Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft: Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, 15. und 16. Juni 2007, Universität Zürich 3515091491, 9783515091497

Die Reflexion über das Verhältnis der Rechtswissenschaft zu den Kulturwissenschaften wurde von der Forschung jahrzehntel

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English Pages 220 [226] Year 2007

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Table of contents :
InHalt
Hans Weder, Rektor der Universität Zürich: Grusswort
Erster Teil: Vorträge
1. Einleitung und Rückblick
Marcel Senn, Zürich: Recht und Kultur – ein dialektisches Verhältnis
Hasso Hofmann, Berlin: Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft – ein kritischer Rückblick
2. Recht und Politische Kultur: Antike – Mittelalter – Neuzeit
Ada Neschke-Hentschke, Lausanne: Recht und politische Kultur: der Entwurfscharakter des Rechts als Ideal einer Form des Zusammenlebens – die Perspektive der Rechtsphilosophie in der AntIke
Ruedi Imbach, Paris: Perspektiven des Mittelalters
Michael Fischer, Salzburg: Neuzeit als Aufklärungsprozess
3. Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft im 20. Jahrhundert
Stanley L. Paulson, St. Louis: Ein „starker Intellektualismus“: Badener Neukantianismus und Rechtsphilosophie
Hans-Peter Haferkamp, Köln: Neukantianismus und Rechtsnaturalismus
Kurt Seelmann, Basel: Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft – ein neukantianischer Gedanke und sein Fortleben
4. Kulturanthropologie
Enno Rudolph, Luzern/Heidelberg: Das Recht der Kultur – die Kultur des Rechts: von Herder zu Kant
Ulrich Haltern, Hannover: Erklärungsnotstand des Liberalismus: Warum Rechtswissenschaft keine Wissenschaft der Politik ist
Zweiter Teil: Voten
Paolo Becchi, Genua/Luzern: Die Ursprünge der Kulturwissenschaft in Deutschland und ihre Wirkung auf die geschichtliche Rechtswissenschaft
Stephan Kirste, Heidelberg: Ernst Cassirers Ansätze zu einer Theorie des Rechts als symbolische Form
Daniela Kühne, Zürich: Kulturrelativismus und Menschenrechte
Thomas Felix Mastronardi, Bern: Postmoderne Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft im Wertepluralismus
Sandra Hotz, Zürich: Gedanken zur Rechtsvergleichung als einer Kulturwissenschaft und über Europa hinaus
Carlo Regazzoni, Therwil: Der Antimodernismus, seine Hintergründe und seine Entwicklung zum normativen System: kulturphilosophische Überlegungen zur hundertjährigen Wiederkehr der Stellungnahme Papst Pius X zur Modernität
Julia Hänni, Erlenbach: Kurzer Blick auf Kultur, Selbstreflexion und Recht im Übergang von antikem zu christlichem Denken
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Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft: Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, 15. und 16. Juni 2007, Universität Zürich
 3515091491, 9783515091497

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Marcel Senn / Dániel Puskás (Hg.)

Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft? Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, 15. und 16. Juni 2007, Universität Zürich

ARSP Beiheft Nr. 115 Franz Steiner Verlag

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft?

ARSP BEIHEFT 115

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Archives for Philosophy of Law and Social Philosophy Archives de Philosophie du Droit et de Philosophie Sociale Archivo de Filosofía Jurídica y Social

Marcel Senn / Dániel Puskás (Hg.)

Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft? Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, 15. und 16. Juni 2007, Universität Zürich

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2007

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09149-7 Zugleich: 978-3-8329-3298-5 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2007 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Printed in Germany

Vorwort

der

Herausgeber

Mit dem kongress Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft?, der an der Universität Zürich vom 15. bis 16. Juni 2007 stattfand, hat die Schweizerische Vereinigung für Rechtsund Sozialphilosophie ein inhaltlich gewichtiges, wenn auch kaum modisches thema zur diskussion gestellt. das thema ging dabei auf eine initiative der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie zurück. es sollte die Jahrzehnte lang vernachlässigte reflexion über das verhältnis der rechtswissenschaft zu den kulturwissenschaften in kritischer abgrenzung gegenüber entwicklungen und erfahrungen wieder bewusster gemacht werden. Zugleich sollte an eine entwicklung angeknüpft werden, die in der historischen reflexion der Geschichtswissenschaften1 seit geraumer Zeit erneut aufgekommen ist. der kongress war in drei sektionen gegliedert: aus geschichtlicher sicht wurde zunächst das rechtsverständnis in antike, Mittelalter und neuzeit thematisiert. die zweite sektion befasste sich mit der nicht behandelten Grundlage von naturalismus und neu-kantianismus in der rechtswissenschaft. die dritte sektion schliesslich sollte nach konstanten fragen und diese unter dem aspekt einer erneuerten anthropologie weiter verhandeln, sodass im sinne eines resümees auswege aufgewiesen oder doch an rahmenbedingungen erinnert werden könnte, die sich im Zusammenhang von recht und kultur ergeben, und die uns auf den weiteren diskussionswegen begleiten sollten. folgende referentinnen und referenten haben mitgewirkt: − Prof. dr. iur. dr. h.c. Hasso Hofmann, em. Professor für öffentliches recht, rechts- und staatsphilosophie, Humboldt-Universität Berlin; − Prof. dr. phil. ada neschke-Hentschke, em. Professorin für antike Philosophie und Philosophiegeschichte, Université de lausanne; − Prof. dr. phil. ruedi imbach, Professor für Philosophiegeschichte des Mittelalters, Université Paris sorbonne Paris-iv; − Prof. dr. iur. et phil. Michael fischer, Professor für rechts- und sozialphilosophie sowie Politikwissenschaften, Universität salzburg; − Prof. dr. iur. dr. h.c. mult. stanley l. Paulson, William Gardiner Hammond Professor of law und Professor of Philosophy an der Washington University in st. louise, z. Zt. Gastprofessor an der christian-albrechts-Universität kiel; − Prof. dr. iur. Hans-Peter Haferkamp, Professor für Bürgerliches recht, neuere Privatrechtsgeschichte und deutsche rechtsgeschichte, Universität köln; − Prof. dr. iur. dr. h.c. kurt seelmann, Professor für strafrecht und rechtsphilosophie, Universität Basel; − Prof. dr. theol. enno rudolph, Professor für Philosophie, Universität luzern sowie Professor für religionsphilosophie, ruprecht-karls-Universität Heidelberg; − Prof. dr. iur. Ulrich Haltern, ll.M. (yale), Professor für deutsches und europäisches staats- und verwaltungsrecht, Universität Hannover;

1

Peter Burke, Was ist kulturgeschichte, frankfurt a. M.: suhrkamp, 2005.

6

vorwort

− Prof. dr. iur. Marcel senn, Professor für rechtsgeschichte, Juristische Zeitgeschichte und rechtsphilosophie, Universität Zürich. die Moderation der sektionen lag in den Händen von Prof. dr. iur. samantha Besson, Universität fribourg, Prof. dr. phil. simone Zurbuchen, Universität fribourg und Pd dr. phil. Ursula renz, etH Zürich und Universität Zürich. neben den vorträgen der referentin und der referenten enthält dieser kongressband in einem zweiten teil – überschrieben mit voten – auch Beiträge von kongressteilnehmenden. einige nehmen dabei Bezug auf themenbereiche, die von den referenten angesprochen wurden; andere lenken dagegen den Blick auf weitere, am kongress nicht angesprochene aspekte. diese vielfältigkeit reflektiert die Weite des themas und seinen diskussionsbedarf. finanziell unterstützt haben unser kongressprojekt die schweizerische akademie für Geistes- und sozialwissenschaften, der Zürcher Universitätsverein, die Hochschulstiftung der Bildungsdirektion des kantons Zürich sowie der schweizerische nationalfonds. ihnen gebührt unser herzlicher dank. Wir danken allen autorinnen und autoren für die engagierte Zusammenarbeit sowie dem steiner-verlag, insbesondere Herrn dr. thomas schaber und frau dr. annette Brockmöller, für die Unterstützung unseres Projekts und die Herausgabe dieses kongressbands als Beiheft des renommierten archivs für rechts- und sozialphilosophie. Zürich, 7. oktober 2007

Marcel senn dániel Puskás

InHalt

Hans Weder, rektor der Universität Zürich grusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .9

erster teIl: Vorträge 1. eInleItung und rückblIck Marcel senn recht und kultur – ein dialektisches Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .13 Hasso Hofmann rechtswissenschaft als kulturwissenschaft – ein kritischer rückblick . . . .23 2. recHt und PolItIscHe kultur: antIke – MIttelalter – neuzeIt ada neschke-Hentschke recht und politische kultur: der entwurfscharakter des rechts als Ideal einer form des zusammenlebens – die Perspektive der rechtsphilosophie in der antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .33 ruedi imbach Perspektiven des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .49 Michael fischer neuzeit als aufklärungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .59 3. recHtswIssenscHaft als kulturwIssenscHaft IM 20. JaHrHundert stanley l. Paulson ein „starker Intellektualismus“: badener neukantianismus und rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .83 Hans-Peter Haferkamp neukantianismus und rechtsnaturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 kurt seelmann rechtswissenschaft als kulturwissenschaft – ein neukantianischer gedanke und sein fortleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4. recHtsantHroPologIe enno rudolph das recht der kultur – die kultur des rechts: von Herder zu kant . . . . 135

inhalt

8

Ulrich Haltern erklärungsnotstand des liberalismus: warum rechtswissenschaft keine wissenschaft der Politik ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

zweIter teIl: Voten Paolo Becchi die ursprünge der kulturwissenschaft in deutschland und ihre wirkung auf die geschichtliche rechtswissenschaft . . . . . . . . . . 169 stephan kirste ernst cassirers ansätze zu einer theorie des rechts als symbolische form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 daniela kühne kulturrelativismus und Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 thomas felix Mastronardi Postmoderne rechtswissenschaft als kulturwissenschaft im wertepluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 sandra Hotz gedanken zur rechtsvergleichung als einer kulturwissenschaft und über europa hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 carlo regazzoni der antimodernismus, seine Hintergründe und seine entwicklung zum normativen system: kulturphilosophische überlegungen zur hundertjährigen wiederkehr der stellungnahme Papst Pius x zur Modernität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Julia Hänni kurzer blick auf kultur, selbstreflexion und recht im übergang von antikem zu christlichem denken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

Hans Weder, rektor der Universität ZüricH grusswort sehr geehrte kongressteilnehmerinnen und kongressteilnehmer liebe kolleginnen und kollegen ich freue mich, sie im namen der Universität Zürich herzlich willkommen zu heissen zu diesem kongress der schweizerischen vereinigung für rechts- und sozialphilosophie. ich überbringe ihnen gerne die Grüsse und die besten Wünsche der Universitätsleitung. ein besonderer Willkommensgruss gilt unseren Gästen aus dem ausland; wir freuen uns, dass sie unsere einladung angenommen haben. ein ebenso herzliches Willkommen gilt den kolleginnen und kollegen aus der schweiz; es ist schön, dass sie auf diese Weise die innerschweizerische kooperation pflegen, deren Wert – neben aller selbstverständlichen konkurrenz – hoch zu schätzen ist. ich hoffe, dass es ihnen wohl ist bei uns. ihre tagung befasst sich mit dem verhältnis von rechtswissenschaft und kulturwissenschaft. die frage, inwiefern rechtswissenschaft eine kulturwissenschaft sei, führt sie in eine dimension, die allen Wissenschaften gemeinsam ist und die auch in jeder Wissenschaft mit ernst und nachdruck beachtet werden sollte: die philosophische Grundlagenreflexion. neben allen fragen der rechtsfindung und -anwendung soll auch die rechtsphilosophie das ihr angemessene Gewicht haben. als Beispiel einer solchen reflexion könnte die frage dienen, was denn das recht mit der Gerechtigkeit zu tun habe. für laien ist dies oftmals keine frage, da sie – und ich zähle mich auch dazu – sich vorstellen, die ganzen mit der rechtswissenschaft und dem recht verbundenen aktivitäten dienten nichts anderem als der schaffung von Gerechtigkeit. ob diese vorstellung in der modernen rechtswissenschaft geteilt wird, vermag ich nicht zu beurteilen; die frage nach dem verhältnis von recht und Gerechtigkeit mag aber nach wie vor ein sinnvolles thema der Wissenschaft sein. dies umso mehr, als man im alltag – besonders im alltag eines rektors, der nicht ganz selten mit dem alltäglichen rechtswesen in Berührung kommt – häufig etwas ganz anderem begegnet: im alltag wird das recht meines erachtens zu stark zur durchsetzung eigener interessen verwendet und damit oft auf seine instrumentelle verwendung reduziert. dass das recht solche Möglichkeiten bietet, ist wohl der Preis, den wir für die äusserst sinnvolle einrichtung des rechtsstaats zu bezahlen haben. der schutz des einzelnen vor Willkür und Benachteiligung ist ein hohes Gut, für dessen erhalt die Möglichkeiten des Missbrauchs in kauf genommen werden müssen. dennoch: Wie immer man das in der rechtswissenschaft beurteilen mag, in den augen eines nicht-Juristen ist die spannung von recht und Gerechtigkeit ein sehr wichtiges thema, und sie hat elementar zu tun mit dem spannungsfeld zwischen anwendung des rechts und rechtsphilosophischer reflexion. Meines erachtens muss jede rechtswissenschaft sich – wie andere Wissenschaften auch – solchen grundlegenden philosophischen fragen stellen. dies gilt insbesondere angesichts der weit verbreiteten diagnose, dass wir in einer Wissensgesellschaft leben. Was müsste der Beitrag der Universitäten zu dieser

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Hans Weder

knowledge based society sein? die Wissensgesellschaft dürfte sich meines erachtens nicht damit zufrieden geben, dass sie möglichst viel Wissen produziert. sie müsste von der Grundlagenreflexion so etwas wie die kultivierung des Wissens erwarten. dazu haben die Universitäten einiges beizutragen. der Beitrag der Wissenschaft zur Wissensgesellschaft ist nicht die blosse Produktion von Wissen, sondern in hohem Masse auch dessen reflexion. Und das heisst nachdenken darüber, wie Wissen zustande kommt, was das Wissen verspricht oder was dessen Glanz und elend ist. insofern trägt die rechtswissenschaft Wesentliches bei zur kultur der gegenwärtigen Wissensgesellschaft. lassen sie mich zum schluss noch eine andere Beziehung herstellen zwischen rechtswissenschaft und kulturwissenschaft. neben der unabdingbaren reflexion der Wissenschaft und des Wissens gibt es auch eine wichtige Beziehung zwischen der Wissenschaft, in ihrem falle der rechtswissenschaft, und unserer kultur als solcher. Universitäten sind gegenwärtig konfrontiert mit deutlichen erwartungen aus Gesellschaft und Politik. eine gängige vorstellung ist dabei, dass Universitäten dazu da sind, die wirtschaftliche entwicklung zu befördern. es ist beinahe eine stehende Wendung geworden, in diesem Zusammenhang vom rohstoff Wissen zu sprechen, der namentlich in der schweiz als einem rohstoffarmen land eine grosse Bedeutung habe. aber die frage mag erlaubt sein, ob Wissen in Wahrheit als blosser rohstoff zu betrachten sei, mit welchem man etwas sinnvolles produzieren kann. Gewiss ist unbestreitbar, dass Wissenschaft auch anwendbar sein sollte. so verstanden rechtfertigt sich die Wissenschaft zu einem gewissen teil daraus, dass sie praktische anwendungen hervorbringt. doch der Wert der Wissenschaft erschöpft sich nicht in der Produktion solcher anwendungen. ihr Wert liegt mindestens so sehr darin, dass sie verstehen schafft, dass sie ihren Gegenstand der verstehenden vernunft erschliesst. Genau dieses verstehen ist als solches ein ethischer Wert, nicht erst die anwendungen, die sich aus ihm möglicherweise ergeben. sache der Wissenschaft ist es, verstehen zu ermöglichen. Und das verstehende Wissen ist nicht nur ein rohstoff, sondern seinerseits ein hohes kulturelles Gut. so gesehen leistet die rechtswissenschaft einen substanziellen Beitrag zur gegenwärtigen kultur. sie ist also, sofern sie ein kulturelles Gut hervorbringt, auch in diesem sinn eine kulturwissenschaft. es bleibt mir, ihnen gutes Gelingen zu wünschen bei ihrer arbeit und viel vergnügen an diesem kongress. das Programm, das für die zwei kongresstage zusammengestellt wurde, klingt vielversprechend und könnte den neidisch werden lassen, der nicht die Möglichkeit hat zur teilnahme.

erster teIl: Vorträge 1. eInleItung

und

rückblIck

Marcel senn, ZüricH recHt

und

1. PosItIon

kultur – und

eIn dIalektIscHes

VerHältnIs*

tHesen

ich lege meinen ausführungen folgende thesen zugrunde, die ich als eine personale und kulturanthropologisch fundierte Handlungstheorie des rechts verstanden wissen möchte: das recht ist vom Menschen für den Menschen gemacht. es stellt keine vorgegebene ordnung, ein natürliches system, dar, das aus sich selbst heraus entstünde, sondern das recht wird vom Menschen geschaffen und somit ist es auch ein teil seiner kultur. obwohl recht und kultur durch den Bezug zum Menschen und zu seiner Gesellschaft miteinander verschränkt sind, lassen sich doch beide Bereiche von kultur und recht als je autonom wahrnehmen. dies ergibt sich zunächst einmal aus der verschränkung mit dem Menschen, da es seiner veranlagung entspricht, sich selbst sein zu wollen. insofern sich der Mensch stets (auch) selbst verwirklichen will, drückt er seinen Willen zur selbstbestimmung auch in seinem recht und seiner kultur aus. Zum anderen ergibt sich die autonomie der beiden Bereiche von recht und kultur aus ihrer differenz in Bezug auf den gemeinsamen komplex von sozialen normen, die den Menschen betreffen. das recht setzt seine normen mit staatlichem Zwang durch, während die kultur darauf gerade verzichtet. das recht ist der Bereich der autorität, die kultur derjenige der argumentation. dabei gilt es zu beachten, dass keine kultur sich ohne das recht langfristig wirklich (das heisst frei) entwickeln kann, und umgekehrt kann auch das recht seine Wirkungsmacht erst durch seine kulturelle akzeptanz erhalten und erhöhen. so spielen sich verschränkung und autonomie der beiden Bereiche wechselseitig in die Hand. von diesem universalen oder grundsätzlichen aspekt des themas muss der historische aspekt als die jeweils konkrete erscheinungsform unterschieden werden. die Geschichte gibt die Belege oder Beispiele, aber sie ist nie der Beweis im strengen sinn. Unter dem historischen aspekt rechtfertigt sich etwa die aktuelle fokussierung des themas unseres kongresses auf die europäische Binnenperspektive. ein retrospektiver Blick belegt, dass die europäische Binnenperspektive zwei geschichtlich gegensätzliche verläufe aufweist. Bis ins 18. Jahrhundert hinein war das verhältnis von recht und kultur in Mittel- und Westeuropa mehr oder weniger intakt, insofern der Mensch aristotelisch als ein Wesen der schöpfung bzw. der natur betrachtet wurde, das seine selbstverwirklichung natürlicherweise erstrebt. die natur war mithin die selbstverständliche Grundlage auch von kultur und recht. daraus ergab sich eine ontologische Betrachtungsweise von sein und sollen, die durch die Bewusstseinsphilosophie in der spätaufklärung reflektiert und damit aufgebrochen wurde. die deontologische Perspektive separierte in der folge das sollen vom sein in einer Unerbittlichkeit, die gleichsam eine progressive „dekonstruktion“ aller Zusammenhänge einleitete und zunächst zu einer subjektivierung und relativie*

ich danke meinem assistenten lic. iur. dániel Puskás für kritische durchsicht und diskussion meines Beitrags.

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Marcel senn

rung des vorhandenen und Geschehenden führte, in deren verlaufe auch das subjekt der Bewusstseinsphilosophie selbst dekonstruiert und schliesslich vernichtet wurde. in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann man diesem totalen relativismus mit der fiktion eines sich selbst konstituierenden ordnungsgefüges im sinne von strukturalismus oder systemtheorie zu begegnen und theoretisch gleichsam einhalt zu geben. doch die individualisierenden elemente wurden dadurch nicht integriert, sondern die bisherige entwicklung vielmehr zementiert. der einst fruchtbare ansatz der spätaufklärung in einer art kritisch intellektuellen Balance die struktur- mit den individualelementen zu verbinden und dadurch gleichzeitig eine reibungsfläche für ontologische und deontologische Betrachtungsweisen zu bieten, war damit zerstört. indem die bisherige verschränkung der beiden Bereiche von sein und sollen erkenntnistheoretisch entkoppelt wurden, spalteten sich in der folge auch die Bereiche von recht und ethik bzw. kultur und natur. damit wich die ursprüngliche autonomie in der verschränktheit der beiden Bereiche einer tatsächlichen abhängigkeit des einen vom anderen. insbesondere geriet die intellektuelle komponente in argumentationsnot und begann sich mit den diskursargumenten der „natur“ oder des „lebens“ – was auch immer man darunter zu verstehen glaubte – zu behelfen, nicht zuletzt beeindruckt von den gewaltigen erfolgen der technik und naturwissenschaften seit den 1830er Jahren. das argument der „natur“ begann damit die diskurse in Wissenschaft und alltag zu dominieren. auch recht und kultur begannen sich zunehmend auf diesen neuen diskurs einzustellen und zwar entweder im sinne einer seriösen auseinandersetzung mit der Methodologie der naturwissenschaften, worauf kollege Hans-Peter Haferkamp in seinem referat eingehen wird, oder dann im sinne einer anlehnung an ein naturalistisches verständnis, wie es der sozialdarwinismus und die rassentheorien vollführten.1 daraus entstanden schliesslich jene verspannungen in der sicht und Behandlung der Probleme, die nunmehr zu den fragestellungen unsres kongresses führen und zu erörtern sind. eine mögliche lösung dieser Problematik könnte sich mit Blick in die nähere Zukunft darin abzeichnen, dass diese fiktionalen diskurse durch eine sicht der dinge, wie sie sich praktisch verhalten, ersetzt werden. dabei müsste das verhältnis der autonomie in der verschränkung von recht und kultur mit Bezug auf den Menschen wieder in den Mittelpunkt gerückt werden. dies gelänge meines erachtens am nachhaltigsten in der dialektischen denkfigur. Meine thesen möchte ich im folgenden kurz ausführen. 2. dIalektIk, recHt

und

kultur

freilich steht der Begriff der dialektik heute im verruf, weil er sich mit einer politischen ideologie gemein gemacht hatte. dennoch halte ich ihn für einen unersetzbaren ausdruck, der eine Gesetzesmässigkeit von Beziehungen und abläufen zwischen unterschiedlichen faktoren zu bezeichnen vermag, allerdings nicht im sinne einer teleologie, wie der deutsche idealismus oder der historische Materialismus ihn 1

Marcel senn, Rechtsgeschichte – ein kulturhistorischer Grundriss. 4. a., Zürich/Basel/Genf: schulthess, 2007, kap. 11 und 12.

recht und kultur – ein dialektisches verhältnis

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noch verwendet hatten, sondern im sinne eines durch den Bezug auf den Menschen strukturierten und strukturierenden kontexts. Mit dem Begriff der dialektik kann somit die anthropologisch bedingte verschränkung von recht und kultur als faktum und Prozess schlüssig ausgedrückt werden. Unter recht ist aus historischer Perspektive jenes soziale normgefüge zu verstehen, das sich mittels herrschaftlichem – in der europäischen neuzeit mittels staatlichem – Zwang durchsetzen liess. in erster linie will recht die privaten und gewaltförmigen abrechnungen zwischen einzelnen oder Gruppen absorbieren, zentral kontrollieren und steuern, um insbesondere eskalationen von konflikten zu vermeiden. in dem sinne will recht den anthropologisch bedingten konflikten ein prozessuales forum zur auseinandersetzung bieten und dadurch den sozialen frieden möglichst langfristig gewährleisten. recht ist somit vor allem einmal jenes normgefüge, das ein Problem oder eine streitfrage in den Beziehungen zwischen Menschen oder völkern durch friedfertige auseinandersetzung lösen will, und das deshalb auch gewährleistet, dass die Gewalt nur kaserniert im spiel bleibt. doch eine friedfertige Bereinigung menschlicher konflikte kann erst dann wirklich gelingen, wenn zugleich das Gefühl der streitenden für eine annehmbare – sprich: gerechte, faire oder gleichmässige – streiterledigung befriedigt wird, und sich dadurch der eindruck einstellen kann, diese lösung sei von dauer. diese einsicht ist jedenfalls für das verständnis der rechtsstaatlichkeit von heute grundlegend geworden. erst in zweiter linie ist recht jene form der im voraus festgesetzten Gerechtigkeitskriterien, wie wir dies aufgrund von Gesetzen, kodifikationen und Präjudizien gewohnt sind. Grundsätzlich verschafft recht somit dauerorientierung, was angesichts des subjektiven Gefühls infolge zunehmender Zeitraffungen und Brüchigkeiten für eine erfolgreiche Gestaltung des sozialen lebens elementar ist. Wenn hier betont von dauer die rede ist, dann soll damit in erinnerung gerufen werden, dass recht wirklich nur dann recht ist, wenn es dauerhaft ist. die permanente dynamisierung des rechts in den anschauungen oder in form von erlassen ist anthropologisch betrachtet unhaltbar. der Mensch sucht nach dauerhafter orientierung im leben – gerade wenn und weil alles andere vielleicht zerbricht und versagt –, und diese Garantien in den zwischenmenschlichen Beziehungen bietet ihm einzig das recht. Brüchiges, fliessendes, sich gleichsam tumorartig selbst schaffendes recht, dem die Menschen ausgeliefert wären, ist anthropologisch betrachtet ein Unding. der Mensch wird durch solche anschauungen übergangen, womöglich – so liesse sich gesellschaftspolitisch zuspitzen – soll diese gedankliche einstimmung auch dahingehend gefügig machen. Meines erachtens machen die heute verschleiernden diskussionsvarianten über das recht als systemaspekt dieses zum instrument einer kaste, die diese Prozesse für sich selbst etablieren und nutzen will. Hier lässt sich auch der Begriff der „kultur“ anknüpfen, insofern er ebenfalls mit der bewussten Pflege von strukturen zu tun hat, weil eine struktur sich nur in der Zeit ausbilden kann. im Unterschied zu den alltagsdiskursen, die allseits und überall von kultur schwatzen, lässt sich aus geschichtlicher sicht von einer kultur erst dann sprechen, wenn sie jenes strukturierte leben darstellt, welches das geistige wie körperliche leben der einzelnen und Gruppen bewusst und dauerhaft gestaltet und pflegt. die kulturell konkreten Gestaltungsformen können dabei ebenso vielfältig wie verschieden sein. Bezieht sich die kultur dabei auf den einen aspekt ihres Gestaltungsbereiches, nämlich auf reguläres verhalten der Menschen, so will sie im

16

Marcel senn

Grunde dasselbe wie das recht, nämlich den sozialen frieden des gemeinschaftlichen daseins sichern und dadurch die Menschen auf lange frist miteinander verbinden. doch im Gegensatz zum recht lassen sich diese regeln nicht mit Zwang oder autorität sondern nur kraft des arguments durchsetzen. dies entspricht der kulturellen art von konfliktmanagement. freilich bleiben die vorhandene kultur und insbesondere ihre entwicklungsmöglichkeiten ohne das recht schutzlos. denn ein argument ist stets ein appell an die einsicht und kann nicht Zuverlässigkeit bieten, die es im leben braucht. Umgekehrt lässt sich nicht verkennen, dass auch das recht stets eines kulturellen kontexts mit Blick auf den adressaten bedarf, um dadurch seine akzeptanz zu festigen, indem es seine gewaltförmige strenge und autoritative kälte gewissermassen kulturell erträglicher und menschlicher machen kann. dadurch erhöht sich seine Wirkungsmächtigkeit, denn diese liegt nicht in der tatsächlichen inanspruchnahme von Zwang und Gewalt, sondern in dem sich darauf gründenden vertrauen, dass das recht seine funktion implizit dadurch dauerhaft erfüllt, weil die Gewalt stets nur ultima ratio ist. recht, das sich stets zwangsmässig durchsetzen müsste, ginge daran zugrunde. an dieser schnittstelle der beiden auf dauer ausgerichteten Bereiche von kultur und recht zeigt sich letztlich mit aller deutlichkeit deren Bezug auf den Menschen und die Gestalt seiner Gesellschaft. in dem sinne lässt sich formulieren, dass es keine Kultur ohne Recht und kein Recht ohne Kultur gibt. 3. VerHältnIs

Von

recHt

und

kultur

zur

antHroPologIe

so wie die verschränkung von recht und kultur anthropologisch bedingt ist, so ist sie phänomenologisch betrachtet stets auch ein konkreter ausdruck der Geschichte. der schluss wäre indes verfehlt, den kultur- wie den rechtsbegriff deswegen als bloss historische Produkte eines beliebigen rahmenkontexts zu verstehen, auch wenn beide erst empirisch fassbar sind. doch sie bleiben im sinne der conditio humana des individuellen Menschseins stets der ausdruck des Menschseins überhaupt und sie sind daher im universellen sinn zu verstehen. denn der Mensch – kein system, keine Umwelt und kein anderes lebewesen – bedarf der kultur oder des rechts um seiner selbst willen. so wie die kultur und das recht den Menschen erst zu dem sich von anderen lebewesen unterscheidenden lebewesen „Mensch“ machen, so ist auch der Mensch wiederum der Grund von recht und kultur. das tier oder die übrige natur genügen sich weitgehend selbst. regelverhalten ist hier naturgesetz, das vorgänge und verhalten steuert. natur und tier bedürfen keiner kultur und keines rechts. damit seien nicht minimale standards verneint, die es auch hier gibt, sondern vielmehr die wesentliche differenz betont. nur der Mensch schafft und erfindet jene komplementären und komplexen Welten von kultur und recht. Und zwar entwickelt er diese Welten aus einem fast tragisch zu nennenden spannungsverhältnis zur Unzulänglichkeit seiner eigenen natur, die er technisch optimieren und weiter entwickeln muss, weil seine blosse natur zum gehaltvollen leben nicht annähernd hinreicht. der Mensch muss sich und alles um ihn herum weiter entwickeln, sich selbst verwirklichen und der Mensch muss intellektuell überhöhen, weil ihm seine blosse natur nicht genügt. dies scheint mir ein grundlegender aspekt, den insbesondere Baruch de spinoza in seiner ethica schon im 17. Jahrhundert ein-

recht und kultur – ein dialektisches verhältnis

17

sichtig gemacht hat. in dem sinne können wir sagen, dass dies ein anthropologisches faktum von universalistischer, kosmopolitischer oder transkultureller relevanz ist. Wenn wir hier also von kultur und recht sprechen, so meinen wir damit gerade nicht eine „von oben“ oder „von aussen“ verordnete, zugelassene oder zugewiesene funktionalität. Gemeint sein kann nur eine freiheit aus selbstbestimmung, wie sie die je eigene conditio humana eines jeden Menschen ausmacht. diese anthropologische auffassung von freiheit verträgt sich durchaus mit aussagen der heutigen Gehirnforschung2, wonach der Mensch zwar über Wahlmöglichkeiten, aber nicht über eine willentliche entscheidungsfreiheit verfüge. Wesentlich ist, dass er seinem Wesen nach sich faktisch selbst verwirklichen kann und dies im system sozialer normen auch darf. die intellektuelle Bewegungsfreiheit der Wissenschafter3 ist wohl die radikalste form dieser freiheit. insofern das regelsystem selbst aus seiner spezifisch anthropologisch bedingten autonomie erwachsen ist, und nicht einfach aufoktroyiert wird, ist es auch Garant einer freien entwicklung. Was sich aus diesen freien entwicklungen schliesslich ergeben kann, ist eine kultur der selbst bestimmten menschlichen existenz. auch in dieser Hinsicht gehören kultur und recht dialektisch zusammen. 4. antHroPologIe

und

autonoMIe

recht und kultur sind jedoch nicht einfach derivate einer anthropologisch bedingten kausalität. Wir wären mit solch einer annahme heute nicht weiter als die vertreter eines Materialismus oder naturalismus des 19. und 20. Jahrhunderts, die mit ihren zu kurz greifenden erklärungen scheiterten. solche mechanische argumentationsmuster können alles leben stets und nur als ein sich selbst ausdifferenzierendes natursystem darlegen. alle kulturellen erscheinungen, darunter auch das recht, wären demnach blosse Produkte dieses natursystems. Weder recht noch kultur hätten darin eine autonome stellung, und auch der Mensch träte nicht als eine autonome Person in erscheinung, weil alles letztlich blosse Be- und Zuschreibung von Prozessen, die ein natursystem erzeugt, wäre. der kontext von recht und kultur, wie ich ihn verstehe, setzt dagegen die idee der autonomie des Menschen als gedankliche notwendigkeit voraus. denn wenn nicht die freiheit aller die Grundlage von recht und kultur bildete, sondern Macht und Gewalt einer natur, eines systems und – so die denkbare, wie meist auch reale abfolge – eines regimes, dann wäre der Mensch faktisch wie gedanklich eine fremdbestimmte erscheinung der Materie. in diesem falle blieben auch seine Grundrechte blosse fiktion, bestenfalls wären sie ein Geschenk eines starken staats, der die rolle des neuen, aber endlichen Gottes einnähme, wie thomas Hobbes dieses Phänomen in seinem „leviathan“ 1651 bereits beschrieben hat. in dieser Betrachtungsweise 2 3

Marcel senn/daniel Puskás (Hg.), Gehirnforschung und rechtliche Verantwortung. Fachtagung der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, 19. und 20. Mai 2006, Universität Bern (arsP Beiheft nr. 111), stuttgart: franz steiner verlag, 2006. Marcel senn, die Bewegungsfähigkeit des interpreten. ein Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Pädagogik der textinterpretation in der rechtsgeschichte, in: Genese und Grenze der Lesbarkeit, hg. v. Philipp stoellger, Würzburg: verlag königshausen & neumann, 2007, 75–93.

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Marcel senn

bliebe der Mensch jedoch jenes unfreie Geschöpf ohne fähigkeit zur autonomen kultur und könnte daher nicht sein Humanpotenzial voll entwickeln. Würde das recht in dem sinne als blosses derivat eines solchen Begriffs von kultur, ökonomie oder materieller lebensbedingungen gesehen, so fehlte ihm letztlich die eigenständigkeit. solches recht wäre gewissermassen sinnlos, kein notwendiges element der menschlichen Gesellschaft, sondern mit fug ein verzichtbarer luxus. Und ebenso wenig machte es sinn, das recht nur als ein formales system irgendeines mehr oder weniger intellektuellen kommunikationsprozesses aufzufassen. recht erscheint in solchen Beschreibungen meist nur als ein sich selbst fortwährend erzeugendes Begriffsgeschwader. dass das recht zwar solche auswüchse zeitigt, ist so wenig eine innere Gesetzesmässigkeit des rechts selbst, als sich aus diesem historischen Phänomen selbst eine berechtigte aussage ableiten liesse. recht muss vielmehr über seine Historizität hinaus als ein in sich integres und autonomes, infolge seiner anthropologischen Basis aber auch notwendiges element des menschlichen lebens selbst begriffen werden, ohne das sich menschliches leben nicht wirklich, mithin aus sich selbst frei entwickeln kann. erst dann wird das recht in seiner autochthonen Mächtigkeit als intellektuelle idee und auch in seiner politischen Praxisrelevanz achtbar und nicht länger als derivat oder konstrukt der Beliebigkeit blossgestellt. 5. MenscHenbIld

und

gescHIcHte

des

recHts

Gewiss, diese aussagen sind allesamt nicht die meinen alleine, sie lassen sich zwischen aristoteles und Hegel historisch verorten. sind wir also auf einem überholten Pfad? ich meine nein, wenn wir die historischen spezifikationen von den Grundaussagen der autoren trennen. Wieso aber soll ein alter diskurs wieder aufgenommen werden? alt heisst nicht notwendig auch veraltet. nicht immer und vor allem nicht notwendigerweise ist das neue auch immer das richtige. Mit dem rhetorischen argument der Progressivität – einer verschwiegenen implikation teleologischer dialektik – wird bisweilen viel Unsinn getrieben. Wenn wir die Geschichte betrachten, dann stellen wir fest, dass der alte diskurs vor dem Hintergrund der gewaltigen Umwälzungen der europäischen Gesellschaft durch die kriege, revolutionen sowie die technischen und wirtschaftlichen innovationen im verlaufe der letzten zwei Jahrhunderte ins Hintertreffen geraten ist. aus dezidiert ideologischen Gründen von gegensätzlichen Gesellschaftsentwürfen wurde der alte diskurs gezielt angegriffen und aus der Position seiner argumentativen legitimität verdrängt. Man kann also präzisieren und sagen: „nur“ verdrängt. dies heisst aber nicht auch, dass die Gedanken selbst unbrauchbar, unvernünftig oder unberechtigt wären. Man hat ihnen nur die legitimation zeitweilig abgesprochen, wohl mit Gründen, aber wenn diese wieder wegfallen oder sich die neuen Gedanken, die an die stelle der alten traten, selbst hinfällig geworden sind, weil sie vielleicht nicht erfüllten, was sie verhiessen, dann sind die Gedanken weiter zu entwickeln. Zeigt diese Weiterentwicklung, dass einst verworfene vorstellungen dennoch ihre Berechtigung haben, dann sollte man so frei sein, die überzeugenderen ideen – selbst wenn sie die alten wären – wieder aufzunehmen, auch auf die Gefahr hin, dem vorwurf zu begegnen, dies sei konservativ. das ist nämlich kein argument, sondern ein Werturteil.

recht und kultur – ein dialektisches verhältnis

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auch die rechtswissenschaft selbst trägt nicht unwesentlich schuld an fehlentwicklungen. sie hat sich immer wieder den gesellschaftlichen Bedrängungen bis zur selbstverleugnung ihres kritikpotenzials gefügt. sie hat die trends des naturalismus oder Materialismus ebenso willig wie vorlaut mitgetragen, so wie sie heute den forderungen nach ungebremster rationalität und effizienz fast unterwürfig hinterher eilt. die Grundlagen der modernen Jurisprudenz wurden im spätmittelalter geschaffen und im Humanismus durch einen aktualisierungsversuch antiker denkfiguren weiterentwickelt. ihre Grundgedanken waren individualisierung und konkretisierung auf dem Wege analytischer argumentation. Bezogen sich diese errungenschaften zunächst noch auf eine ständische Gesellschaft und somit auf die Welt der gelehrten Männer, so ist die entscheidende Umgestaltung der Jurisprudenz zur rechtswissenschaft mit der egalisierung der Gesellschaft in den folgenden Jahrhunderten erfolgt. der fokus dieses transformationsprozesses lag jedoch keineswegs nur in formaler und quantitativer oder methodischer Hinsicht, wie dies oft betont wurde, sondern vielmehr darin, dass diese neue rechtswissenschaft jene Grundlage der weltimmanenten argumentation schuf, aus der die rechts- und Gesellschaftstheorie des vernunftzeitalters und der aufklärung hervorgehen konnten, welche die Grundrechte der Menschen theoretisch fundierten. dies scheint mir die kernerrungenschaft der Moderne oder vielmehr das kulturgut des rechts überhaupt zu sein, das bewusst zu pflegen ist. die rezeption der neuen rechtstheorie des vernunftzeitalters hing entscheidend von der akzeptanz eines neuen Menschenbildes ab.4 denn die anthropologie, auf der die rechtstheorie des 17. Jahrhunderts beruht, erschien nach den grossen kriegen in europa mit den Zielen der konfessionalisierten, aber christlichen Gesellschaften und staaten kaum kompatibel. sie galt den meisten Zeitgenossen als gottlos.5 die Gesellschaft musste erst umlernen, sie musste den nutzen der medizinischen sicht auf den Menschen zuerst erkennen lernen. ohne die verbindung der rechtstheorie des 17. Jahrhunderts mit der konkreten erfahrung der medizinischen Praxis und theorie hätte diese sich im 18. Jahrhundert kaum etablieren können. dieser sachverhalt erweist, welche Bedeutung das Menschenbild für das recht letztlich hat. vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und politischen Umwälzungen ende des 18. Jahrhunderts verlor sich jedoch diese rechtstheoretische spur der Moderne in europa wieder. sowohl der Historismus als auch der kantianismus brachen das fundamental-ontologische Prinzip des bisherigen vernunftrechts auf, wonach sich das sollen gewissermassen aus dem sein weltimmanent erschlösse. die kritik war ebenso zutreffend wie sie allerdings überspitzt war; sie wies in die schanken, aber sie 4

5

Marcel senn, der Mensch zwischen recht und natur. die veränderung des Menschenbildes vor dem Hintergrund der wissenschaftstheoretischen Grundlagenforschung und deren auswirkungen auf die rechtstheorie in der frühen neuzeit, in: Akten des 36. Deutschen Rechtshistorikertages, 2006 (noch nicht erschienen). Marcel senn/susanne raas, War thomasius spinozist? – Zur spinozismus-rezeption an den brandenburg-preussischen Universitäten, in: Christian Thomasius (1655–1728), Wegbereiter moderner Rechtskultur und Juristenausbildung. Rechtswissenschaftliches Symposium zu seinem 350. Geburtstag an der Juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, hg. v. Heiner lück, Hildesheim/Zürich/new york, 2006, 55–73.

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Marcel senn

führte auch zu unnötigen spaltungen. in der folge zerfiel auch das rezeptionsvermögen der modernen rechtstheorie in die bisher miteinander verschränkten elemente, die (insbesondere im sinne der kantianisch geprägten Wahrnehmung) nunmehr in den antinomischen kategorien von kultur und natur gesehen wurden. die konzentration des restaurationszeitalters, in deren kontext die renommierten ansichten der vertreter der Historischen rechtsschule standen, auf die figuren des alten römischen rechts, die sich an der vorstellung eines gutbürgerlichen Händlers orientieren, liess die bedeutungsvolle verbindung von neuem naturwissen und recht ohnehin ungenutzt auseinander treten. Und ebenso wie das recht entwickelten sich aber auch die naturwissenschaften und Medizin ohne Bezug zu kulturellen aspekten methodologisch innerdisziplinär weiter. so strebten die kultur- und naturwissenschaften im Zuge des Positivismus des 19. Jahrhunderts einerseits auseinander, anderseits merkten gerade die Zeitgenossen der kultur- und geisteswissenschaftlichen Zünfte alsbald doch, dass ihre abstrakten systeme und begrifflichen dogmatiken keineswegs ausreichten. Zum einen wurden methodologische defizite, zum anderen wohl aber auch inhaltliche Mängel bemerkt, die es auszugleichen galt. orientierungspunkte bildeten dabei die methodologischen stärken der exakten naturwissenschaften sowie der quasi-metaphysische Begriff der „natur“. die orientierung an der Methodologie der seriösen naturwissenschaften auf der einen seite, aber auch an einem naturalismus ohne wissenschaftstheoretisch saubere Basis auf der anderen seite, schien nahe liegend. insbesondere wurde die „nackte natur“ nunmehr zum neuen metaphysischen ausdruck der allmacht, in deren Zentrum freilich auch die faktizität der Gewalt stand. Gewalt und Macht der natur, eines systems, eines regimes waren die Zielpunkte der fehlgeleiteten entwicklung für das folgende Jahrhundert. das recht orientierte sich daher in der folge zunehmend auch – freilich nicht nur, denn es gab ja auch den seriösen Positivismus wie ihn etwa Hans kelsen im 20. Jahrhundert vertrat – an solchen naturalistischen auffassungen, wie sie die rassenlehren, die volkshygiene oder der sozialdarwinismus repräsentierten.6 der naturalismus passte – dies sollten wir indes nicht verkennen – gut zu der zunehmend aggressiveren Mentalität und zum nationalen konfliktwillen dieser Zeit. nicht zuletzt könnten uns diese erfahrungen aus und mit der Geschichte des rechts zeigen, wo der Grenznutzen eines naturalistischen Menschenbildes für die rechtstheorie liegt. denn immerhin waren es, wie bereits betont, nicht die ideologie der evolution, sondern die kulturellen und technischen leistungen, die uns als Menschen über unsere von natur her unzulänglichen Möglichkeiten des menschlichen körpers hinaus tatsächlich weiter gebracht haben. 6. recHt

und

kultur

auf antHroPologIscHer

basIs

Man mag unter vorhalt dieser kritischen elemente des historischen diskurses nochmals versucht sein einzuwenden, es handle sich um eine eurozentristische Perspektive zum thema kultur und recht, die hier vorgetragen werde, wie diese in asien

6

Marcel senn/lukas Gschwend, Rechtsgeschichte II – Juristische Zeitgeschichte, 2. a, Zürich: schulthess, 2004, kap. 3–5.

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etwa so nicht vorkomme. es ist unbestritten, dass diese sicht historisch ihre Wurzeln hierorts hat; sprache und referenz auf wertvolle autoren bezeugen dies freimütig. doch – wie zuvor bereits klargestellt – sind die Gedankengänge selbst trotz der historischen verschränkung der aussagen nicht weniger universalisierbar bzw. globalisierbar oder kosmopolitisch von Geltung. eine syrierin wie ein inder, eine chinesin wie ein Bolivianer kann – muss nicht – dies so auch denken. denn weder geschlechtliche noch historische bzw. ethnische, und insbesondere nicht nationale kategorien sind relevant, wenn es um den Menschen schlechthin geht. nüchtern betrachtet ist ein Mensch ja nichts anderes als ein Zweibeiner mit kopf, der meist über Gefühle, vorstellungen und auch die Möglichkeit zu deren artikulation verfügt. seine vorstellungen und Möglichkeiten zu ihrer äusserung sind zwar auch kulturell geprägt, wie sie ihrerseits weiter prägen. Jedoch unabhängig von einer konkreten Gesellschaft und Geschichte ist allen Menschen anthropologisch gemeinsam, dass sie die freiheit wollen, sich selbst sein wollen, sich selbst äussern und entsprechend ihre kultur autonom ausdrücken wollen. durch diesen spezifisch inneren Willen verbinden sie sich miteinander und entsprechen damit der tatsache, dass sie alleine nicht existieren können. als gesellschaftliche Wesen geben sie ihrer vergesellschaftung schliesslich eine bestimmte kulturelle und rechtliche struktur. insofern stellen recht und kultur selbst eine spezifisch anthropologische faktizität der menschlichen natur dar, und dennoch bleibt den Menschen die Mächtigkeit zum autonomen denken, und sie können sich daher von den diskursen ihrer historischen Bedingtheit reflexiv auch lösen und theoretisch-kritische Gedanken von transkultureller ausrichtung neu erwägen. von diesem fokus aus gehen letztlich die meisten impulse der veränderungen zwischen den verschiedenen Bereichen aus. der Begriff der dialektik ermöglicht auch hier die Betonung des kontexts von konkreter wie allgemeiner erscheinungsform von recht und kultur. er vermag sowohl die Gleichzeitigkeit einer zwar grundsätzlich je eigenartigen entwicklung von recht und kultur im sinne ihrer faktizität aufzuzeigen, wie diese gleichzeitig auch teil eines intellektuellen und alltäglichen diskurses und somit eines weiterführenden Prozesses sind. Je mehr sich die kultur ausdifferenzieren und autonom entwickeln kann, desto ausdifferenzierter muss auch das rechtssystem sein. nur dann lässt es verschiedene individuelle ausdrucksräume zu – wie auch immer diese konkret gestaltet sein mögen – und erst dann sichert, vielleicht fördert es diese sogar. dieses rechtsverständnis, wie es hier vorgetragen wurde, beruht auf dem zentralen Gedanken der freiheit aller, der einzelnen Menschen, ihrer verschiedenen Gruppierungen, aber auch der kulturen. daher bedarf alle kultur einer Garantie ihrer entwicklungsmöglichkeiten und diese Garantie stellt zuverlässig und dauerhaft einzig das recht, sofern es selbst aus dieser Mächtigkeit der autonomie resultiert. ich hoffe, mit diesen ausführungen die Grundlagenproblematik unserer thematik des verhältnisses von rechts- und kulturwissenschaft in groben Zügen erfasst zu haben und bitte sie, diese ansichten in den nächsten stunden ebenfalls kritisch mit zu diskutieren.

Hasso HofMann, Berlin recHtswIssenscHaft als kulturwIssenscHaft – eIn krItIscHer rückblIck 1. von einem unmittelbar am ende einer tagung gegebenen rückblick wird man keine systematische verarbeitung des Gebotenen erwarten. Möglich sind und versprochen waren nur einige kritische, hie und da vielleicht ergänzende nach-Gedanken. der situation geschuldet sind sie unvermeidlich selektiv und ziemlich subjektiv, etwas improvisatorisch und gelegentlich von dem mitbestimmt, was der Beobachter sozusagen in seinem Gepäck hatte. den von solchen Momenten geprägten charakter der schlussbemerkungen bewahrt auch die vorliegende (auf der Grundlage der ursprünglichen notizen erstellte) schriftliche fassung. 2. das Generalthema wirft eine frage auf. sie kann von der rechtswissenschaft wie von der kulturwissenschaft (oder den kulturwissenschaften) her angegangen werden. Gemäß den einzelnen themenstellungen und entsprechend der Zusammensetzung des teilnehmerkreises überwog der rechtstheoretische Zugriff. der damit eröffneten sicht ist schon Marcel Senns einleitungsreferat über das „dialektische verhältnis“ von recht und kultur zuzurechnen. als kerngedanke erscheint die verschränkung von recht und kultur aus der menschlichen veranlagung zur freiheit. denn ihre entfaltung brauche die Pflege kultureller strukturen als Bedingungen der Möglichkeit individueller freiheit. dieser zweite Punkt gab in der aussprache anlass zu der kritischen rückfrage, ob damit nicht der heute umstrittene Universalitätsanspruch der abendländischen kultur verabsolutiert werde. so oder so ist recht in dieser sicht nur recht, wenn es dauerhaft ist. denn nur stabile regeln gestalten die mitmenschlichen Beziehungen verlässlich, und nur eine dauerhafte ordnung gewährleistet frieden. in der tat ist die (relative) Entzeitung des rechts, d. h. die ablösung des gesetzten rechts (nur darum geht es) von den individuellen rechtssetzern und den konkreten setzungsvorgängen unter Wahrung seiner verbindlichkeit eine fundamentale kulturelle leistung. das recht primär kulturwissenschaftlich erfassen, setzt einen Begriff von kultur voraus, in dem sich sein und sollen, vergangenheit und Zukunft einer ethnie zu ihrer identität verbinden. Enno Rudolph zeigt in seiner in die tiefe gehenden historisch-kritischen studie, dass dies wohl nur in der form einer von zwei konträren philosophisch grundierten kulturtheorien möglich ist. die eine, ein konzept von kulturpluralismus und kulturrelativismus, das den anspruch jeder ethnie auf ausbildung einer spezifischen kulturellen identität verteidigt und der Universalisierung von rechtsnormen Grenzen setzt, solange das recht zur kulturellen Besonderheit einer bestimmten rechtsgemeinschaft gehört – dieses konzept stammt von Herder.

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Hasso Hofmann

für das entgegengesetzte Modell des kulturuniversalismus steht der name kants und dessen überzeugung von der menschlichen einheit der vernunft. die ganze Problematik und letztlich ihre Unlösbarkeit deuten sich in kants Entwurf zum ewigen Frieden an: Zwar konzipiert er eine Weltfriedensgemeinschaft der völker, eine civitas civitatum, zögert aber doch, eine homogene rechtsgemeinschaft der völker zu postulieren. im Gegensatz zu einer kulturwissenschaftlichen Behandlung der rechtswissenschaft von außen als eines apriori kulturrelativen teils einer bestimmten umfassenden, aber je partikulären lebenswelt, steht der versuch, die rechtswissenschaft von innen heraus, durch kritische philosophische selbstreflexion als relativ autonomen Beitrag zum elementaren selbstverständnis dieser lebenswelt zu begreifen. in dieser Weise will Ulrich Haltern die rechtswissenschaft als analyse des rechts verstehen, das als symbolische form, d. h. als eine sinnstiftende geistige schöpfung, eine art Glaube, durch Grundbegriffe wie verfassung oder verfassunggebende Gewalt des volkes unsere vorstellungen von der sozialen und politischen ordnung konditioniert und stabilisiert. damit sucht er die dogmatische rechtswissenschaft und die rechtspraxis „kulturwissenschaftlich“ auf die geistigen Grundstrukturen einer lebenswelt hin zu überschreiten. als Methoden postuliert Haltern eine genealogische und eine architektonische analyse der symbolischen form recht. das ist gleichbedeutend mit den versuchen, die Herkunft und die konfigurationen oder die struktur des Glaubenssystems „recht“ zu verstehen. offen blieb im referat wie in der sehr lebhaften aussprache, was dieser abstrakte und tentative ansatz konkret leistet. in gewisser Weise erinnert er an carl schmitts Begriffssoziologie, die ja ebenfalls bis in den theologischen bzw. metaphysischen kern der juristischen Begriffe getrieben werden sollte. diese ungeklärte verwandtschaft belastet Halterns versuch zusätzlich1. 3. für den geschichtlichen teil der tagungsarbeit war das Generalthema in zweifacher Weise spezifiziert worden: es sollte insoweit nicht um recht und kultur im allgemeinen, sondern um recht und politische kultur gehen und zwar in der Perspektive idealer rechtlicher ordnungsentwürfe. 1. für die (griechische) antike hat Ada Neschke-Hentschke die fragestellung mit den Begriffen der praktischen Philosophie verfeinert. sie nimmt die für das griechische rechts- und staatsdenken maßgebliche frage Platos nach der „besten verfassung“ gegen den gängigen vorwurf utopischer Gedankenspielerei in schutz und begreift sie mit kant als „notwendige idee“, d. h. als eine im praktischen politischen denken unverzichtbare Zielvorgabe und Handlungsorientierung. Wenn dies im Hinblick auf die großen philosophischen staatsutopien der griechischen antike richtig ist – für 1

inzwischen hat Ulrich Haltern seine vorstellungen am Beispiel des souveränitätsbegriffs zu verdeutlichen versucht: Ulrich Haltern, Was bedeutet Souveränität?, tübingen: Mohr siebeck, 2007. er sieht den Begriff „genealogisch“ als Produkt einer kath. politischen theologie, die den staat sakralisiert, sodass sich seine Bürger für ihn opfern. eingehende kritik von christoph schönberger in: JZ 62 (2007), 12, 628.

rechtswissenschaft als kulturwissenschaft – ein kritischer rückblick

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Platos Nomoi (Gesetze), aristoteles’ absolut beste verfassung nach dem vii. Buch der Politik und für des stoikers Zenon weniger bekannte fragmentarische Politeia (verfassung) –, dann müsste diese Grundstruktur des praktischen denkens auf ein Ziel hin über die erfahrung hinaus auch außerhalb der staatsutopien zu finden sein. dieser Gedanke ist das Besondere und neue dieses Beitrags. danach erscheint der entwurfscharakter des rechts in drei Zielvorstellungen: (1) „dass überhaupt recht, d. h. recht-sprechung, sein soll“: recht als ideal friedlicher konfliktlösung. dafür wurden Homer, Hesiod und aischylos als Zeugen aufgerufen. (2) „dass der spruch des richters gerecht, ‚gerade‘ sein soll“: Gerechtigkeit der rechtsprechung steht gegen menschliche Willkür nach Maßgabe der aristotelischen lehre von der richtergerechtigkeit. (3) „dass das recht, d. h. … das Gesetz der Polis, soweit es das bürgerliche Handeln reguliert, überhaupt überflüssig werden soll“: nach den staatsutopien soll das innere Gesetz, die vernunft in jedem Bürger die leitung übernehmen. Gewisse sozusagen kulturwissenschaftliche Bedenken habe ich gegen Neschke-Hentschkes these, die idealität der politischen ordnung nach den klassischen staatsutopien sei universell; denn sie betreffe alle Menschen, wenn auch in ja besonderen Gemeinschaften. Gerät damit nicht eine grundlegende differenz zwischen Plato und aristoteles einerseits und den stoikern andererseits zu weit aus dem Blickfeld? Beziehen sich die lehren der klassiker doch auf die geschlossene und sozial gestufte ordnung der griechischen poleis, während die kosmopolitischen stoiker, vom Gründervater angefangen, individualistisch, egalitär und damit prinzipiell universell denken. 2. Was die „Perspektiven des Mittelalters“ betrifft, vertritt Ruedi Imbach für die Zeit der Hochscholastik (13. und 14. Jahrhundert) die these, dass das nachdenken über recht und Gesetz sowie über den Ursprung von recht und Gesetz zu drei unterschiedlichen entwürfen einer rechtlichen Weltordnung geführt hat. als maßgebliche texte erscheinen hauptsächlich: – – –

thomas von aquin, summa theologiae, i–ii q. 90 ff. über die kosmische normenordnung, dante, de monarchia, Marsilius, defensor pacis.

dante und Marsilius werden im Gegensatz zu thomas von aquin als vertreter einer „radikalen neuorientierung des politischen denkens“ gesehen, das auf die „neuzeitliche Perspektive des Welt- und Politikverständnisses“ hinweist. für dante lautet das einschlägige stichwort: „trennung von kirche und staat“, für Marsilius: „menschlicher statt göttlicher Gesetzgeber“. Was die beiden in der tat verbindet, ist die Polemik gegen die weltlichen Herrschaftsansprüche des Papsttums (Bonifaz viii., Bulle Unam Sanctam, 1302). richtig ist gewiss auch, dass dante keine scholastische, auf den vergleich und die konkordanz von autoritäten gestützte Beweisführung bietet, sondern sich hauptsächlich auf aristoteles beruft, mehr als auf die Bibel. außerdem gibt er die lehre von der erkenntnis kraft des analogiedenkens des vernünftigen Menschen auf zugunsten

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der erkenntnis durch den Gesamtintellekt der Menschheit im Ganzen, wie averroes das gelehrt hatte. Gleichwohl bleibt dantes Weltbild mittelalterlich. Zwar stammt die autorität des kaisers unmittelbar von Gott, doch behauptet der Papst eine art ehrenvorrang (Mon. iii 15, 13 ff.), und v. a. wird die notwendigkeit der doppelten: geistlichen und weltlichen führung nicht in frage gestellt. das ist bei Marsilius ganz anders. Mittelalterlich mutet des weiteren dantes analogie von weltlicher politischer ordnung und göttlicher Heilsordnung an. Geschichte ist für ihn Heilsgeschichte. der interessanteste Punkt dürfte dantes mittelalterlicher Universalismus sein, mit dem er wiederum im Gegensatz zu Marsilius steht. in analogie zur kosmischen ordnung mit einem Beweger, einem Herrscher und einem Gesetz fordert dante die einigkeit der Welt unter der vornehmlich richterlichen oberhoheit des kaisers (Mon. i 9–11), in der vielleicht das staufische kaiserbild nachwirkt2. die Weltmonarchie, in der die menschliche Gattung Gott am meisten ähnlich wird (Mon. i 8, 5), ist das Prinzip, von dem her dantes gesamte politische Philosophie zu verstehen ist (Mon. i 2, 8). die Weltmonarchie bezeichnet die verwirklichung der universalen Menschheitskultur: finis universalis civilitatis humani generis (ebd.). die universalis civilitas humani generis ist mehr und etwas anderes als eine universalis civitas. es gibt dazu eine schöne dante-studie von Fritz Kern mit dem titel Humana Civilitas. aber die ist fast 100 Jahre alt: sie erschien 1913. vielleicht wäre eine neue kulturwissenschaftliche Untersuchung an der Zeit. 3. die neuzeitlichen Perspektiven auf den entwurfscharakter des rechts hat Michael Fischer bunt und lebendig vergegenwärtigt. ich möchte mich hier darauf beschränken, kontrapunktisch sieben, eher konventionelle themen zu nennen, die ergänzungsweise in Betracht gezogen werden können: (1) die Modernität von thomas Morus’ „Utopia“ im vergleich mit den antiken staatsutopien. (2) die rekonstruktion eines transkonfessionellen europäischen rechtsbewusstseins diesseits der Glaubensspaltung: Hugo Grotius. (3) die revolution des Gedankens vertraglicher Begründung von Gesellschaft und staat: von der Genese zur analyse sozialer verbände. (4) das neue „geometrische“ Wissenschaftsideal. (5) Bildung und entwicklung des modernen verfassungsbegriffs: emmerich von vattel aus couvet, kanton neuenburg, sächsischer Geschäftsträger in Bern: „die verfassung ist der Plan der nation für ihr streben nach dem Glück“ (1758). (6) inauguration der rechtssoziologie durch Montesquieu, der die „vernunftgründe“ für die „lebensregel“ eines jeden volkes zu zeigen beansprucht. (7) das recht als Bewusstseinsgestalt des neuzeitlichen europäischen Geistes (Hegel).

2

einige Bemerkungen dazu bei Hasso Hofmann, Verfassungsgeschichte als Phänomenologie des Rechts (= sitzungsberichte der Bayer. akad. d. Wissenschaften – Phil.-Hist. kl. Jg. 2007, H. 3), München: verlag der Bayer. akad. d. Wissenschaften, 2007, 6 ff.).

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4. den Mittelpunkt der tagung bildeten aus gutem Grund jene referate, die sich mit der rechtswissenschaft und ihrem wissenschaftstheoretischen status im kraftfeld des neukantianismus beschäftigten. denn kurt seelmanns gewichtiger und profunder text zeigt ja sehr klar, wie der folgenreiche neukantianische entwurf der Wertphilosophie mit ihrem rekurs auf die – heute zentrale – kategorie der kulturwissenschaft einer doppelten verlegenheit der Philosophie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsprang, nämlich der inhaltlichen auszehrung durch die expansiven einzelwissenschaften und der fragwürdigkeit der eigenen Wissenschaftlichkeit in dieser konkurrenz. Und er demonstriert, wie Heinrich rickerts schüler emil lask aus diesen vorgaben die Begriffe der rechtsphilosophie als einer reinen Wertwissenschaft und der rechtswissenschaft als einer „empirischen kulturwissenschaft“ bildete. trotz der Ursprungs-verwandtschaft „im anschluss an die kant-interpretation Windelbands und simmels“3 widersprach dieser vorstellung der normentheoretiker Hans kelsen mit einer bemerkenswerten Präsenz über die Zeiten. stanley l. Paulson hat an einen der frühen kernsätze kelsens dazu samt dem fin de siècle-kontext erinnert4. in dieser vom neukantianismus geprägten dualen, wissenschaftstheoretischen ideenwelt wirkte allerdings noch ein spezielles methodologisches Motiv: der dem naturwissenschaftlichen kausalitätsdenken entgegengesetzte Zweckgedanke. als initialzündung hatte Jherings rekurs auf den Zweck im recht gewirkt. sein bekanntlich schillernder Zweckbegriff taugte den neukantianern im detail dann zu unterschiedlichen verwendungen. in besonders prominenter Weise hat radbruch die Zweckmäßigkeit neben Gerechtigkeit und rechtssicherheit zu einem element seines rechtsbegriffs gemacht. alles das ist durch Hans-Peter Haferkamp vorzüglich aufgeklärt worden. voraussetzung für die rechtswissenschaftliche Hinwendung zum Zweckgedanken war freilich zunächst, wie mir scheint, die abkehr von der Begriffsjurisprudenz gewesen, wie sie aus der Historischen rechtsschule herausgewachsen und gerade von Jhering ehedem leidenschaftlich verfochten worden war. dokument dieser kehre ist Jherings Wiener antrittsvorlesung von 1868 unter dem titel „ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?“5. die frage mag an den 20 Jahre älteren vortrag des Berliner staatsanwalts Julius v. kirchmann über die „Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“ erinnern6. aber kirchmanns Plädoyer für eine nicht nur die tat-, sondern auch die rechtsfragen umfassende laiengerichtsbarkeit, seine forderung, „das 3 4

5 6

so Hans kelsen in den Hauptproblemen der Staatsrechtslehre über seinen ansatz, zit. nach stanley l. Paulson. Jetzt wäre noch „Hans kelsens Wissenschaftsprogramm“ von Horst dreier zu vergleichen, der seine teilnahme an der Zürcher tagung leider hatte absagen müssen, in: Staatsrechtslehre als Wissenschaft, hg. v. Helmuth schulze-fielitz, Beiheft 7 der Zeitschr. die verwaltung, Berlin: duncker & Humblot, 2007, 83 ff. rudolf von Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft? Jherings Wiener Antrittsvorlesung vom 16. Oktober 1868, aus dem nachlass mit einführung, erläuterung und einer wissenschaftsgeschichtlichen einordnung hg. v. okko Behrends, Göttingen: Wallenstein verlag, 1998. Julius Hermann von kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, hg. v. Hermann klenner, freiburg/Berlin: rudolf Haufe, 1990.

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rechtsprechen den gelehrten richtern zu entziehen“ und „dem gesunden sinn des volkes“7 zurückzugeben, war zu naiv, als dass sie Jhering hätte erschüttern können. er stand vielmehr vor der notwendigkeit, seinen wissenschaftlichen standort gegenüber der Historischen rechtsschule neu zu bestimmen, nachdem er in seiner krise und Wende von 1858/59 aus anlass eines konkreten rechtsfalles von dem Glauben an die logische Geltungskraft der quasi naturgegebenen juristischen Begriffe abgefallen war. seine lösung bestand in dem entwurf einer art von kulturwissenschaft des positiven rechts. rechtswissenschaft ist danach die rechtsphilosophische, rechtshistorische und dogmatische = systematische reflexion des positiven rechts als der jeweiligen entwicklungsstufe des kulturphänomens recht. sie treibt dergestalt eine art normenkultur des rechts. dabei käme in der fortbildung des positiven rechts nicht den Wissenschaftlern, sondern den richtern, die führungsrolle zu. diese auffassung setzte sich weithin durch. Geradezu als fanal wirkte die rede von oskar Bülow über „Gesetz und richteramt“ (1885), deren schlusssatz lautet: „nicht das Gesetz, sondern Gesetz und Richteramt schafft dem volk sein recht!“8 die tradition des gemeinen rechts lebte, entwickelte und wandelte sich in der und durch die Wissenschaft. die kodifikatorische staatliche Gesetzgebung konnte nur noch der staatliche richter modifizieren. Und nichts stärkte diese richtermacht mehr als das neue teleologische rechtsdenken, das den korrigierenden rückgriff auf den Zweck des Gesetzes erlaubte. so hat Haferkamp gezeigt, wie die teleologische Begriffsbildung besonders im strafrecht nutzbar gemacht wurde, um das analogieverbot zu umgehen. 5. am anfang des 19. Jahrhunderts stand die rechtswissenschaft als kulturwissenschaft avant la lettre in Gestalt der Historischen rechtsschule mit ihrem gegen das universale vernunftrecht erhobenen anspruch, das recht als ausdruck des jeweiligen nationalcharakters zu begreifen. sah sie nach ihrem Programm das recht doch zusammen mit dem volk in einem organischen Wachstum unter Hut und Pflege der rechtswissenschaft. 100 Jahre später dominieren Gesetzgebung und rechtsprechung, und die rechtswissenschaft betrachtet das recht als Zweckschöpfung und hat den ersatz für naturrecht und volksgeist in „kulturnormen“, d. h. anerkannten „Werten“ und der alltagsmoral gefunden. denn seit der Mitte des Jahrhunderts ist die überzeugungskraft der geschichtlichen rechtswissenschaft wie der Begriffsjurisprudenz verblasst. versuche, die Gedanken der Historischen schule über volksgeist und nationalcharakter unter dem namen der „kultur“ und des „lebens“ fortzusetzen, die von der rechtswissenschaft zu beobachten seien, führen in dieser form nicht mehr weiter. als symptom mag hier zum schluss ein Buch mit dem titel „cultur 7 8

kirchmann (fn. 6), 37. dazu regina ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, veröffentlichungen des Max-Planck-instituts für europäische rechtsgeschichte, rechtsprechung/ Materialien und studien, Bd. 1, frankfurt a. M.: vittorio klostermann, 1986, 257 ff.; siehe aber auch ebd. s. 268 ff. zu Bülows liberaler Bekehrung zu strenger Gesetzestreue des richters 20 Jahre später.

rechtswissenschaft als kulturwissenschaft – ein kritischer rückblick

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und rechtsleben“9 genannt werden, das 1865, also nur drei Jahre vor Jherings selbstkritischer Betrachtung des Wissenschaftscharakters der rechtswissenschaft in Berlin erschienen ist. der verfasser Wilhelm arnold war ein schüler und Bewunderer von Jacob Grimm. entsprechend der schultradition stellt arnold den „innige(n) Zusammenhang des rechts mit dem leben“, insbesondere mit dem nationalen leben, in den Mittelpunkt10. Wie schon savigny gesagt habe, seien die drei elemente des rechts – die stoffliche, kulturelle Grundlage, das sittliche Moment und das geistige der äußeren form – erzeugnis des nationalen lebens11. indem die rechtswissenschaft ihr augenmerk auf dieses leben und seine Bedürfnisse richte, werde sie zur rechtsquelle12. Geradezu beschwörend unterstreicht arnold die führungsrolle der rechtswissenschaft: „an der rechtserzeugenden kraft der Wissenschaft (ist) nicht zu zweifeln“13. aber 50 Jahre nach der Proklamation der geschichtlichen rechtswissenschaft ist längst klar, dass nicht volksgeist und nationalcharakter die eigentümlichkeiten jener lebensäußerungen erklären, sondern dass wir umgekehrt aus diesen auf volksseele und nationalcharakter zurückschließen14. „die eigenthümlichkeit des volksgeistes … (sei) das mögliche resultat, nicht der anfang oder die Grundlage“ der Untersuchung von kultur und rechtsleben, „ein möglicher rückschluss, aber kein feststehender anhaltepunkt desselben“15. als kulturwissenschaft hat die rechtswissenschaft mithin zunächst Umschau zu halten, in welchen lebensbereichen einer sozietät sich charakteristische geistige erscheinungen zeigen. nach arnold finden sich ausprägungen des geistigen lebens „kultivierter völker“ auf sieben Gebieten: sprache, kunst, Wissenschaft, sitte, Wirtschaft, recht und staat16. für alle genannten Gebiete gelte das „Gesetz der Wechselwirkung“17. als besonders intensiv wird – und in dieser akzentuierung zeigt sich der Zivilrechtler und machen sich die Zeitumstände der industrialisierung geltend – das „Wechselverhältnis“ von recht und Wirtschaftsleben bezeichnet18. so seien freiheit und eigentum zwar politische und rechtliche, noch mehr aber wirtschaftliche Begriffe19. danach überrascht es nicht, wenn unser autor den aufschwung der deutschen rechtswissenschaft in einem atemzug mit dem großen fortschritt der industrie und des verkehrs nennt20. irgendwie, so will es scheinen, werden hier auch die allgemeine deutsche Wechselordnung von 1848 und das allgemeine deutsche Handelsgesetzbuch von 1862 mehr der rechtswissenschaft als dem Gesetzgeber und den politischen verhältnissen gutgeschrieben. Jedenfalls habe, konstatiert arnold, die „technik der Jurisprudenz … mit der der Maschinen und fabriken gleichen schritt gehalten“21. darin dokumentiert sich nicht gerade ein Zeichen von schwäche und Unsicherheit. eher wird außer9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Wilhelm arnold, Cultur und Rechtsleben, Berlin 1865. arnold (fn. 9), viii. arnold (fn. 9), 195 ff. arnold (fn. 9), 389 ff. arnold (fn. 9), 391. arnold (fn. 9), 5 f. arnold (fn. 9), 6. arnold (fn. 9), 17. arnold (fn. 9), 71. arnold (fn. 9), viii ff. arnold (fn. 9), 142. arnold (fn. 9), xvii. ebd.

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ordentliche selbstsicherheit demonstriert, die freilich auf tönernen füßen steht, weil jede theoretische reflexion der immer wieder beschworenen Wechselwirkungen von faktizität und normativität fehlt, insbesondere die direkte vermittlung durch die rechtswissenschaft, wie sie arnolds text suggeriert, eine Unterstellung bleibt. Und noch etwas fehlt, was heute nach der „rückkehr des religiösen“ besonders auffällig erscheint: dass nämlich bei der aufzählung jener Gebiete, auf denen sich das geistige leben einer nation ausprägt, keine rede von der religion ist. das mag daran liegen, dass sie für den Wirtschafts- und Gesinnungsliberalen etwas individuelles und als solches Privatsache ist, keine gesellschaftlich wirkende kraft, und wenn doch, dann in deutschland wegen der Glaubensspaltung keine national einheitliche. Jedenfalls aber ist damit eine weitere dimension der kulturwissenschaftlichen Betrachtung des rechts von zunehmender aktualität angesprochen22.

22 dazu hat der verf. schon bei der tagung der deutschen sektion der ivr 2002 in frankfurt/oder einige Bemerkungen gemacht: „recht, Politik und religion“, JZ 58 (2003), 8, 377 ff.

2. recHt und PolItIscHe kultur: antIke – MIttelalter – neuzeIt

ada nescHke-HentscHke, laUsanne recHt und PolItIscHe kultur: der entwurfscHarakter des recHts als Ideal eIner forM des zusaMMenlebens – dIe PersPektIVe der recHtsPHIlosoPHIe In der antIke 1. eInleItung der folgende Beitrag wird die anfänge der europäischen rechtskultur im antiken Griechenland in erinnerung rufen. ein solcher rückblick erlaubt es, wesentliche Bedeutungen des rechts freizulegen, die vom anfang an die ausbildung des okzidentalen rechts massgeblich bestimmt haben. damit soll der auftrag erfüllt werden, den die veranstalter des kongresses zum thema „rechtswissenschaft als kulturwissenschaft“ dem historischen teil zugeordnet haben; indem sie diesen teil unter den titel stellten „recht und politische kultur: der entwurfscharakter des rechts als ideal einer form des Zusammenlebens – die Perspektive der rechtsphilosophie in der antike“, haben sie zu erkennen gegeben, dass die aktuelle Problematik um die tiefendimensionen historischer Besinnung und philosophischer klärung zu bereichern ist. Besonders letztere erweist sich als ein desiderat, entstammt doch das Wort „ideal“ bereits der griechischen Philosophie, da es von Platos Begriff der idee abgeleitet ist. somit scheint es nahe zu liegen, ausschliesslich die grossen Werke der klassischen politischen Philosophie, den „staat“ und die „Gesetze“ Platos, die „Politik“ des aristoteles und die „Politeia“ des stoikers Zenons zum Gegenstand dieser Untersuchung zu machen. doch stellt sich die frage, ob der entwurfscharakter des rechts nicht weiter gefasst werden muss, als es die themen-vorgabe nahelegt, die ja empfiehlt, vor allem die philosophischen texte auf diesen Gedanken hin zu befragen. daher möchte ich zunächst für ein weiteres verständnis des idealen charakters des rechts plädieren und zu diesem Zweck systematisch in das thema „das recht als ideal“ einführen. erst anschliessend soll dann die historische erinnerung an die rechtsideale im klassischen Griechenland die eher formalen Bestimmungen des systematischen teils mit inhalten füllen. Was also bedeutet es, das recht als ein ideal zu betrachten? 2. das recHt

als

Ideal

der PraktIscHen

Vernunft

Um bei der terminologie zu beginnen, sei im folgenden das Wort „ideal“, der intention der platonischen idee folgend, als der „gedankliche entwurf des Bestzustandes einer sache“1 verstanden. identifiziert man nun ideale des rechts allein mit den entwürfen der Philosophen vom Bestzustand einer Gesellschaft, wie sie in den oben 1

Plato, Politeia (der staat), Platon Werke in acht Bänden (hg. v. Gunther eigler, bearb. v. dietrich kurz), Bd. v, darmstadt: WBG, 1990, 472 c4 ff. an dieser stelle dient die idee, das ideal des vollendet gerechten Mannes auszumalen: „des Beispiels wegen also, sprach ich, suchten wir die Gerechtigkeit an sich, was sie wohl ist [d. h. das eidos – die idee.], und den vollkommen gerechten Mann, … wie er wohl sein würde, wenn es einen gäbe …“.

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zitierten Werken vorliegen, läuft man Gefahr, einerseits die verbreitung von idealen auf praxisferne entwürfe einzuschränken, andrerseits die Wirklichkeitsmacht von idealen zu unterschätzen. Gelten doch weithin die philosophischen entwürfe als blosse Utopien2 und warnt schon der kaiser Marc aurel, selbst Philosoph, davor, die träume der Philosophen ernst zu nehmen.3 ebenso hält Georg Jellinek im letzten Jahrhundert das antike verfahren, rechts- und staatsideale auszumalen, für einen überholten Weg der theoriebildung.4 demgegenüber lässt sich, gemäss einem weiten verständnis des rechts als ideal, die these aufstellen, dass das Recht als solches, wie und wo es auch immer gedacht wird, ein ideal darstellt, d. h. auf einen im Gedanken antizipierten Bestzustand der Gemeinschaft abzielt. so betrachtet lässt sich fragen, ob die spekulativen theorien der Philosophen überhaupt das licht der Welt erblickt hätten, wenn sie nicht von der idealität des rechts selbst hätten Gebrauch machen können; denn es könnte ja sein, dass die ideale der Philosophen in überprägnanz zur darstellung bringen, was sich in der Praxis des rechts und den diese tragenden kollektiven entwürfen nur umrisshaft abzeichnen kann. in diese richtung verweist das Urteil, das kant über den platonischen staatsund rechtsentwurf gefällt hat. an einer zentralen stelle der „kritik der reinen vernunft“ äussert sich kant über die platonischen staatsentwürfe wie folgt: „die platonische republik ist, als vermeintlich auffallendes Beispiel von erträumter vollkommenheit, die nur im Gehirn des müssigen denkers ihren sitz haben kann, zum sprichwort geworden … eine verfassung von der grössten menschlichen freiheit nach Gesetzen, welche machen, dass jedes freiheit mit der andern ihrer zusammen bestehen kann …, ist doch wenigstens eine notwendige idee, die man nicht bloss im ersten entwurf einer staatsverfassung, sondern auch bei allen Gesetzen zugrunde legen muss, und wobei man anfänglich von den gegenwärtigen Hindernissen abstrahieren muss, die vielleicht nicht sowohl aus der menschlichen natur unvermeidlich entspringen mögen, als vielmehr aus der vernachlässigung der echten ideen bei der Gesetzgebung. denn nichts kann schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres gefunden werden, als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende erfahrung, die doch gar nicht existieren würde, wenn nicht jene anstalten zur rechten Zeit nach den ideen getroffen würden …“5

kant, der der eigenart der praktischen Vernunft und ihrer Ideen auf den Grund gegangen ist, ersetzt den Gedanken der Utopie durch den eines ideals und betont, dass dieses ideal auf „notwendige ideen“ zurückgeht.6 dahinter steht seine lehre von der reinen vernunft, die, wenn sie im praktischen Bereich tätig wird, als Gesetzgeberin fungiert und, ohne jeden rekurs auf empirische Motivationen, ethische und recht2

3 4 5 6

Berhnard kytzler, Platonische Unorte, in: Utopie und Tradition: Platons Lehre vom Staat in der Moderne, hg. v. Hermann funke, Würzburg: königshausen & neumann, 1988, 16–30; andré laks, „l’utopie législative de Platon“, Etudes philosophique 4 (1991), 417–428 bezeichnet Platos Nomoi-staat als eine gesetzgeberische Utopie. Marc aurel, Wege zu sich selbst (griechisch-deutsch), hg. u. übers. v. rainer nickel, München/ darmstadt: WBG, 1990, ix, 29. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, darmstadt: WBG, 1960, 53–56. immanuel kant, kritik der reinen vernunft (1781/1787), Werke in sechs Bänden (hg. v. Willhelm Weischedel), Bd. ii, darmstadt: WBG, 1963, 323 f. (transzendentale dialektik, i, 1). kant nennt seine eigene staatskonzeption, den rechtsstaat oder die republik, ein „platonisches ideal“. immanuel kant, der streit der fakultäten (1798), Werke in sechs Bänden (hg. v. Willhelm Weischedel), Bd. vi, darmstadt: WBG, 1983, 364 (2. abschnitt, 8. kap.).

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liche Pflichten festlegt.7 in kants praktischer Philosophie stellt die vernunft Moralität und legalität als handlungsleitende ideale auf; ideale gehen jeder empirischen Wirklichkeit voraus, sind transzendentale, reine ideen; nur als solche aber können sie die allererst zu schaffende Wirklichkeit formieren. diese erinnerung an kant soll vorerst dazu helfen, die Beziehung des Ideals auf die Idee und der idee auf die praktische vernunft in erinnerung zu rufen, m. a. W., zu betonen, dass die idealität des rechts in engster verbindung mit der eigenart der praktischen vernunft überhaupt steht. daher gilt es, vorerst deren genaue Beziehung zu erhellen, um sie anschliessend mit dem Blick in die Geschichte zu erläutern. allerdings kann für diesen Blick auf die rechtsideale der Griechen kants praktische Philosophie nicht den begrifflichen rahmen liefern, zielt doch bekanntlich die kantische deduktion des rechts auf die Begründung der Geltung des rechts ab.8 kant bedarf für sein Ziel, das recht aus der reinen vernunft herzuleiten, eines ebenso reinen trägers der vernunft, d. h. des homo nooumenon. Uns dagegen geht es darum zu erkennen, wie die praktische vernunft mit ihren idealen in der Wirklichkeit, kants Welt der erscheinung, tätig wurde. letzteres verlangt, die praktische vernunft im wirklichen Menschen, in kants homo phainonemon, zu betrachten, besser noch im ganzen Menschen als einheit beider seiten des Menschen. diesem interesse an der adäquaten erkenntnis wirklichkeitsbezogener praktischer vernunft genügt nun ausdrücklich das konzept der praktischen vernunft – des nous praktikos – das wir aristoteles verdanken. im sinne dieser option muss daran erinnert werden, dass aristoteles in scharfer opposition zu den reinen ideen Platos (die erst wieder von kant erneuert wurden) die idee in der Wirklichkeit nachzuweisen versucht. daher kennt aristoteles nicht die trennung kants zwischen homo nooumenon und phainomenon, sondern nur dessen einheit, was erlaubt, die praktische vernunft als vernunft des ganzen Menschen zu verstehen. der rekurs auf das aristotelische Modell und seine Begrifflichkeit bietet darüber hinaus den vorzug, dass es dem historischen Gegenstand vollkommen angemessen ist; denn es operiert mit dessen spezifischen denkkategorien; schliesslich besitzt das Modell auch die transhistorische kraft, die frage nach dem verhältnis von ideal und vernunft erläutern zu können. Was also leistet die praktische vernunft bei aristoteles? 3. PraktIscHe Vernunft

und

Ideal

beI

arIstoteles

aristoteles betrachtet die menschliche vernunft nicht, wie kant als die eine reine vernunft, die in zwei Weisen gesetzgeberisch tätig wird, sondern als zwei durch ihren Gegenstand geprägte arten von vernunft: die erste, die theoretische, erfasst rein betrachtend diejenige realität, die wegen ihrer strengen Unveränderlichkeit dem 7 8

immanuel kant, kritik der praktischen vernunft (1788), Werke in sechs Bänden (hg. v. Willhelm Weischedel), Bd. iv, darmstadt: WBG, 1963, 125–155 (analytik, 1. Buch, 1. Hauptstück). sie gehört wissenschaftssystematisch in die Metaphysik der sitten, d. h. eine transzendentale fundierung des rechts, liefert also keineswegs das instrumentarium für eine wirklichkeitserschliessende disziplin wie die Geschichte der ideen. Zu kants staats- und rechtsphilosophie als theorie der Geltung vgl. Wolfgang kersting, Wohlgeordnete Freiheit: Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin: de Guyter, 1984 und ders., Kant: Über Recht, Paderborn: Mentis, 2004.

