten Sinne als live gespielter »Best Of«-Sampler und damit als eine Sonderform des selbstgemachten Mixtapes verstanden werden. Um die illegalen Kassettenmitschnitte herum bildet sich ab dem Ende der siebziger Jahre eine kleine Szene mit eigenen Vertriebsstrukturen und halblegalen Labels. »Frühe Bootleg-Kassettenlabels in Deutschland waren Pope-MusicProductions, die es in zwei Jahren auf fünfzig MCs brachten, Flying Pig Records oder Imaginary Shroud Productions.«737 Ende der achtziger Jahre blüht das Geschäft mit Bootlegs überall auf der Welt. »Professionelle« Bootlegger schmuggeln ihre aufnahmefähigen Walkmans und als Kopfhörer getarnte In-EarMikrophone in die Konzerthallen,738 die damit zu den inoffiziellen Tonstudios der Szene werden. Frank Eichstädt, der heute in Hamburg lebt und als DJ und Moderator arbeitet, macht auf diese Art heimliche Kassettenmitschnitte von über dreihundert Konzerten, darunter solchen von David Bowie, Simply Red, Pink Floyd oder den Communards. Frank Eichstädt ist einer der aktivsten Kassetten735 736 737 738
Interview mit Frank Apunkt Schneider vom 16.3.2016. Benjamin u. a. 2006. Emmerling u. a. 2015, S. 145. Drees/Vorbau 2011, S. 175.
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Bootlegger der BRD, seine Kassettenmitschnitte verkauft er hundertfach in der ganzen Republik. Mund-zu-Mund-Propaganda ist dabei neben Flyern das wichtigste Marketinginstrument. Selbst in Zeiten vor dem WorldWideWeb müssen Bootlegger ihre subversiven Tätigkeiten jenseits der großen Öffentlichkeit betreiben. Ohne Schutzmaßnahmen kommen die Vertreter der Urheberrechte vielen Bootleggern schnell auf die Schliche.739 »Als Verbreitungsmedium für illegale Live- und sonstige Aufnahmen bekannter Gruppen stellte die Kassette durchaus ein Politikum dar. Immer wieder hatte es Razzien in der Szene gegeben. Die BootleggerInnen wurden ernsthaft verfolgt, genau so wie heute Fahndungsdruck auf die mp3-Szene ausgeübt wird.«740 Nach jedem mitgeschnittenen Konzert macht Frank Eichstädt darum schon vor Ort Werbung für sein neues Produkt. Meistens kann er schnell liefern. In seinem Kinderzimmer zu Hause laufen die Doppeldecks Tag und Nacht. Die meisten sind mit Equalizern ausgestattet, sodass man die Qualität der Originalaufnahme nachträglich noch geringfügig verbessern kann. Cover für seine Mixkassetten bastelt der Bootlegger selbst. In einem Interview für die Textsammlung Kassettendeck erzählt er: »Ich habe für jedes Tape eine Collage angefertigt und diese dann über den Münzkopierer bei Karstadt gezogen.«741 Damals wie heute sind Konzertmitschnitte genehmigungspflichtig und nach geltendem Urheberrecht zu gewerblichen Zwecken verboten. Wer im Jahr 2017 allerdings ein größeres Konzert besucht, kann einen ganz anderen Eindruck bekommen: Statt Wunderkerzen und Feuerzeugen leuchten heute die Taschenlampen-, Blitz- und Beleuchtungsapps der Smartphones, wenn auf der Bühne ein stimmungsvoller Song intoniert wird. Und das nicht nur als Zeichen von Anteilnahme und Begeisterung. Wer kann, schneidet mit, photographiert oder filmt, um sein Material möglichst schnell auf facebook, youtube, pinterest oder instragram hochzuladen. Manchmal funktioniert das beinahe in Echtzeit. Ähnlich wie früher (ver-)teilen Bootlegger ihre Produkte auf und mit der ganzen Welt. Statt Geld generieren Bootlegs heute virtuelle Freunde und virtuelle Kommunikation. Je mehr Klicks, Likes und Shares, umso besser steht man im Internet da, umso größer also der soziale Statusgewinn, den man mit seinem digitalen Mitschnitt erzielt. Was früher heimlich betrieben werden musste, ist heute öffentlich geduldete Praxis. Was als Kassetten-Mixtape begonnen hat, ist heute Teil der digitalen Alltagswelt.
739 Emmerling u. a. 2015. 740 Schneider 2008, S. 129. 741 Drees/Vorbau 2011, S. 176.
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»Darling, they're playing our tune«: Mixtapes sind Speicher von Erinnerungen So unterschiedlich die verschiedenen Mixtapes hinsichtlich ihrer Gestaltung, Absicht und technischen Qualität auch sein mögen – was ausnahmslos alle Arten von Mixkassetten eint, ist ein Phänomen, das vermutlich auch dafür verantwortlich ist, dass selbst aus den wenigen wissenschaftlichen Betrachtungen über Mixtapes stets ein nostalgieschwangerer Unterton herauszuhören ist: Auf Mixtapes sind verschiedene Songs gespeichert, das ist offenkundig. Mit der Musik sind aber untrennbar auch verschiedene emotionale Erinnerungen auf Band festgehalten, die durch das Hören der Musik von »damals« wieder erweckt werden und jedem Hörer und jeder Hörerin noch viele Jahre später Tränen in die Augen treiben, einen Lachanfall bescheren oder eine Gänsehaut den Rücken hinab rieseln lassen können. »Music has a particular power to remind us of important past events in our life, and the profound feelings which accompanied them. This can lead to celebration, joyful remembrance, or the revisting of pain and suffering. It can lift us out of our current preoccupations and re-focus our attention on the wider landscape of our lives. By bringing together in our consciousness events which may be distant in time, it can help us to get a better sense of the cradle-to-grave continuity and unity of ourselves as persons.«742
Verschiedene quantitative Studien haben bewiesen, dass sich emotionale Reaktionen, wie die geschilderten, auch nach mehrmaligem Hören eines Songs nicht oder nur wenig abnutzen und sogar nach einer langen »Hörabstinenz« wieder zuverlässig reproduziert werden.743 Ein altes Mixtape anzuhören, bedeutet also unter Umständen, Emotionen genauso intensiv zu empfinden wie zum Zeitpunkt, als das Tape entstanden ist. Offensichtlich gibt es darüber hinaus einen starken Zusammenhang zwischen Musik und emotionalen Erinnerungen, der darauf beruht, dass Musik einen direkten und ungesteuerten Zugriff auf bestimmte Gedächtnisinhalte bewirkt, »die sehr häufig emotional bedeutsame Ereignisse betreffen«.744 Das liegt zunächst einmal an der Tatsache, dass Musik praktisch allgegenwärtig ist, also in vielen emotionalen Situationen eine Rolle spielt. Außerdem werden beim Hören von Musik im menschlichen Gehirn neuronale Systeme für Belohnung und Emotionen aktiviert, die sonst nur durch biologisch überlebenswichtige Stimuli wie Nahrung oder Sex angesprochen werden. Beim Hören von Musik können also intensivste Emotionen und Glücksgefühle entstehen, obwohl 742 Sloboda 2005, S. 349. 743 Spitzer 2002, S. 396. 744 Spitzer 2002, S. 387.
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der Mensch Musik zum biologischen Überleben gar nicht braucht. Ob die Musik dabei live gespielt wird oder einem alten Mixtape entstammt, ist für die neuronalen Abläufe im Hier und Jetzt zunächst einmal nicht entscheidend. Musik von einem Mixtape kann mithin im Jahr 2017 bei einer Hörerin dieselben Gefühle auslösen wie im Jahr 1985. Gleichzeitig spielt Musik auch bei der Entstehung von Erinnerungen eine wichtige Rolle: Die hohe emotionale Wirkung von Musik hat zur Folge, dass eine Erinnerung an Situationen, die von Musik begleitet werden oder mit Musik in Zusammenhang stehen, im sogenannten »Episodischen oder Autobiographischen Gedächtnis« abgelegt wird, in einem Teil des Gehirns, der kein Faktenwissen speichert, sondern Assoziationen, die etwa mit unbewussten Gefühlen, Gerüchen und verschiedenen Geschmäckern verbunden sind. Um diese autobiographischen Erinnerungen wieder wachzurufen, kann Musik wiederum als Stimulus oder Trigger wirken. In seiner Schrift The Psychology of Music745 aus dem Jahr 1978 nennt der britische Jazzer und Musikpsychologe John Booth Davies diese Beobachtung den sogenannten DTPOT-Effekt und führt ihn als feststehenden Begriff in die Kognitionswissenschaft ein. Hinter dem Akronym verbirgt sich Davies' Theorie vom Darling, they're playing our tune: »A piece of music triggers a specific memory, and you then return to the emotional state you were in when the memory was created – the joy of your wedding day, for example. Besides regenerating the original emotional state, this type of stimulus can also arouse emotions such as nostalgia and, in the most acute cases, attacks of revolting sentimentality.«746
Um grob zu verstehen, wie Erinnerungsprozesse weiter ablaufen, muss man sich das Gehirn stark schematisiert als neuronales und assoziatives Netzwerk vorstellen. Wird ein Teil des Netzwerks wie das Episodische Gedächtnis mittels Musik stimuliert, so erreicht diese Stimulation über neuronale Bahnen und weiterführende Assoziationen auch andere Teile des Gedächtnisses, wie etwas das Semantische Gedächtnis, in dem vor allem Faktenwissen und sachliche Informationen gespeichert sind. Kurz: Wenn Musik emotionale Erinnerungen hervorruft, so ist es gut möglich und wahrscheinlich, dass auch assoziativ verknüpfte, gespeicherte Daten und Fakten als Erinnerung ihren Weg zurück ins Bewusstsein eines Menschen finden: Zeitbezüge zu einem bestimmten Jahr zum Beispiel, zu einem besonders warmen Sommer, zu einer Urlaubsreise, zu einer wichtigen Nachrichtenlage. »Durch das Wachrufen damaliger Gefühle durch die Musik können sich 745 Davies 1979. 746 Powell 2016, S. 68.
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die Musikhörer/-innen besser und detaillierter an das betreffende Ereignis erinnern.«747 Wird also ein Mixtape aufbewahrt, manchmal über viele Jahre oder sogar Jahrzehnte, dann funktioniert es nicht nur als Musikspeicher, sondern auch als Hochleistungsspeicher von Emotionen.748 Gleichzeitig stimuliert das emotionale Erinnern über die auf dem Mixtape gespeicherte Musik auch Erinnerungen an die Zeitumstände, unter denen das Tape aufgenommen oder erhalten wurde. Im Fall eines aus dem Radio aufgenommenen Tapes liefern die Aufnahmen selbst sogar zusätzliche Erinnerungs-Stimuli durch die akustischen Artefakte der ursprünglichen Radiosendungen. »It follows that the mix tape should be ideally suited for triggering memories in the listener of ›what-it-was-like‹ to be him- or herself at the particular place and time the tape mix brings the listener back to. The mix tape offers a ›what-it-was-like‹ experience, which can be described as the mix taper’s ›being-in-connection-with‹ the technology and music of the day, the people, the vocabulary, the important issues, and so on.«749
Mittels eines Mixtapes können sich also Mixtaper und Kassettenmädchen daran erinnern, welche Technik, welche Autos, welche Süßigkeiten, welche Bücher es zum Entstehungszeitpunkt des Tapes gab, wie die Umwelt gestaltet war, welche Themen die öffentlichen Debatten bestimmten und welche persönlichen Beziehungen wichtig waren. Es kehren alte Freunde ins Bewusstsein zurück, der erste Liebeskummer, der letzte Schultag und natürlich der Umgang mit der inzwischen alten Kassettentechnologie. »Selbst wenn es Jahrzehnte her ist, fällt uns beim Abspielen eines dieser Mixtapes nach und nach alles wieder ein: Wann und wo wir einen Song zum ersten Mal hörten, wovon wir in dem Moment träumten, zu welchem Lied wir unseren ersten Kuss bekamen und wie wir mit dem Walkman auf der Wiese lagen, uns ein Tütchen Ahoj-Brause in den Mund schütteten und den Inhalt prickelnd auf der Zunge zergehen ließen.«750 Mixtapes haben zwei oder mehr kommunikative Zeitebenen Betrachtet man die kommunikativen Vorgänge, die mit Mixtapes im Zusammenhang stehen, so ist im Vergleich zu anderen Kassetten eines besonders auffällig: Kommunikation mit Mixtapes spielt sich auf zwei oder mehr Zeitebenen ab. Erste Zeitebene ist die, in der die Kassette bespielt, verwendet und in unmittelbarer zeitlicher Nähe weitergegeben oder vom Mixtaper selbst verwendet 747 748 749 750
Schramm 2005, S. 69. Drees and Vorbau, S. 149. Bijsterveld/Dijck 2009, S. 51. Bonner/Weiss 2016, S. 12.
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wird. Es finden dialogische Kommunikationsprozesse statt, die sich in die Gegenwart richten, und die ich als Kommunikation erster Ordnung bezeichnen möchte. Zweite zeitliche Ebene der Kommunikation ist die, in der das Mixtape keinen direkten Zeitbezug mehr zu seiner Entstehung in der ersten Zeitebene hat, sondern als Stimulus für Erinnerungen daran verwendet wird. Es erfolgt jetzt also eine Kommunikation zweiter Ordnung, die in die Vergangenheit gerichtet ist. Mixtaper und Kassettenmädchen kommunizieren mittels ihrer Erinnerungen sozusagen mit früheren Ausgaben ihrer selbst: »When mixtapers refer to ›former selves‹, and their renewed ability to access them when listening to an old tape, they describe an experience of being confronted with a representation of themselves, or an expression of their own identities or emotions, which have not aged or changed as they themselves have. Like an old photograph or diary, mix tapes allow a person to encounter oneself as an ›Other‹.«751
Ist diese Kommunikation wiederum mit vielen Emotionen und spezifischen Ereignissen verbunden, so entsteht möglicherweise eine neue Erinnerung – diesmal an das Erinnern selbst. Um ein drastisches Beispiel zu wählen: Wird ein altes Mixtape aus Schulzeiten bei der Beerdigung eines ehemaligen Schulkameraden abgespielt, so geht dieses Ereignis ohne Zweifel zusätzlich zur Erinnerung an die Entstehungszeit des Mixtapes ins Gedächtnis aller Beteiligten ein. Wird das Tape später wieder abgespielt, so entsteht eine dritte Zeitebene der Kommunikation, die mit der zweiten und der ersten Ebene kommunikativ vernetzt ist und so weiter. Wenn wir beim uns bereits bekannten Bild des kommunikativen Netzwerks bleiben, so handelt es sich beim Netzwerk Mixtape nicht nur – wie bei der Kassetten- und der Punkszene – um ein translokales, sondern auch um ein gleichsam transtemporales Netzwerk. »The times you lived through, the people you shared those times with – nothing brings it all to life like an old mix tape. It does a better job of storing up memories than actual brain tissue can do. Every tape tells a story. Put them together, and they add up to the story of a life.«752 Betrachten wir zunächst die Kommunikationsprozesse der ersten kommunikativen Zeitebene, der Gegenwart zum Zeitpunkt der Entstehung eines Mixtapes. Die Akteure des kleinen Kommunikationsnetzwerks sind leicht zu benennen: der Mixtaper, der eine musikalische Botschaft generiert, mögliche AdressatInnen des Tapes – auch der Mixtaper selbst kann übrigens Adressat eines Tapes sein, wenn es sich zum Beispiel um ein Stimmungs-Tape handelt, – und die Lieferanten der Symbole, durch die die Botschaft vermittelt wird – in erster Linie also die 751 Jansen 2009, S. 46. 752 Sheffield 2008, S. 26.
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Schallplattenindustrie mit ihren Major-Labels, kleinere Independent-Labels und verschiedene Radiostationen. Während die Schallplattenindustrie in eine Kommunikation mit und über Mixtapes nur monologisch eingebunden ist, insofern als dass sie Kommunikation zwischen anderen durch ihre Produkte (unbeabsichtigt) möglich macht, sind Radiostationen etwas stärker und oft auch dialogisch mit Mixtapern und Kassettenmädchen vernetzt. Vor allem über direkte Anrufe oder per Post können MixtaperInnen versuchen, von ihnen gesuchte Musik in einer der unzähligen Musikwunschsendungen im Radioprogramm zu platzieren. Ob das gelingt, entscheidet der Moderator oder die Musikredaktion eines Senders. Im für den Mixtaper positiven Fall liest der Moderator zum gewünschten Songtitel auch den Namen des Hörers vor, von dem der Wunsch kommt. Gelegentlich richtet er sogar einige persönliche Worte über Sender an ihn. Dann wird er den gewünschten Titel spielen und ihn so bewusst an irgendeinem Ort der Republik zum Bestandteil eines Mixtapes werden lassen. In Musikwunschsendungen ist es den Moderatoren mancher Radiostationen aus diesem Grund explizit verboten, einen Wunschtitel vor der Zeit auszublenden oder über Intro oder Outro zu moderieren. Dagegen fährt vor allem der öffentlich-rechtliche Rundfunk aus »erzieherischen« Gründen und um die Urheber zu schützen eine gänzlich andere Strategie. Die Moderatoren werden angehalten, so lange wie möglich über die Musik zu moderieren, um Mixtapen mit Radiosongs unattraktiv zu machen. Indirekt greift der Rundfunk damit als steuernde Institution in den kommunikativen und eigentlich privaten Prozess ein. Der wichtigste und oft auch der einzige Knoten im Netzwerk bleibt dennoch der Mixtaper selbst, denn er bestimmt die meisten kommunikativen Prozesse, er legt die Kommunikationscodes fest, genauso wie die Bedeutung einzelner Musiktitel auf seinem Mixtape, er entscheidet, mit wem, wann und in welcher Häufigkeit kommuniziert wird. Der einzige Standard und die einzigen Normen, denen er sich dabei unterworfen sieht, ist die industriell festgelegte Länge der Leerkassette – also in der Regel C-60 oder C-90 – und die Tatsache, dass eine Kassette zwei Seiten mit jeweils einem Anfang und einem Ende hat. Ein Mixtaper muss seine Message also sozusagen in zwei Akte untergliedern und zwei Mal ein Intro und ein Outro »formulieren«. Ansonsten kann er mit seinen Kassetten die Gesetze standardisierter Medienkommunikation vollständig unterlaufen, indem er die Waren, die die Industrie anbietet, wie Leerkassetten, Musik oder Zeitschriften, nach eigenem Gutdünken kombiniert, montiert und ihre vormals monologischen Eigenschaften in dialogische überführt. »Taper ›picken‹, ›klauben‹ und ›forsten›, ›jagen‹ und ›filtern‹ ihre Raritäten und Lieblingsstücke aus dem Konsumproduktedschungel der Musikindustrie zusammen. Schließlich muss erst einmal ein Fundus beziehungsweise Grundstock an Liedern vorhanden sein,
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aus dem später das Material für Mixtapes geschöpft werden kann.«753 »So erwächst […] spielerisch die Schöpfung eines kulturell Neuen aus der Bearbeitung verfestigter kultureller Selbstverständlichkeiten und der Gegenüberstellung anderer Möglichkeiten.«754
Die Kommunikation mit Mixtapes verläuft in der Regel dialogisch und auf Augenhöhe zwischen den Akteuren, die ihre Rollen beliebig ändern können: Häufig schließt sich an ein Mixtape als Antwort ebenfalls ein Mixtape an, das nun vom Adressaten an den Sender geht. Mindestens genauso häufig erfolgt Anschlusskommunikation aber auch direkt. Ein Love-Tape kann also mit einem anderen Love-Tape beantwortet werden oder mit direkter Face-to-face-Kommunikation. Sie spielt innerhalb des Netzwerks eine viel größere Rolle als in den bereits beschriebenen Fällen. Wahrscheinlich weil sich Sender und Empfänger eines Mixtapes in der Regel persönlich kennen und häufiger begegnen. Nur so kann schließlich auch sichergestellt werden, dass Empfänger und Sender über einen gemeinsamen Referenzrahmen zur Kommunikation verfügen. Vernetzt sich diese erste zeitliche Ebene des Netzwerks nun mit der beschriebenen zweiten Zeitebene, findet dort unter Umständen wieder eine Kommunikation erster Ordnung statt: Der Mixtaper von damals spielt seine alten Kassetten bei einer Oldie-Party, Kassetten-DJs wie »Laufi« aus München oder »Rumpelkopf« aus Dresden bringen mit ihren alten Mixtapes einen Abend lang die Menschen zum Tanzen. Gleichzeitig findet über Erinnerungen, die mit dem Mixtape lebendig werden, aber auch eine Kommunikation zweiter Ordnung mit der ersten Zeitebene statt. Knoten in diesem transtemporalen Netzwerk sind entweder wieder der ehemalige Mixtaper oder der ehemalige Adressat eines Mixtapes. Ordnende, kontrollierende steuernde Instanzen wie Rundfunk oder GEMA sind nicht mehr real, sondern höchstens noch als kommunikative Verweise erhalten. Sie sind nicht mehr Teil des Netzwerks. Schließlich und endlich werden Mixtapes auf allen kommunikativen Zeitebenen aber nicht nur als Kommunikationskanäle verwendet, nicht nur als Träger kommunikativer Botschaften, sondern auch zur Stimulation von Kommunikation über sich selbst. Sie werden dann selbst zum Issue des Netzwerks. Mixtapes erschaffen Kassettengeschichten, in denen ehemalige Mixtaper oder Kassettenmädchen biographische Episoden erzählen, die mit den Tapes von damals in Zusammenhang stehen. Zum fünfzigsten Geburtstag der Kompaktkassette im Jahr 2013 fand eine breite, medial provozierte und – wie erwähnt755 – nachgerade inflationäre öffentliche Kommunikation über Mixtapes statt. Fast konnte man den Eindruck haben, viele Redakteure, Autorinnen und Moderatoren schrieben 753 Herlyn/Overdick 2005, S. 27. 754 Herlyn/Overdick 2005, S. 29. 755 Vgl. Einleitung zu dieser Arbeit: Quellen und der [schwierige] Umgang damit.
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oder sprächen sich damit Erinnerungen an ihre eigene Jugend von der Seele – immer in der begründeten Hoffnung, am anderen Ende des kommunikativen publizistischen Netzwerks gleichgesinnte Akteure anzutreffen. »Das episodische Gedächtnis kann auch eine sozial verbindende Funktion haben. Persönliche Erinnerungen können anderen Menschen mitgeteilt werden und so menschliche Beziehungen stärken, was wiederum als positive Erfahrung im autobiografischen Gedächtnis hinterlegt wird. Die gegenteilige Erfahrung ist natürlich ebenfalls möglich.«756
4.3 KASSETTEN ALS MEDIEN DER STANDARDISIERTEN MEDIENKOMMUNIKATION Ich möchte mich nun der Analyse von Kassetten zuwenden, die in erster Linie als Mittel der standardisierten Medienkommunikation verwendet werden. Dabei handelt es sich um kommerziell hergestellte Kassetten und um Kassetten, mit denen Aufnahmen gemacht werden, die später in einem massenmedialen Kontext verwendet werden.757 Im Unterschied zur wechselseitigen Medienkommunikation gibt es in der standardisierten Kommunikation mit Medien keine klar bestimmbaren Adressaten, an die sich kommunikative Prozesse richten. Stattdessen orientiert sich standardisierte Medienkommunikation auf ein unbestimmtes Potenzial von Adressaten, die dem Sender nicht bekannt sind. Auch die ganz genau Zahl der Adressaten kennen die Kommunikatoren in der Regel nicht. Kommunikative Netzwerke, die durch standardisierte Medienkommunikation entstehen können, haben darum unscharfe Ränder. Es ist nicht absehbar und auch nicht leicht ermittelbar, welche Akteure kommunikativ wirklich erreicht werden und welche nicht. Selbst wenn es zum Kauf eines Tonträgers kommt oder zum Einschalten des Radios, ist nicht klar, ob Kommunikate, also Inhalte wie Radiosendungen oder Hörspiele, auch wirklich beim Empfänger ankommen. Sender und Empfänger sind in der Regel nicht am selben Ort, senden und empfangen auch nicht zur selben Zeit. Man spricht von asynchroner Kommunikation und »translokal offener Konnektivität«758. Kommunikative Inhalte und Formen sind standardisiert und festgeschrieben. Das bedeutet umgekehrt wiederum, dass es unbedingt einen gemeinsamen Referenzrahmen muss und nur eine bestimmte Auswahl kommunikativer Symbole geben kann, die es den Empfängern ohne Rückfragen möglich machen, standardisierte Kommunikate zu verstehen. 756 http://symptomat.de/Episodisches_Gedächtnis, abgerufen am 3.1.2017. 757 Hepp 2011, S. 64. 758 Hepp 2011, S. 66.
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Am Beispiel des Kassettenhörspiels für Kinder, auf das ich gleich genauer eingehen werde, lässt sich dies gut illustrieren: Damit Kindern als Rezipienten von Kassettenhörspielen Rezeption und damit Kommunikation überhaupt möglich ist, müssen sie über die Dramaturgie von Kindergeschichten Bescheid wissen. Sie müssen den Unterschied zwischen Gut und Böse kennen und mit dem Medium Kassette umgehen können, über ein Abspielgerät verfügen und idealerweise Medienerfahrung haben. Nur dann können Kinder wissen, dass es sich beim Hören um mediale Kommunikation handelt. Bei sehr kleinen Kindern ohne Medienerfahrung lässt sich gelegentlich beobachten, dass sie versuchen, tatsächlich mit den Stimmen auf den Kindertonträgern oder mit der Stimme im Radio zu sprechen. Sie kennen die Gesetze medialer Kommunikation nicht – sie lernen gerade erst die der direkten Kommunikation kennen. 4.3.1 »Bis ans Ende aller Bänder«: Hörspiele für »Kassettenkinder« Die Geschichte von Hörstücken für Kinder beginnt schon in den frühen zwanziger Jahren der Weimarer Republik und ist untrennbar mit der Geschichte des Radios verbunden, das in Deutschland seit 1923 kontinuierlich sendet. Wenngleich in den zwanziger Jahren auch erste Schallplatten für Kinder produziert werden – zum Beispiel tragen prominente Sänger von Klavier begleitet Kinderlieder vor – so schränkt die sehr kurze Spielzeit der Schallplatten von wenigen Minuten pro Seite das Repertoire doch stark ein. »Zu den Raritäten gehörten Märchenplatten. Sie mußten wegen der begrenzten Zeit […] stark gekürzt und von dem Erzähler so schnell wie möglich heruntergerasselt werden.«759 Erst in den späten fünfziger Jahren, als mit dem Wirtschaftswunder Langspielplatten und auch Plattenspieler zu Massenprodukten werden, beginnen Hersteller wie Die Deutsche Grammophon Gesellschaft und die Telefunken-Decca mit der Produktion von Kinderhörspielen. Funkheinzelmann und Radiokasperl: Die frühen Funkhörspiele für Kinder Im Rundfunk, in dem noch bis in die vierziger Jahre Live-Produktionen die gängige Sendeform sind,760 ist man weniger stark an Spielzeitlängen oder andere technische Einschränkungen gebunden. Und so setzt sich der erste deutsche Radiosender, die Funk-Stunde Berlin, von Anfang an zum Ziel, neben Erwach759 Hengst 1979, S. 7. 760 Dussel 2010, S. 45.
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senen auch Kinder anzusprechen und ihnen ein kindgerechtes Angebot zu machen. Zunächst kann man dabei von einem Hörspiel, wie wir es heute kennen, freilich noch nicht sprechen. Vielmehr bemüht man sich in Berlin, Kindern wie erwachsenen Hörern über Lesungen einen Zugang zu zeitgenössischer Literatur zu ermöglichen. Eine Reihe literarischer Lesungen für Erwachsene nimmt ihren Anfang, als der Berliner Bühnenschauspieler Peter Illing am 3. November 1923 erstmals »on air« Heinrich Heines Gedicht Seegespenst rezitiert.761 Im Frühjahr 1924 geht dann die Ursendung der Ullstein-Stunde über Sender, ein Magazin, zum dem auch eine Kinderecke gehört.762 Noch im selben Jahr wird daraus eine eigenständige Programmsparte. Der Kinderfunk ist geboren und mit ihm Radiomärchen und -figuren wie der berühmte Funkheinzelmann des Rundfunkpioniers Hans Bodenstedt. »In der FkST [= Funkstunde Berlin] […] herrschten in den ersten Jahren eine ›Funkprinzessin‹, ›Kapitän Funk‹ oder der ›Onkel Doktor als Märchenerzähler‹, nur einige Beispiele für die figurative Vermittlungsform von Kinderliteratur, ausgerichtet an der traditionellen, solistischen Rolle des Geschichtenerzählers.«763 In der Folgezeit macht der Rundfunk erste zaghafte Schritte weg vom Erzählermonolog hin zu einer dialogischen Aufführung, die sich stark an der damaligen Praxis des Schauspiels orientiert. Der Rundfunk gilt verkürzt als »Hörbühne«, als »Theater ohne Augen«764 oder als »Stellvertreter des Theaters, der Oper, des Konzerts […]«765. Im Berliner Funkhaus wird als Vorläufer späterer Hörspielredaktionen die Sendespiel-Bühne mit der Abteilung Schauspiel eingerichtet. »Ähnlich wie in der frühen Phase der Opernregie bei Schallplattenaufnahmen versuchten die Pioniere des Hörspiels durch Kostüme und durch Kulissen die Bedingungen einer Bühnenaufführung zu simulieren, die Schauspieler durch gesteigerte Aktion – auch über fünf Treppen hinweg – für die fehlende Stimulierung durch ein Publikum zu entschädigen und dem Hörer als Ersatz für das fehlende Bühnenbild eine Geräuschkulisse anzubieten. Es war noch die Zeit der (schlechten) Nachahmungen des Schauspiels, noch nicht die des Hörspiels.«766
Auch die frühen Formen des Kinderhörspiels orientieren sich am Theater. Als Vorlage dienen Märchenstücke oder Stücke aus dem Kasperle-Theater. Als Walter Benjamin 1932 sein Kinderstück Radau um Kasperl beim Südwestdeut761 762 763 764 765 766
Würffel 1978, S. 11. Heidtmann 1994, S. 324. Schiller-Lerg 1984, S. 77f. Weber 1995, S. 56. Brecht 1967, S. 133. Würffel 1978, S. 12.
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schen Rundfunk Frankfurt selbst inszeniert, greift er formal auf diese Tradition zurück. Allerdings ist sein Kasperle-Spiel – anders als die »normalen« Stücke des Genres – im Grunde genommen ein Lehrstück in Sachen Medienkompetenz für Kinder. Es geht um den Umgang mit der neuen Radiotechnologie: Kasperl wird vom Radiosprecher Maulschmidt vors Mikrophon gelockt, abgehört und heimlich auf Schallplatte aufgezeichnet. Als der Kasper versucht, Herrn Maulschmidts Lauschangriff zu entkommen, führt ihn seine Flucht durch die verschiedensten Hörplätze: auf einen Bahnhof, einen Jahrmarkt und in den Zoo. Zur Illustration der Räume schreibt Benjamin bereits seinem Manuskript konkrete akustische Regieanweisungen ein. Er entwirft neben reinen Wortszenen auch Szenen, die nur aus Geräusch- und Musikcollagen bestehen. »Benjamin verfolgt in seinem Kinderhörspiel eine rein akustische Dramaturgie mit technischen Effekten.«767 Einsatz, Produktion und Montage von Musik und Geräuschen stecken bis dahin noch in den Kinderschuhen. Musik wird im Kinderfunk bislang vorwiegend in speziellen Genres – zum Beispiel in eigenen Singspielen oder in experimentellen Hörbildern wie Der Flug der Lindberghs von Bertolt Brechts – eingesetzt. Geräusche sind vor allem zu hören, wenn sie von den Schauspielern unmittelbar bei der Aufführung produziert werden. Walter Benjamin ist einer der ersten, der mit seinem Kasperl-Stück klang- und raumästhetische Experimente für Kinder wagt. Als die Nationalsozialisten den Rundfunk als Propagandainstrument für sich vereinnahmen, kommen diese eben erst begonnenen Versuche in Richtung Radiophonie zum Erliegen. »Funkproduktionen für kleine Kinder orientieren sich am Volksmärchengut, in dem man vermeint, ›Fernererbtes‹, überliefertes Denken und Fühlen des deutschen Volkes zu verspüren. Rundfunkkaspar [sic!] propagieren nationalsozialistisches Gedankengut.«768 Nach dem Krieg greift man für das Hörspiel zunächst wieder auf die bekannten theatralischen Formen und auf Autorenlesungen zurück.769 Erst in den fünfziger Jahren kann man den verlorenen radiophonen Faden für das Kinderhörspiel wieder aufnehmen. Von Abenteuergeschichten zum kritischen Realismus Zunächst einmal rückt als dramaturgisches Konzept neben dem Kindertheater schon Ende der zwanziger Jahre auch klassische und zeitgenössische Kinderund Jugendliteratur in den Fokus. Abenteuergeschichten von Winnetou, Tom Sawyer, Dr. Dolittle oder Emil und den Detektiven werden für den Rundfunk 767 Weber 1995, S. 62. 768 Heidtmann 1994, S. 324. 769 Krug 2003, S. 47.
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bearbeitet und richten sich an Kinder ab zehn Jahren.770 Bis weit in die fünfziger Jahre – bevor sich Schallplatten, das Fernsehen und später Kassetten als Massenmedien durchsetzen – ist das Radio mit diesen Literaturadaptionen das wichtigste Medium, um Kinderbuchklassiker und neue Kinderliteratur zu verbreiten. Immer mehr Romanadaptionen – von Erich Kästner, Kenneth Graham, Selma Lagerlöf, Kurt Held, Rudyard Kipling oder Astrid Lindgren – sind nun im Radio zu hören. Kinderbuchautorinnen und -autoren wie Josef Guggenmos, James Krüss, Otfried Preußler oder Pumuckl-Schöpferin Ellis Kaut schreiben sogar exklusiv Hörspiele für den Kinderfunk. Zu den fleißigen HörerInnen dieser Kinder- und Jugendstücke gehört damals auch die spätere EuropaHörspielproduzentin Heikedine Körting. Obwohl es schon einzelne Produktionen auf Platte gibt – auch von ihrem späteren Arbeitgeber Miller International – lernt sie das Genre Hörspiel wie die meisten Kinder ihrer Zeit aus dem Radio kennen: »Ich bin mit dem NDR aufgewachsen, besonders viele schöne Geschichten kamen aus Hannover oder auch aus Bremen. Ich habe regelmäßig die Uhrzeiten im Kopf gehabt. Abends gab es für Kleine: Husch, husch ins Körbchen.771 Und dann gab es sonntags nachmittags um zwei eine ganze Reihe, in der Eduard Marks772 vorgelesen hat. Und dann gab es eben Kalle Blomquist und die schönen Kästner-Hörspiele. Ich hatte gar kein Geld für Schallplatten. Also habe ich im wesentlichen im Rundfunk Hörspiele gehört.«773
Genauso wie Musik werden auch Hörspiele mit dem Aufkommen von Heimtonbändern und Kassetten aus dem Radio mitgeschnitten und sorgfältig gehütet. »Diese Geschichten, die am Morgen vorgelesen wurden, mit Peetz und Westphal und wie sie alle hießen, diese wunderbaren Schauspieler – das habe ich alles mitgeschnitten und mir eine große Phonothek angelegt. Also, ich habe, als es ging, mitgeschnitten aus dem Rundfunk und habe davon auch noch eine ganze Menge, zum Beispiel Thomas Mann und so, hier liegen.«774 In den sechziger Jahren beginnt sich das Erwachsenen-Hörspiel mit dem Neuen Deutschen Hörspiel zu erneuern. »Das literarische Hörspiel ist heute als Modell eindeutig erschöpft, es bringt nur mehr Gleiches, längst Dagewesenes,
770 Weber 1995, S. 57. 771 Beim NDR gab es bis in die siebziger Jahre jeden Abend um zwanzig nach sieben eine Gute-Nacht-Geschichte, die vom Erzähler Max Schweigmann vorgelesen und immer mit der Aufforderung beendet wurde: »Und nun husch, husch ins Körbchen!« vgl. Stenzel 2008, S. 439. 772 Eduard Marks war unter dem Pseudonym »Onkel Eduard« als Märchenerzähler beim NDR tätig. Vgl. Stenzel 2008, S. 438. 773 Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016. 774 Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016.
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Totes hervor. Routine, Sterilität und Phraseologie greifen um sich.«775 1961 veröffentlicht der Medien- und Literaturwissenschaftler Friedrich Knilli eine theoretische Schrift, in der er die wichtigsten ästhetischen Aspekte dieser Erneuerung gegenüber dem traditionellen Hörspiel bereits vorwegnimmt. Knilli und mit ihm künftige Produzenten Neuer Hörspiele wie Ernst Jandl, Friedericke Mayröcker oder Wolf Wondraschek besinnen sich zurück auf die akustischen Experimente der Weimarer Zeit. Einerseits möchte man das Hörspiel künftig als eigene akustische Kunstform verstanden wissen und nicht als bloßes Vehikel für geschriebene Literatur. Andererseits soll sich das Hörspiel darum auch akustisch erneuern und zu einem »Schallspiel« werden, in dem Worte, Stimmen, Geräusche und Musik nicht mehr ausschließlich zur Illustration einer literarischen Fabel verwendet werden. Sie sollen vielmehr als einander gleichwertige Grundmaterialien zur ästhetischen Gestaltung dienen, eigene Geschichten erzählen, akustische Räume und Zeiten erschaffen, die Grenzen zwischen Musik und Geräusch zerfließen lassen. Ein wichtiges Mittel dafür ist die Klangcollage 776, die praktisch alle akustischen Formen frei miteinander verbinden kann. Unter anderem auch den bislang ausschließlich journalistisch verwendeten Originalton, den direkt auf Kassetten oder Tonbänder aufgenommenen reportagehaften Vor-Ort-Ton. Es entsteht sogar die Form des reinen O-Ton-Hörspiels. Die Genregrenzen zwischen dokumentarischem Feature, dokumentarischem Hörspiel und fiktionalen Formen beginnen damit ebenso zu verschwimmen wie die Abfolge von Produktionsprozessen. »Das Tonband wird zum eigentlichen Manuskript. […] Jetzt entsteht das Manuskript erst nachträglich.«777 In den achtziger Jahren wird die Bezeichnung des Neuen Hörspiels vom Überbegriff der Ars Acustica abgelöst. Auch im Kinderhörspiel wird Radiophonie bei der Themenauswahl zum wichtigen Kriterium. Die Erzählformen werden offener, der innere Monolog und die Ich-Erzählung halten Einzug ins Kinderhörspiel. Ebenso wie die Kinderliteratur der siebziger Jahre entdeckt das Kinderhörspiel den in der Nazi-Zeit verloren gegangenen kritischen Realismus wieder. Man »konfrontiert die Kinder mit Themen wie Scheidung der Eltern, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, alleinerziehende Mütter, Ausländerfeindlichkeit, Krankheit und Tod.«778 Das traditionelle, vermeintlich »abgespielte« Radiohörspiel für Kinder mit seinen altbekannten Detektiv-, Märchen- und Abenteuergeschichten gerät ein wenig aus dem Blick und sucht sich über die Phonoindustrie andere Verbreitungswege als den Rundfunk. Im Jahr 1990 nutzen 64% der Jungen und Mädchen in ganz Deutschland 775 776 777 778
Knilli 1961, S. 21. Würffel 1978, S. 161. Würffel 1978, S. 117. Weber 1995, S. 67.