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Zugriff des Menschen entzogen ist (z. B. die Gesetze der astrophysik), die zweite, die praktische denjenigen ausschnitt der Wirklichkeit, der dem Menschen zur disposition steht und von ihm unter dem Gesichtspunkt des Gut-seins thematisiert wird.9 nur diese vernunft kann gesetzgeberisch tätig werden. schlüsselbegriff ist hierbei das konzept des Guten; denn zwar hat auch die praktische vernunft des aristoteles als vernunft die aufgabe, das Wirkliche, wie es an sich selbst ist, zu erkennen; sie fragt jedoch anders als die theoretische vernunft danach, wie sich diese Wirklichkeit zum Guten des Menschen verhält, sie stellt die frage: „Was ist für das Gute des Menschen gut?“10 die frage „Was ist für das Gute des Menschen gut?“ legt nun offensichtlich eine doppelbedeutung des Guten zugrunde, nämlich zunächst ein Gutes, das für etwas gut, d. h. nützlich ist. Hier wird das Gute in der kategorie der relation gedacht.11 daneben meint sie ein Gutes, für das etwas gut ist. aristoteles nennt dieses zweite Gute das Gute des Menschen.12 Was aber ist das Gute des Menschen? dieses kann doch nicht wieder relational gut sein; denn wofür und für wen sollte der Mensch im allgemeinen gut, bzw. nützlich sein? das Gegenteil ist wahr: der Mensch ist das absolute Gute, nämlich das Ziel, für das alles relationale Gute nützlich ist. aristoteles nennt letzteres das Gute als substanz (to ti én einai, hé ousia).13 Was aber heisst, dass der Mensch selbst das Gute als substanz und die substanz ein Ziel ist? die antwort auf diese frage findet sich in seiner lehre vom leben (zoé), genauer in seiner lehre vom spezifischen seinsmodus des lebewesens Mensch; nennen wir sie seine „anthropologie“.14 in der tat ergibt sich die kategoriale Unterscheidung von relationalem und absolutem Guten aus der aristotelischen anthropologie. ihr zufolge ist der Mensch sich selbst ein Ziel; denn in ihm wohnt ebenso wie anderen lebewesen ein inneres streben inne, von aristoteles die orexis genannt.15 dieses streben richtet sich auf seine selbstverwirklichung, denn leben überhaupt besteht in der verwirklichung des je besonderen seins eines lebewesens, das seine substanz ausmacht.16 sich selbst als substanz Mensch zu verwirklichen ist das streben des lebewesens Mensch; substanzielles Menschsein ist das Gute und damit das endziel für den Menschen. für das Gute als Wirklichkeit des substanziellen seins werden dann die dinge nützlich, d. h. relational gut, da sie von dem lebewesen in seinen dienst genommen werden. nun sind auch tiere lebewesen; während jedoch im fall des tieres dessen natur selbst – wir sagen heute die „instinkte“ – die lebenserhaltenden dinge in den 9 10 11 12 13 14 15 16

aristoteles, Nikomachische Ethik (hg. v. Günther Bien, übers. v. eugen rolfes), Hamburg: Meiner, 1972, vi. 2; ders. Über die Seele (hg. v. Horst seidl, übers. v. Willy theiler), Hamburg: Meiner, 1995, iii, 9. aristoteles (fn. 9), nikomachische ethik, i, 1, 1094 a1–1094 b10. aristoteles (fn. 9), nikomachische ethik, i, 4, 1096 a23–a27: das Gute wird gemäss den kategorien ausgesagt. aristoteles (fn. 9), nikomachische ethik, i, 1, 1094 b7: to anthropinon agathon. aristoteles (fn. 9), nikomachische ethik, i, 4,1096 a24: en to ti legetai hos ho theos kai ho nous. der disziplinname „anthropologie“ist der antike unbekannt. Zur philosophischen anthropologie vgl. odo Marquard, „anthropologie“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel: schwabe, 1971, 362. aristoteles (fn. 9), nikomachische ethik, i, 1, 1094 a18–a22. Zur selbstverwirklichung des Menschen bei aristoteles vgl. anselm Winfried Müller, Praktisches Folgern und Selbstgestaltung nach Aristoteles, freiburg i. Br.: alber, 1982, 169–208.

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dienst nimmt, wird im fall des Menschen die praktische Vernunft tätig.17 auch bei aristoteles ist diese vernunft rein; denn sie ist, wie wir soeben sahen, mit der aufgabe betraut, die intelligiblen formen des Guten, d. h. die kategorialen Unterscheidungen von substanziellem und relationalem Guten zu treffen; sie ist jedoch – im Unterschied zu kants vernunft – auf das immer schon gegebene vorreflexive streben des lebens bezogen. die praktische vernunft lenkt dieses streben, indem sie dessen Ziel, die selbstverwirklichung, durch die analyse dessen, was das Selbst des Menschen ausmacht, aufklärt.18 dank dieser analyse können dann erstrebenswerte, das Gute realisierende endziele jedes zukünftigen Handelns aufgerichtet, also entwürfe von Bestzuständen des selbst gedacht werden, die wir in unserer eingangsdefinition „ideale“ genannt haben. ideale sind, aristotelisch interpretiert, oberste Ziele des Handelns. sie gehen über einzelziele dadurch hinaus, dass es sich um die entwürfe von globalen Zuständen handelt. als solche allein erlauben sie es, das leben, d. h. die verwirklichung des substanziellen seins des Menschen insgesamt zu gestalten anstelle zuzulassen, dass es gestalt- und richtungslos auseinander fliesst und das Menschsein sich in blossen nichtigkeiten verflüchtigt. aristoteles, einem populären denkmodus seinen tribut zahlend, fasst solche Bestzustandsentwürfe unter den Begriff des bios, des gestalteten lebens.19 damit meint er einen Gesamtentwurf des lebens, der als letztziel alle einzelhandlungen auf sich hin orientiert.20 aus dieser aristotelischen anthropologie ergibt sich nun eine klare antwort auf die oben gestellte frage nach dem ideal und seinem Bezug zur praktischen vernunft. Wenn wir das ideal mit dem Bestzustand des lebens identifizieren, das dem Handeln richtung und Ziel verleiht, ist auch bei aristoteles wie bei kant kein ideal abgetrennt von der praktischen vernunft denkbar. ideale sind auch bei aristoteles wie bei kant „notwendige ideen der vernunft“; bei dem Griechen entstammen sie der analytisch vorgehenden praktischen vernunft, die nach den mit notwendigkeit zu denkenden wahren Prämissen sucht, von denen ausgehend die vernunft syllogistisch auf das jeweils zu tuende schliessen kann.21 es handelt sich daher, wie die aristotelischen analysen des lebewesens Mensch und seiner ihm eigenen Bestzustände zeigen, nicht um träume oder „chimären“22, sondern um ein überscharfes, prägnantes sehen von den Möglichkeiten zum Guten, die in der vorgegebenen Wirklichkeit gleichsam schlummern und an das licht gebracht werden müssen. doch gibt die anthropologie des aristoteles darüber hinaus auch den Blick auf die besondere idealität des rechts frei; denn für aristoteles ist das recht als ideal mit dem substanziellen sein des Menschen engstens verknüpft. in der tat, der Mensch realisiert das substanzielle sein seiner selbst in nichts anderem als im tätigen Ge17 aristoteles (fn. 9), über die seele, iii, 9, 433 a9–a30. 18 dem dienen die aristotelischen analysen der menschlichen lebenskraft (psyché) in aristoteles (fn. 9), nikomachischen ethik, i, 13 und i, 6 und ders., Politik, (übers. v. franz susemihl), Hamburg: Meiner, 1965, vii, 14, 1333 a16–1333 b5. 19 aristoteles (fn. 9), nikomachische ethik, i, 3. 20 aristoteles (fn. 9), nikomachische ethik, i, 3, 1095 b14–1096 a19. 21 vgl. etwa den syllogistisch erschlossenen charakter des obersten Guten in aristoteles (fn. 9), nikomachischen ethik, i, 6, 1098 a7–a18. Zur logik der praktischen vernunft Müller (fn. 16), 27 ff. 22 die ideale der Philosophen nannte die tradition „chimären“ (vgl. christian Wolff, Le philosopheroi et le roi-philosophe: la théorie des affaires publique (1749), Paris: J. vrin, 1986, 4).

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brauch der vernunft; er ist sich das Gute als Vernunftwesen. daher unterscheidet aristoteles nur zwei dem Menschen angemessene lebensideale, zwei bioi, nämlich das leben der theoretischen Vernunft, also das leben des forschers, oder aber das leben gemäss der praktischen Vernunft. Bei letzterem handelt es sich nun um ein menschliches dasein, das ganz im dienst der verwirklichung des rechts steht, d. h. um ein leben, in dem der Mensch seine soziale natur in der aktivität der praktischen Vernunft tätig werden lässt. diese natur des Menschen entfaltet sich optimal in der rolle des Bürgers, der alle seine Handlungen den Gesetzen unterwirft und damit dem recht zur Geltung verhilft. eine solche lebensform bildet ein leuchtendes Beispiel, da der Mensch, der so lebt, seinen ursprünglichen egoismus verabschiedet und sich entschlossen hat, mittels der tugend der Gerechtigkeit ständig in rücksicht auf den anderen zu handeln.23 dieses lebensideal lässt somit erkennen, dass die praktische vernunft zwar im dienst menschlicher selbstverwirklichung steht, diese jedoch das menschliche Miteinander in der politischen Gemeinschaft mitumfasst. das individuelle menschliche Gute kann, so aristoteles, gerade darin bestehen, das gemeinsame Gute (to koinon agathon) zum endziel des eigenen Handelns zu machen. dieses gemeinsame Gute ist nun, gemäss der dem aristoteles vorliegenden tradition, nichts anderes als das Recht; denn aus den gleich zu betrachtenden Quellen zum griechischen rechtsdenken geht eindeutig hervor, dass das recht längst vor den Philosophen als das „gemeinsame Gute“ thematisiert worden war. das recht bildet somit, sobald und sofern es als das gemeinsame Gute erkannt wird, das endziel des kollektiven Handelns. die spezifische Idealität des rechts besteht demzufolge darin, Endziel solchen kollektiven Handelns zu sein, das den Bestzustand der Gemeinschaft ansteuert, seine wirklichkeitsgestaltende Macht aber darin, das jeweilige faktische Handeln aller auf ein einziges gemeinsames Ziel hin zu orientieren. die aristotelischen analysen der praktischen vernunft erhellen daher nicht nur dessen eigene Moralphilosophie als anwendung dieser vernunft, sondern die praktische vernunft der Menschen überhaupt: alle praktische vernunft hat das Gute zum Gegenstand. daher ist das denken des rechts als des gemeinsamen Guten keine exklusive domäne der Philosophie, sondern gehört dem denken aller Menschen an. Wenn die Philosophen, seit Plato, versucht haben, die innere natur des Guten aufzuhellen, knüpfen sie also an einen zentralen Gegenstand kollektiver praktischer vernunft an und suchen, dieses denken über sich selbst aufzuklären. dass in der tat das recht längst ein praktisches ideal der Griechen war, insofern sie den rechtszustand als einen anzustrebenden Bestzustand des menschlichen Miteinanderhandelns gedacht haben, ist nun in einem Blick auf die Geschichte nachzuweisen. dieser rückblick soll deutlich machen, auf welchen Wegen sich kollektive vernunft artikuliert hat; zu diesem Zweck muss auch die tatsächliche rechtsentwicklung berücksichtigt werden. Zudem soll untersucht werden, welche rechtsideale die kollektive vernunft hervorgebracht hat und wie die Philosophen an diese anknüpfen. insbesondere wird die zeitliche abfolge der ideale den Weg erkennen lassen, auf welchen die klassiker der politischen Philosophie die europäische tradition gebracht haben; wir nennen ihn den Weg des vernunftrechts; letzterer bildet unbezweifelbar den Boden, auf dem noch kants rechtsdenken steht und den aufzugeben die vernunft verbietet, will sie sich nicht selbst zu Grabe tragen. 23 aristoteles (fn. 9), nikomachische ethik, v, 3, 1129 b25–1130 a5.

der entwurfscharakter des rechts als ideal einer form des Zusammenlebens

4. dIe recHtsIdeale 4.1 das ideal

der

IM arcHaIscHen und klassIscHen

GeWaltfreiHeit

als

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grIecHenland

recHtsZUstand

Bereits das erste grosse schriftwerk der europäischen kultur, die Gedichte Homers, liefert ein reiches Zeugnis zum frühesten bekannten rechtsdenken (nach 800 v. chr.). Wenn wir unter recht einerseits eine gewisse faktische ordnung verstehen, die den menschlichen Beziehungen immer schon innewohnt, andrerseits die gedankliche form, die diese ordnung in dem spruch eines richters oder in einem Gesetz zum ausdruck bringt, so zeigt ein Blick auf das älteste homerische Gedicht, die „ilias“, dass die homerischen Menschen längst gemäss strengen rechtsbeziehungen miteinander verkehren. die erzählung des ilias-dichters vom grossen Zorn des achill nimmt ihren anfang bei einer rechtsverletzung; denn dem vorkämpfer der Griechen, achill, wurde vom Heerführer agamemnon die ihm rechtmässig zustehende kriegsbeute fortgenommen. der krieg selbst ist die folge einer anderen rechtsverletzung; denn der trojanische Prinz Paris hat das ihm gewährte Gastrecht verletzt, indem er sich mit der frau des Gastgebers und deren schätzen heimlich davongemacht hatte. dieser rechtsbruch führt zu dem langen kriegerischen konflikt, der den Griechen bis in die klassische Zeit ein Modell lieferte, was konflikte bedeuten und wie sie zu lösen sind. in der tat hat der dichter in sein Werk eine Betrachtung eingeschlossen, die uns ein erstes Zeugnis für das recht als ideal kollektiven Handelns liefert: als achill schliesslich doch in den kampf zurückkehrt, schmiedet ihm der Gott Hephaist ein schild mit wunderbaren darstellungen. diese zeigen den lohn des krieges, nämlich ein leben in frieden in einer Polis-Gemeinschaft. Zum frieden gehören die feste, hierzu gehört aber auch das recht. so lässt der dichter auf dem schild neben einem Hochzeitszug auch eine Gerichts-szene entstehen, in der „kundige richter“ einen blutigen konflikt dadurch beilegen, dass sie eine friedliche lösung finden, die also dem Blutvergiessen ein gewaltloses ende bereitet. den Wert eines solchen Gewalt beendenden spruchs gibt der dichter damit an, dass er auf eine grosse materielle Belohnung hinweist: „volk war dicht auf dem Markt geschart; es hatte ein Hader dort sich erhoben; zwei Männer lagen im streit um die sühnung eines getöteten Mannes. es beteuert dieser dem volke alles habe er bezahlt, doch leugnete jener die Zahlung. Beide heischten den streit vor dem kundigen richter zu enden. Beiden lärmte die Menge, geteilt sie begünstigend, Beifall. Herolde hielten indessen das volk in ordnung, die alten sassen umher im heiligen kreis auf geglätteten steinen, Hatten in Händen die stäbe der lauttönenden Herolde, erhoben mit diesen und sprachen im Wechsel ihr Urteil. Zwei talente von Gold aber lagen inmitten des kreises, dem von den richtern bestimmt, der das recht am geradesten spräche.“24

Wenige Jahre nach Homer ordnet der dichterphilosoph Hesiod die Möglichkeit der Menschen, Gewaltkonflikte durch einen richterspruch friedlich beenden zu können, in eine kosmologisch-anthropologische Perspektive ein; denn in der von dem 24 Homer, Illias, übers. v. Johan Heinrich voss/Hans rupé, München: Heimeran, 1961, Gesang 18, v. 497–508.

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Gott Zeus verwalteten ordnung der Welt gilt für den Menschen im Unterschied zum tier, dass er Gewalt, griechisch bia, durch den richterspruch, die diké, ersetzen kann. „Perses, oh mögest du dieses in deinem Herzen bewegen. Höre immer aufs recht, und niemals übe Gewalttat, denn ein solches Gebot erteilte kronion dem Menschen: tiere zwar und fische und flügelspannende vögel sollten einander verschlingen, denn sie ermangeln des rechtes, aber den Menschen verlieh er das recht, das bei weitem der Güter Bestes. denn wenn ein Mann Gerechtes nach erkenntnis wissentlich kundtut, den segnet der allüberschauer kronion.“25

in diesem Umfeld ist der rechtszustand der gewaltfreie Umgang der Menschen miteinander, den wir frieden nennen; schon für Hesiod besitzt der Mensch ein nur ihm eigenes Gutes, d. h. den Gewaltverzicht, der den frieden garantiert und der dem richterspruch verdankt wird.26 dieser Gedanke findet seine eindrücklichste darstellung durch den tragiker aischylos auf dem Höhepunkt der attischen demokratie, in der Mitte des 5. Jh. v. chr. aischylos, stimme des attischen volkes, hat ihn im dritten teil der trilogie der „orestie“, im wörtlichen sinne inszeniert, d. h. auf die Bühne gebracht, indem er die Hüterin der politischen ordnung athens, die Göttin athene, den Blutgerichtshof athens, den areopag einsetzen lässt. diese institution soll den mörderischen konflikt im Haus der atriden durch die rechtsprechung ein ende machen und damit einen Präzedenzfall für die Zukunft liefern.27 auf welche voraussetzungen aber stützt sich das recht, soweit es im spruch des richters, in der diké, in erscheinung tritt? diese frage führt zurück zur praktischen vernunft, deren Mittel die vernünftige rede, der logos, und dessen überzeugungskraft, die peitho, sind. das politische, d. h. friedliche im rechtszustand verbleibende leben der Menschen wird von aristoteles, Hesiods Gedanken um mehr als drei Jahrhunderte später vertiefend, auf die menschliche Besonderheit zurückgeführt, dass die Menschen sich dank des logos über das Gute und Gerechte verständigen können: „dass aber der Mensch ein politisches lebewesen und zwar mehr als die Biene und jedes Herdentier ist, ist evident; denn die natur, wie wir behaupten, macht nichts umsonst; denn der stimmliche laut macht lust und Unlust kund, und daher steht er auch den übrigen lebewesen zur verfügung (denn soweit reicht deren natur, nämlich lust und Unlust zu empfinden und einander kund zu tun); die artikulierte rede dagegen [der logos] dient dem Zweck, Gutes [agathon] und schädliches und daher auch gerechtes recht (dikaion) und Unrecht vor augen zu stellen; dies aber ist dem Menschen, vergleicht man ihn mit den übrigen lebewesen, eigen,

25 Hesiod, Werke und tage, Sämtliche Werke (übers. v. thassilo von scheffler), Wiesbaden: dietrich’sche verlagsbuchhandlung, 1947, v. 274–281. 26 die diké spielt darüber hinaus bei Hesiod eine geschichtsphilosophische rolle, wie sein berühmter Zeitaltermythos zeigt. dazu ada neschke-Hentschke, diké: la philosophie poétique du droit dans le mythe hésiodique des races d’Hésiode, in: Le métier du mythe: lectures d’Hésiode, hg. v. fabienne Blaise/Pierre Judet de la combe/Philippe rousseau, lille: septentrion, 1996, 465–478. 27 aischylos, die orestie, in: Aischylos, Tragödien und Fragmente (hg. u. übers. v. oskar Werner), München: Heimeran, 1969, die eumeniden, v. 681–710.

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nämlich dies allein, eine Wahrnehmung von Gut und schlecht, von recht und Unrecht und anderem ‚derartigem‘ zu besitzen.“28 (übers. der verf.)

aristoteles zufolge geht die sonderstellung des Menschen, m. a. W. seine substanz, auf seine intelligente Wahrnehmung des Guten und Gerechten zurück, worüber sich zu verständigen die nur dem Menschen eigene Wortsprache, der logos, erlaubt. nur sie kann darstellen, was gerecht ist, sie macht den gedanklichen entwurf von Gerechtigkeit verständigungsfähig. damit bringt der Philosoph das zweite kollektive ideal ins spiel, die Gerechtigkeit bzw. das gerechte recht (to dikaion). 4.2 recHt

als

GerecHtiGkeit

das zweite rechtsideal, das recht als Gerechtigkeit, knüpft an die ambivalenz des richterspruchs, der diké, an. es sind dieselben dichter, Homer und Hesiod, die die fundamentale regel des Gewaltverzichts unter den Menschen formuliert und zugleich die Zusatzbedingung angegeben haben, die ein spruch des richters, soll er akzeptiert werden erfüllen muss: er soll „gerade“ (itheia) und nicht „krumm“ (skolié) sein.29 Zum frieden gehört daher als zweites rechtsideal die Gerechtigkeit, auch sie in archaischer Zeit noch Diké genannt. diese Diké hat bei Hesiod den Wert einer auf kosmischer ebene wirkenden göttlichen Macht. sie ist eine tochter des Zeus, die dieser mit der Göttin themis, der satzung, gezeugt hat.30 Diké sorgt für die gerechte verteilung, die, wie die terminologie „gerade-krumm“ verrät, auf ein geometrisches Modell verweist. Begründet wird allerdings der Gedanke der Geometrisierung des rechts zuerst durch Plato und ausgeführt in dem kanonisch gewordenen text der Gerechtigkeitsabhandlung des aristoteles im 5. Buch der „nikomachischen ethik“. so definiert Plato, der dem konzept der attischen Isonomie, der Bürger-Gleicheit,31 zugleich verpflichtet ist und es korrigiert, die Gerechtigkeit als Gleichheit (isotes), unterscheidet jedoch die geometrische, d. h. proportionale vergleichbarkeit von der arithmetischen numerischen Gleichheit.32 aristoteles hat die erste Gerechtigkeitsform als „distributive“, die zweite als „wiedergutmachende Gerechtigkeit“ bezeichnet und beide formen in das geometrische schema der analogie gefasst; die erste berücksichtigt die kompetenzen und verdienste der Beteiligten, die zweite betrachtet die Höhe einer leistung oder die Grösse eines schadens, der die äusseren Güter betrifft.33 dabei ist die strenge Beachtung des analogischen verhältnisses durch den richter unter das Postulat gestellt, das jeder der Betroffenen durch den richter in den Besitz des „sei28 aristoteles (fn. 18), Politik, i, 1253 a7–a11. 29 Homer (fn. 24), Gesang 18, v. 508; Hesiod (fn. 25), v. 248–255. 30 Hesiod, theogonie, in: Sämtliche Werke (übers. v. thassilo von scheffler), Wiesbaden: dietrich’sche verlagsbuchhandlung, 1947, v. 902. 31 Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie, 2. a., Paderborn: schöningh, 1994, 54 ff. 32 Platon, nomoi (Gesetze), in: Platon Werke in acht Bänden (hg. v. Gunther eigler, bearb. v. klaus schöpsdau), Bd. viii 1 u. 2., darmstadt: WBG, 1990, 756 e9–758 a2. Zur Bedeutung der geometrischen Gleichheit vgl. ada neschke-Hentschke, Platonisme politique et théorie du droit naturel, vol. 1: le platonisme politique dans l’antiquité, leuven/Paris: Peeters, 1995, viii, 201–202. Weiteres bei klaus schöpsdau, Platon, Nomoi (Gesetze), Buch IV–VII: Übersetzung und Kommentar, Bd. ix, 2, Göttingen: vandenhoeck und ruprecht, 2003, 386 ff. 33 aristoteles (fn. 9), nikomachische ethik, v, 5, 1130 b3–7, 1132 b22.

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ada neschke-Hentschke

nen“ (to heautou) gebracht wird.34 das hieran anknüpfende suum cuique ius Ulpians wird noch von kant aufgegriffen und in die eigene rechtsphilosophie integriert.35 die so verstandene Gerechtigkeit verlangt von der vernunft die erkenntnis des eigenwerts der dinge und ihrer verhältnismässigkeit zueinander. sie beinhaltet daher ein ordnungsmodell und unterstellt deren realisierung dem Postulat der mathematischen Genauigkeit. noch kant huldigt diesem Modell: „das rechte (rectum) wird als das Gerade teils dem krummen, teils dem schiefen entgegengesetzt. das erste ist die innere Beschaffenheit einer linie von der art, dass es zwischen zwei gegebenen Punkten nur eine einzige ‚linie gibt‘, das zweite aber die lage zweier einander durchschneidenden oder zusammen stossenden linien, von deren art es auch nur eine einzige (die senkrechte) geben kann, die sich nicht mehr nach einer seite als der anderen hinneigt, und die den raum von beiden seiten gleich abteilt, nach welcher analogie auch die rechtslehre das seine einem jedem (mit mathematischer Genauigkeit) bestimmen wissen will.“36

4.3 das recHt

als

vernUnftideal

Wie oben gezeigt, lebten die Menschen im archaischen Griechenland immer schon im recht und in vom recht erzeugten ordnungsmodellen; deren Ursprung waren es religion, sitte und tradition. diese ordnungsmodelle wurden jedoch selbst objekt der reflexion im Moment ihrer krise. in diesem augenblick tritt der Gesetzgeber auf die Bühne der Geschichte und verleiht der von ihm geschaffenen neuen ordnung eine begründete allgemeine form, nämlich das Gesetz. Berühmt wurde dieser, sich wiederholt im archaischen Griechenland abspielende vorgang in seiner attischen variante, weil der Gesetzgeber, solon, seine auf eine Gesetzgebung hinauslaufende reform in bis heute tradierten Gedichten dargestellt und aristoteles die verfassung athens überliefert hat.37 seit solon besass athen eine sprachlich und gedanklich formulierte ordnung, die durch Gesetz festlegte, was in athen als gerechtes recht (als dikaion) gelten sollte. dies war der Moment, wo es klar wurde, dass die zwischenmenschliche ordnung ein entwurf eines Menschen sein konnte, dass nicht die Götter, sondern die Menschen selbst die Urheber der form ihres Zusammenlebens sein konnten. nach dem auftreten der frühen Gesetzgeber stand somit zunächst fest, dass die ordnung dem menschlichen Gesetz verdankt wird. Woher jedoch stammt das Gesetz und was ist sein eigenes Wesen? Hier setzten die überlegungen der sophisten ein, die z. t. das gesetzliche recht auf blosse menschliche konventionen zurückführen.38 ihre theorien haben den anlass gebildet, dass die Philosophen von Platon bis Zenon die frage nach dem Ursprung und dem Wesen des Gesetzes erneut gestellt haben. im rahmen ihrer antwort auf diese fragen wurde nun das dritte grosse ideal in die Welt gesetzt, das uns die klassisch-griechische tradition überliefert hat, d. h.

34 Platon (fn. 1), iv, 443 d1; aristoteles (fn. 9), nikomachische ethik, v, 7, 1132 b17. 35 kant, Metaphysik der sitten (1797/1798), Werke in sechs Bänden (hg. v. Willhelm Weischedel), Bd. iv, darmstadt: WBG, 1964, 344–355 (einteilung der rechtslehre a.). 36 kant (fn. 35), 340 (einleitung in die rechtslehre § e). 37 Bleicken (fn. 31), 47–54, 604–605. 38 Gerorge B. kerferd/Hellmut flashar, „die sophistik“, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, hg. v. friedrich Ueberweg, Bd. 2: die Philosophie der antike, Basel: schwabe, 1998, 1–27.

der entwurfscharakter des rechts als ideal einer form des Zusammenlebens

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das ideal des „autonomen“ Menschen. Wie aber führt die frage nach dem Wesen des Gesetzes zu diesem ideal? Was ist das Wesen des Gesetzes? übereinstimmend identifizieren Platon, aristoteles und Zenon dieses Wesen mit der vernunft, die das recht gebiert. vormals den Göttern zugeschrieben, wird das recht jetzt das kind der vernunft. Plato hat diese Beziehung von Gesetz und vernunft durch ein Wortspiel herausgestellt: „Was alles wir in uns an Unsterblichkeit besitzen [sc. die vernunft], dem sollen wir gehorchen und so, im öffentlichen und Privaten, unsere städte und Haushalte verwalten, indem wir die verteilung, die die vernunft trifft, das Gesetz nennen.“ – „… tén tou nou dianomén eponomazontes nomon.“39 (übers. der verf.)

Wenn wir vernunft durch „Geist“ ersetzen, lässt sich das Wortspiel nachahmen und sagen „das Gesetz ist die Geist-satzung“. aristoteles hat dann Platos Gedanken dahingehend präzisiert, dass das Gesetz als ein kind der praktischen Vernunft, sofern sie ihre Bestform, die klugheit, erreicht hat, gedeutet hat; definiert er doch das Gesetz wie folgt: „doch das Gesetz hat eine zwingende kraft, da es einen spruch darstellt, der aus einer bestimmten art von klugheit [der gesetzgeberischen] und vernunft hervorgeht.“ – „ho de nomos echei anankastikén dynamin, logos on apo phronéseos tinos kai nou.“40 (übers. der verf.)

die praktische vernunft, um die es sich hier handelt, ist dabei als eine im doppelten sinne universale vernunft gedacht. einerseits nämlich wird der allgemeine Geltungsanspruch des vernunftgesetzes ebenso von Plato und aristoteles wie dann wieder von kant unterstrichen;41 universal und allgemeinverbindlich bedeutet in der tat, dass die gesetzgeberischen entwürfe staatlicher ordnung wie sie sich bei Plato, aristoteles und Zenons finden, modellhaft für die Menschen überhaupt konzipiert sind, selbst wenn sie am Beispiel konkreter Polisgründungen dargestellt sind.42 andrerseits bedeutet die Universalität der vernunft auch, dass jeder Mensch an dieser vernunft teilhat, sofern er als Mensch, also substanziell, ein vernunftwesen ist. daher ist es jedem Menschen möglich, das gemeinsame Gute zu erkennen. Wenn auch nicht jeder Mensch Gesetzgeber ist, so kann er doch zumindest den argumenten des Gesetzgebers folgen. Bei den drei genannten klassikern der Politik bildet nun die vernunftfähigkeit jedes Menschen den ausgangspunkt ihres gemeinsamen ideals; letzteres betrifft die frage, wie das gerechte recht, das dikaion, bestmöglich verwirklicht werden kann. die antwort lautet: das recht soll zwischen den Menschen faktisch gelten, jedoch nicht, weil die öffentlichen Gesetze den Bürger dazu anhalten und, wenn nötig, Zwang anwenden, sondern weil der Bürger von sich aus, aus eigener vernunft und eigenem Willen, das Gesetz erfüllt. Modern mittels der Unterscheidung kants zwischen Moralität und legalität ausgedrückt, besteht das ideal der antiken Philosophen übereinstimmend darin, dass die Bürger nicht nur gemäss dem Gesetz, sondern für das Gesetz handeln, das Gesetz das Motiv ihres Handelns bildet. das ideal der drei 39 Plato (fn. 32), iv, 213 e6–714 a2. kommentar bei schöpsdau (fn. 32), 178–197. 40 aristoteles (fn. 9), nikomachische ethik, x, 9, 1180 a 21. 41 Platon, Politikos (staatsmann), in: Platon Werke in acht Bänden (hg. v. Gunther eigler, bearb. v. Peter staudacher), Bd. vi, darmstadt: WBG, 1990, 294 a 10 ff., aristoteles, nikomachische ethik, v, 14, 1137 b13. kant (fn. 7), 125–126 (1. Buch, 1. Hauptstück, § 1). 42 dazu unten abschnitt 5.

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Philosophen zielt somit auf eine Gesetzesmoral im strengen sinne ab. aristoteles nennt diese Gesetzesmoral die eunomia43, die Wohlgesetzlichkeit, bzw. die gesetzliche Gerechtigkeit, Plato bildet dagegen den neologismus des „Gesetzesdieners“.44 es waren aber schliesslich die späten stoiker, denen der Begriff der autonomie verdankt wird, um die philosophische idee der Gesetzesmoral auch terminologisch auszuzeichnen.45 der Begriff verdankt sich einer bestimmten deutung; denn das Wort konnte positiv wie negativ gebraucht werden; z. B. wurde das Wort autonomos, wie es aus sophokles antigone hervorgeht, negativ verstanden, nämlich als die absonderung des einzelnen vom allgemeinen Gesetz.46 Philosophisch, d. h. streng gedacht, meint dagegen, autonomie seit Plato bis einschliesslich zu kant sittliche, nämlich moralische und legale freiheit, da der einzelnen aus eigener vernunfteinsicht „frei“, m. a. W. von selbst (autos) sein Handeln vom Gesetz (nomos) bestimmen lässt, bedeutet doch den Philosophen das „selbst“ des Menschen seine vernunftnatur, die er mit anderen teilt. das konzept „Gesetz“ denken heisst dabei immer, eine anweisung denken, die das Handeln aller Menschen in gleicher Weise im sinne gewaltfreier koexistenz reguliert.47 im rahmen dieser anschauung definiert die stoa (d. h. chrysipp in nachfolge Zenons im 3. Jh.) das Gesetz wie folgt: „das Gesetz ist der vernunft-spruch der natur, der anordnet, was zu tun, und verbietet, was zu lassen ist“ – „Nomos esti logos tés physeos prostaktikos men hon prakteon, apagoreutikos hon ou.“48

Gemäss dieser definition ist die gesetzgebende, allgemeine vernunft eine direkt handlungsleitende vernunft – so sagt bekanntlich noch kant, dass die Maxime meines Handelns die Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung soll abgeben können. die handlungsleitende, die praktische vernunft stellt sich einer jeden sogenannten Privatvernunft entgegen, die, wie schon Heraklit erkannte, keine vernunft sein kann, wenn die vernunft ein gemeinsamer Besitz der Menschen ist.49 autonom ist daher philosophisch nur derjenige, welcher sich vom allgemeinen Gesetz leiten lässt, der also der vernunft folgt. die genannten drei ideale des rechts, nämlich recht statt Gewalt, recht als Gerechtigkeit und Gesetzesrecht als anordnung der vernunft bilden für die klassischen Philosophen die leitlinien, denen gemäss sie ihre staatsentwürfe ausgearbeitet haben. es kann hier nicht darum gehen, diese entwürfe in ihrer Gesamtheit vorzustel-

43 aristoteles (fn 18), iv, 8, 1294 a3 f., Plato (fn. 32), iv, 714 b3. vgl. auch epictète (epiktet), Entretiens (texte établi et trad. par Josephe souilhé), vol. iv, Paris: les belles lettres, 1965, iv, 1, 159–160 und Platon, kriton, in: Platon Werke in acht Bänden (hg. v. Gunther eigler, bearb. v. Heinz Hofmann), Bd. ii, darmstadt: WBG, 1990, 49 e 9 ff. 44 Platon (fn. 32), iv, 714 b3–715 e2. 45 epiktet (fn. 43), iv, 1, 27. 46 sophokles, antigone, in: ders. Tragödien (hg. v. Wolfgang schadewaldt, übers. v. friedrich Hölderlin), frankfurt a. M.: fischer, 1959, v. 821. 47 kersting hat diese konzeption in seiner interpretation der kantischen rechtslehre auf die formel der „wohlgeordneten freiheit“ gebracht (kersting (fn. 8)). 48 chrysipp, in: Stoicorum veterum fragmenta (hg. v. Hans von armin), Bd. iii, stuttgart: teubner, 1964, 79, Z. 40. 49 Heraklit, in: Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. Walther kranz, bearb. v. Hermann diels, Zürich/Berlin: Weidmannsche verlagsbuchhandlung, Bd. 1, B 2, 151.

der entwurfscharakter des rechts als ideal einer form des Zusammenlebens

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len, sondern es gilt aufzuzeigen, welche ihrer Züge auf das spezifisch philosophische ideal, die Gesetzesmoral des Bürgers, verweisen. 5. dIe gesetzesMoral In Platos „gesetzen“, arIstoteles’ „PolItIk“ und zenons „PolIteIa“ aristoteles, im Blick auf die realen staaten, unterscheidet im vierten Buch der „Politik“50 mehrere Bedeutungen des Wortes „Wohlgesetzlichkeit“ (eunomia): nicht fällt unter diesen Begriff der fall, dass ein staat gute Gesetze hat, diese jedoch ohne Geltung bleiben, sondern nur, dass die Gesetze Geltung besitzen. im idealfall handelt es sich um die uneingeschränkt besten Gesetze und deren strikte Befolgung durch die Bürger. Genau diese letzte Möglichkeit bildet den kerngedanken der platonischen staatskonstruktion in den „Gesetzen“.51 Plato verfolgt hier das Ziel, nicht nur die besten Gesetze zu verfassen, sondern vor allem, das Handeln der Bürger von diesen bestimmen zu lassen. Um dieses Ziel zu erreichen, erfindet Plato den neuen typ eines juridischen textes, den Gesetzes-vorspruch (prooimion).52 als Muster einer philosophisch begründeten rhetorik soll der vorspruch nicht nur den Bürger durch überredung geneigt machen, dem Gesetz zu folgen, um die sanktion, die eine art Gewalt (bia) darstellt, zu vermeiden – Plato möchte den Zwangscharakter der rechtsordnung abmildern, wenn nicht gar aufheben; denn folgt der Bürger nur, um die strafe zu vermeiden, wäre solches Handeln, in kants kategorien bezeichnet, blosse legalität. das Gesetzesproömium soll darüber hinaus vor allem das äussere Gesetz insofern überflüssig machen, als der Bürger sich die argumente des Gesetzgebers zu eigen macht, sich von dessen vernunftgründen leiten lässt.53 erst so wird es möglich, dass – um wieder mit kant zu sprechen – die reine vernunft den Willen bestimmt, dass der Bürger um des Gesetzes willen handelt. diese Haltung bildet daher das auswahlkriterium für die zukünftigen Beamten des platonischen staates; Magistrate sind daher „diener der Gesetze“ zu nennen.54 die aristotelische fassung der Gesetzestreue erscheint in der „nikomachischen ethik“ in dem bereits oben behandelten ideal des praktischen bios; letzterer stellt die Bestform eines individuellen lebens dar, das sich zum Ziel setzt, immer und überall den Gesetzen zu folgen, in rücksicht auf die Gemeinschaft zu leben.55 insbesondere, im falle der Umverteilung der Güter, vollzieht der gerechte Mensch von sich aus, was das Gesetz vorschreibt, nämlich die Gleichheit der Bürger zu respektieren;56 50 aristoteles (fn. 18), iv, 1293 b42–1294 a9. 51 Zu Platos „Gesetzen“ als Gesamtentwurf neuer Politik vgl. ada Babette Hentschke (=neschkeH.), Politik und Philosophie bei Platon und Aristoteles, 2. a. frankfurt a. M.: klostermann, 2004, 194–329 und klaus schöpsdau, Platon, Nomoi (Gesetze), Buch I–III: Übersetzung und Kommentar, Bd. ix, 1, Göttingen: vandenhoeck und ruprecht, 1994, 93–143. 52 Plato (fn. 32), iv, 718 a6–724 b5. dazu schöpsdau (fn. 32), 219–250. 53 Plato (fn. 32), iv, 719 e7–720 e6: Plato vergleicht den Gesetzgeber mit dem arzt, der seinen Patienten über die Ursachen von krankheit und Gesundheit aufklärt, bevor er ihm eine Behandlung verschreibt. 54 Plato (fn. 32), iv, 714 e3–715 e2. 55 aristoteles (fn. 9), nikomachische ethik, v, 3, 1129 b25–1130 a 14. 56 aristoteles (fn. 9), nikomachische ethik, v, 10, 1134 a 30–1134 b1.

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hierbei ist die distributive Gerechtigkeit als teil der Gesetzesgerechtigkeit angesprochen. Gerecht im sinne distributiver Gerechtigkeit ist daher der wie folgt beschriebene Mensch: „näherhin ist die Gerechtigkeit jene innere Disposition57, kraft deren der Gerechte nach freier Wahl gerecht handelt und bei der Austeilung, handle es sich nun um sein eigenes Verhältnis zu einem anderen oder um das Verhältnis weiterer Personen zueinander, nicht so verfährt, dass er von dem Begehrenswerten sich selber mehr und den anderen weniger zukommen lässt …, sondern so, dass er die proportionale Gleichheit wahrt und dann in gleicher Weise auch einem anderen mit Rücksicht auf einen Dritten zuerteilt.“58 (Übers. von E. Rolfes, modifiziert)

konsequenterweise gibt es in aristoteles’ allerbesten Polisverfassung im siebten und achten Buch seiner „Politik“ keine institutionellen regelungen von „checks and balances“, die die träger der Macht an das recht binden sollen.59 die träger der Macht sind unterschiedslos Bürger, die die tugend der Gerechtigkeit im sinne der Gesetzestreue und der distributiven Gerechtigkeit besitzen;60 daher tun sie „aus freier Wahl“, was das Gesetz verlangt. vorbereitet hat aristoteles diese konzeption in seiner ausführlichen diskussion der legitimationskriterien für politische Herrschaft im dritten Buch der „Politik“.61 deren ergebnis lautet: rechtmässig können die Herrschaft in der Polis nur die beanspruchen, die die politischen tugenden, d. h. Gerechtigkeit und Bürgerfreundschaft besitzen. Während für Plato die tugend des Menschen konstant durch irrationale kräfte gefährdet wird und daher der ständigen stütze durch die vernunft des Gesetzgebers bedarf, nimmt aristoteles an, dass der Mensch dank konsequenter erziehung die tugenden als stabile innere dispositionen (hexis) erwerben kann. der Weg zum idealen staat besteht daher in der erziehung zum Bürger; denn aristoteles betont, dass die Menschen nur gerecht werden, wenn sie schon als kinder erzieherisch angehalten werden, immer gerecht zu handeln.62 von aristoteles „staat der Gerechten“ führt der Weg direkt in die Politeia Zenons: denn für den stoiker erweist sich, wer gerecht handelt, als ein Mann des Wissens, als Weiser (sophos). lautet doch die stoische definition der Gerechtigkeit wie folgt: „die Gerechtigkeit ist die Wissenschaft, die jedem das seine gemäss seinem Wert zuteilt.“ – „dikaiosyné esti epistémé dianemétiké tés axias hekasto.“63

57 58 59 60 61 62 63

„innere disposition“: im text ist hexis zu ergänzen, nicht „tugend“, wie rolfes übersetzt. „disposition“ auch bei John-steward Gordon, Aristoteles über Gerechtigkeit: das V. Buch der Nikomachischen Ethik, freiburg: alber, 2007, 364. aristoteles, nikomachische ethik (fn. 9), v, 9, 1133 b32–1134 a 6. kommentar bei Gordon (fn. 57), 214–223. Zu aristoteles staatsideal vgl. ada neschke-Hentschke, aristoteles Politik vii–viii: die uneingeschränkt beste Polisordnung, in: Aristoteles, Politik, hg. v. otfried Höffe, Berlin: akademie-verlag, 2001, 169–186. aristoteles, (fn. 18), vii, 9, 1328 b24–1329 a2. aristoteles, (fn. 18), iii, 9, 1280a7–1281 a10. aristoteles (fn. 9), nikomachische ethik, ii, 1, 1103 a 31–1103 b6: „durch Gerechthandeln werden wir gerecht.“ chrysipp, in: SVF, iii, 63 Z. 27. alle stoiker verstehen die tugenden als Wissenschaft; daher kann chrysipps formulierung hier repräsentativ gebraucht werden, da für Zenon keine solche definition überliefert ist.

der entwurfscharakter des rechts als ideal einer form des Zusammenlebens

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Zenon ersetzt die mit praktischer vernunft verbundene innere charakter-disposition des aristotelischen Gerechten durch den rein kognitiven Habitus der Wissenschaft. Warum kann Gerechtigkeit nur vom Besitzer einer Wissenschaft ausgeübt werden? die stoiker machen die Zuteilung des seinen vom Wert des Zugeteilten und des adressaten abhängig (axia); denn die stoiker haben als erste die lehre vom höchsten Gut in einer als Wissenschaft auftretenden theorie der Werte begründet.64 die dinge haben Wert bzw. Unwert oder sind wertindifferent. die Hierarchie der wertvollen dinge, die Güter genannt, ist durch das universale kosmische Gesetz, durch die Weltvernunft festgelegt. die wissenschaftliche kenntnis der Weltvernunft zeichnet aber den Weisen aus; daher kann nur der Weise gerecht sein. so besteht Zenons ideal-Polis aus Weisen.65 Jeder von ihnen ist auto-nom, handelt um der realisierung des kosmischen Gesetzes und seiner Wertordnung willen. daher bedarf es in Zenons staat, was die antiken Zeugen tadelnd anmerken, keinerlei rechtsinstitutionen, weder der äusseren Gesetze, die das Handeln der Bürger anleiten, noch der Gerichtshöfe, die eventuelle Missetäter strafen. die vernunft der Bürger allein ist ein zuverlässiger führer durch das eigene und das gemeinsame leben: sie lehrt, dass alle Menschen als vernunftträger gleich und frei sind und dass daher der Weise den anderen als seinesgleichen nicht nur gerecht behandelt, sondern auch liebt. Zenons staatskonzeption, die den Menschen ausschliesslich als reinen vernunftträger betrachtet und dessen raum-zeitliche existenzweise total vernachlässigt, ist schon von ihrem ansatz her kosmopolitisch.66 da es nur ein Gesetz, das moralische Weltgesetz, gibt, bedarf der entwurf einer idealpolis, im Unterschied zu Plato und aristoteles, keiner exemplarischen konkretisierung in einem individuellen staat, der dann seine spezifischen Merkmale trägt. Ungeachtet dieser Unterschiede geht es den griechischen Philosophen gemeinsam darum aufzuzeigen, wie eine menschliche Gemeinschaft organisiert sein sollte, in der sich der Mensch als auto-nom, als träger einer gesetzgeberischen vernunft verwirklichen kann; denn nur als solcher kann er wirklich frei sein. 6. zusaMMenfassung 1. ausgangspunkt war der Begriff des ideals; er wurde mit den griechischen Philosophen als der entwurf des Bestzustandes einer sache bestimmt, dessen vorstellung als ein oberstes Ziel, als absolutes Gutes, handlungsleitende funktion ausübt. ideale sind notwendige ideen der praktischen vernunft, wenn es dem Menschen darum geht, seinem leben eine Gestalt zu verleihen.

64 arthur a. long/david n. sedley, Die hellenistischen Philosophen, stuttgart: Metzler, 2000, 422– 428. 65 Zu Zenons Politeia vgl. Malcom schofield, The Stoic Idea of the City, cambridge: cUP, 1991 und ders. Zenons republic in: The Cambridge History of Greek and Roman Political Thought, hg. v. christopher rowe/Malcom schofield, cambridge: cUP, 2000; ferner long/sedley (fn. 64), 512–522. 66 long/sedley (fn. 64), 512–513 verweisen auf das Zeugnis des Plutarch über Zenons kosmopolitismus in: De Alexandri magni fortuna 6. 329 a–B.

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ada neschke-Hentschke

2. das recht ist das ideal, das den Bestzustand der menschlichen Gemeinschaft ausmacht, sofern rechtsprechung und Gesetz auf Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit verpflichtet sind. es bildet als das gemeinsame Gute ein oberstes Handlungsziel, auf das hin Menschen ihr gemeinsames leben gestalten; es gehört daher in die kompetenz der kollektiven praktischen vernunft. diese einsicht setzte im archaischen Griechenland erst nach der krisenzeit ein; mit dem auftreten der Gesetzgeber und besonders solons in athen wurden sich die Griechen der menschlichen Gesetzeskompetenz bewusst. 3. die Philosophen haben daraus die konsequenz gezogen, die Geltung des rechts in der aktiven praktischen vernunft jedes Bürgers zu verankern und die freiheit des Menschen und Bürgers damit zu definieren, dass er sich aus freiem Willen dem an alle gerichteten Gesetz unterwirft. seit den stoikern bis zu kant heisst diese freiheit „autonomie“. da sie die freiheit des anderen mitumschliesst, handelt es sich um konkrete, wirklichkeitsangemesse freiheit.

rUedi iMBacH, Paris PersPektIVen

des

MIttelalters

das mir aufgetragene thema lautet: der entwurfscharakter des rechts als ideal einer form des Zusammenlebens. in dieser etwas umständlichen formulierung sind zwei konstitutive Momente enthalten. Zum einen wird angedeutet, dass das recht etwas vom Menschen entworfenes ist, zum anderen dass das so verstandene recht Paradigma für ein gelungenes Zusammenleben der Menschen liefert. eine angemessene Behandlung dieser zwei verknüpften, aber verschiedenen fragestellungen über einen Zeitraum von tausend Jahren erforderte eine umfassende darstellung, die erörtert wie das recht – als römisches recht einerseits und als kanonisches recht andererseits – die theologische und philosophische reflexion über das menschliche Zusammenleben in seinen ganz verschiedenen entfaltungen von der familie bis zur staatlichen Gemeinschaft beeinflusst und verändert hat. ein solches vorhaben ist an sich kaum zu bewältigen, im rahmen eines kurzvortrages könnten dazu im besten falle Umrisse von Prolegomena entwickelt werden. aus diesem Grunde will ich den versuch wagen anhand dreier Beispiele die thesen vorzustellen, die die nach meiner ansicht außergewöhnlich fruchtbare in doppeltem sinne des Wortes vorbildhafte Begegnung von recht und Philosophie sichtbar machen können. These 1: Ein der Erfahrung nahe stehendes Konzept des Gesetzes hat Thomas von Aquin zu einer metaphysischen Weltsicht ausgeweitet, die den Menschen in ein geordnetes Ganzes einfügt und den Rahmen des menschlichen Zusammenlebens bildet. thomas definiert das Gesetz (lex) in seinem Hauptwerk, der summa theologiae (= st)1, am ende einer sorgfältigen analyse, in der die verschiedenen elemente der Begriffsbestimmung zusammengetragen werden, in folgender Weise: „das Gesetz ist eine anordnung des verstandes (ordinatio rationis), im Hinblick auf das Gemeinwohl (bonum commune), erlassen und öffentlich bekannt gegeben von dem, dem die sorge für das Gemeinwohl obliegt.“ 2

diese definition umfasst drei Momente, die ich kurz erörtern will: Was will thomas sagen, wenn er von einer anordnung des verstandes spricht? Was ist unter dem Gemeinwohl zu verstehen? Wer erlässt Gesetze? Bezüglich der ersten frage sind nach 1

2

lateinischer text nach der ausgabe: Sancti Thomae de Aquino Summa theologiae, roma: edizioni san Paulo, 1988 (text der leonina). die deutschen übersetzungen dieses textes sind vom verfasser. die abkürzungen i–ii und ii–ii bezeichnen den ersten und zweiten teil des zweiten teiles der summa (Prima secundae und Secunda secundae). Zur naturrechtslehre des thomas vgl. neuerdings vor allem die umsichtige und umfassende darstellung bei ada neschke, Platonisme politique et théorie du droit naturel: contributions à une archéologie de la culture politique européenne, vol. 2, Platonisme politique et jusnaturalisme chrétien: la tradition directe et indirecte d›augustin d›Hippone à John locke, louvain-la-neuve: ed. de l’institut supérieur de philosophie, louvain etc.: Peeters, 2003. vgl. ebenfalls ruedi imbach, thomas von aquin – das Gesetz, in: Klassiker der Philosophie heute, hg. v. ansgar Beckermann und dominik Perler, stuttgart: Ph. reclam, 2004, 143–165. st i–ii, 90, 4.

50

ruedi imbach

meiner Meinung zwei aspekte zu erwähnen. ich will sie die anthropologische und die propositionale dimension des Gesetzes nennen. für das verständnis der these, das Gesetz sei eine „sache des verstandes (ratio)“, ist zuerst festzuhalten: das Gesetz ist eine regel, die den Menschen zum Handeln bewegt. Was aber kennzeichnet eine menschliche Handlung? Hier spielen anthropologische Grundannahmen eine zentrale rolle. eine Handlung ist dann spezifisch menschlich, wenn sie durch die überlegungen des verstandes geleitet wird. da nach thomas alles Handeln um eines Zieles willen erfolgt und nur der verstand fähig ist, ein Ziel zu erkennen, wird klar, weshalb die Beziehung zum verstand das kriterium menschlichen tuns darstellt. die aristotelische deutung des Menschen als eines vernünftigen lebewesens spielt also auch in der definition des Gesetzes eine wichtige rolle. ich spreche vom propositionalen charakter des Gesetzesbegriffs, weil Handlungsanweisungen des verstandes in sätzen erfolgen. Gesetze können deshalb als „allgemeine auf das Handeln ausgerichtete sätze (propositiones) des praktischen verstandes“ bezeichnet werden. Zu dieser formulierung gelangt thomas durch einen vergleich zwischen der tätigkeit des praktischen und des theoretischen verstandes. die analyse der tätigkeit des theoretischen verstandes, der auf die erkenntnis als Ziel ausgerichtet ist, zeigt, dass der menschliche intellekt drei mentale entitäten konstituiert, nämlich Begriffe, sätze und argumente. es ist für thomas unzweifelhaft, dass wir, wenn wir eine entscheidung bezüglich einer Handlung treffen, argumentieren. die durch die selbsterfahrung des praktischen verstandes, dessen Ziel die tätigkeit ist, bestätigte existenz praktischer syllogismen erfordert logischerweise die existenz von sätzen und Begriffen, aus denen diese argumente zusammengesetzt sind. die Gesetze sind eben jene allgemeinen sätze, die anweisungen für das Handeln enthalten. allerdings genügt diese Umschreibung noch nicht, denn nicht alle sätze, die dem kriterium der allgemeinheit und des präskriptiven charakters entsprechen, können bereits als Gesetze betrachtet werden, sondern nur jene, die auf das Gemeinwohl ausgerichtet sind. Wenn jetzt vom bonum commune die rede ist, dann stehen nicht mehr die formalen eigenschaften eines Gesetzes zur diskussion, sondern es geht nun um sein Ziel. der Mensch ist nicht nur ein vernünftiges, sondern auch ein politisches oder soziales lebewesen (animal politicum), wie thomas im anschluss an aristoteles immer wieder betont. deshalb ist er nicht nur von natur aus teil einer Gemeinschaft, sondern auch auf diese ausgerichtet. thomas scheut sich nicht, in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, der Mensch sei als teil auf das Ganze hingeordnet. das Ziel des Gesetzes lässt sich also noch genauer fassen, wenn wir sagen, das Gesetz diene dem friedlichen Zusammenleben der Menschen in der Gemeinschaft. die gesamte thomistische reflexion zum Gesetz in der st basiert nach meiner einschätzung auf zwei Paradigmata, nämlich zuerst eine bestimmte interpretation der tätigkeit des theoretischen verstandes. es ist zudem ebenfalls offensichtlich, dass thomas sich bei seiner erörterung des Gesetzes auf die Beschreibung der menschlichen Gesetzgebung bezieht, wie er sie aus seinen philosophischen und juristischen Quellen und aus der Beobachtung der politischen realität seiner Zeit kennt.

Perspektiven des Mittelalters

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doch vorerst zurück zu unserer dritten frage, nach dem Gesetzgeber. Bekanntlich kommt thomas in seinen überlegungen zur besten staatsform zur überzeugung, dass es die gemischte regierung ist, in der die vorteile mehrerer Herrschaftsformen vereinigt sind. für uns ist entscheidend, dass thomas der Meinung ist, dass alle Bürger in einem gewissen sinne an der Herrschaft teilhaben, sofern alle gewählt werden können und alle wählen können. thomas formuliert durchaus die these, ad populum pertinet electio principum. vor diesem Hintergrund kann die frage des Gesetzgebers ohne größere schwierigkeiten geklärt werden. nach thomas steht es entweder der ganzen Gemeinschaft oder deren stellvertreter zu, Gesetze zu erlassen: „das Gesetz betrifft eigentlich in erster linie und hauptsächlich die Hinordnung auf das Gemeingut. etwas auf das Gemeingut hinzuordnen ist aber sache entweder aller (totius multitudinis) oder dessen, der die stelle aller vertritt (alicuius gerentis vicem totius multitudinis). deswegen steht die Gesetzgebung entweder allen zusammen zu oder der amtsperson, welcher die sorge für alle obliegt.“3

Zugunsten einer Gesetzgebung, an der alle teilhaben, plädieren noch zwei andere argumente, die thomas ebenfalls ins feld führt: er macht darauf aufmerksam, dass nur die politische Gemeinschaft über die notwendige durchsetzungskraft verfügt, die erforderlich ist, damit vorschriften auch befolgt werden: „eine einzelne Person kann nicht wirksam zur tugend hinführen, denn sie kann nur ermahnen; wird ihr ermahnendes Wort jedoch nicht akzeptiert, besitzt sie keine Zwangsgewalt. eine solche muss aber das Gesetz haben, damit es wirksam zur tugend hinleitet. über diese Zwangsgewalt verfügt aber die Gesamtheit oder die amtsperson (persona publica), der es zusteht, strafen zu verhängen. Und deswegen ist es ihre sache, Gesetze zu erlassen.“4

des Weiteren: ein Gesetz, das von einer freien Gemeinschaft erlassen wird und das auf dem konsens der vielheit beruht (consensus totius multitudinis), wird leichter befolgt als ein von der autorität allein vorgeschriebenes Gesetz.5 diese durchaus plausible und leicht nachvollziehbare konzeption von Wesen, funktion und entstehung des Gesetzes wird bei thomas durch einen metaphysischen Überbau gestützt, nach dem das menschliche Gesetz die unterste stufe einer hierarchisch geordneten reihe von drei Gesetzesarten darstellt. vom ewigen Gesetz hängt das natürliche Gesetz ab, welches wiederum die Grundlage des menschlichen Gesetzes bildet. von diesen drei arten des Gesetzes unterscheidet thomas ausdrücklich 3 4 5

st i–ii, 90, 3. st i–ii, 90, 3 ad 2. vgl. dazu st i–ii, 97, 3 ad 3: „ad tertium dicendum quod multitudo in qua consuetudo introducitur duplicis conditionis esse potest. si enim sit libera multitudo, quae possit sibi legem facere, plus est consensus totius multitudinis ad aliquid observandum, quem consuetudo manifestat, quam auctoritas principis, qui non habet potestatem condendi legem, nisi inquantum gerit personam multitudinis. Unde licet singulae personae non possint condere legem, tamen totus populus legem condere potest. si vero multitudo non habeat liberam potestatem condendi sibi legem, vel legem a superiori potestate positam removendi; tamen ipsa consuetudo in tali multitudine praevalens obtinet vim legis, inquantum per eos toleratur ad quos pertinet multitudini legem imponere, ex hoc enim ipso videntur approbare quod consuetudo induxit.“ Zu einigen aspekten der debatte, ob bei thomas ansätze zu eine lehre der demokratie gefunden werden können vgl. ruedi imbach, „démocratie ou monarchie? la discussion sur le meilleur régime politique chez quelques interprètes français de thomas d’aquin (1893–1928)“, in: Thomas d’Aquin au XXème siècle, actes du colloque du centenaire de la „revue thomiste“, sous la direction du P. s.-th. Bonino, Paris: saint Paul 1994, 335–350 (dort weitere literatur).

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ruedi imbach

das göttliche Gesetz, zu dem die in den biblischen Quellen enthaltenen Gebote und vorschriften Gottes gehören. nach meiner Meinung ist bei diesem entwurf einer universalen Weltordnung eine Modellvorstellung leitend, die übrigens die Gottesvorstellung im abendländischen denken maßgebend beeinflusst hat. die erschaffung der Welt wird nämlich in analogie zur tätigkeit eines Handwerkers oder eines künstlers gesehen. dieser entwirft vom zu schaffenden Gegenstand zuerst eine mentale vorstellung, d. h. eine idee im vokabular der schule, der dann das objekt nachgebildet wird, sodass zwischen der idee und dem Gegenstand eine Beziehung der ähnlichkeit besteht. in der idee, die sich der künstler vom objekt macht, ist auch sein Ziel enthalten, und dies gilt in besonderer Weise, wenn das Geschaffene ein selbsttätiges, lebendiges Wesen ist. Wie wir feststellten können wird hier das Modell des künstlers erweitert durch die vorstellung eines Herrschers oder eines Gesetzgebers, der seinen Untergebenen vorschriften macht. der folgende, charakteristische text zeigt, wie sich aus diesen vorstellungen das konzept des ewigen Gesetzes ergibt: „Wie jeder künstler zuerst einen Plan dessen hat, was durch die kunst entstehen soll, so muss auch jeder, der regiert, zuerst einen Plan für die ordnung dessen haben, was den Untergebenen zu tun obliegt. den Plan dessen, was durch die kunst gestaltet wird, nennt man künstlerischen entwurf oder vorbild (exemplar) der artefakte. entsprechend hat das vorhaben dessen, der das tun seiner Untergebenen leitet, die Bewandtnis des Gesetzes.“6

thomas führt den analogieschluss zu ende. Gott ist nach dieser vorstellung nicht nur der künstler, der die Welt entworfen und geschaffen hat, er ist auch der gubernator, d. h. leiter der Welt. daraus folgt: so wie wir den Plan der Welterschaffung idee Gottes nennen können, darf die Zielvorstellung Gottes hinsichtlich der Welt als ewiges Gesetz bezeichnet werden: „das ewige Gesetz ist nichts anderes als der Plan der göttlichen Weisheit, insofern sie alle Handlungen und Bewegungen lenkt.“7 diese Umschreibung des ewigen Gesetzes wird besser verständlich, wenn wir uns neuerdings auf die verbindung der beiden Modellvorstellungen von künstler und Herrscher beziehen. das ewige Gesetz ist zuerst im göttlichen intellekt, es ist sogar mit ihm identisch, aber es wird ebenfalls von den geschaffenen dingen nachgeahmt, weil es ihnen gleichsam eingeprägt ist. alle seienden haben am ewigen Gesetz teil, „insofern sie aus seiner einprägung (impressio) die neigung (inclinatio) zu den ihnen eigenen tätigkeiten und Zielen haben“8. der Begriff der neigung ist grundlegend, er meint die ontologisch fundierte ausrichtung der seienden auf ihr Ziel. der Mensch, sofern er ein freies und ein vernünftiges Wesen ist, hat indes an diesem ewigen Gesetz in einer ganz besonderen Weise teil, sofern sein verstand fähig ist, so wie Gott, sich selbst zu leiten und sich voraussehend auf die Zukunft zu beziehen. diese spezifische, kognitive teilhabe des Menschen am ewigen Gesetz nennt thomas lex naturalis: „die teilhabe am ewigen Gesetz im vernunftbegabten Geschöpf wird natürliches Gesetz genannt.“9 thomas drückt sich auch noch anders aus, um denselben sachverhalt zu umschreiben. er sagt beispielsweise, das natürliche Gesetz sei gleichsam „das licht des natürlichen verstandes, durch das wir un6 7 8 9

st i–ii, 93, 1. st i–ii, 93, 1. st i–ii, 91, 2. st i–ii, 91, 2.

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terscheiden, was gut und was böse ist“. er bezeichnet dieses Gesetz auch als „einprägung des göttlichen lichtes in uns“10. er identifiziert zudem das natürliche Gesetz mit den Prinzipien des praktischen verstandes und behauptet in analogie zum theoretischen verstand, es existiere ein erstes Prinzip des praktischen verstandes, das mit dem Widerspruchsprinzip als dem ersten Prinzip des theoretischen verstandes vergleichbar ist. das erste Prinzip des praktischen verstandes lautet: das Gute ist zu tun, das Böse ist zu meiden.11 thomas klärt die Bedeutung dieser formalen Umschreibung des Guten und gibt eine inhaltliche Bestimmung dieses Begriffes, wenn er präzisiert, der Mensch erfasse als gut, wozu er von natur aus geneigt sei: „alles, wozu der Mensch eine natürliche neigung (naturalis inclinatio) besitzt, erfasst der verstand auf natürlichem Wege als gut.“12 in dieser aussage wird klar, wie verstand, d. h. menschliches erkennen und denken, und Wirklichkeit aufeinander bezogen sind: der verstand erkennt als gut, was im sinne einer natürlichen tendenz ontologisch gegeben ist. Wir können hier die Beschreibung der metaphysischen Gesetzeslehre des thomas abbrechen und folgendes festhalten: thomas hat auf der Grundlage eines aus der lebenswelt und der Jurisprudenz des 13. Jahrhunderts gewonnenen Gesetzesbegriffes eine Weltkonzeption entworfen, in der das menschliche, positive Gesetz, das in der politischen Gemeinschaft Geltung besitzt, paradoxerweise als das letzte Glied einer ableitungskette erscheint und das in einer vom ewigen Gesetzgeber erlassenen, der menschlichen erkenntnis zugänglichen ordnung seine normativen kriterien besitzt. ein aspekt dieser auffassung einer Gesetzesordnung wird sich in den diskussionen zur politischen theorie in der folge, am ende des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts als besonders folgenreich erweisen, ich meine die Gegebenheit, dass dieses Gefüge von thomas als vernünftig, d. h. als philosophisch einsehbar und also von den Glaubenssätzen der christlichen religion unabhängig verstanden wird. Was damit gemeint ist, soll anhand der zweiten these verdeutlicht werden: These 2: Auf der Grundlage eines metaphysisch begründeten Verständnisses des Rechts entwirft Dante Alighieri eine theoretisch ausführlich begründete Lehre der klaren Trennung von Kirche und Staat, die ein auf der Basis eines allein auf der Vernunft begründeten Rechts ein von der Religion unabhängiges Zusammenleben der Menschen ins Auge fasst. Zum verständnis dieser these muss hier zuerst daran erinnert werden, dass die theokratische lehre der katholischen kirche des Mittelalters, gemäss der der Papst die plenitudo potestatis besitzt, was bedeutet, dass jegliche politische autorität (dominium) auf erden von der autorität des Papstes abhänge, von den kanonisten vorbereitet und formuliert worden ist und dass diese lehre wohl in der 1302 erlassenen Bulle Unam sanctam von Papst Bonifaz viii. ihre ausgeprägteste formulierung gefunden hat.13 es ist kein geringes Paradox, dass das Postulat einer klaren trennung 10 st i–ii, 91, 2. 11 der grundlegende text für diese lehre ist st i–ii, 94, 2. vgl. dazu Germain Grisez, „the first Principles of Practical reason: commentary on s.t., i-ii, Q. 94, a. 2“, Natural Law Forum 10 (1965), 168–201. 12 st i–ii, 94, 2. 13 Zu diesem disput vgl. Jürgen Miethke, de potestate papae. Die päpstliche Amtskompetenz im Wi-

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ruedi imbach

von religiöser, kirchlicher ordnung und politischer ordnung im Widerstand zu dieser papalistischen doktrin entstanden ist und dass überdies die erste wirklich umfassende theoretische Begründung einer von der autorität und vom recht der kirche völlig unabhängigen politischen sphäre, die wir in dantes politischem Hauptwerk, der Monarchia (= Mon.) von 131714 vorfinden, eine rechtsmetaphysik voraussetzt, die mit derjenigen von thomas vergleichbar ist. diese Behauptung könnte durch unzählige Belege aus dem Werk bestätigt werden. ich weise an dieser stelle nur auf einen Passus hin, der den mit dem göttlichen intellekt identischen Willen als Grundlage allen rechts bestimmt: „Zudem ergibt sich daraus, dass das recht in den dingen (ius in rebus) nichts anderes ist als eine ähnlichkeit des göttlichen Willens. daher kommt es, dass alles, was mit dem göttlichen Willen nicht in einklang steht, kein recht sein kann, und dass alles, was mit dem göttlichen Willen in einklang steht, das recht selbst ist.“15

dantes überaus streng komponierte schrift, die mit dem nachweis der notwendigkeit einer alle Menschen umfassenden Monarchie beginnt und dann zu zeigen versucht, dass das imperium romanum jene politische ordnung ist, die den kriterien der vernunft am besten entspricht, erreicht ihren Höhepunkt in der erörterung der frage, ob die autorität, d. h. aber die Befugnis zur Herrschaft, des römischen kaisers direkt von Gott abhänge oder vom Papst. die relevanz dieser theologisch anmutenden streitfrage zeigt sich nicht nur in der antwort dantes, wenn er ganz klar behauptet, dass die politische autorität in keinem fall von der kirche und ihrem oberhaupt abhängen kann, sondern vor allem in seinen argumenten zugunsten der these, dass die politische ordnung mit allem, was damit verbunden ist, vom reich des Glaubens und der kirche nicht nur unabhängig ist, sondern unabhängig sein muss. dantes argumente, mit denen er seine these stützt, sind vielfältig, und ich erwähne nur eines, das für unsere Betrachtungsweise grundlegend ist: die konstantinische schenkung,16 nach der der kaiser konstantin sterbend dem Papst silvester die insignien des reiches vermacht haben soll, wurde von dante nicht in ihrer echtheit bezweifelt, sondern als widerrechtlich entlarvt: „so wie die kirche ihr fundament besitzt, ebenso das imperium. das fundament der kirche ist christus. … das fundament des imperiums dagegen ist das menschliche recht (ius humanum). so sage ich: in gleicher Weise wie es der kirche nicht erlaubt ist, ihrem fundament entgegenzuwirken, …, ist es dem imperium nicht erlaubt, etwas gegen das menschliche recht zu tun. aber es wäre gegen das menschliche recht, wenn das imperium sich selbst zerstörte. also ist es dem imperium nicht erlaubt, sich selbst zu zerstören.“17

dieser text formuliert den für unsere Betrachtung entscheidenden Gesichtspunkt. die kirche und das imperium, also die politische ordnung, besitzen ihr je eigenes fundament. die Grundlage der kirche ist von derjenigen des reiches völlig verschie-

14 15 16 17

derstreit der politischen Theorie von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham, tübingen: Mohr siebeck, 2000. diese schrift wird nach folgender ausgabe zitiert: dante alighieri, Monarchia, lateinisch/deutsch. studienausgabe. einleitung, übersetzung und kommentar von ruedi imbach und christoph flüeler, stuttgart: Ph. reclam, 1989. (reclam 8531). Mon. ii, ii, 5, 121. Zu dieser fälschung und ihrer historischen Bedeutung vgl. Horst fuhrmann, Einladung ins Mittelalter, München: Beck, 1987, 195–221 (dort findet der leser weiterführende literaturangaben). Mon. iii, x, 7–8, 219–221.

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den: Imperii fundamentum ius humanum est. die Bedeutsamkeit dieser Behauptung wird nur richtig wahrgenommen, wenn wir uns klar machen, dass das ius humanum einzig und allein auf der vernunft (ratio) aufbaut. die scharfe trennung von Glaube und vernunft begründet dantes Postulat einer laikalen Politik. in dantes entwurf einer gänzlichen loslösung der staatlichen ordnung von der kirche findet sich indes eine retardierendes Moment. ich meine die metaphysische Begründung des Politischen, die eine göttliche fundierung einschliesst. diese verzögerung wird dann aufgehoben, wenn der bei thomas angetroffene ausgangspunkt, das Gesetz, in seiner wahren natur durchschaut wird, oder besser: Wenn das menschliche Gesetz nicht mehr auf ein natürliches oder ewiges Gesetz bezogen wird. Marsilius von Padua hat in seinem 1324 abgeschlossenen Defensor pacis (= dP)18 diesen schritt vollzogen. er beschreibt das Gesetz als „regel für das Gerechte und nützliche im staatsleben“19. an seiner erläuterung dieses Begriffs fallen zwei dinge auf. Zum einen betont Marsilius die „zwingende kraft des Gesetzes“20, sie ist das entscheidende Merkmal dieser regeln. Zum anderen unterstreicht er, dass diese Gesetze von einer menschlichen autorität erlassen werden. die frage nach der „bewirkenden Ursache des Gesetzes“ wird beim Paduaner zur entscheidenden frage. Weil Marsilius an der entstehung von Gesetzen interessiert ist, sieht er klar ein, dass es sich um etwas vom Menschen entworfenes und Hervorgebrachtes handelt und stellt sich dem Problem, wem die Befugnis zur Gesetzgebung zukommt. viel radikaler als thomas, bei dem allerdings der Gedanke angedeutet ist, kommt er zum ergebnis, dass dem volk oder der Gesamtheit der Bürger diese kompetenz zusteht: „Wir aber wollen sagen, wie es der Wahrheit und dem rate des aristoteles entspricht: Gesetzgeber (legislator) oder erste und spezifische bewirkende Ursache des Gesetzes ist das volk (populus) oder die Gesamtheit der Bürger (universitas civium) oder deren Mehrheit durch ihre abstimmung oder Willensäusserung, die in der vollversammlung der Bürger in einer debatte zum ausdruck gekommen ist.“21

auch in diesem falle halte ich vor allem die argumentation für entscheidend, wohl wissend, dass sich die Historiker über die präzise Bedeutung der Begriffe „volk“ und universitas civium streiten. Was zählt, ist die grundsätzliche aussage. Marsilius liefert dafür viele argumente, von denen ich nur eines aufgreife. obwohl er den Grundsatz wörtlich nicht zitiert, basiert das im folgenden Passus ausgeführte argument letztlich auf dem Grundsatz, der zuerst im Codex iustinianum anzutreffen ist und dann im kanonischen recht grosse Bedeutung erlangt hat: quod omnes tangit, ab omnibus approbari debet (Was alle betrifft, muss von allen gebilligt werden)22: 18 Marsilius von Padua, Defensor pacis, ed. richard scholz, fontes iuris Germanici, Hannover 1932; übersetzungen nach der ausgabe von Walter kunzmann und Horst kusch, Der Verteidiger des Friedens, stuttgart: Ph. reclam, 1971 (reclam 7964). einen vorzüglichen überblick zur lehre des Marsilius bietet Miethke, De potestate papae, 204–247. Zum neuesten stand der Marsilius-forschung vgl. The World of Marsilius of Padua, ed. G. Moreno-riano, turnhout: Brepols, 2007. 19 dP i, x, § 3, 41: „viertens meint Gesetz, und zwar in der bekanntesten Bedeutung, das Wissen oder die lehre oder die Gesamtanschauung vom Gerechten und nützlichen im staatlichen leben und deren Gegenteil.“ 20 dP i, x, § 4, 42: „das Gesetz dagegen hat zwingende kraft; es ist ein text, der aus einer bestimmten einsicht und aus verstand hervorgeht.“ 21 dP i, xii, § 3, 52–53. 22 Zur Geschichte und Bedeutung dieser regel vgl. die nach meiner Meinung immer noch grundlegende studie von yves congar, „Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari de-

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ruedi imbach „Weiter zum Haupt-schlusssatz! dem kommt ausschliesslich die Gesetzgebung zu, der dadurch bewirkt, dass die gegebenen Gesetze am besten oder ausnahmslos befolgt werden. das ist ausschliesslich die Gesamtheit der Bürger. also kommt ihr ausschliesslich die Gesetzgebung zu. der obersatz dieses Beweises ist beinahe selbstverständlich; denn zwecklos wäre ein Gesetz, wenn es nicht befolgt würde. […]. den Untersatz beweise ich so: das Gesetz befolgt jeder Bürger am besten, das er glaubt sich selbst auferlegt zu haben. dies gilt für das Gesetz, das gegeben ist, nachdem die Gesamtheit der Bürger es angehört und gutgeheissen hat.“23

Was die Menschen sich selbst auferlegen, das befolgen sie leichter als etwas, was ihnen andere vorschreiben. Marsilius vollzieht allerdings noch einen weiteren schritt, indem er diese verfahrensregel zum Grundsatz der politischen Philosophie erhebt, wenn er nicht nur die Gesetzgebung, sondern auch die einsetzung der regierung dem Gesetzgeber, d. h. der Gesamtheit der Bürger überträgt: „die Gewalt (auctoritas) zur einsetzung der regierung oder deren Wahl kommt dem Gesetzgeber oder der Gesamtheit der Bürger ebenso zu … wie die Gesetzgebung.“24 so lautet die These 3: Marsilius von Padua hat nicht nur wie Dante die Loslösung des Staates von der Kirche gefordert, sondern die Gesamtheit der Bürger als letzte politische Instanz wahrgenommen und damit den Grundsatz des Römischen Rechts und des Kirchenrechts „Quod omnes tangit ab omnibus tractari et approbari debet“ zum Prinzip der politischen Ordnung erhoben. die in dieser these enthaltenen konsequenzen können verschieden gedeutet werden, indem beispielsweise die Begriffe demokratie oder volkssouveränität verwendet werden. das ist nach meiner auffassung nicht von Bedeutung. Was hier zählt ist folgendes: über den Begriff des Gesetzes als zwingende regel nachdenkend haben bet“, Revue historique de droit français et étranger 36 (1958), 210–259. Wegen der Wichtigkeit dieses Grundsatzes sei auch auf folgende forschungsbeiträge verwiesen: Gaines Post, „romano-canonical Maxim ‚quod omnes tangit‘ in Bracton“, Traditio 4 (1946) 197–252; andré Gouron, „aux origines médiévales de la maxime ‚quod omnes tangit‘“, in: Histoire du droit social. Mélanges en hommage à Jean Imbert, Paris: PUf, 1989, 277–286; alain Boureau, „Quod omnes tangit: de la tangence des univers de croyance à la fondation sémantique de la norme juridique médiévale“, Grés des Langues 1 (1990) 137–153; constantin fasolt, „Quod omnes tangit, ab omnibus approbari debet: the Words ande the Meaning“, in: steven Bowman and Blanche cody (Hg.), In Iure Veritas. Studies in Canon Law, cincinnati, University of cincinnati, 1991, 21–55; andrea Bettetini, „riflessioni storico-dogmatiche sulla regola ‚Quod omnes tangit‘ e la ‚Persona ficta‘“, Il diritto ecclesiastico 110 (1999), 645–679; francisco Javier lópez de Goicoechea Zabala, „la fórmula romano medieval quod omnes tangit en el pensamiento político español del los siglos xvi–xvii: Una reflexión sobre el bien común“, Cuadernos salmantinos de filosofía 26 (1999), 115– 132; italo Merello arecco, „la máxima ‚Quod omnes tangit‘: Una aproximación al estado del tema“, Revista de estudios histórico-jurídicos 27 (2005), 163–175; carl Watner, „Quod omnes tangit. consent theory in the radical libertarian tradition in the Middle ages“, Journal of Linertarian Studies 19 (2005), 65–85. Zur Wirkungsgeschichte bei Bartolomé las casas vgl. kenneth Pennington, „Bartolomé de las casas and the tradition of Medieval law“, Church History 39 (1970), 149–61 (nachgedruckt in überarbeiteter fassung in: ders., Popes, Canonists, and Texts 1150–1550, collected studies series 412, aldershot: variorum, 1993). nicht unerwähnt soll der Beitrag von niklas luhmann, „Quod omnes tangit: remarques sur la théorie de Jürgen Habermas“, Le droit contre le droit 21 (1997), 29–48, bleiben, der die aktualität der regel bestätigt. 23 dP i, xii, § 6, s. 55. 24 dP i, xv, § 2, 70.

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die mittelalterlichen denker nicht nur allmählich den ausschliesslich menschlichen Ursprung von Gesetzen erfasst, sondern daraus auch die lehre gezogen, dass die staatlich-politische ordnung etwas vom Menschen für Menschen Geschaffenes ist, dessen Gestaltung und verantwortung den Menschen zusteht.

MicHael fiscHer, salZBUrG neuzeIt

als

1. gewalt

aufklärungsProzess

und

MonoPol

sie kennen die Behauptung von der aufklärung des Mythos und vom Mythos der aufklärung. aber sind Mythos, vernunft und aufklärung überhaupt Gegensätze? der Mythos leistet die Benennung des uranfänglichen entsetzens, die „entängstigung“ und den abbau des schwer lebbaren absolutismus der Wirklichkeit: also aufklärung. die alten Mythen erzählen, dass anfangs die Gewalt eine ordnungsstiftende tat war. sie erzählen von kain, der seinen Bruder abel erschlagen hat, und dem strikten Beharren Gottes auf seinem Gewaltmonopol, sie erzählen von Prometheus’ kulturstiftender freveltat, sie erzählen von antigone und kreon. kreon erzwingt sein Gewaltmonopol, die Gesetzgebungskompetenz in der Polis gegenüber antigone. in diesem konflikt wird deutlich, dass der höchste Wert der Polis, recht bzw. Gerechtigkeit (dike), dem Ursprung nach sehr schillernd, unfasslich, bedrohlich sein kann. die fundamentale kulturelle Bedeutung des rechtsdiskurses veranschaulicht, dass die differenz zwischen Mensch und tier zunächst weniger durch den Besitz der vernunft definiert wurde als durch das Merkmal der vertragsfähigkeit.1 diese setzt freien Willen voraus und dessen verwirklichung wiederum einen institutionellen rahmen. von den tieren unterscheiden sich die Menschen, weil sie ihre existenz nach vereinbarungen und gültigen nomoi ausrichten. durch das rechtsdenken fügt sich das rationale denken zur politischen vernunft als Maßstab und Paradigma künftiger entwicklung. 2. tragödIe

und

recHtsdIskurs

die tiefe verunsicherung, die von der tragödie ausging, bestand darin, dass mit der Zweifelsfreiheit des menschlichen rechts die ratio selbst einer kritischen Befragung unterzogen wurde. die griechische tragödie behandelte die Beurteilung von taten und die frage nach der legitimen (gerechten) ordnung sowie dem einsatz der Macht vor einem Publikum, das in diesen angelegenheiten äußerst kompetent war. die durchdringung des alltäglichen lebens mit Politik wie die vergabe öffentlicher ämter durch los versetzten das tragödienpublikum in die lage, selbst als archon, richter, verwaltungsbeamter oder redner in der politischen versammlung die agonale realität der Bühne zu erleben. das Publikum des theaters trat in der agora als volksversammlung zusammen. die tragödie ist der anschwellende „Bocksgesang“ der ethischen Begründung des rechts. Und die renaissance ist ja zunächst dies: die Wiedergeburt der antike! 1

näher ausgeführt bei: Michael fischer, Vernunft als Norm. Gesellschaftskonstruktion und Lebenshorizont, frankfurt a. M. et al.: Peter lang verlag, 2005, 4–7. über den weiteren Zusammenhang von tragödie und rechtsdiskurs in der antike, siehe: louis Gernet, Droit et société dans la Grèce ancienne, Paris: sirey, 1955.

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Michael fischer

3. Massstab

und

konflIkt

Politisch bedeutet seit der antike das, was (von der sprache bis zu Gesetzen, Werten, rechten und Pflichten) ein Maß, eine spielregel abgibt, welche Gemeinsamkeit stiftet. Politisch ist ein regelfeld für die stabilisierung für erwartungshaltungen und damit für potentiellen konsens. die ausnahme hingegen, die Unterbrechung des regelhaften, verdeutlicht die fragwürdigkeit der regel, der norm in ihrer durch die fortdauer oft vergessenen Pragmatik. Man denke bloß an die Gnade im verhältnis zum Gesetz, an die Bacchanalien in der differenz zum alltag. Jedes gesetzte regelfeld steht unausweichlich im (virtuellen) konflikt mit anderen regelfeldern. denn die politische regel wurde irgendwann einmal agonal etabliert gegen eine andere. ihre rechtlichkeit verweist auf akte der institutionalisierung des rechts, die ihrerseits als setzungsakte nicht recht gewesen sein können. daher besteht die tendenz, das agonale und konfliktträchtige hinter der geronnenen fassade von rechtsverhältnissen nicht mehr zu registrieren. andererseits wohnt der konflikt dem recht auch systematisch inne. das Politische, dessen Grundkategorie von carl schmitt2 als die Unterscheidung von freund und feind bestimmt worden ist, behält in der fest gewordenen rechtsgestalt einen agonalen charakter, der freilich zunehmend unsichtbarer, gestaltloser, ungreifbarer wird. seit der trennung von natur und Gesetz im denken der sophisten wurde es möglich, freiheit auf die „natur“ zu beziehen, von der Polis abzulösen und ihr entgegenzusetzen. in der folge wurde freiheit als „innere freiheit“ des einzelnen zum inbegriff seiner lebensweise, die unabhängig von recht und Politik demjenigen erreichbar ist, der im einklang mit der natur am logos teilhat. Mit der aporie von „innerer“ und „äußerer“ freiheit zeigt sich bereits die wirkungsgeschichtlich erhebliche spannung in der entwicklung des freiheitsbegriffs. 4. antIzIPatIon

und

kulturentwIcklung

auch prägt die antike die dynamische Behauptung, dass die Menschen „suchend das Bessere finden“ können. diese these formulierte der rhetor und fürstenberater isokrates (436–338), der aristoteles politische konzeption stark beeinflusste. „suchend das Bessere finden“3 war sein imperativ und das heißt: die Zukunft, der nächste tag sind nicht etwas, das ohne Zutun des Menschen auf ihn zukäme. vielmehr ist Zukunft etwas, das durch sein Wissen, können, durch seine Hoffnungen und Befürchtungen entstehen wird. domestikation der natur, das heißt, kultivierung wird zur daueraufgabe des Menschen. fragend eindringen in die Welt, analyse, deutung und Umdeutung, argumentation und antizipation werden zu Generatoren des erfolges. dies ist der kernpunkt der abendländisch-europäischen kulturentwicklung, aber auch der fokus für den integrationsprozess anderer kulturen, der 2 3

carl schmitt, Der Begriff des Politischen (1932). Mit einem vorwort und 3 corollarien. Berlin: duncker & Humblodt, 1963, 26 f. (dieser aufsatz erschien erstmals 1927, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. 58, 1–33.) Zitiert nach christian Meier, ‚fortschritt‘ in der antike, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (hg. v. otto Brunner/Werner conze/reinhart koselleck), Bd. 2, stuttgart: ernst klett verlag, 1975, 359.

neuzeit als aufklärungsprozess

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in der antike beginnt. kultur versorgt die Menschen mit Bedeutsamkeit, das heißt, den standards der Wertorientierung. diese befähigen den Menschen, über sich selbst nachzudenken und neue sinngehalte zu suchen. kultur heißt zunächst Zivilisationsprozess. freilich sind zwei kulturbegriffe auseinander zu halten: der eine bindet kultur an einen bestimmten raum: der Begriff geht von der annahme aus, kultur sei das ergebnis hauptsächlich lokaler lernprozesse. in diesem sinne besitzt eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe eine je „eigene“, gegen andere abgegrenzte kultur. in dieses kulturelle selbstverständnis wird eine vielzahl von spezifischen, exklusiven selbstbeschreibungen eingebaut, durch die die Unterscheidung einer kultur in den augen ihrer Mitglieder von anderen kulturen zu sichern ist. ein weitreichender kulturbegriff betrachtet kultur als allgemeine menschliche „software“, als „Zivilisation“. er setzt kulturen im Plural voraus, und diese beiden Begriffe sind daher inklusive Unterscheidungen.4 Werte funktionieren dabei als regulatoren, sie verhindern, dass sich bestimmte gesellschaftliche konflikte zerstörend zuspitzen. sie sind kulturelle anpassungsleistungen, die den permanenten ausnahmezustand, den Bürgerkrieg verhindern helfen. sie funktionieren als „Gleichrichter“, mit dem die jeweilige Gesellschaft (Gemeinschaft) auf bestimmte Grundbegriffe „gepolt“ wird. Wer Werte lediglich moralisch interpretiert, verkennt ihren wahren kern als gesellschaftliches regelsystem. 5. anIMale

cIVIle



HoMo bestIalIs

die renaissance war ein mächtiger schritt bei der Globalisierung der abendländischeuropäischen kultur. sie stellte den Menschen als Herrscher seines daseins in den Mittelpunkt, fragte nach der humanen funktion des rechtes. „aristotile dice, l’uomo è aminale civile“, sagt dante und verweist (lateinisch) auf die zivilisierende funktion der artes liberales (als kulturgeneratoren), wenn er sagt, dass orpheus „homines bestiales et solitarios reduceret ad civilitatem“.5 aus der Unterscheidung zwischen dem vorpolitischen und dem politisch-rechtlich geordneten leben entstand eine bis heute bedeutsame differenzierung: die bestialischen oder barbarischen Menschen sind immer schon von der civilitatis und ihrem recht ausgeschlossen. Bereits hier verfestigen sich inklusions- und exklusionsmodelle jenseits der religiösen argumentation. Wo es Unterschiede gibt, kann man defensiv oder offensiv mit dem Willen zur selbstbehauptung oder der überwältigung des anderen darauf reagieren. dieser Unterschied hat eine rigorose aufteilung der Welt zur folge: die innenverhältnisse stehen unter dem moralischen Gesetz, für den kampf gegen außen gelten andere regeln. es gibt kein moralisches Universum, sondern nur inseln von Moralität in einem ozean wilder selbstbehauptungs- und eroberungskämpfe. Hier der Bund, das reich, das Gesetz, dort draußen die Wildnis, die regellosigkeit, die fremde, die Barbaren. die Welt des politischen denkens hat eine Grenze, von der 4 5

vgl. Ulrich Beck, Ursprung als Utopie: Politische freiheit als springwelle der Moderne, in: Kinder der Freiheit, hg. v. Ulrich Beck, frankfurt a. M.: suhrkamp, 1997, 382–409. Zitiert nach: Jörg fisch, Zivilisation, kultur, in: Geschichtliche Grundbegriffe, a. a. o., Bd. 7, stuttgart: klett-cotta 1992, 696.