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das Radio ausschließlich, um Musik zu hören. Märchen, Krimihörspiele oder Abenteuergeschichten kommen von Kassette, Schallplatte oder CD und werden vor allem zum Zeitvertreib und gegen Langeweile eingesetzt. 779 Abbildung 30: »Kinderhörspiele und Märchen«
Quelle: Archiv Philips
779 Klingler 1996, S. 27f.
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Mit der Kassette kommt die Kinderhörspiel-Flut Im Jahr 1969 erscheint bei Miller International mit dem Label Europa zum ersten Mal eine Produktion nicht nur auf Schallplatte, sondern auch auf Kassette. Es ist die Geschichte um das Schloßgespenst Hui Buh, in der unter anderem Hans Paetsch als Erzähler und Hans Clarin als Gespenst zu hören sind. Dass diese Produktion der Auftakt zu einer insgesamt 23-teiligen Serie ist, glaubt bei Europa damals niemand. Bis zum siebten Hörspiel tragen die einzelnen Folgen noch nicht einmal Nummern. 780 Auch dass Hans Paetsch einmal als Grandseigneur der Märchenerzähler und Hans Clarin als die Stimme von Hui Buh und Pumuckl zu regelrechten Kultfiguren des Kinderhörspiels werden, ist damals noch nicht abzusehen. Bislang hat Europa neben Platten mit volkstümlicher Klassik auch eine Kinderschallplatte Die 24 schönsten Kinderlieder herausgebracht, die sich bereits millionenfach verkauft. Mit Hörspielen und mit Kassetten gibt es dagegen noch wenig Vorerfahrung: einige klassische Winnetou-Abenteuer, Märchen und den Struwwelpeter. Bei der Produktion von Hui Buh ist also keineswegs garantiert, dass sich die Geschichte im Handel gut verkaufen wird. Da die Hörspielserie von Eberhard Alexander-Burgh allerdings seit den fünfziger Jahren in mehreren Ländern bereits erfolgreich im Radio gelaufen ist, hofft man bei Europa mit der Neuproduktion aus dem eigenen Tonstudio in Quickborn nahe Hamburg das Beste. Europa setzt auf spannende, anfangs möglichst lizenzfreie und damit weniger teure Abenteuergeschichten, eine wenn auch nicht gerade experimentelle, so doch radiophone, qualitätvolle Inszenierung und eine offensive Politik der kleinen Preise: Schallplatten haben bei Europa einen Standardpreis von zunächst fünf, später sechs Mark. Kassetten kosten knapp zehn Mark und werden 1975 dem Preis der LP angeglichen und auf sechs Mark heruntergesetzt. Die Konkurrenz verkauft Platten zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Mark. Kassetten sind mit knapp dreißig Mark sogar noch teurer. 781 »Das war ein großer Unterschied. Wer hatte schon in der Zeit, sagen wir mal, zwanzig Mark Taschengeld, um sich eine Schallplatte zu kaufen? Aber sechs Mark, das war dann schon eher machbar. Und so war eine Kassette oder eine Schallplatte ein Geschenk, das die Eltern den Kindern geben konnten und Oma, Opa, alle. Und die Kinder, wenn sie gut gespart hatten, konnten sich das dann schon auch mal selber leisten.«782
780 Bastian 2003, S. 31. 781 o.A. 50/1971 Der Spiegel »Hat die Schallplatte ausgespielt?«, S. 162. 782 Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016.
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Bei Miller International ist die Gewinnmarge am Kinderhörspiel zunächst also deutlich kleiner als bei anderen Labeln. Für finanziellen Erfolg sorgt die Masse. Auch im Falle von Hui Buh. Die Serie wird mit vier Goldenen Schallplatten für mehr als 500.000 und einer in Platin für mehr als eine Million verkaufte Tonträger ausgezeichnet.783 Autor Eberhard Alexander-Burgh erhält als erster Schriftsteller eine Schallplatte in Platin. Das Buch zum Hörspiel erscheint erst 1973. Zur etwa selben Zeit, in der Hui Buh produziert wird, stößt auch Heikedine Körting, die spätere »Hörspiel-Königin«784, dauerhaft zum Unternehmen dazu, zunächst als Autorin, dann auch als Produzentin und Ehefrau des Firmenchefs Andreas Beurmann. Mit dem tragbaren Tonbandgerät Nagra und einem Kassettenrekorder zieht die studierte Juristin los, um die Geräusche und Atmosphären für ihre Hörspielproduktionen selbst aufzunehmen. »Kassetten habe ich praktisch für so Sachen genommen, die man im Hintergrund hat. Also, wenn jetzt eine Szene im Wald spielt, dann habe ich mindestens eine komplette Stunde aufgenommen. Und dann hört man eben mal einen Specht oder so. Wenn ich jetzt aber speziell einen Kuckuck oder einen Specht brauchte, dann habe ich das mit der Nagra aufgenommen und habe das dann sortiert unter der Kategorie ›Specht‹ oder ›Kuckuck‹ oder ›fließendes Wasser‹ oder ›Blubbern‹ oder ›Bienenhaufen‹. Die habe ich alle heute noch in so einem Regal mit kleinen Schubfächern. Und alle Sachen aus der Natur haben einen grünen Punkt. Und Autos und solche Sachen haben einen roten Punkt. Wasser und Wind haben dann einen blauen Punkt. Das haben wir natürlich inzwischen auch alles digitalisiert, weil man ja auch Angst hat, dass die Sachen mal irgendwann kaputt gehen oder verloren gehen.«785
Ab 1972 entsteht Heikedine Körtings erste Serie Hanni und Nanni nach den Kinderbüchern der Erfolgsautorin Enid Blyton.786 Es folgen ganz im Stil der traditionellen Kinderhörspiele, die man aus dem Radio kennt: Märchen-, Abenteuer- und Detektivserien. »Ab 1978 ging es dann Schlag auf Schlag: Es kamen Titel wie Die fünf Freunde, TKKG und eben Die drei ???, die dann wirklich alles geschlagen haben. Und das ist nun ja einfach die erfolgreichste Hörspielserie der Welt inzwischen.«787 Im Herbst 2012 verkündet das Label, das inzwischen zu Sony Entertainment gehört, in einer Pressemitteilung, man werde die Abenteuer der Drei ??? »bis ans Ende aller Bänder« auf Kassette produzieren, da das Interesse daran nach wie vor ungebrochen sei. Die Kassettenproduktion 783 Bastian 2003, S. 38. 784 Beurmann 2011. Heikedine Körting wird 1985 mit über 1.200 produzierten Hörspielen ins Guiness-Buch der Rekorde eingetragen. Inzwischen hat sie bei mehr als 2000 Hörspielen für das Label Europa Regie geführt. 785 Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016. 786 Bastian 2003, S. 32. 787 Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016.
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der meisten anderen Kinderserien ist inzwischen eingestellt. Von TKKG bis Fünf Freunde erscheinen neue Geschichten vor allem als CDs und Files für den Download. Für die Fans der Drei ??? gehört der alte Tonträger aber noch heute zum ultimativen Hörerlebnis dazu. Europa setzt 1970 mit Hui Buh und seinen kostengünstigen Nachfolgern also nicht nur das Kinderhörspiel, sondern auch die Kassette als Tonträger für die neuen Produkte auf die Erfolgsspur. Umgekehrt verhilft der Durchbruch der Kassette auch dem Kinderhörspiel zum kommerziellen Durchbruch. Mit Miller International konkurrierende Firmen wie die Polygram-Holding, Teldec oder Phonogram geraten durch den einheitlichen Niedrigpreis der Europa-Produkte Anfang der siebziger Jahre unter Zugzwang und gleichen ihre Kassetten ebenfalls dem Preisniveau von Langspielplatten an. Kommerzielle Hörspiele und Musik erreichen mit Kassetten nun Kinder aller Schichten, zu jeder Zeit und bald auch in jedem Zimmer der elterlichen Wohnung, im Urlaub und im Auto. Kassetten bringen millionenfach Kindergeschichten in Umlauf und bewähren sich wiederum beim praktischen Einsatz im Kinderzimmer: »Die Kassette war einfach im Umgang für Kinder, auch für kleine Kinder schon. Bei Schallplatte ist es ja so, dass sie doch relativ empfindlich ist, dass sie verkratzen kann, dass der Tonarm ganz vorsichtig aufgelegt werden muss. Während die Kassette, die schiebt man einfach in seinen Rekorder rein und dann läuft da erstmal die A-Seite. Das ist auch ein Vorteil, dass das nach der A-Seite erstmal zu Ende ist, und dass man grundsätzlich ganz leicht eine Pause einlegen kann.«788
Sozialwissenschaftler wie Heinz Hengst kommentieren die kometenhaft steigenden Absatzzahlen von Kassetten Ende der siebziger Jahre noch mit kritischem Spott: »Nach Auffassung des Miller-Managements wird die Kassette die Kinderschallplatte in nächster Zukunft vom Markt verdrängen. Die Firmenrepräsentanten sehen darin so etwas wie die Entwicklung von der ›Pferdekutsche zum Automobil‹.«789 Im Jahr 1978 stellt der deutsche Medieninformationsdienst rundy dann aber tatsächlich fest: »Im Kinderzimmer hat der Tonträger Kassette die Platte endgültig in die Ecke gedrängt. Alle Firmen stimmen überein: Über die Kinderproduktionen hat sich die Attraktivität der Musikkassette am schlagkräftigsten erwiesen. Unverwüstlichkeit und Handlichkeit überzeugen jedoch nicht nur die Kinder, sondern jene in den Leistungsalltag hineinwachsenden Jungeltern, die mit dem Kassettensystem groß geworden sind.«790
788 Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016. 789 Hengst 1979, S. 9. 790 Hengst 1978, S. 8.
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Die Hörspielhersteller liefern auch gleich passendes Zubehör zur praktischen Archivierung von Kassetten. Es sind drehbare Kassettenrondelle auf dem Markt, in die Kinder ihre Kassetten einsortieren können, aber auch Hörspiel-Koffer mit zwölf oder dreißig Einschubfächern und Kassettenregale, die an die Kinderzimmerwände gedübelt werden können.791 Auch dank der Popularität von Kassetten steigt zwischen 1976 und 1977 der Umsatz der Phonobranche mit Kindertonträgern von 72 auf 130 Millionen Mark und verdoppelt sich innerhalb eines Jahres damit beinahe. 1977 übertrifft die Biene Maja mit mehr als zwei Millionen verkauften Tonträgern die Verkaufszahlen von Boney M., Elvis Presley und den Beatles. Im selben Jahr finden insgesamt um fünfzehn Millionen Schallplatten und Kassetten ihren Weg in die Kinderzimmer. Kinderproduktionen halten damit etwa sechzehn Prozent am westdeutschen Tonträgermarkt792 und lassen sich leicht einteilen in Funnies, Märchen, Kinderlieder, Mädchen-, Detektiv- und Pferdegeschichten, Krimi- und Abenteuerserien.793 1985 setzt die Branche eine neue Rekordmarke: Es werden rund vierzig Millionen Kinderhörspiele und -lieder verkauft – allein auf Kassette. Ihre Lieblingskassetten hören Kinder dabei bis zu hundertmal. 794 Nicht nur die Produkte von Europa sind Bestseller der Branche. Die Labels Kiosk und Karussell haben sich dem Marktführer an die Fersen geheftet. Mit Pumuckl, Benjamin Blümchen und Bibi Blocksberg erobern neue Hörspielcharaktere die Welt der Kinder, die bald auch als Spielfiguren, Kinderzeitschriften, Bettwäsche, Radiergummis, Briefpapier, Bilderbücher, Zeichentrickserien und Kinofilme vermarktet werden. Kassettenhörspiele sind nebenbei ausgezeichnete Promotoren für Fernsehcharaktere. Andersherum gibt es die Soundtracks zu bekannten Fernsehserien und Kinofilmen als Kassetten-Hörspiele, was den Umsatz auf beiden Seiten zusätzlich ankurbelt. »Eines der markantesten Kennzeichen des seriellen Medienmarktes ist der dichte Medienverbund, in dem die verschiedenen Medien aufs engste miteinander verknüpft sind. […] Die MC-Konzerne selbst binden ihr Kassettenangebot immer häufiger in ein solches, eigenes Zusatzprogramm an Utensilien rund um die MC ein.«795 Häufig stürzen sich auch mehrere Labels auf dieselben Geschichten. Vor allem, wenn sie rechtefrei sind, die Umarbeitung zum Hörspiel und die Vermarktung also keine zusätzlichen Kosten verursachen. Die Kinderserie um den schwarzen Hengst Black Beauty erscheint zum Beispiel gleichzeitig, aber in 791 792 793 794 795
Bastian 2003, S. 43. Hengst 1979, S. 9ff. Germann , S. 142. Münder 1995, S. 132. Germann 1996, S. 138.
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unterschiedlichen Inszenierungen bei den Labeln Europa und MK. Carlo Collodis Geschichten vom Holzkasperle Pinocchio gibt es gleich in dreifacher Ausfertigung. Neben Europa springen auch die unmittelbaren Konkurrenten Karussell und Poly auf das Thema an. Alle drei finden ihre Abnehmer, denn jedes Label hat seine eigenen Fans, jede Serie ihre Liebhaber. In jedem Fall sind Kassettenhörspiele aus keinem Kinderzimmer mehr wegzudenken. Sie sind nach Bilderbüchern die ersten Medien, mit denen kleine Kinder eigene Erfahrungen machen. Und sie halten sich als Standardtonträger bis ins Erwachsenenalter. Schauspieler, die feste Sprecherrollen in Kinderserien übernehmen, werden mit ihren Stimmen über Hörspielkassetten bekannter als mit ihren Gesichtern über Bühne oder Fernsehen. Der eingangs bereits erwähnte Hans Paetsch prägt als Erzähler auf Dutzenden Märchen- und Abenteuerkassetten Millionen Kinder und Jugendliche. Die Stimme von Schauspieler Peter Pasetti verbinden die Fans der Drei ??? bis heute mit der von Alfred Hitchcock. Als Schauspieler Edgar Ott, die Stimme von Benjamin Blümchen, im Februar 1994 überraschend stirbt, ist es schwer, einen Nachfolger zu finden, den die Fans akzeptieren. »Deswegen nennt man die Hörspiel-Generation auch die Kassetten-Generation. Das ist vor allem so in den Achtzigern und Anfang der neunziger Jahre gewesen, wo dann auch eben der Sony-Walkman auf den Markt kam und ein deutsches Kind so im Durchschnitt zwischen fünf und acht Musikkassetten oder Hörspielkassetten in seinem Köfferchen mit sich herumtrug und von morgens bis abends oder doch zumindest häufig Kassette hörte.«796
Aus Kassettenhörspielen werden Live-Auftritte In den neunziger Jahren flaut der große Boom ab. Heute würde man wohl von einem Platzen der Hörspiel-Blase sprechen. Der Markt ist gesättigt. Im Medienverbundsystem der Kinderunterhaltung haben nun andere die Nase vorn: Fernsehen, Computerspiele und Video. Die Hörspielproduktion großer Labels wie Europa gerät wegen schlechter Verkaufszahlen ins Stocken. Vor der Flaute gibt es Kassetten überall zu kaufen: im Buch- oder Spielwarenhandel, in Elektrofachmärkten, Tankstellen, Supermärkten und – vor allem – in jedem Kaufhaus. »Da konnten Sie in ein großes Kaufhaus gehen und fanden dort mehrere Meter lang Racks mit Kassetten und Schallplatten. Und dann wurde das eben nicht mehr gebraucht. Und die Platzierungsmöglichkeiten wurden immer kleiner, immer kleiner. Erst war es plötzlich ein kleinerer Stand, und dann ein noch kleinerer Stand – eigentlich wie bei jeder Ware, die nicht so läuft. Man kriegt dann einfach weniger Verkaufsfläche. Und man fliegt aus be796 Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016.
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stimmten Häusern raus. Karstadt war zum Beispiel früher eine der größten Absatzstellen für uns. Da waren wir dann plötzlich mal ganz verschwunden.«797
Nicht mehr alles, was Europa anpackt, wird automatisch zu Gold. Gruselserien für Erwachsene – wie Thriller von Edgar Wallace oder die Horror-Stories um den fiktiven Serienmörder Freddy Krüger – werden zum Beispiel sang- und klanglos vom Markt genommen, nur wenige Folgen, nachdem Europa mit der Produktion begonnen hat. Es kommen Beschwerdebriefe wegen Blutrünstigkeit im Label an. Und die Serien spielen kein Geld ein. Hörspiele laufen nicht mehr. Also stellt man sie ein. Heute hofft Heikedine Körting auf Streaming-Dienste und Online-Abos, um den in Vergessenheit geratenen Hörspielen von damals in einem zweiten Anlauf zum erhofften Erfolg zu verhelfen. »Denn wir haben hier eine ganze Menge von Dingen mit großartigen Schauspielern. Gerade zum Beispiel Edgar Wallace. Wer ist da nicht alles Tolles dabei: von Günther Ungeheuer bis Johannes Messemer und Horst Frank, also die ganz großen Darsteller. Das tut einem ja richtig weh, dass das bei uns hier einfach nur auf dem Dachboden schlummert. Und darum freue ich mich sehr auf diese neue Verbreitung.«798
Eine zweite Welle, eine »Wiederauferstehung« der Kinderhörspiele beginnt nach einigen Jahren der Flaute zum Ende der neunziger Jahre hin. 799 Die Kassettenkinder der siebziger und achtziger Jahre sind inzwischen erwachsen geworden, haben selbst Kinder und entdecken die Hörspiele ihrer Kindertage für sich und ihre Jüngsten wieder neu. Wer ein paar Jahre zuvor seine Sammlung auf dem Flohmarkt verhökert hat, beginnt nun nicht selten damit, die weggegebenen Schätze genau dort wieder nachzukaufen. Kinderkassetten mit den Originalstimmen der achtziger Jahre sind mit einem Mal gesuchte Kultobjekte. Seit Herbst 2001 veröffentlicht Europa wegen großer Nachfrage unter dem Motto »Rückkehr der Klassiker« die gesuchten Serien der Achtziger wieder neu. Darunter ist auch ein Relaunch der Serie Hui Buh.800 Im Internet entstehen parallel dazu unzählige Fan-Seiten und FanHörspieldatenbanken,801 auf denen annähernd alle jemals produzierten, kommerziellen Kassettenhörspiele gesammelt, bewertet und dokumentiert werden. Gesprächs-Foren, Tauschbörsen, Manuskriptdienste und Infoseiten werden dort von Fans für Fans produziert und organisiert. Ähnlich wie im Punk-Fanzine der 797 798 799 800
Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016. Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016. Beurmann 2011, S. 171. Vgl. https://www.europa-kinderwelt.de/ueber-europa/geschichte, abgerufen am 11.2.2017. 801 Zum Beispiel: www.rocky-beach.com für die Drei ???, www.hoerspielland.de oder www.hoerspiele.de
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siebziger und achtziger Jahre übernehmen die Seiten der Hörspielfans auch die Funktion, szenerelevante Adressen und Termine zu veröffentlichen. Zum Beispiel postet svenja am 2.3.2017 auf der Fanseite rocky-beach.com einen Link zu einem Youtube-Video, in dem Heikedine Körting verkündet, dass der deutsche Schauspieler Axel Milberg künftig die Erzählerrolle bei den Drei ??? übernehmen wird.802 Auch wann und wo neue Folgen einzelner Serien in öffentlichen »Prelistenings« zu hören sind, oder wann das Live-Hörspiel der Drei ??? wieder auf Tour geht, ist im Terminkalender der Seite vermerkt. 803 Das multimediale Spektakel Live-Hörspiel holt im Jahr 2002 erstmals die »unsichtbaren« Kassetten-Stimmen der Kinderdetektive Justus Jonas, alias Oliver Rohrbeck, Bon Andrews, alias Andreas Fröhlich, und Peter Shaw, alias Jens Wawrczeck, auf die Bühne. Die inzwischen in die Jahre gekommenen SprecherStars tragen live einen Hörspieltext vor, ein Geräuschemacher untermalt die Story mit akustischen Effekten. Visuelle Eindrücke projiziert ein Beamer auf die Bühnenleinwand. Schon zum ersten Live-Hörspiel im Hamburger Audimax kommen 1800 Menschen. Inzwischen gibt es Shows vor 20.000 Zuschauern auf der Berliner Waldbühne, erzählt Oliver Rohrbeck in einem Interview mit der Wirtschaftswoche: »Denn es hören zwar sehr viele Menschen seit ihrer Kindheit diese Kassetten und CDs. Das tun sie aber natürlich meistens zu Hause. Deshalb kamen sich die meisten wohl schon etwas komisch vor, auch als 30-jähriger Erwachsener immer noch gern mal so ein Hörspiel wie früher zum Einschlafen aufzulegen. Und dann kamen die zu uns zum LiveHörspiel und haben sich plötzlich unglaublich wohlgefühlt, mit so vielen Gleichgesinnten zusammen ihren Kindheitshelden zu lauschen. Da haben sie gemerkt: Eigentlich bin ich ziemlich normal.«804
»Die elektronische Großmutter«805: Kritische Blicke auf Kinderkassetten Als die Verkaufszahlen von Kinderkassetten alle Rekorde sprengen, bereits Vierjährige schon häufig im Besitz eines Kassettenrekorders sind, mit Kassettengeschichten und -liedern beschallt werden beziehungsweise sich selbständig damit beschallen, bleibt es natürlich nicht aus, dass kritische Stimmen laut werden. Das beginnt bereits in den siebziger Jahren, als Hörspielkassetten und -schallplatten erstmals in hoher Auflage und zu besonders niedrigen Preisen auf dem Markt erscheinen. Noch ganz im Zeichen der konsumkritischen Stimmung 802 803 804 805
https://www.youtube.com/watch?v=hsNXfQAUaV4, abgerufen am 13.3.2017. http://www.rocky-beach.com/php/wordpress/, abgerufen am 13.3.2017. Steinkirchner 2013. Funk-Hennigs, S. 180.
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des Jahrzehnts hegen Pädagogen und Psychologen großes Misstrauen gegenüber allen kommerziellen Massenmedien, gegenüber Massenmedien für Kinder und Jugendliche im Besonderen. Darum richten sich stellvertretend viele Attacken ganz gezielt gegen Hörspielkassetten und Kassettenrekorder, die als pars pro toto für alle klingenden Massenprodukte der Kulturindustrie stehen. Es werden Begriffe benutzt wie »Sensationierung der Hirne« oder »akustische Unzucht mit Abhängigen«.806 Sehr oft fällt auch das Wort »billig«: Kassetten seien »billig« produziert, »billig« zu kaufen, »Billigschrott« oder ein »billiges« Vergnügen – in jedem Fall besonders dazu angetan, so der Vorwurf, statt zur pädagogischen Bildung und Schulung des kindlichen Geschmacks, zur »regressiven Bedürfnisbefriedigung«807 benutzt zu werden. Statt die kindliche Phantasie und Kreativität aktiv anzuregen, machten sie aus kindlichen Individuen passive Konsumenten. Auch das musikalische Wahrnehmungsvermögen und damit das musikalische Werturteil von Kindern werde durch ständigen Konsum einheitlicher, stereotyper Massenware eingeschränkt. Grundsätzlich sei durch häufigen Konsum von Hörspielkassetten auch allgemein »eine Entspezifizierung und Entdifferenzierung der Wahrnehmung wahrscheinlich.«808 Den Argwohn vieler Kritiker erregt außerdem die Tatsache, dass schon kleine Kinder ihren Kassettenrekorder sozusagen »im Schlaf« bedienen und damit selbständig ihren Kassettenkonsum steuern können.809 Sie sind also nicht mehr angewiesen auf bestimmte, kindgerecht und pädagogisch gestaltete Zeitfenster im Radioprogramm oder auf andere Unterstützung durch Erwachsene. Kinder eignen sich den Umgang mit »ihren« Kassetten also ohne die Hilfe von außen an, was umgekehrt bedeutet, dass Eltern keine Kontrolle und nur wenig Einfluss auf den Medienkonsum ihrer Kinder haben. Vor allem in den ausgehenden siebziger Jahren wird dieser gesteigerte selbständige Hörspielkonsum als Symptom für eine grundlegende soziale Schieflage der deutschen Gesellschaft betrachtet: So müssten zum Beispiel viele Mütter mit Kindern unter vierzehn Jahren, »denen die Familienpolitiker (eigentlich) die zentral wichtige, familienstabilisierende Mutter- und Hausfrauenrolle zuschreiben«810, arbeiten gehen, weil die Konsumgüterindustrie nach weiblichen Arbeitskräften verlange, um die Absatzförderung voranzutreiben. Nicht einmal die Familienpolitik könne sich dem entgegenstellen. Oft genug kämen die berufstätigen Mütter nun müde und gestresst nach Hause, und – weil nicht genü806 807 808 809 810
Wicke 2016, S. 3. Funk-Hennigs , S. 207ff. Hengst 1979, S. 68. Funk-Hennigs , S. 206. Hengst 1979, S. 10.
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gend andere entlastende Einrichtungen vorhanden seien – bleibe ihnen wenig anderes übrig, als Hörspielen einen Teil der Kindererziehung zu überlassen. Es ist in diesem Zusammenhang die Rede von »synthetischen Kommunikationspartnern«, »Babysittern«, »Tranquilizern« oder der »elektronischen Großmutter.«811 Ein Blick vom heutigen Standpunkt aus in die Vergangenheit, in der diese harsche Kritik von Pädagogen, Musikwissenschaftlern, Kinderpsychologen und -neurologen geäußert wird, relativiert die damaligen Ansichten. Wir wissen heute, dass die Befürchtungen hinsichtlich psychischer Spätschäden durch Kompaktkassetten sicherlich übertrieben waren. Die wenigsten Kassettenkinder zeigen als Erwachsene Zeichen von Deprivation oder Bindungsstörungen aufgrund übermäßigen Kassettenkonsums in Kindertagen. Dafür sind viele von ihnen früher und selbständiger mit Literatur in Kontakt gekommen als ihre Altersgenossen vor der Kassettenzeit. Im Jahr 2000 beobachtet das Diskussionsforum Deutsch im Schulunterricht: »Die literarischen Stoffe sind Kindern schon bekannt, bevor sie lesen können. Vor allem Kinder im Vor- und Grundschulalter, die die Lesefähigkeit noch nicht oder gerade erst erworben haben, rezipieren Kinderliteratur hauptsächlich über die auditiven und die audiovisuellen Medien. Das heißt, dass Kinder via Hörspielkassetten wesentlich früher mit literarischen Techniken und Erzählformen konfrontiert werden, als es über das Printmedium Buch möglich gewesen wäre.«812 Die geschilderten kritischen Debatten zum Kassettenkonsum von Kindern und Jugendlichen lassen wieder einmal das im Zusammenhang mit dem Walkman bereits besprochene, vertraute Muster der konflikthaften kulturellen Aneignung erkennen. Es tritt immer dann besonders stark zu Tage, wenn sich ein neues Medium anschickt, Teil der jugendlichen und kindlichen Alltagskultur zu werden. Denken wir neben Walkman und Kassette an den Gameboy oder das iphone unserer Tage: Permanente öffentliche Debatten, Reibungen, Diskussionen, Konfrontationen, Konflikte und Regulierungen sind offenbar essentielle Bestandteile eines jeden kulturellen Aneignungsprozesses. Und je heftiger diese Debatten ablaufen – so meine Beobachtung – umso präsenter und allgegenwärtiger ist eine neue Technologie bereits im Alltag der Menschen. »Das gemeinsame Auftreten eines weit verbreiteten Konsums mit einer ebenso weit verbreiteten kritischen Mißbilligung ist ein ziemlich sicheres Anzeichen dafür, dass eine Kulturware oder Praktik populär ist.«813 Im Rückschluss kann man also aufgrund der Heftigkeit, mit der über das Kassetten-Hörspiel für Kinder diskutiert wird, 811 Hengst 1979, S. 10. 812 Weber 2000, S. 134. 813 Fiske , S. 51.
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besser noch als über statistische Zahlen erkennen, dass es in der Blütezeit der Kassettenjahre für viele Kinder und Eltern tatsächlich unverzichtbarer Teil des alltäglichen Lebens ist. Wir können in der Rückschau auch beobachten, dass die Kassette – wieder einmal – ihren ganz eigenen und überraschenden Gesetzen gefolgt ist. Obwohl vor allem während der Hochphase der kommerziellen Kinderhörspiele tatsächlich eine große Menge qualitativ minderwertiger Produktionen auf dem Markt ist und sich die Kassette dafür als preiswertes, robustes Verbreitungsmedium auch anbietet, stellt sie gleichwohl nicht nur eine Konkurrenz, sondern auch eine Rettung dar für künstlerisch hochwertige und außergewöhnliche Kinderproduktionen: Die aufwändig und kostenintensiv produzierten Kinderhörspiele aus siebzig Jahren Rundfunkgeschichte schlummern in den Archiven der Funkhäuser. Das Radio hat als Unterhaltungsmedium für Kinder massiv an Bedeutung verloren, während Mitte der neunziger Jahre Fernsehen, Video und Computerspiele, aber auch kommerzielle Schallplatten und Kassetten die Big Player im kindlichen Medienverbund sind. Die Einführung des privaten Rundfunks setzt die öffentlich-rechtlichen Anstalten zusätzlich unter einen gewaltigen Konkurrenz- und Spardruck. Im neu entstehenden Formatradio gibt es immer weniger Platz für Kindersendungen und damit auch für Hörspiele. Die Sparte steckt also in einer massiven Krise, es wird sogar darüber diskutiert, die Abteilung Kinderhörspiel in einigen Funkhäusern ganz zu schließen.814 Auch zu Beginn des nächsten Jahrtausends sind diese Überlegungen noch nicht endgültig vom Tisch: »Immer wenn in den Rundfunkhäusern von einer ›Verschlankung der Programme‹ die Rede ist, kommt automatisch das Hörspiel ins Visier. Die Medienzukunft ohne Hörspiel, zumindest eine Zukunft mit wesentlich eingeschränktem Hörspielangebot ist zur Zeit durchaus denkbar.«815 Mitten in dieser Krise finden Kinderhörspiele aus dem Radio via Kassette und später über die CD glücklicherweise im Buch- und Tonträgerhandel einen attraktiven neuen Absatzmarkt für ihre Produkte. »Mittlerweile haben die Rundfunkanstalten die Kassette (das Audio-Book, das Hörbuch) als ›Überlebenschance‹ für ihre auditive Kunst erkannt und drängen seit den letzten Jahren verstärkt auf den Markt (in Koproduktion mit Phonofirmen oder Buchverlagen). Dadurch hat sich das Angebot auf dem Kinderkassettenmarkt qualitativ verbessert.«816 1996 beginnt in Deutschland der Hörbuch-Boom. In diesem Jahr sind zwischen tausend und zweitausend Titel für Erwachsene auf dem Markt. Fünf Jahre später sind es zwischen sechs- und siebentausend. Harry Potter verkauft sich als Hör814 Heidtmann 1994, S. 326. 815 Krug 2003, S. 91. 816 Weber 1995, S. 133.
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buch auf Kassette und CD 700.000 Mal. Der kleine Prinz geht 130.000 Mal über den Verkaufstisch und Die Päpstin 35.000 Mal.817 Ein letzter Punkt, den ich in diesem Zusammenhang gerne ansprechen möchte, weil er für die folgende Analyse der Prozesse im Kommunikationsnetzwerk Kinderkassette wichtig ist: Kassetten regen durch ihre Möglichkeit, selbst Aufnahmen zu machen, stets zum produktiven Umgang mit der Technologie an. Wir haben das bei den KassettentäterInnen ebenso beobachten können wie im kindlichen Spiel oder beim »Tonbandeln«. Sogar wenn Kassetten – wie im Fall der Kinderhörspiele – Träger fertiger und standardisierter Inhalte sind, verlieren sie offenbar ihr kreatives Potential nicht. Im Gegenteil. Möglicherweise regen gerade hoch schematisierte Formen wie Formatradiosendungen, auf die ich im nächsten Kapitel noch zu sprechen kommen werde, oder eben Kinderhörspielserien zum Nachahmen und DIY an. Schließlich ist die Produktion eines eigenen Hörspiels oder einer eigenen Radiosendung kein grundsätzlich anderes technisches Verfahren als das des vertrauten Abspielens. Niederschwellig also. Es muss lediglich eine zusätzliche Taste am Rekorder bedient werden. Annette Bastian erinnert sich in einer autobiographischen Dokumentation: »Mit dem Kassettenrekorder begann im Kinderzimmer eine neue Ära. Hörspiele waren nicht mehr etwas Abstraktes, das man nur auf Platten gepresst kaufen konnte, wir konnten nun selbst Geschichten auf Tonband aufnehmen. Wir experimentierten mit Geräuschen, versuchten uns spannende Geschichten auszudenken, unsere Kreativität kannte keine Grenzen.«818
Bereits Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre erkennen auch Lehrer und Erzieher die medienpädagogisch nutzbaren Ressourcen von Kinderhörspiel und Kassette: »Gegen die großen Herstellerfirmen mit ihrem riesigen Billigangebot wird kaum etwas auszurichten sein. Dennoch sollten Musikpädagogen sich ermutigen lassen, im Bereich der Kinderschallplatte und -cassette aktiv zu werden. […] Die Lehrer sollten sich den Umstand zunutze machen, daß viele Kinder zwischen 6 und 9 Jahren ein eigenes Gerät besitzen, oft schon vom Vorschulalter an perfekt mit der technischen Bedienung dieser Geräte vertraut sind.«819 »Mit eigenen Klang- und Hörspielproduktionen können sich Kinder das Hörmedium kreativ erschließen. […] Es können Geräuschhörspiele entwickelt werden. Sie sind besonders zur Erprobung der sinnvermittelnden Möglichkeiten akustischer Zeichnen geeignet.«820
817 818 819 820
Rühr 2010, S. 86f. Bastian 2003, S. 37. Funk-Hennigs , S. 209f. Hengst 1979, S. 69.
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Heute, im Zeitalter von Multimedia und Internet, wird Hörspielen sogar eine wichtige sinnvermittelnde Funktion in der kindlichen Entwicklung zugeschrieben: »Hörmedienpraxen sind dabei eng mit lebensweltlichen Erfahrungen und Handlungspraxen im Kindesalter verquickt. Sie beeinflussen die Farben des Alltags und erweitern den Horizont von Erleben und Handeln; sie sind ebenso Agens wie moderierende Instanz in Prozessen der Selbstfindung, Selbstreflexion und Individuation.«821 Wie die Hörspielszene mit und über Kassetten spricht Zunächst einmal muss man festhalten, dass es in den achtziger Jahren in keinem anderen Land der Welt eine ähnlich blühende Kinderhörspiellandschaft gegeben hat wie in Deutschland. Nicht in Amerika, dem literarischen Ursprungsland vieler Erfolgsserien.822 Und auch nirgendwo sonst in Europa oder in Asien. Zwar kommen in Frankreich 1953 die sogenannten »livres-disques« auf den Markt, Wort-Schallplatten, die zusammen mit einem Kinderbuch verkauft werden,823 auch »livres-cassettes« werden in den achtziger Jahren hergestellt. Meist handelt es sich dabei aber um eine klassische Lesung: »Texte (œuvre littéraire, livre pratique, etc.) enregistré sur une cassette vendue généralement dans un coffret dont l'aspect évoque un livre.824 Einen ähnlich großen Markt mit Hörspiellabels, die ausschließlich für Kinder und Jugendliche produzieren, wie in Deutschland gibt es nicht. Auch in Spanien werden zwar Bücher von Enid Blyton oder TKKG verkauft, entsprechende Hörspielserien dazu sind jedoch nicht im Handel. 825 Die Gründe dafür sind nicht wissenschaftlich untersucht, sie lassen sich meiner Meinung nach aber zumindest skizzenhaft herleiten: Während in Deutschland das Fernsehen bis zur Einführung des dualen Rundfunksystems 1984 auf drei öffentlich-rechtliche Kanäle beschränkt ist, die vorwiegend am Wochenende und am Vorabend Kinderprogramm senden, und die Computer- und Spieleindustrie noch in den Kinderschuhen steckt, ist Amerika den Deutschen in Sachen elektronischer Kinderunterhaltung um Jahre voraus. Ende der siebziger Jahre gibt es schon eine erkleckliche Anzahl an Konsolen für Videospiele auf dem Markt. Die ersten Heimcomputer werden serienreif. Zu diesem Zeitpunkt strahlt das ameri-
821 Hartung 2014, S. 374. 822 1985 hatten nur 8 Prozent der amerikanischen Bevölkerung Bücher auf Kassette gehört. 1994 waren es knapp 25 Prozent. Vgl. http://www.diplom.de/e-book/220055/ der-hoerbuchmarkt-in-deutschland, abgerufen am 13.3.2017. 823 Häusermann 2017, S. 44. 824 http://www.larousse.fr/dictionnaires/francais/livre-cassette_livres-cassettes/47534, abgerufen am 13.3.2017. 825 Bastian 2003, S. 138.