62

Michael fischer

her sie ihren begrenzten, durchaus nichtuniversellen sinn empfängt. Man hat sich angewöhnt, nach der „Begründung“ von Moral und recht zu fragen. doch empirisch gesehen, beruhen beide weniger auf einem „Grund“, sondern eher auf einer Grenzziehung, die es gegen die fremden, gegen die anderen zu behaupten oder auszuweiten gilt. 6. JurIsPrudenz

als Vera PHIlosoPHIa

die renaissance-anthropologie dagegen definierte den Menschen als entwicklungsprojekt rationaler systeme. dabei ist der Mensch nicht nur er selbst, sondern auch, das, was ihn überdauert, seine artefakte, seine denk- und kunstwerke, seine institutionen. er selbst ist das echo seiner kulturgeschichte. in Pico della Mirandolas schrift „de dignitate hominum“ hat der Mensch die aufgabe, sich selbst zu schaffen und als ein Projekt zu begreifen, das in seinen Händen liegt (Marsilius ficino, leonardo da vinci).6 es gab eine erbittert geführte diskussion über funktionalität und Humanrelevanz der Wissenschaften. der Petrarca-schüler coluccio salutati sieht primo loco die rechtswissenschaften. leonardo Bruni und Poggio Bracciolini geben wegen der willkürlichen Gesetzgebung der Medizin den vorrang, ähnlich wie später Hermann Julius von kirchmann7 in seiner arbeit „über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“ (1847). salutati, bis zu seinem tode 1406 kanzler der signora in florenz repliziert: 1. die entstehung und kontinuität der bürgerlichen ordnung ist ein Produkt der Gesetzgebung. 2. die Poetik liefert den kontext von „civilitas“ und vernunft als sinnvolle organisation der emotionen in den menschlichen Beziehungen und intimitäten. die selbstsicherheit der rechtswissenschaften lässt sich nicht erschüttern und Paulus de castro versichert: „Haec scientia est vera philosophia, et non simulata, et nobilior omni alia, postquam tendit ad faciendum homines bonos … aliae vero scientiae ad hoc non tendunt: ideo non attingunt dignitatem istius“ („diese Wissenschaft ist wahre Philosophie, und zwar keine scheinbare und vornehmer als jede andere, da sie darauf abzielt, die Menschen besser zu machen … andere Wissenschaften zielen nicht darauf ab: daher erreichen sie nie die Würde dieser.“).8 7.

wIssenscHaft

und

VerHeIssung

die alten metaphysischen koordinaten des rechts waren baufällig geworden. Bisher galt jede Wissenschaft, auch die Jurisprudenz, als „Weg zu Gott“. die wissenschaftliche revolution, verbunden mit namen wie Galileo Galilei, Johannes keppler, Gi6 7 8

vgl. dazu die hervorragende textausgabe bei Wladyslaw tatarkiewicz, Geschichte der Ästhetik, Bd. 3: Geschichte der neuzeit, Basel/stuttgart: schwabe & co aG verlag, 1987, 127–160. nachdruck darmstadt 1966. Hans erich troje, Wissenschaftlichkeit und system der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts, in:, Philosophie und Rechtswissenschaft, hg. v. Jürgen P. Blühdorn/Joachim ritter, frankfurt a. M: vittorio klostermann, 1969, 66. coluccio salutati, De nobilitate legum et medicinae (hg. v. eugenio Garin), florenz: vallecchi, stampa 1947, 4 f. (deutsche übersetzung v. verfasser).

neuzeit als aufklärungsprozess

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ordano Bruno, francis Bacon, isaak newton und rené descartes, markiert einen radikalen Wechsel des legitimationsprinzips. Mit ihr ging das Monopol, gültige ordnungen zu beglaubigen, auf die Wissenschaft über. diese hatte ihren siegeszug mit der verheißung begonnen, die wahre ordnung der dinge in natur, religion, recht, Politik, Gesellschaft, Moral und kultur bloßzulegen und säkularisierte damit die vorstellung eines göttlichen „Heilsplanes“. schließlich trat auch die Gesellschaft als regulatives Prinzip auf. im Blick auf die Gesellschaft, sei es auf ihre künftige rationale organisation, sei es auf die funktionalen erfordernisse ihres Bestandes, kann man rechtsregeln entwerfen, seine Praxis ordnen und die vorhandenen Mittel konzentrieren und koordinieren: Zukunft als kulturelles experiment, als Wagnis des denkens von einer materiell gerechten Welt und einem besseren Menschen, den es (durch das recht?) zu schaffen gilt. schwierig an der konstruktion ist der anspruch auf den Besitz absoluter richtigkeit. vermeintliche (situativ abhängige) Wahrheit verfestigt sich zum Zwangsbetrieb. das wahrhaft richtige braucht ja nicht mehr verändert werden, wenn das endziel irreversibel feststeht, ist keine änderung mehr möglich. die Praxis der Utopie beruht daher häufig auf Propaganda, Unterdrückung der kritik, ausmerzung des Widerstandes. die utopische vernunft setzt eine Berechenbarkeit des Menschen voraus, er muss kalkulierbar, „mathematisierbar“ sein, sonst funktioniert das experiment nicht. 9 diesbezüglich verlässt man sich ganz auf die naturwissenschaften und ihre Methoden: der Zweifel an der Wahrheit wird durch die Wissenschaftlichkeit des verfahrens und die Qualität des damit gewonnenen Wissens kompensiert. ist man sich der Unverbrüchlichkeit des wissenschaftlichen fortschritts gewiss, erwartet man von seiner instrumentellen anwendung die endgültige Herrschaft über die natur, das ende der knappheit der Mittel und das recht fügt die Perfektion des Menschen.10 8. dIe stunde

der

recHtsPHIlosoPHen

in den Wirrnissen des dreißigjährigen krieges gelang es weder theologischer argumentation noch ihrer radikalisierung durch bürgerkriegsähnliche auseinandersetzungen, frieden und sicherheit in europa herzustellen. Wo selbst politische Macht und militärische Gewalt versagen, sind neue und effiziente konstruktionen gefordert. die rechtsphilosophen bekamen ihre historische chance. Wie lässt sich mittels der vernunft eine souverän-übergeordnete instanz küren? diese muss unabhängig von allem theologischen Zwist den konfessionen gegenüber neutral sein, aber auch effizient und mächtig genug, um mit harter durchsetzung des Gewaltmonopols die Gewalt zwischen Untertanen zu unterbinden bzw. zu bestrafen. diese instanz wird der moderne staat mit seiner souveränität, begründet durch normative rationalität. aber das war vorbereitet von den Meisterdenkern wie Bruno, Bacon, descartes und vielen anderen. doch vermarktet und organisiert sich dieses denken 9

vgl. Michael Bock, Soziologie als Grundlage des Wirklichkeitsverständnisses. Zur Entstehung des modernen Weltbilds, stuttgart: klett-cotta, 1980, 120 ff. 10 Umfassend und fortschrittskritisch ist die arbeit von Pascal Bruckner, Verdammt zum Glück. Der Fluch der Moderne, Berlin: aufbau-verlag, 2001.

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Michael fischer

effizient erst im 18. Jahrhundert, wo seine politischen konsequenzen umgesetzt wurden. Hobbes entwickelte sein normativ-rationales system mit einer strikt an den souverän gebundenen voluntaristisch-absolutistischen lehre vom Gesetz. der erfahrungshintergrund waren die gefährlichen spannungen zwischen könig und Parlament, der hauptsächlich um das verhältnis der konfessionen untereinander ging. als dann 1642 der konfessionelle Bürgerkrieg ausbricht, der zunächst zur niederlage und zum tod des königs führt, sieht Hobbes sich in seiner vision vom staatsfreien Zustand als eines krieges aller gegen alle bestätigt („leviathan“!). angesichts der Unfähigkeit von theologie und Moral, den frieden zu erhalten oder wieder herzustellen, bedarf es einer neuen und funktionalen rationalität, um den zerstörerischen, Menschen vernichtenden, inneren kriegszustand zu beenden. dies wird aufgabe für den den abstrakten staat regierenden souverän, der aufgrund seines Gewaltmonopols die ständischen und religionspolitischen differenzen pazifiziert.11 Ziel ist die schaffung eines sicheren lebensraums für die Menschen mit seinen kleinen freuden durch den starken staat. nur so gibt es nach Hobbes eine effektive, rationale sicherung gegen die übergriffe rivalisierender konfessionen, die die angelegenheiten des forum internum (des individuellen Gewissens) mit verfahren des forum externum (wie etwa Zwang und Gewalt) zu regeln trachten. das „dictatem rationis“ ist das selbsterhaltungsgebot. der staat mit dem souverän als akteur ist die institution, die diese konstruktion der ratio umsetzen und realisieren kann. 9. MacHIaVellIs skePsIs aber niccolò Machiavelli hatte auf diesem Weg in die aufklärung gezeigt, dass eine realistische (empirische) sichtweise eine relativierung selbst der schönsten rechtskonstruktionen mit sich bringt. Wer die Gewalt hat, hat die Macht und ist stets im recht und besitzt das interpretationsmonopol der Moral. so werden immer wieder die tiefsten philosophischen Gedanken, die großen ethischen systeme, die Wünsche, gut zu sein, als irrlichternde Phantome zerstört. shakespeare zeigt dies auf der Bühne so deutlich. der kern der Macht ist die bloß nach außen hin ritualisierte und tabuisierte Gewalt. Wer über die Macht verfügt, hat auch das recht, selbst das der Begnadigung. das Gewaltmonopol ermöglicht den gefahrlosen Machtverzicht, die Begradigung der Gewalt12, die dann das nonplusultra der legitimation ist. Mozarts „la clemenza di tito“ und die „clemenza“ anderer Potentaten sind nicht von ungefähr ein lieblingsthema der fürstenspiegel und der Barockoper. durch Machiavelli schärft sich der Blick, recht und Politik als Wirklichkeitswissenschaft zu betrachten. also verkündet der rechtsrealismus: „homo homini lupus“ (Hobbes)!

11 thomas Hobbes, Der Leviathan. das Urbild des modernen staates und seine Gegenbilder 1651– 2001 (hg. v. Horst Bredekamp), 2., stark veränd. a., Berlin: akademie-verlag, 2003. vgl. Martin kriele, Die Herausforderung des Verfassungsstaates. Hobbes und englische Juristen, neuwied etc.: luchterhand verlag, 1970. 12 vgl. niccolò Machiavelli, der fürst, kapitel 15–19, in: ders., Gesammelte Werke. frankfurt a. M.: verlag 2001, o. J., 350 ff.

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10. norMatIVe ratIonalItät die attraktivität der normativen rationalität bestand darin, dass ihre regeln die Welt in eine universale ordnung brachte, die theoretische Zweifel und innere spannungen ausschließen. diese überzeugung schaffte erst den freiraum, in welchem die Menschen vernunftsysteme nicht nur konstruieren, sondern auch politisch propagieren können. Man denke an die großen konzeptionen von descartes, spinoza, leibniz, Pufendorf und Wolff. die regeln der ratio verbürgen nicht nur die vernünftigkeit in der natur, sondern in ihrer vollkommenheit sind sie die Wesenseigenschaft Gottes selbst. Gott offenbart sich durch Methode! christian Wolff ersetzt in seinem „ius naturae methodo scientifica pertractatum“ (das in acht Bänden von 1740 bis 1748 erscheint)13 traditionale sicherheiten durch eine neue: durch die dogmatisch geltende ordnung der „ungezweifelten Gewißheit“. dieser methodischen, rationalistischen vernunft ist jede Unregelmäßigkeit sowie alles nichtrationale ein skandal, eine sünde wider den „methodologischen Gott“. daher wollen Wolff und Pufendorf rationalität im sinne mathematischer Berechenbarkeit in die rechtswissenschaft einführen. rechtspolitischer angriffspunkt wird die unkontrollierbare Macht des absolutistischen fürsten. diese könne nur akzeptiert werden, wenn sie allgemeingültigen regeln unterworfen wird und „more geometrico“ dem „Gemeinwohl“ dient. der rationalismus wandelt sich zur Utopie der perfekten rechtsordnung. die französische und englische neubildung „civilisation“ als ausdruck für ein selbstbewusstes Weltverständnis werden im deutschen sprachraum als kultur bezeichnet, etwa von leibniz.14 er versteht darunter die Pflege des Geistes (ésprit), der Moral, aber auch der Gesellschaftlichkeit und der arbeit, wie später die kammeralisten betonen (etwa Heinrich Gottlob von Justi15). der absolutistische staat hat die primäre verpflichtung den allgemeinen Wohlstand materiell und kulturell (ideell) anzuheben. thomasius, christian Wolff und seine schüler arbeiten an einer verweltlichten Universaljurisprudenz, einem „demonstrierenden“, historisch völlig invarianten system strikter rationalität. 11. HerrscHaft

als

selbstbestIMMung

rousseau hatte in seinem „contrat social“ (1762) eine konzeption entwickelt, wo das Gesetz als der unmittelbare ausdruck der gemeinsamen Willensübereinstimmung (volonté générale) der in der kollektivperson des „corps politique“ vereinten 13 christian Wolff, Ius naturae methodo scientifica pertractatum, 8 Bde, 1740–1748, nachdruck Halle, 1749 (hg. v. Marcel thomann), Hildesheim/new york: olms verlag, 1972; ders., Vernünfftige Gedancken von der Menschen Tun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseligkeit (mit e. einl. v. Hans Werner arndt), franckfurt/leipzig, 1733, nachdruck d. 4. a., Hildesheim etc.: olms verlag, 1976, kap. 87, § 47. 14 Jörg fisch, Zivilisation, kultur, in: a. a. o., 699. 15 Johann Heinrich Gottlob von Justi, Staatswirtschaft oder Systematische Abhandlung aller ökonomischen und Kameral-Wissenschaften, die zur Regierung eines Landes erfordert werden (neudr. d. 2. a., leipzig, 1758), Bd. 1, aalen: scientia verlag, 1963; ders, Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten (neudr. d. ausg., königsberg, 1760), 2 Bde., aalen: scientia verlag, 1965.

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Michael fischer

„citoyens“ erscheint. dieser materiell (und nicht numerisch) begründete Gesamtwille stützt sich auf eine gemeinwohlorientierte staatsgesinnung, die als öffentliche Meinung vom Gesetzgeber hergestellt werden soll.16 diese sozialethik verwirklicht sich in der freien und öffentlichen diskussion als das vernünftige. Bei rousseau erhält der Befehlscharakter des Gesetzes eine entscheidende Umdeutung, weil Herrschaft in selbstbestimmung aufgelöst wird. rousseau will die eigenständigkeit des Bürgers nicht verstaatlichen, sondern ins spiel der allgemeinen Gesetzesordnung bringen, die der Bürger zu seiner eigenen sache macht.17 rousseaus vorschlag einer Zivilreligion hatte die funktion, die denunzierung der christlichen konfessionen untereinander zu beenden, andererseits sollte sie eine identifizierung der Bewohner nicht nur als Bürger, sondern auch als Menschen ermöglichen. diese rousseausche konzeption wurde durch die deutsche Popularphilosophie eifrig rezipiert. Politisch engagierte autoren mit „Zivilcourage“ begriffen sich als avantgarde der „aufklärerischen vernunft“ und versuchten in einer ersten form von Wissenschaftsjournalismus, aufklärung zu einem öffentlichen und politisch praktischen anliegen zu machen (franz Heinrich Ziegenhagen, carl Wilhelm frölich, Johann Benjamin erhard, christian Garve).18 normative rationalität soll den Menschen als subjekt seiner selbstbestimmung konstituieren. 12. reVolutIon

und

rePublIk

Um diesem konzept Geltung zu verschaffen, griffen die einen zur Gewalt (französische revolution), die anderen wollten die selbstbestimmung zum fokus eines neuen Massenkults machen, zu einer emphatischen „religion der republik“ oder „nation“. friedrich schlegel formuliert 1796: „nur durch einen universellen republikanismus kann der politische imperativ vollendet werden. dieser Begriff ist also kein Hirngespinst träumender schwärmer, sondern praktisch notwendig, wie der politische imperativ selbst. seine Bestandteile sind: 1. Polizierung aller nationen; 2. republikanismus aller Polizierten; 3. fraternität aller republikaner; 4. die autonomie jedes einzelnen staates und die isonomie aller. nur universeller und vollkommener republikanismus würden ein endgültiger, aber auch allein hinlänglicher definitivartikel zum ewigen frieden sein … der universelle und vollkommene republikanismus und der ewige friede sind unzertrennliche Wechselbegriffe.“19

sollte die aufklärerische vernunft etwa am Ziel sein? die französische revolution strebte die identität zwischen menschlicher natur und universeller vernunft an, zwischen sitte und Gesetz, ethik und recht: legalität und legitimität sollen völlig vereint werden. aber diese identität ist nicht mehr einheit, sondern „totalität“, der Zwang zum „Ganzen“. denn jedes positive Gesetz 16 Jean Jacques rousseau, Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsdenkens (1762), (übers. v. Hermann denhardt. hg. v. Heinrich Weinstock), stuttgart: reclam, 1974, kap. 2.6., 41 ff., kap. 3.15., 105 ff. 17 a. a. o., kap. 2.4., 34 ff. sowie kap. 2.7., 45 ff. 18 Michael fischer, Die Aufklärung und ihr Gegenteil. Die Rolle der Geheimbünde in Wissenschaft und Politik, Berlin: springer verlag, 1982, 188–207. 19 friedrich schlegel, versuche über den Begriff des republikanismus (1796), in: Gesellschaft und Staat im Spiegel deutscher Romantik, hg. v. Jakob Baxa, Jena: fischer, 1924, 29 f.

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kann seine rechtfertigung nur in der konkreten menschlichen existenz finden, sonst wird es zumindest in dem augenblick abstrakt, in dem seine metaphysische Begründung hinfällig wird. am Wirksamsten und erfolgreichsten wurden die genannten konzepte als ein rationalisierungsinstrument aufklärerischer reformpolitik. auf dieser Grundlage entstand das bahnbrechende Gesetzgebungswerk der europäischen aufklärung, das allgemeine Preußische landrecht (1794).20 es beeinflusst tief die rechtsphilosophie der nächsten Jahrzehnte, etwa bei Hegel.21 13. das allgeMeIne PreussIscHe landrecHt carl Gottlieb svarez, der Protagonist und Mitverfasser des alr, baute ein Gesellschaftsrecht, das unabhängig von den standesrechten neuen vereinigungsformen und assoziationen einen Gestaltungsraum gab. die rechtlichen Grundlagen für eine dynamisch-ökonomische entwicklung der Gesellschaft waren damit geschaffen. das Handelsrecht war eine völlig neue kreation des alr22. svarez war sich des politischen und instrumentellen charakters dieser kodifikation bewusst: „Jede neuerung in der Gesetzgebung“ hat „eine art von erschütterung“ des „staates oder gewisser klassen seiner Mitbürger“ zur folge. Man hatte durch den „choqe“ der französischen revolution gelernt, aus angst vor Umsturz und Gewalt. die sich auflösende ständeordnung erzeugte eine Massenarmut und die im alr festgeschriebene verpflichtung des staates die armut unmittelbar zu beheben, wurde zu einem prekären Problem des staates. denn im alr wird dort, wo der Begriff „Bürger“ im allgemeinen außerständischen sinn gebraucht wird, den armen ein rechtsanspruch auf versorgung zugesichert.23 diese verpflichtung des staates, armut zu beheben und zu beseitigen, wird von Hegel in seine rechts- und staatskonzeption übernommen. die Zahl der wirtschaftlich Unselbständigen und Hilflosen, der arbeiter und arbeitslosen, nahm in dem Maß zu, wie der staat außerstande war, der übernommenen verpflichtung nachzukommen. Gefördert durch die liberale Wirtschaftsgesetzgebung blieb der arme als „Bürger“ zwischen staat und stand heimatlos.24 im alr war bereits die künftige antinomie zwischen rechts- und sozialstaat angelegt und das spannungsverhältnis zwischen rechtsstaat- und sozialstaatspostulat bestimmt die kommende diskussion.

20 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (alr). 2 Bde, 3. a., Berlin, 1796 (identisch mit dem allgemeinen Gesetzbuch für die Preußischen staaten, Berlin, 1791, dem die veränderungen des alr vorgebunden sind). 21 vgl. Michael fischer, Hegels „idee des rechts“ im kulturellen kontext, in: Rechtsethik, hg. v. Michael fischer/Michaela strasser, frankfurt a. M. etc.: Peter lang verlag, 2007, 115–131. 22 ALR, a. a. o., ii, 8, abschn. 7–10. 23 ALR, a. a. o., ii, 19, § 1. 24 reinhart koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, stuttgart: klett, 1967, 116 ff.

68 14. der

Michael fischer MatHeMatIsIerte

MenscH

david Hume hatte zuvor die rolle der leidenschaften (Hass, liebe, verachtung) in säkularisierter form und nicht als Bestandteil der sieben todsünden wieder in den diskurs eingebracht. Wie soll man damit umgehen? condorcet setzte auf die Wissenschaften. er hatte in seinem „tableau général de la science“ eine „mathématique sociale“ entworfen: „denkt man nach über die natur der Wissenschaften vom menschlichen verhalten (sciences morales), so tritt einem klar und zwingend vor augen: da sie sich wie die naturwissenschaften (sciences physiques) auf die Beobachtung von tatsachen stützen, müssen sie dieselbe Methode verfolgen, eine ebenso exakte und präzise sprache erwerben und denselben Grad an sicherheit erreichen.“25 die „mathématique sociale“ fügt ein universelles instrument des fortschritts. Wie viele andere war auch condorcet überzeugt, so die unveränderlichen Gesetze von recht und Unrecht sowie sämtliche fragen des menschlichen Zusammenlebens klären zu können. die konstruierte vernunft hat die Berechenbarkeit des Menschen und die Beherrschung einer durch Wissen und wissenschaftlichen eingriff transparenten natur zur voraussetzung. in dieser vernünftig organisierten Welt stört der „natürliche“ leib mit seinen der vernunft zuwider laufenden Wünschen und obsessionen. daher wird eine perfekte diätetik und radikale Zensur entworfen. sozialtechnologische eingriffe (sektionen) sollen Menschenverbesserungen ermöglichen und zu einer moralischen und praktischen lebensordnung führen, die alle sozialen konfliktmöglichkeiten eliminieren soll. der Mensch tritt erstmals in das Zeitalter seiner realen konstruiertheit ein: er wird zum Produkt eines Herstellungsprozesses, den man immer besser in den Griff zu bekommen glaubt.26 15. berufungsInstanz kant die entwürfe, die die Popularphilosophie der aufklärung, des idealismus und der beginnenden romantik zum „besten staat“ anstellen, sehen republik und demokratie als leitbild und den Menschen als prinzipiell offenes kulturwesen denn „alle Monopole in den Gedanken sind schädlich“. einzig und allein eine Pluralität der Meinungen kann endgültigen fortschritt freisetzen.27 kant wurde zur großen Berufungsinstanz: er definierte 1793 den Bürger als „citoyen“ und „Mitgesetzgeber“, dessen rechtlicher anspruch auf „freiheit, Gleichheit und selbständigkeit“ beruht. 25 Zitiert nach klaus vondung, condorcet. in: Der Mensch als Schöpfer der Welt. Formen und Phasen revolutionären Denkens in Frankreich. 1762–1794, hg. v. tilo schabert, München: list, 1971, 112 f. sowie 116. 26 näher ausgeführt bei Michael fischer, die rolle der natur bei der konstruktion des zôon politikón, in: Der Mensch – ein zôon politikón? Gemeinschaft – Öffentlichkeit – Macht, hg. v. Heinrich schmidinger/clemens sedmak, darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2006, 103– 112. 27 so vor allem Johann Gottlieb Herder, ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1784, in: Sämtliche Werke (hg. v. Bernhard suphan), Bd. 13, neudruck der ausgabe 1967, Hildesheim etc.: olms verlag etc., 1978, kap. 6.3., 272 f. u. ö.; vgl. auch ders., Briefe zur Beförderung der Humanität 1797, in: a. a. o., Bd. 18.

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dies wurde von vielen autoren als Grundlage der parlamentarischen demokratie interpretiert (Gottfried august Bürger, august von knigge, friedrich schlegel und Johann Benjamin erhard). kants rechtsdefinition lautet: „das recht ist der inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der freiheit zusammen vereinigt werden kann.“28 die große Unbekannte in dieser rechtsdefinition ist die freiheit. kant selbst hat dieses Problem mit dem Gedankengang erledigt, dass die freiheit im sittengesetz erkannt werde und das sittengesetz seine ratio essendi in der freiheit habe. damit hat er sich die klärung der empirischen Grundlage der verwirklichung des sittlichen und des rechts erspart. (das Problem wird verlagert in die Polarisierung von Pflicht und neigung.)29 die vernunft kapituliert wie zuvor vor dem Gewaltmonopol des staates, da auch mit der kantschen lehre eine sachadäquate trennungslinie zwischen freiheit und Willkür nicht möglich ist. seitdem ist empirisch evident, dass recht letztlich die ordnung von „verhältnissen“ aufgrund gegebener Gewaltmonopolisierung ist. die eklatanten Unterschiede setzen bei der „art“ der ordnung dieser verhältnisse ein. die eliminierung der theologischen orientierung des rechts hat den Zirkelschluss von recht und ordnung unausweichlich gemacht: Und zwar ordnung einer gewaltsam und insofern für den Menschen nicht „verfügbaren“ vorgegebenen lage. alle nunmehr folgende rechtsbegründung teilt mit der kantschen Problemstellung diese Zirkularität, das Problem bleibt in der „Positivität“ des rechts stecken. die aufmerksamkeit verlagert sich auf den Prozess, das verfahren. daher wird die kultur, wie kant sagt, zum zentralen „lebens-Mittel“ künftiger entwicklung.30 16. der scHock

der

reVolutIon

die „verhältnisse“, deren politische, kulturelle und ökonomische strukturen beherrschen den diskurs, schockiert vor allem durch die ereignisse der französischen revolution. die frage war, ob nicht der terror der französischen revolution den politischen fortschritt insgesamt kompromittiert? die antwort der deutschen Philosophie von kant über fichte, Hegel, friedrich schlegel und novalis war die: der terror kompromittiert die revolution als ereignis, nicht aber deren Prinzipien. die entartung der vernunft sei ein Produkt des abstrakten freiheitsdenkens. dieses degradiert das Gegenwärtige, um sich auf ein Morgen einzustimmen, das sich ins Unendliche verflüchtigt: „das höchste scheint das verändern zu sein“, sagt Hegel, ohne dass man ein kriterium dafür besitzt, denn, wer eine andere Zukunft anstrebt, „wolle nur eine andere Gegenwart“ und wer das sollen gegen die Wirklichkeit ausspielt, verfehlt diese selbst.31

28 immanuel kant, Metaphysik der sitten, in: Kants Werke, akademie textausgabe, Bd. vi, nachdruck, Berlin: Walter de Gryter & co, 1968, 230. 29 a. a. o., 387 ff. 30 immanuel kant, idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerliche absicht, in: a. a. o., Bd. vii, 15 ff. 31 Georg Wilhelm friedrich Hegel, Die Vernunft in der Geschichte (hg. v. Johannes Hoffmeister), 5. a., Hamburg: Meiner, 1955, 147 f.

70

Michael fischer

Hegel will dagegen den fortschritt in seinem vollzug begreifen: Geschichte als „fortschreiten im Bewußtsein der freiheit“, als einen Prozess also, bei dem sich die Menschen kulturell ihrer freiheit versichern und die Welt danach einrichten. am ende der entfaltung der Geschichte hin zur freiheit sollte der bürgerliche rechtsstaat stehen, der auf menschenrechtlicher tradition gründet. er zeigt, dass eine politische theorie aufgeklärter reformen die einzige antwort auf die frage ist, wie man den Prinzipien politischer und wirtschaftlicher Modernisierung Geltung verschaffen kann, wenn dies nicht auf revolutionärem Weg geschehen soll. nur so gelingt die verwirklichung der freiheit als institutionalisierung des rechts und der Menschenrechte.32 Hegel forderte stets eine disziplinierung auf die Zukunft hin und das heißt, er forderte eine effiziente kulturelle nachhaltigkeit, die nur das recht als verwirklichung „seiner idee“ bewirken könne. Mit der französischen revolution hatte die Berufung auf die vernunft ihre Unschuld definitiv verloren (de sade).33 die fortschrittseuphorie war brüchig geworden. die romantik hatte einen kritischen Blick für den „erstorbenen“ und „verausgabten“ aspekt aufklärerischer Wissenschaftsgläubigkeit. friedrich schiller als brillanter kulturkritiker und entscheidenstheoretiker meint, dass trotz aller sozialpolitischen Bemühungen erotik (sexualität), Hunger und tod stets als sprengstoff in der Menschheit bleiben werden.34 schelling kritisierte radikal den „anti-historischen fortschritt“, der je nach dem Maßstab, den man anlegt, „eher ein rückschritt“ ist. liegt das Glück also doch ganz woanders?35 17. krItIk

und

terror

die linkshegelianer, ludwig feuerbach, arnold ruge, Moses Hess, karl Marx attackierten die lähmende Wirkung der alten institutionen, die das leben verkrusten und wollten dagegen tat, Praxis, veränderung setzen. Marx und friedrich engels attackieren das recht als Herrschaftsinstrument, plädierten für einen radikalen antiinstitutionalismus. auch richard Wagner sieht dies in seiner schrift „die kunst und die revolution“ (1849) ähnlich. die Gegenwart mit ihren institutionen, ihrer Gesellschaft und ihrer kunst muss überwunden werden. Wagner strebt keine „Unterhaltung der Gelangweilten“ an, sondern eine kunst, die sich „zu den tiefen des Proletariats herab lässt, entnervend, entsittlichend, entmenschlichend überall, wohin sich das Gift ihres lebenssaftes ergießt“.

32 Georg Wilhelm friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des rechts oder naturrecht und staatswissenschaft im Grundrisse, in: Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden (hg. v. Hermann Glockner), 4. a., Bd. 7, stuttgart-Bad cannstatt: frommann, 1964, § 209, 286 f. 33 Michael fischer, Verheißungen des Glücks. Studien zur Rechts- und Sozialphilosophie des Fortschritts, kap. 4: de sade und die aufklärung, frankfurt a. M. etc.: Peter lang verlag, 1992, 61–76. 34 vgl. rüdiger safranski, friedrich schiller oder die erfindung des deutschen idealismus, München/Wien: Hanser, 2004. 35 friedrich Wilhelm schelling, system des transzendentalen idealismus, in: Werke (nach der original-ausgabe in neuer anordnung, hg. v. Manfred schröter, unveränd. nachdr. d. 1927 ersch. Münchener Jubiläumsdr.), Bd. 2, München: Beck, 1958, 593.

neuzeit als aufklärungsprozess

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Wagner versucht, mit den Mitteln der künstlerischen überredung eine politische, soziale, ökonomische Utopie zu verwirklichen. anhänger des kulturell orientierten deutschen nationalstaates begründeten ihre ideologie erstrangig aus dem kampf gegen die kommerzialisierung der kultur. so hat richard Wagner den Primat seines Gesamtkunstwerks auf strikte Gegnerschaft zur Pariser „Bankiers-Musikhurerei“ gestützt (G. Meyerbeer). der antisemitismus gerierte sich längst als kampf gegen die kommerzialisierung der „heiligen deutschen kunst“. als „heilig“ galt, was nicht in Geldwert aufgewogen werden konnte, als „undeutsch“ (jüdisch!?) galt die kommerzialisierung als „zersetzendes element“ der deutschen kunst und kultur.36 linkshegelianer wie Wagnerianer glaubten an die spontane identifikation von einzel- und Gesamtinteresse in der kommunistischen oder einer sonstigen endgesellschaft. die aufhebung sämtlicher institutioneller vermittlungen wie recht und staat. eine ideale, sich selbst permanent transzendierende kommunikationsgemeinschaft. Hier beginnt die Utopie eines herrschaftsfreien diskurses.37 die überzeugung, dass die künftige Gemeinschaft nicht des Gesetzes als eines Zwangs- und kontrollsystems bedarf, da die sozialen Bindungen sich allein durch spontane identifikation eines jeden einzelnen individuums mit dem gesellschaftlichen Ganzen ergeben, beruht vor allem auf der Berufung des nach Herkunft und Zukunft angeblich durchschauten verlaufs der Geschichte. der mit dem telos der Geschichte sich in übereinstimmung wissende denker ist ein exekutor des Weltgeistes: er ist ein terrorist, der als schaf im Wolfspelz auftritt: er mordet im dienste des lebens, er versklavt um der freiheit willen, er verbreitet entsetzen als reinigendes vorspiel überschwänglicher freude. nur terror, so Marx 1848, kann „die mörderischen todeswehen der alten Gesellschaft, die blutigen Geburtswehen der neuen Gesellschaft abkürzen“.38 der terror bezieht seine „rationalität“ und „legitimität“ unmittelbar aus höchsten Zwecken. Bloß für diesen endzweck und aus keinem anderen Grund müssen die blutigen aktionen realisiert werden. in dieser Universalität höchster Zwecke verschwindet das einzelindividuum und seine subjektiven rechte. sigmund freud wird später über den Zusammenhang von todestrieb und kulturzerstörung schreiben: im verlaufe der Zivilisation nimmt der soziale druck auf den einzelnen zu. Was der Mensch, wenn auch je anders und immer wieder neu, als konflikt zwischen lust- und realitätsprinzip zu bewältigen hat, verursacht nach freud das „Unbehagen in der kultur“.

36 Bazon Brock, Der Barbar als Kulturheld. Ästhetik des Unterlassens – Kritik der Wahrheit, Gesammelte Schriften III, 1991–2002, köln: duMont, 2002, 267–275. vgl. ota Weinberger/Michael fischer, Entartete Ideale, Graz: leykam, 1992, 12–25. 37 vgl. dieter Bänsch (Hg.), Zur Modernität der Romantik, stuttgart: Metzler et al., 1977; jüngst erschienen: rüdiger safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre, München/Wien: Hanser, 2007. 38 karl Marx, neue rheinische Zeitung v. 7. november 1848, in: karl Marx/friedrich engels, Werke (die dt. ausg. d. Werke von Marx u. engels fußt auf d. vom inst. für Marxismus-leninismus beim Zk d. kPdsU besorgten 2. russ. ausg.), 5. a., Bd. 5, Berlin: dietz, 1971, 457.

72

Michael fischer

18. ruf

der

wIldnIs

im letzten viertel des 19. Jahrhunderts gewann der darwinismus mit seiner evolutions- und selektionstheorie enormen einfluss auf das philosophische, soziologische und juristische denken. die sozialdarwinisten (allen voran Herbert spencer) beriefen sich auf die gesamten modernen Wissenschaften und setzten sich für rassenhygiene, aufartung und euthanasie ein, bis hin zu einer nach biologischen Prinzipien aufgebauten staats-, sozial- und kulturordnung. ihnen ging es um „eugenik“, um den Gestaltwandel der natur im sinne der „guten Gene“. francis Galton prägte 1883 diesen Begriff und definierte ihn als die Wissenschaft von der genetischen verbesserung des Menschen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine fülle eugenischer forschungsgesellschaften. in linken wie in rechten kreisen, ja selbst unter Zionisten, avancierte die eugenik zu einer Grundlagenwissenschaft der sozialpolitik. der eingriff in das erbgut galt als ethisches Gebot, als Wegweiser in die Zukunft des über-Menschen. dieser galt als das einzige kompensat für den von friedrich nietzsche diagnostizierten triumph des europäischen nihilismus. analog dazu entdeckt der Mensch seine barbarische Herkunft. in seinem Buch „der kampf als inneres erlebnis“ beschreibt ernst Jünger (1922) dies folgendermaßen: „doch unter immer glänzender polierter schale, unter allen Gewändern, mit denen wir uns wie Zauberkünstler behingen, blieben wir nackt und roh wie die Menschen des Waldes und der steppe. das zeigte sich, als der krieg die Gemeinschaft europas zerriß, als wir hinter fahnen und symbolen, über die mancher längst ungläubig gelächelt, uns gegenüberstellten zu uralter entscheidung. da entschädigte sich der Mensch in rauschender orgie für alles versäumte.“39

nicht die zerstreuten, flirrenden und vieldeutigen Zeichen der urbanen Zivilisation sprechen die sprache des inneren Menschen, sondern symbole, die die einfachste Unterscheidung von leben und tod erzwingen. der krieg ist die schule der großen anthropologischen evidenzen. 19. ns-bIologIsMus Hitler und Himmler versuchten auf diesem Hintergrund ihr Unrechtssystem zu verwirklichen: Politische Machtansprüche, Gewalt und terror galten als Umsetzung biologischer kategorien in politisches Handeln. der führermythos verkörperte sich im totalen staat mit seinen strengen reglementierungen, die auch den alltag erfassen. Man denke an die sucht der nationalsozialisten nach authentischen Zeichen, nach einer archetypensprache oder an den more-geometrico-aberwitz der aufmärsche und kundgebungen. vor allem die Jugend wurde in die „verpflichtung der volksgenossenschaft“ genommen, für die damals konrad lorenz (der spätere nobelpreisträger) die these von „schönheit“ als rassischem auslesemuster formuliert hat. Hitler erklärte zum thema „Jugend“:

39 ernst Jünger, der kampf als inneres erlebnis, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, stuttgart: klett-cotta, 1982, 14 f.

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neuzeit als aufklärungsprozess

„Meine Pädagogik ist hart. das schwache muß weggehämmert werden. in meinen ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der die Welt erschrecken wird. eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich … schmerzen muß sie ertragen. es darf nichts schwaches und Zärtliches an ihr sein. das freie, herrliche raubtier muß erst wieder aus ihren augen blitzen. stark und schön will ich meine Jugend … ich will keine intellektuelle erziehung. Mit Wissen verderbe ich die Jugend … aber die Beherrschung müssen sie lernen. sie sollen mir in den schwierigsten Proben die todesfurcht besiegen lernen.“ (1934)40

Hitler „huldigt“, wie er sagt, lediglich dem „aristokratischen Grundgedanken der natur“, der „das allgemeinste unerbittliche Gesetz des lebens“ ist, nämlich „kampf um das dasein“, „kampf der rassen und völker um ihren lebensraum“. in einem solchen staat herrschen Gewalt und Unterdrückung als ehernes naturgesetz. dies illustriert Himmlers ansprache vor dem offizierscorps der leibstandarte ss „adolf Hitler“: „ob die anderen völker im Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur insoweit, als wir sie als sklaven für unsere kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. ob bei dem Bau eines Panzergrabens zehntausend russische Weiber an entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für deutschland fertig wird … das ist das, was ich der ss einimpfen möchte.“41

an anderer stelle sagt Himmel zum „ausrottungsprogramm“ des jüdischen volkes unmissverständlich: „von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn hundert leichen beisammen liegen, wenn fünfhundert daliegen oder wenn tausend daliegen. dies durchgehalten zu haben und dabei … anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes ruhmesblatt deutscher Geschichte.“42

diese natur-rhetorik, Gewaltverherrlichung und Bestialität ist in Wirklichkeit dualistisch-apokalyptisch auf das ende der Welt hin orientiert, auf die Wahnidee des „rassentodes“ fixiert: ewiges leben oder ewiger tod, erlösung oder strafe. 20. dIe grundnorM

der

gescHIcHte

im rechtstheoretischen Modell des nationalsozialismus wird der Begriff „artgleichheit“ zu einer „Grundnorm“ erhoben. dieser ansatz mit dem freund-feind-konzept verknüpft, dessen formulierung carl schmitt in seiner arbeit „der Begriff des Politischen“ 1932 unternommen hat: „die spezifisch-politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von freund und feind. sie gibt eine Begriffsbestimmung im sinne eines kriteriums, nicht als erschöpfende definition oder inhaltsangabe … der politische feind … ist eben der andere, der fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven sinne existentiell etwas anderes und fremdes ist, sodaß im extremen fall konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle normierung, noch durch den spruch eines ‚unbeteiligten‘ und daher ‚unparteiischen‘ dritten entschieden werden kann. die Möglichkeit richtigen erkennens und verstehens und damit

40 Hermann rauschning, Gespräche mit Hitler (1940), 2. a., Wien et al.: europa verlag, 1988, 237. 41 Heinrich Himmler, rede vom 4. oktober 1943, in: dokument Ps-1919, internationales Militärtribunal in nürnberg, Bd. 29, 145 f. 42 a. a. o.

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Michael fischer auch die Befugnis mitzusprechen und zu urteilen, ist hier nämlich durch das existentielle teilhaben und teilnehmen gegeben.“ 43

kriterium bedeutet hier Begriffsbestimmung im sinne von entscheidungsalternative und entscheidungszwang. die lebensphilosophische kategorie „existentielle teilhabe“ gilt als evident, da artzugehörigkeit naturgesetz ist. die einleitung des Bewusstseins in „richtiges“ und „falsches“ potenziert und verstärkt das Modell. 21. auscHwItz

als negatIVer

gründungsMytHos

der

Moderne

George steiner hat in seinem Buch „sprache und schweigen“ die frage aufgeworfen: „verflechten sich die Wurzeln des Unmenschlichen mit denen der Hochzivilisation? auschwitz kam nicht aus dem dschungel, nicht aus der steppe. die Barbarei überfiel den modernen Menschen im Zentrum der kultur, der künste, der universellen Bildung und des naturwissenschaftlichen Wunders. nur wenige kilometer entfernt von einigen der schönsten Museen, Bibliotheken, konzertsälen verpestete dachau die luft. Männer, die bei tage folterten, kinder erhängten, lasen abends rilke, hörten schubert. das ist ein ontologisches rätsel, das Mysterium des zivilisierten ennui oder des Bösen und es stellt für mich die Zukunft des Menschen überhaupt in frage. Wenn die humanistischen Wissenschaften nicht zur Humanisierung beitragen, wenn derselbe Mensch Bach spielen und das Willnauer Ghetto in Brand stecken kann, wo bleibt da die Zivilisation? Warum erziehen, warum lesen? ist es möglich, daß im klassischen Humanismus selbst, in seiner neigung zur abstraktion und zum ästhetischen Werturteil, ein radikales versagen angelegt ist? kann es sein, daß Massenmord und jene Gleichgültigkeit gegenüber den Greueln, die dem nazismus vorschub geleistet hat, nicht feinde oder negationen der Zivilisation sind, sondern ihr gräßlicher, aber natürlicher komplize?“44

auschwitz wurde zum „negativen Gründungsmythos“ (rüdiger safranski) unserer politischen kultur, da deren fortschritt künftig nicht mehr an der idee eines vollkommenen, „humanisierten“ seins messbar ist, sondern nur mehr am möglichen nichts des moralischen totalinfernos. 22. der MenscH

als

artefakt

Heute vollendet sich, was Guy debord und die situationisten als eine „Gesellschaft des spektakels“ voraussahen.45 Zu ihr gehört wesentlich die definition der Zuschauer, für die das gesamte öffentliche und politische leben zum schauspiel wird. die Gesellschaft lebt bereits im Zustand der Besetzung durch Gewalt und sensation. sie befindet sich längst in einem merkwürdigen krieg zwischen Quoten, autodestruktion und rekonstruktion als artefakt.

43 carl schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), a. a. o., 26 f.; ähnlich auch ernst forsthoff, Der totale Staat, 2. a., Hamburg: Hanseatische verlagsanstalt, 1933, 33. 44 George steiner, Sprache und Schweigen, frankfurt a. M.: suhrkamp, 1969, 164. 45 Guy debord, Die Situationistische Internationale (1957–1972), katalog: Museum tinguely, 4. april–5. august 2007, Basel.

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in den gegenwärtigen debatten dominiert das thema Biopolitik.46 sie wird zum eigentlichen feld, auf dem sich die rechtspolitischen und rechtsphilosophischen reibungsflächen ergeben. die traditionellen domänen der natur (empfängnis, Geburt, Gesundheit und tod) sind vom Gestaltungswillen der Biowissenschaften erobert. reproduktionsmediziner, Psychopharmakologen, organzüchter, plastische chirurgen haben sich zum Ziel gesetzt, körper und Geist zu formen. der Mensch als naturgegebene Modelliermasse verheißt den schöneren, leistungsfähigeren und glücklicheren Menschen. in nietzsches „Zarathustra“ sind bereits die richtungskämpfe der „Menschenzüchter“ ungeschminkt beschrieben, vor allem die zwischen „Menschenfreunden“ und „übermenschenfreunden“.47 von der Zeugung und der lebenslangen medizinischen versorgung über die regulierung des verhältnisses zwischen arbeitszeit und freizeit bis hin zum medizinisch überwachten, wenn nicht sogar medizinisch herbeigeführten tod wird die lebenszeit des heutigen Menschen permanent künstlich gestaltet und optimiert. vor allem in diesem sinne sprechen auch viele autoren von Michael foucault und Giorgio agamben bis hin zu antonio negri und Michael Hardt über die Biopolitik als das eigentliche feld, auf dem sich der politische Wille und die technologische Gestaltungskraft heute manifestieren. Wenn das leben nämlich nicht mehr als natürliches ereignis, als schicksal, als fortuna, sondern als künstlich produzierbare und gestaltbare Zeit verstanden wird, dann wird das leben automatisch politisiert. denn die entscheidungen hinsichtlich der Gestaltung der lebensdauer sind immer zugleich politische entscheidungen. auf der einen seite ersetzt die Moderne ständig das lebendige durch das künstliche, das technisch Hergestellte, das simulierte oder, was das Gleiche ist, das Unwiederholbare durch das reproduzierbare. diese entortung des lebens wird als die eigentliche Bedrohung durch die technik empfunden. als reaktion auf diese Bedrohung werden immer wieder konservative, defensive strategien angeboten, die diese entortung durch verordnungen und verbote aufhalten wollen, wobei die vergeblichkeit solcher Bemühungen sogar ihren Protagonisten völlig bewusst ist. 23. bIotecHnIscHe aufklärung nicht mehr kultur, nicht mehr Wohlstand, nicht mehr rechtskonzepte, sondern kleine korrekturen am datensatz des lebens, kleine Manipulationen an der doppelhelix des Menschen sollen die lösung bringen. die biotechnische aufklärung steht auf dem Programm. das konzept genetisch verbesserter „Menschentypen“ hat francis fukujama48 bereits vor Peter sloterdijk49 philosophisch erörtert. Beiden gemeinsam ist die überzeugung, dass der Humanismus mit seinen rechtskonzepten als „schule der Menschenzähmung“ gescheitert ist und daher die lektionen der 46 Michael fischer/kurt s. Zänker (Hg.), Medizin- und Bioethik, frankfurt a. M.: Peter lang verlag, 2006, 23–138. 47 friedrich nietzsche, also sprach Zarathustra. ein Buch für alle und keinen, schlechta-ausgabe, Bd. 2, München: Ullstein, 1969, 554 ff. 48 francis fukuyama, Our posthuman future. Das Ende des Menschen, 2. a., stuttgart etc.: deutsche verlags-anstalt, 2002. 49 Peter sloterdijk, Die Rede auf Schloss Elmau, in: die Zeit, 38, 16. september 1999.

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Michael fischer

aufklärung durch die selektionen der Gentechnik ersetzt werden müssen. erst diese radikal-evolutionär verbesserte aufklärung kann eine neue Qualität des Zivilisationsprozesses hervorbringen. technizität und instrumentelle vernunft bewirken eine genetische reform der Gattungseigenschaften des Menschen. Gelingt es, den funktionalen, friedfertigen, leicht steuerbaren Menschentypen herzustellen, wird das recht überflüssig. diesem Prometheusprojekt liegt die problematische vorstellung zugrunde, die vertreter der naturwissenschaften seien mit einer abstrakten natur verbunden, die als hartes und robustes Wissen (Hard sciences) hervortritt, sobald sie die kulturellen Hüllen (Humanities) fallen lässt. doch der bewegt sich stets in einer doppelverankerung evolutionärer (biochemischer) und kultureller Gedächtnisspuren. kultur ist die natur des sozialen Menschen. so gesehen „rechtfertigt“ sich nach wie vor das recht als per se nicht selbstverständlicher Zwangsapparat und steuerungsapparat. eine realistische erfahrungsorganisation ist jenseits des enormen Potentials der Genforschung und Biotechnologie heute nicht mehr möglich. die Büchse der Pandora ist geöffnet. im Wegschauen und in der abstrakten negation dieses entwicklungsprozesses liegt mehr Menschenverachtung als in einem aktiven aufgreifen des spiels. sloterdijk zeichnet ein äußerst realistisches szenario, wenn er meint: auf der einen seite führen die „beispielslosen enthemmungsfälle“ der Gentechnik „unvermeidlich“ zu richtungskämpfen, andererseits ist es wahrscheinlich, dass die alltägliche Bestialisierung der Menschen in den Medien durch „enthemmende Unterhaltung“ das barbarische Potenzial unserer Zivilisation verstärkt. 24. nacHbeMerkung im 18., 19. und 20. Jahrhundert war aufgeklärtes denken als realisierung der natur des sozialen Menschen eine kulturelle kampfansage an aberglauben, überkommene Wissenschafts- und Moralvorstellungen sowie autoritäre strukturen. doch heute trifft aufklärerische Wissenschaft auf unerschütterliche orthodoxie, fundamentalistischen Glauben, religiösen neoprimitivismus als Gegenkultur. in der Wahrnehmung der Medienöffentlichkeit verengte sich der Gegensatz von entwickelter und dritter Welt immer mehr zum Gegensatz zwischen rationalität und fundamentalismus. stimmt das? ich glaube, nicht ganz. denn die Gewalt der ohnmächtigen gilt zumeist als Unrecht, die Gewalt der Mächtigen setzt sich ins recht: erfolgreich angewandte Gewalt wird kaum sozial diskreditiert, sondern häufig mit dem Bonus der Gerechtigkeit versehen, legitimiert und systematisiert. lyotards „ästhetik des erhabenen“ und karl-Heinz Bohrers „ästhetik des schreckens“, Peter sloterdijks Mystik der „animalistischen Gewalt“, andré Glucksmanns „diskurs des Hasses“ erzwingen förmlich die frage, ob wir nicht zum vorrechtlichen anfang schrittweise zurückkehren. es könnte mit Gewalt enden, was mit Gewalt begonnen hat. damit wird die Gewaltforschung zu einem wesentlichen Bestandteil des aufklärungsprozesses im 21. Jahrhundert.

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3. recHtswIssenscHaft IM 20. JaHrHundert

als

kulturwIssenscHaft

stanley l. PaUlson, st. loUis eIn „starker IntellektualIsMus“: badener neukantIanIsMus und recHtsPHIlosoPHIe 1. eInleItung es ist keineswegs selbstverständlich, daß die vielen fin de siècle-neukantianer, ein halbes Jahrhundert lang die vertreter der Universitätsphilosophie1 – von alois riehl, Befürworter des philosophischen realismus, über das Haupt der wissenschaftstheoretisch orientierten Marburger schule, Hermann cohen, bis hin zu den profiliertesten der vertreter der werttheoretisch orientierten Badener schule, Wilhelm Windelband und Heinrich rickert –, vieles gemeinsam hatten. doch haben alle, wie die gemeinsame Bezeichnung als neukantianer vermuten läßt, rückgriff auf immanuel kant genommen. dies gilt entsprechend zumindest mittelbar auch für die neukantianisch geprägte deutschsprachige rechtsphilosophie in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts. ihre Hauptvertreter – zu denen rudolf stammler, Hans kelsen und Gustav radbruch zählen – beriefen sich auf die fin de siècle-neukantianer und, diesen folgend, auf kant. kurzum: das feld, welches von der überschrift umfaßt wird, ist gewaltig, und es liegt auf der Hand, daß sich ein kurzer artikel auf eine punktuelle these beschränken muß. Zu dieser führt eine äußerung des Badener neukantianers emil lask, der, völlig zu recht, ausführt: Bei den neukantianern mache sich „ein starker intellektualismus in der philosophischen fragestellung bemerkbar, die neigung, alle Wertprobleme für rein erkenntniskritische oder methodologische zu halten“.2 Meine these lautet: lasks einschätzung paßt auf radbruch, aber noch besser auf kelsen. diese these soll in den folgenden abschnitten beleuchtet werden. in abschnitt 2 wird auf radbruchs dem Badener neukantianismus entnommene lehre von absoluten Werten, in den abschnitten 3, 4 und 5 auf einige aspekte der rechtslehre kelsens, vor allem seinen transzendentalen ansatz und seine „modale“ normativitätsthese, einzugehen sein. 2. gustaV radbrucHs leHre

Von absoluten

werten

im Zentrum der rechtslehre radbruchs steht eine Wertlehre, in der sich unverkennbar der einfluß der Badener neukantianer auf radbruch widerspiegelt.3 Besonders 1 2

3

aufschlußreich zu den anfängen dieser entwicklung: klaus christian köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, frankfurt a. M.: suhrkamp, 1986. emil lask, rechtsphilosophie, in: Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer, hg. v. Wilhelm Windelband, 2. a., Heidelberg: carl Winter, 1907, 269–320, 279, wieder abgedruckt in: emil lask, Gesammelte Schriften, hg. v. eugen Herrigel, 3 Bde., tübingen: J.c.B. Mohr, 1923 (im folgenden: Ges. schr.), Bd. 1, 275–331, 288. vgl. Marc andré Wiegand, Unrichtiges Recht, tübingen: Mohr siebeck, 2004, der der neukantianischen dimension der rechtslehre radbruchs mehr aufmerksamkeit zukommen läßt als alle

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deutlich zeigt sich dieser einfluß an dem von radbruch im Jahre 1924 eingeführten rechtsbegriff,4 der in dem 1932 erschienenen Hauptwerk „rechtsphilosophie“ häufiger zum ausdruck kommt: „Recht ist die Wirklichkeit, die den Sinn hat, dem Rechtswerte, der Rechtsidee zu dienen.“ 5 dieser rechtswert, diese rechtsidee ist die formale Gerechtigkeit. der rechtsbegriff radbruchs ist in zweierlei Hinsicht neukantianisch geprägt. Zum einen besteht der schlüssel zu diesem rechtsbegriff in der einführung der formalen Gerechtigkeit, die radbruch an dieser stelle als rechtsidee bezeichnet und die er als absoluten Wert – neben dem Wahren, dem schönen und dem Guten – verstanden wissen möchte. die formale Gerechtigkeit stellt radbruchs erweiterung der objektiven Wertlehre der Badener neukantianer dar. Zum anderen läßt sich die Begriffsbildung radbruchs nur vor dem Hintergrund einer neukantianisch zu verstehenden art des kantschen regulativen Prinzips angemessen erfassen. sein rechtsbegriff weist nicht nur eine normative funktion auf, sondern auch eine regulative. die regulative funktion dieses Begriffes kann mithilfe der „sprache des strebens“ ausgedrückt werden – ein Gedanke, den radbruch von stammler übernommen hat6 und der letztlich auf fichte zurückgeht.7 diese beiden Bestandteile des radbruchschen rechtsbegriffs gilt es im folgenden kurz zu erläutern. darauf folgt eine darlegung der inhaltlich bestimmten Gerechtigkeitsforderungen. anhand dieser ausführungen stellt sich der methodologische charakter der formalen Gerechtigkeit in ihrer rolle als rechtsidee heraus.

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interpreten vor ihm. Zum Wertobjektivismus in der rechtslehre radbruchs vgl. Horst dreier, die radbruchsche formel – erkenntnis oder Bekenntnis?, in: Staatsrecht in Theorie und Praxis. Festschrift Robert Walter zum 60. Geburtstag, hg. v. Heinz Mayer, Wien: Manz, 1991, 117–135, bes. 128–130. vgl. Gustav radbruch, „die Problematik der rechtsidee“, Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaft 3 (1924), 43–54, bes. 45, wieder abgedruckt in: Gustav radbruch, Gesamtausgabe, 20 Bde., Heidelberg: c. f. Müller, 1987–2003, Bd. 2: Rechtsphilosophie II, hg. v. arthur kaufmann, 1990 (im folgenden: rGa 2), 460–467, 604 (editorische anmerkungen [im folgenden: ed. anm.]), bes. 462. Gustav radbruch, Rechtsphilosophie, leipzig: Quelle & Meyer, 1932, § 4 (29) (Hervorhebung im original), wieder abgedruckt in: rGa 2 (fn. 4), 205–450, 561–603 (ed. anm.), § 4 (255). in den §§ 1, 3, 4, 6, 9 und 15 des radbruchschen Hauptwerkes kommen mehrfach varianten dieser formulierung des rechtsbegriffs vor. vgl. radbruch (fn. 5), rechtsphilosophie, § 1 (2), in: rGa 2 (fn. 4), § 1 (225); rudolf stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 2. a., Berlin/leipzig: Walter de Gruyter, 1923, § 29 (61 anm. 1). allgemein dazu: Johann Gottlieb fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (zuerst veröffentlicht 1794), in: Fichte’s sämmtliche Werke, hg. v. i. H. fichte, 8 Bde., Berlin: veit, 1845–46, Bd. 1, 83–328, bes. 261–270. vgl. auch Johann Gottlieb fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre (zuerst veröffentlicht 1794), in: fichte, Gesamtausgabe, stuttgart-Bad cannstatt: friedrich frommann, 1964 ff., Bd. i.2, 1965, 91–172, bes. § 8 (151); dort führt fichte aus, daß der „Praktische“ (zweite) teil der Wissenschaftslehre „bei weitem der Wichtigste“ sei und daß die „feste Grundlage“ dieses teils aus dem „nothwendigen streben“ bestehe. dieser § 8 bzw. der dritte abschnitt von Über den Begriff der Wissenschaftslehre fehlt in der 2. a. des Werkes (1798), die im ersten Band der Fichte’s sämmtlichen Werke (oben) abgedruckt ist.

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2.1 forMale GerecHtiGkeit

als aBsolUter

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Wert

die ursprünglich konzipierten, absoluten Werte des Wahren, des schönen und des Guten lassen sich auf Wilhelm Windelband8 und letztlich – in dieser traditionslinie – auf kant zurückführen. der Unterscheidung kants zwischen dem „erkenntnißvermögen“, dem „Gefühl der lust und Unlust“ sowie dem „Begehrungsvermögen“ in der „ersten einleitung in die kritik der Urteilskraft“9 folgend hat Windelband die entsprechenden Werte – das Wahre, das schöne und das Gute – in seine lehre aufgenommen.10 Bereits in den 1914 erschienenen „Grundzügen“ deutete radbruch einen Bezug auf diese lehre kants an, ohne sie damals geordnet in seine eigene lehre einzufügen.11 Zehn Jahre später war die Zeit hierfür gekommen. im Geiste der objektiven Wertlehre der Badener neukantianer nimmt radbruch das Gerechte bzw. die formale Gerechtigkeit als vierten absoluten Wert in seine eigene rechtslehre auf.12 die formale Gerechtigkeit sei „die artbestimmende idee des rechts“.13 formale Gerechtigkeit, Gerechtigkeit als ideal, bedeute Gleichheit.14 doch der Begriff der Gleichheit setze voraus, daß ein „aus ihr selbst nicht zu entnehmende[r] Gesichtspunkt“ den Maßstab liefere, nachdem das, was als Gleichheit oder Ungleichheit gilt, festzustellen sei. Gleichheit sei nur zu verstehen „unter einem bestimmten Gesichts-

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vgl. Wilhelm Windelband, immanuel kant (1881 gehaltener vortrag), in: Wilhelm Windelband, Präludien, 2 Bde., 5. a., tübingen: J.c.B. Mohr, 1915, Bd. 1, 112–146, bes. 139 f. immanuel kant, Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft (vermutlich im oktober 1789 fertiggestellt), in: Kant’s gesammelte Schriften (bezeichnet als Akademie Ausgabe), Berlin: Georg reimer bzw. Walter de Gruyter, 1900 ff. (im folgenden: ak. ausg.), Bd. 20, 1942, 193–251, bes. 205 f., 245 f. die Erste Einleitung ist wieder abgedruckt aus der wesentlich akkurateren ausgabe, die norbert Hinske, Wolfgang Müller-lauter und Michael theunissen 1965 herausgegeben haben, stuttgart-Bad cannstaat: fromann-Holzboog, in: immanuel kant, Kritik der Urteilskraft, hg. v. Heinrich f. klemme, Hamburg: felix Meiner, 2006, 485–555, bes. 497, 546 f. Zur entstehungsgeschichte der Ersten Einleitung vgl. klemme, einleitung, ebd. 473–481. die im text wiedergegebene Unterscheidung aus der Ersten Einleitung hatte kant schon zwei Jahre vor der fertigstellung dieses Werkes skizziert, vgl. kant, Brief vom 28. dez. 1787 an karl leonhard reinhold, in: ak. ausg. Bd. 10, 1922, 513–516, bes. 514. vgl. Wilhelm Windelband, kritische oder genetische Methode? (aufsatz aus dem Jahr 1883), in: Windelband (fn. 8), Präludien, Bd. 2, 99–135, bes. 122, vgl. auch Windelband, das Heilige (aufsatz aus dem Jahr 1902), in: ebd. 299–332, bes. 305. Bezüglich der Windelbandschen vertretung absoluter Werte ist, historisch gesehen, auch lotze – dank seines einflusses auf Windelband – eine wichtige figur. vgl. rudolf Hermann lotze, Logik. Drittes Buch. Vom Erkennen (Methodologie) (erstmals erschienen 1874), hg. v. Gottfried Gabriel, Hamburg: felix Meiner, 1989, bes. §§ 316–318 (510–516). vgl. radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, leipzig: Quelle & Meyer, 1914, 84, in: rGa 2 (fn. 4), 9–204, 509–561 (ed. anm.), (93). radbruch (fn. 4), „rechtsidee“, 43 f., in: rGa 2 (fn. 4), 461; radbruch (fn. 5), rechtsphilosophie, § 4 (30), in: rGa 2 (fn. 4), § 4 (256). vgl. auch Gustav radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, Heidelberg: scherer, 1948, § 7 (24), wieder abgedruckt in: radbruch, Gesamtausgabe (fn. 4), Bd. 3: Rechtsphilosophie III, hg. v. Winfried Hassemer, 1990 (im folgenden: rGa 3), 121–227, 294–310 (ed. anm.), § 7 (143): auch die Gerechtigkeit sei „ein absoluter, durch nichts weiter begründbarer Wert […], gleich dem Guten, dem Wahren und dem schönen“. radbruch (fn. 4), „rechtsidee“, 45, wieder abgedruckt in: rGa 2 (fn. 4), 462. vgl. radbruch (fn. 5), rechtsphilosophie, § 4 (30 f.), in: rGa 2 (fn. 4), § 4 (256–258).

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punkte.“15 die möglichen Gesichtspunkte, die als Maßstäbe fungieren können, finden sich in der Parteienlehre, die radbruch im siebten und achten Paragraphen der „rechtsphilosophie“ aus dem Jahre 1932 darlegt.16 doch schärfstens davon zu unterscheiden ist die – in den Worten Julius Binders, die radbruch übernimmt – „apriorische norm des rechts – oder rechtsidee“,17 die radbruch schon im vierten Paragraphen desselben Werkes als absoluten Wert der formalen Gerechtigkeit einführt.18 Wie der status der formalen Gerechtigkeit als apriorische rechtsidee deutlich macht,19 setzt diese art der Gerechtigkeit bzw. Gleichheit keinen „aus ihr selbst nicht zu entnehmenden Gesichtspunkt“20 voraus. in der tat führt radbruch bereits zu anfang der „rechtsphilosophie“ die absoluten Werte in seine rechtslehre ein. der „scheidung von Wert- und Wirklichkeitsbetrachtung“ emil lasks21 folgend skizziert radbruch die Unterscheidung von Wert- und Wirklichkeitsbetrachtung anhand dreier Betrachtungsweisen: Erstens der „Wirklichkeit ohne Werte“ – sprich: wertblinden Haltung –, zweitens der „absolute[n] Werte ohne die Wirklichkeit“ – sprich: bewertenden Haltung – und drittens der aus dem Badener neukantianismus bekannten „Wertbeziehung“ – sprich: wertbeziehenden Haltung.22 entsprechend entwickelt radbruch die Unterscheidung von Wert und Wirklichkeit anhand dreier Gegenstände, bei denen das reich der natur „das Sein zu seinem Gegenstande, das reich der Werte das Sollen, das reich der kultur den Sinn“ habe.23 15 vgl. radbruch (fn. 5), rechtsphilosophie, § 4 (32), in: rGa 2 (fn. 4), § 4 (259). 16 vgl. radbruch (fn. 11), 84, in: rGa 2 (fn. 4), 93. 17 vgl. radbruch (fn. 5), rechtsphilosophie, § 4 (29 anm. 1), in: rGa 2 (fn. 4), § 4 (255 anm. 1). sein Zitat stammt aus: Julius Binder, Rechtsbegriff und Rechtsidee, leipzig: a. deichert, 1915, 60. 18 vgl. radbruch (fn. 5), rechtsphilosophie, § 4 (30), in: rGa 2 (fn. 4), § 4 (256). 19 fraglich bleibt, wie radbruch den apriorischen status der formalen Gerechtigkeit als rechtsidee eigentlich begründet. es gibt bei ihm dazu keine ausdrückliche stellungnahme. ein anhaltspunkt zur einschätzung dieser frage findet sich jedoch bei Windelband, von dem radbruch die objektive Wertlehre übernommen hat. Windelband beruft sich in diesem Zusammenhang auf das „normalbewußtsein“. er führt zur frage nach dem status der absoluten Werte aus: „Wenn es unumgänglich erforderlich ist, von der relativität in den individuellen Wertungen und in den sitten der völker zum ergreifen absoluter Werte aufzusteigen, so scheint es nötig zu sein, über die historischen formen des menschlichen Gesamtbewußtseins hinaus ein Normalbewußtsein zu denken, für welches diese Werte eben die Werte sind.“ Wilhelm Windelband, Einleitung in die Philosophie, 2. a., tübingen: J.c.B. Mohr, 1920, § 13 (255) (Hervorhebung im original). vgl. auch Windelband (fn. 10), kritische oder genetische Methode? 122. 20 vgl. fn. 15. 21 lask (fn. 2), rechtsphilosophie, 8 f., in: Ges. schr. (fn. 2), Bd. 1, 287, führt aus: das „in der Gegenwart vor allem von Windelband geltend gemachte fundamentalprinzip aller philosophischen Besinnung, die scheidung von Wert- und Wirklichkeitsbetrachtung“, gewinne auch bei den vertretern der rechts- und sozialphilosophie immer mehr anerkennung. 22 radbruch (fn. 5), rechtsphilosophie, § 1 (1 f.), in: rGa 2 (fn. 4), § 1 (221 f.). tatsächlich geht es an dieser stelle um vier Betrachtungsweisen, doch für die Zwecke dieser Untersuchung kann und soll die „wertüberwindende“ Haltung außer Betracht bleiben. 23 Gustav radbruch, über religionsphilosophie des rechts, in: Gustav radbruch/Paul tillich, Religionsphilosophie der Kultur. Zwei Entwürfe (Philosophische vorträge der kant-Gesellschaft, nr. 24), 2. a., Berlin: reuther & reichard, 1921, 7–25 (11) (Hervorhebung im original), wieder abgedruckt in: radbruch, Gesamtausgabe (fn. 4), Bd. 4: Kulturphilosophische und kulturhistorische Schriften, hg. v. Günter spendel, 2002, 35–48, 343–347 (ed. anm.), (37); radbruch (fn. 5), rechtsphilosophie, § 1 (3), in: rGa 2 (fn. 4), § 1 (226).

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Was die individualisierende Begriffsbildung der Badener neukantianer angeht, sind sowohl die zweite Betrachtungsweise als auch die dritte von grundlegender Bedeutung.24 doch der schwerpunkt liegt im vorliegenden Zusammenhang ganz auf der zweiten Betrachtungsweise, da diese den schlüssel zum verständnis der neukantianischen art des kantschen regulativen Prinzips bildet. Werde sie „systematisch durchgeführt“, kennzeichne die zweite Betrachtungsweise mit ihrer bewertenden Haltung die ganze „Wertphilosophie in ihren drei Zweigen: logik, ethik und ästhetik“,25 die sich mit den jeweiligen absoluten Werten des Wahren, des Guten und des schönen befassen. radbruch führt einen vierten „Zweig“ der „Wertphilosophie“ ein, nämlich den der rechtsphilosophie – zusammen mit dem sich in der rechtsphilosophie widerspiegelnden absoluten bzw. apriorischen Wert der formalen Gerechtigkeit.26 Was die identität des Gegenstandes der bewertenden Haltung angeht, ist nach einer lesart das oben zitierte Sollen 27 der Gegenstand, bei einer zweiten lesart geht es um den fraglichen absoluten Wert als Gegenstand.28 doch beide – sollen und Wert – erweisen sich als unentbehrliche Bestandteile der zweiten Betrachtungsweise, wie noch zu zeigen sein wird. 2.2 das streBen

nacH der

GerecHtiGkeit

als reGUlatives

PrinZiP

im Gegensatz zur formalen Gerechtigkeit als absolutem Wert sei das recht selbst „kulturerscheinung, d. h. wertbezogene tatsache“. Gerade dies charakterisiert den rechtsbegriff, doch mit dem vorbehalt, daß diese wertbezogene tatsache den sinn habe, „die rechtsidee zu verwirklichen“.29 Was heißt es eigentlich, die rechtsidee, also die formale Gerechtigkeit, Gerechtigkeit als ideal, zu verwirklichen? könnte es dabei um die verwirklichung des ideals als solches gehen? radbruch denkt an etwas anderes. der schlüssel zu dem, was er vorhat, liegt im „streben nach dem richtigen“.30 radbruch übernimmt diese stammlersche redeweise, wenn er etwa bezüglich des Begriffs der Wahrheit ausführt, daß alle die Wahrheit erstrebten. „der Begriff der Wissenschaft ist nicht identisch mit dem Werte der Wahrheit; die Wissenschaft einer Zeit umfaßt nicht nur ihre wissenschaftlichen errungenschaften, sondern auch ihre wissenschaftlichen verirrungen. aber wenn wir ihre arbeiten, erfolglose wie glückliche, in dem Begriff der Wissenschaft zusammenfassen, so geschieht es, weil sie alle zum mindesten erstrebten und beanspruchten, Wahrheit zu sein: Wissenschaft ist diejenige Gegebenheit, die, ob sie nun die Wahrheit erreicht oder verfehlt, doch die Bedeutung, den sinn hat, der Wahrheit zu dienen.“31

also die Hauptsache besteht darin, nach der Wahrheit zu streben. ob die Wahrheit erreicht wird, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Gleiches gilt im falle des 24 allgemein dazu: alice Miller-rostowska, Das Individuelle als Gegenstand der Erkenntnis, Winterthur: P.G. keller, 1955, 17–35; Herbert schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1931–1933, frankfurt a. M.: suhrkamp, 1983, 77–79, 160–163, 202 f., 219–225 et passim. 25 radbruch (fn. 5), rechtsphilosophie, § 1 (2), in: rGa 2 (fn. 4), § 1 (222). 26 vgl. fn. 12. 27 vgl. den text bei fn. 23. 28 vgl. radbruch (fn. 5), rechtsphilosophie, § 1 (3), in: rGa 2 (fn. 4), § 1 (226). 29 radbruch (fn. 5), rechtsphilosophie, § 1 (4), in: rGa 2 (fn. 4), § 1 (227). 30 vgl. fn. 6. 31 radbruch (fn. 5), rechtsphilosophie, § 1 (2), in: rGa 2 (fn. 4), § 1 (222).

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rechtsbegriffs: es werde nach der Gerechtigkeit gestrebt, woraus natürlich nicht notwendig folgt, daß diese auch verwirklicht wird. der absolute bzw. apriorische Wert selbst, nach dem gestrebt wird, mag sich – folgt man emil lask – zu sämtlichen empirischen kulturwissenschaften als „regulatives Prinzip“ verhalten.32 dieser Gedanke geht bekanntlich auf kants „als-ob“-Prinzipien in der transzendentalen dialektik der ersten kritik zurück. die regulativen Prinzipien kants dienen „dem verstande zum kanon seines ausgebreiteten und einhelligen Gebrauchs“,33 ohne daß die ideale, auf welche die regulativen Prinzipien hinweisen – systematizität in den Wissenschaften, die einheit der seele als Gegenstand der Psychologie usw.34 – zu realisieren sind. Bei der verwendung einer variante des regulativen Prinzips seitens der Badener neukantianer geht es jedoch um etwas anderes: das streben nach dem absoluten Wert gewährleistet, daß dessen Mißbrauch vermieden wird. Gerade diese funktion ist aus der radbruchschen formel bekannt, und radbruch behauptet das gleiche in Bezug auf die Wissenschaft und ihren absoluten bzw. apriorischen Wert, den der Wahrheit, wie im obigen Zitat aus der „rechtsphilosophie“ deutlich zum ausdruck kommt. der Begriff des strebens läßt sich am besten im Zusammenhang mit dem Sollen verstehen, das radbruch neben den absoluten Werten selbst als kandidaten für den Gegenstand der bewertenden Haltung eingeführt hat.35 Was die jeweiligen rollen des sollens und des fraglichen absoluten Wertes angeht, findet man eine art arbeitsteilung. das sollen erfaßt die normative kraft des neukantianischen regulativen Prinzips, etwa in der folgenden Weise: Nach dem absoluten Wert ist zu streben, beziehungsweise: Nach dem absoluten Wert soll gestrebt werden. das sollen – also das Gebot: strebe nach dem absoluten Wert! – ist dann der unmittelbare Gegenstand der bewertenden Haltung. der absolute Wert selbst stellt deren mittelbaren Gegenstand dar, das heißt: der absolute Wert bestimmt das, wonach zu streben ist. 2.3 reine GerecHtiGkeitsforderUnGen radbruch will seinen rechtsbegriff, wonach „Recht die Wirklichkeit sei, die den Sinn hat, der Gerechtigkeit zu dienen“,36 als darlegung der natur des rechts verstanden wissen. dazu gehört, daß sich der im rechtsbegriff enthaltenen formalen Gerechtigkeit auch inhaltlich bestimmte rechtssätze entnehmen lassen. Wenn radbruch in seiner „rechtsphilosophie“ aus dem Jahre 1932 schreibt, daß das verbot der ausnahmegerichte etwa „auf forderungen nicht der Zweckmäßigkeit, sondern allein der Gerechtigkeit“ beruhe,37 meint er Gerechtigkeit in ihrem rein formalen sinne, also Gerechtig-

32 lask (fn. 2), rechtsphilosophie, 299 (Hervorhebung von mir), in: Ges. schr. (fn. 2), 308. 33 immanuel kant, Kritik der reinen Vernunft (die 1. a. [a] erschien 1781, die 2. a. [B] 1787), a 329/ B 385 (standardpaginierung). 34 vgl. ebd. B 673 bzw. B 700 und B 710 ff. 35 vgl. den text bei fn. 27–28. 36 vgl. radbruch (fn. 5), rechtsphilosophie, § 4 (32) (Hervorhebung im original), in: rGa 2 (fn. 4), § 4 (260). die formulierung ist in unbedeutender Hinsicht anders als die oben zitierte, vgl. Zitat im text bei fn. 5. 37 radbruch (fn. 5), rechtsphilosophie, § 9 (74) (Hervorhebung von mir), in: rGa 2 (fn. 4), 306 (das komma hinter „Zweckmäßigkeit“ fehlt in dem abdruck).

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keit als absoluten Wert.38 das Gleiche gilt im falle des anspruches der „Generalisierbarkeit“, des Prinzips der allgemeinheit,39 dessen forderungen sich „deduktiv aus der Rechtsidee“ ableiten lassen sollen.40 die rechtsidee – um daran zu erinnern – besteht aus der formalen Gerechtigkeit. doch warum sollte an dieser stelle formale statt materialer Gerechtigkeit stehen? die antwort darauf unterstreicht den grundlegenden Unterschied zwischen beiden arten der Gerechtigkeit. nur anhand der formalen Gerechtigkeit als absoluten bzw. – in den Worten Binders – apriorischen Begriffes41 ist es möglich, forderungen „deduktiv“ ableiten zu lassen. in schärfstem Gegensatz dazu ist die materiale Gerechtigkeit bzw. die Zweckmäßigkeit die Widerspiegelung einer Wahl, die anhand der von der Parteienlehre angebotenen Möglichkeiten zu verstehen ist.42 da diese Wahl faktisch zu verstehen ist, sie also eine tatsache darstellt, kann man den auf diese Wahl zurückzuführenden Werten, auch dem der materialen Gerechtigkeit, kaum einen apriorischen status zuschreiben. sie sind bloß empirisch, lassen sich nur unter Berufung auf die Wahl begründen. in der im Jahre 1948 erschienenen „vorschule der rechtsphilosophie“ bekräftigt radbruch diese these und nennt zusätzliche Beispiele: „Gerade rechtssätze über die rechtsanwendung können auch inhaltlich allein von der Gerechtigkeit bestimmt sein, etwa die Unabhängigkeit der richter oder die Unzulässigkeit endgültiger Bestrafung ohne vorherige verteidigungsmöglichkeit sind reine Gerechtigkeitsforderungen, die infolgedessen wie die Gerechtigkeit selbst absoluten Charakter haben.“43

die hervorgehobene Passage im Zitat lenkt die aufmerksamkeit darauf, daß es sich auch bei diesen „rechtssätze[n] über die rechtsanwendung“ um die formale Gerechtigkeit als absoluten Wert handelt. kurzum: obwohl die Hauptfunktion des radbruchschen rechtsbegriffs eine regulative ist, nennt radbruch einige Beispiele, die die andere seite der Medaille veranschaulichen. dies sind forderungen der formalen Gerechtigkeit, die sich „apriorisch“ (Binder) oder „deduktiv“ (radbruch)44 feststellen lassen. in dieser Hinsicht kann die formale Gerechtigkeit vielleicht am besten als Willkürverbot verstanden werden. dabei geht es um drastische abweichungen von der Gleichheit, zum Beispiel den richter, der ein interesse an dem Urteilsspruch der Geschworenen hat, oder etwa ein Urteil, das von einem ausnahmegericht gefällt wird. Wenn die abweichung von der Gleichheit hinreichend drastisch ist, daß die Gleichheit offensichtlich verfehlt wird, geht es um eine „formale verletzung“ der Gleichheit. in solchen Grenz38 vgl. radbruch (fn. 12), vorschule, § 1 (10 f.), in: rGa 3 (fn. 12), § 1 (130). 39 vgl. radbruch (fn. 5), rechtsphilosophie, § 4 (33), § 9 (73), in: rGa 2 (fn. 4), § 4 (260), § 9 (305). vgl. auch radbruch (fn. 12), vorschule, § 7 (25), in: rGa 3 (fn. 12), § 7 (144). 40 radbruch (fn. 5), rechtsphilosophie, § 4 (33) (Hervorhebung von mir), in: rGa 2 (fn. 4), § 4 (261). 41 vgl. den text bei fn. 17. 42 Zur Parteienlehre radbruchs vgl. ralf dreier, „Gustav radbruchs rechtsphilosophische Parteienlehre“, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 85 (1999), 497–509; ralf Poscher, vom Wertrelativismus zu einer pluralistischen demokratietheorie – Gustav radbruchs rechtsphilosophisch begründete Parteienstaatslehre, in: Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, hg. v. christoph Gusy, Baden-Baden: nomos, 2000, 191–220; Wiegand (fn. 3), 148–223. 43 radbruch (fn. 12), vorschule, § 7 (25) (Hervorhebung von mir), in: rGa 3 (fn. 12), § 7 (144). 44 vgl. den text bei fn. 17 bzw. fn. 40.