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kanische Fernsehen Serien aus wie die Shortcake Stories für Kinder, die erst in den achtziger Jahren als Emily Erdbeer über den Atlantik nach Europa kommen. Als das deutsche Label Europa versucht, auf dem amerikanischen Markt mit Kinderhörspielen Fuß zu fassen, gelingt das nicht, weil der Markt an elektronischer Unterhaltung für Kinder bereits von anderen Playern bestimmt wird. »Und dann war es einfach so, dass damals zu der Zeit, als wir hier Schallplatten machten, die Kinder in Amerika schon fernsehen durften, und das von klein auf an. Zum Beispiel die Shortcake Geschichten und solche Sachen. Und die wurden dann einfach aus dem Fernsehen genommen und auf kleine Singles gepresst und auch mit ins Spielzimmer gegeben. Aber es hat nicht diese Kultur des speziell entwickelten Hörspiels gegeben.«826
In Deutschland kann man dagegen auf die Experimente und Traditionen der Weimarer Zeit und der Wirtschaftswunderjahre zurückgreifen. Und es gibt für einen Zeitraum von einigen Jahren keine andere selbst bedienbare Unterhaltungselektronik für Kinder als Schallplatten und Kassetten. Das reicht, um eine Generation zu prägen. Die Kommunikationsmuster, die ich im folgenden beschreibe, existieren also – anders als die der Punk-, der Kassetten- oder der Mixtaperszene – in dieser Form tatsächlich nur in Deutschland und entsprechen dabei in den Anfangsjahren des Kinderhörspiels denen der klassischen massenmedialen Kommunikation: Die Kommunikation erfolgt von einem an viele. Wichtigster Kommunikator für das neue Genre ist der Rundfunk. Er ist zentraler kommunikativer Knoten zwischen Autoren, Regisseuren, Schauspielern oder Sprechern und Rezipienten. Vom Rundfunk gehen alle Botschaften in Richtung Rezipienten als standardisierte monologische Kommunikationsimpulse aus. An den Radiogeräten sitzen die Kinder und hören an, was ihnen zu vorher festgelegten Zeiten über Lautsprecher geboten wird. Auf Länge, Form, Auswahl der Stoffe und Inhalte der Sendungen haben sie keinen Einfluss. Am Ende einer Kindersendung ist normalerweise auch die Kommunikation zu Ende, denn die Eltern regeln als kontrollierende und steuernde Instanzen der Rezipienten die Dauer des Kommunikationsprozesses und schalten das Radio aus. Ganz ähnlich verhält es sich zunächst, als die Phonoindustrie mit Schallplatten und Kassetten in die Kommunikation eingreift. Noch immer ist der Prozess monologisch, wenige senden an viele, die Rollen Sender-Empfänger sind festgelegt und lassen sich auch nicht verändern. Es gibt mit der Phonoindustrie lediglich einen zusätzlichen zentralen kommunikativen Knoten, an den sowohl eine künstlerische Produktion als auch Werbung, Vertrieb und Marketing angebunden sind. Anders als beim Radio sind Hörspiele also nicht nur mit ästhetischen oder 826 Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016.
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pädagogischen Bedeutungen aufgeladen, sondern ganz klar auch mit kommerziellen Interessen. Der Kommunikationserfolg mit dem Rezipienten wird zum Wirtschaftsfaktor. Eine gelungene Anschlusskommunikation an das Hören einer Platte oder Kassette besteht aus Sicht der Produzenten im Kauf, beziehungsweise im Verkauf eines weiteren Tonträgers. Eltern werden als potentielle Käufer einer Kassette oder Schallplatte mittels Werbung ebenso angesprochen wie Kinder, die diese später hören. Allerdings erhalten die Kinder mit Schallplatten und wegen ihrer selbständigen Bedienbarkeit vor allem mit Kassetten auch bedingte Freiheiten in der Gestaltung der Kommunikation. Weil die Inhalte auf einem Tonträger gespeichert sind, können Kinder asynchron hören, mit Zustimmung ihrer Eltern827 also wann und so oft sie wollen und – ganz anders als mit dem Radio – auch was sie wollen und zum Zweck, der ihnen gerade nützlich erscheint. »Kinder schätzen Schallplatten und Tonkassetten nicht zuletzt deswegen, weil sie sich wie kein anderes Medium zum Tagträumen und zur emotionalen Stimulierung eignen. Schließlich kann man seine Stimmungen nicht an den Terminen und Programmen der Rundfunkanstalten ausrichten.«828 Wichtig ist auch, dass Kinder ihre KasssettenHörspiele parallel zu anderen Tätigkeiten hören können und an Orten, die außerhalb des Wohn- oder Kinderzimmers liegen. »Daraus, dass Hörmedien wichtige andere Sinne, vor allem den Sehsinn, unbeschäftigt lassen, hat sich eine besondere Form der Nutzung entwickelt: die Nutzung als Begleit- oder NebenbeiMedium. […] Dabei ist im Allgemeinen das Hörmedium der Begleiter, der sich der physischen Tätigkeit unterordnet.«829 Gemeinsam mit der Plattenindustrie kommen zusätzliche Akteure zum Netzwerk dazu: Zum Beispiel sind das andere kommerzielle Hersteller von Spielfiguren, Kinderzeitschriften, Sammelheften und Zeichentrickserien – alles Akteure, die Eltern und Kindern ebenfalls standardisierte mediale Kommunikationsangebote machen. Auch das Fernsehen tritt als neuer Akteur dem kommunikativen Netzwerk des Kinderhörspiels bei, indem es Serien um die Hörspiele herum gestaltet, Filme produziert oder Fernseh-Soundtracks von Serien wie Alf oder Nils Holgersson zu Hörspielen umarbeitet. Buchverlage gehen oft denselben Weg mit ihren Produkten: das Buch zum Hörspiel und das Hörspiel zum Buch. Damit kommen zusätzlich zum rein akustischen Kommunikationsweg der Radiozeit auch andere Kommunikationswege zum Netzwerk Kinderhörspiel hinzu: audio827 Bei Europa waren Kassetten und Schallplatten beispielsweise mit einer Altersempfehlung gekennzeichnet, die nicht von den Verkaufsstellen, sondern nur über die Eltern kontrolliert werden konnte. 828 Hengst 1979, S. 3. 829 Häusermann 2010, S. 21f.
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visuelle, schriftliche, direkte. Die Vertriebspartner der Phonoindustrie liefern zum Beispiel als Akteure gleichzeitig auch eine Art »Szenetreffpunkte« für das Netzwerk: Kaufhäuser, Platten-, Elektro- und Buchläden, in denen zusätzlich zur Kommunikation via Hörspiel nun auch direkte Kommunikation über das Hörspiel stattfindet. Die Kinder treffen Gleichgesinnte, lassen sich von Verkäufern beraten, können teilweise sogar in neue Platten oder Kassetten hineinhören und suchen gemeinsam mit Eltern oder Freunden aus der unübersichtlichen Auswahl das Passende aus. Bis dahin haben wir es also in Sachen Kinderhörspiel mit einem klassischen massenmedial organisierten und zentral gesteuerten Netzwerk zu tun, das seitens der Knoten von finanziellen Interessen bestimmt ist. Kontrolliert und in ihrer Aktionsfreiheit begrenzt werden die Knoten von staatlichen oder juristischen Instanzen wie dem Jugendschutz, dem Rundfunkrat, Verwertungsgesellschaften wie der GEMA und der VG Wort. In Richtung Rezipient verläuft die Kommunikation monologisch und zentral gesteuert. Anschlusskommunikation erfolgt über den Kauf eines angebotenen Artikels oder im Wiedereinschalten des Radios zu einem anderen Zeitpunkt. Im Gegenteil dazu findet eine sehr dichte, oft direkte und dialogische Kommunikation zwischen den agierenden Knoten des Netzwerks statt. Man telefoniert, schreibt, faxt und schickt später Mails. Es besteht also eine klare Hierarchie im kommunikativen Netzwerk: An der Spitze stehen die Produzenten von kommunikativen Inhalten. Sie wählen Inhalte aus, bestimmen, was wann ins Netzwerk hineingegeben wird, halten monologisch Kontakt zu allen Akteuren und kontrollieren die Kommunikation mittels Geld und Waren. Am unteren Ende der Hierarchie stehen die Kinder, die Rezipienten, die wenig oder gar keine kommunikativen Impulse ins Netzwerk hineingeben können. Als Hörspielkassetten jedoch ihre absolute Blütezeit erleben, verändert sich dieses kommunikative Modell zusehends. Die Hörspiel-HörerInnen lösen sich mehr und mehr aus ihrer passiven KonsumentInnenrolle und vernetzen sich nun ihrerseits in Fanclubs und Hörspielkreisen. Nicht nur, dass es mit Kassetten prinzipiell möglich ist, jedes Hörspiel zu kopieren, zu tauschen und zu teilen, statt es zu kaufen – in Hörspielforen oder Fanclubs findet man neben Tauschbörsen und Flohmärkten auch alle wichtigen Adressen und Ansprechpartner, um seinerseits kommunikative Kontakte mit Herstellern wie Europa aufzunehmen. Zentrales Issue dieser Fan-Szene ist natürlich das Kinderhörspiel beziehungsweise einzelne Hörspielserien. Es ist aber auch der Wunsch nach Austausch über Kassetten, erinnert sich Europa-Produzentin Heikedine Körting: »Es gab damals schon – ich glaube das war 1984 – einen Europa-Fanclub von mindestens 80.000 Mitgliedern. Das war so viel an Post, das konnte man selber gar nicht mehr bewäl-
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tigen. Ich habe zwar so weit es irgendwie ging, alle Briefe selbst beantwortet. Oder zumindest die Hauptsachen davon selbst beantwortet. Aber dann haben wir natürlich auch bald eine ganze Abteilung gehabt, die das bearbeitet hat, und kleine Zentralen in den Städten und Dörfern eingerichtet. Die wurden beliefert mit Fan-Material und haben uns dann wiederum bestimmte Dinge zugeschickt. Und da hatte man dann eben diesen Kontakt. Der war immer sehr persönlich, weil die Menschen richtig mit Namen sich genannt haben. Und heute ist das ja häufig im Internet einfach anonym. Das ist lange nicht mehr so schön wie seinerzeit, wo ich jeden Tag einen kleinen Wäschekorb voll wundervoller Post bekommen habe.«830
Neben Anregungen, Briefen, Bildern werden auch Hörspiele verschickt. Keine kommerziellen Hörspiele, sondern selbst aufgenommene Demobänder, um die eigene Kreativität vorzuführen oder sich mit einem eigenen Hörspiel zu bewerben: »So wie ich als Kind mit meiner Freundin schon Hörspiele selbst gemacht habe auf einem Telefunken-Gerät. Das sind oft Kinder, die schon selbst mit Geräuschen und mit Musiken so Kleinigkeiten produzieren als Demo. Und dann noch ein kleines Büchlein dazu oder ein Heft dazu oder eine Beschreibung dazu. Als Erstes gab es das auf Kassette. Und heute, wenn ich hier so schaue: Auf Stick bekomme ich inzwischen auch viel und eben auf CD.«831
Mit dem Medium der Kassette entwickelt sich zusätzlich zur standardisierten monologischen Kommunikation mit dem Massenmedium Kassette also auch eine eher dialogische Form der Kommunikation. Als die Flaute der Kassettenhörspiele vorbei ist, nimmt diese Form der Kommunikation noch stärker zu. Es entsteht eine in sich gut vernetzte Fan-Szene mit kommunikativen Kontakten zu den steuernden kommerziellen Knoten, die nun ihrerseits bedingt auch dialogischere Formen von Kommunikation mit den Rezipienten anstreben, wie Heikedine Körting in der Rückschau berichtet. Neben Autogrammkarten der bekannten Hörspiel-SprecherInnen verschickt das Label nun auch Unterlagen zur Kundenbefragung: »Da hatte man dann eine Kommunikation beispielsweise, als Die drei ??? plötzlich nach der Flaute der Kassetten total wieder anfingen zu laufen. Da konnte man dann eben auch in eine Kassette mal kleine Zettel reintun und sagen: So, schickt uns doch jetzt mal zurück, wer Ihr seid. Wer hat denn diese Kassette gekauft? Damit man dann überhaupt mal weiß: Wer ist denn jetzt eigentlich die Schicht, die da plötzlich wieder Kassetten hört? Oder Hörspiele hört?«832
830 Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016. 831 Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016. 832 Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016.
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Die Auswertung der Umfrage bei Europa bringt das erstaunliche Ergebnis, dass ein Drei ???-Hörer im Durchschnitt vierundzwanzig Jahre alt ist. 833 Dass es sich bei den Fans der Hörspiele um ältere, also eigentlich ehemalige »echte« Hörspiel-Rezipienten handelt, ist ein weiteres wichtiges Merkmal des Netzwerks. Diese Akteure sind heutzutage weniger HörerInnen als vielmehr SammlerInnen und Fans. Und sie benutzen – anders als die Kinder in den Glanzzeiten des Hörspiels und auch anders als Kinder von heute – vor allem virtuelle Möglichkeiten, um sich zu vernetzen und auszutauschen. Weil traditionelle Flohmärkte in der Regel keine geeigneten Fundplätze mehr sind, um Sammlungen zu vervollständigen oder gesuchte Raritäten zu kaufen, benutzen die Fans in ihrem Medienverbundsystem das Internet auch als Verkaufsbörse. Eine Stichprobe am 13.2.2017 bei ebay bringt folgendes Ergebnis: Unter dem Suchbegriff »Hörspielkassetten« werden 13.876 Treffer angezeigt. An erster Stelle erscheint eine Sammlung von über sechshundert gebrauchten Kinderkassetten, die in Bananenkisten verpackt an Selbstabholer abgegeben wird. Vorgeschlagener Preis: 2.875 Euro.834 Neben verschiedenen Plattformen im Internet als virtuellen Szenetreffpunkten haben sich inzwischen auch reale Treffpunkte für die »alten« Szenegänger etabliert: In Berlin hat Sprecher Oliver Rohrbeck die Lauscherlounge gegründet, die Veranstaltungsreihe, Label und Event-Agentur in einem ist.835 An mehreren Terminen im Monat werden Hörspiele in Berlin und bundesweit live gelesen, tragen bekannte Hörspielstimmen Texte vor, hört man sich gemeinsam neue oder alte Hörspielfolgen an. In Hamburg gibt es mehrere Kneipen, die regelmäßiges Public Listening veranstalten. Auch in Hasselburg bei Heikedine Körting gibt es gemeinsame Hörspiel-Events: »Das war auch damals schon und ist noch viel mehr gekommen, dieses gemeinsame Hören. Dieses gemeinsame Hörerlebnis. Gemeinsam die Augen zuzumachen, sich zusammen in ein Restaurant oder eine Kneipe zu setzen oder in eine eigene Stube oder sogar in eine Arena wie die Waldbühne in Berlin mit 20.000 Menschen und gemeinsam die Freude am Hören zu teilen. Das ist wirklich unglaublich.«836
Besonders beim Live-Hörspiel der Drei ??? in den großen deutschen Arenen entsteht eine nochmals neue Form der kommunikativen dialogischen Vernetzung. Fans und Rezipienten, die bis dahin keine Möglichkeiten hatten, mit der 833 Bastian 2003, S. 14. 834 http://www.ebay.de/itm/U-620-Horspielkassetten-z-B-The-A-Team-TKKG-Masterof-the-J-Tenner-T-Thaler-/311782752047?hash=item4897b33f2f:-g:XqAAAOSwgA pXBNCS, abgerufen am 13.2.2017. 835 http://www.lauscherlounge.de, abgerufen am 13.3.2017. 836 Interview mit Heikedine Körting vom 27.7.2016.
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künstlerischen Produktion eines Hörspiels in Kontakt zu treten, haben nun die Möglichkeit zur Interaktion mit den Darstellern. Die Hörspiel-Sprecher sind nicht nur als statische, vorgefertigte Hörspielcharaktere mit ihren Rollen und von Band in der Kommunikation präsent, sondern zusätzlich zu ihren Rollen auch als reale Figuren. Sie können wechseln zwischen »echten« und »gespielten« Charakteren und über direkte Ansprache des Publikums und dessen Reaktion tatsächlich in Interaktion mit den Fans treten. Aus den Hörspiel-Künstlern sind damit neue selbständigere Knoten im Netzwerk geworden. Sprecher Andreas Fröhlich erinnert sich: »Das war keine Idee von der Plattenfirma, sondern eine Idee, die aufkam, als wir gemerkt haben, dass wir bei den Aufnahmen eigentlich sehr viel Spaß haben. Wir haben immer sehr viel rumgealbert, und irgendwann dachten wir, weil wir ja auch alle vom Theater kamen oder auch noch sind – warum nicht sowas mal auf die Bühne bringen?«837
Die standardisierte Kommunikation von Kindergeschichten verändert sich im direkten kommunikativen Austausch mit einem erwachsenen Publikum und wird oft ironisch gebrochen. Ich konnte dies selbst im Sommer 2014 beim LiveHörspiel Phonophobia, Sinfonie der Angst beobachten: Die Fans beklatschen vor allem Zitate von klischeehaften Standardphrasen, die in eben dieser Klischeehaftigkeit Kinder beeindrucken, Erwachsene aber zum Schmunzeln bringen. Es wird gejubelt und gepfiffen, manche Passagen werden von Tausenden unter Gelächter im Chor mitgesprochen. Die Fans freuen sich über offensichtlich komische Widersprüche, wenn einer der drei Sprecher, die heute alle über fünfzig sind, im Stück zum Beispiel behauptet, er müsse noch Schulaufgaben erledigen. Fans lieben auch akustische Zitate alter Hörspiele von Band aus einer Zeit, in der die Sprecher noch nicht einmal im Stimmbruch waren. Werden sie im Live-Hörspiel zugespielt, entsteht eine Art absurder Geschichtsklitterung – auch etwas, das mit besonderem Beifall belohnt wird. »Wir werden alle gemeinsam älter. Wir drei Sprecher machen das jetzt seit mehr als 30 Jahren, und die Menschen hören das ebenso lange. Das verbindet uns. Die Marke dagegen wird nicht wirklich älter – es bleibt ja ganz bewusst immer im ungefähren, wann die Geschichten spielen. Die drei ??? spielen in ihrem eigenen zeitlosen Kosmos.«838 Man ironisiert also die Standardisierung von Kommunikation früherer Tage im Dialog, gleichzeitig bleibt in einem anderen Teil des Netzwerks zwischen Produzenten und kindlichen Konsumenten aber standardisierte Kommunikation parallel bestehen. Wird ein Kinderhörspiel von Erwachsenen genutzt, so ge-
837 Bastian 2003, S. 22. 838 Steinkirchner 2013.
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schieht das meistens als Einschlafhilfe.839 Klischees, Normen, Wiederholungen und Monologe liefern Kindern Sicherheit und Entspannung. Sie sind als Stereotypen, als Unterscheidungshilfen zwischen Gut und Böse beruhigend. Und für Erwachsene eben ein bisschen einschläfernd. 4.3.2 Kassette goes »on air«: Hören, Produzieren, Senden im Rundfunk In den vorangegangenen Kapitel ist bereits häufig die Rede von der Entwicklung des Radios im Zusammenhang mit der Entwicklung der Kompaktkassette gewesen. Ich habe geschildert, wie zentnerschwere Stahlbandmaschinen in den Rundfunkstationen aus Gründen der Sicherheit, der Qualität und der Usability durch leichtere und mobilere Magnetbandmaschinen ersetzt wurden. Ich habe auch gezeigt, wie tragbare Reportagegeräte mit magnetisierbarem Draht oder Wachsplatten zunächst von tragbaren Tonbandgeräten und schließlich von Kassettenrekordern abgelöst wurden. Auch die Phase der Technikgeschichte, in der leichte Kompaktkassetten und Kassettenrekorder mit Trageriemen und Umhängetaschen Radioreportern erstmals ermöglichten, ohne körperliche Beschwerden – wie der berühmten »schiefen Schulter«840 – und ohne ständigen Bandwechsel längere Zeit im Gehen aufzunehmen, war bereits Teil dieser Arbeit. Ich habe beschrieben, wie Radioleute im Auto als erweitertem Tonstudio aufgezeichnete Sendungen oder ihre eigenen Interviews mittels Kassetten angehört haben und welche Probleme bei der Archivierung von Bandmaterial entstanden sind. Dass das Radio als Massenmedium eine Zeitlang zur öffentlichen Plattform für mehr oder weniger private Rekorderexperimente wurde, dass fast alle Radiosender vom Bayerischen Zündfunk bis zum DDR-Sender DT 64 neben Charts von Band und Platte zeitweise auch eigene Kassettensendungen im Programm hatten, kam ebenfalls bereits zur Sprache. Im Streit zwischen Geräteherstellern, Hörern, der GEMA und den Interessenvertretern der Schallplattenindustrie hat das Verhältnis zwischen dem Radio als Hitlieferant und der Kassette als Speichermedium eine ebenso wichtige Rolle gespielt wie für Mixtaper beim Zusammenstellen eines Mixtapes. Mit der Darstellung der Geschichte des Kinderhörspiels habe ich schließlich erläutert, wie sich die Sendeformen des Rundfunks – insbesondere das Feature und das Hörspiel – allmählich weg von der Live-Sendung hin zur voraufgezeichneten Montage und zum »gebauten« Hörstück verschoben haben. Am Beispiel des O-Ton-Hörspiels im Neuen Deutschen Hörspiel wurde schließlich 839 Bastian 2003, S. 10. 840 Interview mit Wolfgang Bauernfeind vom 10.5.2016.