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fällen läßt sich die Gleichheit als axiom verstehen. also findet der absolute Wert von sich aus anwendung. also könne etwas, das auf der verletzung der formalen Gerechtigkeit beruht, kein recht sein. dies wiederum bedeutet, daß diese bereits im Jahre 1924 eingeführte Grundformel – nämlich die formale Gerechtigkeit als absoluter Wert45 – die berühmt gewordene radbruchsche formel aus dem Jahre 194646 deutlich vorwegnimmt. dies ist gewiß ein thema für sich.47 für die Zwecke dieses aufsatzes liegt der schwerpunkt jedoch woanders, und zwar auf der regulativen funktion des absoluten Wertes der formalen Gerechtigkeit – einer funktion, die sich, wie schon angedeutet, unmittelbar mit der regulativen funktion des absoluten Wertes der Wahrheit vergleichen läßt. die formale Gerechtigkeit erweist sich als „methodologisch“48 vermöge ihrer regulativen funktion. dies gilt indes nicht ohne einschränkung: die regulative funktion der formalen Gerechtigkeit ist keine – nochmals lask folgend – „rein methodologische“, wobei unter „rein“ ein völliges fehlen einer Wert-komponente zu verstehen ist. denn die regulative funktion der formalen Gerechtigkeit zielt auf das vermeiden der Ungerechtigkeit. darüber hinaus funktioniert der absolute bzw. apriorische Wert der formalen Gerechtigkeit selbst als Wert im gewöhnlichen sinne in außergewöhnlichen fällen, nämlich denjenigen, in denen die abweichung von der Gerechtigkeitsforderung so drastisch ist, daß sie ohne weiteres „apriorisch“ oder „deduktiv“ aus dem Wert gleichsam abgelesen bzw. abgeleitet werden kann. Bei der kelsenschen rechtslehre, diesem koloß, muß der Weg zum Methodologischen im laskschen sinne vorbereitet werden. in abschnitt 3 wird auf kelsens kampf gegen den naturalismus, in abschnitt 4 auf seine normativitätsthese als transzendentalen ansatz und in abschnitt 5 auf seine „modale“ normativitätsthese einzugehen sein. diese unterstreicht den methodologischen sinn der kelsenschen rechtslehre. 3. Hans kelsens kaMPf

gegen den

naturalIsMus

die führende rolle Hans kelsens – der nicht von ungefähr als „Jurist des Jahrhunderts“ bezeichnet worden ist49 – war auf dem Gebiet der allgemeinen rechtslehre fast von anfang an anerkannt.50 doch bei aller wissenschaftlichen aufmerksamkeit, 45 vgl. radbruch (fn. 4), „rechtsidee“, 43 f., in: rGa 2 (fn. 4), 461. 46 vgl. Gustav radbruch, „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches recht“, Süddeutsche JuristenZeitung 1 (1946), 105–108, bes. 107, wieder abgedruckt in: rGa 3 (fn. 12), 83–93, 282–291 (ed. anm.), bes. 89. 47 erste anregungen dazu finden sich in meiner rezension v. Gustav radbruch, Rechtsphilosophische Tagesfragen (vorlesungsmanuskript. kiel, sommersemester 1919), hg. v. Hidehiko adachi/nils teifke, Baden-Baden: nomos, 2004, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 90 (2004), 578–583. 48 vgl. Zitat im text bei fn. 2. 49 vgl. Horst dreier, Hans kelsen (1881–1973): „Jurist des Jahrhunderts?“ in: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, hg. v. Helmut Heinrichs et al., München: c.H. Beck, 1993, 705–732. 50 auch ausländische kommentatoren äußerten sich hierzu. im Jahre 1934 schrieb z. B. der auf dem Gebiet der deutschsprachigen allgemeinen rechtslehre außergewöhnlich belesene rechtstheoretiker und damalige dekan der Harvard law school, roscoe Pound, Hans kelsen sei „unquestionably the leading jurist of the time“. roscoe Pound, „law and the science of law

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die der rechtslehre kelsens zuteil geworden ist, gibt es bis heute keine übereinstimmung über ihre Grundlage. verschiedene interpreten meinen, den schlüssel zum verständnis des kelsenschen Werkes gefunden zu haben. doch die verschiedenen, angeblich richtigen deutungen dieser interpreten lassen sich kaum miteinander vereinbaren.51 allerdings spricht diese lage nicht notwendigerweise gegen kelsen oder sein Werk. Bei einem großen Philosophen ist es nicht selten der fall, daß seine Philosophie von recht verschiedenen ausgangspunkten rekonstruiert werden kann. ein berühmtes Beispiel hierfür bildet die Philosophie thomas Hobbes’. deren deutungen bewegen sich zwischen einem hartgesottenen Positivismus52 und – diametral entgegengesetzt – der christlichen naturrechtslehre,53 wobei auch so gut wie alle Positionen zwischen diesen extremen vertreten werden.54 doch ein breites spektrum möglicher interpretationen darf nicht fälschlich als Beliebigkeit verstanden werden. in Bezug auf kelsen läßt sich mit sicherheit sagen, daß eine interpretation bereits im ansatz falsch wäre. dies ist die vorstellung, kelsen sei vertreter des naturalismus. nach dem naturalismus läßt sich alles – und zwar buchstäblich alles – auf die natur, auf die Welt in raum und Zeit, zurückführen. von anfang an durchzieht kelsens kampf gegen den naturalismus seine schriften. dies kann anhand seiner kritik an Georg Jellinek illustriert werden. Zunächst mag es

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in recent theories“, Yale Law Journal 43 (1933/34), 525–536 (532). dabei sind vor allem in deutschland kelsens lehren von anfang an sehr umstritten gewesen, nicht zuletzt wegen seines angeblichen „formalismus“. Zu den kritikern kelsens, die diese vermeintlich unverkennbare dimension der kelsenschen rechtslehre in den vordergrund stellten, zählt beispielsweise Hermann Heller, der kelsen wegen dessen „radikale[r] ausscheidung aller substantiellen elemente“ des rechts anhand einer „die rechtswissenschaft zur reinen normwissenschaft“ machenden „normlogik“ mit Hohn geradezu überschüttete. Hermann Heller, „die krisis der staatslehre“, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 55 (1926), 289–316 (301), nachgedruckt in: Heller, Gesammelte Schriften, 3 Bde., 2. a., hg. v. christoph Müller, tübingen: J.c.B. Mohr, 1992, Bd. 2, 3–30 (16). spuren der ambivalenz gegenüber Hans kelsen sind in deutschland immer noch vorhanden. in den Hauptartikeln des nachschlagewerkes: Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. a., hg. v. Gerd kleinheyer/Jan schröder, Heidelberg: c.f Müller, 1996, sucht man vergeblich nach einem artikel über kelsen. erst im anhang stolpert der leser über einen kelsen gewidmeten absatz. ein interpret schreibt: „Während der rechtspositivismus älterer Prägung die positiven wirksamen anordnungen der sozialen autorität als das geltende recht betrachtete, betrachtet die reine rechtslehre diese anordnungen so als ob sie geltendes recht wären“. robert Walter, „der gegenwärtige stand der reinen rechtslehre“, Rechtstheorie 1 (1970), 69–95 (73) (Hervorhebung im original). ein zweiter interpret schreibt: „die Begriffe der normativität des rechts und der Pflicht, ihm zu gehorchen, sind analytisch miteinander verbunden. daher betrachtet kelsen das recht als geltend, das heißt, als normativ, nur dann, wenn man ihm gehorchen soll“. Joseph raz, kelsen’s theory of the Basic norm, in: Normativity and Norms. Critical Perspectives on Kelsenian Themes, hg. v. stanley l. Paulson/Bonnie litschewski Paulson, oxford: clarendon Press, 1998, 47–67 (60). der abstand zwischen diesen beiden interpretationen könnte kaum größer sein. richard s. Peters, Hobbes, Harmondsworth: Penguin, 1967. f. c. Hood, The Divine Politics of Thomas Hobbes, oxford: clarendon Press, 1964. nüchtern und ausgewogen präsentiert sich dagegen die darstellung eines weiteren interpreten: Quentin skinner, Visions of Politics, Bd. 3: Hobbes and Civil Science, cambridge: cambridge U. P., 2002. Zu den verschiedenen interpretationen vgl. W. H. Greenleaf, Hobbes: the Problem of interpretation, in: Hobbes-Forschungen, hg. v. reinhart koselleck/roman schnur, Berlin: duncker & Humblot, 1969, 9–31.

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so aussehen, als wollte Jellinek im namen seiner „Zwei-seiten-theorie“ des staates dessen juristische seite als irreduzibel normativ aufgefaßt sehen.55 doch völlig zu recht behauptet kelsen, der auffassung Jellineks zufolge können rechtsnormen letztlich „nichts anderes sein als Seins-regeln, die sich – psychologisch – im subjektiven Bewußtsein des rechtsregelhaft Handelnden als sollen spiegeln.“ aufgrund „dieser durchaus psychologistischen Grundanschauung von dem Wesen der rechtsnormen“56 ist Jellineks lehre als ein radikaler empirismus entlarvt. es kommt nicht von ungefähr, daß kelsen von Jellineks psychologistischer Grundanschauung spricht. der antinaturalismus in der rechtslehre kelsens ist als Widerspiegelung anderer, zur selben Zeit verfolgter antinaturalistischer Programme zu betrachten, einschließlich desjenigen gegen den Psychologismus, also den anspruch, daß der logik und erkenntnistheorie die Psychologie zugrunde läge. in diesem Zusammenhang ist vor allem an Gottlob frege und edmund Husserl zu denken, deren arbeiten zur Zeit der vorvergangenen Jahrhundertwende als inbegriff des kampfes gegen den Psychologismus angesehen werden können.57 kelsen war sich der diesbezüglichen rolle Husserls bewußt.58 doch frege und Husserl sind nur die prominentesten fälle einer weit verbreiteten richtung in der damaligen deutschsprachigen Philosophie, die als „kampf gegen den naturalismus“ bezeichnet werden kann. Beispielsweise haben sich Heinrich rikkert und Hugo Münsterberg darum bemüht, im namen der autonomie der Geisteswissenschaften die selbständigkeit dieser disziplinen zu bewahren, als der aufstieg der „neuen Psychologie“ als empirischer disziplin absehbar wurde.59 ebenso wie frege, Husserl, rickert, Münsterberg und andere hat auch kelsen engagiert und entschlossen gegen den naturalismus gekämpft. Bereits in den „Hauptproblemen der staatsrechtslehre“ hat die überzeugung, die reduktion normativen Materials auf faktische sachverhalte sei im ansatz verfehlt, seine rechtslehre bestimmt. doch in einem sieg über den naturalismus liegt noch nicht die schaffung einer nichtnaturalistischen rechtslehre. kelsens nichtnaturalistischer rechtslehre liegt die normativitätsthese zugrunde, die er von anfang an in verschiedenen formulierungen eingeschlagen hat. in der tat bestand kelsens strategie gerade darin, die normativitätsthese auszuarbeiten, um mit ihrer Hilfe den herrschenden naturalismus zu überwinden. sein kampf gegen den naturalismus war nur eine der fronten, an der kelsen sich betätigte; an einer zweiten front kämpfte er bekanntlich gegen das naturrecht.60 55 vgl. Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. a., tübingen: J.c.B. Mohr, 1905, 12–41; Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. a., Berlin: o. Häring, 1914, 74, 136–140. 56 Hans kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, tübingen: J.c.B. Mohr, 1922, § 20 (119) (Hervorhebung im original). 57 vgl. Gottlob frege, Grundgesetze der Arithmetik, 2 Bde., Jena: Hermann Pohle, 1893/1903, Bd. 1, vorwort, v–xxvi; Gottlob frege, rezension v. edmund G. Husserl, Philosophie der Arithmetik I, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 103 (1894), 313–332; edmund Husserl, Logische Untersuchungen, teil 1: Prolegomena zur reinen Logik, Halle: niemeyer, 1900, §§ 17–51. 58 vgl. Hans kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1. a., tübingen: J.c.B. Mohr, 1911, 67 anm. 1, und in der vorrede zur 2. a. dieses Werkes, 1923, v–xxiii, bes. ix–x. 59 Heinrich rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 5. a., tübingen: J.c.B. Mohr, 1929; Hugo Münsterberg, Grundzüge der Psychologie, leipzig: J.a. Barth, 1900; Hugo Münsterberg, Philosophie der Werte. Grundzüge einer Weltanschauung, leipzig: J.a. Barth, 1908. 60 vgl. Horst dreier, Rechtslehre, Rechtssoziologie und Demokratie bei Hans Kelsen, 2. a., Baden-Baden:

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4. dIe norMatIVItätstHese

als transzendentaler

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ansatz

Wie lautet die normativitätsthese genau? einige interpreten gehen davon aus, kelsens normativitätsthese sei inhaltlicher art, also auf die rechtspflicht bezogen. so führt etwa Joseph raz aus: „die Begriffe der normativität des rechts und der Pflicht, ihm zu gehorchen, sind analytisch miteinander verbunden. daher betrachtet kelsen das recht als geltend, das heißt, als normativ, nur dann, wenn man ihm gehorchen soll.“61 Während raz an dieser stelle bereit ist, die kelsensche auffassung in der von ihm interpretierten Weise zu vertreten, übt robert alexy eine scharfe kritik an kelsen.62 doch auch alexy schreibt kelsen die inhaltliche normativitätsthese zu. die funktion der kelsenschen Grundnorm sei, die normativitätsthese zu begründen, und der an dieser stelle relevante Bestandteil der kelsenschen normativitätsthese laute, es sei rechtlich geboten, sich gemäß der tatsächlich gesetzten und sozial wirksamen verfassung zu verhalten.63 ausgehend von der auslegung dieser beiden interpreten läßt sich eine inhaltliche normativitätsthese anhand der rechtspflicht explizieren: Gehalt der normativitätsthese ist es, dem recht zu gehorchen (raz) bzw. sich gemäß der verfassung zu verhalten (alexy). Wie ließe sich die so verstandene, inhaltliche normativitätsthese rechtfertigen? die frage ist nicht einfach zu beantworten. sich bloß auf die Grundnorm etwa als „apex-norm“ zu beziehen, käme einer petitio principii gleich. Zudem hat kelsen, wie schon angedeutet, eine Berufung auf das naturrecht bzw. die Moral ausgeschlossen. das reinheitspostulat verbietet eine solche Berufung. sich auf fakten zu beziehen, muß aus dem gleichen Grund ausscheiden – und eine derartige Berufung führte ohnehin nicht weiter, da kelsens Projekt darin besteht, eine alternative zu einer auf fakten beruhenden bzw. naturalistischen rechtslehre aufzubauen. damit scheint es, als hätte kelsen anhand seines reinheitspostulats alle argumentationsstrategien ausgeschlossen. doch es könnte einen ausweg geben. vor dem Hintergrund des fin de siècleneukantianismus wird geltend gemacht, man könne ein transzendentales argument anführen, das als ausarbeitung der implikationen der Grundnorm anzusehen sei. Zumindest auf den ersten Blick sieht es so aus, als wollte kelsen sich gerade dieser argumentation bedienen. es lohnt sich an dieser stelle, einige schriften kelsens in den Blick zu nehmen, in denen er sich mit dem transzendentalen ansatz befaßt. 4.1 der

transZendentale

ansatZ

in

kelsens scHriften

„transzendental“ bezieht sich in kants arbeiten auf die Bedingungen der Möglichkeit von erkenntnis.64 „transzendent“, seit kant der konträre Begriff, bezeichnet nomos, 1990, 27–39 et passim. 61 raz (fn. 51), 60. 62 vgl. robert alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 2. a., freiburg/München: karl alber, 1992, 155–159. 63 vgl. ebd. 157. 64 „ich nenne alle erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. ein system solcher Begriffe würde transzendental-Philosophie heißen.“ kant (fn. 33), B 25 (Hervorhebung im original).

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dagegen das, was über jede erkenntnis hinausgeht.65 in der ersten, im Jahre 1934 erschienenen auflage der „reinen rechtslehre“ folgt kelsen ausdrücklich dieser Unterscheidung kants.66 er bezeichnet das sollen als transzendentale rechtskategorie und unterscheidet es auf diese art und Weise klar und deutlich „von einer transzendenten rechtsidee“,67 die jenseits der erscheinungen liege.68 kelsen hält seine rechtskategorie für „im sinne der kantischen Philosophie erkenntnis-theoretisch-transzendental, nicht metaphysisch-transzendent.“69 in der zweiten, im Jahre 1960 erschienenen auflage der „reinen rechtslehre“ stellt kelsen explizit seine eigene transzendentale frage: „[W]ie ist eine nicht auf meta-rechtliche autoritäten wie Gott oder natur zurückgreifende deutung des subjektiven sinns gewisser tatbestände als ein system in rechtssätzen beschreibbarer objektiv gültiger rechtsnormen möglich?“70

er beantwortet diese transzendentale frage, indem er sich auf die Grundnorm bezieht: „sofern nur durch die voraussetzung der Grundnorm ermöglicht wird, den subjektiven sinn des verfassunggebenden tatbestandes und der der verfassung gemäß gesetzten tatbestände als deren objektiven sinn, das heißt: als objektiv gültige rechtsnormen zu deuten, kann die Grundnorm in ihrer darstellung durch die rechtswissenschaft – wenn ein Begriff der kant’schen erkenntnistheorie per analogiam angewendet werden darf – als die transzendental-logische Bedingung dieser deutung bezeichnet werden.“71

anhand dieser darlegung könnte die Grundnorm als kelsens rechtskategorie angesehen werden, denn eine transzendentale kategorie ist für kelsens Zwecke gerade das, was er unter der „transzendental-logische[n] Bedingung“ versteht. Zudem sieht es so aus, als wollte kelsen anhand einer transzendentalen argumentation die inhaltliche, also auf die rechtspflicht gerichtete normativitätsthese vertreten. schon in der im Jahre 1925 erschienenen „allgemeinen staatslehre“ liest man: „die das system der rechtsordnung begründende Grund- oder Ursprungsnorm hat zu ihrem typischen inhalt, daß eine autorität, eine rechtsquelle eingesetzt wird, deren äußerungen als rechtsverbindlich zu gelten haben: verhaltet euch so wie die rechtsautorität: der Monarch, die volksversammlung, das Parlament etc. befiehlt, so lautet – der deutlichkeit halber vereinfacht – die Grundnorm.“72

kurz gesagt: kelsen behauptet, daß letztlich die Grundnorm – umgewandelt in eine transzendentale argumentation – dem recht verbindlichkeit verleihe. dies ist ganz im Geiste der inhaltlichen normativitätsthese.

65 vgl. ebd. a 296 f./B 352 f. 66 Zum Begriff „transzendent“ vgl. Hans kelsen, Reine Rechtslehre, 1. a., leipzig/Wien: deuticke, 1934, § 8 (14), § 10 (19), § 11(b) (24), zu „transzendental“ vgl. ebd. § 11(b), (c) (21–25), § 29 (67). Zu beiden Begriffen vgl. auch Hans kelsen, Reine Rechtslehre, 2. a., Wien: deuticke, 1960, § 34(d) (204). 67 kelsen (fn. 66), reine rechtslehre, 1. a., § 11(b) (24). 68 ebd. § 8 (10). 69 ebd. § 11(b) (24). 70 kelsen (fn. 66), reine rechtslehre, 2. a., § 34(d) (205). 71 ebd. § 34(d) (204 f.) (Hervorhebung im original). 72 Hans kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin: Julius springer, 1925, § 19(c) (99).

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doch es darf als allgemein bekannt gelten, daß die figur der Grundnorm eine ganze reihe von fragen aufwirft.73 insbesondere: Wie läßt sich begründen, daß die Grundnorm als kategorie dem recht verbindlichkeit verleiht? die verbindlichkeitsverleihende kraft der Grundnorm entfaltet sich nur im rahmen der bereits erwähnten transzendentalen argumentation, die zeigen soll, daß der fragliche Gegenstand – bei kelsen die rechtsverbindlichkeit – vermöge der als kategorie zu verstehenden Grundnorm konstituiert wird und ohne die Grundnorm überhaupt nicht möglich wäre.74 Befaßt man sich jedoch allein mit textstellen wie den obigen, bleibt unklar, wie eine transzendentale argumentation eigentlich aussieht und wie sie zu verstehen ist. auf diese frage wird jetzt näher einzugehen sein. 4.2 forMUlierUnGen

einer transZendentalen

arGUMentation

dem verständnis der transzendentalen argumentation ist zuträglich, daß sich in einem frühen Werk kants, „Beweisgrund zu einer demonstration des daseins Gottes“ aus dem Jahre 1763, ein eingängiges transzendentales argument findet. kant stellt hier den satz vom Widerspruch75 als voraussetzung der Möglichkeit, überhaupt zu denken, dar. seine argumentation lautet wie folgt: „Wenn ich nun einen augenblick nachdenke, weswegen dasjenige, was sich widerspricht, schlechterdings nichts und unmöglich sei, so bemerke ich: daß, weil dadurch der satz des Widerspruchs, der letzte logische Grund alles denklichen, aufgehoben wird, alle Möglichkeit verschwinde, und nichts dabei mehr zu denken sei. ich nehme daraus alsbald ab, daß, wenn ich alles dasein überhaupt aufhebe, und hiedurch der letzte realgrund alles denklichen wegfällt, gleichfalls alle Möglichkeit verschwindet, und nichts mehr zu denken bleibt.“ 76

die struktur von kants argument ist die eines transzendentalen arguments. dies wird in der folgenden Umformulierung des arguments deutlich. 1. ich denke (als Faktum gegebene Prämisse). 2. das denken ist nur dann möglich, wenn der satz vom Widerspruch vorausgesetzt wird (transzendentale Prämisse). 3. ergo: der satz vom Widerspruch wird vorausgesetzt (transzendentale Schlußfolgerung). kants argument in der dargestellten struktur läßt sich ohne weiteres noch weiter umformulieren. diese zweite Umformulierung ist bei der erklärung der aussagekraft eines schlüssigen transzendentalen arguments von nutzen. Wenn die aussage „ich denke“ in der ersten Prämisse etwa durch die aussage „Man erzählt eine Ge-

73 74 75 76

vgl. stanley l. Paulson, die unterschiedlichen formulierungen der „Grundnorm“, in: Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit. Festschrift für Werner Krawietz zum 60. Geburtstag, hg. v. aulis aarnio et al., Berlin: duncker & Humblot, 1993, 53–74. „nur unter voraussetzung der Grundnorm kann das empirische Material, das sich der rechtlichen deutung darbietet, als recht, das heißt als ein system von rechtsnormen gedeutet werden.“ kelsen (fn. 66), reine rechtslehre, 1. a., § 29 (66). Beziehungsweise: „satz vom ausgeschlossenen Widerspruch“ (principium contradictionis). immanuel kant, Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (zuerst veröffentlicht 1763), in: ak. ausg. (fn. 9), Bd. 2, 1912, 70–163 (82).

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schichte“ ersetzt wird, wäre entsprechend in der zweite Prämisse die Phrase „das denken“ durch „das erzählen einer Geschichte“ zu ersetzen. Um die aussagekraft des umformulierten arguments hervorzuheben, muß man sich bloß vorstellen, wie das erzählen einer Geschichte ohne den satz vom Widerspruch vorgehen würde. der erzähler, ein Herr H., fängt mit seiner Geschichte an, indem er beispielsweise sagt, er sei Herr H. und darüber hinaus sei er nicht Herr H. der Zuhörer reagiert automatisch darauf: irgendwas muß schiefgelaufen sein – Herr H. könnte etwa einen, vielleicht mißlungenen Witz erzählt haben, oder es könnte ein Mißverständnis vorliegen. Jedenfalls wartet der Zuhörer auf eine erklärung. Wenn keine erfolgt, wird er früher oder später vor dem, was er – wortwörtlich verstanden – korrekterweise als Unfug betrachtet, kapitulieren. dabei spielt der satz vom Widerspruch die Hauptrolle: nach ihm ist das, was kontradiktorisch vorkommt, Unsinn. nun könnte man geneigt sein – im Hinblick darauf, den Unsinn zu vermeiden –, einfach den satz vom Widerspruch beiseitezulegen. doch um gerade diesen Punkt geht es bei kants argumentation: Man kann den satz vom Widerspruch nicht fallenlassen. dieser ist, genau wie die Umformulierung des kantschen arguments besagt, eine voraussetzung gerade der Möglichkeit von sinnvollen äußerungen. die gezeigte struktur transzendentaler argumente läßt sich auf die transzendentale argumentation im falle des rechts übertragen. kelsen fragt, wie objektiv gültige rechtsnormen möglich seien,77 er fragt mit anderen Worten nach der „transzendental-logische[n] Bedingung“ ihrer Geltung.78 eine formulierung des transzendentalen arguments, die diese frage beantworten soll, würde etwa wie folgt lauten: 1. die rechtsnormen, aus denen eine rechtsordnung besteht, sind gültig (als Faktum gegebene Prämisse). 2. die Gültigkeit dieser rechtsnormen ist nur dann möglich, wenn die rechtskategorie der Zurechnung vorausgesetzt wird (transzendentale Prämisse). 3. ergo: die rechtskategorie der Zurechnung wird vorausgesetzt (transzendentale Schlußfolgerung). der Begriff der Zurechnung als rechtskategorie bedarf näherer erörterung. kelsen wendet sich der Zurechnung – präziser gesagt, der peripheren Zurechnung79 – in der ersten auflage der „reinen rechtslehre“ zu. „so wie das naturgesetz einen bestimmten tatbestand als Ursache mit einem anderen als Wirkung verknüpft, so das rechtsgesetz die rechtsbedingung mit der rechts-(d. h. mit der sogenannten Unrechts-)folge. ist die Weise der verknüpfung der tatbestände in dem einen falle die kausalität, ist es in dem anderen die Zurechnung, die von der reinen rechtslehre als die besondere Gesetzlichkeit des rechtes erkannt wird. so wie die Wirkung auf ihre Ursache, wird die rechtsfolge auf ihre rechtsbedingung zurückgeführt; aber diese kann von jener nicht als ursächlich bewirkt angesehen werden. die rechts-(Unrechts-)folge wird der rechtsbedingung zugerechnet.“80 77 78 79

vgl. Zitat im text bei fn. 70. vgl. Zitat im text bei fn. 71. Bei der Zurechnung, wie sie herkömmlicherweise verstanden wird, geht es um die Zuschreibung eines aktes zu einer Person oder einem rechtssubjekt. Per analogiam versteht kelsen unter zentraler Zurechnung die Zuschreibung eines aktes zu einer aus einem komplex von rechtsnormen gebildeten konstruktion. vgl. kelsen (fn. 58), 121–188 et passim. 80 kelsen (fn. 66), reine rechtslehre, 1. a., § 11(b) (22).

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in diesen Zeilen wird die kausalität der „besonderen Gesetzlichkeit des rechtes“ gegenübergestellt, die mit dem Begriff der Zurechnung bezeichnet wird. die analogie der peripheren Zurechnung zur kausalität ist aufschlußreich. nach dem transzendentalen ansatz zur rechtslehre kelsens läßt sich die periphere Zurechnung – ebenso wie die kausalität – als kategorie betrachten,81 und gerade diese funktion zeigt sie in dem von kelsen angeführten transzendentalen argument auf. doch es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen den beiden der struktur nach vergleichbaren transzendentalen argumenten: kants argument ist schlüssig, kelsens hingegen ist nicht schlüssig. dies soll im folgenden abschnitt gezeigt werden. 4.3 BeWertUnG

der transZendentalen

arGUMentation kelsens

die als „transzendental“ im kantischen sinne zu verstehende argumentation der neukantianer – in diesem falle Hans kelsens – erweist sich im ergebnis als nicht haltbar. kelsen selbst relativiert seine these, indem er zugesteht, daß die rechtskategorie der peripheren Zurechnung bloß eine mögliche, jedoch keine notwendige deutung des in Betracht kommenden Materials darstelle. Mit anderen Worten: Wenn man gleichsam „das rechtliche spiel“ spielt, dann – so kelsen – erweise sich die kategorie als unentbehrlich, doch man müsse dieses spiel nicht spielen. also könne man eine Haltung „wie etwa die des theoretischen anarchismus, der es ablehnt, dort wo Juristen von recht sprechen, etwas anderes zu sehen als nur nackte Gewalt“, nicht widerlegen. allgemeiner gesagt, könne man die existenz des rechts nicht „wie die natürlicher tatsachen und der sie beherrschenden naturgesetze“ beweisen.82 daraus soll nach kelsen jedoch nicht folgen, daß überhaupt keine transzendentale argumentation möglich sei, sondern allein, daß eine solche argumentation von einem standpunkt außerhalb – in der sprache der neukantianer – des „faktums der rechtswissenschaft“ nicht geführt werden kann. doch von einem standpunkt innerhalb des rechts kann der vom anarchisten erhobene „alternativen-einwand“ – der anarchismus gelte als alternative zum recht – zurückgewiesen werden. Wenn man also vom faktum der rechtswissenschaft ausgeht, bleibe eine transzendentale argumentation unentbehrlich. das oben aufgestellte Beispiel eines auf das recht bezogenen transzendentalen arguments entspricht diesem aus dem neukantianismus bekannten ausgangspunkt des faktums der Wissenschaft. in der ersten auflage der „reinen rechtslehre“ verwendet kelsen selbst die neukantianische formulierung des seiner ansicht nach zu wählenden ausgangspunkts: „die Möglichkeit und erforderlichkeit [einer normativen lehre des rechts] ist schon durch das jahrtausendalte Faktum der Rechtswissenschaft erwiesen, die – solange es ein recht gibt – als dogmatische Jurisprudenz den intellektuellen Bedürfnissen der mit dem recht Befaßten dient.“83

81 also werden sowohl das sollen, vgl. text bei fn. 67, als auch die Grundnorm, vgl. text bei fn. 71, durch die periphere Zurechnung als eigentümliche rechtskategorie ersetzt. 82 kelsen (fn. 66), reine rechtslehre, 1. a., § 16 (36). 83 ebd. § 16 (37) (Hervorhebung von mir).

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ein derartiges faktum ist schon bei kant der ausgangspunkt für die regressive version der transzendentalen argumentation.84 vom faktum der rechtswissenschaft ausgehend lasse sich also die Unentbehrlichkeit der transzendentalen argumentation zeigen. also muß aufgewiesen werden, daß das, wovon ausgegangen wird, ohne die voraussetzung der juridischen kategorie der peripheren Zurechnung nicht möglich wäre. doch der „alternativen-einwand“ kommt hier erneut ins spiel, auch wenn kelsen dieses Problem vom vorliegend gewählten standpunkt innerhalb der rechtsordnung nicht betrachtet. nehmen wir – um des vergleichs willen – noch einmal den standpunkt außerhalb der rechtsordnung ein. von dort aus, wie von kelsen ausdrücklich zugestanden wird, steht der anarchist bereit, um das von uns als „normativ“ angesehene Material anders zu erklären, und zwar unter Berufung auf bloße Machtverhältnisse. da es diese alternative gibt – und es ließen sich noch weitere anführen –, kann eine transzendentale argumentation nicht schlüssig sein. denn die transzendentale argumentation besagt, daß allein die Möglichkeit des fraglichen Gegenstandes die dank der argumentation gelieferte kategorie voraussetzt. daraus folgt die notwendigkeit der kategorie. Wenn sich aber ein alternativer ansatz zur erklärung der Möglichkeit des Gegenstandes als hinreichend erweisen sollte, den Gegenstand vollständig zu erfassen, dann kann die kategorie nicht notwendig sein. damit schwindet jegliche kraft der transzendentalen argumentation. Warum – setzt der kritiker seinen „alternativen-einwand“ fort – soll es vom standpunkt innerhalb der rechtsordnung aus anders sein? das einzige, was sich bei der Betrachtung von diesem zweiten standpunkt aus verändert, ist die natur der möglichen alternativen. Jetzt bestehen die alternativen in konkurrierenden rechtslehren, und die frage stellt sich: Warum sollte man gerade kelsens rechtslehre bevorzugen und nicht eine andere? allerdings sieht es auf den ersten Blick so aus, als bewegte sich kelsen auf sicherem Boden. denn er glaubt zum einen, daß es nur zwei grundsätzliche alternativen gebe. diese bestehen in der klassischen naturrechtslehre einerseits, dem herkömmlichen, auf fakten beruhenden rechtspositivismus andererseits. Und zum anderen glaubt er gezeigt zu haben, daß beide rechtslehren an fundamentalen fehlern leiden. Beginnen wir mit der letzten Behauptung. auch wenn kelsen gute Gründe hat, den herkömmlichen, auf fakten beruhenden rechtspositivismus abzulehnen,85 84 immanuel kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (zuerst veröffentlicht 1783), in: ak. ausg. (fn. 9), Bd. 4, 1911, 253–383, bes. 276 anm. der neukantianer Hermann cohen ging von der regressiven version aus, als er ausführte: „nehme ich […] die erkenntniss nicht als eine art und Weise des Bewusstseins sondern als ein Factum, welches in der Wissenschaft sich vollzogen hat und auf gegebenen Grundlagen sich zu vollziehen fortfährt, so bezieht sich die Untersuchung nicht mehr auf eine immerhin subjektive thatsache, sondern auf einen wie sehr auch sich vermehrenden, so doch objektiv gegebenen und in Principien gegründeten thatbestand, nicht auf den vorgang und apparat des erkennens, sondern auf das ergebniss desselben, die Wissenschaft. alsdann wird die frage nahegelegt und unzweideutig: aus welchen Voraussetzungen dieser thatbestand der Wissenschaft seine Gewissheit ableite.“ Hermann cohen, Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte, Berlin: ferd. dümmler, 1883, 5 (Hervorhebungen im original). 85 vgl. den text bei fn. 55–60. Zu den vielen rechtstheoretikern, die vor der Zeit kelsens oder als seine Zeitgenossen naturalistische Positionen vertreten haben bzw. von kelsen so verstanden

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weil dieser – wie er brillant argumentiert – den normativen Bestandteil des rechts nicht erfassen kann, erscheint es alles andere als selbstverständlich, daß die art und Weise, mit der kelsen die naturrechtslehre ablehnt, haltbar ist. anstelle von argumenten bietet kelsen allzu oft nicht mehr als bloß eine undifferenzierte und zum teil mit heftigen Worten zum ausdruck gebrachte skepsis. so könne der Berufung der reinen rechtslehre auf kant natürlich von denjenigen widersprochen werden, „die die wahre kant’sche Philosophie in seiner ethik erblicken. daß diese ganz wertlos ist, kann leicht gezeigt und auch von demjenigen behauptet werden, der in der kant’schen transzendentalphilosophie die größte philosophische leistung überhaupt erblickt.“86

schon aus dieser ohne jeden Grund vorgetragenen ablehnung der naturrechtslehre, diesem bloßen ausdruck von naturrechtsskepsis, kann man schließen, daß diese alternative zur kelsenschen rechtslehre nach wie vor als unwiderlegt zu gelten hat. selbst wenn – der kritiker wendet sich jetzt der ersten Behauptung zu – man davon ausginge, daß kelsen ein schlüssiges argument vortragen könnte, mit dem die naturrechtslehre sich ein für alle Mal zurückweisen ließe, wäre er noch lange nicht so weit vorangekommen, wie er uns glauben machen will. denn er hat kein argument für die Behauptung, daß die drei lehren zusammengenommen – die naturrechtslehre, der herkömmliche, auf fakten beruhende rechtspositivismus und seine eigene rechtslehre – das spektrum der möglichen rechtslehren vollständig erschöpfen. an dieser stelle ist kelsen in gewisser Weise in die von ihm selbst gegrabene Grube gefallen. denn sobald man zugesteht, daß die kelsensche rechtslehre eine dritte art von rechtslehre darstellt, die auf derselben abstraktionsebene angesiedelt ist wie die beiden ursprünglich konzipierten arten von rechtslehren, bricht die traditionelle annahme des tertium non datur zusammen. daraus folgt nicht nur, daß eine dritte art von rechtslehre möglich ist, sondern auch eine vierte und so fort. doch kelsen hat das diktum quartum non datur gar nicht angesprochen, geschweige denn begründet. kurz gesagt, vom standpunkt innerhalb der rechtsordnung verliert der „alternativen-einwand“ nicht an kraft, er gewinnt eher an stärke. 5. dIe „Modale“ norMatIVItätstHese da sich der transzendentale ansatz als unhaltbar erwiesen hat und der textliche Beleg zugunsten einer inhaltlichen normativitätsthese als dürftig anzusehen ist,87 stellt sich nunmehr die frage, wie die kelsensche normativitätsthese zu verstehen ist. der rechtslehre kelsens liegt eine „modale normativitätsthese“ – meine terminologie – zugrunde. dieser ansatz läßt sich auf das Hauptwerk des Badener neuwerden vgl. stanley l. Paulson, „läßt sich die reine rechtslehre transzendental begründen?“, Rechtstheorie 21 (1990), 155–179, bes. 159 f., und stanley l. Paulson, „konstruktivismus, Methodendualismus und Zurechnung im frühwerk Hans kelsens“, Archiv des öffentliches Recht 124 (1999), 631–657. 86 Hans kelsen, reine rechtslehre, „labandismus“ und neukantianismus. ein Brief an renato treves (datiert vom 3. 8. 1933), in: Hans kelsen/renato treves, Formalismo giuridico e realtá sociale, hg. v. stanley l. Paulson, neapel: edizioni scientifiche italiane, 1992, 55–58 (58). 87 der versuch, eine inhaltliche normativitätsthese anhand der kelsenschen schriften textlich zu belegen, ist zum scheitern verurteilt. einen textlichen Beleg gibt es nicht. vgl. dazu stanley l. Paulson, J.W. Harris’s kelsen, in: Properties of Law: Essays in Honour of Jim Harris, hg. v. timothy endicott/Joshua Getzler/edwin Peel, oxford: oxford U.P., 2006, 1–21, bes. 14–20.

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kantianers Heinrich rickert zurückführen. im letzten kapitel seines „Gegenstand der erkenntnis“ unterscheidet rickert „konstitutive Wirklichkeitskategorien“ von auf die Wissenschaften bezogenen „methodologischen formen“.88 als Beispiel der konstitutiven Wirklichkeitskategorien führt rickert dinghaftigkeit an,89 als Beispiel der methodologischen formen die Gesetzlichkeit in den naturwissenschaften.90 doch die Gesetzlichkeit muß man als methodologische „Gattungsform“ betrachten, da sie in allen naturwissenschaften vorkommt. Weiter spricht rickert von methodologischen formen jenseits der Gattungsform, ohne jedoch fälle anzugeben.91 diese methodologischen formen seien den jeweiligen einzelwissenschaften eigentümlich. im falle der rechtswissenschaft soll die methodologische form diejenige des rechtsgesetzes sein.92 in seiner darstellung beginnt rickert mit dem Begriff der „objektiven Wirklichkeit“. seine Grundidee besteht darin, daß die objektive Wirklichkeit anhand der Wirklichkeitskategorien konstituiert wird, während das dank der objektiven Wirklichkeit gegebene Material von den einzelwissenschaften vermöge deren jeweiliger methodologischer formen bearbeitet wird. in rickerts Worten: „Wegen der einzigartigen Bedeutung dieser […] an den Beispielen der kausalität und der dinghaftigkeit erörterten formen ist es nötig, sie mit einem besonderen namen zu bezeichnen, der sie gegen die weniger ursprünglichen methodologischen formen abhebt. im anschluß an den ausdruck objektive Wirklichkeit könnten wir von ‚objektiven Wirklichkeitsformen‘ […] sprechen. doch ziehen wir […] den terminus ‚konstitutiv‘ vor. er bezeichnet insofern genau das, was wir meinen, als diese formen das konstituieren, was […] als fertiges Produkt oder als reales Material der erkenntnis vorausgesetzt wird. deshalb sollen die kategorien, die das tatsächlich Gegebene zur objektiven wirklichen Welt gestalten, die konstitutiven Wirklichkeitskategorien heißen.“93

die konstitutiven Wirklichkeitskategorien ließen sich auf die transzendentale Philosophie zurückführen, hingegen werfe die „systematische Gliederung und entwicklung der verschiedenen methodologischen formen“ das „Problem der Wissenschaftslehre im engeren sinne“ auf.94 die Unterscheidung rickerts zwischen konstitutiven Wirklichkeitskategorien und methodologischen formen bildet den Hintergrund der modalen normativität. Bei dieser these selbst geht es unter anderem um die einführung des rechtsgesetzes als methodologischer form der rechtswissenschaft. der Begriff „rechtsgesetz“ erscheint in der neuen vorrede zur 1923 erschienenen zweiten auflage der „Hauptprobleme der staatsrechtslehre“. im folgenden Zitat aus dieser vorrede reflektiert kelsen über seinen ansatz im 1911 erschienenen Werk: „im anschluß an die kant-interpretation Windelbands und simmels wird mir das sollen zum ausdrucke für die eigengesetzlichkeit des von der rechtswissenschaft zu bestimmenden rechtes zum Unterschied von einem ‚soziologisch‘ erfaßbaren sozialen sein, tritt die Norm als Urteil des 88 vgl. Heinrich rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 6. a., tübingen: J.c.B. Mohr, 1928, kap. 5, bes. §§ iv–v (383–432). die 1. a. des Werkes erschien im Jahre 1892 als rickerts Habilitationsschrift. 89 vgl. z. B. das Zitat im text bei fn. 93. 90 vgl. rickert (fn. 88), 406 f. 91 vgl. ebd. 404, 407, 410, 411, 424, 426 et passim; rickert (fn. 59), 208, 210, 217, 221 et passim. 92 kelsen (fn. 58), vorrede zur 2. a., vi; kelsen (fn. 66), reine rechtslehre, 1. a., § 11(b) (22). 93 rickert (fn. 88), 406 f. (Hervorhebung im original). 94 ebd. 404.

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sollens dem naturgesetz und der als norm qualifizierte rechtssatz dem speziellen kausalgesetz der soziologie entgegen. darum wird für mich der Rechtssatz als der ausdruck der spezifischen rechtsgesetzlichkeit, als das Rechtsgesetz, zum kernproblem […].“95

die Gegenüberstellung der spezifischen Gesetzlichkeit des rechts – seiner „eigengesetzlichkeit“ – und der kausalen Gesetzlichkeit der faktischen Welt kommt an dieser stelle klar zum ausdruck. doch vieles bleibt dabei unklar. eine der an dieser stelle aufgeworfenen fragen besteht darin, wie sich das rechtsgesetz zum rechtssatz verhält. Zwei dinge sind für eine antwort von Bedeutung. erstens läßt sich nach kelsen das rechtsgesetz, die methodologische form der rechtswissenschaft, unter Berufung auf die parallel zur kausalität laufende periphere Zurechnung96 explizieren. diese stelle eine dyadische relation dar, deren relata aus einer „rechtsbedingung“ und einer „rechtsfolge“ bestünden, und gerade diese relation erlegt dem recht das rechtsgesetz als methodologische form auf. auch wenn die periphere Zurechnung keine kategoriale funktion hat – eine funktion, die allein innerhalb des transzendentalen ansatzes gilt –, bleibt die daraus zu entnehmende form doch anwendbar. Zweitens ist diese form gerade diejenige, die der rekonstruierte rechtssatz aufweist. allerdings ist die der peripheren Zurechnung entnommende form – der rechtsbedingung werde die rechtsfolge zugerechnet – viel zu komprimiert, um auf anhieb verständlich zu sein. kelsen meint nicht, daß der allgemeinen rechtsbedingung als solcher irgendeine rechtsfolge zugerechnet werde. ein derartiger ansatz liefe letztlich auf eine verwechslung der allgemeinen, hypothetisch formulierten rechtsnorm mit der erfüllung ihrer antezedensbedingung in form des tatbestandes bzw. der entsprechenden Handlung hinaus. Bei der peripheren Zurechnung geht es hingegen um diese tatbestandserfüllung selbst. diese meint kelsen, wenn er in der „allgemeinen staatslehre“ schreibt: die „periphere Zurechnung führt von einem tatbestand immer nur zu einem anderen tatbestand“.97 demjenigen tatbestand bzw. derjenigen Handlung, der bzw. die das antezedens der allgemeinen, hypothetisch formulierten rechtsnorm erfüllt, wird die rechtsfolge zugerechnet. die rechtsfolge ist die Haftung. eine hinreichend spezifische formulierung, in der die allgemeine, hypothetisch formulierte rechtsnorm der komprimierten formulierung kelsens vorausgesetzt wird, könnte folgendermaßen lauten: Wenn eine Handlung des typus h vollzogen wird, dann erwirbt diese Handlung die eigenschaft, haftungsbegründend zu sein.98 die Haftung verhält sich „korrelativ“ zur ermächtigung, was besagt, daß die angabe einer Person, die für diese Handlung haftet, sich in der ermächtigung des rechtsorgans, gegen diese Person eine sanktion zu verhängen, widerspiegelt.

95 kelsen (fn. 58), vorrede zur 2. a., vi (Hervorhebung im original). 96 vgl. Zitat im text bei fn. 80. vgl. auch kelsen (fn. 72), § 10 (c) (48–51); kelsen (fn. 66), reine rechtslehre, 2. a., §§ 18–24 (79–106). allgemein zur peripheren Zurechnung: Joachim renzikowski, der Begriff der „Zurechnung“ in der reinen rechtslehre Hans kelsens, in: Neukantianismus und Rechtsphilosophie, hg. v. robert alexy et al., Baden-Baden: nomos, 2002, 253–282. 97 kelsen (fn. 72), § 12(d) (65). 98 für Hinweise zu dieser formulierung bin ich Martin Borowski dankbar.

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das rechtsgesetz, das kelsen als periphere Zurechnung verstanden wissen will, ist die methodologische form, mittels derer das Material des rechts bearbeitet wird. diese Bearbeitung bringt den hypothetisch formulierten, rekonstruierten rechtssatz hervor. aus dem rechtsgesetz als methodologischer form der rechtswissenschaft ergibt sich damit nicht nur, daß der rechtssatz die form der peripheren Zurechnung reflektiert, sondern auch dessen Modalität. der rekonstruierte rechtssatz stellt das ergebnis der suche kelsens nach der „idealen sprachform“, der idealen formulierung des rechtssatzes dar. in den „Hauptproblemen der staatsrechtslehre“ erklärt kelsen sein diesbezügliches Programm folgendermaßen: „die frage, ob der rechtssatz als imperativ oder als hypothetisches Urteil aufzufassen sei, ist die frage nach der idealen sprachform des rechtssatzes oder auch nach dem Wesen des objektiven rechtes. der praktische Wortlaut, dessen sich die konkreten rechtsordnungen bedienen, ist für die entscheidung des Problems irrelevant. der rechtssatz muß aus dem inhalt der Gesetze herauskonstruiert werden und die Bestandteile, die zu seiner konstruktion nötig sind, finden sich häufig nicht einmal in demselben Gesetze, sondern müssen aus mehreren zusammengestellt werden.“99

daß der rechtssatz in seiner idealen sprachform hypothetisch zu formulieren sei – was unter anderem bedeutet, er sei an das rechtsorgan gerichtet –, war kelsen schon in den „Hauptproblemen“ klar. kelsens suche nach weiteren Merkmalen der idealen sprachform des rechtssatzes führte in den dreißiger Jahren zur hypothetisch formulierten, an das rechtsorgan adressierten ermächtigungsnorm. die rechtspflicht sei ein bloßer reflex der Unrechtsfolge, welche sich aus der ausübung der ermächtigung zur sanktionsverhängung ergäbe: „es gäbe allerdings eine Möglichkeit, den Begriff der rechtspflicht – wenn schon nicht aufzulösen –, so doch auf den der kompetenz zu basieren, jenen auf diesen zurückzuführen. Wenn man nämlich die rechtspflicht eines individuums zu einem bestimmten verhalten immer nur dann als gegeben anerkennt, wenn im fall des gegenteiligen verhaltens ein anderes individuum von der rechtsordnung ermächtigt ist, gegen das erste eine sanktion zu setzen; und wenn man die ermächtigung zur setzung der sanktion als ‚kompetenz‘ gelten läßt; dann beruhte die rechtspflicht des einen auf der sanktions-kompetenz des anderen.“100

in seinem im Jahre 1945 erschienenen Hauptwerk „General theory of law and state“, entwickelt kelsen seine neue auffassung weiter.101 Unter anderem führt er 99 kelsen (fn. 58), 237 (Hervorhebung im original). auch bei ernst Zitelmann ging es um die ideale sprachliche form des rechtssatzes bzw. dessen „logische form“: „alle objectiven rechte, welcher Zeit immer, welches orts immer, haben eine und dieselbe logische form; diese form des juristischen denkens ist fähig, den allerverschiedensten materiellen inhalt in sich aufzunehmen, sie ist völlig leer, eben nur form, nicht inhalt, aber als diese form ist sie doch eben überall gleich; sie ist das kraft der eigenthümlichkeit der menschlichen denkorganisation.“ ernst Zitelmann, „die Möglichkeit eines Weltrechts“, Allgemeine österreichische Gerichts-Zeitung 39 (n.f. 25) (1888), 193–195, 201–203, 209–212 (194). 100 Hans kelsen, recht und kompetenz: kritische Bemerkungen zur völkerrechtstheorie Georges scelles, in: Hans kelsen, Auseinandersetzungen zur Reinen Rechtslehre, hg. v. kurt ringhofer/robert Walter, Wien: springer, 1987, 1–108 (75) (diese studie kelsens läßt sich auf ein spät in den dreißiger Jahren geschriebenes Manuskript zurückführen). 101 Hans kelsen, General Theory of Law and State, cambridge, Mass.: Harvard U. P., 1945, 61, vgl. auch 62 f. die in diesem Werk angedeutete entwicklung wird dann in der 2. a. der reinen

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hier aus, das „sollen“ müsse sich mit dem Begriff der rechtspflicht nicht decken, sondern sei bloß als eine art „Platzhalter“ zu betrachten.102 das „sollen“ manifestiere sich darin, daß eine sanktion unter bestimmten Bedingungen verhängt werden kann, daß das rechtsorgan also bloß ermächtigt ist, eine sanktion zu verhängen. Wenn darüberhinaus gesagt wird, daß ein rechtsorgan A tatsächlich verpflichtet sei, die sanktion zu verhängen, besage dies bloß, daß ein höheres rechtsorgan seinerseits ermächtigt ist, eine sanktion über A zu verhängen, falls A es versäumt, die fragliche sanktion über das rechtssubjekt zu verhängen. kelsen konstruiert – seine theorie-reduktion103 ist an dieser stelle kaum zu übersehen – den Begriff der rechtspflicht, der uns ja als deontischer Begriff bekannt ist, aus einer zweistufigen konstruktion von ermächtigungsnormen. einen von der ermächtigung unabhängigen Begriff der Pflicht kennt er – nach dieser schon während der vierziger Jahre vollzogenen strukturellen Wende – nicht. 6. scHluss lasks zu Beginn dieser arbeit wiedergegebene einschätzung, daß sich bei den neukantianern „ein starker intellektualismus in der philosophischen fragestellung bemerkbar“ mache, nämlich „die neigung, alle Wertprobleme für rein erkenntniskritische oder methodologische zu halten“,104 paßt, wie gesagt, sowohl auf radbruch als auch auf kelsen. auf radbruch paßt sie wegen der regulativen funktion seines apriorischen bzw. absoluten Wertes der formalen Gerechtigkeit schon gut, selbst wenn eine Wert-komponente im gewöhnlichen sinne auch in diesem apriorischen Wert enthalten ist. noch besser paßt lasks einschätzung auf kelsen, da bei ihm jede spur einer Wertfrage im gewöhnlichen sinne verschwindet. stattdessen erweist sich die „methodologische form“ der rechtswissenschaft als erklärung von änderungen im recht, ohne daß anlaß bestünde, sich auf das kausalitätsgesetz zu berufen.

rechtslehre (fn. 66) noch weitergeführt, vgl. vor allem § 28 (120–130), § 29(d), (f) (139–142, 143–149), § 30 (150–162), § 32 (167–172), § 35 (228–282). 102 für kelsens spätere ausdrückliche aussagen dazu, nämlich daß das „sollen“ als variable zu betrachten sei und daß es, so verstanden, sich über die verschiedenen Modalverben („müssen“, „dürfen“, „können“) erstrecke, vgl. kelsen (fn. 66), reine rechtslehre, 2. a., § 4(b) (bes. 4 f.), § 18 (bes. 81), § 28(b) (bes. 124); Hans kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, hg. v. kurt ringhofer/robert Walter, Wien: Manz, 1979, kap. 25, § ii (77). 103 vgl. stanley l. Paulson, ralf dreiers kelsen, in: Integratives Verstehen. Zur Rechtsphilosophie Ralf Dreiers, hg. v. robert alexy, tübingen: Mohr siebeck, 2005, 159–197, bes. 186 f. 104 vgl. Zitat im text bei fn. 2.

Hans-Peter HaferkaMP, köln

neukantIanIsMus

und

1. eIn tHeMa

unbekannten

MIt dreI

recHtsnaturalIsMus*

die mir gestellte aufgabe, das neukantianische verständnis der rechtswissenschaft als kulturwissenschaft vom rechtsnaturalismus abzugrenzen, lässt bekannte deutungsmuster der Philosophiegeschichtsschreibung gleichermaßen wie aktuelle debatten um den „cultural turn“ mitschwingen. „naturalismus“ ist negativ konnotiert, im Gegensatz zu „kultur“, nicht „kulturalismus“. die sympathien sind also verteilt. „kultur“ fungiert als rettungsbegriff. rechtswissenschaft war gegen den naturwissenschaftlichen und „positivistischen“ ansturm zu verteidigen. diltheys Gegenüberstellung von natur- und Geisteswissenschaften, die sich davon absetzende antithetik von natur- und kulturwissenschaften bei rickert und Windelband, dessen scheidung von nomothetischen und idiographischen Wissenschaften, stammlers trennung zwischen natur- und sozialwissenschaften werden seit langem als teil einer solchen rettungsbewegung eingestuft. der reiz, diese schön antithetisch gefassten Bilder für die aktuellen abwehrdebatten der rechtswissenschaft gegen Hirnforschung, Gentechnik etc. nutzbar zu machen, ist für den Historiker gefährlich. Blickt man etwas genauer auf die damalige diskussionslage, so zeigt sich schnell, dass die schlagworte „kultur“, „naturwissenschaft“ und „kant“ um 1900 kaum einheitlich und präzise verstanden werden. vorangestellte begriffliche Zuschneidungen, die aktuelle deutungen transportieren, geraten vor diesem Hintergrund zum Zugangshindernis: (1) allgemein spricht rüdiger vom Bruch von einer „überschwappenden“ kulturdiskussion in diesen Jahren1. auch recht wurde um 1900 von einer vielzahl von autoren der verschiedensten denkrichtungen als kulturphänomen eingestuft2. die forderung des neukantianismus nach einer eigenständigen kulturwissenschaft in abgrenzung zur naturwissenschaft war nur teil einer breiten strömung, die man mit betrachten muss, will man verstehen, worum es neukantianern ging. (2) ähnlich schwierig ist es mit der naturalismusfrage um 1900. „kein Wort unserer Zeit wiegt so schwer wie dieses Wort: natur. alles drängt darauf, lechzt danach“, meinte 1903 der darwinist Wilhelm Bölsche3. naturwissenschaft war seit etwa 1860 überall, Herausforderung für jede andere Wissenschaft. Zugleich war aber auch hier das, was naturwissenschaftliches denken ausmachte, ziemlich diffus. * 1 2 3

erweiterte fassung meines vortrages. die nachweise sind bewusst knapp gehalten und bieten überwiegend nur einstiegsliteratur. rüdiger vom Bruch/friedrich Wilhelm Graf/Gangolf Hübinger, einleitung, in: Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, hg. v. dens., stuttgart: franz steiner verlag, 1989, 11. überblick bei Gerhard sprenger, „recht als kulturerscheinung“, ARSP Beiheft 43 (1991), 134 ff. Wilhelm Bölsche, Aus der Schneegrube. Gedanken zur Vertiefung des Darwinismus, dresden: reißner verlag, 1909 (ursprünglich 1903), 32 f.

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Man muss also erst einmal ermitteln, was Zeitgenossen als naturwissenschaftlich empfanden. (3) Zugangserschwernis ist drittens auch der Begriff des neukantianismus. dabei geht es weniger um die unvermeidlich nicht trennscharfen Gruppenbildungen (Marburg, südwestdeutsch etc.)4 als vielmehr um die darin schnell liegende überspielung der tatsache, dass philosophisch seit etwa 1860 fast alle mit kant argumentierten. Man konnte mit kant für und gegen so genannt naturwissenschaftliches denken argumentieren. kantverwendungen5 sind also eine Gemeinsamkeit der diskutanten, kein abgrenzungsmerkmal. das von mir zwischen 1870 und 1938 in schlaglichtern untersuchte Begriffsfeld lautet daher: rechtswissenschaft und naturwissenschaft und die Bedeutung von kantverwendungen dabei. abkürzende Großdeutungen werde ich dabei vermeiden. ich möchte also nicht, wie es oft getan wird, subtile Unterschiede im neukantianischen lager auf der groben folie der „Herrschaft des rechtspositivismus“ spiegeln oder von naturalistischen, der Wirklichkeit unterstellten idealtypen wie „Mechanismus, vitalismus und Biologismus“ (franz Wieacker) abgrenzen, sondern einige konkrete Gespräche in rechtswissenschaft und rechtsphilosophie rekonstruieren, Gespräche um kant, recht und naturwissenschaft. 2. kant,

dIe

naturwIssenscHaften und MetHode

dIe

recHtswIssenscHaftlIcHe

„ich muß nach der Methode des Physikers, wenn er sich die einzelnen naturerscheinungen erklären will, zuerst diese oder jene allgemeine rechtsregel als Hypothese versuchen, sie mit den daraus zu erklärenden folgen zusammenhalten, ihr verhältnis zu diesen erwägen und je nachdem sie nun mit diesen disharmonieren oder in nothwendigem causalnexus mit denselben zusammenstimmen, als nichtig verwerfen oder als erprobt anerkennen“6.

1804 verknüpfte Paul Johann anselm von feuerbach in seiner berühmten landshuter antrittsrede rechtswissenschaft mit der naturwissenschaft und kant, berührte also bereits das mir aufgetragene thema. Unter dem Zusammenspiel von kausalität und Hypothese benannte feuerbach ein verfahren, das er als genuin naturwissenschaftlich betrachtete. Zugleich schwang hier kants Methodenprogramm in den metaphysischen anfangsgründen der naturwissenschaft mit. kant hatte für eine rationale Wissenschaft bekanntlich die „verknüpfung der erkenntnis“ als ein „Zusam4 5

6

vgl. vor allem klaus christian köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, frankfurt a. M.: suhrkamp verlag, 1986. ich folge hier Joachim rückert, kant-rezeption in juristischer und politischer theorie (naturrecht, rechtsphilosophie, staatslehre, Politik) des 19. Jahrhunderts, in: John Locke und/and Immanuel Kant, hg. v. Martyn P. thompson, Berlin: duncker & Humblot verlag, 1991, 144 ff.; sowie ders., von kant zu kant? „stufen der rezeption kants in der rechtswissenschaft seit savigny“, in: Neukantianismus und Rechtsphilosophie, hg. v. robert alexy et al., Baden-Baden: nomos verlag, 2002, 89 ff. Paul Johann anselm von feuerbach, Ueber Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnisse zur positiven Rechtswissenschaft. Eine Antrittsrede, landshut: attenkofer verlag, 1804, 74; vgl. hierzu Maximilian Herberger, „Beziehungen zwischen naturwissenschaft und Jurisprudenz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 6 (1983), 79 ff.

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menhang von Gründen und folgen“ gefordert7. auch wenn kant als Beispiel die zeitgenössische chemie nannte, hatte die sich nun selbstbewusst rechtswissenschaft nennende Jurisprudenz8 hier für ihren Wissenschaftsanspruch das Programm gefunden. kausalität, als der naturwissenschaft abgeschaute rechtswissenschaftliche Methode, und kant gingen also sehr gut zusammen. kants zweihändiges erkenntnisverfahren der vernunft, mit anschauung und Begriff, wurde als naturwissenschaftlich interpretiert und zugleich Methode für die wissenschaftliche verarbeitung von positivem recht. 1874 lobte adolf Merkel in einer der Programmschriften für seine allgemeine rechtslehre die überlegungen feuerbachs ausdrücklich. die rechtsphilosophie habe die aufgabe, die kausalen Beziehungen darzulegen, die „unter den einzelheiten im Umfeld unseres Wissens bestehen“9. Wie feuerbach betonte siebzig Jahre später auch Merkel, dass zwischen den anforderungen an eine rechtswissenschaft und dem verfahren der naturwissenschaften kein substanzieller Unterschied bestehe. Bindeglied sei kant als gemeinsame Grundlage, die gleichermaßen dem darwinismus, der mechanischen Wärmetheorie wie der neueren rechtswissenschaft zugrunde liege10. so wie der Mediziner aus der Beobachtung des gesunden und kranken Menschen den normalen Menschen entwickele, der Botaniker im Unterschied von verkrüppelten und ausgewachsenen Pflanzen die normalpflanze definiere, so müssten aus den rechtlichen erscheinungen des lebens normalformen entwickelt werden11. Merkel stand mit diesen anforderungen für eine ganze Gruppe juristischer autoren, die dem positiven recht Grundsätze und Begriffe entnahmen, die sie zu einer systematischen Philosophie des positiven rechts verdichten wollten. neben dieser dogmatisch arbeitenden rechtswissenschaft gab es eine große Gruppe historisch arbeitender rechtswissenschaftler, die ohne Geltungsanspruch für das positive recht rechtsgeschichte betrieben und für die etwa der name Paul v. roth steht12. Hier war der Umgang mit dem positiven recht weniger direkt von den naturwissenschaften übernommen als vielmehr von den historischen nachbarwissenschaften und der Philologie. auch hier findet sich aber die vorstellung einer übergreifenden, an kant angelehnten Wissenschaftsmethode. Beispielhaft trat ernst immanuel Bekker in der rechtsgeschichte für „zweihändige erkenntnis“ ein13: die „ars sciendi“ beruhe auf „zwei trägern: Wahrnehmungen, von deren richtigkeit sich jeder über7 8 9 10 11 12 13

immanuel kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, vorrede, aa 4, königsberg: friedrich nicolovius verlag, 1797, 467 f. Zu diesen Zusammenhängen Jan schröder, Wissenschaftstheorie und Lehre der ‚praktischen Jurisprudenz’ auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, frankfurt a. M.: vittorio klostermann verlag, 1979, 147 ff. adolf Merkel, „über das verhältnis der rechtsphilosophie zur ‚positiven‘ rechtswissenschaft und zum allgemeinen theil derselben“, (Grünhuts) Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht 1 (1874), 1 ff., 402 ff., 6. Merkel (fn. 9), 3. Merkel (fn. 9), 419. vgl. sten Gagnér, Zielsetzung und Werkgestaltung in Paul roths Wissenschaft (1975), wiederabgedruckt in: Abhandlungen zur Europäischen Rechtsgeschichte, hg. v. Joachim rückert et al., Goldbach: kneip verlag, 2004, 347 ff. vgl. hierzu Maximiliane kriechbaum, Dogmatik und Rechtsgeschichte bei Ernst Immanuel Bekker, ebelsbach: rolf Gremer/ ebelsbach verlag, 1984, 92 ff.

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zeugen kann und schlußfolgerungen, die kein ausweichen gestatten“. Grundsätzlich sei dabei „die Hypothese … geradezu unentbehrlich … die wissenschaftliche forschung hat sich … der Hypothese zu adaptieren und entsprechende neue Wahrnehmungen zu machen, bis es gelungen ist, die Hypothese entweder zu widerlegen oder festzustellen.“14. dieses verfahren gelte für jede „wahre Wissenschaft“, für die rechtswissenschaft wie für die naturwissenschaft15. 3. staMMler 1888 1888 setzte sich in einer abhandlung, von der Bergbohm später meinte, „dass sie jeder gelesen hat“16, rudolf stammler mit Merkel, Bekker und anderen vertretern einer empirisch-wissenschaftlichen Methode auseinander17. stammler sprach allen versuchen, aus dem positiven recht folgerungen zu ziehen, ihre Wissenschaftlichkeit ab. Wissenschaftliche kenntnis sei nur empiriefrei, apriorisch zu erreichen. interessant an dieser, sich ausdrücklich ebenfalls auf kant, aber eben auch auf cohen berufenden argumentation, ist stammlers auseinandersetzung mit der naturwissenschaftlichen Methode. stammler kritisierte zunächst Merkels vergleich mit Medizin und Botanik. Weder normalmensch noch normalpflanze könnten objekte der erfahrung sein, sondern würden nur in der idee bestehen18. diesen einwand vorwegnehmend hatte Merkel auf einen alten scherz verwiesen, demzufolge der „philosophierende deutsche, um das Wesen des kamels zu bestimmen, nicht etwa das lebendige tier beobachte, sondern abgekehrt von der positiven erscheinung, aus der tiefe seines Gemüts schöpfe“19. stammler wollte jedoch recht und kamel als Gegenstände der Wissenschaft scharf trennen. er untersuchte dies unter der fragestellung, „ob die rechtserzeugung ihrerseits unter der kausalität naturnothwendig wirkender Ursachen oder unter der der vernunft stände“20. sehe man recht als rein empirisches Phänomen an, so unterscheide es sich nicht von anderen Gegenständen unserer erfahrung. damit entstehe recht, so stammler, jedoch nicht mehr frei, durch die sittliche vernunft: „eine 14 ernst immanuel Bekker, Ernst und Scherz über unsere Wissenschaft. Festgabe an Rudolf von Jhering zum Doctorjubiläum, leipzig: Breitkopf und Härtel verlag, 1892, 22, 29. 15 Bekker (fn. 14), 29. 16 karl Magnus Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie. Kritische Abhandlungen, Bd. 1 (= alles erschienene), leipzig: anton Hain kG verlag, 1892, nd Glashütten im taunus 1973, 141 anm. 15. diese feststellung macht stammlers schrift historisch interessant, auch wenn, wie zumeist in der stammler-forschung betont, stammler hier noch kein ausgereiftes eigenes konzept vorlegte, vgl. zum Umgang mit stammlers frühschrift etwa: Matthias Wenn, Juristische Erkenntniskritik. Zur Rechts- und Sozialphilosophie Rudolf Stammlers, Baden-Baden: nomos verlag, 2003, 93 ff.; zutreffende Hervorhebung dieser schrift in ihrer Bedeutung für die zeitgenössische rechtswissenschaftliche diskussion durch annette Wittkau, Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, 2. a., Göttingen: vandenhoeck und ruprecht verlag, 1994, 80 ff. 17 rudolf stammler, über die Methode der geschichtlichen rechtstheorie, in: Festgabe zu Bernhard Windscheids fünfzigjährigem Doktorjubiläum, hg. v. rudolf stammler/theodor kipp, Halle a. s.: Max niemeyer verlag, 1888, nd aalen: scientia verlag, 1979. 18 stammler (fn. 17), 21. 19 Merkel (fn. 9), 412. 20 stammler (fn. 17), 19.

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empirisch vorliegende erscheinung wirkt nach dem naturgesetze der kausalität oder gar nicht. Wie sollte man aus ihr und nur durch sie ein ‚soll‘ rechtfertigen?“21. stammler verknüpfte damit eine radikale erkenntniskritische trennung zwischen sein und sollen mit dem alten disput um freiheit oder notwendigkeit als entstehungsgrund des rechts. Wenn recht freies Produkt der sittlichen vernunft war, dann war ein wissenschaftlicher Umgang mit recht auf die frage verwiesen, „was als a priori feststehender Zielpunkt und Maßstab für alles recht sich angeben und formulieren lasse“22. eine Beschäftigung mit dem empirischen recht konnte keine wissenschaftlichen ergebnisse bieten. aus der verabschiedung dieses Untersuchungsgegenstandes folgte zwanglos ein abschied vom verfahren der zweihändigen vernunft, mit anschauung und Begriff, Hypothese und kausalität. naturwissenschaft konnte für stammler kein Methodenvorbild sein. 4. HeInrIcH rIckert 1888 1888, also im gleichen Jahr, in dem stammlers Methodenprogramm erschien, promovierte Heinrich rickert bei Windelband zur lehre von der definition23. rickert entwickelte hier die Grundlagen seiner Unterscheidung zwischen natur- und kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung. rickert untersuchte den Unterschied zwischen juristischen und naturwissenschaftlichen definitionen. für juristische definitionen stellte er heraus, „dass durch rein logische Ueberlegungen, ohne Zuhilfenahme eines materialen Gesichtspunktes, wesentliche von unwesentlichen Gesichtspunkten nicht unterschieden werden können“24. Um einen juristischen Begriff bilden zu können, bedürfe es der Berücksichtigung des Zweckes, den der Gesetzgeber mit der normsetzung verfolgt habe. Juristische Begriffe dienten also der vermittlung eines zwecksetzenden Willens25 mit der hierdurch zu steuernden Wirklichkeit. demgegenüber fehle es bei der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung an diesem Bedürfnis, einen zwecksetzenden Willen umzusetzen. naturforscher würden tatsachen aus einem erkenntnisleitenden, fachspezifischen Gesichtspunkt betrachten und hieran ihre begriffliche Gliederung ausrichten. Wichtigstes richtigkeitskorrektiv sei dabei die Hypothese26. rickert legte also bereits in seiner dissertation die Grundlagen für seine spätere kritik am Methodenmonismus. interessant dabei ist, dass es von anfang an die juristische Begriffsbildung war, die er als Hauptbeispiel für eine später so genannte empirische kulturwissenschaft ansah. in seinen „Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“ stellte rickert 1896–1902 dann deutlicher der sinnvollen kultur die sinnfreie natur entgegen. kulturwissenschaften wie die rechtswissenschaft verfuhren daher individualisierend und wertbeziehend, naturwissenschaften generalisierend und wertindifferent27. 21 stammler (fn. 17), 25. 22 stammler (fn. 17), 25. 23 Heinrich rickert, Zur Lehre von der Definition, freiburg i. Br.: Mohr verlag, 1888. ich danke rainer a. Bast für die Bereitstellung der erstauflage. 24 rickert (fn. 23), 34. 25 rickert (fn. 23), 30. 26 rickert (fn. 23), 35. 27 Prägnanter überblick bei Herbert schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, 5. a.,

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in den folgejahren verschob sich der fokus der auseinandersetzung mit den naturwissenschaften bei rickert stärker zur frage, inwieweit rechtsphilosophie Wertphilosophie sein könne28. er kritisierte seit 1896 in seinen „Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“ und im 1899 erscheinenden vortrag „kultur und naturwissenschaft“ den naturalismus. der juristische naturalismus gehe davon aus, „dass ebenso wie die naturwissenschaft mit den Gesetzesbegriffen zum unbedingt allgemeinen vordringt und in ihm das wahre Wesen der dinge findet, es auch möglich sei, in dem positiven gegebenen rechte das Wesentliche vom Unwesentlichen durch Bildung eines allgemeinen“ zu sondern29. scharf trat später dann lask dem irrtum entgegen, „es könne die empirische forschung durch bloße steigerung und Generalisierung des systematisierens plötzlich in ‚Philosophie‘ umschlagen“30. der juristische naturalismus sei nichts anderes „als eine Weltanschauung … eine inkonsequente, unkontrollierte, dogmatische art des Wertens“31. rickert und lask reduzierten in ihrem Methodendualismus die rechtswissenschaft auf eine rechtswirklichkeitsbetrachtung. lask unterschied die „Jurisprudenz“, die sich mit den abstrakten „normbedeutungen“ der rechtssätze beschäftige, von einer „sozialtheorie des rechts“, die die faktische realität des rechtslebens untersuche32. dieser rechtswirklichkeitsbetrachtung stellte er bekanntlich eine rechtsphilosophie als rechtswertbetrachtung gegenüber. das Ziel einer „metaphysikfreien rechtsphilosophie“33 hieß nun nicht, wie bei stammler, a priori zu arbeiten, vielmehr forderte lask auch hier die Beschränkung des Blicks auf die „empirische Wirklichkeit“ als „einzige art von realität“34. rechtswertbetrachtung frage dann nach der „überempirische[n] Bedeutung des empirischen rechts“, wobei der ontologische status der „absoluten Geltung“ derartiger überempirischer rechtswerte bei lask diffus blieb. der Zugang des juristischen neukantianismus zum so genannten naturalismus im recht war also primär ein methodischer. es ging um Begriffsbildung, systemzusammenhang und Wertung. nur am rande interessierten andere Perspektiven auf den rechtsnaturalismus, die uns heute mehr beschäftigen. evolutionstheoretische überlegungen passten nicht in das Methodenprogramm der neukantianer. als im Umfeld Häckels die Preisfrage gestellt wurde: „Was lernen wir aus den Prinzipien der deszendenztheorie in Beziehung auf die innerpolitische entwicklung und Gesetzgefrankfurt a. M.: suhrkamp verlag, 1994, 219 ff. 28 Genauer zum nachfolgenden christian krijnen, Nachmetaphysischer Sinn. Eine problemgeschichtliche und systematische Studie zu den Prinzipien der Wertphilosophie Heinrich Rickerts, Würzburg: königshausen & neumann verlag, 2001; daneben die Beiträge in alexy et al. (fn. 5), insbesondere diejenigen von Mohr, sprenger und Bohlken; interessant daneben alexander riebel, die konstitution der Wirklichkeit in den Wissenschaften. Zur philosophischen Begründung des Gesetzesbegriffs bei Heinrich rickert, in: Gesetz und Gesetzlichkeit in den Wissenschaften, hg. v. Wolfgang Bock, darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2006, 157 ff. 29 Heinrich rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 2. neubearb. a., tübingen: Mohr verlag, 1913, 729. 30 emil lask, Rechtsphilosophie, erstmals 1905, nachfolgend zitiert nach eugen Herrigel (Hg.), Emil Lasks Gesammelte Schriften, tübingen: Paul siebeck verlag, 1923, 307. 31 lask (fn. 30), 281. 32 vgl. hierzu eike Bohlen, der Wertbegriff des rechts in der rechtsphilosophie emil lasks und Heinrich rickerts, in: alexy et al. (fn. 5), 283 ff., 286. 33 lask (fn. 30), 279. 34 lask (fn. 30), 279 f.; rickert (fn. 29), 730.

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bung der staaten“35, entgegnete stammler knapp: „nichts!“36. radbruch warnte 1914 vor jedem verlust „feinerer kulturziele“: „Wenn die Muscheltiere rassentheoretiker wären, gäbe es keine Perlen mehr“37. als immerhin franz v. liszt 1906 die ansicht vertrat, aus dem seienden als einem geschichtlich Gewordenen könne man das Werdende bestimmen, entgegnete radbruch kühl: „das seinsollende lasse sich nimmermehr aus dem seienden deduzieren“38. ebenfalls randständig blieb die auseinandersetzung der neukantianer mit der damit zusammenhängenden frage der Willensfreiheit. dies lag daran, dass der disput zwischen indeterminismus und determinismus, der das strafrecht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gespalten hatte, seine praktische relevanz verloren hatte. inhaltlich waren die aus diesen Grundpositionen gezogenen praktischen Unterschiede inzwischen marginal39. ein gedanklicher schwerpunkt des neukantianismus lag in diesen Positionen nicht mehr. Mit Blick auf die methodischen fragen zeigte sich: drei Methodenprogramme beriefen sich auf kant. rechtswissenschaftler und rechtshistoriker wie Bekker oder Merkel glaubten auf kantischer Grundlage eine einheitsmethode für alle Wissenschaften zu besitzen, stichwort: Hypothese und kausalität. Hiergegen traten, eher unter Marburger einfluss, stammler und südwestdeutsch, rickert und lask an. Mit stammler vereinte rickert und lask die ablehnung der naturwissenschaften als vorbild für die rechtswissenschaft und damit die ablehnung eines Methodenmonismus. daraus folgte ein dreifaches. Erstens konnte der Jurist seine Begriffe nicht einfach aus den naturwissenschaften entnehmen. er musste sie mit Blick auf ihre juristische aufgabe formulieren. Zweitens fand die vorstellung kritik, dass es möglich sein solle, aus positivem recht absolute rechtswahrheiten zu generieren. Drittens ging es um die frage, wie Zusammenhänge innerhalb des rechts methodisch gefunden werden sollten. die neukantianer lehnten die vorstellung ab, man könne wie Gattungen und arten ein wissenschaftliches system des positiven rechts bilden. 5. dIe

krItIk IM sPIegel recHtswIssenscHaft

neukantIanIscHe

zeItgenössIscHen

der

die philosophischen ausgangspunkte dieser Positionen werden seit langem diskutiert. Bekannt ist, dass stammler sich nicht als neukantianer verstanden wissen 35 vgl. Heinrich ernst Ziegler, einleitung zu dem sammelwerke natur und staat, in: Natur und Staat. Eine Sammlung von Preisschriften, hg. v. Heinrich ernst Zieglier/Johannes conrad/ernst Haeckel, Jena: Gustav fischer verlag 1903, 3; zu diesem zeitgenössisch viel beachteten Wettbewerb vgl. Julia szemerédy, Ludwig Kuhlenbeck. Ein Vertreter sozialdarwinistischen und rassetheoretischen Rechtsdenkens um 1900, Zürich: schulthess verlag, 2003, 2 ff. 36 rudolf stammler, Die Lehre vom Richtigen Rechte, Berlin: Guttentag verlag, 1902, 616: die lehre liege auf dem Gebiet der naturerkenntnis und könne soziale Phänomene nicht erklären. 37 Gustav radbruch, Rechtsphilosophie, 1914 = arthur kaufmann (Hg.), Gustav Radbruch Gesamtausgabe. Rechtsphilosophie II, Heidelberg: c. f. Müller Juristischer verlag, 1993, 32. 38 Gustav radbruch, „franz v. liszt. das ‚richtige‘ recht in der strafgesetzgebung“, ZStW 26 (1906), 553 ff., 556. 39 sehr guter überblick bei Heinz Holzhauer, Willensfreiheit und Strafe. Das Problem der Willensfreiheit in der Strafrechtslehre des 19. Jahrhunderts und seine Bedeutung für den Schulenstreit, Berlin: erich schmidt verlag, 1970, 191 ff.

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wollte, auch kant teilweise scharf kritisierte40, während im Gegenzug cohen in stammlers rechtsphilosophie ein „Preisgeben der ethik und der Philosophie“ anprangerte41. auch die vorläufer der rickertschen Gedanken, etwa bei lotze oder Windelband, sind sehr oft erörtert worden42. kaum Beachtung hat demgegenüber die einbindung dieser Gedanken in die zeitgenössische rechtswissenschaftliche diskussion gefunden. Besonders stammler, der seine kritik immer an der zeitgenössischen rechtswissenschaft ausrichtete, aber auch rickert bewegten sich jedoch nicht nur im philosophischen, sondern gerade auch im zeitgenössischen rechtswissenschaftlichen Gespräch. ihre Positionen bekommen in dieser Perspektive neue konturen. Blickt man zunächst auf die kritik an der vorstellung, man könne dem positiven recht absolute Begriffe mit überpositivem charakter entnehmen, so dürfte diese kritik 1888 wenig Widerstand gefunden haben. stammlers angriffe fanden seitens der kritisierten Pandektistik keine replik. Bergbohm meinte 1892 fast flehend: „sind denn gar keine Partisanen des reinen Historismus mehr vorhanden, die sich durch stammlers schrift provoziert fühlten?“43. 1884 hatte Jhering bereits ein Zeitgefühl getroffen, als er unter vielfachem Beifall der Zeitgenossen gegen die täuschung anschrieb, „als ob die Begriffe bloß weil sie einmal da sind, die Geltung unumstößlicher Wahrheiten beanspruchen können“44. seine kritik der „Begriffsjurisprudenz“ trug viel zur bis heute andauernden diskreditierung der Pandektistik bei45. in diesem kontext geriet nicht nur die gesamte ältere Jurisprudenz um savigny unter Metaphysikverdacht, sondern auch die erst Mitte der 1850er Jahre entworfene „Juristische Methode“ der Pandektistik46 um Windscheid, Jhering, Brinz, kuntze oder eben Bekker. Bereits 1885 stellte Bekker nüchtern fest: „keine Wissenschaft ist so wenig populär wie die unsre“47. der von stammler und rickert erhobene vorwurf, Metaphysik zu produzieren, war also teil einer größeren Gegenbewegung gegen die Historische rechtsschule, die Pandektistik und die zeitgenössische rechtshistoriographie. Hier boten stammler und rickert wenig neues. auch das philosophische kernproblem, wie man dann das recht vor kontingenz retten und philosophische Wertaussagen treffen könne, war natürlich nicht typisch neukantianisch. die frage, wie man dem Positiven überhaupt

40 vgl. rudolf stammler, rechtsphilosophie, in: Das gesamte Deutsche Recht, Bd. 1, hg. v. rudolf stammler, Berlin: stilke verlag, 1931: „die ‚neukantianer‘, zu denen, als geschlossene schule, der schreiber dieser Zeilen sich selbst niemals gezählt“, hierzu rückert (fn. 5), von kant zu kant?, 100 anm. 57. 41 Hermann cohen, Ethik des reinen Willens, 2. a., Berlin: cassirer verlag, 1907, 214; hierzu eggert Winter, Ethik und Rechtswissenschaft. Eine historisch-systematische Untersuchung zur Ethik-Konzeption des Marburger Neukantianismus im Werke Hermann Cohens, Berlin: duncker & Humblot verlag, 1980, 262. 42 vgl. nur schnädelbach (fn. 27), 206 ff. 43 Bergbohm (fn. 16), 142. 44 Bekker (fn. 14), 344. 45 vgl. Hans-Peter Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die ‚Begriffsjurisprudenz‘, frankfurt a. M: vittorio klostermann verlag, 2004, 28 ff., 46 ff. 46 vgl. Gagnér (fn. 12), 379 ff. 47 ernst immanuel Bekker, „aus den Grenzmarken der geschichtlichen rechtswissenschaft“, ZRG RA 6 (1885), 84.

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Philosopheme entnehmen könne, war bereits um 1800 breit diskutiert worden48. in den diskussionen um allgemeine rechtslehren seit den 1870er Jahren versuchte nahezu jeder, philosophische, allgemeine aussagen dem kontingenten stoff zu entnehmen49. keiner wollte das freilich als Metaphysik verstanden wissen, fast alle retteten sich auf die vorstellung, ihre aussagen seien nur „formal“ – so auch rickert und stammler. 6. naturalIstIscHe und teleologIscHe begrIffsbIldung IM kontext der 1880er JaHre von der zeitgenössischen rechtswissenschaft mit großem interesse verfolgt wurde dagegen die besonders von rickert propagierte vorstellung eines Gegenbildes zwischen einer naturwissenschaftlichen und einer juristischen Begriffsbildung. rickert sprach hier eine breite strömung in der rechtswissenschaft an, die übernahmen naturwissenschaftlicher Begriffe in das recht zunehmend ablehnend gegenüberstanden. radikale Positionen, etwa der extreme sensualismus von ludwig knapp von 1857 oder salomon strickers Physiologie des rechts von 1884, fanden in der rechtswissenschaft wenig Beachtung50. experimente mit dem nutzen naturwissenschaftlich geprägter Begriffe für die rechtswissenschaft fanden sich zwar durchaus verbreitet, stets war aber der einwand, verschiedene Begriffsebenen zu vermengen, nicht weit. dies zeigt etwa die diskussion um Zitelmanns 1879 vorgelegten versuch, erkenntnisse der Psychologie für das verständnis der Willenserklärung nutzbar zu machen51. schon der erste rezensent, ernst immanuel Bekker, hielt ihm entgegen,

48 vgl. schröder (fn. 8); Joachim rückert, Heidelberg um 1804, oder: die erfolgreiche Modernisierung der Jurisprudenz durch thibaut, savigny, Heise, Martin, Zachariä u. a., in: Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800, hg. v. friedrich strack, stuttgart: klett cotta verlag, 1987, 83 ff. 49 vgl. die überblicke bei andreas funke, Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie. Entwicklung und gegenwärtige Bedeutung der Rechtstheorie um 1900, tübingen: Mohr verlag, 2004, insb. 18 ff.; annette Brockmöller, Die Entstehung der Rechtstheorie im 19. Jahrhundert in Deutschland (= studien zur rechtsphilosophie und rechtstheorie 14), Baden-Baden: nomos verlag, 1997; gut daneben zur wissenschaftstheoretischen diskussion in der rechtswissenschaft um 1900: thomas duve, Normativität und Empirie im öffentlichen Recht und der Politikwissenschaft um 1900, ebelsbach: aktiv druck & verlag GmbH, 1998, insb. 239 ff. 50 vgl. zu knapp und stricker: Hubert treiber, Zur Physiologie des rechts oder der Muskel als scharnierbegriff, in: Physiologie und industrielle Gesellschaft, hg. v. Philipp sarasin/Jakob tanner, frankfurt a. M.: suhrkamp verlag, 1998, 170 ff.; allgemein zur Wirkung der naturwissenschaften auf die rechtswissenschaft: rainer Maria kiesow, Das Naturgesetz des Rechts, frankfurt a. M.: suhrkamp verlag, 1997, 11 ff. und passim (zentriert auf die evolutionstheorie); dieter simon, „Jurisprudenz und Wissenschaft“, Rechtshistorisches Journal 7 (1988), 141 ff.; dieter v. stephanitz, Exakte Wissenschaft und Recht. Der Einfluß von Naturwissenschaft und Mathematik auf Rechtsdenken und Rechtswissenschaft in zweieinhalb Jahrtausenden, Berlin: de Gruyter verlag, 1970, 148 ff. 51 ernst Zitelmann, Irrtum und Rechtsgeschäft. Eine psychologisch-juristische Untersuchung, leipzig: duncker & Humblot verlag, 1879; vgl. hierzu seine selbstbiographie, in: Die Rechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 1, hg. v. Hans Planitz, leipzig: felix Meiner verlag, 1924, 183 und Martin Josef schermaier, Die Bestimmung des wesentlichen Irrtums von den Glossatoren bis zum BGB, Wien: Böhlau verlag, 2000, 519 ff.

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Hans-Peter Haferkamp „dass der Gesetzgeber stets neben dem rathe des Psychologen noch dies und jenes, wer weiß was alles zu beachten haben wird, und dass sein endlicher entscheid als Produkt sämmtlicher faktoren sich darstellen muss. kann sein, dass in diesem Gesammtresultat der psychologische rath gar nicht mehr bemerkbar scheint, wenn nämlich die von ihm bedingten Wirkungen durch andere entgegenwirkende kräfte aufgehoben sind“52.

ähnlich kritisierte emil Pfersche 1891 an Zitelmann, dieser habe übersehen, dass die „tendenz der psychologischen und der juristischen auffassung … durchaus verschieden“ seien. Während, „wie alle naturvorgänge“, die „psychische erscheinung des Wollens einen ununterbrochenen fluss des Geschehens“ biete, müsse die juristische Beurteilung „zu praktischen Zwecken und nach praktischen rücksichten“ das Geschehen in einzelvorgänge aufspalten, um „scharfe begriffliche scheidungen“ zu ermöglichen53. Pfersche kam rickerts überlegungen von 1888 recht nah, die auch von der frage ausgegangen waren, wie man „wesentliche“ und „unwesentliche“ Merkmale voneinander trennen könne54. etwas früher als rickert hatte bereits Georg Jellinek ähnliche Gedanken mit Blick auf die strafrechtlichen debatten um kausalität und Zufall formuliert: „die natürliche Welt und die des Juristen decken sich nicht“. Beim Begriff des Zufalls erblicke der Jurist oftmals „gerade da Zufall …, wo für den naturforscher sein gerades Gegenteil vorhanden wäre“ 55. Zeittypisch war auch, dass Jellinek in diesem Zusammenhang als Unterscheidungsmerkmal für die ausbildung juristischer Begriffe den Zweck der rechtsordnung benannte56. auch rickert sprach 1888, entgegen der späteren Begrifflichkeit, nicht vom Wertbezug, sondern benannte das entscheidungskriterium für die Merkmalswahl der Juristen ebenfalls als „Zweck des rechts“57. er verwies hierfür auf Jherings „Geist des römischen rechts auf den verschiedenen stufen seiner entwicklung“, der im berühmten § 59 an die stelle des Willens wirkungsreich andere Zwecke (nutzen, Gut, Wert, Genuss, interesse) des rechts gesetzt hatte. dieses Buch, weniger Jherings späterer Zweck des rechts58, dürfte auf rickert und seine Zeitgenossen größte Wirkung ausgeübt haben59. den Zweck einer norm hatten Juristen traditionell als teil der so genannten logischen auslegung immer beachtet60. immer wieder hatte man den richter auch auf den „Geist der rechtsordnung“ verwiesen61. das schlagwort des „Zwecks“ als „schöpfer des rechts“ hatte gleichwohl 1888 hohe se52 ernst immanuel Bekker, rez. Zitelmann, KritVj 22 (1880), 34. 53 emil Pfersche, Die Irrthumslehre des Österreichischen Privatrechts mit Berücksichtigung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Graz: leuschner & lubensky verlag, 1891, 21. 54 rickert (fn. 23), 26 ff. 55 Georg Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, Wien: Hoelder verlag, 1878, 99. 56 vgl. hierzu Jens kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, tübingen: Mohr verlag, 2000, insb. 58 ff., 159 ff. 57 rickert (fn. 23), 33. 58 Zusammenstellung vieler kritischer stellungnahmen zu diesem Buch bei erik Wolff, Grosse Rechtsdenker der Deutschen Geistesgeschichte, 4. a., tübingen: Mohr verlag, 1963, 650 f. 59 Beispielhaft attestierte emil lask Jherings Geist den „ruhm einer ersten umfassenden Untersuchung über den rechtsformalismus“, lask (fn. 30), 317. 60 überblick bei Jan schröder, Recht als Wissenschaft, München: Beck verlag, 2001, 143 ff.; zum späteren übergang zu den vier auslegungskanones im 20. Jahrhundert vgl. thomas Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, ebelsbach: Gremer verlag, 1982, 31 ff. 61 vgl. nur Joachim rückert, Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, Hannover: Juristische studiengesellschaft, 1988, 40.

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mantische kraft. terminologisch schlug rickert in seinen „Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“ die Unterscheidung zwischen naturalistischer und teleologischer Begriffsbildung vor62. in seinem etwas anderen ansatz unterschied auch rudolf stammler in „Wirtschaft und recht“ 1895 zwischen einer „kausalen“ erkenntnisweise der naturwissenschaften und einer „teleologischen“ erkenntnisweise, als eines ordnens nach „Zwecken“, bei den sozialwissenschaften63. obwohl rickert später diese Begriffswahl als missverständlich ablehnte64, setzte sich teleologie vs. naturalismus bzw. kausalität nachfolgend durch. lask sprach davon, dass das recht die von ihm geregelten Gegenstände mit einem „teleologischen Gespinst“ überziehe65. auch radbruch hielt später an dieser Begriffswahl fest66. 7.

teleologIscHe begrIffsbIldung „In

actIon“

Um 1900 wurden einflüsse der neukantianischen naturalismuskritik in der rechtswissenschaft spürbar. der Marxist Max adler sah 1904 bereits „kausalität und teleologie im streit um die Wissenschaft“67. das um 1900, so zutreffend lask, „bei weitem am meisten kultivierte Gebiet der rechtsphilosophie“68 war die juristische logik. in einer flut von Methodenschriften versuchte die rechtswissenschaft logische und wertende, objektive und subjektive kriterien bei der juristischen arbeit zu trennen. Hier traten stammlers orientierung des rechts an einem „sozialen ideal“ und rickerts wertbeziehende logik in konkurrenz zu anderen Methoden. Zugleich wurde es nun deutlicher juristisch-konkret, der heuristische Wert der neuen Methodologie geriet auf den Prüfstand. in diese debatten möchte ich einige kleine einblicke tätigen, die die Möglichkeiten und Probleme der antinaturalistischen Begriffsbildung aufzeigen sollen. ich bediene mich hierzu der Beispiele, die insbesondere lask, stammler und radbruch für den konflikt zwischen naturalistischen und teleologischen Begriffsbildungen nannten. die Begriffe, die sie aufzählten, waren zumeist sehr grundsätzlich: Handlung, kausalität, freiheit, Wille und Person. Beginnen möchte ich jedoch mit dem Begriff „Hund“. radbruch meinte: „eine kreuzung von Hund und Wolf könnte als Hund im sinne des Hundesteuergesetzes aufgefasst werden ohne rücksicht darauf, ob ihn der Zoologe noch als exemplar von canis familiaris betrachten würde“69. Manch leser dieser sätze wird an einen berühmten fall gedacht haben, der, wohl auf Jhering zurückgehend, bis heute die Methodenlehre durchzieht70: Jhering hatte 62 Heinrich rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, hier nach 2. a., tübingen: Mohr verlag, 1913, 336 f. 63 rudolf stammler, Wirtschaft und Recht, hier nach 5. a., Berlin: de Gruyter verlag, 1924, 339 ff.; hierzu: Wenn (fn. 16), 69 ff. 64 Heinrich rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 3. a., tübingen: Mohr verlag, 1915, 101 ff. 65 lask (fn. 30), 316. 66 vgl. etwa Gustav radbruch, Rechtsphilosophie, 3. a. 1932 = arthur kaufmann, Gustav Radbruch Gesamtausgabe. Rechtsphilosophie II, Heidelberg: c. f. Müller Juristischer verlag, 1993, 117 ff. 67 so dessen gleichnamige schrift, Wien: Brand verlag, 1904. 68 lask (fn. 30), 307. 69 radbruch (fn. 37), 192. 70 vgl. etwa Gustav radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 11. a., stuttgart: k. f. kohler

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gefragt, ob einem Bären der Zutritt zu einem Bahnhof verwehrt werden könne, wenn normiert sei: „Hunde müssen draußen bleiben“. Jhering hatte hier ein Beispiel für eine analogie gesehen, also einen klassischen ähnlichkeitsschluss: ein Bär ist kein Hund. ein Hund ist jedoch einem Bären ähnlich. also gilt das Hundeverbot analog für Bären. diese nähe zur analogie ist kein Zufall. rickert hatte seine Methode ebenfalls an einem Beispiel erklärt, welches er Jhering entnahm, das dieser aber „in einem etwas andern Zusammenhang“ benutzt habe71. dieses Beispiel war die Münzfälschung im übergang zum Papiergeld, und Jhering hatte auch hier ein Beispiel für eine analogie gesehen. rickerts Methode trat aber nicht nur in konkurrenz zur analogie, sondern auch zu einem anderen altehrwürdigen argument, der fiktion: ein Bär ist kein Hund. er wird jedoch als Hund fingiert und unterfällt daher der direkten anwendung des Hundeverbotes. teleologische Begriffsbildung konkurrierte damit direkt mit zwei anderen argumentationsformen: analogie und fiktion. dass mit teleologischer Begriffsbildung ein ersatz für die arbeit mit fiktionen gefunden war, wurde zeitgenössisch zweifelsohne begrüßt72. fiktionen waren einst vor allem von savigny und mit Blick auf das römische vorbild propagiert worden. Ziel war rechtsfortbildung bei gleichzeitiger einbindung in die sinnzusammenhänge des bereits bestehenden rechts: „entsteht eine neue rechtsform, so wird dieselbe unmittelbar an eine alte, bestehende angeknüpft, und ihr so die Bestimmtheit und ausbildung derselben zugewendet.“73 dieser aspekt wurde vor allem im heftigen streit um die rechtsnatur der Juristischen Person verschüttet. viel zitiert wurde nun Brinz’ Bezeichnung von savignys juristischer Person als „vogelscheuche“74 oder Jherings Bild des als fortlebend fingierten erblassers als „pythagoreische seelenwanderung“75. fiktionen waren um 1900 methodisch in der defensive. strafrechtlich besonders interessant war das verhältnis der teleologie zur analogie. die Zusammenhänge wurden in einem der berühmtesten streitpunkte der strafrechtsgeschichte deutlich76, der um 1900 diskutierten frage, ob elektrizität eine sache im sinne des § 242 stGB sei. das reichsgericht hatte in zwei entscheidungen zwei aspekte herausgestellt, die vorliegend von interesse sind. Zunächst hatte es gefordert, dass elektrizität eine körperliche sache sein müsse, um nach verneinung dieser eigenschaft festzustellen: dann käme nur eine analoge ausdehnung von

71 72 73 74 75 76

verlag, 1964, 165 f; stephan Meder, Missverstehen und Verstehen. Savignys Grundlegung der juristischen Hermeneutik, tübingen: Mohr siebeck verlag, 2004, 198. rickert (fn. 23), 31 unter Hinweis auf rudolf von Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. 1, 3. a., leipzig: Breitkopf und Härtel verlag, 1873, anm. 33. vgl. hierzu Hans-Peter Haferkamp, „Methodenehrlichkeit“? die juristische fiktion im Wandel der Zeiten, in: Zivil- und Wirtschaftsrecht im Europäischen und Globalen Kontext. Festschrift für Norbert Horn zum 70. Geburtstag, hg. v. klaus-Peter Berger, Berlin: de Gruyter verlag, 2006, 1077 ff. friedrich carl von savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg: Mohr und Zimmer verlag, 1814, 32. alois Brinz in der vorrede zu seinem Lehrbuch der Pandekten, erlangen: deichert verlag, 1857, xi. Bekker (fn. 14), 11. vgl. Miloš vec, der stromklau vor dem reichsgericht – rechtsprechung, Wissenschaft und Gesetzgebung elektrifizieren das recht, die strafrichter bekräftigen das Gesetzlichkeitsprinzip, in: Fälle aus der Rechtsgeschichte, hg. v. Ulrich falk/Michele luminati/Mathias schmoeckel, München: Beck-verlag, 2007.

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§ 242 stGB in Betracht, was jedoch gegen nulla poena sine lege verstoßen würde77. Wenig später vertiefte ein anderer senat die frage der körperlichkeit, indem er den „heutigen stande der Physik“ in der frage, ob körperlichkeit vorliege, entscheiden ließ78. in neukantianischer Perspektive lag damit ein klassischer fall verfehlter naturalistischer Begriffsbildung vor. eduard kohlrausch nutzte im Jahr 1900 diesen aspekt zu einer „kritik der begriffsbildenden Methode überhaupt, zu einer abgrenzung der Jurisprudenz von anderen Wissenschaften“79. Unter Berufung auf Jellineks diktum: „es ist die Welt der menschlichen Zwecke und Werte, in welcher das rechtssystem seine stelle hat“80 entschied kohlrausch die strafbarkeit des elektrizitätsdiebstahls nicht nach dem sachbegriff, sondern nach dem Zweck des diebstahlschutzes: schutz der tatsächlichen sachherrschaft und schutz des eigentums81, um zu einer strafbarkeit des elektrizitätsdiebstahls zu gelangen. an die stelle der durch „naturalistische“ Begriffe geforderten analogie war damit eine teleologische Gesetzesauslegung getreten. kohlrausch konnte die ungeheure Bedeutung des nulla poena Grundsatzes betonen und dann entspannt feststellen, ein verstoß gegen diesen Grundsatz liege bei seiner lösung auch gar nicht vor82. radbruch teilte diese ansicht und meinte 1914, als sache im sinne des diebstahlsparagraphen sei all das aufzufassen, „dessen Wegnahme aus fremdem Gewahrsam diebstahlsstrafe verdient“83. kohlrauschs teleologische auslegung des diebstahlsparagraphen wurde noch 1951 von Gallas dafür gelobt, dass dieser „dem herrschenden Begriffsformalismus eine teleologische Betrachtungsweise“ entgegengesetzt habe84. es gab freilich bei kohlrausch ein bemerkenswertes nachspiel. im november 1933 saß kohlrausch in der nationalsozialistisch orientierten strafrechtskommission, die über die abschaffung des analogieverbotes debattierte85. in dieser debatte erinnerte kohlrausch an seine Meinung zum elektrizitätsdiebstahl im Jahr 1900. die abschaffung des analogieverbotes sei weitgehend entbehrlich, wenn man nur eine „sinngemäße, vernünftige auslegung“ vornehme, die den Zweck des Gesetzes in den Blick nehme. kohlrausch meinte nun, aufgabe eines Gesetzes sei immer „die volksanschauung zum ausdruck zu bringen“86. damit ergaben sich als anleitung für den richter: „fordert die Handlung nach gesunder volksanschauung strafe oder keine strafe?“87. kohlrausch wusste im folgenden, die hier zugewiesene freiheit nutzbar zu machen: als es 1938 darum ging, das so genannte „Blutschutzgesetz“ gegen seinen Wortlaut auf auslandstaten 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87

rGst 29, 111 (116) vom 20. 10. 1896. rG in: DJZ iv (1899), 246 ff. eduard kohlrausch, „das ,Gesetz betreffend die Bestrafung der entziehung elektrischer arbeit‘ und seine vorgeschichte“, ZStW 20 (1900), 458 ff., 460. Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1. a., freiburg im Breisgau: Mohr verlag, 1895, 15; kohlrausch (fn. 79), 482 anm. 26. kohlrausch (fn. 79), 482. kohlrausch (fn. 79), 459. radbruch (fn. 37), 191. Wilhelm Gallas, „eduard kohlrausch zum Gedächtnis“, ZStW 63 (1951), 1, 2; hierzu Holger karitzky, Eduard Kohlrausch. Kriminalpolitik in vier Systemen, Berlin: spitz verlag, 2002, 235 f. vgl. Werner schubert/Jürgen regge (Hg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozessrechts, ii. abt., Bd. 2: Protokolle der strafrechtskommission des reichsjustizministeriums. 1. teil, Berlin: de Gruyter verlag, 1988, 5 ff. (sitzung vom 27. november 1933), 22 f. kohlrausch (fn. 79), 22. kohlrausch (fn. 79), 23.

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auszuweiten, forderte kohlrausch konsequent eine teleologische erweiterung des Gesetzes88. 8. auf

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nacH deM

„zweck“

Mit diesem exkurs in den nationalsozialismus soll nun nicht die lehre von der teleologischen Begriffsbildung als protonationalsozialistisch diffamiert werden89 – was wäre das auch angesichts der tatsache, dass nahezu jede Methode nach 1933 missbraucht wurde. kohlrauschs schillernder Zweckbegriff verweist vielmehr auf ein kernproblem, welches schon um 1900 deutlich wurde. Wie war der Zweck, das telos, zu bestimmen? Unterschiedlich wurde bereits beurteilt, welche Quelle man für diesen Zweck befragen müsse. rickert hatte 1888 wesentlich solche Merkmale genannt, „welche dazu beitragen, dass der Wille des Gesetzgebers ausgeführt werde“90. lask betonte 1905 die „verschlingung“ von rechtlicher normbedeutung und „realem substrat im einzelfall“91. er blickte für die „Zweckmäßigkeits- und Gerechtigkeitserwägungen“ der „teleologischen Begriffsbildung“ also stärker in die Wirklichkeit des konkreten falles92. radbruch sah im teleologischen verfahren dagegen auch ein fallenthobenes, eigenständig systembildendes verfahren. auch er sprach aber ziemlich vage von einer „nacherzeugung der rechtssätze aus ihrer Zweckidee“, die er teilweise im rechtsinstitut, teilweise im gesetzgeberischen Willen festmachte93, 1932 aber auch an die „verwirklichung der rechtsidee“ band94. Unklar war insbesondere der in diesem kontext immer wieder mitschwingende kulturbegriff. War es gestattet, eine „kulturordnung“ gegen das Gesetz auszuspielen? die übergänge waren fließend, wie die dargestellte argumentation von kohlrausch nach 1933 zeigt. Um 1900 erweisen sich viele versuche, das recht als zweckdurchsetztes kulturphänomen zu deuten, als schillernd. das gilt etwa für die definition des damals viel gelesenen lorenz Brütt, der 1907 meinte, richtig sei „dasjenige recht, welches die kulturentwicklung des volks nach Möglichkeit fördert und am meisten dazu beiträgt, die nationalen kräfte vom potentiellen in den aktuellen Zustand zu überführen“95. Gerhard sprenger konnte 1991 zeigen, dass um 1900 „kultur“ als polemischer Gegenbegriff ohne klaren inhalt fungierte: „es hat den anschein, als setze man voraus, dass jedermann wisse, was mit diesem Begriff gemeint ist“96. Worum es Juristen dabei ging, lässt sich daher auch nicht begrifflich, sondern nur funktional verstehen: die kulturfundierung des rechts bot ein regulativ gegen 88 eduard kohlrausch, „rasseverrat im ausland: Bemerkungen zu dem Beschluß des Großen senats für strafsachen“, ZAkDR 5 (1938), 335 ff.; hierzu karitzky (fn. 84), 315 ff. 89 Zu dieser debatte karitzky (fn. 84), 235 f., 306 ff., 469 ff. 90 rickert (fn. 23), 31. 91 lask (fn. 30), 318. 92 lask (fn. 30), 322, 321. 93 radbruch (fn. 37), 190 f. 94 radbruch (fn. 66), 352. 95 lorenz Brütt, Die Kunst der Rechtsanwendung. Zugleich ein Beitrag zur Methodenlehre der Geisteswissenschaften, Berlin: Guttentag verlag, 1907, 129. der richter dürfe dies aber nicht contra legem feststellen, 146 f. 96 sprenger (fn. 2), 134.

neukantianismus und rechtsnaturalismus

119

die „Gefängniszellen“97 der Gesetze98. Berolzheimer nannte die „anschauungen unserer kulturstufe“ eine über dem Gesetz stehende rechtsquelle99. der, so Max rumpf, „fluß des kulturgeschehens“100 oder, so erich danz101, der „kulturfortschritt“ oder die, so Bozi102, „allgemeine kulturelle entwicklung“ gegen das Gesetz auszuspielen, trat im Zivilrecht in konkurrenz zu vielen anderen versuchen, dem richter gegenüber dem Gesetz freiheit zu verschaffen. Besonders riskant wurde das immer wieder mit Blick auf das strafrecht. kohlrausch meinte 1903: „es gilt von der strafbaren auf die strafwürdige Handlung zurückzugehen“103. der ihm zustimmende Max ernst Mayer vertrat 1903 die ansicht, dass nur „die kulturnormen über die strafwürdigkeit der Handlung entscheiden“104. auch in dieser ausprägung berührten sich autoren, die sich auf rickert, Windelband oder Jellinek beriefen, mit ganz anderen denkschulen. der von stammler so vehement kritisierte adolf Merkel verlangte, ähnlich wie ernst rudolf Bierling105, für die Geltung eines rechtssatzes etwa, dass der in der norm verkörperte Wert vom volk anerkannt werde106. angesichts der bis heute verbreiteten tendenz, derartige fragen durch eine, wie dieter Grimm einmal schön sagte, „realismusprobe am schreibtisch“107 zu beantworten, waren Hinweise auf volkswillen, rechtskultur oder ähnliches jedenfalls kaum geeignet, juristische entscheidungen vorhersehbar zu machen108. vor allem stammler und radbruch versuchten demgegenüber, das reich der Zwecke zu rationalisieren. rudolf stammler arbeitete seit 1895 am versuch, die formalen Gesetzmäßigkeiten der verschiedenen Zwecklehren aufzudecken, um die richtigkeit von Zweckargumenten im einzelfall nachweisen zu können109. seine 97 Honsell (fn. 60 ), 21. 98 Bester überblick über Gründe dieser Phobie und die die enorme Breitenwirkung dieser debatte bei rainer schröder, die richterschaft am ende des Zweiten kaiserreiches unter dem druck polarer sozialer und politischer anforderungen, in: Festschrift für Rudolf Gmür zum 70. Geburtstag, Bielefeld: Gieseking verlag, 1983, 201 ff.; ders., „die deutsche Methodendiskussion um die Jahrhundertwende: wissenschaftliche Präzisierungsversuche oder antworten auf den funktionswandel von recht und Justiz“, Rechtstheorie 19 (1988), 323 ff., 334 f. die rein methodengeschichtliche Betrachtung („freirecht“, „interessenjurisprudenz“ etc.) schreibt nur polemische abgrenzungen der Zeitgenossen fort und dringt nicht zu den Hintergründen vor. 99 friedrich Berolzheimer, Die Gefahren einer Gefühlsjurisprudenz in der Gegenwart. Rechtsgrundsätze fuer freie Rechtsfindung, Berlin: rothschild verlag, 1911, 602 f. 100 Max rumpf, „rechtsbetrieb heute und vor hundert Jahren“, DRiZ 3 (1911), 319. 101 erich danz, Einführung in die Rechtsprechung, Jena: fischer verlag, 1912, 91. 102 alfred Bozi, „die konsequenzen moderner Gesetzesauslegung für den Begriff des Gesetzes“, DRiZ. 7 (1915), 607. 103 kohlrausch (fn. 79), 1903, 187. 104 M. e. Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, Breslau: schletter verlag, 1903, 85 anm. 11. 105 Zur anerkennungstheorie vgl. funke (fn. 49), 240 ff. u. ö.; Brockmöller (fn. 49), 252. 106 adolf Merkel, elemente der allgemeinen rechtslehre, in: ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiet der allgemeinen Rechtslehre und des Strafrechts, straßburg: trübner verlag 1899, 592; hierzu Brockmöller (fn. 49), 241. Zu den hier durchschimmernden längeren kontinuitätsfragen zwischen „volksgeist“ und „konkretem ordnungsdenken“ Joachim rückert, „das ‚gesunde volksempfinden‘ – eine erbschaft savignys?“, ZRG GA 103 (1986), 199 ff. 107 so dieter Grimm, Solidarität als Rechtsprinzip. Die Rechts- und Staatslehre Léon Duguits in ihrer Zeit, frankfurt a. M.: athenäum verlag, 1973, 29 zur «empirie» duguits. 108 vgl. zu diesen argumentationsformen auch Honsell (fn. 60), 71 ff. 109 Hierzu Wenn (fn. 16); stammler (fn. 40), 69 und ff.

120

Hans-Peter Haferkamp

ankündigungen, darin dem recht einen „Maßstab“, eine „richtschnur“110 zu geben, klangen vor 1914 vielen rechtswissenschaftlern zu material111, nach 1918 sah man eher den fehler darin, dass er materiale erwartungen geweckt hatte, „die er nun enttäuschen musste“112. für radbruch wurde der versuch, ein teleologisches strafrechtliches system zu entwickeln, fast zur lebensaufgabe. er hatte sich 1904 über den Handlungsbegriff habilitiert und diesen dort in einen strafrechtlichen Gesamtbegriffszusammenhang eingeordnet113. schon ein Jahr später stellte er seine arbeit in einem literaturbericht auffallend kritisch vor und bemerkte, er habe übersehen, dass es „neben den systemen, deren Glieder durch die formalen verhältnisse von über- und Unterordnung oder Grund und folge, auch solche gibt, deren Glieder durch das materiale verhältnis von Mittel und Zwecken miteinander verknüpft sind. sollte nicht aber das rechtssystem gerade ein system der letzteren art sein?“114. Brieflich erläuterte er später gegenüber engisch: „ich wusste damals noch nichts von der südwestdeutschen schule. Meine arbeit dreht sich infolgedessen um die Begriffe der systematischen deduktion und klassifikation … ich sah noch nicht die systematik der teleologischen, praktischen verfahren“115. 1930 legte er dann Grundgedanken für eine „teleologische systematik, eine ordnung nach Zwecken und Mitteln“ vor, in der er den früher gewählten Begriff der juristischen Handlung als ausgangspunkt verabschiedete116. 1938 beschloss er seine überlegungen zu dieser frage mit der abhandlung „klassenbegriffe und ordnungsbegriffe im rechtsdenken“117 – bereits in auseinandersetzung mit carl schmitts „konkretem ordnungsdenken“, also im Umfeld einer anderen Geschichte.

110 stammler, (fn. 40) 13, 173. 111 vgl. die Zusammenstellung der kritiker bei Wenn (fn. 16), 189 ff., 199; vgl. konkret etwa die zeitgenössische kritik an seinem versuch, „treu und Glauben“ zu präzisieren bei Hkk-duve/ Haferkamp, § 242, rn. 64. 112 Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen: vandenhoeck und ruprecht verlag, 1962, 187 unter Hinweis auf erich kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, tübingen: Mohr verlag, 1921. 113 Gustav radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der rechtswissenschaftlichen Systematik, Berlin: Guttentag verlag, 1904, insb. 68 ff. 114 Gustav radbruch, literaturbericht rechtsphilosophie 1905, in: Gustav Radbruch Gesamtausgabe. Rechtsphilosophie I, hg. v. arthur kaufmann, Heidelberg: c. f. Müller Juristischer verlag, 1987, 459. 115 Brief an engisch vom 21. 9. 1941, zitiert nach arthur kaufmann, Gustav radbruch – leben und Werk, in: Gustav Radbruch Gesamtausgabe. Rechtsphilosophie I, hg. v. arthur kaufmann, Heidelberg: c. f. Müller Juristischer verlag, 1987, 62 mit fn. 199. 116 Gustav radbruch, Zur systematik der verbrechenslehre, in: Festgabe für Reinhard von Frank zum 70. Geburtstag, Bd. 1, tübingen: Mohr verlag, 1930, 158 ff. 117 Gustav radbruch, „klassenbegriffe und ordnungsbegriffe im rechtsdenken“, Internationale Zeitschrift für die Theorie des Rechts 12 (1938), 46 ff. = arthur kaufmann (Hg.), Gustav Radbruch Gesamtausgabe. Rechtsphilosophie III, Heidelberg: c. f. Müller Juristischer verlag, 1990, 60 ff.

kUrt seelMann, Basel recHtswIssenscHaft

kulturwIssenscHaft – gedanke und seIn fortleben

als

eIn neukantIanIscHer

die rechtswissenschaft galt im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert allgemein als herausgehobenes Beispiel einer kulturwissenschaft. Umso erstaunlicher erscheint auf den ersten Blick, dass bei der renaissance des Begriffs der kulturwissenschaft in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts die rechtswissenschaft praktisch keine rolle mehr spielte. Was – wenn überhaupt etwas – ist eigentlich geblieben von der vorstellung, rechtswissenschaft sei eine kulturwissenschaft? 1. das auftreten

des

begrIffs

der

kulturwIssenscHaft

der Begriff der kulturwissenschaft(en) entstand ende des 19. Jahrhunderts im Umkreis der südwestdeutschen neukantianischen Philosophie. insbesondere Heinrich rickert1 bemühte sich um eine Unterscheidung der naturwissenschaften von denjenigen Wissenschaften, die man seit Wilhelm diltey gewohnt war, als Geisteswissenschaften zu kennzeichnen. der Begriff der Geisteswissenschaften erschien rickert und vielen anderen nunmehr unangemessen, da man ihn als zu vieldeutig ansah – wurde er doch gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer auch psychologisierend und individualisierend verwendet und somit weitgehend auf Bewusstseinsphilosophie eingeengt.2 Hegels Geist-Begriff, der ja als „objektiver“ sowie „absoluter Geist“ auch recht und staat sowie kunst und religion mit umfasste, war nunmehr offenbar im philosophischen diskurs nicht mehr vorherrschend. an die stelle eines im hegelschen sinn verstandenen, die institutionellen und eben kulturellen Gegebenheiten mit umfassenden „Geistes“ trat jetzt bei rickert der Begriff der „kultur“. kultur sollte im Unterschied zur natur als dem „inbegriff des von selbst entstandenen“3 eine andere Wirklichkeit bezeichnen, nämlich „das von einem nach gewerteten Zwecken handelnden Menschen entweder direkt Hervorgebrachte oder, wenn es schon vorhanden ist, so doch wenigstens um der daran haftenden Werte willen absichtlich Gepflegte“4. sie reicht also von religion und recht als vom Menschen Hervorgebrachtem bis zur landwirtschaft als vom Menschen gepflegter natur. schlüsselbegriff ist für rickert dabei der des Werts. „Haftet“ er an der jeweiligen Wirklichkeit, so handelt es sich um kultur, wo nicht, so haben wir es mit natur 1 2 3 4

über ihn Helmuth Holzhey/Wolfgang röd, die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 2, neukantianismus, idealismus, realismus, Phänomenologie, in: Geschichte der Philosophie, Bd. xii, hg. v. Wolfgang röd, München: Beck, 2004, 96 ff. Heinrich rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 5. a., tübingen: Mohr, 1929, 182. Heinrich rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, nachdruck der 6. und 7. a. von 1926, stuttgart: reclam, 1986, 35. rickert (fn. 2), 35.

122

kurt seelmann

zu tun. dabei stellen „Werte“ für rickert wie für die anderen neukantianer keine objektiven vor- oder aussermenschlichen Gegebenheiten dar – Wert ist einfach die façon de parler für das resultat menschlicher Bewertungsakte. viele andere autoren übernehmen dann diese terminologie, z. B. auch Max Weber: „die empirische Wirklichkeit“, so Weber, „ist für uns ‚kultur‘, weil und sofern wir sie mit Wertideen in Beziehung setzen, sie umfasst diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, welche durch jene Beziehung für uns bedeutsam werden …“5 entscheidend ist nun, dass für rickert aus der differenz von natur und kultur die differenz zweier typen von Wissenschaft folgt, eben von naturwissenschaften und kulturwissenschaften. für die kulturwissenschaften kommt es darauf an, dass sie die Wirklichkeit gerade in ihrem Wertbezug erfassen. rickert gesteht zu, dass man insofern auch von einem „verstehen“ im Unterschied zum „Wahrnehmen“ sprechen könne, hält den verstehensbegriff aber für zu vieldeutig, um weiter damit zu arbeiten. Wichtiger ist ihm der Grund dafür, warum man hinsichtlich der kulturwissenschaften überhaupt von einem verstehen reden könne: Weil man sich im Unterschied zu den naturwissenschaften auf einen sinn oder eine Bedeutung beziehe, und sinn und Bedeutung würden eben durch einen jeweiligen „Wert“ konstituiert.6 neben den Unterschieden „Gegeben/Wertbehaftet“ hinsichtlich der objekte der jeweiligen Wissenschaften und „Wahrnehmen/verstehen“ hinsichtlich der Methode der annäherung an ihren Gegenstand gibt es für rickert aber noch eine dritte differenz, welche das verhältnis der kulturwissenschaften zu den naturwissenschaften kennzeichnet: im Unterschied zu den auf das auffinden von Gesetzmässigkeiten hin orientierten naturwissenschaften erfassten die kulturwissenschaften die Bedeutung von einzelereignissen, erkennbar in der Geschichtswissenschaft.7 rickerts lehrer Wilhelm Windelband8 hatte für diese differenz die Begriffe „nomothetisch“ versus „idiographisch“ vorgeschlagen. aber wenngleich für rickert die Geschichtswissenschaft der Prototyp der kulturwissenschaft ist, so bleibt er sich doch dessen bewusst, dass es auch unter den kulturwissenschaften solche mit „generalisierenden Bestandteile(n)“ gibt, die sich nicht nur für die Bedeutung von einzelereignissen interessieren. er nennt in diesem Zusammenhang auch die rechtswissenschaft,9 geht darauf aber nicht weiter ein. 2. dIe recHtswIssenscHaft

als

kulturwIssenscHaft

es ist sein schüler emil lask10, der sich genau dieser Wissenschaft vom recht als einer kulturwissenschaft zuwendet. in einem 1905 erschienenen und mit „rechts5

Max Weber, „die ‚objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer erkenntnis“, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 1, 1904; wieder abgedruckt in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, 3. a., tübingen: Mohr, 1968, 175. 6 rickert (fn. 2), 38. 7 rickert (fn. 2), 42 f. 8 über ihn Holzhey/röd (fn. 1), 89 ff. 9 rickert (fn. 2), 136. 10 über ihn Holzhey / röd (fn. 1), 107 ff.

rechtswissenschaft als kulturwissenschaft

123

philosophie“ bezeichneten festschriftbeitrag von gerade einmal 50 seiten, der an wirkungsgeschichtlicher Bedeutung den Umfang weit überragt, entwickelt er sein verständnis von der rechtswissenschaft als einer kulturwissenschaft.11 für ihn ist die rechtswissenschaft „ein Zweig der empirischen ‚kulturwissenschaften‘“12. sie habe, im Unterschied zur rechtsphilosophie13 als einer reinen Wertwissenschaft (die sich etwa mit dem rechtswert der Gerechtigkeit befasse), wie alle kulturwissenschaften eine schon auf kulturbedeutungen bezogene empirisch erforschbare Welt zum Gegenstand14. dabei unterscheidet lask allerdings noch innerhalb der rechtswissenschaft zwei typen von kulturwissenschaften: die sozialtheorie des rechts erfasse dieses als einen realen kulturfaktor, die Jurisprudenz im engeren sinn dagegen als inbegriff von nur gedachten Bedeutungen.15 aber auch diese reine Jurisprudenz ist für ihn eine empirische Wissenschaft befasst sie sich doch mit dem konkreten recht eines konkreten staates und damit mit empirisch – etwa durch lektüre eines Gesetzbuches – erfassbaren normen. Gustav radbruch schliesst sich als einer von vielen, wahrscheinlich aber als wirkungsgeschichtlich wichtigster autor, dieser lehre an. in ausdrücklicher abgrenzung zu rudolf stammler und seiner Unterscheidung der Wirklichkeit des rechts von der rechtsidee als Wert besteht er darauf, das recht sei eine „wertbezogene Wirklichkeit, kulturerscheinung“16. der Begriff des rechts ist für radbruch ein „kulturbegriff “, „d. h. ein Begriff von einer wertbezogenen Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die den sinn hat, einem Werte zu dienen“.17 daraus ergibt sich für ihn: „rechtswissenschaft ist verstehende kulturwissenschaft“18 – methodisch gibt es also in der rechtswissenschaft neben einer ausschliesslich auf Wirklichkeit (rechtssoziologie) und einer ausschliesslich auf Werte bezogenen Wissenschaft (rechtsphilosophie) eine dritte kategorie von Wissenschaften, eben diejenige, die sich auf die wertbezogene Wirklichkeit, auf die kultur, richtet – die rechtswissenschaft im engeren sinn. radbruch spricht deshalb auch von einem „Methodentrialismus“.19 3. norMwIssenscHaft

statt

kulturwIssenscHaft?

Hans kelsen hat schon früh auf diese vorstellung von der rechtswissenschaft als einer „kulturwissenschaft“ reagiert, und zwar mit scharfer kritik. in einem Beitrag in „schmollers Jahrbuch“ aus dem Jahr 1916 benennt er bereits im titel die alterna11 emil lask, rechtsphilosophie, in: Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts – Festschrift für Kuno Fischer, ii. Bd., hg. v. Wilhelm Windelband et al., Heidelberg: karl Winter, 1905, 1 ff. 12 lask (fn. 11), 27. 13 lask (fn. 11), 9: „die rechtsphilosophie gehört als Werttypuslehre der systematischen Wertwissenschaft an.“ 14 lask (fn. 11), 29. 15 lask (fn. 11), 32. 16 Gustav radbruch, Rechtsphilosophie, studienausgabe, hg. v. ralf dreier/stanley Paulson, 2. a. (textgrundlage ist radbruchs 2. a. der rechtsphilosophie von 1932), Heidelberg: c. f. Müller, 2003, 31. 17 radbruch (fn. 16), 34. 18 radbruch (fn. 16), 115. 19 radbruch (fn. 16), 31.

124

kurt seelmann

tive: „die rechtswissenschaft als norm- oder als kulturwissenschaft“.20 Man geht wohl nicht fehl, wenn man die kritische Position kelsens, dessen Werk wirkungsgeschichtlich für das verständnis von rechtswissenschaft schwerlich überschätzt werden kann, für einen der Gründe dafür hält, warum die vorstellung von der rechtswissenschaft als einer kulturwissenschaft die neukantianische epoche kaum überlebt hat. kelsen wendet sich bereits gegen rickerts Unterscheidung in naturwissenschaften und kulturwissenschaften. er wirft rickert vor, dass dieser zwischen einer deskriptiven (erkenntnis von Wertungen) und einer normativen (aufstellung von Wertungen) aufgabe der kulturwissenschaft nicht hinreichend unterscheide.21 die kulturwissenschaft könne sich mit der Beziehung von Wirklichkeiten befassen – dann sei sie aber nicht wirklich von den naturwissenschaften zu unterscheiden. eine von der naturwissenschaft unterschiedene Methode könne demgegenüber nur mit der Untersuchung einer Beziehung von Werten als solchen befasst sein.22 in der auseinandersetzung mit emil lask macht kelsen die voraussetzungen seiner kritik noch deutlicher. Wert und Wirklichkeit könnten niemals verbunden werden, sondern nur je für sich zum Gegenstand einer Wissenschaft werden: „es gibt ebenso wenig eine wertvolle Wirklichkeit, wie es einen wirklichen Wert geben kann; beides wäre eine contradictio in adjecto“23. nach seiner auffassung ist es die spezifische Geltung des rechts und nicht seine faktizität, die den Gegenstand nicht nur der rechtsphilosophie, sondern auch der rechtswissenschaft ausmacht.24 Während die rechtsphilosophie in ihrem materiellen teil sich mit dieser Geltung normativ auseinandersetze, geht kelsen bei der rechtswissenschaft von einer deskriptiven Befassung mit dem aspekt des Geltens aus. die auseinandersetzung kelsens mit lask ist bis auf Weiteres weitgehend zugunsten von kelsen ausgegangen. der neukantianische Begriff der rechtswissenschaft als einer kulturwissenschaft konnte sich offenbar nicht durchsetzen. dennoch besteht heute eher wieder der eindruck, die angelegenheit sei nicht wirklich ausdiskutiert. in welchem sinn ist die rechtswissenschaft eine deskriptive, in welchem sinn eine normative Wissenschaft? lask selbst sah dies offenbar differenzierter, als kelsen ihm unterstellt. er geht durchaus von einer Besonderheit der rechtswissenschaft im Umkreis der empirischen kulturwissenschaften aus, wenn er den Gegenstand der rechtswissenschaft als einen „inbegriff von nur gedachten Bedeutungen“25 versteht. kelsens Missverständnis ist wohl, bei Wirklichkeit im laskschen sinn handle es sich um materielle Gegenstände, für lask hingegen geht es durchaus um normen, die aber nach seinem verständnis in der rechtswissenschaft, anders als in der rechtsphilosophie, empirisch erforscht werden.26 der Unterschied zwischen dem, was kel20 Hans kelsen, „die rechtswissenschaft als norm- oder als kulturwissenschaft. eine methodenkritische Untersuchung“, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, 40. Jg, 1916, 95 ff. 21 kelsen (fn. 20), 105 ff. 22 kelsen (fn. 20), 112 f. 23 kelsen (fn. 20), 124. 24 kelsen (fn. 20), 125. 25 lask (fn. 11), 32. 26 dazu auch karl larenz, Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, Berlin: Junker und dünnhaupt, 1931, 33 ff., 34; agostino carrino, L’Irrazionale nel concetto. Comunità e diritto in Emil Lask,

125

rechtswissenschaft als kulturwissenschaft

sen eine normwissenschaft und dem, was lask im fall der rechtswissenschaft eine kulturwissenschaft nennt, dürfte eher gering sein. dennoch besteht dieser Unterschied. 4. „kulturwIssenscHaft“ und der recHtswIssenscHaft

der gegenwärtIge stand der

tHeorIe

der streit, ob es sich bei der rechtswissenschaft um eine „kulturwissenschaft“ oder eine „normwissenschaft“ handelt, lässt sich nun durchaus in die sprache der modernen theorie der rechtswissenschaft übersetzen – und man braucht wohl diese übersetzung, um heute die damalige auseinandersetzung zu verstehen. neben den unumstritten auf die erforschung der empirischen Wirklichkeit gerichteten Wissenschaften der rechtssoziologie und der rechtsgeschichte wird im eigentlich im streit befindlichen Bereich der rechtwissenschaft als einer auf normen bezogenen Wissenschaft letztlich ähnlich argumentiert wie früher, nur dürfte die terminologie nunmehr etwas mehr klarheit erlauben. kelsen ging mit seinem Begriff der „normwissenschaft“ offenbar von einem norm-deskriptiven Begriff der rechtswissenschaft aus: normen sollen in ihrer struktur und ihrer systematik in ihrem speziellen Modus des Geltens beschrieben werden. lask folgt ihm darin teilweise – auch er versteht die rechtswissenschaft nicht im engeren sinn als normativ. denn auch lask erwartet vom Juristen in seiner wissenschaftlichen tätigkeit ausdrücklich weder eine normpropositive27 noch gar eine norm-expressive tätigkeit, will die rechtswissenschaft also weder normen vorschlagen noch gar festsetzen lassen. Wenn er aber auf die „Wertbezogenheit“ der rechtswissenschaft insistiert und damit aus kelsens sicht Wirklichkeitswissenschaft und normwissenschaft vermischt, so bezieht er sich damit möglicherweise auf ein Problem, das er mehr ahnt, als ausdrücklich benennt. es könnte darum gehen, dass eine deskriptive Wissenschaft in jenem Bereich, den rickert als „kulturwissenschaft“ bezeichnet hat, in der tat unvermeidlich normative elemente enthält – und sich nicht nur mit einem normativen Gegenstand befasst. denn schon die sich rein deskriptiv gebende Behauptung, ein bestimmter deutungsvorschlag beinhalte eine mögliche interpretation der norm, enthält zugleich notwendig eine wertende aussage über den Geltungsumfang der betroffenen norm.28 insoweit ist diese Wissenschaft unvermeidlich „wertbeziehend“ im nicht nur norm-deskriptiven, sondern auch im norm-propositiven sinn. Ja das gilt nicht einmal nur für die rechtsdogmatik, sondern sogar für die unmittelbar auf die soziale Wirklichkeit zielende rechtssoziologie: Untersucht sie etwa, ob richterliche entscheidungen durch ausserrechtliche faktoren mit beeinflusst sind, so muss sie ihrerseits unvermeidlich das recht interpretieren und damit einen wertenden akt vornehmen. napoli: edizioni scientifiche italiane, 1983, 151 ff.; vgl. auch ders., Die Normenordnung. Staat und Recht in der Lehre Kelsens, Wien/new york: springer, 1998, 69 ff. 27 Zur differenzierung in norm-deskriptive sowie norm-propositive und norm-expressive Herangehensweisen an das recht vgl. Ulfrid neumann, theorien der rechtswissenschaft, in: Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, hg. v. arthur kaufmann/Winfried Hassemer/Ulfrid neumann, 7. a., Heidelberg: c. f. Müller, 2004, 385 ff., 396 f. 28 neumann, (fn. 27), 398.

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kurt seelmann

eben dies, die Untrennbarkeit deskriptiver und normativer aussagen in der rechtswissenschaft, gilt für lask auch in umgekehrter richtung: angesichts der rückbindung der juristischen norm an die positive anordnung des Gemeinschaftswillens ist rechtswissenschaft nicht nur normwissenschaft, sondern in ihrer abhängigkeit von den gesetzgeberischen vorgaben zugleich auch eine deskriptive Wissenschaft.29 5. funktIon

des

begrIffs

der

„kulturwIssenscHaft“

Warum aber wird diese Problematik unter dem Begriff der „kulturwissenschaft“ abgehandelt? die antwort erfordert einen Blick auf die entstehungsbedingungen der neukantianischen kulturphilosophie, die offenbar durch mehrere verunsicherungen gekennzeichnet sind. am ende des 19. Jahrhunderts sahen sich Philosophie und rechtswissenschaft gleichermassen einer entwicklung der empirischen Wissenschaften gegenüber, die ihnen Zweifel an der eigenen Wissenschaftlichkeit aufdrängte und so einen besonderen legitimationsbedarf schuf. offenbar entstand in der rechtswissenschaft ein starkes Bedürfnis, die eigene Wissenschaftlichkeit nachzuweisen. aber nicht nur die naturwissenschaften wirkten hier stark verunsichernd. auf der anderen seite entwickelte sich in der Geschichtswissenschaft eine Historisierung der Werte, ein vorgang, der gleichermassen als Herausforderung für die auch an Werten orientierte rechtswissenschaft empfunden wurde.30 Wie sollte man es anstellen, so wissenschaftlich wie die naturwissenschaft zu sein, zugleich Werte zum Gegenstand zu haben und sich doch von der typischen Gesichtswissenschaft mit ihrer orientierung an einzelnen Geschehnissen zu unterscheiden? diesem Gefühl der legitimationsbedürftigkeit der eigenen Wissenschaftlichkeit stand eine verunsicherung angesichts der diversität der wissenschaftlich behandelten Gegenstände und generell der lebenserfahrungen gegenüber, die man nur in einem Begriff von „kultur“ glaubte zusammenfassen zu können.31 „kultur“ wurde so zur klammer für eine unüberschaubar gewordene auffächerung der wissenschaftlichen disziplinen. das konnte nun freilich nicht mehr der herdersche kulturbegriff einer sinnvollen ordnung sein, sondern ein kulturbegriff, dem einheit als Problem galt, ja dem angesichts der gesprengten einheit die verselbstständigung der einzelnen teile nur noch formell gebändigt zu werden schien.32 dahinter stand ein fundamentales philosophisches Problem: nach dem idealismus schien ein verstehen des sinns der Welt von ihrem Zweck her nicht mehr möglich, ja der verlust der identität von sein und sinn musste endgültig erscheinen. das war wohl der tiefere Grund, warum man als resultat auch philosophischer erwä29 dazu Hermann Heller, die krise der staatslehre (1926), Gesammelte Schriften (hg. v. christoph Müller), 2. Bd., 2. a., tübingen: Mohr siebeck, 1992, 2 ff., 19. 30 Zu beiden aspekten friedrich tenbruck, neukantianismus und Philosophie der modernen kultur, in: Neukantianismus. Perspektiven und Probleme hg. v. ernst Wolfgang orth/Helmuth Holzhey, Würzburg: königshausen und neumann, 1994, 71 ff., 73. 31 dazu Harald Homann, die „Philosophie der kultur“. Zum Programm des „logos“, in: orth/ Holzhey (fn. 30), 88 ff., 91. 32 tenbruck (fn. 30), 79; Homann (fn. 31), 94.

127

rechtswissenschaft als kulturwissenschaft

gungen ein sich-einlassen auf die diversität der lebenserscheinungen und Wissenschaften für unerlässlich hielt.33 Wissenschaftstheoretisch schien die angelegenheit relativ klar: Wenn die objekte nicht mehr ihren sinn erkennbar in sich trugen, konnte er ihnen nur als Beurteilung zugemessen werden. die Beurteilungen, also die einzelnen subjektiven Werturteile, wollte man aber nicht in ihrer blossen diversität bestehen lassen, die einheit konnte gleichwohl gerade keine inhaltliche mehr sein. also versuchte man sich in einer „axiologie zweiter stufe“34, in einer wissenschaftlichen Beurteilung von Beurteilungen – nur so schienen Wissenschaft und Philosophie noch möglich. das metaphysische vakuum der nachidealistischen Zeit wurde so mit der Bewertung des „Werts“, mit der Wertphilosophie, ausgefüllt. auch ein rein internes Problem juristischer tätigkeit mag beim streben nach Zuerkennung von Wissenschaftlichkeit eine rolle gespielt haben: theoretiker des rechts stehen auch gegenüber der rechtspraxis vor einem legitimationsbedarf. Gerichte und Behörden stützen sich auf unbezweifelbare rechtsquellen, nämlich Gesetz, Gewohnheitsrecht und richterrecht. Will die rechtslehre in ähnlicher Weise als weitere rechtsquelle fungieren, braucht sie insoweit eine eigenständige legitimation – was, wenn nicht die Wissenschaftlichkeit ihrer tätigkeit, könnte ihr die Hoffnung geben, sich diese Berechtigung zu verschaffen? so führten der legitimationsbedarf als Wissenschaft sowie die erfahrung der diversität der lebenserscheinungen und disziplinen und schliesslich das Bedürfnis der rechtslehre nach anerkennung als „rechtsquelle“ zur suche nach der eigenen Wissenschaftlichkeit und nach einem einigenden wissenschaftlichen Band, während die ent-teleologisierung der Welt das entstehen der Wertphilosophie begünstigte. der Begriff der „kultur“ bot sich offenbar als Heilmittel auf allen drei ebenen der verunsicherung an: orientierung an der kultur lies in Parallele zur ausrichtung an der natur eine Parallel-legitimation als Wissenschaft begründen, kultur bot sich als einigendes Band für die diversitätserlebnisse an und kultur schien schliesslich tauglich zur begrifflichen erfassung eben jener tätigkeit des Juristen, der nicht einfach Wertungen aufeinander bezieht, sondern Beziehungen zwischen der sozialen realität und Wertungen herstellt. 6. kulturwIssenscHaften

nacH deM

„cultural turn“

spätestens seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts erlebt nun der Begriff der „kulturwissenschaft“ oder „kulturwissenschaften“35 eine breite renaissance. vor allem in den sprachwissenschaften, aber auch weit darüber hinaus in vielen fächern der noch oder ehemals „philosophisch“ genannten fakultäten erlebt man einen „cultural turn“. Was ist damit gemeint? das neuerliche selbstverständnis einer reihe von Geisteswissenschaften als „kulturwissenschaften“ ist auch diesmal offenbar wieder das resultat von verunsicherungen:

33 dazu Herbert schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, 6. a., frankfurt a. M.: suhrkamp, 1999, 202. 34 schnädelbach, (fn. 33), 221. 35 dazu klaus P. Hansen, Kultur und Kulturwissenschaft, 3. a., tübingen/Basel: francke, 2003.

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kurt seelmann

resultat von verunsicherungen lässt sich dieses Mal verstehen als „antwort auf das gesteigerte Bewusstsein kultureller relativität und Pluralität, auf die verunsicherung durch kulturelle desintegration und den verlust kultureller selbstverständlichkeiten“36. offenbar versagen nun die Wertehierarchien der alten Wertlehre und auch der „Unwert“ als deren unterste ebene ist nicht mehr selbstverständlich erkennbar. dieses Bewusstsein mag auf innergesellschaftlichen auflösungen kultureller Gewissheiten etwa im Gefolge der veränderung familiärer strukturen und traditioneller Hierarchien beruhen – kultur ist nicht mehr wie früher „zweite natur“. aber auch auf den verstärkten kontakt mit anderen kulturen im kontext von Migration, tourismus und weltpolitischen sowie ökonomischen kräfteverschiebungen lässt sich dieses Phänomen sehr wahrscheinlich zurückführen.37 speziell in einwanderungsgesellschaften wie den Usa konnte die Hinwendung zu „cultural studies“ auch zur traditionskritischen revision kultureller standards, zur infragestellung des europäischen kulturellen erbes führen.38 Gerade in letzterem Umstand liegt ein wichtiger Unterschied zu situation ein Jahrhundert davor, als man sich zwar auch mit einer innerkulturellen diversität konfrontiert sah, aber doch von der „einen kultur“ ausging, die keine zusätzliche infragestellung durch andere kulturen erlebte: der vergleich verschiedener „kulturen“ lag dem Zeitalter des neukantianismus noch im Prinzip fern – und wo er doch stattfand, galt in der auseinandersetzung der kulturen doch, dass die siegreiche europäische Gesellschaft auch aus der sicht von neukantianern den höheren ethischen Wert repräsentiert39. für die kulturphilosophen und kulturwissenschaftler der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert lebte man trotz der verschiedenheit der einzelnen nationen im Hinblick auf die kultur doch noch in einer, wie es Windelband nennt, „abgeschliffenen Gesamtkultur“40. ein zentrales Motiv der kulturwissenschaften des späten 20. Jahrhunderts war somit damals noch kein thema. nun aber ist es gerade das aufbrechen, ja auseinanderbrechen kultureller einheit, auch auf nationalstaatlicher ebene, das die immer schon vorhandene Multikulturalität im Weltmassstab für alle erkennbar macht. auch ein selbstkritisches verständnis europäischer kulturen im Gefolge von antisemitismus und kolonialismus mag eine mit kulturhierarchien argumentierende selbstgewissheit zerstört und den Blick für kulturen im Plural eröffnet haben. kultur, noch ein Jahrhundert vorher das einigende Band zur Bändigung der diversität, ist jetzt im Bewusstsein der Menschen ihrerseits von eben dieser diversität ereilt worden. die reaktion auf die beschriebene verunsicherung können zunächst neuartige kooperationen und vernetzungen von fächern zu neuer transdisziplinarität sein.41 36 emil angehrn, Überlegungen zum Makroschwerpunkt Kultur, unveröff. thesenpapier im rahmen der festlegung einer förderung von forschungsschwerpunkten an der Universität Basel, 1. 37 Hartmut Böhme/Peter Matussek/lothar Müller, Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, 2. a., reinbek: rowohlt, 2002, 108. 38 Böhme et al. (fn. 37), 13. 39 Zu solchen elementen der kulturhierarchisierung insbesondere bei Windelband vgl. Marc andré Wiegand, Unrichtiges Recht. Gustav Radbruchs rechtsphilosophische Parteienlehre, tübingen: Mohr siebeck, 2004, 98 f. 40 Wilhelm Windelband, Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte (1884), freiburg i. Br./tübingen: Mohr, 6. a. 1919, 119. 41 angehrn (fn. 36), 2; Böhme et al. (fn. 37), 11.

rechtswissenschaft als kulturwissenschaft

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denn zu den verunsicherten kulturellen selbstverständlichkeiten gehört auch der traditionelle – in der eigenen kultur bisher für selbstverständlich erachtete – fächerzuschnitt in den Wissenschaften. kulturwissenschaftliche Herangehensweisen dieses neueren typs werden deshalb nicht selten als ungewöhnlich und seltsam erlebt, mitunter gar als resultate von Beliebigkeit in einer Unterhaltungsdisziplin.42 anders als beim ersten auftauchen des Begriffs der „kulturwissenschaften“ an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stehen deshalb jetzt nicht wissenschaftliche Methodenfragen im vordergrund der auseinandersetzung, sondern fragen der disziplinbegründung und der disziplingrenzen, der ent-disziplinierung und des experimentierens. auch gegenüber den naturwissenschaften geht es deshalb jetzt nicht mehr so sehr um eine abgrenzung oder eine legitimation anderer Methoden, sondern um eine entschärfung der differenz, eine suche nach überlappungen.43 Modern ist, wenn jetzt auch der neurobiologe den anspruch auf philosophisch relevante aussagen erhebt und der Philosoph ethnologische vergleiche zwischen den Philosophien der alten Griechen und der chinesen anstellt. es sind nicht mehr Methodenfragen, die primär interessieren, sondern fragen der funktionen von disziplinen. eine zweite folgewirkung des derzeitigen kulturbegriffs ist, dass die traditionellen canones von wichtig und unwichtig, von Haupt- und nebensache durcheinander geraten. scheinbar nebensächliches wie tischsitten, Umgang mit Gerüchen oder kinderstillen können auf einmal indikatoren für weit darüber hinausgehende soziale Zusammenhänge bilden. die kulturwissenschaft neuen typs kann deshalb auch zu vermehrter aufmerksamkeit gegenüber Populärkultur führen oder die politische Geschichte gegenüber der Mentalitätsgeschichte zurückstellen.44 auf einheitliche Wertungs- und Bewertungsschemata ist offenbar kein verlass mehr. die reaktion auf ein solches aufbrechen der disziplinen und auf ein Wegbrechen kanonisierter relevanzkriterien besteht schliesslich drittens ganz konsequent auch in einer die moralische selbstreflexivität europäischer kulturen geradezu spiegelnden gesteigerten selbstreflexivität der disziplinen, die sich insbesondere auf ihre sozialen und kulturellen voraussetzungen und folgen besinnen.45 alternativen in der selbsteinschätzung und der funktionsbestimmung des eigenen Handelns werden zu ständigen Begleitern. der Begriff der „kulturwissenschaften“ für diese entwicklung lag nahe, verstehen wir kultur doch auch als den Bereich der selbstvergewisserung des Menschen. eine solche selbstvergewisserung wird zugleich in ihren konstruktivistischen elementen erfasst, der Mensch in der kultur tritt immer mehr als sein selbstkonstrukt vor den wissenschaftlichen Blick.

42 Böhme et al. (fn. 37), 32 f. 43 vgl. die denkschrift „Geisteswissenschaften heute“ der vom Wissenschaftsrat und der Westdeutschen rektorenkonferenz eingesetzten fachgruppe (Wolfgang frühwald et al., Geisteswissenschaften heute: eine Denkschrift, frankfurt a. M.: suhrkamp, 1991), dazu Böhme et al. (fn. 37), 20. 44 Böhme et al. (fn. 37), 16. 45 angehrn (fn. 36), 2.

130 7.

kurt seelmann

dIe

aktuelle

sItuatIon der recHtswIssenscHaft uMfeld der kulturwIssenscHaften

IM Veränderten

Wie steht nun die rechtswissenschaft in dieser neuen entwicklung? Zumindest auf den ersten Blick muss es erstaunlich erscheinen, dass jedenfalls aus der sicht anderer disziplinen die heutige rechtsdogmatik daran praktisch nicht beteiligt ist. die rechtswissenschaft wird in Untersuchungen zu jener Gruppe von disziplinen gerechnet, die sich „ein wenig vom kulturbegriff zu entfernen scheint“46. auch „in den neueren rechtstheoretischen debatten spielt das kulturparadigma eine auffallend marginale rolle“47. allenfalls im Bereich der rechtsgeschichte und der rechtssoziologie finden sich danach im neueren sinn kulturwissenschaftliche Untersuchungen, was aber dem Umstand geschuldet ist, dass diese disziplinen eben in ihrem selbstverständnis mehr der Geschichte bzw. der soziologie angehören als der rechtswissenschaft. Wie lässt sich diese Beobachtung begreifen? anders als beim ersten auftreten des Begriffs ist heute das verständnis der kulturwissenschaften offenbar weniger durch fachinterne und fächer vergleichende Untersuchungen als durch selbstreflexion des jeweiligen fachs gekennzeichnet. selbstreflexion eines wissenschaftlichen fachs, ja generell die Beobachtung der – in ihrer Wissenschaft tätigen – Beobachter48, ist aber offenbar in der rechtswissenschaft weniger verbreitet. Wo, selten genug, von rechtswissenschaft im kontext des neuen Begriffs von kulturwissenschaft gesprochen wird, ist in der tat eher von einer der Jurisprudenz externen „kulturwissenschaftlichen analyse des rechts“49, mit einem genitivus objectivus, die rede; die „reflektierende Beobachtung von recht“ wird als bisher kaum vorhandenes desiderat angemahnt.50 Mag sein, so wird gemutmasst, dass Juristen vor einer solchen Beobachtung eine gewisse scheu haben. vielleicht bestehe bei ihnen auch „ein gehöriges Mass an einflussangst“, steuere sie der „theorieaversive eigensinn rechtlicher Praxis“ oder es sei schlicht die „neigung der professionellen rechtsinterpreten zur arkanität“ am Werk.51 Zwar gibt es beim genaueren Hinsehen durchaus auch im angemahnten sinn kulturwissenschaftlich geprägte rechtswissenschaft. es gibt eine juristische aufnahme des „cultural turn“, der selbstreflexion auf funktionen, ambivalenzen und Genealogien juristischen denkens, etwa in den sog. „critical legal studies“ in den Usa.52 Zugeben muss man allerdings, dass den Mainstream der rechtswissenschaft solche tendenzen nicht wirklich erfasst haben. aber vielleicht sucht man ja auch in die falsche richtung, wenn man einen aktuellen kulturbezug bei den Juristen in der direkten übernahme moderner kultur46 Hansen (fn. 35), 363. 47 Hans Michael Heinig, „rechtswissenschaft als kulturwissenschaft. Bericht zur gleichnamigen tagung am Zif, Bielefeld am 04./05. april 2003“, Zeitschrift für Rechtssoziologie 24 (2003), 95 ff., 95. 48 Zur Beobachtung der Beobachter als element von „kultur“ vgl. Böhme et al. (fn. 37), 106. 49 Heinig (fn. 47), 96, 97. 50 Heinig, (fn. 47), 97. 51 alle Zitate Heinig (fn. 47), 96. 52 dazu anja oberkofler, „richterliche tätigkeit im Us-amerikanischen rechtssystem aus dem Blickwinkel der critical legal studies“, ARSP 92 (2006), 209 ff.

rechtswissenschaft als kulturwissenschaft

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wissenschaftlicher Paradigmen finden will. versucht man zu benennen, was das verhältnis von rechtswissenschaft und kultur in den letzten Jahrzehnten wirklich bestimmt hat und wie sich dieser Zusammenhang seit den tagen des neukantianismus gewandelt hat, so sind wohl drei ganz andere tendenzen zu benennen: eine tendenz knüpft direkt an entwicklungen im modernen kulturbegriff an. die moderne debatte über den kulturbegriff hat einen ihrer schwerpunkte im Gedanken des erinnerns, des erinnerns insbesondere an das einzelnen Menschen und Menschengruppen angetane leid. völkermorde, kriege und Bürgerkriege während und nach dem Zweiten Weltkrieg erfassen wir nicht mehr in den einfachen kategorien von feind gegen feind und schliesslich sieger und Besiegtem, sondern in Begriffen von täter und opfer sowie von recht und Unrecht.53 alle gewaltsamen auseinandersetzungen werden stärker juridifiziert, als dies vordem denkbar gewesen wäre. Und auch im individuellen leben ersetzt fast flächendeckend Unrecht das Unglück. für vieles, was Menschen zustösst und was man früher dem schicksal zugeschrieben hätte, sucht man heute verantwortliche Menschen – für erdrutsche, überschwemmungen, schiffsuntergänge und den tod nach der operation. denken in rechtlichen kategorien ist im Zentrum unserer kultur angekommen. selbst wenn es stimmen sollte, dass die rechtswissenschaft heute bei vielen ihrer vertreter zur blossen technik verkommen ist und dass sie beinahe ihre kulturelle Bedeutung vergessen machen konnte, so ist doch für die anhaltende kulturelle relevanz der rechtswissenschaft nicht ohne Bedeutung, dass die kultur insgesamt jetzt offenbar verglichen mit der Zeit des neukantianismus verstärkt in rechtlichen figuren denkt. die andere tendenz, in der die rechtswissenschaft als kulturwissenschaft fortlebt, ist – vielleicht paradoxerweise – gerade die kritik der Werte-Philosophie und ihr ersatz durch die debatte um die Würde. die Werte-orientierung der neukantianischen Philosophie hat kritik erfahren – aus mehreren Gründen.54 der hier besonders interessierende Grund ist, dass eine subjektive Wertphilosophie die verrechenbarkeit aller interessen suggeriert, also prinzipiell nicht in der lage ist, gegenüber konsequentialistischen erwägungen deontologische Grenzen zu setzten. einer Wertphilosophie würde es zumindest schwer fallen, eine gewaltsame Blutentnahme oder, krasser noch, die entnahme einer niere zur rettung eines anderen lebens begründet abzuweisen oder die tötung eines Unbeteiligten argumentativ abzuwehren, wenn damit viele Menschenleben gerettet werden können. die seit mehr als einem halben Jahrhundert geführte debatte über die „Menschenwürde“ sucht demgegenüber festzuhalten, dass es im verbot der vollständigen instrumentalisierung von Menschen eine Bedingung der Möglichkeit zivilisierter interessenverrechnung gibt, die ihrerseits zur verrechnung zu stellen allem vernunftgeleiteten abwägen den Boden entziehen würde. der Begriff der Menschenwürde, wie auch immer inflationär verwendet, fungiert als chiffre für jene Unverrechenbarkeit. so gesehen ist die Würdeethik eine reaktion auf die Werte-ethik und steht als Gegenreaktion in deren tradition. Jene neukantianische Wertphilosophie, die einen teleologischen naturbegriff abgelöst hat, könnte so in ihrer Wertorientierung, genauer in der suche nach den 53 dazu aleida assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: Beck, 2006. 54 Zusammenfassend ernst-Wolfgang Böckenförde, Zur kritik der Wertbegründung des rechts, in: Recht, Staat, Freiheit: Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, hg. v. ernst-Wolfgang Böckenförde, frankfurt a. M.: suhrkamp, 1991, 67 ff.

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Bedingungen von deren Möglichkeit, zu den versuchen einer neuartigen fundierung der rechtsordnung im Begriff der Menschenwürde beigetragen haben. eine dritte noch konkreter den juristischen alltag bestimmende tendenz einer kulturwissenschaftlichen orientierung des modernen rechts wurde in den erwägungen zur juristischen Methode bereits genannt: rechtswissenschaft, so zeigt etwa lask, ist nicht nur normativ im sinne einer Beschäftigung mit einem normativen Gegenstand, sondern unvermeidlich auch norm-propositiv, macht also selbst auch normative aussagen. indem sie sich dabei auf soziale normen und Bewertungen in der Gesellschaft bezieht, werden aktuelle kulturelle deutungsmuster immer wieder in das recht inkorporiert. das erfordert, soll es nicht willkürlich geschehen, eine ständige reflexion auf diesen vorgang in der Jurisprudenz. auch in diesem sinn ist und bleibt die rechtswissenschaft eine kulturwissenschaft.

4. kulturantHroPologIe

enno rUdolPH, lUZern/HeidelBerG das recHt der kultur – Von Herder zu kant

dIe

kultur

des

recHts:

1. eInleItende beMerkungen Philosophische kulturbegriffe sind traditionell normativ besetzt. die in unterschiedlichen ethnologischen ansätzen gegenwärtig gebräuchlichen sind es hingegen zumeist nicht, allenfalls implizit. eine korrespondenz zwischen den unterschiedlichen disziplinären Zugängen zum thema kultur ist schwierig, da normative kulturbegriffe generell an attraktivität verloren haben. der in den ethnologien weit verbreitete konstruktive kulturrelativismus – etwa im sinne von clifford Geertz – betrachtet kultur nicht primär als ensemble spezifisch qualifizierter Produkte und leistungen, die einen rückschluss auf ein generalisierbares Gattungsprofil der menschlichen natur zulassen, sondern verwendet kultur zumeist als deskriptive kategorie zur analyse von Gebräuchen, Gewohnheiten, riten und lebensformen unterschiedlicher ethnien und zieht rückschlüsse aus deren historischem Wandel. die kulturanthropologie – nachfolgetitel für die disziplin der ethnologie: der name verspricht oft mehr, als er hält – trägt dem Phänomen der vielfalt der kulturen insofern rechnung, als sie den Geltungsverlust einer singularischen verwendung der kategorie, zudem noch verbunden mit einem Universitätsanspruch, konstruktiv umgesetzt hat. dass kultur nur im Plural zu verwenden ist, gilt weit über den Zuständigkeitsbereich der „kulturanthropologie“ hinaus als eine einsicht ante quam non. sie nimmt den rang einer impliziten norm ein. in der neuzeitlichen Geschichte der verwendung philosophischer kulturbegriffe ist die idee des kulturpluralismus keineswegs neu. sie stand von früh auf in einer konstruktiven und teilweise provokativen konkurrenz zur singularischen verwendung. 2. unIVersalIsMus oder PluralIsMus Herder und kant

der

kultur(en) –

eIne

alternatIVe?

Bei einer prominenten riege massgeblicher Protagonisten unter den „denkern der kultur“ in der neuzeitlichen europäischen Philosophiegeschichte – ich nenne sie im folgenden die „klassiker“ – begegnet der Begriff der kultur als eine vokabel, die geeignet schien, sowohl sein und sollen als auch vergangenheit und Zukunft konstruktiv miteinander zu verknüpfen. die kategorie verband eine geschichtsphilosophische mit einer ethischen Bedeutung. nach der auffassung einschlägiger autoren dient kultur generell als inbegriffliche kategorie für alles, was die Menschen der natürlichen Welt hinzufügen, um es zugleich mit dem signum der spezifischen differenz zur blossen animalität zu versehen. «kultur» gilt von daher als Zeugnis für die fähigkeit des Menschen, sich selbst zum initiator, wie auch zum Massstab für eine Umgestaltung der Welt in seine lebenswelt zu machen, die er alsdann in dis-

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enno rudolph

tinkter abgrenzung gegen ein verharren in naturwüchsigkeit als signatur von Humanität bewertet. diese feststellung gilt für so unterschiedliche anthropologische Grundformeln wie bereits der aristotelischen vom Menschen als zoon politikon, der traditionell humanistischen des Menschen als animal rationale bzw. der auf ernst cassirer zurückgehenden symboltheoretischen definition des Menschen als animal symbolicum. der kulturbegriff steht somit auch an der Wegscheide zwischen den beiden bis in die Gegenwart hinein einander kontrovers gegenüberstehenden anthropologien: der humanistischen, die den Menschen in abgrenzung gegen die natur begreift, und der naturalistischen, die den Menschen ausschliesslich aus biologistischer Perspektive als eines neben vielen anderen evolutionären Phänomenen definiert. dabei ist festzuhalten, dass die naturalistische deutung sich keineswegs immer durch eine ablehnung der kulturvokabel auszeichnet, sondern selbst konkurrierende kulturbegriffe etabliert hat, wie es etwa exemplarisch am Werk arnold Gehlens zu demonstrieren wäre. kultur begegnet bei Gehlen als sammelbegriff für eine spezifische kompetenz des Menschen, derjenigen nämlich, die für ihn im vergleich zu anderen lebewesen charakteristischen natürlichen Mängel strategisch und auf höchst diverse Weise kompensieren zu können. das Mängelwesen Mensch erzeugt „kultur“ als ergänzungsnatur, um den überlebenskampf in der Biosphäre mit maximaler und optimaler erfolgsaussicht bestehen zu können. in beiden fällen – sei es, dass kultur als eine humanistische chance, sei es, dass sie als eine natürliche überlebensbedingung bewertet wird – gilt sie als eine Welt zweiter ordnung – im falle der humanistischen Position als eine höhere ordnung, im falle der naturalistischen Position als erweiterung und differenzierung der naturordnung –, die mit dem Postulat verbunden wird, das in der Vergangenheit möglich Gewesene normativ auf die Zukunft zu beziehen. dabei darf nicht übersehen werden, dass die einzelnen Protagonisten der massgeblichen kulturtheorien aus der vergangenheit unterschiedliche schlüsse für die Zukunft gezogen haben. ich erläutere dies an zwei ebenso repräsentativen wie traditionsmächtigen Beispielen aus der Geschichte meiner disziplin, denen ein mehr oder weniger explizit naturalismuskritisches Profil eigen ist: 2.1 JoHann Gottfried Herder kultur begegnet bei Herder als Bezeichnung für die entwicklung der Menschheitsgeschichte in richtung auf eine zunehmend komplexere ausgestaltung sehr unterschiedlicher Möglichkeiten, „Humanität“ zu stiften. Unter Humanität wiederum versteht Herder die Qualität, die jedes individuum dann auszeichnet, wenn es seine eigene authentizität in optimaler Weise produktiv zur Geltung zu bringen und in seinen Werken zu symbolisieren in der lage ist. individualität stiftet diversität, diversität kennzeichnet das verhältnis der kulturen ebenso wie dasjenige der Menschen innerhalb eines ethnischen kollektivs zueinander. Herder, vielleicht der erste kulturpluralist der europäischen Moderne, übertrug das Prinzip einer individualtheoretisch begründeten und positiv bewerteten natürlichen diversität auf völker und nationen und unterschied deren eigenheiten und Historien voneinander in analogie zur differenz der Biographien von einzelmenschen. völker werden individuiert durch ihre unersetzbaren und unvergleichbaren kulturstifter, denen sie ihre tradi-

das recht der kultur – die kultur des rechts: von Herder zu kant

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tion gewordenen Qualitäten, darunter vor allem ihre sprachlichen eigenarten zu verdanken haben, die es ihnen ermöglichen, sich intern durch diversifizierung zu identifizieren und extern abzugrenzen. Unvergleichbarkeit wird folglich zum kriterium für kulturelle Qualität, ja zur norm für einmaligkeit, originalität, Unersetzbarkeit und authentizität: „ein tor, der nur vergliche oder gar verdamme“, heisst es bei Herder, weil das spätere nicht das frühere (oder umgekehrt) sei.1 Herders Parteinahme für die individualität von kulturen führt zu der konsequenz, die idee einer Kultur der Individualität zu postulieren. die Historiographie lehre uns, dass das, was den Menschen auszeichnet, seine fähigkeit ist, sich durch seine taten, seine Worte, aber vor allem durch seine sprachschöpfungskompetenz immer wieder von seinen Gattungsmerkmalen abzuheben und gegen die festlegung auf dieselben zu behaupten. „… dass endlich in der Welt keine zwei augenblicke dieselben sind – dass also ägypter, römer und Grieche auch nicht zu allen Zeiten dieselben gewesen – ich zittere, wenn ich denke, was weise leute, zumal Geschichtskenner, für weise einwendungen hierüber machen können! Griechenland bestand aus vielen ländern: athenienser und Böothier, spartaner und korinthier waren sich nichts minder, als gleich […]. trieb man nicht auch in asien den ackerbau? Haben nicht ägypter einmal ebenso gut gehandelt wie Phönicier, waren die Macedonier nicht ebenso wohl eroberer als die römer? War aristoteles nicht ebenso ein spekulativer kopf als leibnitz? übertrafen unsere nordischen völker nicht die römer an tapferkeit? Waren alle ägypter, Grieche, römer – sind alle ratten und Mäuse einander gleich – nein! aber sie sind doch ratten und Mäuse!“2

Bekanntlich richtete Herder seine apologie des kulturellen Pluralismus – verstanden als effekt und spiegel des normativen individualismus – kritisch gegen kant. er ist gemeint, wenn Herder polemisch zuspitzt: „Wären wir dazu geschaffen, um, wie der Magnet sich nach norden kehrt, einem Punkt der vollkommenheit, der ausser uns ist und den wir nie erreichen könnten, mit ewig vergeblicher Mühe nachzustreben, so würden wir als blinde Maschinen nicht nur uns, sondern selbst das Wesen bedauern dürfen, das uns zu einem tantalischen schicksal verdammte, indem es unser Geschlecht bloss zu seiner, einer schadenfrohen, ungöttlichen augenweide schuf […] in der regsamkeit, die keinen Zweck erreicht, liegt nichts Gutes.“3

Mit der vokabel von der vollkommenheit als regulativ unseres inneren kompasses zielt Herder auf kants ideal vom höchsten Gut als sittliche norm für alle vernunftwesen, an dem sich zu orientieren sowohl Handlungsgebot als auch Ziel der Geschichte sein soll, und vor allem zielt Herder damit auf den moralischen Universalismus kants. der sittliche imperativ, der die Unterordnung individueller Präferenzen unter das übergeordnete Universalgebot der sittlichkeit gebietet und der fordert, fremde Glückseligkeit zu befördern und die eigene zurückzustellen, wird nicht erst von schiller, sondern schon von Herder als unmenschlich empfunden. Man geht sicher nicht zu weit, wenn man schliesst, Herder hielt kants ebenso affirmativen wie inklusiven vernunftbegriff nicht nur für anthropologisch unangemes1 2 3

vgl. Johann Gottfried Herder, von deutscher art und kunst, Werke, hg. v. Wolfgang roß, Bd. i, München: Hanser, 1984, 535. Johann Gottfried Herder, auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, Werke, hg. v. Wolfgang roß, Bd. i, München: Hanser, 1984, 613. Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Sämtliche Werke, hg. von Bernhard suphan, Berlin 1877–1913 [nd Hildesheim: olms, 1967/8], Bd. 14, 207 f.

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sen, sondern auch für kulturell destruktiv und für historisch widersinnig – kurz: er bewertete ihn als inhuman, eine kritik, die im Blick auf eine reihe prominenter moralphilosophischer Positionen in der Gegenwart (Judith Butler, Bernard Williams und andere) eher an aktualität gewonnen hat. auch Herders auffassung, jede ethnie entwickle ihre eigenart von einem „künstlerischen schwerpunkt“ aus, ist von normativem anspruch, insofern er mit seinem geschichtsphilosophischen Gegenentwurf zu kants apotheose der vernunft – vernunft verstanden als subjekt und objekt universaler aufklärung – eine aufgabe für die Zukunft sieht: die Zukunft wird aufgefasst als auftrag, die vergangenheit kritisch fortzuschreiben, zu verfeinern, d. h. die Weltgeschichte als experimentierfeld kreativer innovationen zu begreifen. aus der vergangenheit kann und soll man also lernen. im Unterschied zu kant, bei dem tendenziell vergangenheit und voraufklärung bzw. Unmündigkeit zusammenfallen, bewertet Herder die vergangenheit hoch. die kultur erhält überhaupt erst mit der einsicht in die entwicklungsfähigkeit und fortschreibungswürdigkeit des vergangenen, wie sie durch seine umfassend vorgenommene retrospektive auf die völkergeschichte bestätigt wird, eine qualifizierte Zukunftsaussicht. allerdings – Herders Perspektive auf die Zukunft entbehrt einer verknüpfung seines normativen kulturverständnisses mit einer reflexion auf die politischen Bedingungen. diese liefert kant. 2.2 iMManUel kant Unbeschadet der von den beiden opponenten Herder und kant mit hinreichender deutlichkeit in direkter kontroverse ausgetragenen Gegensätze – der eine ein kulturpluralist, der andere ein kulturuniversalist, der eine ein verfechter der diversität individueller und kollektiver lebensformen, der andere ein apologet der einheit des vernünftigen lebens im Weltmassstab, der eine ein kulturkomparatist, der andere ein Moralidealist, der eine der verfechter eines nationen- und Bürgerpluralismus, der andere der Begründer der idee eines neuen Weltbürgertums – überwiegen aus der historischen distanz betrachtet am ende dennoch die Gemeinsamkeiten, die sich unter anderem an zwei Punkten manifestieren lassen: – –

beide autoren denken kultur normativ; beide autoren denken die Zukunft der kultur als kultur der Zukunft.

kants these über die kultur basiert auf seiner Unterscheidung zwischen Zivilisation und kultur. Wir sind zivilisiert bis zum „überlästigen“4, ruft er einmal aus, aber an kultur ermangele es uns noch erheblich. vielleicht liegt darin überhaupt am ende das verdienst des Beitrags, den kant zur Geschichte der kulturbegriffe geleistet hat, dass er definitiv für eine trennscharfe Unterscheidung zwischen Zivilisation und kultur sorgte. Zunächst lässt sich die differenz festmachen an der Unterscheidung zwischen Zivilisation verstanden als Prozess der optimierungen unserer überlebenschancen – wozu das Gros der Produktion solcher Güter zählt, die das leben behaglicher, auch luxuriöser machen, also auch der überfluss – und kultur verstanden als 4

immanuel kant, idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher absicht, Gesammelte Schriften, hg. v. der königlich Preußischen akademie der Wissenschaften, Berlin 1912 ff., [nd Berlin: de Gruyter 1968] (aa), viii, 26.

das recht der kultur – die kultur des rechts: von Herder zu kant

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der Prozess, der die Menschen dazu befähigt, sich ihres Glücks, zu dem die zivilisatorischen errungenschaften nicht unwesentlich beitragen, als würdig zu erweisen. kants grundsätzliche Unterscheidung zwischen Glückseligkeit, nach der alle Menschen streben, und Glückswürdigkeit, die die Menschen für sich erwirken sollen, hilft dabei ebenso wie diejenige zwischen Aufklärung als Programm der damaligen Gegenwart – d. i. nach kant bekanntlich der „ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“5 – und Aufklärung als Ziel der Geschichte, die differenz zwischen Zivilisation und kultur zu erläutern. die analogie zwischen den Gegensatzpaaren Glückseligkeit und Glückswürdigkeit einerseits und Zivilisation und kultur andererseits wirft ein licht auf den normativen anspruch, den kant – hier ohne wesentlichen Unterschied zu Herder – mit dem kulturbegriff verbindet: Wir dürfen durchaus glücklich sein wollen, und sind es vielleicht schon, wir sollen aber glückswürdig werden, und erst darin liegt das normative surplus über jeden noch so avancierten Zivilisationsgrad hinaus, das den namen „kultur“ verdient. entsprechend verhält es sich mit der analogie zwischen den Begriffspaaren aufklärung als Programm bzw. aufklärung als endzweck einerseits und kultur bzw. Zivilisation andererseits: Wir sind zwar bereits dank der arbeit der selbstkritik der vernunft in der lage, das Programm und die relevanz des aufklärungsprogramms zu begreifen. Jedoch, wie kant in seiner aufklärungsschrift mit gebotener eindeutigkeit feststellt, sind wir noch weit davon entfernt, in einem „aufgeklärten“ Zeitalter zu leben. sein und sollen, vergangenheit und Zukunft – sowohl ihre differenz als auch ihre vermittelbarkeit werden durch den kulturbegriff gleichermassen bei kant markiert. Und eben dies verbindet ihn am ende wieder mit Herder, auch wenn letzterer zur vergangenheit die gesamte Geschichte der Menschheit rechnet, und sie nahezu, wie später der konstruktive Herder-rezipient ernst cassirer, als Prozess zunehmender selbstaufklärung der Menschheit begreift. Hier setzt kant, wie bereits vermerkt, einen anderen akzent, indem er die Zeit vor der einsicht in die kompetenz der vernunft, autonome stifterin einer moralisch fundierten Gesellschaft und damit stifterin von kultur zu sein, scharf gegen seine Gegenwart abgrenzt: vergangenheit, das ist – in klassifikatorischer Zuspitzung – die Zeit des dogmatismus, der Metaphysik und des offenbarungsglaubens. andererseits verbindet kant umso mehr mit Herder die forderung, die den kulturkonstitutiven keim seiner Moralphilosophie ausmacht, nämlich diejenige, dass die „Menschheit“ in der Person eines jeden als selbstzweck anzusehen sei. kant hat diese forderung bekanntlich zu einer der formelvarianten des kategorischen imperativs werden lassen. aus ihr lässt sich eine distinkte definition der Würde des Menschen ableiten: sie liegt in der nicht instrumentalisierbaren, d. h. zweckfreien Synthese aus Individualität der Person einerseits und Universalvernunft andererseits, wie sie in der Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs gedacht ist. in diesem Punkt decken sich kants theorie der Person als repräsentant der vernunft und Herders Humanismuskonzept der sache nach.

5

immanuel kant, Beantwortung der frage: Was ist aufklärung?, AA, viii, 35.