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aufgezeigt, dass sich dokumentarische und fiktive Formen wie Hörspiel und Feature formal aufeinander zubewegten und schließlich in eine neue radiophone Ästhetik mündeten. Ab den achtziger Jahren war diese maßgeblich von Kassettenaufnahmen, Originaltönen und Geräuschen geprägt, die dazu verwendet wurden, in der Phantasie des Hörers Bilder entstehen zu lassen. Schon Bertolt Brecht stellt in den Weimarer Jahren fest: »Wird das Sehen ausgeschaltet, so bedeutet das nicht, daß man nichts, sondern gerade so gut, daß man unendlich viel, ›beliebig‹ viel sieht.«841 Der Zusammenhang zwischen dem Aufkommen von Kassetten und einer Veränderung von Radiopraxis, Radiohören und Radioästhetik ist also bereits in vielen Facetten dargestellt worden. Dennoch lohnt sich zum Abschluss dieses dritten Teils meiner Arbeit ein kurzer, summarischer Blick auf das Zusammenspiel von Radio und Kassetten deshalb, weil – so viel sei an dieser Stelle bereits vorweggeschickt – sich neben all den genannten Dingen auch das Kommunikationsmuster zwischen HörerInnen und RadiomacherInnen durch die Allgegenwart von Kassetten entscheidend verändert hat. Das liegt vor allem daran, dass Reporter mit dem Aufkommen von Kassetten im Rundfunkbetrieb eine Technologie benutzen, die auch Nicht-Profis aus dem alltäglichen Gebrauch vertraut ist. Vom Hörer zum Produzenten zu werden, ist also nicht mehr notwendigerweise mit dem Überwinden einer technisch-professionellen Barriere verbunden. Bereits 1930 fordert Bertolt Brecht eine Demokratisierung von Technik und Sendestrukturen mittels einer aktiven Beteiligung der HörerInnen: »Die zunehmende Konzentration der mechanischen Mittel sowie die zunehmende Spezialisierung in der Ausbildung – Vorgänge, die zu beschleunigen sind – erfordern eine Art Aufstand des Hörers, seine Aktivisierung [sic!] und seine Wiedereinsetzung als Produzent.«842 Mit Kassettenaufnahmen kommt der deutsche Rundfunk dieser Forderung ungeplant einen großen Schritt näher. Das Fenster zur Welt: Radio und Hörfunk-Feature nach 1945 In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ist das Radio Informationsund Kommunikationsmittel Nummer eins für die Deutschen. »Zeitungen erschienen aus Rohstoffmangel noch nicht, Theater und Kinos waren zerstört, Bücher waren Mangelware. Der Rundfunk hatte das ganze Feld der Aufmerksamkeit für sich!«843 Nach Kriegsende richten die britischen Kontrolloffiziere in Hamburg wieder einen Rundfunksender ein und bauen als erstes die Abteilung
841 Brecht 1967, S. 128. 842 Brecht 1967, S. 130. 843 Kribus 1995, S. 71.
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Talk and Features auf.844 Das Feature als ein- oder sogar mehrstündige Sendung ist im Gegensatz zu Gespräch, Reportage oder Interview die Form, die eingesetzt wird, wenn es gilt, komplexe Zusammenhänge, Wissenswertes aus anderen Ländern oder politische Hintergründe zu schildern und die HörerInnen emotional auf eine besondere Weise zu berühren. Im Feature, das alle dramaturgischen und erzählerischen Freiheiten des Mediums genießt, werden Geräusche von archivierten Schallplatten eingesetzt, Tonband-Collagen, -Montagen und andere experimentelle Formen. Bandmaterial ist Mangelware. Ist eine Sendung ausgestrahlt, werden die verwendeten Bänder überspielt. Das Bedürfnis zu archivieren und festzuhalten, ist gering. Statt dessen überwiegt der Wunsch, Vergangenes abzustreifen und möglichst schnell hinter sich zu lassen. An neuen Ideen herrscht in der Aufbruchstimmung der unmittelbaren Nachkriegszeit dagegen kein Mangel. »Der Rundfunk war ein weit geöffnetes Fenster zur Welt, und die hereinströmende Informationsflut hatte die Faszination des Neuen und Zukünftigen. […] Man formte ein Bild der Realität, in dem man sich ihr von mehreren Seiten her näherte, man arbeitete mit unterschiedlichen Erzählperspektiven und Sprachstilen, benutzte alle Mittel, die das Medium bot, von der Nachricht bis zur dramatischen Szene, man setzte unterschiedliche Blickwinkel, Denk- und Erlebniswelten gegeneinander und gewann aus dem Wechsel, dem Gegensatz, dem Aufeinanderprallen der verschiedenartigen Elemente und Realitätsebenen die dramaturgische Spannung.«845
Noch ist das Feature eine größtenteils vom Schreibtisch aus gestaltete Form, die Autoren der ersten Stunde wie Ernst Schnabel oder Axel Eggebrecht sind schreibende Autoren.846 Die Produktionsabläufe sind immer ähnlich: Zunächst wird ein Manuskript geschrieben, nachträglich kommen Musik oder Geräusche zur Illustration hinzu. Aufnahmen in freier Natur oder mitten unter den Menschen werden erst mit tragbaren Tonband-Geräten wie der Nagra oder dem Uher Report ab den sechziger Jahren im großen Stil möglich. Bis dahin habe man für Außenaufnahmen schwere Bandmaschinen auf Fuhrwerken oder Pferdeschlitten vor Ort transportieren müssen, erzählt mir im Jahr 2011 der Tübinger Kulturwissenschaftler und Dialektforscher Hermann Bausinger in einem Radiointerview anlässlich seines fünfundachtzigsten Geburtstags. Sprachaufnahmen im Feld sind bis zum Aufkommen mobiler Tonbandgeräte also ein gigantischer Aufwand, der in der Tübinger Dialektforschung ebenso wohlüberlegt betrieben wird wie in den deutschen Rundfunkanstalten.
844 Lindemann u.a. 2007, S. 44. 845 Klaus Lindemann/Wolfgang Bauernfeind 2007, S. 45. 846 Kribus 1995, S. 74.
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Nach der bunten Aufbruchstimmung der unmittelbaren Nachkriegszeit erhält das Feature als Sendeform in den fünfziger Jahren einen gewaltigen Dämpfer. In den Funkhäusern werden Fach-Ressorts zur tagesaktuellen Berichterstattung eingerichtet, Zuständigkeiten festgezurrt und eine behördenähnliche Verwaltungsstruktur eingezogen. 1950 schließen sich die bis dahin eingerichteten Landesrundfunkanstalten zur Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) zusammen, um gemeinsam ihre Interessen zu vertreten.847 Für unkategorisierbare Kreativformen wie das Feature bleibt wenig Spielraum. Peter Leonhard Braun, der spätere Leiter der Feature-Abteilung beim Sender Freies Berlin (2002 im RBB aufgegangen) beschreibt die Lage des Features bis zu den sechziger Jahren folgendermaßen: »Die Freiheit des Radios wurde vermessen und parzelliert. Und in diese administrative Landschaft der Abgrenzung passte nicht die Grenzenlosigkeit des Features. […] Das Feature verkam zur Machart. […] Alle kochten gleich, alle servierten gleich, alles schmeckte gleich; bis zur Geschmacklosigkeit, Grundnahrungsmittel Feature, jeder kriegte es satt.«848 Eine Erneuerung des Features vollzieht sich ganz ähnlich wie beim Neuen Deutschen Hörspiel in den sechziger Jahren. Zum einen hält die Stereophonie Einzug ins Radio. Wir erinnern uns: Als Philips 1963 den ersten Kassettenrekorder auf den Markt bringt, steht die Berliner Funkausstellung ganz im Zeichen der Stereo-Euphorie. Zum anderen wird jetzt wie auch in den tagesaktuellen Redaktionen verstärkt mit »Originaltönen«, sogenannten »O-Tönen«, und Geräuschkulissen, sogenannten »Atmosphären« gearbeitet, die dank tragbarer Aufnahmegeräte viel einfacher zu gewinnen sind als noch zehn Jahr zuvor. »Der O-Ton ist Objekt journalistischer Aussage und damit Verweisträger: Seine Quelle und seine Entstehungszeit sind bekannt. Das unterscheidet den O-Ton von jenen Einspielungen, mit denen lediglich Atmosphäre geschafft wird, die aber nicht näher bezeichnet werden.«849 Durch die »Zweckentfremdung« des O-Tons, der bis dahin als klassisches Mittel der Reportage und der aktuellen Berichterstattung gilt, gelingt es, aus den bislang eher literarisch und künstlerisch orientierten Formen Feature und Hörspiel Radio-Formen zu machen, die eine stärkere Anmutung von Authentizität mit sich bringen, die gleichzeitig aber auch das Radio näher zu den Menschen und die Menschen näher zum Radio holen. »Man hatte die Chance erkannt, im Feature mit Originalakustiken zu arbeiten und Menschen nicht nur mit Worten zu beschreiben, sondern sie selbst zum Hörer sprechen zu lassen.«850 847 848 849 850
Schätzlein 2012, S. 71. Zitiert nach: Klaus Lindemann/Wolfgang Bauernfeind 2007, S. 46. Häusermann 2007, S. 29. Klaus Lindemann/Wolfgang Bauernfeind 2007, S. 47.
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Stimmen des Lebens: Originaltöne und Atmosphären 1967 verfasst Peter Leonhard Braun in Berlin das erste Feature, dessen Material er ausschließlich in Stereo aufnimmt und das anschließend auch stereo produziert wird: Hühner. Eine stereofone Dokumentation über das erste vollautomatisierte Tier. In dem etwa eine Stunde dauernden Hörstück geht es darum, darzustellen, wie Hühner in Legebatterien gehalten werden. Wichtigstes gestalterisches Mittel sind neben einer neutralen, sachlich-wissenschaftlichen Sprache die Geräusche der vor Ort aufgenommenen Hühner. Der Autor beschreibt die akustische Dramaturgie seines Stückes folgendermaßen: »Ich habe mich in diesem Wissenschaftsidiom aufgehalten, war dadurch ganz sachlich und unangreifbar in der Vermittlung der Information und habe gleichzeitig geschluchzt wie eine Hafenjule – akustisch. Das heißt, subkutan, in der akustischen Ebene, wenn ich höre, wie's den Tieren geht, da weint diese Sendung.«851 Das reine O-Ton-Feature, das sogar ganz ohne die stimmliche Anwesenheit des Autors auskommt, wird als gestalterische Form ebenfalls entdeckt. Man möchte den Klang und die Stimmen der Welt, der Landschaft, des Lebens einfangen und hofft, einem objektiven Abbild der Realität dadurch möglichst nahe zu kommen. Die eingeschliffenen Arbeitsprozesse verändern sich, wie beim Hörspiel bereits angerissen: Ein Manuskript für ein O-Ton-Feature oder auch für eine aktuelle O-Ton-Collage entsteht nicht mehr vor der Produktion am Schreibtisch. Es entsteht im Nachgang der Produktion als Abschrift von Tönen und Geräuschen. Nicht das im Funkhaus geschriebene Wort bestimmt nunmehr die Dramaturgie, sondern die Aufnahmen von »draußen«. Auch sprachlich bringt der Einzug des O-Tons in die Radiolandschaft schleichende Veränderungen mit sich. »Der Originalton förderte den Einzug des frei formulierten Wortes in die Hörfunkprogramme, das lange als ›akulturell‹ und damit als nicht sendefähig betrachtet wurde. Der O-Ton ließ jetzt alle die zu Wort kommen, die, wenn überhaupt, sich bisher nur indirekt artikulieren konnten.«852 Dialekt und Umgangssprache halten damit Einzug in die Radiosprache und drängen den Alleingültigskeitsanspruch literarischer Sprache, wie sie bislang im Rundfunk gepflegt wird, zurück. Sofern es sich nicht um ein reines OTon-Feature handelt, muss sich nun auch der Erzählstil der Autoren an die Sprache der O-Ton-GeberInnen anpassen, um keine unbeabsichtigten, dramaturgischen Brüche zu verursachen, sondern ein ästhetisch in sich geschlossenes Ganzes zu produzieren. Man orientiert sich »an einer Sprache […], die dem Niveau des Hörers entspricht (Sprechsprache), so daß die Rezeption gewährleistet
851 Zitiert nach: Zindel u. a. 2007, S. 120. 852 Kribus 1995, S. 123.
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ist.«853 Mit dem »Straßen-O-Ton« geht also auch ein gewisser Abschied einher von professoralen Belehrungsattitüden, von einer Katheder-Mentalität des Radios. Man bewegt sich mit dem Mikrophon als gleichsam hörendes Ohr der Hörer in einer Welt, über die es sich aus der Perspektive eben dieser Hörer zu berichten lohnt. Grundvoraussetzung dafür ist, dass die deutschen Rundfunkanstalten ihre Reporter und Autoren inzwischen mit tragbaren Tonbandgeräten ausstatten können. Wer sich ein etwa viereinhalb Kilo schweres Uher Report umhängt, zieht alleine los. Wer wie Wolfgang Bauernfeind, der ab dem Ende der siebziger Jahre als Feature-Redakteur bei Peter Leonhard Braun in Berlin arbeitet, eine Nagra zur Verfügung gestellt bekommt, braucht Unterstützung durch einen Toningenieur. »Ich hätte sie natürlich auch selbst bedienen können. Aber da hätte ich mich einfuchsen müssen. Und darum war Nagra eigentlich immer mit Toningenieur. Da gab es ja noch diese große Spulen von Nagra. Die hatten nur eine ganz kurze Aufnahmezeit. Da musste man andauernd wechseln. Also, das war schon sehr aufwändig. Aber eine tolle Qualität, gar keine Frage.«854 Kompaktkassetten und Kassettenrekorder, die inzwischen auch auf dem Markt sind, stellen Mitte der sechziger Jahre für die Radioarbeit im Feld noch keine ernstzunehmende Alternative zum tragbaren Spulentonband dar. Der Grund ist simpel: Bisher ist keine Lösung gefunden, um das lästige, hochfrequente Rauschen der Aufnahmen zu unterdrücken. Außerdem sind nur Aufnahmen in mono möglich, wodurch Kassetten dem Tonband qualitativ nicht das Wasser reichen können. Noch nicht. Entfrackung und Entschlipsung: Kassetten im Reporter-Alltag Ende der siebziger Jahre ändert sich das. Inzwischen sind Chromdioxid-Bänder für Kassetten auf dem Markt. Die meisten Kassettenrekorder sind mit dem Dolby-Rauschunterdückungs-System ausgestattet, und Kassetten sind längst stereofähig. Genau wie die einfacheren portablen Spulentonbandgeräte – zum Beispiel das überall in den Rundfunkstationen verbreitete Uher Report – haben Kassettenrekorder Drucktasten, automatische Bandabschaltung und Aufnahmeautomatik. Vor allem aber haben Kassettensysteme ein geringeres Gewicht als Spulentonbänder, längere Aufnahmedauer, weniger Batterieverbrauch, einen geringeren Preis und eine bessere Usability. Allmählich beginnen sie darum, die einfachen Tonbandgeräte im tagesaktuellen Geschäft abzulösen, wo Schnelligkeit, Authen-
853 Kribus 1995, S. 217. 854 Interview mit Wolfgang Bauernfeind vom 10.5.2016.
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tizität und Stimmenvielfalt wichtiger sind als technische Qualität. Der Wiesbadener HiFi-Fachmann Gert Redlich beschreibt etwas zugespitzt: »Der Reporter, der auf dem Wochenmarkt die Oma am Verkaufsstand für Kartoffeln interviewt hat, hatte keine Qualitätsanforderungen. Der sagte: ›Erzählen Sie, was für Kartoffeln haben Sie.‹ Fertig aus basta. Ist ins Studio, hat daraus einen Beitrag gemacht. Hat noch ein bisschen aufgenommen, was für Geräusche auf so einem Wochenmarkt sind. Mehr war auch nicht wichtig, weil er wollte die Aussage haben von der Oma, welche Kartoffeln sie da vom Acker auf den Wochenmarkt bringt.«855
Die Veränderung der Radio-Ästhetik, die mit den tragbaren Tonbandgeräten der sechziger Jahre begonnen hat, beschleunigt sich mit der Kassette weiter, glaubt auch der ehemalige Tübinger Radio-Redakteur Reinold Hermanns: »Da bin ich sicher. Einfach, weil man noch mobiler wurde und das Mikrophon überall in die Nasen der Landschaft hat stecken können. Und zwar an allen möglichen und auch unmöglichen Stellen ohne viel Aufwand. Und man ist von der Redaktion schlicht auch gehalten gewesen, O-Ton und das sogenannte Radiophone mehr reinzubringen. Das hat eindeutig zugenommen. Also, je mehr Kulisse die wollten, desto mehr Kulisse hast du denen natürlich auch geboten.«856
Es dauert ein paar Jahre länger als im Betrieb der tagesaktuellen Redaktionen, aber Ende der achtziger Jahre werden auch für Feature und Hörspiel, die »Königsdisziplinen des Radios«, Kassettenaufnahmen »State of the Art«. Die Aufgabe, sich als Feature-Autor überhaupt vom Schreibtisch wegbewegen zu müssen, war mit portablen Tonbandgeräten wie der Nagra gekommen. Beim Abschied vom Hightech-Tonband Nagra heißt es für Feature-Redakteure wie Wolfgang Bauernfeind in Berlin nun Abschied nehmen vom begleitenden Toningenieur und auf eigene Faust – als »Partisane für die Sache«857 – loszuziehen. Plötzlich gilt es, selbst die passenden Mikrophone für O-Ton, Atmo, Musik und Geräusche auszusuchen. Anders als im tagesaktuellen Betrieb wird für das Feature mit Stereo-Mikrophonen aufgenommen. Es gilt auch, alle Knöpfe und Regler selbst zu bedienen, korrekt auszusteuern, Bandlänge und Aufnahmedauer im Blick zu behalten. »Also, die ganz alten Kollegen, die ich auch noch kennengelernt habe, die waren ein bisschen verstört. Ich habe das gerne gemacht und hatte auch überhaupt keine Vorurteile gegenüber den neuen leichten Aufnahmegeräten. Fortschrittlich waren die. Handlich. Schick. Heute sagt man ›cool‹. Die Kassette hat alles versimplifiziert. Du brauchst ja im
855 Interview mit Gert Redlich vom 17.3.2016. 856 Interview mit Reinold Hermanns vom 4.8.2016. 857 Vgl. oben, Seite 177, Interview mit Reinold Hermanns vom 4.8.2016.
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Grunde für ein Feature oder für eine Dokumentation auch gar nicht so unendlich viele verschiedene Einstellungen, akustische Einstellungen. Du brauchst einen guten O-Ton. Du brauchst einen sauberen O-Ton. Du brauchst einen O-Ton, der präsent ist. Das ist das A und O.«858
Weniger bringt mehr: Akustische Großaufnahmen dank kleinerer Technik Der Einsatz von Kassetten und kleinen Rekordern im professionellen Radioalltag bringt nicht nur noch mehr O-Ton, Atmo und damit mehr Außenwelt ins Radio, er entschlipst und entfrackt nicht nur die Anmutung des Mediums immer weiter, er verändert sie noch auf eine andere grundlegende Weise: Er kann die Außenwelt in Form »akustischer Großaufnahmen« dichter ans Ohr des Hörers holen und damit eine Ästhetik größerer Nähe und Intimität schaffen. »Da pratzeln Lagerfeuer entlegener Urwaldstämme so präsent, als flämme es dem Hörer gleich die Haare in den Ohren ab. Da knistern die Bettlaken in Bordellen derart auf Tuchfühlung, als liege man selber drin. Da tuscheln Menschen so lippennah als klebten sie einem direkt am Trommelfell. Millimeterdichte Sprachaufnahmen machen jeden Mundmuskel, jedes Zäpfchenrucken, jede Gaumenbewegung hörbar. Der Mundraum wird zum letzten Intimraum, den das Radio-Feature erschließt.«859
Auch dieses Phänomen ist mittelbar auf die Verkleinerung der Aufnahmetechnik zurückzuführen: darauf, dass mit den hochmobilen und weniger auffälligen Geräten die räumliche und persönliche Distanz zwischen den Kommunikationspartnern schwindet. Mit dem gewöhnlichen Kassettenrekorder verliert der offizielle Rundfunkapparat im Kontakt zu den Interviewten mehr und mehr an Präsenz. Man kommt sich näher und wird mitunter in persönliche Bereiche vorgelassen, die technisch aufwändigeren Medien wie dem Fernsehen noch verschlossen sind. Reporter oder Feature-Autoren müssen mit dem Mikrophon nicht mehr aus der Entfernung oder in separaten Räumen aufnehmen, sondern dürfen mit ihrer Technik, die auch »normalen« Menschen vertraut ist, dichter heran. Reinold Hermanns erklärt: »Man kam sich natürlich wichtig vor, wenn man da mit der Nagra einen großen Aufbau für ein Gespräch machte. Gleichsam die ganze Rundfunkgeschichte wird da ausgebreitet auf einem kleinen Tisch. Das war ja einschüchternd qua Größe des Gerätes schon, wie auch das Mikrophon, der Mikrophoneinsatz überhaupt etwas Einschüchterndes hat. Das Kassettengerät ist schon handlicher. Man hat auch nicht unbedingt den großen Schreibtisch nötig. Man hängt das einfach um. Und es ist allemal auch etwas kommunikativer. 858 Interview mit Wolfgang Bauernfeind vom 10.5.2016. 859 Filz 2007, S. 51.
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Und das hat man dann – meine ich – auch gemerkt. Und gleichzeitig ist der Effekt: Es wird unmerklicher. Und desto entspannender wird die Situation.«860
Der Rundfunk als Kommunikationsapparat Wie eingangs in diesem Kapitel beschrieben, werden HörerInnen dank Kassettenaufnahme-Technik also immer mehr und selbstverständlicher zu inhaltlichen LieferantInnen für das Radio und damit indirekt auch wieder am Produktionsprozess eines aktuellen Beitrags, Features oder Hörspiels beteiligt, statt nur passiv konsumieren zu können. »Ohne ein Ereignis, ohne den Akteur, über den berichtet wird, käme kein O-Ton zustande. Er entsteht also in gewissem Sinn in Zusammenarbeit zwischen Kommunikator und Akteur.«861 »Auch die scheinbar unbeeinflusste Tonaufnahme, der akustische Schnappschuss, entsteht in einer Interaktion von Kommunikator und Akteur.«862 Das typisch massenmediale Kommunikationsmuster, in dem einer an viele sendet, die Kommunikation monologisch und standardisiert abläuft, verändert sich dadurch hin zu einer bedingt wechselseitigen und dialogischen Kommunikationsform. Zwar sind es in letzter Instanz natürlich die Redaktionen, die Themen setzen und bestimmen, worüber im Programm geredet wird. Redakteure bearbeiten O-Töne, schneiden, kontextualisieren neu. Auch sind beispielsweise Programmschemata, und -auftrag, Musikfarbe, Uhrzeiten, Beitrags- und Sendungslängen weitgehend genormt, standardisiert und festgelegt. Rundfunkräte, Intendanzen, Senderdirektionen und Redaktionsleitungen wachen darüber, dass diese Normen eingehalten werden. Dennoch verändert sich »on air« etwas: Hörer – ursprünglich nur Empfänger von Kommunikaten – sind nun bis zu einem gewissen Grad auch Produzenten derselben. Neben Experten aus Wissenschaft, Politik, Bildung und Kultur – alle Repräsentanten wichtiger Organisationen und Knoten der öffentlichen Kommunikation – sind immer häufiger auch »normale« Leute, sozusagen als Repräsentanten und Experten des eigenen Lebens, des Alltags, im Programm zu hören. Neben professionellen Radioleuten tauchen Amateure im Programm auf. Erinnern wir uns beispielsweise an die »Kassettentäter« der achtziger Jahre, die als Radio- und Musikamateure, aber zugleich Experten für ihre Szene, eigene Sendungen gestalten dürfen. Oder an Sendungen, in denen Hörer-Mixtapes live gespielt werden. Unter anderem ist diese Entwicklung – wie schon mehrfach erwähnt – darauf zurückzuführen, dass Aufnahmen mittels Kassettentechnik nun so leicht, un860 Interview mit Reinold Hermanns vom 4.8.2016. 861 Häusermann 2007, S. 31. 862 Häusermann 2007, S. 34.
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kompliziert und selbständig hergestellt und bearbeitet werden können. Neben der rein technischen hat diese Tatsache aber noch eine zweite Dimension: RadioJournalisten sind mit ihren Kassettengeräten nun viel stärker in der Öffentlichkeit und damit im Alltag der Menschen real präsent. Durch diese körperliche Präsenz im gleichen Raum- und Zeitkontext kommt es zwischen Radio und Hörer, zwischen Kommunikator und Akteur zu direkten Kommunikationsvorgängen und damit zu einer Aufweichung der bestehenden Hierarchien wie sie in massenmedialen Kommunikationsformen bestehen. Die steuernde Macht, die der Kommunikator mit exklusiver und komplizierter »Geheim-Technik« über den Kommunikationsvorgang ausgeübt hat, verliert er durch die Verwendung von alltäglicher Kassettentechnik. Interviews verlieren ihren einschüchternden Charakter und gleichen eher einem tatsächlichen Gespräch als einem Examen. Gemäß den Regeln der direkten Kommunikation kann nun ein freiwilliger und gleichberechtigter Dialog entstehen. Sehr gut lässt sich dies am Beispiel der Straßen-Umfrage erklären, die seit den achtziger Jahren als besonders beliebte Beitragsform in allen aktuellen Rundfunkprogrammen präsent ist. Zu wichtigen Ereignissen, Jahrestagen oder auch, um trockene Themen »bunter« zu machen, befragen Reporter »die Stimme des Volkes«, im Radio-Jargon auch kurz »Voxpop« genannt. Vor allem den journalistischen Nachwuchs schickt man alleine und auf sich gestellt mit Kassettengeräten los, um »dem Volk aufs Maul« zu horchen. Nicht selten geraten solche Aufträge zur Nagelprobe für junge JournalistInnen: Bei der Arbeit auf der Straße müssen sich Kommunikationsfähigkeit und Interviewtalent noch viel mehr beweisen als im Kommunikationsraum Funkhaus. Wer als Interviewgast im Studio erscheint, hat ein Kommnunikationsangebot bereits verstanden und angenommen. Auf der Straße ist das anders. Dort muss die Kommunikationsbereitschaft zwischen den beteiligten Akteuren immer wieder neu hergestellt werden. Oft sind es dabei die Interviewten, die im wahrsten Sinn des Wortes das Sagen haben. Sie bestimmen, was später zu hören sein wird – oder auch nicht. Jeder Journalist, jede Journalistin – ich eingeschlossen – kennt das Gefühl der Verzweiflung und Ohnmacht, wenn Passant um Passantin beim Anblick von Mikrophon und Rekorder abwehrend den Kopf schüttelt und den Schritt beschleunigt oder wenn Menschen vor dem Mikrophon nicht bereit sind, auf gestellte Fragen zu antworten. Etablierte kommunikative Rollen sind nun veränderbar und verkehren sich in solchen Momenten plötzlich ins Gegenteil. Man wird als Journalist, der den Rundfunk repräsentiert, zum Bittsteller statt zum Wortführer und zum Empfänger statt zum Sender einer Botschaft. Schon 1932, in den Anfangsjahren des Radios, entwirft Bertolt Brecht in seiner Rede über die Funktion des Rundfunks eine Vorstellung von einem Rund-
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funk, der sich vom reinen »Distributionsapparat« in einen »Kommunikationsapparat« verwandelt: »Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen. Der Rundfunk müßte demnach aus dem Lieferantentum herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren.«863
Brecht fordert einen Austausch zwischen Regierenden und Regierten, zwischen Branchen und Konsumenten.864 Was ihm vorschwebt, ist eine Art Kommunikationsnetzwerk, das vom Rundfunk organisiert und bis zu einem gewissen Grad auch gesteuert wird, in dem aber eben nicht existierende Machtverhältnisse reproduziert, sondern demokratisiert werden. Brecht selbst bezeichnet den Vorschlag, aus dem Rundfunk einen »Kommunikationsapparat öffentlichen Lebens zu machen« als utopisch.865 Er vermutet, ein solcher Demokratisierungsprozess des Rundfunks könne nur in einer anderen, neuen Gesellschaftsordnung stattfinden. Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, die Kompaktkassette hätte diese neue Gesellschaftsordnung hervorgebracht. Aber sie hat doch – wie ich gezeigt habe – die Machtverhältnisse im Radio im Brecht'schen Sinne ein Stück weit demokratisiert.
4.4 ZWISCHENRESÜMEE DREI Blicken wir nun zurück auf die vielen verschiedenen Arten von Kommunikation, die mit Kassetten möglich und ausprobiert wurden, so ist zunächst eines besonders auffällig: Kassetten gehören zwischen den sechziger und den neunziger Jahren zu praktisch jedem Medienverbundsystem, das in kommunikativen Netzwerken genutzt wird. »Musik wandert. Aus dem Radio in die Ohren, aus dem Radio auf Kassetten, von Kassetten in Bücher, von Büchern ins Radio, gelegentlich auch von Kassetten ins Radio.«866 Dadurch und aufgrund ihrer ubiquitären Verfügbarkeit, ihres geringen Preises, ihrer Mobilität und ihrer einfachen Technologie ermöglichen Kassetten im Gegensatz zu eigentlich allen anderen Massenmedien eine direkte und aktive Partizipation in den meisten kommunikativen Netzwerken. Kommunikation mit 863 864 865 866
Brecht 1967, S. 134. Brecht 1967, S. 135. Brecht 1967, S. 139. Drees/Vorbau 2011, S. 146.
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Kassetten ist weder an gesellschaftliche Schichten oder Milieus gebunden, noch an bestimmte Altersgrenzen oder Bildungsniveaus. Durch Kassetten können sich also wesentlich mehr und andere Akteure kommunikativ untereinander vernetzen, als dies bei standardisierter medienvermittelter Kommunikation normalerweise möglich ist. Das ist insofern erstaunlich, als sich Tonträger aufgrund ihrer Nur-Abspiel-Funktion in der Regel überhaupt nicht zur wechselseitigen Medienkommunikation eignen. Klassische Medien der wechselseitigen Medienkommunikation sind das Telefon, Briefe oder – in heutiger Zeit – Smartphones mit der Möglichkeit zur Videotelephonie oder E-Mails. Denken wir aber etwa an das Beispiel der Kinderhörspiele zurück: Dadurch, dass Kinderkassetten im Auto und auf Reisen gehört werden können, werden zunächst einmal auch Eltern und andere Erwachsene zu Hörern, die eigentlich nicht zur primären Zielgruppe der kommerziellen Produzenten gehören. Durch die Möglichkeit, kommerzielle Aufnahmen von Schallplatten auf Kassetten zu teilen, vergrößert sich der Kreis der Akteure zusätzlich. Auch an das Tauschen oder Verschenken schließt sich in der Regel wieder direkte Kommunikation über Kassetten an. Das selbständige Aufnehmen, Produzieren und Verschicken von Hörspielen führt zudem in Form von Fan-Post unter Umständen zu einem Austausch der Akteure mit den ursprünglichen Kommunikatoren und damit zum Entstehen eines »Rückkanals«. Es führt aber auch dazu, dass das Netzwerk Schule mit Hörspielwerkstätten und anderen Kassettenexperimenten kommunikativ angeschlossen wird. Und dazu, dass sich Rezipienten untereinander zu aktiv kommunizierenden Fan-Clubs zusammenschließen. Kurzum: Kassetten sind aufgrund ihrer Aufnahme- und gleichzeitigen Abspielmöglichkeiten in der Lage, einen Monolog partiell in einen Dialog zu verwandeln und neue Akteure in diesen Dialog einzubeziehen. Sie sind auch in der Lage, an eine monologische, gesteuerte und genormte Kommunikation mit anderen Akteuren dialogisch und eher demokratisch anzuknüpfen. Derselbe Prozess hat sich auch am Beispiel der Mixtapes beobachten lassen: Standardisierte massenmediale Kommunikate werden von den Akteuren in individuelle Botschaften umgewandelt, an die sich eine wechselseitige, dialogische Kommunikation anschließt, die wiederum neue Akteure integriert. Kurzum: Kassetten sind in der Lage, enge Verschränkungen und Verflechtungen verschiedener Kommunikationstypen zu generieren und damit ein Kommunikationsnetzwerk zu vergrößern. Mittels Kassetten können sich einzelne Akteure in massenmedialen Kommunikationszusammenhängen also aus ihrer isolierten Rezeptionssituation befreien, indem sie sich mit anderen Akteuren zusammenschließen. Gleichzeitig können sie eigene kommunikative Aktivitäten, die sonst in einem höchstens inneren
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Monolog bestehen, dialogisch steigern. Unter Umständen können vormals eher passive Rezipienten dadurch sogar zu wichtigen Knoten in einem Kommunikationsnetzwerk werden und ihrerseits wieder neue Vernetzungen zu anderen Akteuren aufbauen. Geschieht dies – wie zum Beispiel im Fall der KassettentäterSzene des Postpunk – gänzlich ungesteuert, so kann es im Extremfall zu einer praktisch grenzenlosen Ausweitung des Netzwerks kommen. Es kann auch zu einem Überangebot an kommunikativen Konnektivitäten um einzelne Knoten herum kommen, was in beiden Fällen dazu führt, dass Kommunikation zum Erliegen kommt. Ein weiterer Punkt fällt bei der Analyse von Kassettenkommunikation auf: Mittels Kassetten und der Möglichkeit zum DIY lassen sich ästhetische Normen der standardisierten Medienkommunikation und mithin die Kommunikate selbst durch die Akteure beeinflussen. Denken wir zum Beispiel an journalistische oder musikalische Beiträge im Radio. Werden Kassetten zur Produktion von Kommunikationsinhalten verwendet, also zum Beispiel als Tonträger für O-Töne oder für eigene Musikproduktionen, haben die Akteure die Möglichkeit, eigene ästhetische Normen zu setzen. Dasselbe gilt für Mixtapes oder die Ästhetik von Produktionen der Kassettentäterszene. Sei es nun über gesprochene statt literarischer Sprache, sei es durch schlichtere Inszenierungen oder bewusstes Dilettantentum – Kassetten tragen eine eigene Ästhetik in die Kommunikation hinein, die stark geprägt ist vom selbständig tätigen Produzenten, von einfachen Produktionsmitteln und dialogischen Produktionsprozessen. Weil Kassetten – wie gerade schon erwähnt – zu praktisch jedem Verbundsystem der medialen Kommunikation dazugehören, ist die Ästhetik von Kassettenproduktionen bekannt, akzeptiert und üblich. Sie setzt sich oft zusätzlich zur genormten, standardisierten Ästhetik kommunikativer Inhalte durch und baut dadurch weitere kommunikative Barrieren im Netzwerk ab. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Kassette sowohl als kreatives und individuelles als auch genormtes Kommunikationsmedium in Erscheinung treten kann, dass sie sich sowohl zur standardisierten als auch zur wechselseitigen Medienkommunikation eignet. Kassetten können auch Bestandteil direkter Kommunikationsprozesse sein, insofern sie Kommunikation über sich selbst generieren, also »Kassettengeschichten« erzeugen. Es lässt sich aus den oben genannten Gründen auch feststellen, dass sich Kassetten im Gegensatz zu anderen Massenmedien wie der Schallplatte nie vollständig standardisieren und kommerziell vereinnahmen lassen. Kassettenkommunikation ist also selten nur ökonomisch, sondern viel stärker sozial orientiert als andere Massenkommunikation:
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»Es gibt haufenweise Pizzaservice, Weckdienste, ja sogar Frühstücksbringdienste, doch niemand ist auf die Idee gekommen, das Erstellen von Kassettenmädchenkassetten zu kommerzialisieren. Das wäre mit Sicherheit eine lukrative Marktücke, doch weiß jeder Marktlückensucher, dass RICHTIGE Kassettenmädchenkassetten nur aus Leidenschaft entstehen können. Gefühle kann man eben nicht kaufen, nur sich anbahnende oder schon ausgebrochene Liebe ist imstande, aus einem normalen Jungen einen feurigen Kassettenjungen zu zaubern. Alles andere hören Mädchen sofort raus.«867
Kommunikation mit Kassetten bleibt bis zu einem gewissen Grad also individuell, anarchisch, unkontrollierbar und unsteuerbar, zum einen weil Kassetten Kommunikationsprozesse verändern können, weil sie verschiedene Kommunikationstypen miteinander verschränken können und weil Kassetten – anders als alle anderen Massenmedien der damaligen Zeit – im Kommunikationsprozess durch die Akteure selbst verändert werden können. Erinnern wir uns: Anders als der Inhalt einer Schallplatte oder einer Radiosendung lässt sich der Inhalt einer Kassette von allen Akteuren, immer und an jedem Ort, oft sogar mit demselben Gerät, löschen statt rezipieren. Die Kommunikation ist vorübergehend unterbrochen. Der Tonträger an sich bleibt dabei aber erhalten und kann in einem neuen Kommunikationszusammenhang mit neuen Inhalten gefüllt werden.