140

enno rudolph

3. VergleIcH

und

konsequenzen

Herders kulturpluralismus und kants kulturuniversalismus konkurrieren miteinander auf der normativen ebene. Während Herder es bei einer normativen affirmation, die sich in einer Gleichsetzung von kultivierung und Humanisierung bzw. individualisierung zeigt, belässt, entwickelt kant kriterien, die den Prozess der Moralisierung der kultur stabilisieren sollen, und zwar subjektextern wie intern. für die interne stabilisierung hat die ethik zu sorgen: sie ist zuständig für die normative Bindung unseres Willens, die sie erreicht durch die festlegung auf die forderung, den Menschen als Zweck seiner selbst anzuerkennen. für die externe stabilisierung – d. i. diejenige durch Handlungen – sorgt das recht. sehen wir damit die funktion der ethik in der moralischen fundierung der kulturthese, so ist die rechtslehre als Grundlegung einer juridischen legitimation für die kultur zu bewerten. die kultur kommt zu ihrem recht – diese formulierung ist strikt wörtlich zu nehmen; und im gleichen Zuge gewinnt das recht den status einer authentischen form der kultur (ernst cassirer dachte bekanntlich daran, dem recht den status einer eigenen symbolischen form zuzuerkennen). Bereits die Basisformel von kants rechtsverständnis belegt diesen Befund: es sei, so kant, „Prinzip alles äusseren rechts“, „die freiheit eines jeden auf die Bedingungen einzuschränken, unter denen sie mit jedes anderen freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann […]“.6 diese berühmte formel hat sich nicht nur ihrer Prägnanz wegen einer gewissen Popularität erfreut, sondern auch wegen der Unmöglichkeit, Moral und recht noch trennscharf voneinander zu unterscheiden. das recht wird bei kant zur Brücke der überprüfbarkeit moralischer intentionen und ermöglicht ein Urteil über die normativen Grundlagen unserer Handlungen. das recht ist es, mit dem kant den ungebrochen aktuellen vorwurf unterläuft, die Moral zeitige niemals verbindliche folgen, da sie doch eine affäre des innenraums unseres Gewissens und unserer reflexionskompetenz bleibe: niemand, nur die vernunft selbst könne ja darüber urteilen, ob die tat jeweils einem Willen entspringt, der das Ziel der freiheitsförderung aller verfolgt, und der in diesem sinne in jeder Person die Menschheit als selbstzweck achte und anerkenne; geschweige denn könne jemand darüber auskunft geben, ob die tat ein angemessenes Mittel zur verwirklichung dieses Ziels darstelle. das recht als freiheitsgarant schliesst hier eine empfindliche lücke zwischen der intelligibilität unserer sittlichen Motivation und der scheinbaren moralischen indifferenz unserer Handlungen. recht macht aber nicht nur die Moral in transparenter Weise wirksam, sondern erst das recht ist nach kant die adäquate form für die Universalisierbarkeit von Moral. kants Behauptung, „dass die rechtsverletzung an einem Punkt der erde an allen gefühlt wird“7, wird von ihm nicht nur als argument dafür eingesetzt, die notwendigkeit der einführung eines „Weltbürgerrechts“ plausibel zu machen, sondern die these zeigt, dass sein moralischer realismus tief genug in ihm verwurzelt war, um den schluss zuzulassen: nur über die institution des rechts ist die Moral universalisierbar; und nur über die form des rechts hat die

6 7

immanuel kant, die religion innerhalb der Grenzen der bloßen vernunft, AA vi, 98. immanuel kant, Zum ewigen frieden, AA viii, 255.

das recht der kultur – die kultur des rechts: von Herder zu kant

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Moral überhaupt die chance, nicht zum opfer vernichtender, ideologisch motivierter auseinandersetzungen über ihre eigene Begründung zu werden. kants rechtsoptimismus ist also durchaus konditioniert. es gilt zwar die these „ohne Moral kein recht“, und damit der Grundsatz, dass die freiheit eines jeden, die das recht zu verteidigen hat, eine moralisch postulierte freiheit ist. es gilt aber auch umgekehrt, dass das moralische Postulat der freiheit keinerlei realisierungschance hat, ohne dass aus dem Postulat der freiheit ein einklagbares recht auf freiheit würde. Und dem entspricht, dass für kant nur über die etablierung einer globalen rechtsordnung dauerhafter friede in aussicht steht, dass hingegen eine noch so weit verbreitete überzeugung von der integrität der freiheitsrechte eines jeden einzelnen dafür bei weitem nicht zureichend wäre. Das Recht dient als Medium, der Moral zur Macht zu verhelfen. dabei ist die kategorie des „Weltbürgerrechts“ von besonderem Gewicht in diesem Zusammenhang. Wem ein recht zugesprochen wird, dem muss es möglich sein, dieses recht einzuklagen. recht ist nach kant dazu da, den wechselseitigen anspruch der von diesem recht verbindlich erfassten Mitglieder einer politischen Gemeinschaft so zu regeln, dass jedermann die Grenzen seines freiheitsgebrauchs nur dort anzuerkennen hat, wo der berechtigte anspruch auf freiheitsgebrauch des jeweils anderen beginnt. die von kant hier verwendete kategorie des „Weltbürgerrechts“ bedeutet also nicht weniger als die Erweiterung des Geltungsbereichs der Personalrechte über den Nationalstaat hinaus. die definition des rechts, die nach kant diejenige der Moral abbildet, ist eo ipso weder regional noch ethnisch noch politisch eingrenzbar. daraus folgt zum einen zwingend der anspruch auf eine internationale anerkennung dieses Bürgerrechts und zum anderen die notwendigkeit der etablierung einer instanz, die für die zwischenstaatliche einklagbarkeit dieses rechts verbindlich eintreten kann: das wäre eine Weltregierung. kant verhält sich gegenüber der idee zur einrichtung einer Weltregierung bekanntlich reserviert – wahrscheinlich aus diplomatischen Gründen. er plädiert ausdrücklich für einen „völkerbund“ (oder staatenbund), votiert aber gegen einen völkerstaat. die Begründung dafür scheint prima vista plausibel: staaten verhalten sich zueinander wie individuen, individuen aber dürfen in ihrer autonomie nicht mehr als unbedingt notwendig durch staatliche Gewalt reglementiert werden. otfried Höffe bemerkt dazu, dass kants version des staatenbundes nicht nur „extrem“ minimal, sondern „ultraminimal“ ist8. es gehe kant vor allem darum, den souveränitätsverzicht von staaten so klein als möglich zu halten. kant schwebt nach Höffe eine „republikenrepublik“ (civitas civitatum) vor9, „die wegen des extrem geringen Masses an souveränitätsverzichten von der vollständigen souveränität der einzelstaaten nicht fern ist“10. der kantische staatenbund hat allerdings weit weniger kompetenzen, als von einer organisation, die das Mass an rechtsgarantie geben soll, die mit der institution des „Weltbürgerrechts“ verbunden werden muss, tatsächlich verlangt werden 8

otfried Höffe, „völkerbund oder Weltrepublik?“, in: Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, hg. v. otfried Höffe, Berlin: akademie, 1995, 119 ff.; vgl. auch ders., a. a. o., 247, wo er feststellt, dass die von kant mit vorbehalt bedachte idee einer „Weltrepublik“ dem Modell eines „extrem minimalen Weltstaates“ entspricht, wie Höffe sie selbst favorisiert. 9 Höffe (fn. 8), 116. 10 Höffe (fn. 8), 122.

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enno rudolph

müsste. verstärkt wird die notwendigkeit, den staatenbund durch eine Weltregierung abzulösen, dadurch, dass er tatsächlich aussichtsreich für die errichtung und die erhaltung des Weltfriedens wirksam werden soll, auch bereits dann, wenn dieser frieden nur dem kriterium der abwesenheit von krieg genügen kann. kant hat den „krieg“ als „rechtsgang“ so kompromisslos verdammt, dass weder ein „gerechter krieg“ noch humanitäre interventionen bei ihm eine chance hätten, gebilligt zu werden. allein gegen angriffe darf eine nation sich verteidigen, wobei das komplizierte Problem einer kriegsrechtfertigung mit Berufung auf das Prinzip der präventiven verteidigung bei ihm allerdings unbehandelt bleibt. kants Grundsatz einer minimalen souveränitätseinschränkung der staaten spiegelt den der maximalen Unantastbarkeit individueller autonomie wider. insoweit ist seine argumentation immerhin schlüssig und konsequent. die ächtung des krieges aber dürfte dazu führen, dass es in seinem sinne sein müsste, wenn die souveränität der einzelstaaten – wenigstens interimistisch – weitere einschränkungen erführe, um „frieden durchzusetzen“, etwa nach dem Grundsatz: Weltbürgerrecht bricht staatsbürgerrecht. die Berufung auf das autonomieprinzip als Gegenargument greift zu kurz: auch das autonom handelnde subjekt hat nach kant seinen freiheitsgebrauch unter den vorbehalt der Moral, und der autonome Bürger unter den des rechts zu stellen. Hier müsste kants Wortlaut also modifiziert werden, ohne seine sachliche intention zu verletzen. anders als Hobbes ist kant schliesslich grundsätzlich daran interessiert, sowohl die innerstaatliche als auch die internationale vergesellschaftung der völker nicht allein auf eine optimale administration der im Grunde einander naturwüchsig koordinierten individuen, Gruppen bzw. völker zu gründen. kants ideal ist die Gemeinschaft freier Bürger – d. i. die Gesellschaft, die sich zu einer „civitas civitatum“ (Höffe), d. h. zu einer „Weltbürgergesellschaft“ zu formen hätte. das ideal zielt auf frieden nicht nur aus kalkül für die optimierung des erfolgreichen überlebens (Hobbes), sondern auf frieden als symbol einer von vernunft geprägten Weltordnung: ein kulturpostulat. 4. kultur eine brisante Passage in der kritik der Urteilskraft (§ 83) – es ist der kulturparagraph – lässt mit relativ hoher Prägnanz erkennen, was kant unter kultur im engeren sinne verstanden wissen wollte: nämlich eine leistung der natur, die darin besteht, ein Wesen hervorzubringen, welches die tauglichkeit besitzt, beliebige Zwecke zu setzen. das Zwecke setzende vermögen ist eine andere definition für freiheit. kant zieht daraus die konsequenz, kultur als den „letzten Zweck“ der natur zu bezeichnen. kultur erschöpft sich nicht darin, „ordnung und einhelligkeit in der vernunftlosen natur ausser ihm [dem Menschen] zu stiften“. kultur erweist sich vielmehr in der „Geschicklichkeit“, den Zwecke setzenden Gebrauch durch triebverzicht zu befördern – und hier schliesst sich eine brisante erläuterung an: „die Geschicklichkeit kann in der Menschengattung nicht wohl entwickelt werden, als vermittels der Ungleichheit unter Menschen.“11

11 immanuel kant, kritik der Urteilskraft, AA v, 432.

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im folgenden räsonniert kant darüber, dass dieser Ungleichheit – die sich für ihn zwingend aus der unterschiedlichen verteilung jener Geschicklichkeit zu ergeben scheint – durch zweierlei folgen rechnung zu tragen ist: –



Zum einen manifestiert sich die Ungleichheit in der sozialen asymmetrie, die die Gesellschaft teilt, ja spaltet, und zwar in die sphären der arbeit und die sphäre des luxus: dem Hegel-kenner wird auffallen, wie nahe kant hier begrifflich an der lehre von der anerkennung zwischen Herr und knecht bei Hegel zu operieren scheint; jedoch entschieden anders als Hegel nimmt kant diese entwicklung keineswegs als „vernünftig, weil wirklich“ hin, sondern und darin liegt der zweite aspekt, er fordert eine Gesellschaft, in der eine maximale entwicklung der naturanlagen der Bürger garantiert ist, also eine kompensation der Ungleichheit durch eine steigerung der Gerechtigkeit und identitätsfindungspraxis. „die formale Bedingung, unter welcher die natur diese ihre endabsicht allein erreichen kann, ist diejenige verfassung im verhältnisse der Menschen untereinander, wo dem abbruche der einander wechselseitig widerstreitenden freiheit gesetzmässige Gewalt in einem Ganzen, welches bürgerliche Gesellschaft heisst, entgegengesetzt wird; (sperrung v. vf.) denn nur in ihr kann die grösste entwicklung der naturanlagen geschehen.“12

in der konsequenz dieser auffälligen Modifikation der rechtsformel13 liegt für kant die daran anschliessende und weiter gehende forderung nach einem „weltbürgerlichen Ganzen“, das er auch als „system der staaten“ bezeichnet, um die Gefahr, dass die staaten aufeinander nachteilig wirken, zu minimieren. die daraus abzuleitende Position geht bereits über den durch taktik geprägten Wortlaut der friedensschrift hinaus und scheint eindeutig profiliert zu sein: kant fordert hier de facto mehr als einen völkerbund; er fordert einen Weltstaat in form eines systems der staaten, die sich zueinander wie kollektive Weltbürger verhalten. das Ziel dieser forderung ist – – –

abschaffung des naturzustandes zwischen den staaten; erweiterung des rechtsstaats der bürgerlichen Gesellschaften in richtung auf die Gründung einer Gesellschaft der Weltbürger; die stiftung einer rechtsordnung, die das „weltbürgerliche Ganze“, also das „system der staaten“ organisiert, trägt und zusammenhält, und damit die relativ unverbindliche vernetzung der staaten, wie sie der völkerbund leisten soll, überbietet.

5. fazIt kant erweist sich als der verfechter der etablierung einer Weltregierung im interesse eines staatensystems mit rechtsordnung und zugleich in erfüllung des kulturellen auftrags der vernunft. Mit dieser universalistischen Perspektive steht er nicht notwendig in opposition, sondern durchaus in einem komplementären verhältnis zur herderschen Position: Wo Herder einen Pluralismus der kulturen fordert, postuliert kant die kultur einer pluralistisch strukturierten Weltbürgergemeinschaft. 12 ebd. 13 vgl. oben fn. 6.

UlricH Haltern, Hannover erklärungsnotstand des lIberalIsMus: waruM recHtswIssenscHaft keIne wIssenscHaft der PolItIk Ist

thinking of atrocity as a human rights violation captures neither the unthinkable nor the banal in evil. —david kennedy, the dark side of virtue, 34.

sowohl die deutsche als auch die schweizerische sektion der internationalen vereinigung für rechts- und sozialphilosophie haben mich durch die einladung beehrt, über das thema einer rechtswissenschaft als kulturwissenschaft zu sprechen. im von Horst dreier und eric Hilgendorf herausgegebenen arsP-Beiheft habe ich schriftlich zur notwendigkeit und zu den Umrissen einer rechtswissenschaft als kulturwissenschaft stellung genommen.1 soweit sich die Bemerkungen anderer tagungsbeiträge auf die agenda einer Methode für kulturwissenschaftliches arbeiten in der rechtswissenschaft beziehen, verweise ich auf jenen text. Um nicht redundant zu werden, werde ich an dieser stelle einige ausgewählte Gedanken jener skizze vertiefen. insbesondere begründe ich meine kritik an dem am recht orientierten fortschrittsdiskurs mit erklärungsdefiziten liberaler theorie. 1. recHtswIssenscHaft

als

wIssenscHaft

der

PolItIk?

Mein schwerpunkt liegt dabei auf der frage, warum sich das recht als Gegenstand eines hoffnungsvollen und sich als fortschrittlich beschreibenden diskurses in jenen Bereichen der Wissenschaften etabliert hat, die sich der ordnung der politischen nationalen und internationalen Beziehungen widmen. verrechtlichung und konstitutionalisierung sind schlüsselwörter in den internationalen Beziehungen; sie versprechen rationalität, institutionalisierung und legitimität statt interessen, anarchie und Macht. Zeichnete man mit grobem Pinsel, könnte man formulieren, dass das recht das instrument ist, mit welchem sich die staatengemeinschaft aus dem Zustand der kriege, des Blutes und der Gewalt in den Zustand des friedens und der kooperation weiterentwickelt hat. dieser Zustand ist noch nicht erreicht; doch stärkt man das recht weiter, wird er erreicht werden. in den nichtjuristischen Wissenschaften – insbesondere in den Politikwissenschaften und der politischen Philosophie – zeigt sich ein zunehmendes interesse am recht, das sich mit optimismus hinsichtlich seiner ordnenden und zivilisierenden kraft paart.2 die rechtswissen1 2

Ulrich Haltern, notwendigkeit und Umrisse einer kulturtheorie des rechts, in: Horst dreier/ eric Hilgendorf (Hg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, arsP-Beiheft, 2008, im erscheinen. etwa Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, frankfurt a. M.: suhrkamp 1998, 91 ff., 170 ff.; ders., Der gespaltene Westen, frankfurt a. M.: suhrkamp 2004, 113 ff.

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Ulrich Haltern

schaften, die eine Weile durch Zweifel an der steuerungsfähigkeit durch recht ernüchtert waren, reimportieren diese auffassung gern und sehen ihre Hauptaufgabe wieder darin, „alle öffentliche Macht zu verfassen“.3 Wir finden dieses sentiment nicht nur in den Wissenschaften. es prägt vielmehr die dominanten erzählungen der abendländischen entwicklung und ihren fortschritt. dieser zeichnet sich durch drei wesentliche elemente aus. erstens gab es einen übergang von personalisierten zu demokratischen formen der Machtausübung, beispielsweise vom fürsten zur republik. Zweitens gab es einen übergang von der folter zum strafprozess und vom theater des schafotts zur Wissenschaft der kriminologie: das recht schützt auch diejenigen, die gegen es verstoßen. dadurch wird die Herrschaft des volkes zugleich zur Herrschaft des rechts. drittens gab es einen übergang vom krieg zum recht. Blinde, blutige Gewalt wird durch völkerrecht, insbesondere rechtsförmige streitschlichtungsorgane und -prozesse, ersetzt; wo Gewalt unvermeidbar ist, wird sie humanisiert, etwa durch die Unterscheidung von kombattanten und nicht-kombattanten oder durch das verbot bestimmter Waffen. alle drei übergänge appellieren an das recht, das zum leitmotiv der gesamten fortschrittserzählung wird. es gibt keinen blinden fleck des rechts, ebenso wenig wie es unverrechtlichte politische Prozesse gibt. das Politische und das rechtliche erscheinen uns untrennbar miteinander verknüpft. Wir preisen dies als wünschenswert und fortschrittlich, denn recht realisiert das vernünftige innerhalb des Politischen. das vernünftige steht im Politischen für den übergang von einer durch individuelle interessen Weniger getriebenen Politik zu einer Politik der Gerechtigkeit für alle: Gerechtigkeit erscheint als normative spezifizierung des vernünftigen im Politischen. die fortschrittserzählung ist insofern eine erzählung vom fortschritt durch die vernunft. Man findet sie nicht nur im Politischen, sondern in allen denkbaren Bereichen. die natur wird gezähmt, die Wissenschaften von falschen Glaubenssätzen befreit, wirtschaftliche Produktion rationalisiert; seit freud wird auch der Mensch einer vernunfttherapie unterzogen. das Politische ist nur eine von vielen instanzen des fortschritts in der vernunft. die große Zeit der vernunft – und damit der Hoffnungen des rechts – war das ausgehende 19. und das beginnende 20. Jahrhundert. das recht, insbesondere das völkerrecht, schien sich zum kern einer friedlichen streitbeilegung zwischen völkern und rivalisierenden Mächten entwickelt zu haben; die ereignisse des heraufziehenden 20. Jahrhunderts konnten von niemandem vorhergesagt werden. ein internationaler schiedshof in den Haag entstand; durch die Haager abkommen von 1899 und 1907 wurde ein differenzierter rechtskörper für das humanitäre völkerrecht und die Gebräuche des krieges etabliert; die kontrolle bestimmter Waffen war bereits 1868 in der st. Petersburger erklärung anerkannt worden und wurde durch weitere erklärungen von 1899 ergänzt. die restliche Welt geriet in die Umlaufbahn europas und damit auch unter europäische führung. der Welthandel stand in nie gekannter Blüte, die kolonialisierung erstreckte das christentum, europäische Werte und letztlich auch politische Unabhängigkeit auf den rest der Welt. verbindet man dies mit der revolution von kommunikations- und transportmöglichkeiten sowie 3

Philippe Mastronardi, Verfassungslehre: Allgemeines Staatsrecht als Lehre vom guten und gerechten Staat, Bern u. a.: Haupt 2007.

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mit den europäischen innerstaatlichen reformprojekten, die sich an den Prinzipien der Gleichheit und der demokratischen verantwortlichkeit orientierten, kann nicht verwundern, dass der Glauben an den erfolg der aufklärungsvision von fortschritt fest und gewiss war. seine Wurzeln besaß dieser Glaube in der Philosophie der aufklärung, die eine Wissenschaft der Politik als teil einer umfassenden rationalen Wissenschaft postulierte: „Um zu einer wirklichen Wissenschaft vom staate zu gelangen: dazu ist nichts anderes erforderlich, als die kompositive und resolutive Methode, wie Galilei sie in der Physik zur Geltung gebracht hat, auf die Politik zu übertragen.“4 Gründungen von staaten oder internationalen organisationen waren akte technischer kunst. Politische erfahrung wurde um Gründungsväter herum organisiert, die zwischen einem zeitlosen ideal und der historischen erfahrung vermittelten. ihr Ziel ist es, politische und wirtschaftliche ordnung aus der Blaupause eines zeitlosen Musters zu errichten, welches sich wiederum aus wissenschaftlicher durchdringung ergibt. Mit newton kam man Gott nicht durch die durch den sündenfall korrumpierte sprache der Bibel, sondern durch die naturgesetze näher; Gott ist der erhabene architekt eines mechanisch funktionierenden Universums. imitatio dei erhält nun die Bedeutung, den Bau perfekt austarierter und regulierter Maschinen im sozialen raum nachzuahmen. Gründungsakte von staaten und organisationen werden zum design, und so kann man bei Woodrow Wilson über die Gründung der vereinigten staaten lesen: „the makers of our federal constitution constructed a government … to display the laws of nature. Politics in their thought was a variety of mechanics. the constitution was founded on the law of gravitation.“5 die mechanistische ausprägung des vernunftglaubens ist längst überwunden; doch unabhängig von der ausprägung ist das vernünftige im kern des rechts ein fundamentaler Glaubenssatz der rechts- und staatswissenschaft. Hierin – in der verortung der vernunft – unterscheiden sich rechtswissenschaftler grundlegend von Politikwissenschaftlern. Politikwissenschaftler verorten vernunft in ihrer eigenen Wissenschaft; mit ihrer Hilfe beobachten sie einen Gegenstand, der auf Macht und interessen reagiert. Politikwissenschaftliches denken würde es als kategorieverwechselung begreifen, Politik als ausformung von vernunft zu sehen, denn vernunft ist das, was die Wissenschaft der Politik an das Politische heranträgt. das Politische selbst – auch in seiner juridifizierten form – ist lediglich ein Weg zur Befriedigung von interessen. Wissenschaft ist danach eine vernunftgeleitete form der Machtanalyse; die vernunft ist im Besitz des Wissenschaftlers, besteht aus kategorisierungen, verallgemeinerungen, vorhersagen usw. und ist für politische akteure weitgehend wertlos. rechtswissenschaftler hingegen können nicht akzeptieren, dass vernunft außerhalb des Politischen angesiedelt ist und sein soll. für die rechtswissenschaft ist die verfassung ein Mechanismus, das Politische einer höheren vernunftnorm zu unterwerfen. die verfassung repräsentiert das vernünftige im Politischen und im staat. dies ist ganz unabhängig von der frage, ob bestimmte Partikularinteressen in die tatsächlich vorhandene verfassung eingeflossen sind und dort perpetuiert wer4 5

ernst cassirer, Die Philosophie der Aufklärung (1932), Hamburg: felix Meiner 1998, 341. vgl. ebd., 313 ff., 339 ff.; dens., Der Mythus des Staates (1949), frankfurt a. M.: fischer 1985, 213 ff. Woodrow Wilson, The New Freedom, new york: doubleday 1913, 46 ff. Wilson, der für eine auslegung der verfassung als „living document“ eintrat, war natürlich kritisch gegenüber dieser anschauung.

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den. Jede gerichtliche entscheidung ist ein ausgreifen nach der verborgenen perfekten verfassung; jede tatsächliche deformation der realen verfassung ist ein durch die Politik (nicht das recht) begangener fehler, der der reform bedarf. vernunft ist damit für den rechtswissenschaftler bereits teil des von ihm studierten objekts. sie ist schon im Beobachteten vorhanden und muss nicht mehr an das recht herangetragen werden; die rolle des Wissenschaftlers beschränkt sich darauf, herauszuarbeiten, was die im objekt enthaltene vernunft im einzelnen verlangt. die Herrschaft des rechts ist die Herrschaft der vernunft. reform wird daher nicht von außen an das recht herangetragen, sondern ist teil der entwicklung des rechts selbst. Hieraus ergibt sich die konsequenz, dass eine natürliche drift in richtung „law’s empire“ (dworkin) besteht. vernunft arbeitet sich durch das recht zur Geltung; da vernunft – wie der Markt – grundsätzlich keine Grenzen kennt, wenn sie ihr nicht künstlich (d. h. politisch) von außen auferlegt werden, existiert eine organische historische flugbahn in richtung Prinzipienhaftigkeit und Universalismus. kann es unter diesen Umständen verwunderung auslösen, dass die Juristen (und die politischen Philosophen) nun kants „Zum ewigen frieden“ wiederentdecken?6 die realität belehrt uns zwar eines Besseren: ein reich des rechts oder der vernunft rückt in weite ferne, obwohl eine perfekte vernunftpolitik durchaus in richtung empire tendiert. doch erscheint dies aus sicht des globalen konstitutionalismus verschmerzbar: es sind durchaus unterschiedliche vernunftmaßstäbe vorstellbar, sodass auch unterschiedliche „reiche“ (in ihrer überkommenen organisation als staaten) bestehen bleiben können. der verkehr zwischen diesen aber ist seinerseits am vernunftmaßstab auszurichten, und eben dies ist nicht nur das Ziel des völker- und europarechts, sondern auch dasjenige der politischen theorie und Philosophie.7

6

7

statt vieler: Jürgen Habermas, kants idee des ewigen friedens – aus dem historischen abstand von 200 Jahren, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen – Studien zur politischen Theorie, frankfurt a. M.: suhrkamp 1996, 192 ff.; volker Bialas/Hans-Jürgen Häßler (Hg.), 200 Jahre Kants Entwurf „Zum Ewigen Frieden“ – Idee einer globalen Friedensordnung, Würzburg: königshausen und neumann 2001; otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant: Zum Ewigen Frieden, Berlin: akademie-verlag, 2. a. 2004; ders., Königliche Völker. Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, frankfurt a. M.: suhrkamp 2001; volker Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf „Zum Ewigen Frieden“ – Eine Theorie der Politik, darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999; reinhard Merkel/roland Wittmann (Hg.), „Zum Ewigen Frieden“ – Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, frankfurt a. M.: suhrkamp 1996; volker Marcus Hackel, Kants Friedensschrift und das Völkerrecht, Berlin: duncker & Humblot 2000; klaus dicke/klaus-Michael kodalle (Hg.), Republik und Weltbürgerrecht: Kantische Anregungen zur Theorie politischer Ordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Weimar, köln u. a.: Böhlau 1998; sabine Jaberg, Kants Friedensschrift und die Idee kollektiver Sicherheit – Eine Rechtfertigungsgrundlage für den Kosovo-Krieg der NATO?, Hamburg: ifsH 2002; nils lange-Bertalot, Weltbürgerliches Völkerrecht – Kantianische Brücken zwischen konstitutioneller Souveränität und humanitärer Intervention, Berlin: duncker & Humblot 2007; James Bohmann/Matthias lutz-Bachmann (Hg.), Frieden durch Recht: Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung, frankfurt a. M.: suhrkamp 1996. John rawls, the Law of Peoples, cambridge (Mass.): Harvard UP 1999; ders., fifty years after Hiroshima, in: ders., Collected Papers, cambridge (Mass.): Harvard UP 1999, 565 ff.; Habermas (fn. 2); Bruce A. Ackerman, the rise of World constitutionalism, virginia l. rev. 83 (1997), 771 ff.; aus der soziologie Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft, frankfurt a. M.: suhrkamp 2007; aus der rechtsphilosophie Fernando R. Tesón, a Philosophy of international law, Boulder: Westview 1998.

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es ist wichtig zu erkennen, dass sich diese vision der staatlichen und zwischenstaatlichen ordnung keineswegs aufdrängt, sondern eher kontraintuitiv ist. schaut man heute auf die Hoffnungen zurück, die Juristen, Politiker und Philosophen vor 100 Jahren hegten, sieht man leicht, wie wenig dieser Glauben mit der realität zu tun hatte, die das kommende Jahrhundert für Millionen Menschen zu einer politischen, physischen und moralischen katastrophe machen sollte. Wir wertschätzen den staat und seine errungenschaften; gleichwohl erkennen wir auch an, dass diese errungenschaften von unerhörter Zerstörung begleitet waren. dies gilt nicht nur für die entwicklungsländer, sondern auch für die industriestaaten, denen das 20. Jahrhundert zugleich fortschritt auf der einen und Zerstörung und kollaps auf der anderen seite brachte. Zu den errungenschaften des 20. Jahrhunderts gehört auch die Perfektionierung der technik totaler kriegsführung und des völkermords sowohl in den industrialisierten als auch den nicht industrialisierten staaten. die Hoffnungen zu anfang des 20. Jahrhunderts unterschätzten und missverstanden die kraft des nationalismus; mehr noch, sie missverstanden die Bedeutung des Politischen im leben der Menschen. Man setzte Hoffnungen auf die vernunft des rechts, obwohl das Jahrhundert durch die leidenschaften des Politischen geprägt werden sollte. recht verstand man als system von rechten und verträgen; rechtsinstitutionen verstand man als institutionen, die diesen Werten ausdruck verleihen sollten. es schien eine natürliche, ja zwingende Bewegung von der innerstaatlichen ordnung des rechts zur internationalen rechtsordnung zu geben. dies schien die realität dessen zu sein, was kant 100 Jahre zuvor theoretisch überlegt hatte: die schrittweise erweiterung der republik des rechts von der inneren ordnung liberaler staaten zur internationalen ordnung zwischen liberalen staaten. diese Hoffnungen setzten an die stelle der realität des nationalstaates einen verfrühten kosmopolitismus. die konflikte der folgezeit, beginnend mit dem ersten Weltkrieg, haben die schwäche des rechts vor den kräften gezeigt, die das Politische mobilisierten. diese kräfte besaßen etwas elementares, nämlich das vermögen der nation, die Bürger zu opfern aufzurufen. Ganze Bevölkerungen konnten von der notwendigkeit des tötens und sterbens überzeugt werden. ein ultimativer sinn schien dahinter zu stehen. trotz aller technischen errungenschaften des 20. Jahrhunderts besaßen die konflikte dieser Zeit eine archaische komponente, die mitunter an die großen religionskriege erinnert: einen elementaren, auf Glauben basierenden Zorn. anders als die religionskriege stellte aber das Politische selbst, nicht die religion, den Glauben zur verfügung, der sich dann in nationalen, ethnischen und ideologischen konflikten Bahn brach. dieser archaismus – der sich u. a. in den in ruanda und Bosnien verwendeten Waffen spiegelt – steht in krassem Gegensatz zum fortschrittlichen, aufgeklärten und modernen recht. als aufgeklärte, fortschrittliche und moderne Menschen stehen wir daher weitgehend sprach-, konzept- und ratlos vor den archaischen verwerfungen des Politischen, die das recht hinwegzufegen scheinen.8 doch ist nicht zu vergessen, dass die Moderne generell ihre eigene antithese produ8

vgl. z. B. Michael ignatieff, Reisen in den neuen Nationalismus, frankfurt a. M.: insel 1994; ders., Das kleinere Übel: Politische Moral in einem Zeitalter des Terrors, Hamburg/Berlin: Philo 2005; Philip Gourevitch, Wir möchten Ihnen mitteilen, dass wir morgen mit unseren Familien umgebracht werden, Berlin: Berlin-verlag 1999. neue versuche aber bei Michael Mann, Die dunkle Seite der Demokratie: eine Theorie der ethnischen Säuberung, Hamburg: Hamburger edition 2007; Jacqes sémelin,

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ziert. im Zeichen einer abstrakten öffentlichkeit und einer gestaltlosen nivellierung des sozialen Bandes suchen individuen im verborgenen die spuren echter Zusammengehörigkeit.9 so betrachtet ist das Prämoderne der Gemeinschaftlichkeit von volk und nation ebenso wie das archaische der konflikte gerade nicht prämodern, sondern ein Modernisierungseffekt. die Berufung auf gemeinsame Wurzeln, geteilte Geschichte, kulturelle einheit oder sonstige kontingente Materialität ist das Mitlaufende der modernen sprache des nationalstaates. es ist heute mehr denn je verknüpft mit einer rhetorik des eingeweihten, Unsagbaren und Geheimnisses, das die Politik der nation stets als doppelzüngig erscheinen lässt und zugleich als innere Bedingung der Moderne funktioniert. Mögen die genozidären Handlungen noch so archaisch wirken, sie sind immer durch das Bewusstsein von der deutschen „endlösung“ aus der Mitte des 20. Jahrhunderts informiert. diese hat die vorstellbaren Möglichkeiten des Politischen in kambodscha, irak, indonesien und ruanda ebenso erweitert wie in europa selbst, als der Balkan in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts abermals lager, ethnische säuberungen und Morde erlebte. Gleichwohl hegen im beginnenden 21. Jahrhundert Juristen Hoffnungen, die denen der Juristen zum Beginn des 20. Jahrhunderts auf verstörende Weise ähneln. Wiederum ist die rede von einer globalen rule of law, gar von einer „Globalverfassung“; wieder werden internationale spruchkörper errichtet und westliche politische und moralische Werte auf die restliche Welt erstreckt. natürlich wird nicht länger das christentum verbreitet, doch finden sich schon nach kurzem suchen in den Menschenrechten eben diese christlichen Werte. natürlich befinden wir uns im Post-kolonialismus, doch wurde die koloniale struktur nur durch eine neue abhängigkeitsstruktur von uni- und multilateraler entwicklungshilfe sowie durch die kontrolle des Marktzugangs ersetzt. der internationale Handel wächst wieder, und man setzt viele Hoffnungen auf die wachsende ökonomische interdependenz sowie auf die verrechtlichung der internationalen Handels- und sonstigen Beziehungen. dieser optimismus verdankt sich wesentlich dem ende der ideologischen konfrontation nach dem kalten krieg. der Westen hat den streit über die natur der vernunft in der Politik gewonnen, als die liberale, demokratische sicht der vernunft die marxistisch inspirierte sicht der vernunft besiegte. doch wäre es ein fehler zu glauben, dass sich die konflikte des 20. Jahrhunderts aus einem Querstand von visionen des vernünftigen speisten. Gegen die vernunft richtete sich der Zuschnitt des Politischen als nationalismus mit den archaischen tiefenstrukturen, von denen bereits die rede war. diese tiefenstrukturen sind heute kaum in geringerem Maße vorhanden als damals. Wir haben keine veranlassung, der fortschrittserzählung des rechts Glauben zu schenken oder den Hoffnungsdiskurs der verrechtlichung zu führen, wenn man an die konflikte im früheren Jugoslawien, in kaschmir, kongo, sudan oder osttimor denkt. auch tschetschenien, irak und china/taiwan sollten uns eigentlich eines Besseren belehren hinsichtlich des naiven Glaubens an das recht. Gleichwohl verfallen wir allzu häufig in eine art rechts-triumphalismus, der rechtswissenschaft

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Säubern und Vernichten: die politische Dimension von Massakern und Völkermorden, Hamburg: Hamburger edition 2007. Joseph vogl, einleitung, in: ders. (Hg.), Gemeinschaften: Positionen zu einer Philosophie des Politischen, frankfurt a. M.: suhrkamp 1994, 7 ff. (17).

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als Wissenschaft der Politik erscheinen lässt, für den es aber keine rechtfertigung gibt. Während die völkerrechtliche dogmatik in den letzten 100 Jahren immer differenzierter wurde, hat sich die Praxis der staaten in vielen Bereichen genau in die Gegenrichtung entwickelt. fordert das humanitäre völkerrecht seit der Haager landkriegsordnung eine differenzierung zwischen kombattanten und nichtkombattanten, führen die staaten „totale kriege“, rüsten mit atomwaffen auf, die die gesamte Bevölkerung bedrohen, und drangsalieren die Zivilbevölkerung mit beispielloser Brutalität. Je ausgefeilter das rechtliche instrumentarium zur regulierung des einsatzes militärischer Gewalt durch staaten wird, desto gewalttätiger wird die staatenpraxis. das 20. Jahrhundert war sowohl das Jahrhundert der umfassenden verrechtlichung internationaler Beziehungen als auch das Jahrhundert unvorstellbarer zwischenstaatlicher Gewalt. es ist zu einfach, diese gegensätzliche entwicklung mit dem Hinweis auf die fehlende durchsetzbarkeit völkerrechtlicher normen zu erklären. sicherlich wäre die effektivität des völkerrechts größer, wenn es einen starken arm gäbe, der im namen des völkerrechts das schwert führte. doch bleibt der Hinweis auf die mangelnde institutionalisierung an der oberfläche des Problems. in dieser erklärung erscheint die eine seite – die staatliche Gewalt – immer als Pathologie, aberration oder Holzweg. diese Pathologie, so will es die institutionenerklärung, konnte sich gegenüber dem zu schwachen recht durchsetzen wie ein virus gegenüber dem zu schwachen immunsystem.10 demgegenüber ist das recht in dieser erzählung das instrument, das die Menschheit aus einem Zustand der Gewalt in einen Zustand der ordnung und des friedens überführen wird; daher muss alles getan werden, um erstens mehr verrechtlichung zu erreichen und zweitens eine gesicherte durchsetzung des rechts zu garantieren. Je mehr recht und je bessere rechtsdurchsetzung, desto mehr frieden und fortschritt. in der folge werden vielfältige deutungs- und reformangebote gemacht, die von der „internationalen Gemeinschaft“ über „internationales verfassungsrecht“ bis hin zum „Weltinnenrecht“ und zur „Weltverfassung“ reichen. doch lässt dies unberücksichtigt, dass in der jeweiligen situation die Gewalt sinn ergab. dieser sinn entsprach Bedeutungen, die für das leben der Menschen handlungsanleitenden charakter besaßen. selbst wenn sich uns der sinn nicht länger erschließt, war er einmal vorhanden. die politischen narrationen der Gewalt sind immer mit den narrationen des staates synchron. Gewalt erscheint stets als dringende notwendigkeit für die gesamte Bevölkerung. dabei geht es so gut wie nie um die möglicherweise schlimmen Zustände nach einer niederlage. es geht nicht darum, dass nach einer niederlage die Zivilgesellschaft angeschlagen oder zerstört sein könnte oder dass die Menschen in schlechteren Umständen leben müssten. es geht vielmehr um die Unmöglichkeit, eine niederlage zu imaginieren. Jede militärische niederlage bringt das ende einer politischen ordnung, eine „re-formation“ des staates. verfassungen überleben kapitulationen nicht.11 nicht die Zivilgesellschaft ist das objekt, um das es geht, sondern der staat. Wie sonst ist zu erklären, dass die nuklearrüstung des kalten krieges in eine abschreckungslogik mündete, 10 Zu dieser Metapher, die im juristischen diskurs weit verbreitet ist, vgl. tiefgehend roberto esposito, Immunitas: Schutz und Negation des Lebens, Berlin: diaphanes 2004. 11 Hannah arendt, On Revolution (1963), new york: Penguin 1990, 15.

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die im versagensfall die gesamte Bevölkerung getötet hätte? der staat selbst nimmt eine quasi-sakrale natur an, die es zu schützen gilt. eine niederlage ist deshalb nicht hinnehmbar, weil sie den tod des politischen kollektivs – der imaginierten körperschaft – bedeutet.12 Wir leben nach wie vor in einem symbolischen Universum, in dem wir es für legitim halten, individuelle leben für das leben des kollektivs und individuelle körper für den mystischen körper des staates zu opfern. im Zentrum dieser imagination steht der staat selbst, nicht der Bürger an sich. der staat liebt nur sich selbst. die tatsache, dass Gewalt – auch Gewalt in einer nicht durch das recht gedeckten form – zu einem bestimmten Zeitpunkt sinnvoll und notwendig erscheint, deutet darauf hin, dass wir unterschiedlichen normativen strukturen verpflichtet sind. einerseits wollen wir Gerechtigkeit und vernunft in den internationalen Beziehungen; als instrumentarium wählen wir das recht. andererseits fühlen wir uns auch anderen Werten als Gerechtigkeit und vernunft verpflichtet, denn wir reagieren auf opferansprüche, die in ihrer extremen reichweite weder durchweg gerecht noch vernünftig sind, und empfinden sie als legitim. die Gleichzeitigkeit von sich ausweitender Juridifizierung und sich ausweitender Gewalt lässt rechtserzählung einerseits und politische erzählung andererseits im 20. Jahrhundert auseinandertreten; die last dieses auseinandertretens kann von dem simplen Hinweis auf die mangelnde institutionelle stärke des rechts nicht getragen werden. vielmehr lässt die Gewalt dieses und des letzten Jahrhunderts eine Metaphysik mit eigener politischer Philosophie vermuten, die ihrerseits handlungsanleitend ist. Man nähert sich dem Problem, wenn man mehrere normative strukturen vermutet: eine struktur, die man als fortschritt im und durch das völkerrecht kennt, und eine andere struktur, die häufig als überwunden empfunden wird, die aber nach wie vor ein symbolisches Universum konstituiert, in dem wir uns befinden und das unsere realität ebenso wie unseren Begriff von legitimität formt. in diesem Universum existiert nach wie vor ein raum der Gewalt, der sich durch recht nicht einfangen lässt. 2. der erklärungsnotstand

des

lIberalIsMus

für diesen raum finden weder die rechtswissenschaft noch die politische Philosophie vollständig befriedigende erklärungen. ich führe den erklärungsnotstand auf die Beobachtungsform des liberalismus zurück, der längst das beherrschende Paradigma politischer theorie geworden ist. liberalismus als theorie und Praxis hat sich der westlichen Welt so eingeprägt, dass eine hiervon unbeeinflusste Perspektive kaum vorstellbar ist. dennoch ist das Universum des liberalismus nicht das vollständige Universum des Politischen. liberalismus ist keine einheitliche theorie. doch teilen liberale theorien Grundannahmen über den einzelnen, die rolle des Gemeinwesens und die Herstellung 12 dazu erhellend Peter Berghoff, Der Tod des politischen Kollektivs: Politische Religion und das Sterben und Töten für Volk, Nation und Rasse, Berlin: akademie-verlag 1997; Martin Papenheim, Erinnerung und Unsterblichkeit: Semantische Studien zum Totenkult in Frankreich, Berlin: akademie-verlag 1992.

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von für einzelne und Gemeinwesen geltenden normen. liberale theorien unterscheiden sich in der auslegung dieser Grundannahmen und gewichten einzelne teile unterschiedlich, ohne dadurch dissens über den kern zu erzielen. so stimmen alle im Hinblick auf den vorrang autonomer einzelner überein, welche die fähigkeit zu rationaler deliberation besitzen, ohne notwendigerweise die gleichen interessen zu verfolgen. autonome individuen vermögen zudem die Beziehung zu ihrer kultur neu zu definieren; auch diejenigen liberalen theorien, die – wie etwa bei kymlicka – dem kulturthema besondere aufmerksamkeit widmen, kommen nicht ohne prominente exit-option aus. neben dem Bekenntnis zu autonomie und Würde gehen liberale theorien zudem von einer Welt begrenzter ressourcen aus, in der individuen miteinander umgehen und diesen Umgang regulieren müssen. Hierzu müssen sie die Perspektive der vernunft einnehmen und zeitweise ihre Partikularinteressen als Quelle ihres Willens hintanstellen. dies bedeutet freilich nicht, das selbst hinter sich lassen zu müssen: vernunft ist die vom liberalismus hervorgehobene tugend; vernunft stützt autonomie, Würde und öffentliche deliberation.13 Zugleich steht vernunft im Zentrum der theorie mit der konsequenz, dass liberale Praxis und liberale theorie parallel laufen. rawls spricht von einem „reflective equilibrium“ zwischen seiner theorie der Gerechtigkeit und den normen unserer liberalen kultur.14 Gerade dieser Gleichklang macht rawls’ Buch aus dem Jahr 1971 – trotz der Weiterentwicklung durch den autor selbst und durch andere liberale theoretiker – zu einem der wohl wichtigsten Werke der politischen Philosophie des letzten Jahrhunderts. rawls, Habermas und andere wollen den Gang der vernünftigen deliberation autonomer einzelner zeigen, der notwendig ist, um dem gemeinsamen politischen leben institutionelle struktur und normative kohärenz angedeihen zu lassen. dies geschieht durch die Bedingungen des diskurses, unter denen vernünftige Wesen dessen ergebnissen zustimmen können. es entstehen normen universalen charakters, deren Universalität nur noch durch die besonderen Bedingungen des Umfelds, innerhalb dessen sich der diskurs vollzieht, eingeschränkt ist. Je globaler diese Umfeldbedingungen sind, desto universaler sind die normen; daher ist es nicht überraschend, dass im Zeitalter der Globalisierung der universalistische anspruch wächst. liberale theorie basiert auf einer eigenen moralischen epistemologie. sie verkoppelt eine theorie der vernunft mit einem konzept von interesse und errichtet eine Welt, die zwischen dem öffentlichen und dem Privaten aufgeteilt ist. diese Zweipoligkeit spiegelt sich in der Zweipoligkeit der elemente politischer Psychologie, die dem liberalismus unterliegen, nämlich vernunft und interesse. Genau hierin liegt der erklärungsnotstand begründet. 2.1 die GrUndstrUktUr

des

liBeralisMUs

liberalismus unterscheidet normen einerseits streng von sinn, andererseits von identität oder erfahrung. normen werden als interaktionsregeln für autonome subjekte begriffen; diese sind frei, sinn, identität oder erfahrung dort zu finden, wo immer sie wollen. liberalismus will einen Bedingungsrahmen gerechter regeln etab13 Jürgen Habermas, versöhnung durch öffentlichen vernunftgebrauch, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, frankfurt a. M.: suhrkamp 1996, 65 ff., in auseinandersetzung mit rawls. 14 John rawls, A Theory of Justice, cambridge (Mass.): Harvard UP 1971, 48 ff.

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Ulrich Haltern

lieren, innerhalb dessen individuen ihre eigene Wahl bezüglich sinnstiftender Bedeutungen treffen können und müssen. der Grund hierfür liegt darin, dass es aus liberaler sicht unmöglich ist, durch vernünftigen diskurs über die Quellen und formen von sinn konsens zu erzielen. diese sinnquellen und -formen sind jene Werte, die identität stiften und sich damit auf der anderen seite der Unterscheidung befinden. im liberalen verständnis regeln normen also lediglich die interaktionen ihrerseits sinnsuchender subjekte. sinn selbst aber verbleibt innerhalb der domäne individueller entscheidung.15 Paradigmatisch hierfür seien die religionsfreiheit und der Markt genannt. der staat darf keine eigene Position in sachen des Glaubens einnehmen, ebenso wenig wie er materielle ressourcen auf interessen abstimmen darf. er muss alle varianten religiösen lebens so lange tolerieren, wie diese innerhalb des Bedingungsrahmens liberaler ordnung verbleiben. ebenso darf er in den Markt nur dann eingreifen, wenn er ein Marktversagen wahrnimmt. in beiden fällen reicht seine regelungskompetenz nur so weit, wie dies für eine antwort auf diese externalitäten notwendig ist. Grundsätzlich darf er weder geistige noch materielle Güter umverteilen. Man könnte formulieren, dass die seele der Politik nicht zugänglich ist, sei sie nun Gott oder dem Markt verschrieben.16 selbstverständlich streiten sich verschiedene ausformungen von liberalismus über die reichweite und konkretisierungen dieser Prinzipien. in einigen Punkten jedoch herrscht einigkeit. so gut wie alle stimmen etwa dahingehend überein, dass kinder zu schützen sind, bis sie autonome subjekte sind, oder dass ein Mindestmaß von verteilungsgerechtigkeit über den Markt hinaus zu gewährleisten ist.17 ebenso stimmen alle darin überein, dass die öffentliche Hand keine Urteile fällen darf hinsichtlich der art oder der Quelle privaten sinns, sei dieser nun geistiger oder materieller natur. die Grenze zwischen legitimer und illegitimer ordnung wird im liberalismus durch die klassische Unterscheidung zwischen öffentlich und privat reifiziert. Hierbei handelt es sich um eine normative, nicht eine deskriptive Unterscheidung. sie beruht auf einer ihr vorausliegenden Markierung, nämlich derjenigen zwischen dem vernünftigen und dem Unvernünftigen. nie geht es um die frage, ob eine bestimmte Handlung eine natürliche Grenze überschreitet, die die sphäre individueller autonomie bezeichnet. vielmehr geht es darum, was ein individuum vom anderen vernünftigerweise verlangen kann. Hierauf haben sowohl die eigenart des Handelnden als auch der Handlungskontext einfluss: etwa unterscheiden sich die vernünftigen ansprüche des staates von denen des arbeitgebers. Zwar ist die geschützte sphäre des Privaten für beide unterschiedlich definiert, doch dürfen beide diese sphäre nicht verletzen. ein unvernünftiger anspruch greift in die sphäre des Privaten ein. Privat/öffentlich und vernünftig/unvernünftig sind so verknüpft.18 Meinungsverschiedenheiten darüber, wo die Grenze zwischen privat und öffentlich verläuft, markieren zugleich das umstrittene territorium über den Grenzverlauf 15 statt vieler nur die ausformulierung bei Peter Berkowitz, Virtue and the Making of Modern Liberalism, Princeton: Princeton UP 1999. 16 in diese richtung kahn, Putting Liberalism in Its Place, Princeton: Princeton UP 2005, 113 ff. 17 etwa amy Gutmann, Democratic Education, Princeton: Princeton UP 1987, 44; rawls (fn. 14), 274 ff. 18 diese verknüpfung wird anschaulich in rawls’ Projekt der „öffentlichen vernunft“. John rawls, Political Liberalism, new york: columbia UP 1993, 212 ff.; ders., the idea of Public reason revisited, in: ders., The Law of Peoples (fn. 7), 129 ff.

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zwischen dem vernünftigen und dem Unvernünftigen. die auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden liberalen konzeptionen gleichen sich darin, dass sich ihre streitstruktur ständig wiederholt. es geht darum, ob die vernunft weit genug ausgreift oder ob sie nicht bereits zu weit ausgegriffen hat. religiöser Glaube beispielsweise ist mit dem vernunftargument angreifbar. Je mehr Hintergrundglaubenssätze instabil werden (insbesondere, aber nicht nur religiöse19), umso einfacher ist es für das vernünftige, sie zu belagern und „imperialistisch“ immer weiter ins Private vorzudringen.20 liberalismus ist damit eine politische theorie, die zwischen totalitären und libertären theorien angesiedelt ist. absorbiert das vernünftige zu viel Privates, kollabiert sie im totalitären; zieht sich das vernünftige zu weit zurück und erlaubt dem Privaten zu viel geschützten raum, kollabiert sie im libertären. von beiden konkurrenztheorien unterscheidet sich der liberalismus also insbesondere durch seinen Glauben an die moderate reichweite des vernünftigen. dieser Glauben aber stützt sich eher auf erfahrung als auf Prinzipien.21 eine theoretisch zwingende Begründung gibt es nicht. Hier liegt auch der Grund für die immer neue Herausforderung des Moderaten durch beide Pole mit dem wiederkehrenden argument, das vernünftige habe sich zu weit oder nicht weit genug erstreckt. die Unterscheidung von öffentlich/privat und vernünftig/unvernünftig hat unter den Bedingungen der Moderne zu einer verflachung der erfahrung des Privaten geführt. alles nicht als vernünftig klassifizierbare – welcher Provenienz auch immer – fällt in eine einzige kategorie, wo ihm Wert im liberalismus allein deshalb verliehen wird, weil sich das individuum dafür entschieden hat. die entscheidung für eine sache oder eine Handlung fällt nicht, weil diese wertvoll wäre; sie ist vielmehr wertvoll, weil sie Gegenstand positiver entscheidung war. Umgekehrt verflacht ebenso die erfahrung des öffentlichen, da alles, was nicht Gegenstand eigener entscheidung ist, als Zwang erscheint. dies führt zu einem sich ausweitenden krisendiskurs. die anfänge des liberalismus liegen im schutz des Glaubens vor den forderungen des staates. in der Moderne aber, in der der Glaube zugunsten von Märkten in den Hintergrund tritt, könnte man einen Paradigmenwechsel annehmen, in dem das Private kaum noch als domäne des Glaubens, sondern vielmehr des interesses gedacht wird. die eigene entscheidung, die freie Wahl, erscheint immer mehr als funktion des Geschmacks. die vielfalt privater entscheidungen ist einem vernünftigen nenner nicht zugänglich. die sprache des Privaten kollabiert im Bild des körperlichen interesses. interesse – modelliert nach Begierden – liegt jenseits der vernunft.22 Weiterhin trägt zur krise bei, dass die instabile Grenze zwischen privat und öffentlich nicht nur aus der richtung der vernunft verschoben und debattiert wird, sondern auch aus der richtung des Privaten. Zueinander in Wettbewerb stehende konzeptionen des Privaten sind immer wieder im Begriff, diese Grenze zu über19 statt vieler Udo di fabio, Das Recht offener Staaten, tübingen: Mohr siebeck 1998, 136 ff. 20 kahn (fn. 16), 125. konsequent zu ende gedacht hat dies Giorgio agamben, Homo sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben, frankfurt a. M.: suhrkamp 2002; der politische körper wird zum alptraum einer maßlosen vernunft, die das Ungeheuer des totalitarismus nicht nicht gebären kann. 21 kahn (fn. 16), 126. 22 ebd., 127 f. Wirkungsmächtiges Beispiel: richard sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, frankfurt a. M.: fischer 1983.

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Ulrich Haltern

schreiten. es kommt zu einer regelmäßigen kategorieverschiebung von öffentlich und privat. dies lässt sich anhand der drei wichtigsten sphären des Privaten – religion, Markt, familie – nachweisen. Jede der drei war ein inbegriff des Privaten, der Gegensatz des öffentlichen. Jede aber bewegte sich von der Position des dem öffentlichen entgegengesetzten zu einer Bedingung eines gut funktionierenden staates. Jede ist sowohl das Mittel zur erreichung einer erfolgreichen politischen ordnung als auch der Zweck dieser ordnung selbst. Jede kann mithin von einer seite der Grenze zwischen öffentlich und privat auf die andere hinüberwechseln und vom Privaten zur Grundwahrheit öffentlicher ordnung werden.23 2.2 die

ZWeiPoliGe

Welt

des

liBeralisMUs

die zweipolige Welt des liberalismus, d. h. die Unterscheidung von privat und öffentlich (oder vernünftig und unvernünftig), setzt sich auf der ebene der politischen Psychologie fort. auch dort ist liberale theorie dichotomisch organisiert, nämlich zwischen interesse und vernunft. die westliche tradition politischer theorie bewegt sich auf einem feld, das – grob vereinfacht – durch drei große konzeptionen geprägt wurde: durch die klassische griechische Philosophie, durch das christentum und durch die aufklärung. alle drei konzeptionen fanden ein eigenes verhältnis zu den drei elementen politischer Philosophie: vernunft, Wille und interesse. in wiederum grober vereinfachung könnte man formulieren, dass die Griechen eine vernunftordnung für den staat (und die seele) errichten wollten, das christentum sich dem (durch göttliche Gnade gekennzeichneten) Willen zuwandte und die aufklärung sich diese beiden konzepte zwar angeeignet, aber durch die Bezugnahme auf das immanente und Gewöhnliche stark verändert hat. Unter dem einfluss der aufklärung führt vernunft zu einer Wissenschaft der Politik, nicht zu einem ideal der Gerechtigkeit; Wille wird von Gnade losgelöst. das resultat ist der Gesellschaftsvertrag, im Zentrum steht seither die auslotung des interesses.24 liberalismus ist weitgehend blind gegenüber der fortwirkenden kraft des Willens im Politischen und steckt in einer dialektik von interesse und vernunft fest. der Beginn dieser dialektik mag zeitlich in der aufklärung lokalisiert werden. dort zeigt sich – etwa im vergleich von Humes theorie des moralischen fühlens im „treatise on Human nature“ und de sades theorie des erotischen fühlens – erstens, dass vernunft nunmehr eng mit dem körper (und damit mit dem interesse) verbunden ist, und zweitens, dass auf eine Wertquelle außerhalb der immanenten, gewöhn23 vgl. zum thema ähnlich nunmehr raymond Geuss, Privatheit: Eine Genealogie, frankfurt a. M.: suhrkamp 2002, der die these vertritt, die Unterscheidung falle in sich zusammen, was gravierende auswirkungen auf politisches denken habe. auch im recht selbst lässt sich dies nachweisen. aus der einen richtung kahn (fn. 16), 68 ff. (liberalism of faith/liberalism of speech); aus der anderen Judith Jarvis thomson, right to Privacy, in: ferdinand david schoeman (Hg.), Philosophical Dimensions of Privacy, cambridge (engl.): cambridge UP 1984, 272 ff., und dies., The Realm of Rights, cambridge (Mass.): Harvard UP 1990, 285 f. (bzgl. des „right to privacy“). 24 cassirer, Philosophie der Aufklärung (fn. 4), 339 ff.; kahn (fn. 16), 113 ff., 145 ff. vgl. die nicht identische, aber ähnliche Genealogie des modernen subjekts bei Michel foucault, der für das klassische Griechenland das vorherrschende Prinzip der selbstbeherrschung („enkráteia“) identifiziert (Der Gebrauch der Lüste, frankfurt a. M.: suhrkamp 1986, 84 ff.).

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lichen erfahrung verzichtet wird. das Wunder scheint nicht mehr durch das Gewöhnliche hindurch; der Mensch muss sich damit abfinden, teil der gewöhnlichen Welt zu sein. charles taylor hat diese „Bejahung des gewöhnlichen lebens“ im dritten teil seines Werkes über die Quellen des selbst ausführlich beschrieben.25 Wille wird im sozialvertrag rekonzipiert, Gerechtigkeit wird – anders als bei den Griechen, die darunter eine ordnung der seele verstanden – eine sache der verteilung. der Gesellschaftsvertrag spielt eine ambivalente rolle zwischen vernunft und interesse. einerseits ist sein verfassen ein akt reiner vernunft. Hier spiegelt sich die klassische (griechische) tradition: vernunft wird gegen Begierden ausgespielt und erhält die aufgabe, ordnung im chaos körperlicher interessen zu schaffen. Wer sein eigenes selbstinteresse nicht hintanstellen kann, wird von der abfassung des Gesellschaftsvertrages – selbst in der form eines lediglich gedachten vertrages – ausgeschlossen. eigeninteressen haben im Gesellschaftsvertrag keinen Platz. es gilt vielmehr, Gründe für das eigene Handeln benennen zu können, denen alle zu folgen vermögen. der moderne liberalismus steht fest in dieser tradition, die interessen aus der vernunft herausfiltert. Jede liberalismusvariante greift zu diesem Zweck auf ihre eigenen theoretischen Hilfsmittel zurück, die sich wesensmäßig aber gleichen. rawls erfindet den schleier des nichtwissens, Habermas die ideale sprechsituation, ackerman die Gesprächsbeschränkung.26 andererseits zeigt sich bereits in der idee des vertrags dadurch eine abkehr von der griechischen tradition, dass eine Hinwendung zum interesse stattfindet. die vertragsidee schließt den Gedanken ein, dass derjenige, der einen vertrag abzuschließen bereit ist, hieran eigene interessen besitzt. diese finden sich zwar nicht im inhalt des vertrages wieder. Umgekehrt aber beschreibt der vertrag keine vernunftordnung, die von interessen vollständig entkoppelt ist. in der tradition des Gesellschaftsvertrages ist vernunft ein koordinationsmechanismus, während das Motiv das interesse ist. interessenbefriedigung als Zweck wird nicht durch vernunft ersetzt.27

25 charles taylor, Sources of the Self: The Making of Modern Identity, cambridge (Mass.): Harvard UP 1989, 211 ff. 26 rawls (fn. 14), 136 ff.; Jürgen Habermas, vorbereitende Bemerkungen zu einer theorie der kommunikativen kompetenz, in: ders./niklas luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, frankfurt a. M.: suhrkamp 1971, 136 ff.; Bruce ackerman, Social Justice in the Liberal State, new Haven: yale UP 1980, 8 ff.; ders., Warum dialog?, in: Bert van den Brink/Willem van reijen (Hg.), Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, frankfurt a. M.: suhrkamp 1995, 399 ff. 27 eine andere frage ist, ob sich nicht auch im liberalismus die klassische tradition stärker durchsetzt, als es zunächst den anschein hat. liberalismus, insbesondere in der form des Gesellschaftsvertrages, ist ambivalent in seinem Bezug auf interesse und vernunft in der abfassung des vertrages. die klassische tradition wertschätzt die vernunft per se. aber schließlich tendiert auch liberalismus hierhin. er beginnt zwar mit der Wertschätzung des Gewöhnlichen – und damit dem Bezug auf das interesse –, scheint sich aber dann doch zur vernunft hingezogen zu fühlen. dies führt zu jenen kategorieverwechselungen, von denen bereits die rede war. letztendlich scheint schließlich doch alles im öffentlichen zu landen, was sich daraus erklären lässt, dass die vernunft ihren raum im liberalismus ausweiten will und die Grenze zwischen privat und öffentlich immer weiter verschiebt. vgl. kahn (fn. 16), 155.

158 2.3 Politik

Ulrich Haltern des interesses

allgemein zeichnen sich interessen durch drei Merkmale aus. sie stellen das individuum in den vordergrund, denn interessen sind immer jemandes interessen. sie korrespondieren mit dem äußeren akt des nehmens bzw. des anspruchstellens; daher ist die politische Psychologie des interesses mit einer auf eigentumsrechten basierenden rechtsordnung verbunden. sie sind schließlich nicht aus neutraler Perspektive miteinander vergleichbar, mit ausnahme der tatsache, dass Menschen sie verfolgen und in sie investieren. die generalisierte Perspektive des interesses ist diejenige des Marktes.28 der Markt koordiniert das gegenseitige nehmen, indem er chaotische konkurrenz in eine stabile tauschordnung umorganisiert. das Mittel hierzu ist die objektivierung von interessen in der form von eigentum, wodurch ein Prozess der Bewertung und des tausches ermöglicht wird. der vertrag als eines der wichtigsten koordinationsmittel auf dem Markt reichert einerseits objekte mit Wert an und schafft andererseits eine intersubjektive Welt des tausches. es kann nicht überraschen, dass in diesem Mechanismus ein Modell für das funktionieren politischer ordnung gesehen wird.29 Gutes regieren ist vor allem ökonomisches regieren; das ökonomische bezeichnet ein entgrenztes Beziehungsgeflecht sozialer tausch- und verkehrsformen, das die fragen der politischen lenkung ebenso wie die struktur kleinster sozialer Parzellen beherrscht.30 nach dieser auffassung gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen den Zielen eines Marktes und denjenigen eines Gemeinwesens. solche Unterschiede sind nicht denkbar, wenn interesse die Quelle von sinn und sinn die Befriedigung individueller interessen ist. es ist offenkundig, dass eine Politik des interesses keinen Wert auf die Bewahrung vergangener Bedeutungen legen kann. Bedeutungen müssen für jemanden von interesse sein, und in solchen Wertkalkulationen können vergangene Bedeutungen nicht zählen.31 Wer dem Modell des Marktes folgt, nimmt für sich eine Metaphysik des individualismus in anspruch: alle theorie müsse davon ausgehen, dass es nur das individuum gebe.32 auf die vielfalt menschlicher ressourcen kann es nicht ankommen, da jede ressource letztlich in einer Marktentscheidung zum ausdruck kommen muss. die logik des Marktes besteht in der aggregation individueller entscheidungen über interessen und abneigungen. der perfekte Markt ist pareto-optimal, eine darüber hinausgehende „richtigkeit“ existiert nicht.33 28 kahn (fn. 16), 168; niklas luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, frankfurt a. M.: suhrkamp 1988, 91 ff.; dirk Baecker, Information und Risiko in der Marktwirtschaft, frankfurt a. M.: suhrkamp 1988, v. a. 159 ff.; Ulrich Haltern, Geld und recht, in: Hartmut Bauer u. a. (Hg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat, fs reiner schmidt, München: c.H. Beck 2006, 693 ff. 29 statt vieler Guy kirsch, Neue Politische Ökonomie, stuttgart: lucius & lucius, 5. a. 2004. 30 Joseph vogl, Kalkül und Leidenschaft: Poetik des ökonomischen Menschen, Zürich/Berlin: diaphanes 2004, 54. 31 kahn (fn. 16), 168. 32 robert nozick, Anarchy, State, and Utopia, new york: Basic Books 1974; randy e. Barnett, The Structure of Liberty: Justice and the Rule of Law, oxford: oxford UP 1998. dagegen etwa don Herzog, Externalities and Other Parasites, University of chicago l. rev. 67 (2000), 895 ff. 33 vgl. bereits meine kritik in Ulrich Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen, Berlin: duncker & Humblot 1998, 276 ff. m. w. n.

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eine Politik des interesses lässt die anderen beiden elemente politischer Psychologie – vernunft und Wille – nicht verschwinden. Wohl aber nehmen sie eine bestimmte form an. aus der Perspektive einer Politik des interesses ist es die aufgabe der vernunft, den Zugang zum Markt durch die abschaffung von Barrieren zu gewährleisten und Marktversagen auszugleichen. die aufgabe des regierens besteht in der Herstellung von Bedingungen, unter denen sich ein florierender Markt entwickeln kann. die tatsache, dass die vernunft bei dem versuch, nicht-marktwirtschaftlich funktionierende Wirtschaften zu schaffen, gescheitert ist, bedeutet nicht etwa freiheit von regulierungsmaßnahmen. im Gegenteil hat die vernunft ihren festen Platz in der Bewältigung von komplexen aufgaben, die auf vielfältige Weise Marktoperationen stützen.34 vernunft wird mit anderen Worten von der Wirtschaft dominiert, wenn man die politische Psychologie von individualinteressen beim Wort nimmt. vielleicht ist uns diese Perspektive heute weniger fremd, als wir zugeben wollen. Zu bedenken ist aber, dass die Hegemonie der Wirtschaft gegenüber der vernunft keine frage von Wahrheit, sondern von Macht ist. das Marktmodell des sozialen, das durch die Wirtschaft angetrieben wird, reflektiert die attraktivität eines interessengestützten verständnisses des selbst in der westlichen Welt. auch der Wille nimmt in der Perspektive einer Politik des interesses eine besondere form an. er erscheint hier als vertrag. Wille in vertragsform verwandelt eine sonst instabile und unvorhersagbare interessenstruktur in eine stabile ordnung intersubjektiver Befriedigung. natürlich reicht die Begründung des vertrages nicht über die Bedürfnisbefriedigung des individuums hinaus, sodass der Wille nur bis zum rand des interesses reicht, nicht jedoch weiter. aber immerhin erscheint Wille dadurch, dass der vertrag so wichtig im hegemonialen wirtschaftlichen diskurs ist, als stabilisierendes Moment in einer mobilen Welt des interesses. Während in der Politik des interesses die aufgabe von Politik darin besteht, Marktwerte zu bewahren und Marktinstitutionen zu schützen, besteht das Problem von Politik vor allem in deren Hang zur einmischung in den Markt. Politik erscheint häufig als „rent-seeking“ und wird dadurch zu einer Misstrauen auf sich ziehenden Handlungsform. die spannung zwischen der logik des Marktes, der in der anlage global ist, und der begrenzten und gemeinschaftsspezifischen Politik führt dazu, dass die Politik auf ineffiziente Weise in den globalen Markt interveniert. der Unmut hierüber entsteht daraus, dass die vernunft des Marktes die tendenz hat, die Politik von nationalstaaten durch expertenmanagement zu ersetzen. Bekannt ist diese tendenz etwa in Gestalt der Befürchtung, dass nationale Parlamente durch organisationen wie die Wto, den internationalen Währungsfond und die Weltbank ersetzt werden.35

34 kahn (fn. 16), 169 f. 35 dem entspricht die zunehmende Praxis dieser organisationen, ihre ursprünglich nicht-politischen Mandate stark auszuweiten und Politik im namen von good governance zu betreiben. dazu etwa stefanie killinger, The World Bank’s Non-Political Mandate, köln u. a.: Heymanns 2003.

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Ulrich Haltern

2.4 Politik

der

vernUnft

eine Politik der vernunft ist die Politik, die am engsten sowohl mit der aufklärung als auch mit dem liberalismus verknüpft ist. ihr streben ist darauf gerichtet, ein fundament des politischen lebens zu errichten, welches jenem der naturwissenschaften gleicht. Wie in den naturwissenschaften soll es nunmehr darum gehen, ordnung aus Prinzipien zu konstruieren.36 in einer solchen Wissenschaft des Politischen müssen diese Prinzipien für alle rationalen Menschen offenkundig gültig sein, die eine politische ordnung unter der Bedingung der universalen knappheit von ressourcen konstruieren wollen. diese ist das spiegelbild jener theorie der Moderne, die von einem (imaginierten) naturzustand ausgeht und nur zwei dinge für verlässlich gegeben hält: die menschliche fähigkeit zur vernunft und eine bedrohliche Welt. das Ziel der anzustrebenden Wissenschaft des Politischen ist ein positives verständnis politischer Phänomene in der Weise, wie andere erfahrungswelten das objekt wissenschaftlicher forschung sein können. Wie andere empirische Wissenschaften will die Wissenschaft des Politischen neue wissenschaftliche kategorien etablieren, die es experten erlauben, politische Phänomene anders als durch alltagserfahrung zu beschreiben und zu analysieren. erkennbar ist eine tendenz zur einheitsbildung37: so wie es nur eine Wissenschaft der Mathematik geben kann, kann es auch nur eine Wissenschaft des Politischen geben, unabhängig von Meinungsverschiedenheiten darüber, wie sie aussieht. in einer perfekten Politik der vernunft ist eine einzige globalpolitische ordnung vorstellbar. solange nämlich die beiden Grundannahmen – die fähigkeit zur vernunft und knappe ressourcen – gegeben sind, sollte das ergebnis vernünftiger deliberation immer das gleiche sein. diese tendenz zur einheit bedeutet aber nicht notwendigerweise das ideal eines einheitlichen „reiches“. es mag durchaus raum für variation und abweichung innerhalb allgemeiner Parameter geben; vernunft kann sich für kontexte sensibel zeigen. es sind dann mehrere politische ordnungen möglich. dann aber stellt sich das gleiche Problem – die Herstellung politischer ordnung auf der Grundlage der vernunft – auf internationaler ebene im verhältnis der staaten untereinander. dementsprechend ist nicht überraschend, dass genau dies das Projekt führender theoretiker des liberalismus ist.38 das ergebnis der anwendung von vernunft auf politische ordnung – mag dies nun innerhalb einer liberalen ordnung oder als liberale Metaordnung zwischen liberalen ordnungen sein – ist per definitionem Gerechtigkeit. selbstverständlich wird der inhalt einer gerechten ordnung umstritten sein. Zwischen den streitenden aber besteht einverständnis darüber, dass die Möglichkeit zu konsensbildung existiert, wenn man vernünftige Bedingungen für die deliberation aufstellt.39 die Politik der vernunft bringt die beiden verbleibenden elemente politischer Psychologie nicht zum verschwinden: sie ignoriert nicht interesse und Wille. Beide elemente aber müssen einen test der vernunft durchlaufen, um eine rolle spielen zu können. im Hinblick auf das interesse ist vernunft keineswegs gleichgültig gegen36 37 38 39

vgl. oben im text bei fn. 4 f. und dortige nachw. dazu kahn (fn. 16), 172 f. vgl. fn. 7. dies sind die bekannten Bedingungen des schleiers des nichtwissens, der ideellen Gesprächssituation oder der Gesprächsbeschränkung, vgl. oben bei fn. 26.

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über den Produktionsbedingungen und Befriedigungsmöglichkeiten des Marktes. die verweigerungshaltung der vernunft gegenüber dem interesse hinter dem schleier des nichtwissens ist vielmehr metaphorischer natur. die tatsache allein, dass ein Zustand oder ein objekt für ein individuum von interesse ist, macht dieses noch nicht wertvoll. Wert kommt ihm allein aus der autonomen anwendung von vernunft zu, deren standard sich von kriterien wie effizienz und Gleichgewicht unterscheidet. Gleiches gilt für das verhältnis von vernunft und Wille in der Politik der vernunft. vernunft streitet nicht etwa die Möglichkeit ab, dass sich individuen als teil einer größeren, transtemporalen Gemeinschaft verstehen können und hierfür opfer in kauf zu nehmen bereit sind. aber auch der Gemeinschaftswille muss einen test der vernunft durchlaufen, um seinen Wert zu beweisen. der Wert einer Gemeinschaft liegt darin, sich im einklang mit den Prinzipien der Gerechtigkeit zu organisieren. Ungerechter Wille ist wertlos, selbst wenn er das selbstverständnis der Bürger manifestiert. im innern vermag die Politik der vernunft beispielsweise im nationalismus lediglich eine Pathologie zu erblicken, soweit die Bedingungen der vernunft nicht gegeben sind. im äußeren werden auch die Grenzen politischer Gemeinschaften einem vernunfttest unterzogen. diese Grenzen müssen beispielsweise eine gerechte ressourcen-allokation zwischen den völkern widerspiegeln. die Politik der vernunft kann nämlich kein argument dafür finden, dass eine politische Gemeinschaft gegenüber einer anderen privilegiert sein sollte. die Zufälle von raum und Zeit sind durch vernunft – d. h. hier Gerechtigkeit – auszugleichen. Wille und interesse nehmen also auch in der Politik der vernunft eine besondere form an. entweder werden sie überhaupt nicht abgebildet oder sie werden in den Bereich des Privaten verbannt.40 2.5 faZit die Marginalisierung des Willens führt zu jener schwachstelle des liberalismus, die kritiker als leere im Herzen der liberalen abstraktion zu attackieren pflegen. obwohl liberale theorie den vertrag – in form des Gesellschaftsvertrags oder des vertrags im Markt – ins Zentrum stellt und damit ein instrument zum Paradigma nimmt, das gerade die formalisierung und stabilisierung individuellen Willens ist, liegt gerade hierin das Problem. der Wille in der liberalen theorie ist ganz inhaltslos. im sozialvertrag ergibt er sich aus der vernunft, im Marktvertrag aus dem interesse. er wird im liberalismus zu einem sekundären element, das sich auf die Produkte der

40 ein Beispiel für ersteres ist der Platz des Willens in rawls’ Gerechtigkeitstheorie, die individuellen Willen, sei dieser nun politischer oder religiöser natur, ausdrücklich vom Urzustand ausschließt. es gibt auch keine differenzierung zwischen entscheidung und deliberation (prämiert wird bei rawls allein die praktische vernunft). sie werden zusammen behandelt, weil sie aus sicht der vernunft das gleiche Problem aufspannen, nämlich die Bedrohung durch das irrationale. Beispiele für die zweite im text genannte strategie – die verbannung von interesse und Wille in die sphäre des Privaten – wurden bereits genannt. in der Parallelität der Unterscheidung öffentlich/privat und vernünftig/unvernünftig ist die Ursache für vorbehalte und Misstrauen gegenüber konzepten wie „Zivilgesellschaft“. ich habe dies an anderer stelle als progressivistisches Paradox bezeichnet, vgl. Haltern (fn. 33), 64 ff.

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vernunft oder die objekte der Begierde richtet und nichts eigenes beizusteuern hat. eine überzeugende lösung innerhalb der liberalen theorie ist nicht zu erkennen. es entspricht jedoch langer tradition, sinn und Bedeutung außerhalb von vernunft und interesse zu suchen. diese tradition ist seit Paulus Bestandteil westlicher kultur und prägt unser ambivalentes verhältnis zum recht und zum Gemeinwesen. liberalismus lässt in seiner zweigeteilten Welt aus vernunft und interesse aber keinen raum für eine stelle, an der das Unbehagen in der liberalen kultur thematisiert und diskutiert werden könnte. liebe – der raum, den Paulus diesem Unbehagen eröffnete – ist im liberalismus längst privatisiert und damit der fruchtbarkeit für politische theorie entzogen worden. konzeptionelle Hilfsmittel, die diese leerstelle der politischen Philosophie als Bedeutungs- und sinnstelle erschließen könnten, sind bemerkenswert gering.41 so bleibt dem liberalismus der ausweg aus einer dichotomie, deren beiden Pole ständig ineinander kollabieren, verschlossen. 3. grenzen

des

recHts

und seIner

wIssenscHaft

dies hat unmittelbare konsequenzen für die deutungsmacht des liberalismus im Hinblick auf politische Phänomene. so wie liberalismus liebe nicht versteht, versteht er auch das Böse nicht. Zwischen vernunft und interesse findet liberale theorie keinen dritten Begriff. die Willenskonzeption wird entweder durch den Universalismus der vernunft oder den Partikularismus des interesses absorbiert. vernunft und interesse stehen dabei in einem spannungsfeld: vernunft muss das interesse zähmen und begrenzen; das interesse will immer mehr, als die vernunft zugesteht. diese spannung bleibt so lange bestehen, wie sich soziales leben den Bedingungen von knappheit unterworfen sieht. liberale theorie kann das Böse daher ausschließlich als ein versagen der vernunft oder als ungehemmtes interesse begreifen. instanzen des Politischen, die etwa arendt, ignatieff, Bohrer, neiman oder kahn als das „Böse“ bezeichnen42 und damit ein untertheoretisiertes konzept benutzen würden, das im öffentlichen Bewusstsein nachhallt und verstanden wird, werden in der liberalen theorie auf das versagen der einhegungen durch die vernunft zurückgeführt und als Pathologien eingeordnet, denen mit Hilfe des strafrechts und einer interventionistischen therapie zu begegnen ist. Handelt es sich um ein politisches Phänomen, muss das recht zur Geltung gebracht werden, notfalls mit Gewalt; eine interventionistische therapie könnte auf die notwendigkeit von entwicklungshilfe und institutioneller neustrukturierung hinweisen. das 20. Jahrhundert hat überraschenderweise eine beispiellose ausdehnung sowohl des reichs der vernunft als auch des Bereichs des Bösen mit sich gebracht. letzteres war zuvor außerhalb jeder vorstellungskraft: das sich zunehmend durchsetzende Prinzip politischer vernunft versprach im 19. Jahrhundert ein Zeitalter der 41 vgl. bereits roberto M. Unger, Knowledge and Politics, new york: free Press 1975, 106 ff. 42 Hannah arendt, Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil (1961), new york: Penguin 1994; Michael ignatieff, Das kleinere Übel (fn. 8); karl Heinz Bohrer, Imaginationen des Bösen: Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie, München/Wien: Hanser 2004; susan neiman, Evil in Modern Thought: An Alternative History of Philosophy, Princeton: Princeton UP 2002; Paul W. kahn, Out of Eden: Adam and Eve and the Problem of Evil, Princeton: Princeton UP 2007.

Warum rechtswissenschaft keine Wissenschaft der Politik ist

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Moderation und der rationalen reform. im angesicht des politischen versagens ergaben sich aus liberaler sicht zwei erklärungsmöglichkeiten. erstens musste es sich um ein versagen bei der identifizierung der Prinzipien der vernunft handeln. faschismus und kommunismus mussten falsche Wissenschaften des Politischen sein. falsche Wissenschaften aber sind nicht in der lage, die aufgabe zu erfüllen, das interesse zu zähmen und einzuhegen. das Problem dieser erklärung liegt auf der Hand. Wissenschaftliche dissense ziehen weder Gewalt noch Metzeleien nach sich. daher musste man sich der zweiten erklärung zuwenden, nämlich der Mutmaßung, dass es sich nicht um falsche vernunft, sondern um zu wenig vernunft handelte. die Pathologie wurde im individuellen Machtmissbrauch von individuen oder ganzen Gruppen von individuen angesiedelt. nicht deutschland, sondern Hitler war das Problem. die Pathologie ungezügelter interessen macht den Weg frei zu einer analyse individueller Psychopathologien, seien nun Hitler, die arbeiterklasse oder die kapitalisten das Ziel. die therapie besteht darin, solche szenarios gar nicht erst zur entstehung kommen zu lassen. ein führer darf nicht an die Macht gelangen, oder ein klassenkonflikt darf nicht entstehen; jedenfalls muss es institutionelle Mechanismen geben, die die entfernung solcher führer oder die schlichtung von konflikten erlauben. die nachkriegsagenda bestand konsequenterweise aus einer doppelten strategie: Zum einen dem internationalen strafrecht, zum anderen der entwicklungshilfe: nürnberg und der Marschallplan.43 Beide erklärungen können zutreffend, beide strategien erfolgreich sein. faschismus und kommunismus sind wohl tatsächlich falsche Wissenschaften des Politischen. doch auch sozialdarwinismus oder laissez-faire-kapitalismus sind wohl falsche Wissenschaften des Politischen, die den liberalismus begleitet haben, ohne dass Genozid die folge gewesen wäre. eine erklärung für die Praxis politischer Gemeinschaften ergibt sich hieraus noch nicht. Gleichfalls können die historischen akteure pathologisch handeln. doch auch hieraus ergeben sich keine adäquaten erklärungen für politische Handlung. Warum werden solche politischen akteure als Helden statt als Psychopathen, als politische führer statt als kriminelle angesehen? Wie man an Milosevic studieren kann, tendieren wir dazu, nach der katastrophe eine Bedeutungsumschreibung vorzunehmen. die erklärung liegt möglicherweise darin, dass die moralische verantwortlichkeit der individuen von derjenigen der Gemeinschaft getrennt werden soll. liberalismus vermag individuelle kriminalität zu begreifen, denn er neigt einem moralischen und metaphysischen individualismus zu. er widersetzt sich aber jedem diskurs, der das kollektiv selbst in Bezug nimmt, und reduziert Gruppenpathologien auf kriminelle verschwörungen.44 dies zieht Zweifel an der Geeignetheit des internationalen strafrechts als instrument des übergangs und der auseinandersetzung mit der politischen vergangenheit nach sich, die hier aber nicht zu thematisieren sind. liberalismus, fokussiert auf individualismus, wird als konsequenz häufig die kategorie des kriminellen in Bezug nehmen, die wiederum als versagen der einhegung des interesses verstanden wird. die antwort ist die Bestrafung – die gerechte strafe gepaart mit effektiver abschreckung. darüber Hinausgehendes steht im verdacht der Würdeverletzung. 43 kahn (fn. 42), 53 ff. 44 George fletcher, Romantics at War: Glory and Guilt in the Age of Terrorism, Princeton: Princeton UP 2002.

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im Politischen wird liberale theorie zur Praxis immer weitererführender Gesetzgebung und immer weiterer internationaler spruchkörper führen; im Privaten wird liberale theorie zur Praxis immer weiter reformierter erziehung und psychischer, sozialer, pädagogischer oder pharmakologischer therapie führen. die Phänomene, die man als „böse“ bezeichnen kann, scheinen davon völlig unberührt zu sein. Wir leben in einer Welt, in der sich hochgerüstete und mit atomwaffen ausgestattete armeen gegenüberstehen, in der ethnische säuberungen stattfinden, in der Genozid und folter an der tagesordnung sind und in der auch im Privaten Misshandlungen kaum abnehmen. es ist nicht mein anliegen, in diesem Beitrag eine lösung anzubieten. an anderer stelle habe ich im anschluss an Paul kahn die auffassung vertreten, dass der Wille als element politischer Psychologie zu emanzipieren ist und eine eigene rolle in der erklärung politischer Phänomene – etwa solcher, die man als „böse“ klassifizieren könnte – spielen kann. Wille kann die Universalität der vernunft und die Partikularität des interesses kombinieren, ohne auf eines der beiden reduziert zu werden. er ist auf das individuelle sein fixiert – einen abstrakten, universellen Willen gibt es nicht –, ohne sich in der Partikularität des individuums zu erschöpfen. durch den Willen verstehen wir uns als teil einer sinnerfüllten Welt, die nicht durch abstrakte ideen beherrscht wird, sondern durch ideen, die an bestimmte subjekte geknüpft sind. die domäne des Willens ist die Geschichte, die eine vergangenheit und eine Zukunft projiziert; Wille transzendiert die Zeitlosigkeit der vernunft und die Gegenwart des interesses. Hierdurch werden wissenschaftliche anschlüsse möglich an Geschichtsphilosophie, integrations- und nationalismustheorien, die Philosophie der symbolischen formen, die weit über die aufklärung hinausreichende ideengeschichte (insbesondere die politische theologie des Mittelalters), die religionswissenschaft und natürlich die kulturwissenschaften. es eröffnet sich ein kritischer raum, in dem das zurückgewonnen und geborgen werden kann, was das rechtliche Wissen außer sichtweite gebracht hat. dies ist ein wissenschaftlicher raum der freiheit.45 Während ich diesen raum hier nicht weiter ausloten möchte und stattdessen auf andere texte verweise46, bleibt doch festzuhalten, dass das strukturell angelegte erklärungsdefizit der liberalen theorie zu einer ernüchterung hinsichtlich der Möglichkeit führt, das Politische rechtlich einzufangen. liberale theorie und ihre immanente erzählung, nach der verrechtlichung zum leitmotiv eines hoffnungsvollen fortschrittsdiskurses geworden ist, werden zu einer fiktion, welche die Bedeutungsund symboldimension des Politischen unterschätzt. recht führt nicht vom chaos zur ordnung, vom krieg zum frieden und von der Gewalt zur kooperation. recht und Gewalt proliferieren gleichzeitig und zu gleichen teilen. sie arbeiten nicht gegeneinander; recht überwindet – im Gegensatz zu dem, was seit Hobbes die politische theorie erhofft – nicht die Gewalt, sondern beide werden allgegenwärtig. souveränität, die zwar funktional ein zerfaserndes, aber ideengeschichtlich und imaginativ nach wie vor ein zentrales Merkmal von staatlichkeit ist, ist nicht nur im recht

45 Haltern (fn. 1), iii.6. a. e. 46 Ulrich Haltern, Was bedeutet Souveränität?, tübingen: Mohr siebeck 2007; ders., Europarecht und das Politische, tübingen: Mohr siebeck 2005.

Warum rechtswissenschaft keine Wissenschaft der Politik ist

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verkörpert. der richter ist nicht die transsubstantiierte verkörperung des souveräns. die körperhaftigkeit findet sich vielmehr – manchmal sogar in privilegierter form – im soldaten. souveränität ist in unserer imagination des Politischen (auch) die Gewalt, die dem recht vorausgeht und durch das recht nie vollständig eingefangen werden kann. immer dann, wenn die existenz des staates in frage steht – also entweder im Moment der Gründung oder der verteidigung – übersteigt souveräne Gewalt die regelungsmacht des rechts. Zwar ist recht eine vollständige Perspektive auf die Welt, denn im Hinblick auf jede frage nach der rechtmäßigkeit gibt es eine bejahende oder verneinende antwort. aber die Geschlossenheit des rechtssystems ist eine Geschlossenheit aus der Perspektive des rechts; sie erschöpft nicht alle Möglichkeiten politischer imagination. der richter kann nicht die gesamte staatliche ordnung in sich aufnehmen. Manchmal, in ausnahmesituationen, werden die Grenzen des rechts sichtbar. diese ausnahmesituationen ereignen sich häufig im Bereich des völkerrechts, sodass die normativität des völkerrechts auch stärker leidet als die normativität des nationalen rechts. dies ist keine frage des institutionellen designs zur effektiven durchsetzung des völkerrechts, sondern das Bemerkbarwerden der Grenzen des rechts vor dem Hintergrund politischer imagination. auch das nationale recht kennt diese situation, die häufig ein spill-over aus dem zwischenstaatlichen in das staatliche recht nach sich zieht. im nationalen rahmen spricht man dann von exekutivermessen, einschätzungsprärogativen, notstandsrechten, unbeschränkten vollmachten oder political question. der staat ignoriert auch sein eigenes recht im gleichen Umfang wie das völkerrecht, wenn es um seine existenz geht. die politische Praxis der Usa nach dem 11. september 2001 ist ein gutes Beispiel; die debatten um sicherheit/freiheit nach terroristischen anschlägen sind ein spiegel dieser konstellation. die feststellung, dass es einen raum von souveränität jenseits des rechts gibt, bedeutet nicht, dass wir wissen, wo die Grenze des rechts verläuft. im Gegenteil: normalerweise ist ganz unklar, wie weit recht in den Bereich politischer Gewalt hineinzureichen vermag. Guantánamo, abu Ghraib und die kompetenzen des UsPräsidenten sind nur drei Beispiele aus der jüngsten vergangenheit. der souverän tritt im modernen demokratischen verfassungsstaat doppelt auf: als stimme und als körper, als recht und als Gewalt. die wissenschaftliche diskussion konzentriert sich auf die stimme und das recht, fokussiert dabei auf den aus der ethik bekannten Gegensatz von deontologischen und konsequentialistischen argumenten und verkennt so die kräfte, die das Politische bewegen. das Politische ist nicht das Moralische; unsere Zugehörigkeit zum staat kann nicht durch die sprache der Moral gerechtfertigt werden, sondern ist eine frage der erfahrung von identität. der eigentliche Gegensatz ist dann derjenige zwischen moralischem Universalismus und der Zugehörigkeit zu einer ganz bestimmten Gemeinschaft. letztere besitzt eine lange Geschichte und die vorstellung einer Zukunft; sie ist durch Mythen, narrationen und symbolische konstruktionen gekennzeichnet. erinnerung, erfahrung und Gedächtnis sind etwas kategorial anderes als das denken von Prinzipien aus. in der souveränität ist eine erinnerung angelegt, die sich im Glaubenssystem des Politischen genealogisch bis zum souveränen, verborgenen Gott zurückverfolgen lässt. seit augustinus kann man formulieren, dass an der eigentlichen

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Wurzel der erinnerung die seele auf Gott stößt.47 an all dies ist das individuum gebunden; es ist die last der Herkunft ebenso wie der Horizont der Hoffnung. vor diesem Hintergrund kann die rechtswissenschaft immer nur eine lückenhafte und manchmal trügerische Wissenschaft der Politik sein. Was die Praxis angeht, wissen wir dies in Zeiten des terrorismus ebenso wie in Zeiten der abschreckungslogik. Was die theorie angeht, benötigen wir eine kontextualisierung liberaler theorie in rechtswissenschaftlicher absicht. eine kulturwissenschaftlich informierte rechtswissenschaft wäre ein Weg hierzu.

47

taylor (fn. 25), 135.

zweIter teIl: Voten

Paolo BeccHi, GenUa/lUZern dIe ursPrünge der kulturwIssenscHaft In deutscHland und IHre wIrkung auf dIe gescHIcHtlIcHe recHtswIssenscHaft die anfänge der kulturwissenschaft liegen nicht sehr weit zurück, doch hat dieses Phänomen tiefe Wurzeln im leben des deutschen volks geschlagen. entwickelt hat es sich an der schwelle zum 20. Jahrhundert und ist eng mit jener philosophischen richtung verbunden, die als neukantianismus bekannt ist.1 das interesse für die Unterschiedlichkeit der kulturellen Phänomene hat dennoch seinen wahren Ursprung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und zwar im Werk eines autors, dessen philosophischer ansatz paradoxerweise gerade durch eine abstandnahme von kant charakterisiert ist: Johann Gottfried Herder.2 natürlich finden wir schon früher im rahmen des pufendorfschen naturrechts die anwendung der lateinischen vokabel cultura, aber sie bezeichnet nur das zweite Glied vom dichotomischen Paar status naturalis und status civilis. nach Pufendorf wird nämlich der kulturstatus als jener Zustand interpretiert, den der Mensch erreicht, nachdem er durch den Gesellschaftsvertrag den glücklosen status naturalis überwunden hat.3 dieses Modell aber, das mit einigen Unterschieden dem hobbesschen Modell folgt, ist eine abstrakte konstruktion – in ihm fehlt die unlösbare verflechtung von Geschichte und kultur, die erst mit Herder zum ersten Mal deutlich hervortritt. kultur wird zu einem Begriff, der sowohl mit der Bildung von individuen als auch mit der entwicklung und dem niedergang von Gesellschaften, völkern und nationen zu tun hat. kultur ist schon bei Herder nah mit jenem Wort verwandt, das in der späteren romantischen stimmung von grosser Bedeutung sein wird: dem volksgeist. 1

2

3

Grundlegend jetzt dazu eike Bohlken, Grundlage einer interkulturellen Ethik. Perspektive der transzendentalen Kulturphilosophie Heinrich Richters, Würzburg: königshausen & neumann, 2002. über emil lask ist allerdings nicht zu vergessen: agostino carrino, L’irrazionale nel concetto. Comunità e diritto in Emil Lask, napoli: edizioni scientifiche italiane, 1983. die literatur zu Herder ist sehr umfassend. Hier möchte ich unter der neueren literatur nur einige schriften erwähnen, die sich mit dem thema befassen, das ich behandeln möchte: anne löchte, Humanitätsideal und Kulturtheorie in Herders Spätwerk, stuttgart: ibidem-verlag, 2000; frederick M. Barnard, Herder on Nationality, Humanity and History, Montreal: McGill-Queen’s University Press, 2003; fritz Wefelmeyer, Glück und aporie des kulturtheoretikers. Zu Herder und seiner konzeption der kultur, in: Naturplan und Verfallskritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur, hg. v. Helmut Brackert/fritz Wefelmeyer, frankfurt a. M.: suhrkamp 2004, 94–121. ein vergleich zwischen Herders ansatz und dem, der sich in deutschland mit der kulturwissenschaft entwickelt, wird von Perpeet gezogen: Wilhelm Perpeet, „kulturphilosophie“, Archiv für Begriffsgeschichte, 20 (1976), 42–99, 68. vgl. samuel Pufendorf, specimen contraversarium circa jus naturale ipsi nuper motarum, in: samuel Pufendorf, Eris scandica, caput iii: de statu hominum naturali, § 3, 1686. Zu Pufendorf: Paolo Becchi, Da Pufendorf a Hegel. Introduzione alla storia moderna della filosofia del diritto, roma: aracne, 2007, 15–28.

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Paolo Becchi

Herders philosophischer ansatz blieb nicht ohne Wirkung auch auf die deutsche rechtskultur. Wie ich im zweiten teil dieser kurzen überlegungen zeigen werde, ist Herder nämlich der erste vertreter von jenem Historismus gewesen, der in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Grundlage der so genannten „Historischen rechtsschule“ bildete, an deren spitze friedrich carl von savigny stand. aber beginnen wir zunächst bei Herder. I. auf zwei wichtigen elementen gründet sich Herders Geschichtsphilosophie: auf einem regen Gefühl für all das, was das eigentümliche jeder kultur bildet und einem ethischen, pädagogischen, religiösen ideal des fortschritts der Menschheit. Hier werde ich mich hauptsächlich auf das erste element konzentrieren, obwohl auch das zweite berücksichtigt werden sollte, um eine einseitige interpretation von Herders denken zu vermeiden. Herder richtet eine besondere aufmerksamkeit (schon seit seinem Werk Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente, von 1766–1767) auf die sprache. vor allem die sprache drückt den kulturellen charakter eines volkes aus. interessant ist in dieser Hinsicht seine Polemik gegen die überlagerung von einer universalen toten sprache, des lateinischen, und den verschiedenen nationalsprachen4 sowie diejenige gegen die abstrakte, rationale, für die Philosophie und die Wissenschaften typische sprache, in verteidigung der poetischen sprache, die am Ursprung der verschiedenen kulturen gefunden werden kann. die ähnlichkeiten mit Giambattista vicos Scienza Nuova sind wirklich erstaunlich und doch wäre es übertrieben, von einem eigentlichen einfluss vicos auf Herder zu sprechen, wie es jedoch schon karl-otto apel5 getan hat. sicher sollte man vico zu den autoren zählen, die sich in derselben geistigen Umwelt wie Herder bewegen. im Werk des neapolitanischen autors hätte Herder ohne Zweifel bedeutende Bestätigungen seiner eigenen denkweise finden können. verallgemeinert könnte man sa4

5

vgl. Johann Gottfried Herder, über die neuere deutsche literatur. fragmente. dritte sammlung, in: Johann Gottfried Herder Werke (hg. v. Günther arnold et al.), Bd. i, frankfurt a. M.: deutscher klassiker verlag, 1985–2000, 367–539. im folgenden einige Zitate: „das wahre deutsch unserer väter geht auch zu sehr von dem latein ab; als dass sie neben einander sein könnten. Unsre seele bauet, mit Montaigne zu reden, diese stockwerke über einander, und welches soll das unterste von allen, und die Grundlage sein? – eine fremde, oder die Muttersprache? die letztere ohne Zweifel; oder sie muss das Joch der lateinischen tragen“ (386–387); „das ist doch gewiss, dass eine tote sprache, die ich nach Regeln der Grammatik lerne, notwendig äusserst einschränket, weil nach diesen Gesetzen der Gedanke sich richten muss, dagegen in lebendigen sprachen schon eher das Gesetz sich nach dem Gedanken richtet“ (411). vgl. karl-otto apel, Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, Bonn: Bouvier, 1975, 376. der name von vico taucht schon in einem Brief aus dem Jahre 1777 von Johann Georg Hamann an Herder auf. aber erst nach seiner italienreise und insbesondere seinem aufenthalt in neapel (Januar bis februar 1786), ist Herders direkte kenntnisnahme von vicos Werk gesichert. Zweifelsohne hatte er wohl einen positiven eindruck von vicos Werk, aber damals waren schon viele seiner Werke veröffentlicht und für vico, im Unterschied zu Herder, gibt es zudem keinen unaufhaltsamen fortschritt in der Geschichte, vielmehr gräbt der erreichte fortschritt sein eigenes Grab (vgl. Paolo Becchi, Vico und Filangieri in Germania, napoli: Jovene, 1986, 15–20; grundlegend dazu isaiah Berlin, Vico and Herder: Two Studies in the History of Ideas, london: Hogarth Press, 2. a. 1992).

die Ursprünge der kulturwissenschaft in deutschland

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gen, dass Herders Protest gegen den abstrakten rationalismus und den kantischen Universalismus vicos Protest gegen die cartesianische vorstellung entspricht, wonach man nur das gesicherte mathematische naturwissenschaftliche Wissen als Wissen gelten lassen soll. in seiner cartesianismuskritik hebt vico erstmals die geschichtlich fundierte kulturwissenschaft über die naturwissenschaft. ähnlichkeiten zwischen Herder und vico sind auch – und dies ist juristisch gesehen von besonderem interesse – in Herders kritik von Montesquieu nachweisbar. Jede lebensform eines volkes sei einmalig, weshalb es nicht genüge, wenn Montesquieu die verschiedenen staaten unter die drei bekannten staatsformen subsumiere. deshalb will Herder – wie vico – die so genannten wilden völker studieren. Herders enge geistige verwandtschaft zeigt sich auch, wenn er betont, dass die sitten eines volkes wichtiger seien, als die Gesetze. Bereits in seinem Reisejournal von 17696 insistiert er auf diesem aspekt und wirft, mit besonderer schärfe, Montesquieu vor, asien, amerika und afrika ausserhalb seiner Betrachtung gelassen zu haben. Gerade jene völker hätte man mehr als andere erforschen sollen, da das geschriebene Gesetz ein „schatten“ sei und allein die sitten und die Gewohnheiten „lebendig“ seien. diese kritik wurde später (1774) in Auch eine Philosophie der Geschichte wieder aufgenommen.7 Polemisiert wird hier gegen die zentrale rolle, die für Montesquieu der staat einnimmt: Herder ist mehr an den sitten, den Gewohnheiten, d. h. an der kultur eines volkes interessiert. aber über die Polemik mit Montesquieu hinaus, erfolgt mit Herder ein Paradigmenwechsel. die aufklärungsmentalität bildete sich nämlich ein, die vergangenheit im lichte von abstrakten allgemeinen Prinzipien bewerten zu können, und war nicht im stande, die eigentümlichkeit eines kulturellen Phänomens zu erkennen und dieses in seiner konkreten historischen Wirklichkeit zu sehen. Herder vergleicht dagegen die Geschichte der Menschheit mit dem leben eines einzelnen individuums: das Morgenland ist die Geburt der Menschheit, ägypten die kindheit, die Phönizier stellen die adoleszenz dar, die Griechen die Jugend und die römer mit ihrer juristischen kultur das reife alter der antiken Welt. für Herder erfolgte der niedergang des römischen reiches deshalb, weil es die nationalcharaktere zerstören, die traditionen der einzelnen völker missachten und das leben vieler völker wie eine einzige grosse Maschinerie organisieren wollte. nach seinem verfall habe es eine völlig neue Welt von sprachen, sitten, neigungen gegeben. das auftauchen der Germanen auf dem schauplatz der Geschichte sei positiv gewesen, da sie neue Werte nährten. diese rekonstruktion dient allerdings nicht dazu, die überlegenheit einer bestimmten epoche gegenüber der anderen zu behaupten, sondern um den spezifischen und eigentümlichen charakter jeder epoche und jedes volkes hervorzuheben: „Jede nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich“.8

6 7 8

vgl. Johann Gottfried Herder, reisejournal von 1769, in: Johann Gottfried Herder Werke (hg. v. Günther arnold et al.), frankfurt a. M.: deutscher klassiker verlag, 1985–2000, 465. vgl. Johann Gottfried Herder, auch eine Philosophie der Geschichte. Zur Bildung der Menschheit (1774), in: Johann Gottfried Herder Werke (hg. v. Günther arnold et al.), frankfurt a. M.: deutscher klassiker verlag, 1985–2000, 19–32. a. a. o., 39. daher rührt nicht nur die kritik am kantischen kosmopolitismus, sondern auch die kritik an der von kant behaupteten überlegenheit der Moralität gegenüber dem Glück. für eine umfassende rekonstruktion des kantischen kosmopolitismus vgl. jetzt Giuliano Marini,

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Paolo Becchi

Herders Polemik richtet sich insbesondere gegen den anspruch der aufklärung, jede andere epoche mit sich zu vergleichen und sich als Höhepunkt der Geschichte und der kultur oder wenigstens als sein fortschrittlichstes Moment zu verstehen. nach Herder ist es nicht zulässig, die kultur einer epoche oder eines volkes als Mass für die Bewertung der anderen zu nehmen. im Gegenteil hat für ihn jedes individuum – so wie jede epoche und jedes volk – einen eigenen Höchstgrad an vollkommenheit, der es von allen anderen unterscheidet und wonach es einzig beurteilt werden kann und muss. natürlich musste eine solche auffassung auf kants kritik stossen, denn dieser stellte gerade Herders sicht einer Pluralität von existenzformen in frage, die jeweils das Mass der eigenen vervollkommnung und der eigenen Perfektion in sich tragen. dieser aspekt kann hier nicht vertieft werden, aber er wurde in der literatur schon ausführlich diskutiert.9 nun möchte ich indes darauf hinweisen, dass – obwohl all das, was bis jetzt gesagt wurde, gerade das Gegenteil zu suggerieren scheint – Herder nicht als ein ante litteram theoretiker des kulturrelativismus interpretiert werden darf (zumindest dann nicht, wenn man davon ausgeht, dass dieser relativismus zum moralischen relativismus führt, was allerdings nicht unbedingt der fall sein muss). es darf nämlich nicht vergessen werden, dass Herder zwar immer wieder die Bedeutung der unaufhebbaren verschiedenheit jeder epoche und jedes volkes beteuerte, jedoch in Auch eine Philosophie der Geschichte und vor allem in seinen späteren Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) die idee einer Geschichte der Menschheit entwarf, die auf ihre vervollkommnung zielt. die errungenschaften der einzelnen epochen und der einzelnen völker zeigen, dass trotz Unterbrechungen in der Geschichte ein fortschritt der gesamten Menschheit zu erkennen ist. ist jede einzelne kultur sowohl vergänglich als auch spezifisch, so soll doch das, was sie verwirklicht hat, nicht verloren gehen. im Gegenteil: insofern sie eine menschliche neigung vervollkommnet hat, sollen ihre Werke als Muster dienen. in der unendlichen folge der geschichtlichen ereignisse bewahrt man zum schluss alles auf, weil sie die verwirklichung eines göttlichen Plans sind. die göttliche vorsehung wirkt nicht direkt auf die menschliche Geschichte, sondern erreicht ihr Ziel durch den Menschen selbst, der als abbild Gottes gedacht ist. Jedes individuum, jede epoche und jedes volk sind nichts anderes als variationen eines einzigen themas: das der Menschheit. diese idee ist aber weit davon entfernt, eine regulative

9

La filosofia cosmopolitica di Kant, hg. v. nico de federicis/Maria chiara Pievatolo, roma/Bari: laterza, 2007. eine kritische Haltung gegenüber Herder nimmt kant in zwei rezensionen der „ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ an, die in der Jenaischen Allgemeinen Zeitung erschienen waren und jetzt in Kants Gesammelte Schriften, viii: Abhandlungen nach 1781 (Berlin 1923, 43–66) zu lesen sind. Zu den grossen interpreten, die sich mit der Beziehung zwischen kant und Herder befasst haben, zählt sicherlich cassirer, aber auch an den weniger berühmten valerio verra ist zu denken, der in italien einer der hervorragenden philosophischen Persönlichkeiten der letzten 30 Jahre gewesen ist. cassirer hat sich Herder in einem aufsatz gewidmet, der den titel trägt: der durchbruch des Historismus – Herder, in: ders., Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeiten, 1957, Bd. iv, in: ders., Gesammelte Werke (hg. v. Birgit recki), Hamburg: felix Meiner verlag, 2000, Bd. v, 253–262. für einen vergleich mit der kantischen Position vgl. ernst cassirer, kants leben und lehre (1918), in ders., Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Hamburg: felix Meiner verlag, 2001, Bd. viii, 214–223. von valerio verra sei hier an den wichtigen sammelband, Linguaggio, mito e storia. Studi sul pensiero di Herder, hg. v. claudio cesa, Pisa: edizioni della normale, 2006 erinnert.

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idee der vernunft in kantischem sinn zu sein und besteht vielmehr in der vorstellung, dass es in der Geschichte ein Ziel gibt, nämlich die verwirklichung der Menschheit. die idee der Humanität ist nichts anderes als das, was der Mensch als abbild Gottes in der Geschichte verwirklichen muss. Jedes individuum, jede epoche, jedes volk wählt dabei seine eigene Weise und drückt so mit seiner bzw. ihrer eigentümlichkeit einen der vielzähligen aspekte aus, in denen sich der Menschheitsbegriff konkretisiert. Würden wir nun die herdersche Botschaft aktualisieren wollen, so könnten wir leicht zum schluss kommen, dass das leben jedes volkes sich nicht auf kosten anderer völker entwickeln darf und dass veränderungen von wahrem menschlichen Wert nicht durch Gewalt und Macht, sondern durch die Bildung eines volkes erreicht werden können.10 II. Jetzt könnte man sich fragen, was diese sicht der Geschichte mit dem recht zu tun habe. das recht scheint nämlich keine direkte rolle in der herderschen Gedankenwelt zu spielen,11 obwohl seine überlegungen hinsichtlich sprache und sitten auf die entwicklung der Historischen schule mehr einfluss gehabt haben als bisher zugestanden wurde.12 schon bei Gustav Hugo finden wir den vergleich zwischen recht und sprache, der in der protoromantischen kultur jener Zeit besonders aktuell war: die sprache sei nicht von Gott erfunden worden und sei auch kein ergebnis von Gewohnheiten, sondern bilde sich von selbst unentwegt in der Geschichte eines volkes, das sie spreche. so wie die sprache sei auch das recht das Produkt der Geschichte eines volkes: das recht sei historisch wie die sprache und die sitten, bzw. es bilde sich grundsätzlich durch den sprachgebrauch und die sitten.13

10 Zur aktuellen debatte verweise ich hier nur auf den neuen aufsatz von eike Bohlken, „das recht auf kulturelle differenz als Bestandteil einer interkulturellen ethik. überlegungen zur vereinbarkeit von integration und Gruppenrechten kultureller Minderheiten“, Rechtsphilosophische Hefte, xii: nationen und Gerechtigkeit, frankfurt a. M., 2007, 55–78. 11 abgesehen vielleicht von der Behandlung Moses’ als Gesetzgeber, die in Vom Geist der Ebräsichen Poesie enthalten ist. für unseren kontext sind aber einige kritische äusserungen über Grotius, Pufendorf und Barbeyrac relevant. vgl. Johann Gottfried Herder, älteste Urkunde des Menschengeschlechts, i, 1774, in: Johann Gottfried Herder Werke (hg. v. Günther arnold et al.), Bd. v, frankfurt a. M.: deutscher klassiker verlag, 1985–2000, 290–291. 12 Zur Bestätigung siehe das Werk von Joachim rückert über savigny: Herder wird nur beiläufig erwähnt. vgl. Joachim rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, ebelsbach: Münchner Universitätsschriften, Juristische fakultät 58: rolf Gremer verlag, 1984. Wer dagegen am meisten einen möglichen einfluss Herders auf savigny hervorgehoben hat, ist Giuliano Marini gewesen. vgl. Giuliano Marini, Savigny e il metodo della scienza giuridica, Milano: Giuffrè, 1966, 18, 19, 61, 97, 150–153 und ders., Friedrich Carl von Savigny, napoli: Guida, 1978, 55, 69, 75, 77, 84, 92. allerdings wurde in der alten literatur das thema „Herder-savigny“ besprochen. vgl. vor allem franz Zwilgmeyer, Die Rechtslehre Savignys, leipzig: verlag von theodor Weicher, 1929, 47–51, 55–56 und victor ehrenberg, Herders Bedeutung für die Rechtswissenschaft, rede zur feier des Geburtstages seiner Majestät des kaisers und königs, Göttingen: vandenhoeck & ruprecht, 1903. 13 vgl. Gustav Hugo, „die Gesetze sind nicht die einzige Quelle juristischer Wahrheiten“, Civilistisches Magazin, iv (1812), 1, 89–134.

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Paolo Becchi

noch stärker wurden diese ideen von friedrich carl von savigny vertreten, der bereits 1807 die texte von Herder gelesen und geschätzt hatte.14 Herders einfluss ist vor allem im berühmten Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft offensichtlich, wo die entwicklung der rechtswissenschaft beschrieben wird.15 Hier wird der Ursprung des positiven rechts – so wie der Ursprung der sprache, der sitten, der verfassung – in der spontanen entwicklung der „gemeinsamen überzeugung des volkes“ erkannt.16 alle überlegungen, die Herder der sprache widmet, stimmen perfekt mit der art überein, mit der savigny das recht auffasst. Ganz eindeutig spürt man das echo der herderschen sicht der Geschichte dort, wo savigny nach einer kurzen erwähnung vom „thierähnlichen Zustand“, in dem die Menschen ursprünglich gelebt haben sollen, die zwei epochen der rechtsentwicklung beschreibt. savigny hält sich aber nicht bei diesem ausgangspunkt auf und betrachtet das erste stadium der „Jugendzeit der völker“, in dem das recht spontan intuitiv erfasst wird: diese Zeit ist „arm an Begriffen, aber sie geniesst ein klares Bewusstsein ihrer Zustände und verhältnisse“. darauf folgt eine zweite epoche, in der „bei steigender cultur“ das recht zusammen mit dem volk wächst und komplexer wird, sodass es notwendig wird, dass ein teil des volkes sich ausdrücklich darum kümmert. es bildet sich somit der Juristenstand, der Hüter und ausleger des volksrechts wird. seither führt das recht ein doppelleben: es lebt weiter spontan im volk („das politische element“) und zeigt sich in einer immer entwickelteren gedanklichen form („das technische element“). in dieser Zeit erlangt das recht eine „wissenschaftliche richtung“. trotz dieser Unterscheidung in zwei Phasen bleibt das recht in seinem Wesen Gewohnheitsrecht, d. h., „dass es erst durch sitte und volksglauben, dann

14 in einem Brief aus dem Jahre 1807 an creuzer, drückt sich savigny wie folgt aus: „[i]ch habe in der letzten Zeit viel in Herders schriften gelesen und mich daran erfreut“ (in adolf stoll, Friedrich Carl von Savigny. Ein Bild seines Lebens mit einer Sammlung seiner Briefe, Berlin: carl Heymanns verlag, 1927, 304 (Brief n. 148 von 14. Juli 1807). 15 vgl. friedrich carl von savigny, vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und rechtswissenschaft, in Thibaut-Savigny, Ihre programmatischen Schriften, hg. v. Hans Hattenhauer, München: verlag franz vahlen, 2002, 61–127. alle im text folgenden Zitate stammen aus dem kapitel „entstehung des positiven rechts“ dieser schrift. savigny erwähnt hier jedoch Herder nicht; eine mögliche erklärung könnte folgende sein: „savigny war eng verbunden mit den kreisen der romantiker, er hatte in Jena august Wilhelm schlegels vorlesungen gehört, und man weiss ja, wie wegwerfend dieser über Herder urteilte. obwohl schlegel selbst und mit ihm die meisten Glieder der romantischen schule ihr Bestes Herder verdankten, ja obwohl ihre ganze Weltanschauung recht eigentlich schon in Herders Jugendschriften und in den ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit enthalten war, so wagte er doch das freche Wort, in Herders Werke seien weder idee noch Philosophie noch Geschichte noch Menschheit anzutreffen! schwerlich hat savigny – bei seiner vornehmen und massvollen art – sich dieses Urtheil angeeignet; aber sicherlich ahnte er auch nicht, dass die Gedanken, welche er mit den romantikern gegenüber der naturrechtlichen schule vertrat, schon vor 30, 40 Jahren von Herder zuerst geprägt worden waren, sogar die Parallelisirung von sprache und recht, womit savigny seine schrift eröffnet, ist, wie wir gesehen haben, im Grunde auf Herder zurückzuführen.“ vgl. ehrenberg (fn. 12), 18. 16 Zum vergleich zwischen recht und sprache siehe alfred dufour, „droit et langage dans l’École Historique du droit“, Archives de Philosophie du Droit, 19, 1974, 153–180, und Giuliano Marini, il paragone tra diritto e linguaggio nella giurisprudenza romantica (1975), jetzt in ders., Giuliano Marini, Storicità del diritto e dignità dell’uomo, napoli, Morano, 1987, 27–54.

die Ursprünge der kulturwissenschaft in deutschland

175

durch Jurisprudenz erzeugt wird, überall also durch innere, stillwirkende kräfte, nicht durch die Willkür eines Gesetzgebers“.17 Während sich für thibaut (seinen Hauptmitstreiter in der kodifikationsfrage) das recht mit dem Gesetz identifiziert, ist es für savigny ein lebendiger organismus und ein Produkt der Geschichte. erscheinen bei Herder die völker, die literaturen, die sprachen, die Mythen, die religionen als ausdruck eines unendlichen kulturellen reichtums, der sich in verschiedenen geschichtlichen Wirklichkeiten zeigt, so gehört bei savigny auch das recht dazu: ein recht, das nicht mehr auf abstrakte vernunftideen zurückzuführen ist, welche sich in ebenso abstrakten Gesetzbüchern konkretisierten, sondern auf einen volksgeist (der Geist eines jeden volkes) und auf seine spontane evolution in der Geschichte.

17 auf sehr prägnante Weise erschienen dieselben ideen in der programmatischen schrift, mit der savigny 1815 die neue von ihm gegründete „Zeitschrift für geschichtliche rechtswissenschaft“ eröffnet: „die geschichtliche schule nimmt an, der stoff des rechts sei durch die gesamte vergangenheit der nation gegeben, doch nicht durch Willkür, so dass er zufällig dieser oder ein anderer sein könnte, sondern aus dem innersten Wesen der nation selbst und ihrer Geschichte hervorgegangen“ (friedrich carl von savigny, „Ueber den Zweck dieser Zeitschrift“, Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft, 1815, 1, 6).

stePHan kirste, HeidelBerG ernst cassIrers ansätze als syMbolIscHe forM 1. dIe MöglIcHkeIt

eIner

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recHtsPHIlosoPHIe cassIrers

fest steht, daß ernst cassirer keine rechtsphilosophie oder -theorie geschrieben hat1. sicher ist aber auch, daß er sich öfters zu fragen der form des rechts, des naturrechts, der Menschenrechte und der Gerechtigkeit geäußert hat. Beides ist Grund genug dafür, der frage nachzugehen, ob sich ansätze zu einem rechtsverständnis im Werk cassirers rekonstruieren lassen. Während hierzu im englischsprachigen raum bereits Untersuchungen vorliegen2, fehlen sie im deutschsprachigen noch nahezu vollständig3. anders als andere neukantianisch inspirierte denker4 wurde cassirer von Zeitgenossen allenfalls beiläufig zitiert5, und er wird auch in der gegenwärtigen deutschen rechtsphilosophie kaum berücksichtigt6. die folgenden Bemerkungen wollen den versuch unternehmen, einige aspekte seines rechtsphilosophischen denkens zusammenzuführen. dieser versuch scheint jedoch zum scheitern verurteilt, wenn man die auffassung teilt, cassirer habe gar kein interesse an einer ethik oder praktischen Philosophie gehabt. nach dieser ansicht hat er insbesondere in der „Gelegenheitsschrift über axel Hägerström“7 nur die Bedingungen der Möglichkeit von recht und Moral 1

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in der Hägerström-schrift räumt cassirer dies explizit ein und verspricht baldige abhilfe, die ihm jedoch nicht mehr gelungen ist: ernst cassirer, axel Hägerström. eine studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart (1939). text und anmerkungen bearbeitet von claus rosenkranz, in: ernst cassirer: Gesammelte Werke, Hamburger ausgabe, Bd. 21, Hamburg: Meiner verlag, 2005, 7. deniz coskun, Law as Symbolic Form. Ernst Cassirer and the Anthropocentric View of Law, Berlin: springer netherland 2007, 25 ff.; John Michael krois, Symbolic Forms and History, new Haven and london 1987; zur staatsphilosophie jetzt aber Peter Müller, Der Staatsgedanke Cassirers. Würzburg: königshausen & neumann, 2003. Z. B. Hermann Heller, Staatslehre, tübingen: Mohr, 1983, 98; Hans kelsen, das verhältnis von staat und recht im lichte der erkenntniskritik (1921), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, hg. v. Hans klecatsky, rené Marcic, Herbert schambeck, Wien, frankfurt, Zürich etc.: europa-verlag, 1968, 95–148, 105. Wie sehr cassirer neukantianischem denken verbunden ist, wird nicht einheitlich beurteilt: für einen starken einfluß auf seine rechtstheorie: stephan kirste, ernst cassirer’s concept of law and its relation to neo-kantian Philosophies of law, in: Legal Theory/Teoriá del derecho. Legal Positivism and Conceptual Analysis/Positivismo jurídico y análisis conceptual. Proceedings of the 22nd IVR World Congress Granada 2005, vol. 1, hg. v. José Juan Moreso, stuttgart: steiner verlag, 2007, 232–245 (232 ff.); zurückhaltend jetzt coskun (fn. 2), 299 ff. Z. B. Heller (fn. 3), 98; kelsen (fn. 3), 105. Helmut coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, Berlin: de Gruyter verlag, 1985, 39 u. 95 ff., könnte eine ausnahme darstellen. er versteht ihn jedoch recht undifferenziert als vertreter einer Geisteswissenschaft und bringt ihn in eine reihe mit droysen, dilthey, collingwood und Gadamer. axel Hägerström, Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart, in: Göteborgs Högskolas Årsskrift xlv (1939), 1–120. dort findet sich auch der insoweit wichtige satz, cassirers „Gesamt-

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entworfen, Prolegomena zu einer rechtsphilosophie verfaßt, nicht jedoch diese selbst8. neben dieser schrift wurden zu lebzeiten in der tat nur „die idee der republikanischen verfassung“9, „vom Wesen und Werden des naturrechts“10 veröffentlicht. außerdem finden sich im „Mythus des staates“ einige rechtsphilosophische Bemerkungen. dazu kommen einige in den yale-archiven ruhende unveröffentlichte Manuskripte, in denen er sich zu rechtstheoretischen fragen äußert11. dieses geringe textkorpus läßt jedoch nicht den schluß zu, daß es ein rechtsdenken bei cassirer nicht gäbe. Gewiß sind die diesbezüglichen ansätze nicht zu einer systematischen ausarbeitung wie bei anderen symbolischen formen gelangt. auch mag man cassirer eine gewisse „großbürgerliche Generosität“ und Zurückhaltung in der normativen Bewertung fremden verhaltens attestieren12; vor dem Hintergrund der frage: Was vermag cassirer zu einer Philosophie des rechts beizutragen, lassen sich die verstreuten aussagen cassirers jedoch zu einer einheit zusammenfügen, die seinem denken keinen Zwang antut und für eine kulturwissenschaftliche Begründung des rechts einen wichtigen Baustein liefert13. schwerer als der vorige wiegt jedoch der einwand gegenüber einer rekonstruktion der rechtsphilosophie ernst cassirers, eine solche könne es aus systematischen Gründen nicht geben. Zwar lasse sich prinzipiell die Handlung als symbolische form begreifen. insofern Handlungen jedoch selbst ausdruck von freiheit sind14 und symbolische formen die Befreiung von empirischen eindrücken im „Prozeß der fortschreitenden selbstbefreiung des Menschen“15 darstellten, bedürften sie nicht der normativen anleitung. vielmehr stellt sie den traditionell in normen enthal-

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auffassung der ethischen und rechtsphilosophischen Probleme hier viel ausführlicher behandelt [sei], als es in meinen früheren schriften, die vor allem der theoretischen Philosophie galten, geschehen ist.“ Birgit recki, kultur ohne Moral? Warum ernst cassirer trotz der einsicht in den Primat der praktischen vernunft keine ethik schreiben konnte, in: Ernst Cassirers Werk und Wirkung: Kultur und Philosophie, hg. v. dorothea frede, reinhold schmücker, darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997, 58–78, (66). rede zur verfassungsfeier am 11. august 1928. Berlin 1929, ernst cassirer, die idee der republikanischen verfassung. rede zur verfassungsfeier am 11. august 1928 (1929), in: Aufsätze und kleine Schriften 1927–1931. text und anmerkungen bearbeitet von tobias Berben, hg. v. ernst cassirer, Hamburg: Meiner verlag, 2004., 291–307, 291 ff. Zeitschrift für rechtsphilosophie in lehre und Praxis 6 (1932), 1, 1–27, ernst cassirer, vom Wesen und Werden des naturrechts (1932), in: Aufsätze und kleine Schriften 1932–1935. text und anmerkungen bearbeitet von ralf Becker, hg. v. ernst cassirer, Hamburg: Meiner verlag, 2004, 203–227, (203 ff.). nr. 845 „die idee des rechts und ihre entwicklung in der modernen Philosophie“, nr. 981 „rechtsproblem-verhältnis zum Gottesproblem“, nr. 1040 „vom Wesen und Werden des naturrechts“ (vor der juristischen studiengesellschaft Hamburg [1932]), nr. 1045 „Wandlungen der staatsgesinnung und der staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte“, in: Enge Zeit. Spuren Vertriebener und Verfolgter der Hamburger Universität im Auditorium Maximum der Universität, hg. v. angela Bottin unter der Mitarbeit von rainer nicolaysen. Hamburg 1992, 161–170. evtl. nr. 1075. „ Zum Begriff der nation. eine erwiderung auf den aufsatz von Bruno Bauch“, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 88 (1991), 73–87. recki (fn. 8), 68. in diesem sinn auch das gerade erschienene Werk von coskun (fn. 2). vgl. hierzu die verfassungsrede, cassirer (fn. 9), 306. ernst cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg: Meiner verlag, 1996, 345 ff.

ernst cassirers ansätze zu einer theorie des rechts als symbolische form

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tenen ethischen sinn dar: „die zentrale stelle der Moralphilosophie ist damit bereits ‚besetzt‘“, und zwar durch die kulturphilosophie als Philosophie der symbolischen formen16. in der tat: Bringt die poietische kraft des Menschen in einem stirnernietzscheanischen verständnis allen sinn als creatio ex nihilo erst hervor, trifft für die ethik das zu, was Ulpian schon von der rechtsgelehrsamkeit insgesamt behauptet hat: „jurisprudentia est divinarum atque humanorum rerum notitia, justi atque injusti scientia“, eine notizensammlung und kein system normativer vorgaben. aber schließt wirklich der Umstand, daß auch das recht, die Menschenrechte und das positive recht freiheitsgestalten sind, aus, daß sie zugleich der anleitung bedürfen? in der rede zur verfassungsfeier 1928 und wieder 1944 im vortrag über „Philosophie und Politik“ im connecticut college skizziert cassirer – inspiriert durch Jellinek – die entwicklung der Menschenrechte17. diese wird jedoch ideell vor- und nachbereitet durch die philosophische reflexion – die ihrerseits freiheitstat ist. Wer die Welt vernünftig gestalten will, muß vernunft in die Welt hineinbringen, er muß die freiheitsfördernden Baugesetze der Welt kennen, will er nicht freiheitszerstörend wirken: „there is, after all, a logic of the social world just as much as there is a logic of the physical world. there are certain laws of a social statics and dynamics which cannot be violated with impunity.“18 daß also die transformation der Bauprinzipien der „sozialen Welt“ eine freiheitstat darstellt, schließt nicht aus, daß es eine philosophische Behandlung dieser Prinzipien gibt. allerdings – dies ist den einwänden durchaus zuzugeben – wird eine hierauf gegründete Moral- und rechtsphilosophie nur ein geringes Maß an normativität aufweisen. da sich der vernünftige inhalt dieser Prinzipien niemals ganz in der sozialen Welt verwirklichen läßt, verbleibt ihnen jedoch ein überschießender kritischer Gehalt, der die Gegenwart immer über sich hinaustreibt. es wird sich zeigen, daß es gerade diese Zukünftigkeit des rechts ist, die cassirer gegenüber allen anderslautenden versuchen verteidigt. Hier zeigt sich zugleich, wie cassirer das Projekt einer kritischen rechtsphilosophie über die Beschränkungen des neukantianismus der Marburger schule hinausführt, die Zurückhaltung Hegels gegenüber normativen aussagen19 überwindet und sie in eine theorie der kultur einordnet20.

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recki (fn. 8), 75. cassirer (fn. 9), 291 ff.; ernst cassirer, Philosophy and Politics (1944), in: verene 1979, 219 ff. cassirer (fn. 17), 266. Georg friedrich Wilhelm Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen in seinem Handexemplar und den mündlichen Zusätzen, hg. und eingeleitet v. Helmut reichelt, frankfurt a. M./Berlin/Wien: Ullstein verlag, 1972, vorrede, 11. 20 Zur kritik Hegels insofern ernst cassirer, Der Mythos des Staates, Hamburg: Meiner verlag, 2002, 347 ff., 354 ff.

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2. recHt 1.1 die

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im Zentrum der Philosophie ernst cassirers steht der Begriff der symbolischen form. der Mensch selbst wird von ihm durch seine symbolisierende kraft charakterisiert: er ist ein „animal symbolicum“21. so wie der Mensch ein mathematisches und allgemein ein symbolisches Wesen ist, so ist er auch ein rechtswesen, d. h., das recht ist „ein Modus der menschlichen Geistigkeit selbst“22. angesichts dieser zentralen denkfigur stellt sich die frage, ob auch das recht als symbolische form verstanden werden kann. Unter symbolischen formen soll „jede energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.“23 symbole entspringen der weltschaffenden kraft des freien individuums, das nicht nur äußere eindrücke empfängt, „sondern … jeden eindruck mit einer freien tätigkeit des ausdrucks verknüpft und durchdringt.“24 damit handelt es sich bei symbolischen formen nicht nur um erkenntnismittel der theoretischen Philosophie, sondern – insofern diese zugleich Praxis einer theorie bedeutet – auch der praktischen Philosophie. in der theoretischen Philosophie stellen sie ein gegenstandsdistanziertes und somit freies Medium dar, in welchem sinneseindruck, „geistiges sein“ und Begriff durch die freie tätigkeit des Bewußtseins vermittelt werden. in dieser weltbildenden, poetischen funktion sind die symbolischen formen zugleich aspekte der praktischen Philosophie. Befreiung von der natur in der theoretischen Philosophie und versinnlichung in freiheitsgestalten in der praktischen sind die beiden dimensionen der symbolischen formen. so entsteht dann „kultur als … Prozeß der fortschreitenden selbstbefreiung des Menschen“25 er trennt sich von der unmittelbaren Welt und verbindet sich mit ihr in Gestalt der symbolischen formen und ihrer autonomen verbindlichkeit. in fortführung neu-kantianischer ansätze ist die Welt des symbolischen durch aktivität gekennzeichnet im Gegensatz zur Passivität der sinneseindrücke26. das Bewußtsein ist nicht auf gegebene einzelheiten angewiesen, sondern „hier erschafft es sich selbst bestimmte konkret-sinnliche inhalte als ausdruck für bestimmte Bedeutungskomplexe.“27 es hält sich nicht an das, was ist, sondern bringt kreativ das hervor, was sein soll, „wiederholt nicht nur, sondern setzt“, bildet nicht nur ab, sondern ist „Prägung zum sein“28. die symbolische form soll also eine relation von Geistigem und sinnlichen, von Wesen und sein oder form und Materie darstellen. doch wie soll derart Hete-

21 cassirer (fn. 15), 52 ff. 22 cassirer (fn. 10), 207. 23 ernst cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Sprache, darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994, 175. 24 cassirer (fn. 23), 175. 25 cassirer (fn. 15), 345. 26 cassirer (fn. 23), 12. 27 cassirer (fn. 23), 42 ff. 28 cassirer (fn. 23), 43.

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rogenes verbunden werden29? cassirer verweist jedoch darauf, daß form und Materie auch in der sinnlichkeit verbunden sind und als symbolische form nur in einer anderen, freieren Gestalt auftreten30. schwierig zu bestimmen ist auch die relationalität: cassirer erklärt dies im anschluß an Hilbert beispielhaft anhand geometrischer figuren: „was ein Punkt, eine Gerade ist, wird erst durch eben diese relationen selbst festgelegt. der sinn der elemente geht nicht, als ein zuvor fertiger, in das axiom ein, sondern er wird erst durch dasselbe konstituiert.“31 die elemente sind etwas spezifisches auch außerhalb der relationen; ihren „sinn“, ihre funktion erfüllen sie aber erst in diesen. diesen funktionszusammenhang kann man nicht aus einem der relata ableiten. cassirer versteht symbolische formen als ausdrucksphänomene. insofern sind sie sowohl empirisch sinnlich als auch ideell. das sinnliche wird hier modifiziert durch ideen, und die ideen treten in einer sinnlichen form in bestimmter Gestalt auf. sie zeigen sich dabei nicht vollständig. vielmehr durchwirken sie erst allmählich den stoff. Mögen am anfang einer entwicklung nur spuren der in ihnen sich zeigenden ideen zu finden sein, so arbeiten sie sich allmählich stärker ans licht. immer bleibt aber die idee selbst das Weltgericht und nicht, wie bei Hegel, die Geschichte. die symbolischen formen sind so das zentrale strukturmerkmal der kultur. durch die fähigkeit zur symbolisierung schafft sich der Mensch eine ideale Welt. die symbolischen formen sind ausdruck seiner selbstbefreiung, der distanzschaffung und der sinnsetzung32. sprache, kunst, religion und Wissenschaft sind diejenigen formen der kultur, die cassirer hauptsächlich untersucht hat. auch das recht ist jedoch eine derartige symbolische form33. auch es entwickelt sich aus einem anfang, indem es „gleichsam verkleidet und eingehüllt in irgendeine Gestalt des Mythus“ erscheint zu klaren und selbständigen symbolischen formen34.

29 Peter Müller, Der Staatsgedanke Cassirers, Würzburg: königshausen & neumann verlag, 2003, 19 ff. 30 cassirer (fn. 23), 20. 31 ernst cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien, darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994, 501. 32 cassirer (fn. 15), 345: „im ganzen genommen könnte man die kultur als den Prozeß der fortschreitenden selbstbefreiung des Menschen beschreiben. sprache, kunst, religion und Wissenschaft bilden unterschiedliche Phasen in diesem Prozeß. in ihnen allen entdeckt und erweist der Mensch eine neue kraft – die kraft, sich eine eigene, eine ‚ideale‘ Welt zu errichten. die Philosophie kann die suche nach einer grundlegenden einheit dieser idealen Welt nicht aufgeben.“ 33 cassirer (fn. 1), 101; eingehend jetzt coskun (fn. 2), 245 ff. 34 ernst cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, ix: „die Gebilde der kunst wie die der erkenntnis, die inhalte der sitte, des rechts, der sprache, der technik: sie alle weisen hier auf das gleiche Grundverhältnis hin …“ Wie die anfänge der sprache, der kunst, der schrift, so führen uns auch die „anfänge des rechts und der Wissenschaft auf eine stufe zurück, in der sie alle noch in der unmittelbaren und ungeschiedenen einheit des mythischen Bewußtseins ruhen. aus dieser Umschließung und verklammerung lösen sich die theoretischen Grundbegriffe der erkenntnis, die Begriffe von raum, Zeit und Zahl, oder die rechts- und Gemeinschaftsbegriffe, wie etwa der Begriff des eigentums, weiterhin aber auch die einzelnen Gestaltungen der Wirtschaft, der kunst, der technik nur ganz allmählich los.“

182 1.2 MatHeMatisierUnG

stephan kirste der

recHtsBeGriffe35

dieser ansatz führt eher zu einer funktionalen analyse des rechts als zu einer normativen rechtsphilosophie36. das Ziel von cassirers rechtstheorie ist die logische analyse der rechtsbegriffe. sie sollen in ihrer eigenart und ihrer verbindung mit naturbegriffen analysiert werden. dabei folgt er nun weniger dem ansatz des südwestdeutschen neukantianismus und versteht recht als ein system von Wertbegriffen37. er unterscheidet auch nicht wie Hans kelsen zwischen seinsbegriffen der empirie und sollensbegriffen des rechts. vielmehr greift er bezeichnenderweise den eher erkenntnistheoretischen ansatz der Marburger schule des neukantianismus auf und versteht natürliche Begriffe als bezogen auf raum-zeitliche erfahrungen und rechtsbegriffe als gerichtet auf soziale erfahrungen in Gestalt sozialer Handlungen38. die soeben skizzierte symbolisierende kraft des Bewußtseins stellt die einheit der beiden erfahrungsbereiche dar. durch die annahme der synthetisierenden kraft des Bewußtseins vermeidet cassirer sowohl die einseitigkeiten eines reinen normativismus‘ kelsens mit seinen dualistischen konsequenzen als auch den empirismus des skandinavischen rechtsrealismus, der alle Werte in emotionen aufgehen lassen will. cassirer zeigt besonders in der Hägerström-schrift, daß sich durch die symbolbildende kraft des individuums bei der rechtsschöpfung beide sphären, empirie und ideenwelt, verbinden und folglich rechtstheorie die Begriffsbildung in beiden sphären zu analysieren hat. das naturrecht verliert dabei nicht seine Bedeutung39. cassirer kann aber wegen seiner erkenntnistheoretischen ausrichtung nicht denjenigen naturrechtstheorien folgen, die von einem system von Werten ausgehen, aus denen dann die Bestim35 ernst cassirer, Philosophie der Aufklärung, tübingen, Mohr, 1973, 318. 36 das hat schon kelsen (fn. 3), 105, sehr treffend erkannt: „Gerade in seinem Bemühen, den substanzbegriff in seinen verschiedenen formen aufzulösen, geht ja der Positivismus mit dem kritischen idealismus durchaus parallel. das zeigt am deutlichsten die glänzende leistung cassirers, dessen Werk ‚substanzbegriff und funktionsbegriff ‘ gerade unter diesem Gesichtspunkte die erkenntniskritische analyse auf den einzelnen Gebieten der naturwissenschaft in meisterhafter Weise durchführt. Was cassirer für die Grundbegriffe der naturwissenschaft wie atom, äther, Materie, kraft, seele usw., das ist in ganz analoger Weise auch für die Grundbegriffe der rechtswissenschaft, insbesondere für den Begriff des staates zu leisten: sie aus substanz- in reine funktionsbegriffe zu wandeln, zu beweisen, daß die tendenz zu diesem Wandel in der entwicklung der Wissenschaft selbst liegt.“ – kelsen und cassirer realisieren dieses vorhaben jedoch in sehr unterschiedlicher Weise. 37 vgl. hierzu die Beiträge von Gerhard sprenger, die Wertlehre des Badener neukantianismus und ihre ausstrahlungen in die rechtsphilosophie, 157–179, und eike Bohlken, der Wertbegriff des rechts in der rechtsphilosophie emil lasks und Heinrich rickerts, 283–300, beide in: Neukantianismus und Rechtsphilosophie, hg. v. robert alexy/lukas H. Meyer/stanley l. Paulson/Gerhard sprenger, Baden-Baden: nomos verlag 2002. 38 cassirer (fn. 1), 94 ff.: „die naturbegriffe beziehen sich auf die ordnung der empirischen Wahrnehmungswelt, auf die ordnung des existierenden in raum und Zeit. die rechtsbegriffe wollen gleichfalls erfahrungsbegriffe sein und für die erfahrung gelten; aber sie beziehen sich nicht unmittelbar auf die ‚natur der dinge‘, sondern auf die soziale erfahrung, für die sie nach einer art ‚ordnungsschema‘ suchen“, vgl. auch 96. 39 cassirers einstellung zum naturrecht ist umstritten. Während krois (fn. 2), 142, beide als Unterformen der ethik ansieht, bezweifelt recki (fn. 8), ob es überhaupt eine beide umgreifende ethik cassirers gibt.

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mungen des positiven rechts abgeleitet oder anhand derer diese kritisiert werden könnten40. vielmehr unterwirft er das naturrecht einer vergleichbaren formalisierung, wie sie auch bei stammler zu beobachten ist41. es stellt in analogie zur Grammatik oder syntax die logik des Bewußtseins bei der Produktion des positiven rechts dar42. dabei geht es nicht um die „inclinationes naturales“ eines Thomas von Aquin oder einer anderen inhaltlichen kritik des positiven rechts. cassirer vertraut vielmehr auf die distanzschaffende und klärende funktion von generellen Prinzipien, die wie die axiome der Mathematik durch ihre allgemeinheit zu einer läuterung des empirischen positiven rechts beitragen können. Wie die transzendentale apperzeption bei kant erkenntnis möglich macht, indem sie die Mannigfaltigkeit der erscheinungen auf einen einheitspunkt zurückführt, so soll auch die vielfalt der rechtlichen erscheinungen auf einen einheitspunkt gegründet werden43. dies ist die idee der „einheit des Willens“, als dem „unendlich-fernen Punkt“, auf den die rechtserfahrung bezogen werden muß44. so wie die theoretischen Begriffe die einheit der Wahrnehmung auf der Basis objektiver logischer Prinzipien herstellen, bringen rechtsbegriffe die einheit der Handlungen hervor. das recht aber ist ein Willensphänomen, denn der Wille ist die fähigkeit, sich selbst zu befehlen45. durch diese fähigkeit bestimmt er die Zukunft: Modernes recht als Willensphänomen ist auf die Gestaltung der Zukunft gerichtet. die darin liegende vorwegnahme der Zukunft setzt aber die vernünftigkeit des rechts voraus46. die Mathematik dient hierbei als repräsentantin einer „schlechthin universellen geistigen funktion“47. „Mathematisch“ bedeutet nach cassirer im neuzeitlichen naturrechtsdenken, dem er sich insofern anschließt, nicht übertragung des deduktionsprinzips aus axiomen, sondern vielmehr den rückgang auf den Ursprung allen

40 entsprechend hebt er hervor, daß leibniz, den er als den Begründer der modernen naturrechts versteht, keine neuen inhalte des naturrechts entwickelt, sondern den überkommenen eine neue Grundlage und form verliehen habe: „… die neue form, die er [der inhalt der Menschenrechte, sk] jetzt erhielt, seine systematische fassung und Begründung, die ihm zuteil wurde, sicherte ihm fortan auch eine neue, nach allen seiten des geistigen kosmos ausstrahlende Wirkung“, cassirer (fn. 9), 300. 41 Hierzu Wolfgang kersting: Neukantianische Rechtsbegründung. Rechtsbegriff und richtiges Recht bei Cohen, Stammler und Kelsen, in: (fn. 37), 23–69, 42 ff. rudolf stammler wird öfters zustimmend erwähnt, etwa cassirer (fn. 1), 28 ff. 42 cassirer (fn. 17), 90. 43 cassirer (fn. 1), 71: „aber auch wenn wir ihm auf diesem metaphysischen Wege der Grundlegung der ethik nicht folgen, so bleibt doch das methodische Problem zurück, das er gestellt hat. die frage ist, ob es auch im Gebiet des Willens jene Möglichkeit der einheitssetzung gibt, die für alle theoretische erfahrung die eigentliche, konstitutive voraussetzung bildet.“ 44 cassirer (fn. 1), 75 ff. 45 cassirer (fn. 1), 103 ff. 46 cassirer (fn. 1), 102: „die Bestimmbarkeit der Zukunft durch die Gegenwart und die verbindlichkeit dessen, was die Gegenwart beschlossen hat, für die Zukunft ist das Moment, das in jede ,mögliche Gesetzgebung‘ eingeht. das recht als Kulturfaktum beruht auf dieser antizipation …“ 47 cassirer (fn. 10), 206; „Wenn das naturrecht … recht und Mathematik aufeinander bezieht, so geschieht es, weil beide symbole ein und derselben Grundkraft sind. es sieht in ihnen die wichtigsten Zeugen für die selbstgesetzlichkeit und die spontaneität des Geistes“, und ders. (fn. 35), 318.

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rechts in der menschlichen vernunft48. auch in dieser klärenden funktion der mathematischen vernunft trifft sich cassirer mit stammler49. das „Quellgebiet“ des rechts liegt in dieser vernunft. damit ist sowohl die vorstellung eines göttlichen naturrechts als auch die positivistische Begründung des rechts ausschließlich auf staatliche setzung zurückgewiesen. in diesem „Quellgebiet des rechts“ findet er die Bauprinzipien des positiven rechts50. die naturrechtsprinzipien sind ihrer form nach unverfügbar51, zeitlos52 und notwendig53. als inhaltliche kennzeichen des naturrechts nennt cassirer freiheit, Gleichheit54 und Gerechtigkeit als Grundlage des materiell verstandenen rechtsstaats55 und den Gedanken des Gesellschaftsvertrages56. aus ihnen heraus kann er das rechtssystem konstruieren und somit die einheit des rechts herstellen. so kann „der staat … nur insofern recht schaffen und recht begründen, als er selbst ein ursprüngliches recht in sich trägt und in sich verkörpert. dieses ursprüngliche recht stammt aus dem vertrag, kraft dessen die einzelnen subjekte sich miteinander verknüpfen und durch den sie sich wechselseitig binden.“57 der vertrag erscheint dann als das noumenon des staates, wie das vernünftige sittengesetz, dem sich der 48 cassirer (fn. 10), 207. 49 rudolf stammler, Wirtschaft und Recht, 1896, 165: „so ist Physik als Wissenschaft nur in mathematischer form möglich, Mathematik aber mag für sich gesondert betrieben werden; und so läßt sich soziale Wirtschaft nicht behandeln, ohne das recht, ausdrücklich oder stillschweigend, einzuschließen, das recht aber ist einer selbständigen wissenschaftlichen Bearbeitung fähig.“ 50 „Wie der Geist fähig ist, rein aus sich selbst, aus seinen ‚eingeborenen ideen‘ heraus, den Gesamtbereich des Mathematischen, den Bereich von Größe und Zahl aufzubauen und auszubauen – so eignet ihm die gleiche kraft des schöpferischen aufbaus auch im Gebiet des rechts. er darf und er soll auch hier mit ursprünglichen Prinzipien, mit allgemeingültigen normen, die er aus sich selbst schöpft, beginnen und sich von ihnen aus den Weg zur Gestaltung des Besonderen, des faktischen und Partikularen, bahnen“, cassirer (fn. 10), 207. 51 cassirer (fn. 10), 209; (fn. 17), 58. 52 cassirer (fn. 10), 209. 53 cassirer (fn. 10), 209. 54 als Grundlage und forderung der demokratie; demokratie beruht aber zugleich auf dem Gedanken von autonomie und Pflicht des einzelnen; nachweise bei Müller (fn. 29), 83 ff. und 191. cassirer hat diesen Gedanken in einem noch unveröffentlichten Manuskript für einen vortrag – „lecture on democracy“ – festgehalten. 55 cassirer (fn. 20), 91. in diesem inhaltlichen sinne referiert cassirer auch, daß nach dem klassischen vernunftrecht etwa eines Grotius das recht „nur im naturrecht – als einem prinzipiell überstaatlichen und vorstaatlichen recht gegründet“, cassirer (fn. 10), 210. 56 cassirer (fn. 10), 222 ff.: nach der modernen naturrechtslehre beruhe „der staat … auf dem Begriff des vertrages – und die Gültigkeit dieses Begriffs ist eben darum für ihn unantastbar. er würde sich selbst aufgeben und aufheben; er würde sich den Boden unter den füßen wegziehen, wenn er diese Gültigkeit preisgeben wollte.“ 57 cassirer (fn. 10), 210. an eine ursprüngliche freiheit rückgebunden, unterscheidet sich diese vertragskonzeption sowohl von der hobbesschen als auch von der rousseaus. Bei beiden wird die ursprüngliche freiheit im staat ausgelöscht, während sie bei cassirer erhalten und tragender Grund des staates und Grenze seiner Macht bleiben soll. die idee der Unveräußerlichkeit der individuellen Menschenrecht steht also bei cassirer der anerkennung der Position von thomas Hobbes und Jean-Jacques rousseau entgegen. das bringt ihn in eine nähe zu John locke, von dem er sich jedoch wie kant durch die annahme des nichtempirischen charakters des Gesellschaftsvertrages unterscheidet. entsprechend hebt er bei kant hervor, daß dieser die „quid facti“-frage des sozialvertrages von der „quid juris“-frage getrennt und nur letztere als erheblich angesehen habe, Cassirer 1991a, 36; zum Ganzen: Müller (fn. 29), 52 ff., 60 ff.

ernst cassirers ansätze zu einer theorie des rechts als symbolische form

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einzelne freie unterwirft58. nur so, nicht im sinne einer substantialistischen deduktionsbasis für konkrete rechtssätze will cassirer den ursprünglichen vertrag verstanden wissen59. Hierin weiß er sich zugleich einig mit seinem lehrer Hermann Cohen. Wie Metaphysik und religion auf den Begriff der schöpfung zurückgreifen, um alles natürliche sein auf einen geistigen Urgrund zurückzuführen, so stellt „das idealistisch-kritische denken … den Begriff und die forderung des ‚Ursprungs‘ auf, um dadurch alles, was wir dasein nennen … in dauernden Gedanken zu befestigen.“60 der Funktion des „ursprünglichen vertrages“ bedarf es, weil recht (im Gegensatz zu sitte und Brauch) zukunftsgerichtet ist. nur, wo eine verhaltensregel Zukunftsbindung erzeugt, kann sie recht sein. der Begriff des versprechens und damit seine erfüllung ist somit die vernünftige Grundlage des rechts. durch die rückbindung an diese antizipation ist das recht dann „kulturfaktum“, bezogen auf eine fähigkeit des menschlichen Geistes61. dieser vertrag hat die form eines „ethischen imperativs“62. er nimmt für cassirer die stelle des kategorischen imperativs in der Moral für das recht ein. in dieser „ethisierung“ liegt der springende Punkt: Während die französische revolution den ursprünglich als reine idee in der deutschen Philosophie entwickelten vertragsgedanken, der sozusagen über die englische und amerikanische entwicklung der politischen theorie immer empirischer geworden sei, in die soziale Wirklichkeit als recht umgesetzt habe, führe ihn kant in seiner spätphilosophie wieder auf seine ideelle Wurzel zurück. Hier ist er „idee der vernunft“ (cassirer), „Probierstein der rechtmäßigkeit“ (kant), nicht aber selbst recht. Gerade in dieser rückführung wird die französische revolution selbst als symbolische form erwiesen: es wird gezeigt, daß sie als empirisch-historische erscheinung die entwicklung der Menschheit zu vernünftigen verhältnissen zum ausdruck bringt63. Zusammenfassend kann festgehalten werden: cassirer folgt kant darin, daß der Gesellschaftsvertrag kein empirischer vertrag ist, auch wenn er seine praktische Wirksamkeit in der französischen revolution bewiesen hat. stärker als kant sieht er ihn als ideellen Grund aller empirischen verträge an, der selbst keinen rechtscharakter trägt. der naturrechtsgedanke verschafft dem recht also objektive Gültigkeit. Zugleich ist er Bedingung für das konkrete rechtliche Wollen, das nach cassirer eine gewisse kohärenz und konsequenz und damit einheitlichkeit voraussetzt. an die stelle der einheit der denksetzungen in der theoretischen tritt aber dann die einheit der Zielsetzungen in der praktischen Philosophie64. entsprechend richten sich die rechts58 ernst cassirer: Freiheit und Form. Studien zur Deutschen Geistesgeschichte, hg. v. r. schmücker, Hamburg: felix Meiner verlag, 2001, 342, der ursprüngliche vertrag „stellt gleichsam das noumenon des staates dar, indem er die intelligible aufgabe ausspricht, der er sich, als empirisch-phänomenales Gebilde, fort und fort anzunähern hat.“ 59 cassirer (fn 1), 101: „es ist unmöglich, aus irgendeinem ‚ursprünglichen vertrag‘ die substanz des rechtes und den inhalt der positiven rechtssatzungen herzuleiten.“ 60 ernst cassirer: Hermann cohen. Worte gesprochen an seinem Grabe am 7. april 1918 von ernst cassirer, in: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931) (hg. v. t. Berben), Hamburg: felix Meiner verlag 2004, 284–291, s. 288. dies wird von ihm als die „Grundüberzeugung“ cohens bezeichnet. 61 cassirer (fn. 1), 101 ff.; Müller (fn. 29), 67. 62 cassirer (fn. 9), 303. 63 Müller (fn. 29), 76 ff. 64 cassirer (fn. 1), 74 ff.

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begriffe nicht auf die einheit von Wahrnehmungen, sondern von Handlungen.“65 Bei aller Betonung der rationalität der Mathematik bedeutet ihre analogie in der rechtswissenschaft jedoch nicht wie bei cohen, daß er die rechtswissenschaft selbst zur Mathematik der ethik erheben will, daß er sie als die exakte Wissenschaft des ethischen verstehen wollte66. das naturrecht ist somit der rechtsgrund (causa iuris) des positiven rechts, der staatswille seine causa efficiens. Beide bezeichnen notwendige Bedingungen des positiven rechts67. das positive, auf das formal verstandene naturrecht gegründete recht erfüllt durch seine Positivität eine klarheit stiftende und damit befreiende funktion. das wird an cassirers einschätzung des naturzustandes deutlich. cassirer schreibt gegen Berkeleys Behauptung, man müsse nur auf die sprachliche vermittlung von erkenntnissen verzichten, um dahinter „den Baum der erkenntnis zu erfassen“, daß dies nicht das gewünschte ergebnis brächte: „Gelänge es, alle Mittelbarkeit des sprachlichen ausdrucks und alle Bedingungen, die uns durch sie auferlegt werden, wahrhaft zu beseitigen, dann würde uns nicht der reichtum der reinen institution, die unsagbare fülle des lebens selbst entgegentreten, sondern es würde uns nur wieder die enge und dumpfheit des sinnlichen Bewußtseins umfangen.“68 das entsprechende gilt auch für das recht. von allen naturzustandstheoretikern wurde derselbe – mögen sie dies nun positiv (rousseau) oder negativ (Hobbes, locke) bewertet haben – als ein rechtlich primitiver Zustand geschildert, in dem es keine rechtssicherheit mangels rechtsdurchsetzungsfähigkeit, aber auch mangels unparteilicher rechtserkenntnisfähigkeit durch unabhängige Gerichte gab. es fehlt dem naturzustand die reflexionsebene einer vernünftig begründeten ordnung. dieser Mangel ist auch der Grund dafür, daß cassirer Hägerströms emotivismus nicht teilen kann. Mit dessen Behauptung des mythischen Grundes von rechtsverpflichtungen läßt er das recht einem Bewußtseinszustand entspringen, der es vielleicht in der antike hervorgebracht haben mag – hier konzediert cassirer Hägerström die expertise des römischrechtlers – spätestens seit der neuzeit durchläuft die Positivierung jedoch den klärungsprozeß eines naturrechtlich geschärften denkens. die rechtsform selbst entwickelt sich parallel zu anderen symbolischen formen von ihren heteronom-mythischen Wurzeln zu einer autonomen Gestalt in der neuzeit. vor diesem Hintergrund erscheint dann das nationalsozialistische recht als das verheerende Wiederauftreten eines bereits überkommenen mythischen denkens in einem völlig veränderten kulturellen Zusammenhang69. 65 cassirer (fn. 1), 93: „die rechtsbegriffe haben die gleiche aufgabe der ‚synthesis‘ zu vollziehen, aber ihre einheitsbildungen haben einen ganz anderen charakter, da sie sich nicht auf eine einheit von Wahrnehmungen, sondern von Handlungen beziehen.“ 66 Hermann cohen: Die Ethik des Reinen Willens. Hildesheim: olms, 1981, 66. Hierzu auch kersting (fn. 41), 32. 67 Müller (fn. 29), 219. 68 ernst cassirer: der Begriff der symbolischen form im aufbau der Geisteswissenschaften. in: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 169–201, 199. 69 cassirer (fn. 17), 252: „We live no longer in a rational world; we live in a mythical world. We have no longer to do with laws or statutes, with constitutions or political charters. all this has vanished; it has resolved itself into thin air. law, justice, constitutions, and bills of rights have lost their meaning and their validity. What alone remains and what alone matters is the power and authority of the mythical god: the leader’s will is supreme law.“ – im Zentrum dieser ana-

ernst cassirers ansätze zu einer theorie des rechts als symbolische form

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am ende zielt cassirer auf eine erkenntniskritik der rechtswissenschaft, nicht auf die entwicklung einer normativen kritik des positiven rechts70. Gerade die praktische Umsetzung des Menschenrechtsgedankens in politische ideale, erklärungen und schließlich zwingendes positives recht wieder auf seinen theoretischen Grund zurückzuführen und von diesem her zu klären, sieht cassirer als das verdienst gerade der deutschen rechtsphilosophie an71. cassirer zeichnet den Weg dieser rechte von ihren Ursprüngen in der theorie von leibniz und christian Wolff über ihre radikalisierung und politische forderung in england, ihre Umsetzung in den Usa und in der französischen revolution nach. schließlich seien sie jedoch wieder systematisiert, verfeinert und idealisiert worden durch kant, der sie der kritik der praktischen vernunft unterworfen habe72. es klingt fast hegelianisch, wie cassirer hier die vernunft in ihrer subjektiven Bildung, der objektiven realisierung und schließlich der philosophischen aufhebung beobachtet73. Wie dieser hebt cassirer hervor, daß das recht nicht nur freiheit ermöglicht, sondern selbst ausdruck von freiheit ist. für beide ist recht ein Willensphänomen. Während jedoch Hegel das recht als Grundstruktur des objektiven Willens ansieht, der allgemeinen und individuellen Willen vermittelt, besteht cassirer auf dem individuellen standpunkt, weil nur der einzelmensch ein „animal symbolicum“ ist.

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lyse steht nicht die kritik dieser verhältnisse als „ungerecht“, sondern als irrational, weil sie ein wesentliches kriterium des rationalen rechts, die Prospektivität, die ja nur möglich wird durch die voraussicht der vernunft, ignoriert. das wird auch durch den Umstand belegt, daß er auch in der für die rechtstheorie zentralen Hägerström-schrift zwar kants erkenntnistheoretische schriften häufig zitiert, jedoch die schriften zur praktischen Philosophie und insbesondere auch die Metaphysik der sitten kaum erwähnt. „es ist, als hätte die neue weltbewegende idee erst durch die enge, aber auch durch die beschauliche stille einer deutschen Gelehrtenstube hindurchgehen müssen, um ihre volle Bündigkeit und gewissermaßen ihre solidität zu erlangen …“, cassirer (fn. 9), 300. cassirer (fn. 10), 222. cassirers ansicht zufolge teilten nur J. G. fichte, der frühe Hegel und schelling, die später vom Gang der ereignisse desillusioniert wurden, kants anerkennung für die französische revolution. „Mitten aus der reihe des empirisch-historischen Geschehens heben sich bisweilen einzelne große Begebenheiten heraus, an denen der denkende, der philosophische Betrachter unmittelbar gewahr wird, daß sie nicht dieser reihe verhaftet sind, sondern daß sie eine universelle ethische Bedeutsamkeit besitzen“, cassirer (fn. 9), 305.

daniela küHne, ZüricH kulturrelatIVIsMus

und

MenscHenrecHte

1. eInleItung der philosophische diskurs zwischen Universalismus und ethischem relativismus hat in verschiedenen rechtsgebieten tradition und lässt sich bis auf Platons darstellung der Gespräche zwischen sokrates und den sophisten über Gerechtigkeit zurückverfolgen. er zeigt sich auch in der gegenwärtigen auseinandersetzung mit rechtsphilosophie immer wieder. Unter dem Gesichtspunkt der rechtswissenschaft als kulturwissenschaft äussert sich der diskurs heute vor allem in der frage der Menschenrechte. die idee der Menschenrechte ist wohl einer der zentralen Bestandteile westlicher rechtskultur der letzten Jahrzehnte. sie basiert auf der annahme, dass jeder einzelperson unabhängig von allen biologischen, sozialen und individuellen Unterschieden a priori moralisch begründete rechte zukämen, welche deshalb von jeder legitimen rechtsordnung zu gewährleisten seien. seit ende des Zweiten Weltkrieges haben Menschenrechte nicht nur auf nationaler ebene an Bedeutung gewonnen, sondern auch in zahlreichen völkerrechtlichen dokumenten einzug gehalten. in der Präambel der allgemeinen erklärung der Menschenrechte von 1948, der ersten umfassenden internationalen Menschenrechtsdeklaration, werden Menschenrechte als „das von allen völkern und nationen zu erreichende gemeinsame ideal“ beschrieben.1 die idee der Menschenrechte erhebt so trotz ihrer entstehung als westliches kulturgut anspruch auf Universalität und ist deshalb bis heute streitgegenstand einer interkulturellen debatte über rechte, Pflichten und verantwortung des individuums. stärkste Gegenposition zum Universalismusgedanken der Menschenrechte beziehen vertreter des Kulturrelativismus. sie bestreiten die Geltung universaler normen und wenden ein, dass der Geltungsanspruch von Werten und normen stets kontextabhängig sei. das konzept der Menschenrechte sei historisch betrachtet ein Produkt der westlichen Geschichte und deshalb an die kulturellen voraussetzungen des abendländischen denkens gebunden. Menschenrechten liege das individualistische Menschenbild der europäischen aufklärung zugrunde, welches mit dem Menschenbild asiatischer oder afrikanischer kulturen nicht vereinbar sei.2 relativistische einwendungen sind im interkulturellen diskurs über Menschenrechte ernst zu nehmen. für vertreter eines menschenrechtlichen Universalismus stellt sich in anbetracht der aktuellen Probleme bei der Umsetzung von Menschenrechtsgarantien in der tat die frage, wie ein internationaler Menschenrechtsstandard etabliert werden kann, der die vielfalt nebeneinander existierender kulturen nicht abwertet, sondern im Gegenteil ausdruck von interkulturellen Werten ist.

1 2

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, General assembly official records (Gaor) iii, resolutions (Un-doc. a/810), 71. Walter kälin/Jörg künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, Basel: Helbling und lichtenhahn verlag, 2005, 28 ff.

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2. MenscHenrecHte

als

ausdruck

abendländIscHer

recHtskultur

die idee universeller Menschenrechte hat ihre Wurzeln unbestritten in der Geistesund rechtsgeschichte europas und nordamerikas. ein ideengeschichtlicher rückblick zeigt, dass sich vorstellungen über vorgesetzliche Gerechtigkeit, Würde und Gleichheit aller Menschen bis in die griechische antike zurückverfolgen lassen. Zum durchbruch gelangte das konzept der Menschenrechte jedoch erst im Zuge der europäischen aufklärung und der daran anschliessenden französischen revolution im 17. und 18. Jahrhundert. als eigentliche Begründer liberaler Menschenrechte gelten unter anderem denker wie Jean Bodin (1529–1596), John locke (1632–1704), JeanJacques rousseau (1712–1278) und immanuel kant (1724–1904).3 ihre philosophischen Grundkonzepte vorstaatlich freier und gleichberechtigter individuen flossen in die französische erklärung der Menschenrechte von 1791 ein und bildeten im 20. Jahrhundert Grundlage für völkerrechtliche Menschenrechtsverträge. der kulturelle relativismus zieht aus der oben beschriebenen entstehungsgeschichte den schluss, dass sich Menschenrechte, die aus kulturellen und philosophischen voraussetzungen der abendländischen Geschichte erwachsen seien, nicht auf staaten mit divergierender historischer vergangenheit übertragen liessen. Zu recht hält Otfried Höffe diesem relativistischen standpunkt entgegen, dass auch ein regional entwickeltes rechtsinstitut interkulturelle Gültigkeit beanspruchen darf, sofern seine legitimation von den entstehungsverhältnissen abgekoppelt werden kann. nur so lässt sich ein naturalistischer fehlschluss umgehen, welcher von der abendländischen Genese einer norm auf deren ausschliessliche Geltung in derselben region schliesst.4 schliesslich weisen vertreter des universalistischen standpunktes darauf hin, dass die idee der Menschenrechte einst auch in europa nicht selbstverständlich war, sondern sich in langwierigen Prozessen gegen gesellschaftliche Widerstände und irritationen durchsetzen musste. Menschenrechte lassen sich so nicht kulturgenetisch aus der abendländischen tradition ableiten, sondern sind auch als antwort auf historische Unrechtserfahrungen zu betrachten, welche in einer Geschichte der Umbrüche und der innewerdung menschlicher Mündigkeit gewonnen wurde.5 Massgeblich für die durchsetzung der Menschenrechte in europa waren die konfessionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts und der damit verbundene übergang von einem theozentrischen zu einem anthropozentrischen Weltbild. die katholische kirche begegnete der idee der Menschenrechte nicht nur in dieser Umbruchszeit, sondern bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts mit offener ablehnung.6

3 4 5 6

Walter kälin/Jörg künzli (fn. 2), 26 f. otfried Höffe, die Menschenrechte im interkulturellen diskurs, in: Die Menschenrechte: Herkunft, Geltung und Gefährdung, hg. v. Walter odersky, düsseldorf: Patmos verlag, 1994, 119–137, 120. Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, darmstadt: Primus verlag, 1998, 121 ff. Joseph isensee, die katholische kritik an den Menschenrechten, in: Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulares gestalt-christliches Verständnis, hg. v. ernst Wolfgang Böckenförde/robert spaemann, stuttgart: klett-cotta verlag, 1987, 138–174, 138 ff.

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kulturrelativismus und Menschenrechte

3. MenscHenrecHte

zwIscHen

MenscHenbIldern

und

weltansIcHten

vielfach nehmen kulturrelativisten den standpunkt ein, Menschenrechte seien ausdruck eines westlich-individualistischen Menschenbildes, welches auf selbstverwirklichung des individuums ausgerichtet und deshalb unvereinbar sei mit dem kommunitären ethos kultureller Gesellschaften in afrika oder asien. die modernen Menschenrechte könnten deshalb auf islamische, hinduistische oder buddhistische kulturen nicht angewandt werden. obwohl eine klare Begriffsbestimmung von asiatischen, afrikanischen oder europäischen Betrachtungen zum Wesen des Menschen kaum möglich ist, lässt sich doch feststellen, dass zwischen Menschenbildern verschiedener kulturen Unterschiede bestehen. das christliche Menschenbild beruht auf der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, wodurch dem individuum eine grundsätzliche Würde zugesprochen wird. abendländische Philosophen wie Locke oder Kant gingen von der autonomie, ursprünglichen freiheit und Gleichberechtigung der individuen aus, welche potentiell fähig sind, aus eigener vernunft allein zu erkennen. in verschiedenen afrikanischen Gemeinschaften hingegen wird der Mensch nicht a priori als eigenständiges individuum betrachtet, sondern als ein unvollkommenes Wesen, welches erst durch einen langwierigen Prozess der sozialen integration und der erfüllung seiner Pflichten zur vollwertigen, mit rechten ausgestatteten Person heranwächst. erkenntnis gewinnt das auf diesem Menschenbild beruhende individuum nicht aus eigener vernunft, sondern durch die Mitteilung Gottes. auch das Menschenbild in asiatischen kulturkreisen wird im vergleich zum abendländischen oft als kollektivistisch bezeichnet. asiatische kulturrelativisten halten dem konzept der Menschenrechte entgegen, dass sich beispielsweise der Begriff der Person im hinduistischen kontext nicht mit dem westlich-rationalistischen individuum decke, da eine Person im Hinduismus ein ganzes netz von Beziehungen zu familienangehörigen, vorfahren und kasten bezeichne und durch soziale Pflichten und Handlungsnormen, jedoch weniger durch individuelle freiheiten definiert werde.7 3.1 MenscHenrecHte

Und individUalisMUs

Menschenrechte sind insofern individualistisch, als sie jedem Menschen als subjekt gleicher Würde und gleicher freiheit rechtspositionen einräumen. die Betonung der individualistischen seite birgt jedoch die Gefahr einer einseitigen Betrachtung. Menschenrechte enthalten vielmehr verschiedene stossrichtungen und zielen unter anderem auch darauf ab, den kollektiven Zusammenschluss in ehe, familie, religionsgemeinschaften, kulturellen verbänden und politischen Parteien zu gewährleisten. Hingegen stehen Menschenrechte autoritären kollektivismen und unfreiwilliger sozialer ausgrenzung entgegen.8 des Weiteren vertreten universalistische autoren die ansicht, dass sich die aktuelle völkerrechtliche debatte einer fortwährenden inspiration durch kollektivistische Menschenbilder und Pflichtenlehren keineswegs 7 8

Heinrich von stietencron, Menschenrechte? sichtweisen südasiatischer religionen, in: Die Menschenrechte. Herkunft, Geltung und Gefährdung, hg. v. Walter odersky, düsseldorf: Patmos verlag, 1994, 65–89, 65 ff. Heiner Bielefeldt, Universale Menschenrechte angesichts der Pluralität der kulturen, in: Ethik der Menschenrechte, hg. v. Hans-richard reuter, tübingen: J.c.B. Mohr verlag, 1999, 43–73, 65.

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verschliesst, was z. B. bereits völkerrechtlich verankerte Grundsätze wie das recht auf arbeit oder der lang anhaltende diskurs über eine mögliche dritte Generation von Menschenrechten aufzeigen; eine solche weitere menschenrechtliche ebene würde ein Bündel von kollektiven rechten wie beispielsweise das recht der völker auf selbstbestimmung oder das recht auf erhalt der natürlichen Umwelt enthalten.9 Befürworter der universalen idee weisen schliesslich zu recht darauf hin, dass Menschenrechte sich auf die anfangsbedingungen, nicht auf die „vollendungsbedingungen des Humanum“ beziehen.10 Menschenrechte sollen sittliche selbstbestimmung und innere verpflichtung in einem kollektiv keineswegs ausschliessen, da sie eben gerade keine sittlichen Gebote, sondern lediglich grundlegende rechtsprinzipien darstellen. der universalistische standpunkt erachtet Menschenrechte im Gegenteil als schutzhülle eines freiraumes sittlicher identität und kultureller vielfalt. Menschenrechte würden die friedliche koexistenz unterschiedlicher kulturen dadurch, dass sie keine kulturelle lebensform privilegieren, erst ermöglichen.11 3.2 kUltUrell

UnterscHiedlicHe

leGitiMationsansätZe

dem relativistischen argument der kulturell divergierenden Menschen- und Weltansichten als ausschlussgrund der Menschenrechte setzen universalistische vertreter entgegen, dass die legitimation der Menschenrechte begründungsoffen und mit keinem konkreten ethos identisch sei, solange sie auf universal existierenden Werten basiere. der indische Philosoph ram adhar Mall beispielsweise erachtet die idee der Menschenrechte als ausdruck einer inneren, kulturunabhängig ethischen Haltung und als allgemeingut der Menschheit, so sehr die theoretischen Grundlagen auch variieren mögen. in der indischen Geschichte beispielsweise lässt sich die Menschenrechtsidee gemäss Mall bis in die Zeiten des königs ashoka im 3. Jh. v. chr. zurückverfolgen. der buddhistische Herrscher erhob auf Grundlage eines vielfältigen dharma-Begriffes12 Gewaltlosigkeit, toleranz und respekt aller religionen zu einem leitmotiv und verbreitete seine lehren, insbesondere die forderung nach religionsfreiheit, durch eingravieren in felsen und säulen, wodurch die bekannten säulenund felsenedikte ashokas entstanden. Moralische ideen wie Menschenwürde, prinzipielle Gleichheit und religionsfreiheit finden sich nach Mall so auch in den buddhistischen und hinduistischen traditionen wieder; sie basieren jedoch auf anderen 9

Bielefeldt (fn. 8), 64 f.; Jens Hinkmann, argumente für und wider die Universalität der Menschenrechte, in: Menschenrechte interkulturell, hg. v. Jean-claude Wolf, freiburg: Universitätsverlag freiburg schweiz, 2000, 185–206, 186 f. 10 Höffe (fn. 4), 125. 11 Hans-richard reuter, relativistische kritik am Menschenrechtsuniversalismus? eine antikritik, in: Ethik der Menschenrechte, hg. v. Hans-richard reuter, tübingen: J.c.B. Mohr verlag, 1999, 75–102, 92. 12 Dharma ist sowohl im Hinduismus als auch im Buddhismus ein zentraler Begriff und steht in beiden religionen für eine Bandbreite verschiedener Bedeutungen, wie z. B. logos, Geist, Gerechtigkeit oder Pflicht; im vorliegenden Zusammenhang bezeichnet dharma in erster linie ethisch-moralische tugenden wie Mitgefühl, Wahrhaftigkeit, Wohlwollen und Gewaltlosigkeit. vgl. dazu ram adhar Mall, interkulturelle Philosophie und die idee der Menschenrechte, in: Menschenrechte interkulturell, hg. v. Jean-claude Wolf, freiburg: Universitätsverlag freiburg schweiz, 2000, 124–149, 146.

kulturrelativismus und Menschenrechte

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Menschen- und im vergleich zu westlichen kulturen kosmozentrischeren Weltbildern, in welchen den rechten des individuums seine Pflichten und dem Menschen allgemein andere lebewesen entgegengesetzt werden. Mall bezeichnet diese auf verschiedenen Begründungen beruhenden, aber schliesslich gemeinsamen Werte aller kulturen als „orthafte ortlosigkeit“ der Menschenrechte.13 vertreter eines universalistischen Menschenrechtskonzeptes finden sich ferner auch unter muslimisch-theozentrischen denkern. der muslimische Philosoph Mohamed Talbi legitimiert die anerkennung der religionsfreiheit mit dem argument, dass sich niemand anmassen dürfe, in das verhältnis zwischen Gott und Mensch einzugreifen; die religionsfreiheit sei ein akt grundlegender achtung vor der souveränität Gottes und „vor dem Geheimnis seiner absicht mit dem Menschen, der das erschreckende vorrecht empfangen hat, selbst und in eigener verantwortung sein schicksal hier auf erden und im Jenseits zu übernehmen“.14 schliesslich zeigt ein Blick auf rein westliche Begründungstheorien der Menschenrechte, dass es auch hier ganz unterschiedliche ansätze der legitimation gibt. naturrechtliche Begründungen stehen neben religiösen und rechtspositivistischen legitimationsmodellen. Otfried Höffe beispielsweise begründet Menschenrechte auf einem anthropologischen Begriff des tausches von allen Menschen gemeinsamen, transzendentalen interessen. Unter Bedingung der Gegenleistung werden Menschenrechte erbracht und stehen so in einer Wechselbeziehung zu Menschenpflichten. Höffe zufolge basieren Menschenrechte durch dieses kriterium der tauschgerechtigkeit auf einem interkulturellen element ähnlich der Goldenen regel, wobei sich dieser ansatz sowohl im Hinduismus, konfuzianismus, im alten und neuen testament und schliesslich im koran wieder findet.15 4. würdIgung die debatte um kulturrelativismus und Universalität wirft grundsätzliche fragen auf, die sich nicht immer leicht beantworten lassen, eine Positionierung aber erfordern. Unterschiedliche kulturelle Praktiken und traditionen wie die Beschneidung weiblicher Genitalien, die stellung der frau in der Gesellschaft, Polygamie und der ausschluss einer Wahlfreiheit der ehe oder religion rücken Menschenrechte wie körperliche Unversehrtheit, Gleichberechtigung, ehe- und religionsfreiheit in den Brennpunkt der diskussion und erfordern wichtige entscheidungen in der ausgestaltung dieser einzelnen rechte. auch zahlreiche nicht-westliche Befürworter der universellen Menschenrechtsidee befassen sich inzwischen mit verschiedenen Methoden und lösungsansätzen. diese reichen von einem gemässigten Universalismus mit universalen fundamentalwerten einerseits und derivativen rechten andererseits, die in ihrer ausgestaltung mehr oder weniger kontextabhängig sein dürfen, bis zu einem strikten Universalismus.16 13 Mall (fn. 12), 145 f. 14 Mohamed talbi, religionsfreiheit – eine muslimische Perspektive, in: Freiheit der Religion. Christentum und Islam unter dem Anspruch der Menschenrechte, hg. v. Johannes schwardtländer, Mainz: Grünewald verlag, 1993, 53–71, 71. 15 Höffe (fn. 4), 131; Hinkmann (fn. 9), 199 ff. 16 vgl. dazu z. B. reuter (fn. 11), 97 ff.