867 Stuckrad-Barre 2007, S. 288.
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»Kassetten sind nice.« So fasst Florian Hofer, der junge Sänger der Bremer Nachwuchsband Consolers, sein emotionales Verhältnis zu Kompaktkassetten im Jahr 2017 zusammen.868 Hinter dem englischen Begriff »nice« verbirgt sich dabei viel mehr als die deutsche Übersetzung »nett« oder »hübsch«. »Nice« ist ein Allerweltswort. Es wird ständig benutzt, verweist in Deutschland sprachlich auf Jugendkultur und berührt gleichzeitig eine ästhetische Dimension. »Nice« bezeichnet ein freundliches, sympathisches Auftreten, »nice« ist gleichbedeutend mit praktisch, unkompliziert und hilfreich. Wer »nice« ist, ist beliebt, ohne sonderlich aus dem Rahmen zu fallen. Wenn Kassetten also »nice« sind, werden sie im Vergleich zur digitalen CD oder zum virtuellen mp3-file noch heute offenbar als liebenswert wahrgenommen, als im gewissen Maße dekorativ, als unspektakulär, aber eben auch als Vintage-Produkte, deren Gebrauch nicht allzu kompliziert ist, und damit als Kultobjekte zur Selbststilisierung. Kurz: Kassetten sind haptische Artefakte einer vergangenen Alltags- und Medienkultur, die im Zeitalter von Musik-Streaming-Diensten, Social-Media-Plattformen und Smartphones seltsam deplatziert und dennoch angenehm normal und vertraut wirken. Auf welche kommunikativen, technik- und sozialgeschichtlichen Grundlagen eine solche Wahrnehmung von Kassetten zurückzuführen ist, habe ich ausgehend von dem Begriff der Kassettenkultur in dieser Arbeit gezeigt. Ich habe Kassettenkultur im Sinne einer Medienkultur aus verschiedenen Perspektiven, in verschiedenen Kontexten und mithilfe unterschiedlicher Methoden analysiert und beschrieben und dabei festgestellt, dass Kassetten den Alltag der Menschen auf unterschiedlichste Weise begleitet und auch verändert haben. Im Zentrum der Untersuchung stand dabei die Analyse von Kulturpraktiken, die entweder der Produktion von Kassetten oder dem Konsum von Kassetten als Kulturobjekten dienen. 868 Vgl. Vorwort zu dieser Arbeit.
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Grundvoraussetzung für die Entstehung einer Kassettenkultur war demnach die Entwicklung einer Aufnahme-, Speicher- und Abspieltechnologie zur Produktion von Tonaufnahmen als solchen. Ich habe gezeigt, dass Speichern und Abrufen ein Grundbedürfnis der Menschen zur Bewahrung von Erinnerungen und damit zur Sicherung der eigenen Identität war und ist. Akustische Speicher haben – anders als Schriftspeicher – erstmals in der Geschichte der Speichermedien den Faktor Zeit abbildbar und das Abrufen von Speicherinhalten damit etwas weniger abhängig von der Phantasie und Vorstellungskraft der RezipientInnen gemacht. Akustische Speicher haben auch die Notwendigkeit hoher literarischer Kunstfertigkeit beim En- und Decodieren von Speicherinhalten durch die Notwendigkeit von technischem Knowhow beim Bedienen der Technologie ersetzt. Je einfacher die Speichertechnologie dabei war, je besser die Usability, desto mehr Menschen konnten Speichermedien nutzen. Akustische Speicher und vor allem die preiswerte Kompaktkassette mit ihrer guten Usability haben dadurch auf lange Sicht Speicher- und Abrufprozesse vereinfacht, von Bildung, Klassen- oder Schichtzugehörigkeit entkoppelt und damit mehr Menschen zugänglich gemacht. Mit der Produktion von Kassetten und Kassettenrekordern stand den Menschen ab 1963 erstmals ein akustisches Speichersystem zur Verfügung, das praktisch überall erhältlich war und prinzipiell von allen Menschen auch ohne technisches oder literarisches Vorwissen benutzt werden konnte. Damit war die Grundvoraussetzung geschaffen, dass Kassetten zu Gegenständen der Alltagskultur werden konnten und sich Kulturpraktiken im Umgang mit ihr entwickelten, die sowohl der Produktion von Kassetten-Inhalten als auch deren Konsum dienten. Diese Kulturpraktiken im Umgang mit Kassetten, die sich in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen ausgeprägt haben, wurden im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit beschrieben. Wichtig war mir dabei, in Zusammenhang mit Kassettenkultur die verschiedenen Ebenen des Kreislaufs der Kultur nach du Gay zu untersuchen: Produktion, Identität, Konsumption, Repräsentation und Regulation. Ich habe Kassettenkultur dazu in einem sozialgeschichtlichen Kontext untersucht und bin zur dem Ergebnis gekommen, dass der in Deutschland zwischen 1960 und 1990 stattfindende gesellschaftliche Wertewandel in der Kassette ein nachgerade ideales Begleitmedium gefunden hat. Die Kassette wird in einer Zeit, in der industrielle Massenwaren die Märkte überschwemmen, in der die unterhaltsame Gestaltung von freier Zeit wichtiger zu werden scheint als berufliche Arbeit, in einer Zeit, die gleichzeitig das Individuum und Möglichkeiten zur Selbstentfaltung viel stärker in den Blick nimmt als die Jahrzehnte davor, für die Werte wie Mobilität, Modernität und Jugendlichkeit prägend sind, zum Alltagsbegleiter. Sie hilft genauso, Freizeit zu gestalten wie einen eigenen Le-
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bensstil zu entwickeln, sie tritt als kommerzielles Massenmedium genauso in Erscheinung wie als individuell gestaltetes Kreativmedium, als mobiler Reisebegleiter genauso wie – gemeinsam mit dem Rekorder – als fester Einrichtungsgegenstand eines Jugendzimmers. Analog zu meinen Beobachtungen von Kassettenkultur im technikgeschichtlichen Kontext habe ich darüber hinaus auch bei der sozialgeschichtlich kontextualisierten Analyse einen mit der Kassette einhergehenden Wandel kultureller Produktions- und Konsumpraktiken hin zu mehr Partizipation bei der Gestaltung von Unterhaltungskultur feststellen können. Betrachtet man rein technische Herstellungs- und Fertigungsprozesse von Kassettenrekordern und Kassetten auf industriellen Produktionsstraßen und den Konsum kommerziell hergestellter Kassetten, so sind die Partizipations- und Variationsmöglichkeiten »normaler« Menschen natürlich gering. Kassettensysteme müssen nun einmal wie alle Massenmedien aus bestimmten Materialien, nach bestimmten Normen und unter festgelegten ökonomischen Bedingungen produziert werden, damit sie funktionieren. Und Kassetten können auch nur konsumiert werden, indem man sie in ein industriell gefertigtes und normiertes Abspielgerät steckt und selbiges in Betrieb nimmt. Betrachtet man dagegen die Möglichkeiten zur Partizipation an der Produktion von Kassetteninhalten, so sind es – anders als bei anderen Tonträgern – ganz und gar nicht nur wirtschaftlich oder gesellschaftlich starke und etablierte Eliten, die Kassetten als Kulturobjekte produzieren. Kassetten und Kassettenrekorder machen durch ihre Aufnahmemöglichkeit, ihre gute Usability, ihren niedrigen Preis und ihre hohe Mobilität prinzipiell jedem Anwender und jeder Anwenderin überall Partizipation an Prozessen möglich, die der Produktion von Kassetteninhalten im Sinne bedeutungstragender Texte dienen. Dadurch entstehen Möglichkeiten zur Teilnahme an öffentlichen Diskursen, und es entstehen Möglichkeiten, festgeschriebene Bedeutungen im Diskurs zu verändern, neu zu interpretieren und möglicherweise sogar in ihr Gegenteil zu verkehren. Kassettenkultur im gesellschaftlichen Kontext betrachtet, ist also ein höchst dynamisches, lebendiges und von einzelnen Instanzen schwer zu kontrollierendes und zu steuerndes Bedeutungssystem. Wie sehr sich Kassettenkultur allen Formen öffentlicher Kontrolle entzieht und wie viel individuelle Freiheiten sie ihren Anwenderinnen und Anwendern im Alltag tatsächlich ermöglicht, zeigt die Ergebnislosigkeit der vielen Debatten und Bemühungen, Kassettenkonsum und Kassettenproduktion durch juristisch, moralisch, pädagogisch oder politisch mächtige Instanzen zu reglementieren. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Je mehr Menschen selbstverständlich Kassetten im Alltag verwenden und je vielfältiger Kulturpraktiken im Umgang mit Kassetten werden, umso mehr andere
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Menschen ziehen sie mit und umso schwieriger wird wiederum eine Kontrolle und Steuerung von außen. Auch wenn man Kassettenkultur unter dem Gesichtspunkt von Kommunikation betrachtet, wie ich das im dritten und letzten Teil meiner Arbeit getan habe, kommt man zu einem ähnlichen Ergebnis: Kassettenkommunikation ist nicht in letzter Instanz kontrollier- und steuerbar. Kassetten als Kommunikationsmedien erlauben vielmehr die Partizipation aller Akteure an der Gestaltung kommunikativer Prozesse und die Öffnung eines kommunikativen Netzwerks, um neue und andere Akteure zu integrieren und selbst zu Kommunikatoren zu machen. Kassettenkommunikation entzieht sich einer vollständigen Normierung durch einzelne Akteure, und Kassetten machen es möglich, monologische Kommunikationsprozesse bedingt in dialogische zu verwandeln. Kassetten bringen Kommunikations-Profis wie Journalisten, Labelbetreiber oder Musiker mit einfachen Akteuren kommunikativer Netzwerke auf Augenhöhe, verschränken verschiedene Kommunikationsformen miteinander und sind in der Lage, als Erinnerungsspeicher – und damit bin ich wieder am Anfang meiner Ausführungen angekommen – individuelle, gesellschaftliche und öffentliche Ereignisse festzuhalten. Beim Wiederabspielen des Gespeicherten kann Kommunikation auf verschiedenen Zeitebenen stattfinden, unter Umständen vielleicht sogar mit Akteuren, die schon längst nicht mehr am Leben sind. Kommen wir nun noch einmal auf den eingangs zu diesem Kapitel zitierten Satz zurück: »Kassetten sind nice.« Sie sind nicht nur »nice«, weil sie alt sind und beinahe vom Markt verschwunden waren. Sie sind vor allem »nice«, weil sie ganz selbstverständlich Dinge vollbracht haben, die keines der designierten Nachfolgemedien in dieser Form weiterführen konnte. Denken wir etwa an die CD ROM, die zunächst gar nicht aufnahmefähig war: Als schließlich die ersten CD-Brenner auf dem Markt erschienen, war es Privatpersonen dennoch nicht ohne Weiteres möglich, eigene Aufnahmen mit kommerziellen zu verbinden und ein individuelles Produkt herzustellen. Schon gar nicht auf ein- und demselben Gerät: Neben einem CD-Player brauchte man dazu zumindest einen Computer und entsprechende (Schnitt-)Software, also weitere Technik. Kein Wunder, dass CDs im Radiobetrieb als Aufnahmemedien nie benutzt werden konnten. Vielmehr versuchte der öffentlich-rechtliche Rundfunk, als Erben der Kompaktkassette digitale DAT-Kassetten einzusetzen. Mit mäßigem Erfolg. Nicht nur, dass DAT-Rekorder extrem störungsanfällig waren. Nicht nur, dass DATKassetten als Abspielmedien extrem unpraktisch waren, wenn man versuchte, bestimmte Stellen auf dem Band zu finden. Von der Usability betrachtet, hatten DAT-Kassetten keinerlei Vorteile gegenüber der Kompaktkassette, weswegen die meisten mir bekannten Reporter die DAT-Ära einfach übersprungen haben
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und bis zum Aufkommen von Flashkarten-Rekordern zunächst bei ihren bewährten Kassettengeräten geblieben sind. Die gesamte DAT-Technologie war und blieb nebenbei bemerkt im Vergleich zu Kompaktkassetten auch teuer, weil sie sich nie wirklich als Alltagstechnologie durchsetzen konnte. Entsprechend wenige (zirka einhundert Titel) kommerzielle Produktionen gab es auf DAT zu kaufen,869 entsprechend wenige Menschen hatten ein Aufnahme- und Abspielgerät. Entsprechend exklusiv blieb die Technologie. Dasselbe gilt für Minidiscs und mp3-Player, die im Radiobetrieb zwar eine Zeitlang gebräuchlich waren, sich aber im Alltag der Menschen außerhalb der Radioredaktionen nicht längerfristig durchsetzen konnten: Das Angebot an vorbespielten Minidiscs mit Musik oder Wort war verglichen mit CDs verschwindend gering. Auf iPods oder anderen mp3-Playern war es – ähnlich wie bei CDs – zwar möglich, eigene »Mixtapes« in Form von Playlisten zu erstellen. Selbst Aufnahmen zu machen, war ohne zusätzliches Equipment jedoch nicht praktikabel. Keines der zunächst designierten Nachfolgemedien der Kompaktkassette war also wirklich in der Lage, die Kassette auf all ihren Einsatzgebieten und in all ihren sozialen, technischen und kommunikativen Funktionen zu beerben. Ich habe es im Verlauf der Arbeit bereits an einigen Stellen angedeutet: Erst als Apple-Chef Steve Jobs das iPhone am 9. Januar 2007 auf der Macworld Konferenz in San Francisco vorstellt, erscheint in der Öffentlichkeit fast fünfundzwanzig Jahre nach der CD endlich ein digitaler Nachfolger der Kassette, der ihre Idee bewahrt und weiterentwickelt. Natürlich waren Smartphones anfänglich in erster Linie Telephone und keine Tonträger. Dennoch sind sie in der Lage, Kassettensysteme tatsächlich nachhaltig abzulösen. Smartphones sind auch »sprechende Notizbücher«, die gesprochene Nachrichten nicht nur in akustische Symbole, sondern sogar in Schriftzeichen und wieder zurück übersetzen können. Sie sind klein, leicht, handlich, hoch mobil und werden immer erschwinglicher. Sie besitzen genau wie die ersten Kassettenrekorder integrierte Mikrophone und Lautsprecher sowie genormte Anschlüsse für Ladegeräte und Headsets. Sie lassen sich intuitiv bedienen, machen Aufnehmen und Abspielen auf demselben Gerät und ohne zusätzliches Equipment in passabler SoundQualität möglich. Sie erlauben individuelles und kollektives Hören, privates und öffentliches gleichermaßen. Auf ihnen lassen sich eigene Aufnahmen mit kommerziellen verbinden. Sie sind Spielzeuge, Kommunikationsmedien und Profitools in einem. Und sie sind überall dabei: im Auto mit eigenen Autohalterungen, auf Reisen, im Bett, beim Sport, bei Partys, bei der Arbeit, beim Hausaufgabenmachen. Auch Radio-Journalisten benutzen heute für Interviews und Re869 https://www.discogs.com/de/search/?format_exact=DAT, abgerufen am 13.3.2017.
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portagen immer häufiger Smartphones. Wieder ist also der Punkt erreicht, an dem Interviewer und Interviewte einander mit derselben alltäglichen Technik begegnen und die Hierarchien in kommunikativen Prozessen dadurch wesentlich flacher werden oder sogar ganz wegfallen. Dass mit Smartphones, neben Tonaufnahmen, auch photographiert und telephoniert werden kann, dass Smartphones auch als schriftliche Nachrichtenübermittler und -speicher funktionieren, als Radio- und Spielgeräte, bedeutet, dass neben den gesellschaftlichen, sozialen und kommunikativen Funktionen, die die Kassetten in ihrer Zeit erfüllt haben, im Grunde genommen das gesamte Medienverbundsystem, in das Kassetten eingebunden waren, heute dabei ist, auf ein einzelnes Medium überzugehen. Schon kleine Kinder können im Jahr 2017 ein Smartphone ohne Schwierigkeiten bedienen, weil sie genügend Gelegenheit haben, sich den Umgang damit überall abzuschauen. Smartphones sind bei den meisten Menschen stets griffbereit, verbreitet in allen Ländern der Welt, in allen gesellschaftlichen Schichten und in allen Altersklassen. Sie funktionieren gleichzeitig als Statussymbole, als Design- und Stilobjekte. Smartphone-Verbotsschilder in öffentlichen Räumen, Durchsagen bei Konzerten, die darauf hinweisen, dass Mitschnitte per Smartphone verboten sind, lassen genauso auf eine feste Verankerung von Smartphones in unserem Alltag und auf die Entwicklung einer eigenen Smartphonekultur schließen wie ständige öffentliche und mediale Debatten darüber, ob der exzessive Gebrauch der Geräte auf eine gesellschaftliche Schieflage schließen lasse, auf eine Verarmung anderer Kultur- und Kommunikationspraktiken, oder – wenn das nicht – so doch zumindest auf eine gesundheitliche Gefahr, die von den Geräten ausgehen könnte. Smartphones sind hübsch, praktisch und allgegenwärtig. Sie lassen sich schlecht kontrollieren und ebenso schlecht oder gar nicht steuern wie die Kommunikation mit Kassetten. Kassettenkultur hat den Umgang mit Medien und damit die Gesellschaft vielleicht tiefgreifender verändert, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Manche Gesellschaftshierarchien wurden mit Hilfe akustischer Speicher sozusagen »von unten her« auf den Kopf gestellt. Erinnern wir uns: Im Iran wurde mit der Kassette 1979 eine Revolution angezettelt. Der Arabische Frühling bediente sich rund dreißig Jahre später auf dem Weg in die Demokratie der damals neuen Smartphone-Technologie.
Literatur
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Susan Leigh Star
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Geert Lovink
Im Bann der Plattformen Die nächste Runde der Netzkritik (übersetzt aus dem Englischen von Andreas Kallfelz) Mai 2017, 268 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3368-9 E-Book PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3368-3 EPUB: 21,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3368-9
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Medienwissenschaft Gundolf S. Freyermuth
Games | Game Design | Game Studies An Introduction (With Contributions by André Czauderna, Nathalie Pozzi and Eric Zimmerman) 2015, 296 p., pb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-2983-5 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2983-9
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Annika Richterich, Karin Wenz, Pablo Abend, Mathias Fuchs, Ramón Reichert (eds.)
Digital Culture & Society (DCS) Vol. 3, Issue 1/2017 – Making and Hacking June 2017, 198 p., pb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3820-2 E-Book: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3820-6
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