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Ram Adhar Mall spricht sich für einen verzicht auf eine kulturspezifische vereinnahmung der Menschenrechtsidee und für eine verstärkt interkulturelle Philosophie aus. dadurch werde ein Bewusstsein der „familienähnlichkeit“ der unterschiedlichen Philosophien, kulturen und religionen, welche „alle ihren je eigenen Zugang zum einen Wahren haben“, erst ermöglicht.17 Mall schlägt vor, Menschenrechte im Geiste der lehre Buddhas wie ein Boot zu betrachten, „das uns hilft, das andere Ufer voller frieden und freiheit zu erreichen. das Boot der Menschenrechte ist das Mittel und nicht das Ziel.“18 deshalb seien auch die Begründungsvielfalt und die den Menschenrechten zugrunde liegenden Menschenbilder und Weltanschauungen zwar wichtig, aber in der frage der Menschenrechte zweitrangig. auch der Us-amerikanische Philosoph John Rawls (1921–2002) suchte durch seinen Begriff des Overlapping Consensus nach dem kulturunabhängigen „einen Wahren“. nach Rawls ist der Begriff des Overlapping Consensus mehr als eine blosse schnittmenge zwischen den in unterschiedlichen kulturen vorhandenen Wertvorstellungen, sondern ein normativer anspruch, der mit verschiedenen kulturellen Wertorientierungen durchaus in konflikt geraten kann und in einem solchen fall vorrang beansprucht. der Begriff bezeichnet also einen soll-konsens, welcher zwar vielfältige kulturelle orientierungen mit einschliesst, gleichzeitig aber auch Grenzen der toleranz aufzeigt und durch seine kulturkritische komponente Grundlage für gesellschaftlichen und kulturellen Wandel bilden kann. dieser kulturkritische anspruch ist nach Rawls allerdings begrenzt, da Menschenrechte keine umfassende Weltansicht bilden, sondern lediglich die grundlegende struktur einer Gesellschaft und die wechselseitige anerkennung von Menschen unterschiedlicher überzeugungen und lebensweisen auf der Grundlage gleicher freiheit und gleichberechtigter Partizipation beinhalten.19 Welchen ansätzen man auch folgt, so zeigen die vorangegangenen ausführungen doch auf, dass die idee der Menschenrechte nicht an eine bestimmte kultur, religion oder Philosophie gebunden sein muss und einem respektvollen Umgang mit kultureller vielfalt nicht entgegensteht. dies war im Grunde schon 1948 zu erkennen, als die Unesco kurz vor verabschiedung der allgemeinen erklärung der Menschenrechte eine Umfrageaktion durchführte, um festzustellen, ob die in der erklärung festgehaltenen rechte der weltweiten kulturellen vielfalt rechnung tragen. die antwort der unterschiedlichen länderexperten, welche durchgehend keine nationalen politischen führungsstellungen einnahmen und somit unabhängig von vorgängen der politischen Herrschaftssicherung waren, fiel fast einhellig bejahend aus:20 „it was never the people who complained of the universality of human rights, nor did the people consider human rights as a Western or northern imposition. it was often their leaders who did so.“21

17 18 19 20 21

Mall (fn. 13), 144. Mall (fn. 13), 133, 140. John rawls, Political Liberalism, new york: columbia University Press, 1993, 58 ff. Mall (fn. 13), 137. Zitat des ehemaligen Uno-Generalsekretärs kofi annan, vgl. dazu José lindgren alves, „the declaration of Human rights in Postmodernity“, Human Rights Quarterly 22 (2000), 478–500, 498.

tHoMas felix Mastronardi, Bern PostModerne recHtswIssenscHaft IM wertePluralIsMus

als

kulturwIssenscHaft

Ungewissheit, Unsicherheit und kontingenz kennzeichnen die Postmoderne. lokales Wissen, lokale kultur1 und schutz der ethnien sind postmodern. die vernunft ist plural geworden, das Gute auch. das fehlen universal anwendbarer Grundsätze und insulares denken führen zur Unmöglichkeit der verständigung. diskurse sind miteinander im unlösbaren Widerstreit, da es sich um verschiedene diskursarten handelt. kommunikation zwischen systemen ist ausgeschlossen, da systeme in sich operativ geschlossen2 und nur informativ offen sind. die Postmoderne erscheint so gesehen als eine kritische situation, in welcher auch der Universalismus sensu Jürgen Habermas3 verabschiedet wird. ein universaler, intersubjektiver diskurs, welcher sich an guten und vernünftigen Gründen orientiert und in welchem das beste (nach welchen kriterien?) argument siegt, versagt mehr und mehr, denn wie karl-Heinz ladeur4 mit seiner systemtheorie der organisationen nachweist, kann man in einer hochkomplexen Welt auch mit guten Gründen in die katastrophe gelangen. die 204 Uno-nationen haben zum teil massiv verschiedene kulturen, (die kultur des islam (mit 1,5 Milliarden Menschen) ohne trennung von kirche und staat und ohne trennung von öffentlichkeit und Privatsphäre) zudem kommen zahlreiche kulturen und subkulturen innerhalb der verschiedenen länder der Welt hinzu. entsprechend dieser kulturellen Unterschiede sind auch die rechtssysteme und die Gerechtigkeitsauffassungen verschieden, in höherem Masse noch die Grundüberzeugungen über das, was gut ist. Betrachtet man rein theoretisch die globalisierte Gesellschaft als ein einziges Gesellschaftssystem und ein einziges rechtssystem, so handelte es sich bei der aufsplitterung in verschiedene teilkulturen (ahistorisch gesehen) und teilsysteme um eine ausdifferenzierung von teilsystemen, welchen ladeur5 die vereinbarungskonformität abspricht; mit anderen Worten zwischen welchen eine kommunikation und ein konsens unmöglich ist. ist kommunikation zwischen verschiedenen kulturen, verschiedenen systemen, verschiedenen diskursarten überhaupt möglich? sind verschiedene diskursarten nicht in einem unüberwindlichen Widerspruch und Widerstreit, wie Jean-françois lyotard6 meint? können wir uns vielleicht in der Postmoderne auf die autopoiese (die selbsterhaltung und selbstherstellung, also selbstproduktion) der normen in den verschie1 2 3 4 5 6

clifford Geertz, Local Knowledge – Further Essays in Interpretativ Anthropology, new york: Basic Books, 1983, 84. niklas luhmann, Das Recht der Gesellschaft, frankfurt a. M.: suhrkamp verlag, 1993, 554. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, frankfurt a. M.: suhrkamp verlag, 1985, 377. karl-Heinz ladeur, Postmodene Rechtstheorie, Berlin, duncker & Humblot verlag, 1992, 61. ladeur (fn. 4), 67. Jean-francois lyotard, Der Widerstreit (original: le différend, 1983), München: Wilhelm fink verlag, 1987, 10.

196

thomas felix Mastronardi

denen kulturen stützen? vielleicht zum teil, denn das recht ist ein autopoietisches sozialsystem zweiter ordnung, weil es gegenüber der Gesellschaft als autopoietisches system erster ordnung, eine eigenständige operative Geschlossenheit gewinnt, insofern es seine systemkomponenten selbstreferenziell konstituiert und diese in einem Hyperzyklus miteinander verknüpft.7 die elemente aller sozialsysteme sind kommunikationen und nicht einzelne Menschen. kommunikationen als einheit von Mitteilungen, informationen und verstehen konstituieren soziale systeme, indem sie rekursiv kommunikationen reproduzieren. damit erweisen sich die einzelnen rechtssysteme als autonom und in sich geschlossen. kommunikation zwischen den verschiedenen, differenten Gesellschaften und rechtssystemen erscheint damit sowohl nach der systemtheorie von niklas luhmann, ladeur, Gunther teubner unplausibel und nach der Widerstreittheorie von lyotard ausgeschlossen. Zudem erscheint aus systemischer sicht die intersubjektive kommunikative diskurstheorie von Habermas, illusorisch und hoffnungslos unterkomplex. damit erscheinen sowohl systemtheorien als auch diskurstheorien ungeeignet in der postmodernen komplexität eine gemeinsame verständigungsbasis, sei es interkulturell, sei es zwischen den rechtsordnungen oder zwischen den verschiedenen auffassungen des Guten auf moralisch-ethischer ebene, herzustellen. die kulturen erscheinen aus dieser sicht entweder systemisch voneinander abgekoppelt oder werden von einem imaginären, idealistischen, (die zukünftigen und vergangene Generationen die am intersubjektiven praktischen diskurs praktisch teilhaben sollten, können dies nur durch allenfalls (von wem?) bevollmächtigte vertreter tun) in seiner Universalität totalitären diskurs um das beste argument vergewaltigt. Wie steht es mit kommunitaristischen theorien sensu charles taylor und Michael Walzer? Hier steht einerseits der unablässige kampf um die Hypergüter gemäss taylor8 in welchem die Grundwerte miteinander in einem gleichberechtigten kampf um den momentanen sieg eines Hypergutes in einer konkreten situation ringen. Hier hat das Gute vorrang vor dem Gerechten, was schon aus den oft völlig gegensätzlichen konzeptionen über das Gute problematisch wird für eine verständigung in einem konflikt oder in einer interkulturellen auseinandersetzung. andererseits haben wir bei Walzer9, die Unterscheidung der sphären der Gerechtigkeit sowie den unablässigen kampf um die Beseitigung der Ungerechtigkeit im deliberativen Prozess, wobei dieser Beratungsprozess politisch verstanden wird und im interkulturellen austausch und in der kommunikation zwischen den differenten kulturen, Gesellschaften, nationen eine differenzverträglichkeit herstellen soll. aber kann der auf Werte, auf das Gute und nicht primär auf das Gerechte fokussierte kommunitarismus das überhaupt? sind nicht gerade Werte in der Postmoderne inkompatibel und inkommensurabel und sollte man sich nicht deshalb auf 7 8 9

Gunther teubner, Recht als autopoietisches System, frankfurt a. M.: suhrkamp verlag, 1989, 36. charles taylor, Quellen des Selbst: Die Entstehung der neuzeitlichen Identität (original: sources of the self, 1989), frankfurt a. M.: suhrkamp verlag, 1996, 124. Michael Walzer, Vernunft, Politik und Leidenschaft: Defizite liberaler Theorie, frankfurt a. M.: fischer verlag, 1999, 59.

Postmoderne rechtswissenschaft als kulturwissenschaft im Wertepluralismus

197

eine politische, liberale Gerechtigkeitskonzeption konzentrieren in welcher fragen des Guten dem Privatbereich überlassen werden, damit sie möglichst nicht im öffentlichen, politischen raum zu streit und unlösbaren konflikten anlass geben können? der wohl konsequenteste postmoderne Humanist ist richard rorty, der grosse ironiker und Gegenspieler von Habermas. für ihn ist alles kontingent und alles für das wir uns heute, im Hier und Jetzt, engagiert einsetzen, kann gestützt auf die Wertevielfalt im nächsten Moment in frage gestellt und irrelevant werden. es fragt sich auch hier, ob die ironie verbunden mit der kontingenz und der solidarität eine Brücke in der postmodernen Wertvielfalt bauen kann. kann der verzicht auf den gesunden Menschenverstand10 (der immer universalistisch verstanden wird, obschon er immer lokal und partikular ist) zu einem verständnis zwischen den verschiedenen kulturen, Werten, ethiken und rechtsordnungen führen oder führt diese Politik der negation letztlich in die Unverbindlichkeit der totalen Ungewissheit, ja in die verantwortungslosigkeit? die frage ist, auf was kann und soll sich eine Gerechtigkeitstheorie stützen im Wertepluralismus von heute, im Jahr 2007 und für die nächste Zukunft? die kulturelle vielfalt zeigt, dass wir uns heute nicht auf die lokalen Werte, die sich ja zum teil diametral widersprechen, stützen können. Wenn wir uns auf die Werte der verschiedenen kulturen abstützen, entsteht tatsächlich nichts als dissens, streit, krieg. andererseits ist verständigung nur möglich gestützt auf ein Minimum an gemeinsam anerkannten Werten. ohne gemeinsame Werte und Ziele ist eine kommunikation nicht möglich. es braucht somit anerkannte Werte wie der Wille eine gerechte staats- und Weltordnung zu schaffen, die frieden gewährleistet und den einzelnen Menschen anerkennt, respektiert und tolerant ist seinen privaten Werthaltungen gegenüber. eine Gerechtigkeitsordnung in der Postmoderne müsste somit, wie dies John rawls vorschlägt, von der idee einer Gesellschaft als eines systems fairer, sozialer kooperation zwischen freien und gleichen Menschen11 ausgehen, die in tiefer übereinstimmung zu einer kohärenten auffassung über einen aus der öffentlichen politischen kultur geformten verfassungsstaat kommen. diese öffentliche Gerechtigkeitskonzeption basiert auf dem Prinzip der toleranz und muss politisch und nicht metaphysisch sein.12 des Weiteren werden kontroverse fragen philosophischer, moralischer und religiöser natur so weit als möglich vermieden, da sie nach rawls unmöglich politisch gelöst werden können13. Zudem kommt, dass faire übereinkünfte nur hinter dem schleier der Unwissenheit14, also unter ausschluss von Macht getroffen werden können. die politische Gerechtigkeit als fairness gehört somit in die öffentlichkeit, die besonderen konzeptionen des Guten und die letzten Ziele des Menschen sind seine Privatsache.15 die Gerechtigkeit als fairness 10 richard rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität (original: contingency, irony and solidarity, 1989), frankfurt a. M.: suhrkamp verlag, 1989, 128. 11 John rawls, Gerechtigkeit als fairness: politisch nicht metaphysisch, in: Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, hg. v. axel Honneth, 3. a., frankfurt a. M./newyork: campus verlag, 1993, 1995, 43. 12 rawls (fn. 11), 36. 13 rawls (fn. 11), 44. 14 rawls (fn. 11), 50. 15 rawls (fn. 11), 55, 56, 61, 63.

198

thomas felix Mastronardi

ist dem Guten vorrangig und von ihm auch unabhängig. Gerechtigkeit bestimmt die zulässigen konzeptionen des Guten und ist nicht teil einer umfassenden Moralkonzeption16 sondern politisch und deshalb unabhängig von philosophischen Begründungen. Wie wir sehen, ist die konzeption der Gerechtigkeit als fairness sehr voraussetzungsvoll und sie ist eingebettet in den amerikanischen liberalismus und die amerikanische demokratie. es fragt sich nun, wie diese konzeption der Gerechtigkeit mit einem islamischen Gottesstaat, in welchem es keine trennung von staat und kirche gibt und wo auch keine trennung zwischen öffentlichem leben und privatem leben stattfindet, harmoniert? Gott und das Gute gehen im islam eindeutig der Gerechtigkeit vor. damit besteht auch bei rawls ein Problem der anwendbarkeit in der Postmoderne und in der Wertevielfalt, das kaum gelöst werden kann. es stellt sich weiter die frage, ob Gerechtigkeitstheorien nicht immer an eine spezielle kultur gebunden sind oder dann universalistisch oder metaphysisch oder ontologisch oder systemisch etc. sind und dadurch immer von anderen Gesichtspunkten her anfechtbar sind. sobald aber eine Gesellschaft so fragmentiert und frakturiert ist wie die postmoderne und gleichzeitig so globalisiert ist, ergeben sich dadurch erhebliche legitimationsprobleme, auch für politische Gerechtigkeitstheorien wie die der Gerechtigkeit als fairness. Gerechtigkeitstheorien sind somit auch in der Postmoderne kulturell verankert, denn die systemtheorien der autopoiese stammen von Maturana bis varela aus unserer naturwissenschaftlichen kultur und wurden auf die Gesellschaft angewendet. die intersubjektive diskurstheorie der kommunikation geht stillschweigend vom deutschen idealismus aus und von einem eurozentrismus. der kommunitarismus geht stillschweigend von einem harmonistischen Menschen- und Gemeinschaftsbild aus in welchem kompromisse und konsense geschlossen werden können etc. Wie wir gesehen haben, ist die rechtswissenschaft auch in der Postmoderne mit der kultur eng verknüpft und damit auch mit der kulturwissenschaft. das Problem der Begründung einer Gerechtigkeitstheorie die von allen kulturen und allen Menschen akzeptiert wird bleibt aber bis anhin ungelöst. Wir können vielleicht schliessen mit der auffassung von roberto Mangabeira Unger, dass eine Gesellschaft ohne Mitgefühl, Mitleid und liebe17 im politischen, gesellschaftlichen alltag nicht überleben kann. die liebe stellt die sicherste Basis der solidarischen politischen Gemeinschaft dar.18 liebe orientiert auch meine Befreiungsjurisprudenz hin zur Befreiung des Menschen vor Unterdrückung, armut und elend.19 aber auch diese auffassung ist von Hannah arendt bestritten die vehement liebe in der Politik als Heuchelei und verlogenheit ablehnt, weil liebe in der Privatsphäre und nicht im, für sie so wichtigen, öffentlichen raum stattfinde20. 16 rawls (fn. 11), 64, 65. 17 roberto Mangabeira Unger, Passion – An Essay on Personality, new york: free Press, 1984, 219, 240, 244. 18 roberto Mangabeira Unger, False Necessity – Anit-necessitarian Social Theory in the Service of Radical Democracy, cambridge/new york: cambridge University Press, 1987, 592, 593. 19 thomas felix Mastronardi, Befreiungsjurisprudenz, arsP-Beiheft 62, stuttgart: franz steiner verlag, 1995, 53–68. 20 Hannah arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben (original: the human condition, 1958), München/Zürich: Piper verlag, 64.

Postmoderne rechtswissenschaft als kulturwissenschaft im Wertepluralismus

199

von allen akzeptierte lösungen scheinen noch in der ferne zu liegen. vielleicht bleibt Gerechtigkeit und die suche nach dem Guten in der multikulturellen Postmoderne einfach eine permanente und offene frage.

sandra HotZ, ZüricH gedanken zur recHtsVergleIcHung als eIner kulturwIssenscHaft und über euroPa

HInaus

1. eInleItung das recht ist weder ein naturprodukt noch gehört es zu den dingen, die einfach gottgegeben sind. recht ist ein über die Zeit von Menschen für Menschen geschaffenes normensystem. das recht ist ein kulturelles Produkt, das wieder auf die kultur(en) zurückwirkt.1 dass die rechtswissenschaft theoretisch eine kulturwissenschaft ist, war denn auch an dem kongress nicht umstritten, ich möchte daher hier mehr auf praktische schnittstellen aus der rechtsvergleichenden Perspektive eingehen und einige Gedanken zur rechtsvergleichung aus sicht der kulturtransferforschung anfügen. am schluss soll aber auch ein votum für die wissenschaftliche Beachtung der wechselseitigen Beeinflussungen von recht und kultur(en), die über die europäisch-christlichen hinausgehen, stehen. 2. kulturtransfer, recHtstransfer

und

recHtsVergleIcHung

Bei der modernen kulturtransferforschung geht es nach Matthias Middell um den versuch, von mehreren nationalen räumen gleichzeitig zu sprechen, wobei man sich auf gewisse elemente konzentriert ohne die Betrachtung über diese auf eine konfrontation, einen vergleich oder eine simple addition zu beschränken. kernpunkt des forschungsansatzes ist der Blick auf die aufnahmekulturen und deren rolle bei den entwicklungsmöglichkeiten der fraglichen kulturgüter. es geht darum, die wechselseitigen einflüsse möglichst genau zu beobachten und herauszuschälen, ohne von Misserfolgen und erfolgen des transfers reden zu müssen.2 dieser in den 1980er Jahren in frankreich aus der französischen kunsthistorik und Germanistik entwickelte forschungsansatz richtete sich im Wesentlichen gegen die vorstellung des „kontrastiven vergleichs“.3 1

2 3

Manfred rehbinder, Rechtssoziologie, 5. a., c.H. Beck verlag, München, 2003, n 66 ff., n 95 ff., wobei regelmässig von recht und Gesellschaft die rede ist und die kultur als die gleichförmigen „verhaltensmuster“ der Menschen in dieser Gesellschaft verstanden wird (a. a. o., n 37); Jean carbonnier, die grossen Hypothesen der theoretischen rechtssoziologie, 135–150, 148 f., dt. übersetzt von ernst e. Hirsch, in: Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, hg. v. ernst e. Hirsch/Manfred rehbinder, kölner Zeitschrift für soziologie und sozialpsychologie, sonderheft 11, köln/opladen: Westdeutscher verlag, 1967. Matthias Middell, „kulturtransfer und Historische komparatistik – thesen zu ihrem verhältnis“, Comparativ 1 (2000), 7–42 (seitenzahlen hier nach pdf. unter http://www.passage-frankreich-sachsen.de/de/forschung/thesen.pdf zitiert). so Middell (fn. 2), 19. Begründet wurde der ansatz von Michel espagne und Michael Werner aus einem interdisziplinären forschungsprogramm des cnrs zum deutsch-französischen kulturtransfers im 18. und 19. Jahrhundert, Francia: forschungen zur westeuropäischen Geschichte, Bd. 13, 1985, 502 ff.

202

sandra Hotz

Wenn das recht ein kulturelles Produkt ist, kann rechtstransfer zwanglos auch als teil des kulturtransfers verstanden werden. entsprechend der skizzierten kulturtransfertheorie wäre der Untersuchungsgegenstand des rechtstransfers weiter gefasst als die unmittelbare rezeption einer norm des landes a im lande B: einerseits ist die transformation der rechtsvorstellungen im sozialen und historischen kontext der aufnahmekulturen zu untersuchen und andererseits sind die Wechselwirkungen zwischen den kulturräumen zu beachten. Untersucht man einen bestimmten vorgang von rechtstransfers, so geht es um das erkennen und das Bestimmen des Masses an rechtstradition des landes a und des landes B und um die transformation des rechts. stellt man die aufgaben von rechtstransfers und rechtsvergleichung einander gegenüber, so beschäftigt sich der rechtstransfer mit dem formellen übertragungsund transformationsvorgang der fremden Gesetze und rechtstheorien sowie Prinzipien und er hat direkte normative Wirkung im rezipierenden land, während die rechtsvergleichung sich mit den inhalten von fremden rechtsregeln beschäftigt und keine unmittelbare normative Wirkung erzielt. daraus ist zu schliessen, dass rechtstransfervorgänge rechtsvergleichung voraussetzen und normative lösungen, die einer rechtsvergleichenden tätigkeit bestenfalls entspringen können, oft nichts anderes als transfervorgänge sind. daraus folgt für die rechtswissenschaft als kulturwissenschaft, dass es nie genügend rechtsvergleichung geben kann! es bedeutet aber auch, dass, falls die rechtstransfers- und transformationsprozesse (und die dazugehörenden rechtsinhalte) theoretisch besser erfasst werden können, wir einen Beitrag zur transkulturalität leisten können. 3. recHtsVergleIcHung Methodisch herrscht in der rechtsvergleichung heute der so genannte funktionale ansatz vor: dabei werden rechtsnormen miteinander verglichen, die sich denselben sachverhalten bzw. Problemen annehmen und sich damit überhaupt vergleichen lassen. Primäres erkenntnisziel der rechtsvergleichung ist es, die eigene und fremde rechtsordnung besser kennen zu lernen.4 im resultat werden oft die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiedenen rechtlichen lösungen aufgezeigt, wobei das erkenntnisziel regelmässig das „lebende“ und nicht das gesetzte recht sein dürfte.5 daran schliessen regelmässig die rechtsvergleichenden erklärungsversuche an und man gelangt theoretisch zur rechtssoziologie, zur rechtsgeschichte und zu ausserrechtlichen erklärungen:6 diese erklärungsversuche berühren die rechtskul-

4

5 6

konrad Zweigert/Hein kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, 3. a., tübingen: Mohr siebeck verlag, 1996; Patrick Glenn, aims of comparative law, 57–65, 58, in: Elgar Encyclopedia of Comparative Law, ed. by Jan M. smits, cheltenham/northhampton: edward elgar Publishing, 2006. rehbinder (fn. 1), Rechtssoziologie, 1 ff., 2, 7; thomas raiser, Rechtsoziologie, frankfurt a. M.: Metzner verlag, 1987, 7 ff., 8. Zweigert/kötz (fn. 4), 7, 34 ff.

Gedanken zur rechtsvergleichung als einer kulturwissenschaft und über europa hinaus

203

turen a und B und die verschiedenen landeskulturen a und B und damit nicht nur das, was wir in einem rechtlichen rahmen tun, sondern auch das, was wir sind.7 Weiteres Ziel der rechtsvergleichung ist es, herauszufinden, welche regelung einen oder allenfalls den besseren lösungsansatz für ein Problem in der anderen (rechts-)kultur bietet oder bieten könnte und welche normen sich daher zur lückenfüllung oder zur legiferierung bzw. zur rechtsvereinheitlichung und damit auch zum transfer eignen könnten. 4. recHtstransfers die rechtstransferforschung als teil der kulturtransferforschung hat sich die ideen des oben skizzierten kulturtransferansatzes – wenn auch unausgesprochen – zu nutzen gemacht und richtet sich gegen die vorstellung eines linearen transfers von Gesetzesnormen, einfacher Parallelen und analogien und tritt für die Beachtung des kulturellen kontexts, der traditionen und insbesondere der autochthonen elemente ein:8 die kritik von Pierre legrand richtete sich dabei etwa gegen die vorstellungen der „legal transplants“ von alan Watson, welcher den rechtstransfers von a nach B mit einem eigentlichen operativen eingriff vergleicht, der je nachdem, ob das „fremde organ“ abgestossen werde oder nicht, erfolgreich sein kann oder nicht.9 Watsons ansatz wird aber etwa auch positiv als ein Wegkommen von den zu „engen rechtsfamilien“ beurteilt.10 Unter rechtswissenschaftlern wird teilweise auch vertreten, dass ein „rechtstransfer“ theoretisch nach der systemtheorie unmöglich sei und stattdessen davon auszugehen sei, dass es sich um eine bei „unterschiedlichen Grenzüberschreitungen“ existierende „resignifikation von rechtsnormen“ handle.11 auch diesem verständnis liegen jedoch rechtsnormen a und aB (= die im Bereiche B adaptierten rechtsnormen a) oder anders formuliert: rechtsnormen a1 und a2 (= verschiedene ent7

Wobei natürlich zu recht auf die schwierigkeiten der fassbarkeit der „(rechts-)kulturen“ hingewiesen wird: roger cotterell, the concept of legal culture, in: Comparing Legal Cultures, ed. By david nelken, aldershot etc.: dartmouth, 1997, 13–31, 15, 25 ff., david nelken, legal culture, 372–381, 374, in: Jan M. smits, ed. (fn. 4). 8 Pierre legrand, „the impossibility of legal transplants“, Maastricht Journal of European and Comparative Law 1997, 4, 111–123, 115 ff., 118; Patrick Glenn, Legal Traditions of the World, 3rd ed., oxford University Press, oxford, 2007, 3 ff. (zur „theorie der tradition“), mehr zu diesem thema: Marie theres fögen, „rechtstransfer. eine theoretische einführung, unter: www.rechtskulturen-osteuropa.net abrufbar. 9 alan Watson, Legal Transplants, An Approach to Comparative Law, 2nd ed., athens/london: the University of Georgia Press, 1993, 21 ff., 95 ff. 10 alan Watson selbst fühlt sich in der kritik von legrand völlig missverstanden, denn auch für ihn sei der „context everything“ und das „borrowing“ als fakt sei unverzichtbar: „legal transplants and european Private law“, Electronic Journal of Comparative Law, 4.4. (2000), 1–14, 2 ff. (unter http:/www.ejcl.org/ejcl/44/44-2.html abrufbar); Jürg fedtke, legal transplants, 434–437, 436, in: Jan M. smits, ed. (fn. 4). 11 Marie theres fögen/Gunther teubner, „rechtstransfer“, Zeitschrift für Rechtsgeschichte 2005, 7, 38–45, 44 f.; Gunter teubner, rechtsirritationen: Zur koevolution von rechtsnormen und Produktionsregimes, in: Moral und Recht im Diskurs der Moderne, Günter dux/frank Welz (Hg.), opladen: verlag, 2001, 351–381; die faktische existenz von rechtstransfer wird natürlich nicht bestritten: fögen (fn 8).

204

sandra Hotz

wicklungsstadien der rechtsnormen a) und „irgendwelche Grenzen“ zugrunde, sodass daraus m. e. noch nicht zwingend geschlossen werden kann, dass es keine form von rechtstransfer gibt. ausserdem wird die von der systemtheorie proklamierte „autopoiesis“/„selbstreferentialität“ der rechtssysteme auch durch die neusten systembiologischen erkenntnisse zur Zelle grundlegend in frage gestellt,12 sodass m. e. davon ausgegangen werden kann, dass eine form der rechtsübertragung theoretisch existiert.13 Wird also heute ein rechtstransferprozess untersucht, so bleibt das anliegen des kulturtransferforschungsansatzes bestehen: es gibt keinen linearen transfer und keine einfachen Misserfolgs- oder erfolgsrezepte. 5. beIsPIele

aus JaPan und der

türkeI

nachfolgend sollen drei Beispiele aus dem europäischen und asiatischen raum gegeben werden, an denen sich die Wechselwirkungen von recht und kultur im rahmen der rechtsvergleichung, des rechtstransferprozesses und der kulturtransferforschung zeigen: 5.1 forMen

des

recHtstransfers

der japanische Zivilrechtsrechtstransfer erfolgte im Jahre 1898 in form der übertragung von unterschiedlichen europäischen Gesetzesnormen (vor allem deutschen, aber auch französischen) zu einer kodifikation (Minpô). das familien- und erbrecht blieb nach alter chinesisch-konfuzianischer tradition, z. B. in Gestalt des „Haussystems“, geregelt. diesem rechtstransfer gingen ein intensiver rechtsvergleichungsprozess unter japanischen und europäischen Juristen, diverse entwürfe und sogar ein so genannter „kodifikationenstreit“ unter den japanischen rechtswissenschaftlern voraus. rund zehn Jahre nach dem inkrafttreten der japanischen Zivilrechtskodifikation folgte ausserdem nochmals eine intensive Phase „deutscher theorienrezeption“.14 nachher schloss ein erstarken des japanischen traditionsbewusstseins an, das sich in eine soziale Phase (aufkommen der rechtssoziologie, abkehr vom wesensfremden individualismus) und eine nationale Phase (aufkommen der japanischen rechtsphilosophie im Gegensatz zur westlichen tradition) unterteilen lässt.15 in der türkei wurde im Jahre 1926 das schweizerische Zivilgesetzbuch in französischer sprache von 1910 dagegen praktisch umfassend übernommen. das heisst, 12 die Zelle wird genetisch durch ihre nachbarszelle beeinflusst, indem diese vesikel mit informationen an sie abgibt (Hadi valadi et al., „exosome-mediatied transfer of mrnas and micrornas is a novel mechanism of genetic exchange between cells“, Nature Cell Biology, 9 [2007], 6, 654– 659) (mündl. Hinweis von Walter ott). 13 dass dem so ist, wird auch mit der so genannten „theorie der internationalen sozialisation“ begründet: armin Höland, „eU-recht auf dem Weg nach osten: rechtssoziologische fragen“, WeltTrends, 31 (2001), 9–29, 23 ff. 14 sandra Hotz, Deutsche, japanische und schweizerische Irrtumsregelungen. Ein rechtsvergleichender Beitrag zum Verhältnis von verbraucherschützenden Vertragslösungsrechten und allgemeinem Vertragsrecht, tübingen: Mohr siebeck verlag, 2006, 6 ff. 15 Guntram rahn, Rechtsdenken und Rechtsauffassung in Japan, München: c.H. Beck, 1990, 130 ff., 143 ff.

Gedanken zur rechtsvergleichung als einer kulturwissenschaft und über europa hinaus

205

die form dieses rechtstransfers war im Gegensatz zum japanischen eine so genannte „vollständige Gesetzesübertragung“.16 aber auch die türkischen Gesetzesverfasser haben es sich nicht einfach gemacht. sie wussten seit Beginn der aufnahme ihrer Gesetzgebungstätigkeiten um die Probleme, die ein wesensfremdes, nicht islamisches recht bringen würde:17 dem transfer ging auch ein rechtsvergleichungsprozess voraus, und zur „besseren vermittlung“ des fremden rechts unterrichteten Professoren wie ernst Hirsch viele Jahre in istanbul (dieser auf türkisch!) und zogen türkische Professoren nach. trotzdem werden heute noch entgegen entsprechender zivilrechtlicher regelungen ehen teilweise einzig von einem imam geschlossen, welcher nach islamischer tradition auch die Polygamie erlauben kann, sodass es zu verschiedenen so genannten amnestiegesetzen gekommen ist, die den status der „illegalen kinder“ regeln mussten.18 5.2 JaPaniscHe irrtUMsreGelUnG die japanische irrtumsregelung (art. 95 Minpô) ist eine eigenständige Generalklausel,19 die sich von ihrem „ersten, französischen vorbild“ deutlich abhebt und sich im vergleich zu ihrem „zweiten, deutschen vorbild“, der deutschen irrtumsregelung (§ 119 BGB), auf beliebige arten des Motivirrtums anwenden liesse. Heute zeigt sich aufgrund der japanischen rechtsprechung, dass der Motivirrtum in Japan weniger oft zur vertragsauflösung berechtigt als in deutschland und dass z. B. fallgruppen zum japanischen Motivirrtum dogmatisch wertlos sind, denn das einzige massgebende kriterium für die vertragsaufhebung aufgrund eines Motivirrtums ist der nachweis, dass das Motiv bei vertragsschluss geäussert worden war. das bedeutet nun aber keineswegs, dass in Japan das festhalten am vertrage wichtiger wäre, sondern es existieren andere ausweichstrategien, die eine pragmatische vertragsauflösung erlauben.20

16 Wobei dadurch, dass der damalige Justizminister Mahmut esad Bozkurt in der schweiz studiert hatte, nicht nur die Gesetze, sondern auch schweizerische lehre und rechtsprechung transferiert wurden: Watson (fn. 10), 7. 17 Bereits die „Mecelle“ von 1877 liess daher ursprünglich, wie das japanische Minpô, bewusst das familienrecht aus. auch gab es seit dem 1. Weltkrieg eine kommission, die sich jahrelang um eine kodifikation des Zivilrechts bemühte, aber keinen konsens finden konnte (das moderne familienrecht der ottomanen-elite vom 25. oktober 1917 konnte sich nicht durchsetzen): Johannes Jonas, „ein zeitgenössischer rezeptionsprozess am Beispiel des türkischen Zivilrechts“, Juristische Schulung, 1987, 266 ff. 18 turgul ansay, § 6 family law, in: Introduction to Turkish Law, don Wallace/turgul ansay (ed.), 5th ed., den Hague: kluwer law international, 2005; Mahide aslan, „rückfahrkahrte, das schweizerische Zivilgesetzbuch in der türkei“, Zeitschrift für Rechtsgeschichte, 2005, 7, 33–37. 19 „eine Willenserklärung ist ungültig, wenn sie bezüglich eines wesentlichen elementes des rechtsgeschäfts einen irrtum aufweist. Handelt der erklärende jedoch grob fahrlässig, so kann er sich nicht auf die Ungültigkeit berufen.“ (Hotz [fn. 13], 15). 20 Hotz (fn. 13), 39 ff.

206

sandra Hotz

5.3 HyBride recHtsordnUnGen sowohl das türkische wie auch das japanische Zivilrecht sind hybride rechtsordnungen, d. h. zusammengesetzte, die sich nicht einfach einer (rechts-)kultur oder einem rechtskreis zuordnen lassen, wie es die traditionelle rechtsvergleichung tut.21 vielmehr liesse sich darüber diskutieren, inwiefern in diesen ländern ein nebeneinander von unterschiedlichen rechtskulturen im gleichen sozialen system vorliegt und wie das theoretisch zu behandeln wäre:22 das türkische Zivilrecht besteht aus kodifiziertem westlich-europäischem Zivilrecht, in form des schweizerischen Zivilgesetzbuchs, und aus islamisch-religiösem recht, das sich im familienrecht gewohnheitsrechtlich durchzusetzen vermochte und mit den oben erwähnten amnestiegesetzen zumindest teilweise positiviert wurde. das japanische Zivilrecht setzt sich zusammen aus kodifiziertem europäischem recht, deutscher rechtstheorie und autochthonen japanischen elementen, die aus dem chinesisch-konfuzianischen denken stammen (jori = gesundes rechtsverständnis; giri = dankbarkeits- und loyalitätsgefühl). 6. recHtsVergleIcHung

als

teIl

der

kulturtransferforscHung

die rechtsvergleichung zwischen a und B mit dem erkenntnisziel, das „lebende recht“ zu untersuchen, ist ein komplexes vorhaben, das zeigt, dass die rechtswissenschaft andere kulturelle aspekte und Grundfragen nicht ausblenden kann. die rechtsvergleichung kann sich nicht nur auf die funktional vergleichbaren rechtsnormen beschränken, sondern muss im sinne der kultur- und rechtstransferforschung idealerweise das folgende berücksichtigen:23 1.) die Produktionsorte a und die Produzenten des rechts a, die rechtskultur a, 2.) die Produktionsorte B und Produzenten des rechts B, die rechtskultur B und die landeskulturen B, 3.) das recht aB bzw. a1, a2, a3…, 4.) die Produzenten des rechts aB (bzw. a1, a2, a3…), 5.) die transformation der rechtskultur B in B’ und 6.) die wechselseitigen Beeinflussungen von recht aB (bzw. a1, a2, a3… ) und der landeskulturen B, die in B vertreten sind.

21 für das japanische recht: Zweigert/kötz (fn. 4) 293. das ist allerdings überholt; vgl. Hotz (fn. 13), 12 m. w. H. 22 nach Werner Menski liegt in diesem türkischen Beispiel ein typischer fall von „rechtspluralismus“: Comparative Law in a Global Context, 2nd ed., cambridge: cambridge University Press, 2006, 82 ff. das bedeutet aber nicht, dass ich mir der theoretischen Grenzen des rechtspluralismus nicht bewusst wäre. 23 vgl. auch fögen (fn 8).

carlo reGaZZoni, tHerWil der antIModernIsMus, seIne HIntergründe und seIne entwIcklung zuM norMatIVen systeM: kulturPHIlosoPHIscHe überlegungen zur HundertJäHrIgen wIederkeHr der stellungnaHMe PaPst PIus x zur ModernItät 1. eInleItung: katHolIzIsMus

als

sonderfall

ich möchte das verhältnis von kultur und norm an einem dokument verdeutlichen, welches in diesem Jahr das hundertjährige Jubiläum seiner veröffentlichung feiern wird und das der jetzige nachfolger seines verfassers am liebsten für immer in die verbannung schicken würde. es handelt sich um das rundschreiben des zu ehren der altäre erhobenen Papstes Pius x zum Modernismus. sein titel lautet: „Pascendi Dominici Gregis“ was auf deutsch mit „Die zu weidende Schafherde des Herrn“ übersetzt werden kann. dieses dokument hat bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts das verhältnis des katholizismus zum neuzeitlichen Weltbild geprägt. es gehört deshalb, wie übrigens auch der Modernismus, zur Geschichte der rezeption des neuzeitlichen denkens im katholischen raum. seine zeitgeschichtliche Bedeutung ist daher unumstritten. als zeitgeschichtliches dokument soll es auch in meinem Beitrag zum verhältnis recht und kultur zur sprache kommen. im genannten dokument nimmt erneut der Wille der Päpste bis zum konzil Gestalt an, am sonderfall Katholizismus festzuhalten. es steht somit nicht als isoliertes dokument da, sondern weist einen Zusammenhang mit anderen dokumenten auf, wo durch stellungnahmen zum Zeitgeschehen, die eigene identität hervorgehoben wird1. es gilt aber festzuhalten, dass die katholische kirche nicht den einzigen sonderfall darstellt. Jede Gemeinschaft, die ihre kulturelle identität gegenüber dem Zeitgeschehen dadurch behaupten will, dass sie sich zu einer unzeitgemässen Wertordnung bekennt, kann als sonderfall angesehen werden. für viele Menschen war beispielsweise der Beitritt der schweiz zu den vereinten nationen ein verstoss gegen den sonderfall schweiz. auch in der ablehnung der aus übersee importierten globalisierten Zivilisation sehen viele eine verteidigung der eigenen identität. es ist daher nicht erstaunlich, dass nach Massnahmen gerufen wird, um die eigene identität vor der ansteckungsgefahr durch fremde ideen zu schützen. Mit anderen Worten, jeder neuigkeit wird ein gewisses ausmass an Misstrauen entgegengebracht. das Misstrauen gegenüber der aus aufklärung und französischer revolution hervorgegangenen geistigen Welt hat bis zum letzten konzil die kulturelle identität des von rom vertretenen katholizismus entscheidend geprägt. 1

„die katholische sondergesellschaft ging auf veränderungen zurück, die religion und kirche

im Gefolge der Modernisierung seit 1800 durchgemacht haben. sie stellt einen versuch dar, die religiös-kulturelle identität des katholizismus in der modernen, pluralistischen Welt zu bewahren.“ (Urs altermatt: Katholizismus und Moderne: zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert, 2. a., Zürich: Benzinger, 1991, 100).

208

carlo regazzoni

eine Gemeinschaft die glaubt, ihre identität dadurch bewahren zu müssen, dass sie an einer unzeitgemässen Wertordnung festhält, hat sich dessen bewusst zu sein, dass sie es in einer für sie unüberschaubaren Welt zu tun hat. sie wird dementsprechend, auf die Gefahr hin abseits stehen zu müssen, einer solchen Welt stets mit einem gesunden Mass an Misstrauen begegnen müssen. damit erweist sich das Misstrauen als erforderliches schutzmittel zur Bewahrung der eigenen identität. Wird davon abgerückt, ist man ohne schutz äusseren einflüssen ausgeliefert. Beim päpstlichen dokument tritt aber noch ein weiterer faktor hinzu, der für seine eigenart ausschlaggebend ist. es wird von einer Person angeordnet, deren Urteil für die um sie versammelten Gläubigen deswegen als unanfechtbar gilt, weil es von der beidseitigen überzeugung getragen wird, kraft des amtes dazu berufen zu sein. demzufolge war dieses dokument als Willenserklärung der in frage kommenden Person für jeden glaubenstreuen katholiken bis zum konzil Gesetz. in diesem sinne ist auch der satz thomas von aquins2 zu verstehen, dass der Wille eines vorgesetzten, ungeachtet dessen worauf er beruht, stets Gesetz ist. diese zweifache dimension spricht aus den Worten des Papstes, die am anfang des dokumentes stehen: „das amt, welches Uns von Gott übertragen, die Herde des Herrn zu weiden, hat vor allem als aufgabe von christus erhalten, den schatz des überlieferten heiligen Glaubens aufs sorgfältigste zu hüten und profane neuerungen und einwendungen der so genannten Wissenschaft zurückzuweisen. 3

die einsicht, handeln zu müssen, ist eine implikation. sie ist eine bedingte notwendigkeit, welche aus dem Bewusstsein hervorgeht, die verantwortung zu tragen für die erhaltung von Werten, denen man ohne einschränkung zugestimmt hat. Man nennt diese Zustimmung ein versprechen und wer es abgibt, setzt damit zugleich seine Glaubwürdigkeit aufs spiel. er wird nämlich sein versprechen nicht ohne schaden für ihn rückgängig machen können. selbst wenn ein unsittlicher inhalt vorliegen

2

3

Voluntas enim superioris, quocumque modo innotescat, est quodam tacitum praeceptum. thomas von aquin, Summa theologiae, cura et studio sac. Petri caramello, cum textu ex recension leonina, taurini-romae 1952, ii–ii.104.2.c. die entsprechenden teile sind eingeteilt in: Prima Pars, Prima secundae, secunda secundae). auf die einzelnen teile verweisen die römischen Ziffern am ende der jeweiligen Zitierung. Pascendi Dominici Gregis mandatum Nobis divinitus officium id munus in primis a Christo assignatum habet, ut traditae sanctis fidei depositum vigilantissime custodiat, repudiatis profanis vocum novitatibus atque oppositionibus falsi nominis scientiae. Pascendi dominici Gregis, Prologus. es existieren: zwei autorisierte ausgaben mit lateinisch-deutschem text. eine davon ist erschienen bei Herder in freiburg i. Br. (ohne datum). eine weitere autorisierte, von antonius Michelitsch herausgegebenen ausgabe mit authentischem text hat die styria in Graz und Wien 1908 in zweiter auflage veröffentlicht. auch Heinrich denzinger, enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum (hg. v. Peter Hünermann), 37. a., freiburg i. Br./Basel/rom: Herder, 1991enthält eine lateinisch-deutsche fassung in abgekürzter form (3475–3500). ausserdem kann ein text in französischer sprache von der Webseite des vatikans heruntergeladen werden. eine zweisprachige ausgabe latein/deutsch hat der verax verlag in Müstair besorgt. der versuch ist lobenswert aber leider ohne Bezug zur lateinischen originalausgabe. 2005 ist eine neuausgabe bei sarto in stuttgart erschienenen. sie wurde von thomas Jentzsch bearbeitet. Wegen ihrer verständlichen sprache werden wir diese ausgabe für den deutschen text benützen, für den lateinischen jedoch auf die styria-ausgabe Bezug nehmen.

der antimodernismus, seine Hintergründe und seine entwicklung

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sollte, wird man gegen diese Person den vorwurf erheben können, die sache nicht sorgfältig genug abgewogen zu haben. Juristisch gesprochen obliegt dem Papst eine Garantenpflicht, die er jedes Mal wahrzunehmen hat, wenn er das ihm anvertraute Gut für gefährdet hält. eine Gefährdung liegt vor, wenn fremde körper die Möglichkeit haben, in einen organismus einzudringen, dessen Wesenskern anzugreifen und dadurch sein abwehrsystem unwirksam machen. dies gilt nicht nur für den biologischen sondern ebenfalls für den geistigen Bereich. dort sind es nicht fremde körper, sondern fremde ideen, die sich den Zugang zum menschlichen Bewusstsein verschaffen können. Zwar sind fremde ideen nicht von vornherein schädlich, sondern erst wenn sie eine verlagerung der Gewichte innerhalb dieses systems verursachen. eine solche verlagerung stellte der Papst bei gewissen strömungen innerhalb der kirche fest, die sich als liberal bezeichneten. 2. bedroHter glaube

oder

VersucHung

Modern zu seIn

Mit seinem genialen Blick für menschliche Grenzsituationen hat friedrich nietzsche die menschliche ansprechbarkeit in eine apollinische und dionysische eingeteilt. diese beiden Bilder verdeutlichen auf eindrückliche Weise zwei strömungen innerhalb der menschlichen Gemeinschaft: eine bewahrende und eine nach vorne gerichtete. apollinisch heisst für ihn4 „massvolle Begrenzung“, „Freiheit vor den wilderen Regungen“, „weisheitsvolle Ruhe“ aus denen die „Forderung des ‚Erkenne dich selbst‘ und des ‚Nicht zu viel ‘“ hervorgehen. diese Merkmale zeichnen jedes gesunde Misstrauen gegenüber neuerungen aus. Wer nämlich bewahren will, muss in der lage sein sich zu begrenzen, darf sich nicht durch Wunschvorstellungen überwältigen lassen, sondern hat stets ruhe zu bewahren. Wer sich hingegen in der Welt behaupten will, muss das risiko bejahen. er wird deshalb jedes Misstrauen als beeinträchtigend empfinden und in der selbstüberhebung und übermass ein Prinzip erkennen, das ihn vor der erstarrung bewahrt. Um Bewahrung oder selbstbehauptung geht es auch in der auseinandersetzung zwischen dem Papst und den Modernisten in der kirche, die sich hauptsächlich in frankreich ausgebreitet hatten. Wer sich nämlich ausserhalb des eigenen Bereichs behaupten möchte, kann es nur tun, wenn er über die geeignete sprache verfügt, um seine Zuhörer anzusprechen. diesem Gedanken wussten sich vor allem jene kreise innerhalb des katholizismus verpflichtet, die sich liberal nannten. ihr anliegen war es für eine verständigung auf praktischer ebene mit den neuen gesellschaftlichen kräften einzutreten. sie forderten dementsprechend vom lehramt der kirche, sich mit den neuen kulturgeschichtlichen Gegebenheiten kritisch auseinanderzusetzen, sie von den glaubensfeindlichen elementen zu reinigen und daraus den grössten nutzen für die eigene sache zu ziehen5. das ergebnis steht somit für sie im vordergrund. notwendigerweise mussten sie damit in konflikt mit dem damaligen Papst 4 5

friedrich nietzsche, die Geburt der tragödie oder der Pessimismus der Griechen, in: Werke in drei Bände (hg. v. karl schlechta), Bd. i, München: carl Hanser, 1963, 23. eine übersicht lässt sich der einleitung in emmanuel Barbier, Histoire du Catholicisme libéral et du Catholicisme social en France du concile du Vatican a l’avenement de ss. Benoit XV, Bd. i, Bordeaux: y. cadoret, 1924 entnehmen.

210

carlo regazzoni

geraten, dem es vor allem um den schutz des Glaubensgutes vor den irrtümern des Zeitgeistes ging. 3. wIderstand

oder

anPassung?

die äusserste strenge mit welcher Pius x damals gegen die Modernisten vorging ist für den Menschen von heute deswegen kaum nachvollziehbar, weil sie sich gegen Menschen richtete, die weder sittenstrolche waren, noch irgendein dogma verleugnet hatten, sondern einzig und allein eine päpstliche anordnung nicht beachtet hatten. ein kurzer exkurs in die damalige geistige lage drängt sich demzufolge auf. die enzyklika Aeterni Patri Papst leos xiii vom 4. august 1879 kann deswegen als der auslöser eines konfliktes zwischen Bewahrung und anpassung angesehen werden, weil das regierende oberhaupt mit diesem schreiben die Massstäbe festgelegt hat, die bei der erhellung des Glaubens nicht unbeachtet gelassen werden dürften. dieses schreiben war keineswegs, wie es die Modernisten6 immer wieder behaupten, ein sieg der vergangenheit über den fortschritt, sondern ein wohlüberlegter schritt leos xiii, der damit eine auf anselm von canterbury7 zurückgehende Gepflogenheit der kirche sanktionierte und damit in den rang einer Glaubensregel erhob. diese Gepflogenheit ist uns unter dem namen fides quaerens intellectum bekannt und verweist auf ein Bemühen um vertiefung des Glaubens mit Hilfe durch die Gnade erleuchteter geistiger kräfte im Menschen. für den katholiken ist der Glaube eine mit Hilfe der Gnade gewonnene einsicht in Wirklichkeiten, die seine natürlichen vermögen übersteigen. diese vermögen nennt der Papst natürliche Hilfsmittel, „die dem Menschengeschlecht durch die Wohltat der göttlichen Weisheit zur Verfügung stehen“. sie sind „weder zu verschmähen noch geringzuschätzen“8. Zu ihnen rechnet der Papst die vernunft. einmal in deren Besitz vermag die vom Glauben erleuchtete vernunft dank der richtigen Philosophie tiefer in diese Wirklichkeiten einzudringen. im verständnis des Papstes ist die richtige Philosophie die auf aristoteles beruhende Metaphysik des thomas von aquin. ihre Grundpfeiler lassen sich wie folgt zusammenfassen: − es existiert ein sowohl die äussere als auch die innere erfahrung übersteigender Bereich; − diesem Bereich gehört der Mensch insofern an, als er eine synthese von Geist und körper ist; 6 7

8

vgl. hierzu: Gabriel daly, Transcendence and Immanence, A Study in Catholic Modernism and Intergralism, A Study in Catholic Modernism and Intergralism, new york: clarendon Press, 9 ff. einen gründlichen überblick über dieses Bemühen vermittelt: Martin Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode, nach den gedruckten und ungedruckten Quellen bearbeitet, Bd. 1: die scholastische Methode von ihren ersten anfängen in der väterliteratur bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts, Basel/stuttgart: schwabe, 1961, 258–339. aeterni patris in: denzinger (fn. 3), 3135. der hier ebenfalls abgedruckte lateinische originaltext lautet: „sed neque spernenda neve posthabenda sunt naturalia adiumenta quae divinae sapientiae beneficio … hominum generi suppetunt. Quibus adiumentis rectum philosophiae usum constat esse praecipuum.“

der antimodernismus, seine Hintergründe und seine entwicklung

211

− das menschliche Bewusstsein ist dank seiner geistigen struktur dazu befähigt ein wahrheitsgetreues abbild der ontologischen struktur der von den sinnen wahrgenommenen Welt herzustellen. Mit diesen thesen wurde die damals geltende Gewissheit, dass es kein Wissen von einer ausserhalb des Bereichs äusserer und innerer erfahrung existierenden Wirklichkeit geben kann, in frage gestellt. für die Modernisten war die anweisung des Papstes deswegen ein ärgernis, weil sie zwar gefühlsmässig am herkömmlichen Glauben hingen, ihr denken jedoch von der Philosophie der aufklärung geprägt war. einer ihrer Wortführer war der französische Philosoph Maurice Blondel9, welcher im immanentismus kants den methodischen ansatz für die Zustimmung von Glaubenswahrheiten sehen wollte. diese auffassung Blondels wurde vom damaligen römischen lehramt insofern als eine Gefahr für den Glauben angesehen, als damit anstelle der objektiven äusseren Wirklichkeit die subjektive verfasstheit des Menschen zum Massstab erhoben wurde. die folge davon war, dass damit die inhalte des Glaubens der Beliebigkeit ausgesetzt waren. dem relativismus wären damit tür und tor geöffnet gewesen. es ist daher nur allzu verständlich, dass der Papst im Modernismus eine von Selbstüberhebung und Übermass geprägte und den Glauben gefährdende Haltung erkennen musste. 4. Vorwurf

des

PaPstes

im visier des Papstes steht zunächst nicht der Modernismus als irrlehre, sondern die Gesinnung der leute10, die ihn vertreten, insofern als letztere den „einen materiel apriorischen Spielraum für die Bildung möglicher Absichten und Vorsätze und Handlungen bis in die die Handlung unmittelbar regierenden Bewegungsintentionen darstellt“11 sie verleiht den Handlungen eines Menschen ihr typologisches Gepräge. dementsprechend kann an den Handlungen die Gesinnung abgelesen werden. der Papst betrachtet es als ein ganz besonderes ärgernis, dass es sich um leute aus den eigenen reihen handelt, welche „mit besonders neuartigen Methoden“ versuchen, „die Lebenskraft der Kirche zu zerschlagen“. ihre Gesinnung ist an folgenden drei Merkmalen erkennbar: an der rolle, die sie vortäuschen; an der aneignung von lehren, deren Urheber die feinde der kirche sind; an ihrer kompetenzanmassung.

9

vgl. hierzu: Gabriel daly, Transcendence and Immanence, A Study in Catholic Modernism and Intergralism, A Study in Catholic Modernism and Intergralism, new york: clarendon Press, 26–50.. dieses kapitel gibt einen ausführlichen überblick über das vorhaben Blondels. 10 Il documento condanna appunto non membra sparte, ma proprio uno spirito, che è ultimamente spirito di indipendenza. romano amerio: Iota Unum, Studio delle variazioni della Chiesa cattolica nel secolo XX, 3. a., Milano/napoli: riccardo ricciardi, 1989, 37. 11 Max scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik: neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, Bern/München: francke verlag, 1966, 131.

212

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Mangelnde redlichkeit wirft der Papst ihrer Gesinnung deswegen vor, weil sie so tun würden, als ob eine grosse liebe zur kirche sie dazu antreibe, was jedoch nicht zutreffen könne, da sie über die erforderliche philosophische und theologische ausbildung nicht verfügen würden. den in frage kommenden Mangel würden sie zu verbergen suchen, indem sie sich auf der einen seite die Maske eines kritikers überstülpen würden, „der den Glauben hinterfragt und seinem persönlichen Urteil unterwirft“ und auf der anderen seite aber sich als katholiken ausgeben würden, „um so jeden, der ihre Methode nicht durchschaut, in ihren Irrtum hineinzuziehen.“ schliesslich hätten „sie sich in ihren fachstudien so weit hineingesteigert, dass sie keine autorität mehr über sich anerkennen und sich nichts mehr sagen lassen wollen; so überwerteten sie ihre eigene Meinung, übergehen dabei ihr Gewissen und nennen das Wahrheitssuche, was in Wirklichkeit nur stolz und verstiegenheit ist.“12

Man kann sich gut vorstellen, dass für den Papst die Modernisten die verkörperung jenes Geistes sind, der in Goethes13 faust von sich selbst sagt: ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit recht; denn alles was entsteht, ist wert, dass es zu ende geht; drum besser wärs, dass nichts entstünde. so ist denn alles, was ihr sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt, Mein eigentliches element.

Weil die Modernisten nichts überliefertes als für sie verbindlich erachten, steht für sie die verneinung am anfang alles Wissens. die existenz von Werten, die unabhängig von der jeweiligen geistigen situation anspruch auf Geltung erheben könnten, wollen sie nicht anerkennen. in der sichtbaren Welt gibt es für sie nichts Unabänderliches, denn diese Welt ist im ständigen Wandel begriffen und ohne sinn. Wer sich nichtsdestoweniger darin behaupten will – und danach strebt der von Geltungssucht befallene Modernist – muss mit dingen, die sich ständig verändern, umzugehen wissen. diese Haltung stellt der Papst bei den vertretern der unterschiedlichsten Bereiche fest: bei den Philosophen, den gläubigen christen, den theologen, den Historikern, den apologeten (verteidiger des Glaubens) und erneuerern (reformators). 5. fazIt: ModernIsMus

und MenscHlIcHe

geltungssucHt

aus der ganzen abhandlung lässt sich folgendes fazit entnehmen: der Modernismus ist das geeignete Mittel zur Befriedigung der eigenen Geltungssucht. für thomas von aquin sind Geltungssucht und das streben nach eitlem ruhme einerlei. im Mittelpunkt dieses strebens steht die anerkennung durch die Gemeinschaft14. ein 12 „Disciplinis ipsi suis sic animo sunt comparati, ut dominationem omnem spernant nullaque recipiant frena; et freti mendaci quadam conscientia animi, nituntur veritatis studio tribuere quod uni reapse superbiae ac pervicaciae tribuendum est.“ Michelitsch (fn. 3), § 2. 13 Johan Wolfgang von Goethe, faust, in: Goethes Werke, Bd. 3, leipzig: c. Grumbach, 1902, 52. 14 Tertio modo etiam gloria dicitur secundum bonum alicuius consistit in consideratione sui ipsius scilicet quod aliquis considerat bonum suum sub ratione cuiusdam claritatis, ut manifestandum et admirandum multis thomas von aquin, de Malo, in: Quaestiones disputatae, vol. ii, hg. v. studio Generali fratrum Praedicatorum taurinensi, 7. a., turin/rom: Marietti 1949, 9. 1.

der antimodernismus, seine Hintergründe und seine entwicklung

213

solches streben ist im verständnis thomas von aquins solange nicht eitel, als es sich aus einem sinnvollen Zweck begründen lässt. fällt diese Zuordnung weg, so wird es eitel genannt15. eitel heisst dieses streben deshalb, weil es den Menschen um sich selbst kreisen lässt und nicht auf ein vorgegebenes Ziel hinordnet. Wer unvoreingenommen an die schrift dieses grossen Papstes herangeht, wird entdecken, dass sie sich keineswegs mit der aufzählung von irrtümern begnügt, sondern dieselben auf eine pathologische menschliche verfassung zurückführt, eine verfassung die sich kaum mit der aufgabe verträgt, für eine sache, von deren richtigkeit man überzeugt ist, auch einzutreten. den Modernismus führt der Papst hauptsächlich auf eine falschen Wahrnehmung durch den verstand zurück, anerkennt aber dass daneben auch noch „die Sucht nach Besonderem, Kuriosem und den Eigendünkel, gepaart mit Stolz“16 als Zweitursachen an. für den Papst steht im Mittelpunkt seiner Untersuchungen die frage, welche kultur am besten geeignet ist, den Menschen zum Glauben hinzuführen. Getragen von einem grossen respekt für das ihm anvertraute Glaubensgut sah er in den Bemühungen um anpassung des geoffenbarten Glaubens an die neuzeitlichen strömungen eine grosse Gefahr für den Glauben. kulturphilosophisch ist seine Haltung durchaus vertretbar, denn nicht jede kultur lässt sich mit den Glaubensinhalten versöhnen. einzig solche Werke wie die tragödien des aischylos, die Passionen Bachs oder auch die art und Weise wie menschliche Grenzsituationen in den grossen dramen zur darstellung gebracht werden können im Menschen Horizonte öffnen, wo ein geoffenbarter Glauben seinen Platz einnehmen kann.

15 „Tertio modo dicitur gloria vana quando gloria hominis non ordinatur ad debitum finem.“ thomas (fn 14), 9. 2. 16 Proximam continentemque causam in errore mentis esse ponendam, dubitationem non habet. Remotas vero vero binas agnoscimus, curiositatem et superbiam. Michelitsch (fn 3), ii § 28.

JUlia Hänni, erlenBacH kurzer blIck auf kultur, selbstreflexIon und recHt IM übergang Von antIkeM zu cHrIstlIcHeM denken* 1. eInleItung im kongress konnte dargestellt werden, dass der Mensch sich vor der notwendigkeit sieht, aus seiner Unspezialisiertheit die natur so bearbeiten zu müssen, dass er darin leben kann: er ist gezwungen, kultur zu schaffen. die rechtswissenschaft ist einer der Bereiche, in welchem der Mensch durch regelbildung versucht, sich vom naturzustand zu lösen. Mit diesem votum sollen zunächst einzelne Grundlagen des gebrochenen verhältnisses des Menschen zur natur am übergang von antiker zu früher christlicher Philosophie angeführt werden. die zu nennenden philosophischanthropologischen Grundlagen vermitteln die notwendigkeit der selbstreflexion: denn kultur soll (auch) selbstverständnis ermöglichen. speziell heranziehen möchte ich den kirchenvater origenes als einen der ersten vertreter der christlichen denkweise aus dem Horizont der griechischen Philosophie, sowie Johannes scotus (eriugena), der durch seine übersetzungsarbeiten wesentlich zum eingang der griechischen denktradition ins Mittelalter beigetragen hat. inhalt der kulturnotwendigkeit des Menschen soll aber nicht die abgrenzung sein; kultiviert zu sein, heisst insbesondere, sich auch um andere lebensformen zu sorgen und soll nicht verstanden werden als antiquiert-biologische Zelebrierung des Menschen als „krone der schöpfung“. es geht vielmehr um die philosophisch-anthropologische analyse der spezifischen schwierigkeiten, vor die der Mensch gestellt ist, mit der notwendigkeit der selbstreflexion und der daraus resultierenden verantwortung. 2. gebrocHenes VerHältnIs 2.1 der raUB

des

zur

natur

als

ursPrung

feUers

der Mensch sieht sich vor der schwierigkeit, dass sein Weltverhältnis gebrochen ist und sein Umweltbezug einen hinterfragenden charakter aufweist. Bereits im Bericht des platonischen Protagoras ist dieser Grundgedanke festgehalten: Prometheus und epimetheus erhielten den auftrag, sterbliche Wesen zu schaffen. epimetheus nahm die aufgabe wahr und machte die langsamen stark und die schwachen schnell, die blosse Haut der tiere schützte er mit fellen, die füsse durch Hufe und Horn. als er jedoch daran ging, den Menschen zu schaffen, hatte er seinen vorrat an stärken und ausgleichenden kräften bereits verbraucht, sodass er den Menschen nackt lassen musste, ohne schutz für die füsse, ohne decke und *

ich danke frau susanne Weiss, Zürich, Herrn Prof. dr. lukas Gschwend, st. Gallen, Herrn Prof. dr. tobias Jaag, Zürich, und Herrn Prof. dr. dr. h.c. alois M. Haas, Uitikon-Waldegg, für wertvolle Hinweise.

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Julia Hänni

Wehr. in seiner verlegenheit wandte sich epimetheus an seinen Bruder Prometheus, und dieser wusste rat: durch eine list raubte er den Göttern die künste und das feuer, um sie den Menschen zu überlassen. durch Prometheus erhielt der Mensch so die Mittel zur daseinsfürsorge, die er für sich selbst aufzubauen hat1. von vornherein lässt die erzählung den Menschen aus der Umwelt natürlicher Geborgenheit herausfallen2. Zudem ist er mit der schwierigkeit konfrontiert, das feuer zu besitzen. durch die freveltat des Prometheus verfügt der Mensch so über Mittel, die sowohl dienlich als auch zerstörerisch sind. 2.2 GescHaffene natUr

Und

kUltUr

Bilder für den fall aus der Geborgenheit finden sich auch im frühen christentum, welches die schaffende natur (natura naturans) unterscheidet von der geschaffenen natur (natura naturata)3. in der christlichen Philosophie schwankt die Wertung der natur je nachdem, ob in ihr mehr die schöpfung Gottes oder die folge des falls des Menschen gesehen wird. so erfolgt in der väterzeit eine scharfe gedankliche trennung zwischen dem Menschen, wie ihn Gott erschaffen hat (homo primigenus) und dem Menschen, wie er durch den sündenfall geworden ist (homo lapsus). entsprechend wird zwischen der unverdorbenen und der verdorbenen natur unterschieden. die für den Menschen moralisch verbindliche ist nicht die mangelhafte empirische, sondern die vollkommene natur vor dem sündenfall (natura integra). die empirische natur ist unvollkommenes abbild des intakten Urbildes der vollkommenen natur und gleichzeitig intention zurück auf diesen Ursprung. die empirische natur ist so der vollkommenen natur ähnlich und unähnlich zugleich4. aus der empirischen natur dürfen fortan keine moralisch-normativen schlüsse mehr abgeleitet werden5. der kern des Bild-seins der empirischen Welt ist für den Menschen ihre vermittelnde eigenschaft; die empirische Welt soll rückerinnernde ähnlichkeit erbringen. einsicht in die Bildhaftigkeit bringt dem Menschen erkenntnis, gleichzeitig fordert sie den Menschen zur realisierung seines eigenen Bild-seins heraus6. entsprechend ist Bildhaftigkeit ein leitmotiv der kultur, Wirklichkeit zu begreifen. es soll nun punktuell dargestellt werden, wie dieses grundsätzlich gebrochene verhältnis zur natur bei origenes (185–252 n. chr.) und eriugena (gest. ca. 877 n. chr.) behandelt wird und welche Handlungsnotwendigkeiten sich daraus ergeben. 1 2 3

4 5 6

Platon, Protagoras, 320d f., in: Platon, sämtliche Werke (hg. v. karlheinz Hülser), Bd. 1, frankfurt a. M.: insel verlag, 1991, 97 ff.; ralph konersmann, kultur als Metapher, in: Kulturphilosophie, hg. v. dems., 3. a., leipzig: reclam, 2004, 330 ff. konersmann, (fn. 1), 331. dies entspricht der terminologie von eriugena; Joannis scoti opera, ed. Henricus Josephus floss, Patrologia Latina, tomus cxxii, turnhout (Belg.): Brepols, 1967, 451 d ff. deutsche übersetzung: Über die Einteilung der Natur, übersetzt von ludwig noack, 3. a., Hamburg: Meiner, 1994, 17 ff. Bei augustinus finden sich hierfür die Begriffe „natura creatrix“ und „natura creata“, vgl. aurelius augustinus, De Trinitate, Buch xv, 11 (hg. v. Johann kreuzer), Hamburg: Meiner, 2001, 248 f. vgl. Werner Beierwaltes, Denken des Einen, frankfurt a. M.: vittorio klostermann, 1985, 76. damit ist die Problematik des schliessens vom sein aufs sollen in einem religiös-bildhaften sinne grundgelegt. Beierwaltes (fn. 4), 86.

kurzer Blick auf kultur, selbstreflexion und recht

217

2.2.1 oriGenes Besonders prägnant zeigt origenes das christliche Menschenbild auf. origenes geht von einer doppelten kreation aus: Mit der ersten schöpfung schuf Gott die Geschöpfe nach seinem ebenbild als ursprüngliche Wesen. da sich aber der ebenbildliche, geistige Mensch aus freiem entschluss („übersättigt“) in unterschiedlichem ausmass von der einheit Gottes entfernte7, schuf dieser in einem zweiten schöpfungsakt den beseelten lebendigen körper und die sichtbare Welt. für origenes gibt es daher über die grundsätzliche Unterscheidung zwischen seele und körper hinaus eine Unterscheidung im inneren der seele zwischen einem höheren und geistigen teil, der aus der schöpfung nach göttlichem ebenbild stammt und einem irdischen niedrigeren seelenteil8, der zusammen mit dem körper erschaffen wurde und diesen belebt9. Gemäss origenes impliziert der fall des Menschen, d. h. seine entfernung von Gott und die damit einhergehende erniedrigung der seelen, die übernahme der zweiten natur, die sich vereinigt mit dem niedrigen teil der seele und die schöpfung des körpers notwendig macht. der körper und die sichtbare Welt sind somit bei origenes eine folge des sündenfalls10 und läuterungsorts11. nach origenes ist die schöpfung so eingerichtet, dass kein Mensch sich der erwerbung gewisser fähigkeiten entziehen kann12. die entfernung aus der einheit beruht nach origenes auf freier entscheidung der rationalen Wesen; in eben solcher freiheit besteht die Möglichkeit, zu Gott zurückzukehren13: die frei getroffene entscheidung initiiert gleichsam den Prozess der erlösung. die distanz des Menschen zu Gott zeigt sich nach origenes dadurch, dass Gott das Gute substantiell besitzt, der Mensch dieses hingegen von fall zu fall – mit erheblicher Mühe – selbst finden muss14; er ist in entscheidender Weise vor das Gegenüber von Gut und Böse, von richtig und falsch gestellt. vor entscheidungen stehend muss der Mensch erst lernen, zu unterscheiden, was er sich aneignen möchte und was er ablehnen muss. es geht also um das sich-vorfinden in einem unvollendeten stadium, in einem naturzustand, der – wie immer er umschrieben wird – überwunden werden muss. Mit den dargelegten philosophisch-anthropologischen vorgegebenheiten entscheiden zu müssen, zwingt zu selbstreflexion. Hierfür soll kultur ein Mittel sein. kultur steht für die Bearbeitung der natur durch den Menschen, um sich im sinne eines philosophischen ackerbaus einen für seine situation gangbaren Weg zu pflügen durch die ausbildung von geistigen und sittlichen kräften, und auch für die erhal7 8 9 10 11 12 13 14

origenes, vier Bücher von den Prinzipien (de Principiis), iii. 5.4. f.; i. 5.3., in: Texte zur Forschung (hg. v. Herwig Görgemanns/Heinrich karpp), Bd. 24, 3. a., darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992, 633 ff., 201 ff. origenes (fn. 7), ii. 10.7.; iii. 4.2., 435 ff., 605 ff. origenes (fn. 7), ii. 10.7.; 435 ff. Maria di Pasquale Barbanti, Origene di Alessandria, catania: cUecM, 2003, 183; origenes (fn. 7), i. 5.3.; 199 ff. Jutta tloka, Griechische christen – christliche Griechen, in: Studien und Texte zu Antike und Christentum, (hg. v. christoph Markschies), Bd. 30, tübingen: Mohr siebeck, 2005, 29. tloka (fn. 11), 31. di Pasquale Barbanti (fn. 10), 167 ff. origenes (fn. 7), i. 5.3; 199 ff.; i. 6.2; 217 ff.; di Pasquale Barbanti (fn. 10), 170.

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tung und Weitergestaltung des so Gewonnenen15. diese verantwortung trifft den Menschen aber nicht nur für sich selbst, denn immer ist er eingebettet in ein weiteres Umfeld. 2.2.2 eriUGena dieser Gedankengang führt zu eriugena. auch er sieht den Menschen in einem widersprüchlichen verhältnis zu sich selbst, gespalten in ein inneres, ursprüngliches und ein äusseres, weltliches Wesen. das Bestreben des Menschen soll es sein, zum prälapsaren Zustand zurückzufinden in einer rückbesinnung auf sein inneres Wesen16. eriugena stellt daran anknüpfend dar, dass die von der göttlichen Güte geschaffene innere Wesenheit ewig und unwandelbar besteht; sie ist aller kreatur eigen17. keine ursprüngliche natur also kann vergehen18; alle Geschöpfe sollen erhalten bleiben. eriugena betont die Wichtigkeit, die ganze natur aus der vergänglichkeit zu erretten und nicht nur den Menschen: aller kreatur soll das gleiche gute los beschieden sein19. am Weltende erfolgt deshalb bei eriugena die vollendung der ganzen sinnlichen natur20: die gesamte natur21 kehrt in Gott zurück, der sie wieder in sein Wesen aufnimmt22. eriugenas darstellung setzt einen verzicht auf aussonderung voraus. Heute kann dies gelesen werden als frühscholastischer appell an die verantwortung, mit der sich der feuerbesitzende Mensch im laufe seiner vervollkommnung auseinander zu setzen hat. die gewählten ausgangspunkte zur entfremdung des Menschen von seiner ursprünglichen natur implizieren zwei gleich wichtige Handlungsnotwendigkeiten: selbstreflexion und verzicht auf aussonderung. auf die beiden aspekte ist im folgenden kurz einzugehen. sie sind für kultur konstitutiv. 3. selbstreflexIon kultur ist – wie oben angesprochen – selbst eine form des abbildes der Wirklichkeit; ein versuch des Begreifens, ein entwurf über die eigene Position. sie bezieht sich auf die fähigkeit und notwendigkeit des Menschen, formend sich selbst zu verändern und ideelle sinn- und Handlungsmuster entwerfen zu können. die selbstbezüglichkeit des Menschen setzt ihn in ein reflexives verhältnis, aus dem sowohl 15 franz-Peter Burkhard, kultur, in: Metzler Philosophie Lexikon, hg. v. Peter Prechtl/franz-Peter Burkhard, 2. a., stuttgart/Weimar: Metzler, 1999, 310. 16 alois M. Haas, self-knowledge – space of inwardness, in: Samarasya. ¯ Studies in Indian Arts, Philosophy and interreligious Dialogue, hg. v. sadananda das/ernst fürlinger, new delhi: d.k. Printworld, 2005, 503 f. 17 vgl. eriugena (fn. 3), Pl 122, 903 c ff.; dt. übers., 236. 18 eriugena (fn. 3), Pl 122, 373 c; liber de praedestinatione vi. 19 eriugena (fn. 3), Pl 122, 737 B, d; dt. übers., 414. 20 eriugena (fn. 3), Pl 122, 912 B ff.; dt. übers., 249. 21 auch bei origenes gibt es eine erlösung der Welten („apokatastasis Panton“; vgl. origenes, (fn. 7), iii. 5.4.; 631 ff.). Weil eriugena den Gedanken in naturbegrifflichkeit wählt, möchte ich ihn hier heranziehen. 22 eriugena (fn. 3), Pl 122, 1020 d; dt. übers., 413.

kurzer Blick auf kultur, selbstreflexion und recht

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seine innenwelt als auch die Welt der äusseren objekte als prinzipiell veränderbar erscheinen23. die idee der dualität des Menschen wird auch Jahrhunderte später rezipiert. kant hat den früheren Gedanken aufgegriffen und in klarer Gegenüberstellung zur naturwissenschaftlichen anthropologie des Menschen eine differenzierung eingeführt, die für die moderne philosophische anthropologie konstitutiv ist. sie unterscheidet sich von der letztgenannten durch das Wechseln der Betrachtungsweise von „gegeben“ zu „gemacht“, von natur zu kultur, von faktizität zu entwurf. die moderne philosophische anthropologie löst sich so von der feststellung dessen, was der Mensch faktisch ist; sie untersucht vielmehr, was er jenseits der kausalitäten sein, bzw. vervollkommnen kann. es geht wie bei den antiken und frühchristlichen reflexionen um das Bewusstsein des Umgangs mit sich selbst, durch das sich der Mensch erst bildet24. die dargestellte differenz von natur und kultur am Menschen entspricht so der Grundhaltung aufklärerischen denkens: der Mensch sucht sein eigentliches in dem, was er in sich selbst bewirken kann. es geht um Zivilisierung, kultivierung, Moral. Ziel des Menschen soll es demnach sein, die fähigkeit zu erwerben, aus eigenen Prinzipien zu handeln; es geht letztendlich um den „Menschen als Zweck“ und um seine fähigkeit, sich selbst Zwecke zu setzen25. Gefordert wird vom Menschen die autonomie des subjekts; die Maxime des selbstdenkens. das Wesen des Menschen wird so wie in den Ursprungsreflexionen der antike und der christlichen Philosophie durch selbstreflexion bestimmt26. in diesem Zusammenhang betont auch Plessner die funktion der kultur, dem Menschen ein Gleichgewicht zu verschaffen27. die kulturleistung erfüllt dies, wenn sie eine sinngebende eigenständigkeit gewinnt, die dem Menschen selbstverständnis ermöglicht. in dem, was der Mensch selbst hervorgebracht hat, versteht er sich selbst, d. h. er tritt in ein verhältnis zu sich. Gegenstand des verstehens sind die ausdrucksformen, in denen sich geistiges leben mitteilt28; das recht ist hierfür ein Beispiel. Wie findet sich nun der Zusammenhang von reflexion in einem gemeinschaftsorientierenden sinne zum recht? kulturbedingte leitideen, mit denen wir unsere Welt begreifen und nach denen wir uns selbst in ihr einordnen, finden wir in den jeweils vorherrschenden Weltanschauungen, die in einer kultur zum ausdruck kommen. die weltanschaulich geprägten denkmuster wirken sich in verschiedener Hinsicht auf die Gerechtigkeitsfrage aus: kulturspezifische leitideen haben einfluss darauf, welche politischen und sozialen sachverhalte und Bedürfnisse für wichtig gehalten werden und daher überhaupt als rechtsprobleme aufgefasst werden. oft werden 23 Burkhard (fn. 15), 311. 24 Gernot Böhme, immanuel kant. die Bildung des Menschen zum vernunftwesen, in: Philosophische Anthropologie der Moderne, hg. v. rené Weiland, Weinheim: Beltz athenäum, 1995, 31. 25 immanuel kant, Grundlegung zur Metaphysik der sitten, Ba 67, in: Werke in sechs Bänden (hg. v. Wilhelm Weischedel), Bd. iv, darmstadt: WBG, 1956, 61. 26 Böhme (fn. 24), 33 f. 27 vgl. hierzu auch rené Weiland, Helmuth Plessner, der Mensch als exzentrisches Wesen, in: Philosophische Anthropologie der Moderne, hg. v. dems., Weinheim: Beltz athenäum, 1995, 118 f. 28 andererseits haben kulturleistungen auch eigendynamik. entsprechend zeigt sich die kehrseite darin, dass die entwicklung dem Menschen entgleiten und einer ursprünglichen intention zuwiderlaufen kann; Burkhard (fn. 15), 311.

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sie auch zum antrieb staatlicher und rechtlicher veränderungen. Zum anderen dienen sie als rechtfertigung für die auf sie zurückführbaren rechts- und verfassungsinstitutionen29. 4. VerzIcHt

auf

aussonderung

für eine weitere aktuelle und eminent praktische forderung eines integrativen kulturbegriffs möchte ich Hartmann zitieren, der folgendes festhält: „sittliche […] Progressivität liegt darin, dass es nur ein vorrücken auf der ganzen linie gibt, nicht aber in Bruchstücken, dass mit der tendenz auf das Höchste immer auch die tendenz auf das elementarste wachsen muss. Jeder andere ‚fortschritt‘ ist nur ein scheinbarer.“30

diese aussage ist ebenso gültig, wenn sie auf den kulturbegriff angewendet wird. sie weist zum einen auf den aspekt hin, dass kultur wie Moral die Gesamtheit aller Werte umfassen müssen. dazu gehören auch elementare Bedürfnisse, die leben erst ermöglichen. kultur muss umfassend verstanden werden, im gleichen sinne wie moralische Werte von unten aufbauend zu verstehen sind31. Hinzu kommt ein weiterer wichtiger aspekt: die einsicht, dass der Mensch kultur haben muss, darf ihn nicht dazu verleiten, diese kultur durch abgrenzungen zu definieren. die kultur, die der Mensch sich geben muss, darf keinen diskriminierenden sinn haben, sich gegenüber anderen lebensformen priorisierend zu unterscheiden. Gegenüber jeder biologistisch-distanzierten Betrachtungsweise eines lebewesens ist Zurückhaltung angebracht; der Mensch hat sich hier wiederholt schuldig gemacht. kultur soll vielmehr die notwendigkeit des entwurfs eines rechtsverhältnisses betonen, welches die Möglichkeit der individuellen Weiterentwicklung in nicht diskriminierender Weise aufrechterhält. es entspricht dem, was man gemeinhin mit „die kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied“ ausdrücken möchte. kultur zu haben bedeutet, normen zu postulieren, unter denen jeder, auch der schwächere, leben kann. kultur ist in diesem sinne „die Bewahrung des Möglichen“32.

29 30 31 32

vgl. reinhold Zippelius, Rechtsphilosophie, 4. a., München: Beck, 2003, 118 ff. nicolai Hartmann, Ethik, 4. a., Berlin: de Gruyter, 1962, 613. vgl. Hartmann (fn. 30), 611. konersmann (fn. 1), 354.

ARCHIV FÜR RECHTS- UND SOZIALPHILOSOPHIE (ARSP) BEIHEFTE

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FRANZ STEINER VERLAG STUTTGART

ISSN 0341 - 079X

Die Reflexion über das Verhältnis der Rechtswissenschaft zu den Kulturwissenschaften wurde von der Forschung jahrzehntelang vernachlässigt. In kritischer Abgrenzung zu Entwicklungen und Erfahrungen, die im 20. Jahrhundert auf Abwege geführt haben, durchleuchtet dieser Kongressband die Diskussion und eröffnet neue Perspektiven. Dabei knüpfen die Beiträge an Ansätze an, die in den letzten Jahren in den Geschichtswissenschaften und in der Rechtsgeschichte entwickelt wurden.

Die einleitenden Studien analysieren das Rechtsverständnis in Antike, Mittelalter und Neuzeit. Sodann werden die Grundlagen des Kulturbegriffs des 20. Jahrhunderts herausgearbeitet und – in einem dritten Teil – die Konstanten im Verhältnis von Rechts- und Kulturwissenschaft untersucht und bewußt vorsichtig in den Kontext einer erneuerten Anthropologie eingeordnet. Der letzte Teil beinhaltet in Form von Voten erste Reaktionen des Fachpublikums und repräsentiert damit den Anfang einer neuen Diskussion.

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ISBN 978-3-515-09149-7